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Jim füllte den Benzinbehälter seines Wagens, steckte einige Konservenbüchsen, unter den Führersitz und fuhr in das Dorf. Er hielt zuerst bei der Post an und schickte ein Telegramm an Binger. Dann machte er vor der Werkstatt des Schmieds und Mechanikers halt, der nur die allerprimitivsten Reparaturen erledigen konnte. Jim wußte das genau.

 

»Es wäre besser, wenn Sie Ihren Wagen nach Horsham brächten, Mr. Morlake«, sagte der Mann. »Ich kenne diesen teuren Wagen nicht gut genug, um die Arbeit ausführen zu können, die Sie haben wollen.«

 

Einer der Detektive sah Jim fortfahren und ging natürlich gleich zu dem Schmied, um zu fragen, was los sei.

 

»Sein Steuerrad ist nicht in Ordnung. Er hat es selbst notdürftig repariert, aber ich sagte ihm, daß es gefährlich sei, so zu fahren. Nun hat, er den Wagen nach Horsham zur Reparatur gebracht.«

 

Hochbefriedigt ging Spooner zu seinem Vorgesetzten zurück und berichtete ihm, was er erfahren hatte.

 

Als die Dunkelheit hereinbrach, kehrte Jim in dem kleinen Autobus zurück, der dreimal am Tage die Verbindung zwischen Creith und Horsham herstellte. Auch diese Tatsache beobachtete Spooner genau.

 

»Ich weiß überhaupt nicht, zu welchem Zweck wir ihn hier überwachen sollen«, meinte Sergeant Finnigan. »Es ist doch unwahrscheinlich, daß er in der nächsten Zeit etwas unternimmt. Der letzte Prozeß hat ihm sicher einen heilsamen Schrecken eingejagt.«

 

»Ich wünschte nur, daß er die Angewohnheit hätte, früh zu Bett zu gehen«, brummte Spooner.

 

»Vielleicht läßt ihn das schlechte Gewissen nicht ruhen.«

 

Kurz nach Jims Rückkehr fand sich auch Binger mit einer kleinen Reisetasche ein, die alles enthielt, was notwendig war, um sich vollständig zu verkleiden.

 

»Ich habe eine Aufgabe, die Ihnen willkommen sein wird«, sagte Jim. »Sie müssen sich jeden Abend hier in einen Stuhl setzen und fünf oder sechs Stunden nichts tun. Sie können ja am Tag schlafen, und ich zweifle nicht im mindesten, daß Sie auch noch einige kleine Nickerchen einlegen, wenn Sie hier Ihre Pflicht tun.«

 

»Sie haben es doch hoffentlich aufgegeben?« fragte Binger besorgt. »Was sollte ich aufgegeben haben?«

 

»Das Einbrechen!« Plötzlich sah Binger einen Gegenstand auf dem Schreibtisch. »Lieben Sie neuerdings Musik?«

 

Jim schaute nach dem großen Plattenspieler hinüber, den er vor einigen Tagen angeschafft hatte.

 

»Ja, ich interessiere mich in letzter Zeit sehr für Jazzmusik. Aber hören Sie, Binger, Sie müssen meine Anordnungen auf das genaueste ausführen. Heute abend um zehn beziehen Sie Ihren Wachtposten vor meiner Tür. Sie können sich den bequemsten Stuhl im Haus aussuchen, und ich bin auch nicht böse, wenn Sie einschlafen. Aber niemand darf in dieses Zimmer kommen – verstehen Sie mich? Und unter gar keinen Umständen darf man mich stören. Wenn also die Detektive erscheinen sollten –«

 

»Sie meinen doch nicht etwa wirkliche Detektive?« fragte Binger entsetzt.

 

»Hier in Creith sind augenblicklich zwei, aber ich glaube nicht, daß Sie von ihnen belästigt werden. Sollten sie aber wirklich kommen und vorn an die Tür klopfen oder nach zehn etwas unternehmen, dann dürfen Sie die Leute auf keinen Fall einlassen, es sei denn, daß sie eine Vollmacht von einer Behörde vorweisen. Haben Sie alles verstanden?«

 

»Jawohl, Sir. Soll ich Ihnen später noch etwas Kaffee bringen?«

 

»Nein, Sie sollen mir gar nichts bringen. Wenn Sie versuchen, hereinzukommen oder mich irgendwie zu stören, sind Sie entlassen.«

 

Um halb zehn abends ging Jim auf dem Gelände umher und auch zum Haupttor. Die Straße lag verlassen da, aber im Schatten der Hecke sah er einen kleinen roten Punkt, der regelmäßig aufglühte und wieder schwächer wurde. Es war die Zigarre eines Detektivs. Jim lachte in sich hinein.

 

Als er in sein Arbeitszimmer zurückkam, fand er Binger davor, der auf einem bequemen Stuhl saß.

 

»Gute Nacht!« sagte Jim und verschloß die Tür.

 

Obgleich das Haus an das elektrische Stromnetz angeschlossen war, brannte auf dem Tisch eine Petroleumlampe, die ein äußerst helles Licht ausstrahlte. Er entfernte den Schirm, so daß die Helligkeit der Flamme blendete.

