Kapitel 43

 

43

 

Sie schaute ihn minutenlang starr an, dann brach sie plötzlich in Lachen aus.

 

»Mr. Welling, Sie haben mir einen furchtbaren Schrecken eingejagt. Glauben Sie mir, mein Vater tötet niemand.«

 

Er ließ sich aber nicht erschüttern.

 

»Ich will ja auch gar nicht behaupten, daß Ihr Vater Farringdon erschossen hat. Ich stelle nur fest, daß Lord Creith der einzige Mann ist, der hier im Umkreis von zehn Meilen spitze Schuhe trägt.«

 

»Das ist aber doch absurd! Viele Leute tragen spitze Schuhe – Mr. Hamon zum Beispiel –«

 

»Das wollte ich ja nur hören«, erwiderte Captain Welling höflich. »Das ist alles, was ich wissen muß. Trägt Mr. Hamon immer solche Schuhe? Von Lord Creith wußte ich es genau, denn ich habe den Schuhmacher im Dorf gefragt, und der Mann kennt ja sämtliche Schuhe im Herrenhaus.«

 

»Mr. Hamon ist so wohlhabend, daß er seine Schuhe nicht reparieren läßt. Sie haben ihn doch nicht etwa im Verdacht? Er war gestern abend ja gar nicht in Creith!«

 

»Wenn er Farringdon erschossen hat, muß er wohl in Creith gewesen sein, und wenn er es nicht getan hat, kümmere ich mich auch nicht darum, wo er war.«

 

Die Reaktion nach dieser Nacht voll Schrecken und Angst war so groß, daß sie den alten Mann hätte umarmen und vor Freude küssen mögen.

 

»Sind Sie denn ganz sicher?«

 

»Sie meinen über Morlake?« Er wußte, warum sie so ängstlich war. »Ich glaube, daß es da nicht den geringsten Zweifel gibt. Er hat so große Füße, daß er niemals die Schuhe hätte tragen können, deren Spuren wir vor dem Haus gefunden haben. Trotzdem ist es unter keinen Umständen gewiß, daß der Eigentümer der spitzen Schuhe auch der Mörder ist.«

 

Als sie ins Haus traten, beaufsichtigte Lord Creith eben die Diener, die das Gepäck in Ordnung brachten, die einzelnen Koffer numerierten und die Zettel aufklebten.

 

»Hallo, Welling, wen haben Sie heute morgen verhaftet?«

 

»Am Sonnabend verhafte ich niemand – das verdirbt den Leuten das Wochenende. Sie sind von Hamon antelefoniert worden?«

 

»Ja«, sagte der Lord erstaunt. »Ungefähr um Mitternacht.«

 

»Hat er Sie gebeten, ihm etwas nachzuschicken, das er vergessen hatte?«

 

»Nein, er wollte nur wissen, wann ich heute abreise.«

 

»Sehen Sie einmal an«, nickte Welling. »Es war ganz selbstverständlich, daß er das tat, obendrein noch um zwölf Uhr nachts?«

 

»Es war etwas vor zwölf, denke ich. Sicherlich haben Sie das Gespräch belauscht«, sagte Lord Creith vorwurfsvoll.

 

Als er nach dem Verbleib eines Sportgewehrs forschte, das merkwürdigerweise im letzten Augenblick verschwunden war, wandte sich Joan wieder an Welling.

 

»Woher wissen Sie das alles, Captain?«

 

»Ich vermute es nur. Es ist doch natürlich, daß der Mann mit den spitzen Schuhen, wenn es unser Freund Hamon war, so bald als möglich einen Beweis geben wollte, daß er in der Stadt sei. Die Versuche, sich durch ein Telefongespräch ein Alibi zu verschaffen, sind sehr häufig.«

 

Sie war vollständig von einem Gedanken beherrscht.

 

»Warum mag wohl Mr. Morlake fortgegangen sein?«

 

»Vielleicht hatte er wieder einen kleinen Einbruch vor –«

 

»Seien Sie doch nicht so schrecklich«, rief sie erregt. »Sie wissen genau, daß Mr. Morlake kein Einbrecher ist!«

 

»Wenn ich überhaupt etwas genau weiß«, entgegnete er, »so ist es, daß Morlake tatsächlich ein Einbrecher ist. Ich kümmere mich nicht darum, welche edlen Motive ihn dazu machen – aber er ist ein Einbrecher. Sogar der tüchtigste und schlaueste aller Geldschrankknacker im Land.«

 

»Hat er viel Geld geraubt?«

 

»Viele Tausende, aber es war stets Hamons Eigentum. Das ist das Merkwürdige.«

 

Joan hoffte, daß ein Wunder geschehen und Jim noch im letzten Augenblick erscheinen werde. Aber in dieser Erwartung wurde sie bitter enttäuscht. Sie mußte nach Southampton abfahren, ohne ihn noch einmal gesehen zu haben.

 

Mit Erstaunen und Verwunderung betrachtete sie auf der Reede die Jacht. Sie hatte sich ein winziges Fahrzeug vorgestellt, aber die ›Esperance‹ hatte das Aussehen eines kleinen Kreuzers.

 

»Die muß Freund Hamon aber eine schöne Stange Geld gekostet haben – sieht ja beinahe wie ein Passagierdampfer aus«, meinte Lord Creith.

 

Der englische Kapitän begrüßte sie oben am Fallreep. Alle Vorbereitungen zur Abfahrt waren schon getroffen.

 

»Mr. Hamon wird nicht kommen, wie ich erfahren habe«, sagte Captain Green. »Wenn Sie gestatten, Mylord, lichten wir die Anker.«

 

Kapitel 44

 

44

 

Die Strahlen der Frühsonne lagen über Tanger. Joan Carston schaute verwundert von Bord des Schiffs auf das schöne Bild, als sie langsam in die Bai einfuhren. Über ihr wölbte sich ein fleckenloser, tiefblauer Himmel, und der Wind trug einen feinen, fremdartigen Duft von der Küste herüber.

 

»Freust du dich, daß wir an Land gehen?« fragte ihr Vater.

 

Sie nickte.

 

»Du bist doch ein prächtiges Mädchen!« sagte er bewundernd. »Du hattest in den letzten Wochen mehr Schicksalsschläge zu ertragen als ein Durchschnittsmensch im Lauf seines ganzen Lebens.«

 

»Man kann sich auch gegen Schicksalsschläge abhärten.«

 

»Du bist jetzt nicht mehr in so großer Sorge um Morlake?«

 

»Nein. Ich habe sogar das Gefühl, daß wir ihn bald wiedersehen.«

 

Lord Creith war in guter Stimmung.

 

»Der Kapitän sagte, er habe es so eingerichtet, daß wir eine Woche hier bleiben können, und ich glaube, daß wir unsere Zeit gut ausnützen werden.«

 

Er mietete Zimmer in dem großen weißen Hotel, von dem aus man die Küste übersehen konnte. Später am Tag schaute Joan von der breiten Treppe auf die wunderlichen, bunt durcheinanderliegenden Häuser, die das moderne Tanger so reizvoll machen.

 

»Es sieht aus wie eine Szene aus dem Alten Testament mit elektrischer Beleuchtung«, meinte der Lord. »Ich weiß nicht, ob ich das irgendwo gelesen habe oder ob ich selber darauf kam. Aber es ist ein treffender Ausspruch. Ich hoffe, daß du nicht enttäuscht bist, Joan? Diese Städte sind in der Nähe lange nicht so angenehm wie drei Meilen von der See aus. Und der Geruch – hm!« Er verzog das Gesicht.

 

»Jim hat jahrelang hier gelebt«, sagte sie.

 

»Aber davon duftet die Luft nicht gleich nach Rosenöl«, erwiderte ihr Vater.

 

Am dritten Tag ihres Aufenthaltes begann Joan die Stadt schon etwas langweilig zu werden. Sie hatte den großen Marktplatz und den Basar mehrmals besucht, war zwischen den Holzkohleverkäufern und den ruhenden Kamelen herumgewandert, hatte den eingeborenen Gauklern, Fakiren und heiligen Männern zugesehen und mit Händlern um Bronze- und Messinggeräte gefeilscht.