 

Dann hob er den Plattenspieler auf den Tisch, der in der Mitte des Raums stand, schaltete ihn ein und stellte auf das langsamste Tempo ein. Er schraubte einen langen Stab an den Plattenteller und befestigte daran eine Figur aus dünnem Karton. Es war der Schattenriß eines Mannes, der die Hände auf dem Rücken gekreuzt hatte. Dann nahm er die Lampe vom Schreibtisch, stellte sie in die Mitte des Plattentellers und ließ den Apparat laufen. Die Platte mit der Lampe und der Pappfigur drehte sich nur langsam, und der Schatten der Silhouette huschte über den Fenstervorhang.

 

»Er rennt schon wieder in seinem Zimmer herum«, sagte Spooner ärgerlich, als er von draußen den Schatten am Fenster vorübergleiten sah. »Wie lange wird er diesen Unsinn noch fortsetzen?«

 

Offenbar nicht mehr lange, denn Jim hielt den Apparat an, ging in sein Zimmer und zog die alten schwarzen Kleider an. Dann schlüpfte er in einen Mantel, der fast bis zu den Füßen reichte, setzte einen weichen schwarzen Hut auf und steckte das Werkzeug und eine starke Taschenlampe ein. Es war nun halb elf. Tiefes Schweigen herrschte im ganzen Haus, als er noch einmal ins Arbeitszimmer zurückkehrte und Binger durch die Tür ansprach.

 

»Sind Sie auf Ihrem Posten?«

 

»Jawohl.«

 

»Also denken Sie daran, daß ich unter keinen Umständen gestört werden möchte.«

 

»Jawohl.«

 

Jim hörte an Bingers Stimme, daß der Mann schon halb eingeschlafen war.

 

Wieder stellte er den Plattenspieler an und ging dann in sein Schlafzimmer. Durch das Fenster an der Hinterseite des Hauses trat er auf einen kleinen Balkon.

 

Kurze Zeit später stand er unten im Park und schlich sich fort. Im Schatten des Gebüsches eilte er zu der kleinen Brücke, die zum Creithschen Ufer hinüberführte. Nach einem Weg von zehn Minuten kam er an einen abseits liegenden Schuppen, in dem er seinen Wagen untergestellt hatte … »Jetzt geht’s wieder los«, sagte Spooner zu dem Sergeanten. »Sehen Sie, da ist er!« Er deutete auf den Schatten, der an den weißen Gardinen vorüberglitt.

 

Finnigan gähnte. »Dann können wir die ganze Nacht hier sitzen.«

 

*

 

Jim fuhr durch den feinen Regen über Haymarket. Er bog in die Wardour Street ein und parkte den Wagen in einer langen Reihe von Autos, die Theaterbesuchern gehören mochten. Dann ging er zur Shaftesbury Avenue und rief ein Mietauto an. Als das Taxi gerade an den Gehsteig heranfuhr, öffnete sich die Tür einer Bar, und ein Mann taumelte heraus.

 

Er fiel direkt gegen Jim, der ihn am Arm packte und wieder aufrichtete.

 

»– ’schuldigen Sie«, sagte der Betrunkene, »hatte eine kleine Auseinandersetzung … ’ne abstrakte Frage über Metaphysik …« Er konnte kaum sprechen.

 

Jim betrachtete ihn genauer. Es war der junge Mann, der damals in der Gewitternacht zu ihm gekommen war.

 

»Hallo, mein Freund, Sie haben aber noch einen weiten Weg nach Hause.« Dann besann er sich, daß er ja eigentlich nicht erkannt werden wollte. Der Betrunkene war jedoch dazu gar nicht in der Lage.

 

Das Mietauto wartete, und als Jim sah, daß sich schon Menschen um sie ansammelten, zog er den Mann schnell in das Innere des Wagens.

 

»Fahren Sie nach Long Acre!« befahl er.

 

In dem ruhigsten Teil der Straße ließ er halten und führte seinen Begleiter auf den Gehsteig.

 

»Nun gebe ich Ihnen den guten Rat, nach Hause zu gehen.«

 

»Nach Hause?« sagte der andere bitter. »Hab kein Zuhause! Keine Freunde – kein Mädel!«

 

»Vielleicht ist das ganz gut – für das Mädel«, erwiderte Jim ungeduldig, denn die Zeit drängte.

 

»So – meinen Sie? Ich nicht … ich möchte sie bloß noch mal erwischen, nachdem sie mich so schlecht behandelt hat – die bringe ich um – sicher, die bringe ich um!«

 

Sein blasses Gesicht war von Wut verzerrt, und plötzlich brach er hilflos in Tränen aus.

 

»Sie hat mein Leben ruiniert!« schluchzte er. »Und ich kenne sie nicht einmal … kenne nur ihren Vornamen und weiß nur, daß ihr Vater Lord ist … sie hat eine kleine Narbe auf der Hand –«

 

»Wie heißt denn die junge Dame – die ihr Leben ruiniert hat?« fragte Jim heiser.

 

»Joan – sie hat mich ins Unglück gebracht – wenn ich sie finde, ist es zu Ende mit ihr!«