 

»Den schönsten Teil von Tanger bekommt man eigentlich nicht zu sehen. Erinnerst du dich an die häßliche Straße, durch die wir neulich kamen?« fragte sie ihren Vater. »Dort öffnete sich ein altes Tor, und ich konnte einen Blick in einen großen Garten werfen. Zwei verschleierte Frauen standen auf einem Balkon und fütterten Tauben. Es war ein so liebliches Bild, daß ich ganz entzückt war.«

 

Am Nachmittag erstiegen sie einen Hügel, um einer Festlichkeit beizuwohnen. Eine große Anzahl von Stämmen aus der Wüste hatte sich versammelt, um den Todestag eines Heiligen zu feiern. Als Lord Creith und seine Tochter später durch die Stadt zurückkamen, führte er sie seitlich vom Markt an einem Gefängnis vorbei. Sie schauderte, als sie ein entsetzlich abgemagertes Gesicht hinter den Gittern sah.

 

»Möchtest du dir das Gefängnis auch einmal ansehen?«

 

»Nein, danke«, erwiderte sie schnell, und sie wandten sich wieder dem Basar zu.

 

Er öffnete einen leichten, weißen Sonnenschirm, denn die Sonne schien außerordentlich heiß.

 

»Ost ist Ost, und West ist West«, zitierte er. »Am meisten interessieren mich doch die Gedanken dieser Leute. Man begreift den Osten nicht, wenn man die Mentalität seiner Menschen nicht kennenlernt.«

 

Joan, die schon eine Weile hinter ihm hergegangen war, antwortete nicht, aber er war daran gewöhnt, daß sie auf seine Bemerkungen häufig schwieg.

 

»Und wenn du mich fragst –« begann er wieder und drehte sich um, um festzustellen, ob sie auch zuhöre.

 

Aber Joan war nicht zu sehen.

 

Er ging die Straße zurück. An der Ecke eines Hofes stand ein Bettler und bat im Namen Allahs um Almosen; eine verschleierte Frau, die einen Korb mit allerhand Eingeborenenarbeiten trug, kam an ihm vorüber. Aber Joan war nicht zu entdecken. Er schaute an den hohen Mauern der Straße zu beiden Seiten empor, als ob er erwartete, daß sie durch irgendein Wunder dort oben säße.

 

Dann wurde er unruhig und besorgt und eilte die unebene Straße entlang, bis er ihr Ende erreichte. Er schaute nach rechts und links und bemerkte vier Leute, die einen hölzernen Kasten trugen und dabei sangen. Er lief wieder zu dem Bettler zurück und wollte ihn gerade fragen, ob er nicht eine Dame gesehen habe, als er bemerkte, daß der Mann blind war.

 

»Joan!« rief er laut, erhielt aber keine Antwort.

 

Ein Mann, der im Schatten des Tores schlief, wachte auf, starrte auf den bleichen, alten Herrn und verfluchte alle Fremden, die die Sammlung der Gläubigen stören. Dann rollte er sich wieder zusammen und schlief weiter.

 

Lord Creith sah in einiger Entfernung einen französischen Gendarmerieoffizier und stürzte, zu ihm.

 

»Haben Sie nicht eine europäische Dame gesehen – meine Tochter?« begann er zusammenhanglos. Dann erzählte er schnell, wie er Joan aus den Augen verloren hatte.

 

»Wahrscheinlich ist sie in eins der Häuser gegangen. Haben Sie maurische Freunde hier?«

 

»Nein.«

 

»Wo war sie denn, als Sie sie zuletzt sahen?«

 

Lord Creith zeigte es ihm.

 

»Hier ist eine kleine Straße, auf der Sie schnell zum Basar kommen«, sagte der Offizier und führte ihn dorthin.

 

Aber Joan war nicht auf dem großen Markt. Lord Creith eilte ins Hotel zurück. Sie war weder in ihrem Zimmer noch auf der Terrasse. Dort saß nur ein Herr in grauem Anzug und fächelte sich mit seinem Hut Luft zu.

 

Er schaute sich um, als er Lord Creiths Stimme hörte, und sprang auf.

 

»Morlake!« rief der Lord erleichtert. »Joan …!«

 

»Ist etwas passiert?« fragte Jim schnell.

 

»Sie ist verschwunden! Mein Gott, ich fürchte, daß ihr etwas zugestoßen ist!«

 

Kapitel 45

 

45

 

Jim beriet sich kurz mit dem Polizeioffizier, bevor er sich von Lord Creith an die Stelle führen ließ, wo Joan verschwunden war.

 

»Ich glaube, es war hier!«

 

Jim sprach mit dem Beamten, aber dieser schüttelte den Kopf.

 

»Dabei kann ich Ihnen nicht helfen – es könnte zu großen Unannehmlichkeiten für mich führen. Ich kann Ihnen nur beispringen, wenn Sie meine Hilfe brauchen.«

 

»Das genügt mir«, sagte Jim.

 

In der Mauer befand sich ein kleines Tor. Jim ging darauf zu und klopfte.

 

Nach einiger Zeit öffnete sich ein Guckloch, und ein braunes Gesicht erschien in der Öffnung.

 

»Der Scherif ist nicht zu Hause«, sagte die Sklavin.

 

»Öffne, du Rose von Saron«, erwiderte Jim liebenswürdig. »Ich komme von dem Pascha und bringe Neuigkeiten für den Scherif.«

 

Die Frau zögerte.

 

»Ich darf nicht öffnen«, entgegnete sie, aber Jim spürte, daß sie unentschlossen war, und zog daraus sofort Vorteil.

 

»Ich bringe Nachricht von Hamon«, flüsterte er. »Geh zum Scherif und sage ihm das.«

 

Das Guckloch wurde geschlossen. Jim sah sich nach Lord Creith um, der neben ihm stand und ein sorgenvolles Gesicht machte.

 

»Es ist besser, Sie warten drüben bei dem Franzosen.«

 

»Aber wenn sie hier in dem Haus ist, werde ich darauf bestehen, daß –«

 

»Wenn überhaupt etwas zu machen ist, werde ich es erreichen«, sagte Jim grimmig. »Und Sie helfen mir am besten damit, daß Sie nicht dazwischentreten.«

 

Gleich nachdem sich der Lord widerwillig entfernt hatte, wurden die Riegel zurückgezogen. Ein Schlüssel drehte sich im Schloß, das Tor wurde ein wenig geöffnet, und Jim trat ein. Er stand auf dem quadratischen Hof, den er schon vor vielen Jahren einmal gesehen hatte, und blickte zu dem alten, verkommenen Brunnen und der verfallenen Veranda mit den verblaßten Polsterstühlen hinüber.

 

Als aber ein Mann dort erschien, ging er schnell quer über den Hof und stieg eilig zur Veranda hinauf.

 

»Sadi Hafis, du mußt mir helfen«, sagte er.

 

Bei dem Klang dieser Stimme schrak der Maure zusammen.

 

»Großer Gott!« sagte er atemlos. »Ich wußte nicht, daß du in Tanger bist, Milaka!«

 

Sein an und für sich blasses Gesicht schien noch farbloser zu werden.

 

»Was kann ich für Sie tun, mein lieber Captain Morlake?« fragte er dann in vorzüglichem Englisch. »Es ist wirklich eine Überraschung für mich – warum haben Sie denn Ihren Namen nicht gesagt?«

 

»Weil du mich dann nicht hereingelassen hättest. Wo ist Lady Joan Carston?«

 

Bestürzung zeigte sich auf Sadis Gesicht.

 

»Lady Joan Carston? Ich kann mich nicht auf den Namen besinnen. Ist es eine Dame von der Britischen Gesandtschaft?«

 

»Wo ist die junge Dame, die vor einer halben Stunde hier hereingelockt wurde? Ich warne dich, Sadi Hafis! Ich werde dieses Haus nicht ohne sie verlassen!«

 

»So wahr der allmächtige Gott lebt«, protestierte Sadi heftig, »ich weiß nicht, wo die Dame ist, und beim Paradiese Allahs, ich habe sie nicht gesehen. Warum sollte sie denn auch in meinem ärmlichen Hause sein, da sie doch offenbar von hohem englischen Adel ist?«

 

»Wo ist Lady Joan Carston?« wiederholte Jim nachdrücklich. »Bei Gott, Sadi, ich rate dir, mir jetzt endlich Antwort zu geben, oder ich frage einen toten Mann um Auskunft!«

 

Im Nu hatte er eine Pistole gezogen. Der Glanz der Waffe schien Sadi einen Augenblick zu blenden, denn er schloß die Augen und blinzelte.

 

»Das ist ein gewaltsamer Überfall!« rief er aufgeregt auf arabisch. »Ich werde es dem Konsulatsgericht melden –«

 

Jim stieß ihn zur Seite und trat in die fliesenbelegte Halle. Links befand sich eine Tür, die offenbar in Sadis Rauchzimmer führte, denn es roch nach Haschisch und Tabak. In der einen Ecke des Raumes war eine eiserne Wendeltreppe, auf der man in das obere Geschoß gelangen konnte. Sie war eine Merkwürdigkeit in dieser primitiven orientalischen Umgebung. Ohne Zögern eilte Jim hinauf. Mit einem Schrei sprang ein Mädchen, das dort gesessen hatte, auf und verhüllte das Gesicht mit einem Schleier.

 

»Wo ist die englische Dame?« fragte Jim schnell.

 

»O Herr«, sagte sie zitternd, »ich habe keine englische Dame gesehen.«

 

»Wer ist sonst noch hier?«

 

Er eilte durch den halbdunklen Raum und zog die Vorhänge von drei Schlafplätzen zur Seite, aber Joan war nicht da. Dann stürzte er die Treppe wieder hinunter. Er wußte, bevor Sadi noch feuern konnte, was sich ereignen würde, denn er hatte das unverzeihliche Verbrechen begangen, in den Harem eines orientalischen Großen einzudringen.

 

»Steck deine Pistole ein, oder du wirst sterben!« rief er.

 

Sadi feuerte nach der Stelle, wo Jim gestanden hatte, aber als dieser dann unerwartet wieder hinter einer Säule erschien, hob er die Hände in die Höhe. Im nächsten Augenblick warf sich Jim auf ihn und nahm ihm die Waffe ab.

 

»Nun – wo ist Joan Carston?«

 

»Ich sagte dir schon, daß ich es nicht weiß.«

 

Vor der Tür sammelte sich eine Schar furchtsamer Diener. Jim warf die Tür schmetternd ins Schloß und schob die Riegel vor.

 

»Wo ist Joan Carston?«

 

»Sie ist fortgegangen«, erwiderte Sadi dumpf.

 

»Du lügst – sie hatte noch keine Zeit fortzugehen.«

 

»Sie war nur eine Minute hier, dann ging sie in die Straße der Schulen – ein Tor führt von meinem Hause dorthin.«

 

»Mit wem ist sie fortgegangen?«

 

»Das weiß ich nicht.«

 

Jim stand drohend vor ihm, und seine Augen sprühten Zorn.

 

»Sadi«, sagte er langsam und nachdenklich, »kennst du Zafuri? Gestern abend erzählte er mir, daß er deinen Kopf abschlagen wird, weil du ihn bei der Regierung verraten hast. Auch hast du Geld von ihm genommen, um Gewehre für ihn zu kaufen, und du hast das Geld für dich verbraucht. Wenn du mir jetzt die Wahrheit sagst, werde ich dir das Leben retten.«

 

»Mir ist schon so oft gedroht worden, Milaka«, entgegnete Sadi wieder kühner. »Und was ist mir geschehen? Ich bin noch immer am Leben. Und ich erkläre dir noch einmal, ich weiß nichts von dieser Dame.«

 

»Du hast doch eben gesagt, daß sie hier im Hof war und daß man sie durch die Tür dort in die Straße der Schulen gebracht hat! Wer hat sie mitgenommen?«

 

»So wahr Allah lebt, das weiß ich nicht!« rief Sadi.

 

»Das wirst du büßen, Sadi Hafis!«

 

Donnernd warf er die Tür ins Schloß und ging aus dem Haus über den Hof. Er sah, daß Sadi wenigstens insofern die Wahrheit gesagt hatte, als noch eine andere Tür nach der engen Straße führte. Dann erinnerte er sich plötzlich daran, daß Joans Vater Leute gesehen hatte, die eine schwere Kiste trugen. Nachforschungen ergaben, daß vier Männer in der nächsten Straße den Kasten auf einen Wagen geladen hatten, der schon den ganzen Morgen dort gewartet hatte. Ein Kameltreiber, der in der Nähe geruht hatte, bestätigte diese Angabe und sagte, daß sich in dem Kasten etwas bewegt habe. Er habe die Männer nach dem Inhalt gefragt, und sie hätten geantwortet, daß sie Hühner trügen.

 

Jim eilte durch die Menge, die sich auf dem Markt angesammelt hatte, und verschwand unter den Leuten. Zehn Minuten später sah Lord Greith ein großes Auto in schnellstem Tempo die Straße entlangrasen: Jim saß am Steuer.

 

»Ich fand den Wagen vor dem Hotel d’Angleterre«, rief er atemlos. »Gott weiß, wem er gehören mag.«

 

Lord Creith sprang schnell hinein.

 

Jim fuhr die Straße nach Fes entlang. Er konnte die Spuren des Wagens noch zehn Meilen von Tanger entfernt verfolgen.

 

»Dort steht der Wagen ja«, sagte er plötzlich.

 

Die Leute hatten ihn stehengelassen, aber die Kiste stand noch darauf. Jim hielt an. Er sah sofort, daß sie leer war; der Deckel lag im niedrigen Gestrüpp an der Seite des Weges.

 

Als er in die Kiste sah, fand er da einen weißen Schuh.

 

»Er gehört Joan!« rief Lord Creith, als Jim ihm den Fund zeigte.

 

Kapitel 46

 

46

 

Joan Carston schlenderte langsam hinter ihrem Vater her. Sie gingen gerade an einer Gartenmauer vorbei, als sich eine Tür öffnete. Einen Augenblick hielt Joan an, um in den Hof zu sehen. Zuerst war sie sehr enttäuscht, aber im Eingang erschien eine Frau, die sie freundlich anlächelte, die Tür aufhielt und eine einladende Handbewegung machte, als ob hier etwas Schönes zu sehen sei. Joans Neugierde erwachte, und sie trat ein. Plötzlich wurde aber das Tor hinter ihr zugeschlagen, eine große, schwarze Hand bedeckte ihren Mund, und sie wurde von der Türschließerin festgehalten.

 

Bevor ihr zum Bewußtsein kam, was eigentlich geschah, kamen vier Männer auf sie zu, banden ihre Füße mit einem Tuch zusammen und legten ihr ein großes Baumwollbündel auf das Gesicht, das sie am Sehen und Atmen hinderte.

 

Sie sah ein, daß es zwecklos war zu kämpfen, und blieb ruhig liegen, als ihr auch die Hände zusammengeschnürt wurden. Man hob sie auf, nahm die Baumwolle von ihrem Gesicht und band ihr ein Seidentuch um den Mund. Dann wurde sie in einen großen Kasten gelegt und hochgehoben.

 

Die Luft in dem Gehäuse war drückend. Joan fürchtete zu ersticken und versuchte, mit ihrem Kopf den Deckel zu heben. Aber er war von außen fest verschlossen. Sie schien eine Ewigkeit getragen zu werden, dann fühlte sie einen kleinen Stoß, als ob der Kasten auf eine Unterlage gestellt würde. Der Wagen fuhr an, und seine Geschwindigkeit nahm immer mehr zu. Offenbar hatte der Fahrer große Eile, denn er verlangsamte die Fahrt nicht einmal, als es über einen unebenen, holprigen Weg ging. Alle Glieder schmerzten Joan, und sie war daran, das Bewußtsein zu verlieren.

 

Sie mußte wohl auch ohnmächtig geworden sein, denn als sie wieder zu sich kam, lag sie an der Straßenseite. Wagen und Kasten waren verschwunden, die Fesseln an Händen und Füßen gelöst, und die vier Leute, die sie gefangengenommen hatten, beugten sich über sie. Einer von ihnen stellte sie auf die Füße und sagte auf arabisch etwas zu ihr, das sie nicht verstand. Sie schüttelte den Kopf, um ihm klarzumachen, daß sie die Sprache nicht beherrsche. Dann sah sie ein paar Maulesel, die auf sie zu warten schienen. Der größte Mann trug sie zu einem der Tiere und setzte sie in den Sattel. Dann führte er es einen steilen Abhang hinab, der im rechten Winkel von der Straße abbog. Seine Gefährten folgten.

 

Sie hatte furchtbare Kopfschmerzen und konnte kaum ihre Gedanken sammeln. Entsetzlicher Durst quälte sie, und ihre Kehle war ausgetrocknet. Aber der Weg, den sie auf dem Maultier zurücklegen mußte, war nicht lang. In einer Talsenke stand ein Haus mit einem flachen Dach, das von einer hohen, weißen Mauer umgeben war, und die Leute geleiteten sie auf dem Maultier durch das enge Tor.

 

Im Hof blühten viele Blumen in prächtigen Farben, und in der Mitte plätscherte ein Springbrunnen. Sie wartete, während ihre Begleiter die Türen fest verschlossen. Dann wurde ihr bedeutet, daß sie absteigen solle. Man führte sie zum Haus und klopfte an die Tür. Es wurde sofort geöffnet, und ein Mädchen zeigte sich im Eingang. Sie zog Joan herein und brachte sie in einen länglichen Raum. Der Boden war mit schäbigen Teppichen bedeckt, und im Hintergrund stand ein großer, bequemer Diwan.

 

Oben in den Wänden waren Fenster angebracht, durch die helles Licht hereinfiel. Nach den Beschreibungen, die sie gelesen hatte, nahm Joan an, daß sie sich im Harem eines maurischen Hauses befand. Aber sie sah keine anderen Frauen; auch das Mädchen, das sie hereingeführt hatte, verschwand wieder und schloß die Tür.

 

Joan setzte sich auf die Ecke des Diwans und versuchte nachzudenken. Sie mußte der Gefahr tapfer entgegentreten.

 

Die Entführung war so glatt gegangen, daß sie vorbereitet gewesen sein mußte. Aber woher konnten die Leute nur wissen, daß sie durch das Tor gehen würde? Sie mußten tagelang gewartet haben, um ihren Plan zur Ausführung zu bringen. Und wer wollte sie in seine Gewalt bringen?

 

Als sich die Tür öffnete, sprang Joan auf. Das Mädchen trat wieder herein und brachte auf einem großen Messingtablett einheimisches Brot, Früchte und eine braune Flasche mit klarem Wasser. Ein reichverzierter Becher stand daneben. Als sich das Mädchen wieder entfernt hatte, goß Joan Wasser in den Becher und trank gierig. Sie betrachtete die Nahrung zuerst argwöhnisch, aber dann faßte sie Mut und aß von dem Brot.

 

Am anderen Ende des Raumes trat ein Mann durch die Tür und beobachtete sie einige Zeit, ohne daß sie etwas von seiner Anwesenheit ahnte. Schließlich machte er sich durch ein Räuspern bemerkbar, und Joan fuhr entsetzt in die Höhe.

 

»Sie sind es?«

 

Ralph Hamon lächelte gemein.

 

»Das ist ein unerwartetes Vergnügen.«

 

Plötzlich erkannte sie die Zusammenhänge.

 

»Sie also stecken hinter allem?« sagte sie langsam. »Deshalb haben Sie uns zu dieser Reise eingeladen?«

 

»Ja, ich war so frei. Ich wollte Sie ein wenig aus der Nähe dieses Morlake entfernen. Wenn es überhaupt noch eine Gerechtigkeit in England gibt, hat man diesen Menschen verhaftet, denn er hat einen Mord auf dem Gewissen. Sie wissen wahrscheinlich, daß Ihr Gatte in der Nacht vor Ihrer Abreise getötet wurde und daß es Morlake war, der ihn erschossen hat.«

 

Sie warf ihm einen verächtlichen Blick zu.

 

»Sie selbst haben Farringdon getötet – Captain Welling erzählte es mir, bevor ich abfuhr.«

 

Wenn Sie die Absicht hatte, ihm einen Schrecken einzujagen, so hatte sie vollen Erfolg. Sein Gesicht sah plötzlich fahl und verstört aus.

 

»Sie wollen mich nur bluffen!« rief er heiser. »Warum soll denn ausgerechnet ich diesen Säufer erschossen haben?«

 

»Captain Welling hat mir ganz klar gesagt, daß Sie der Mörder sind«, entgegnete sie kühl. »Und Jim Morlake wird bald auf Ihrer Spur sein!«

 

Er nahm sein Taschentuch heraus und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

 

»Was – ich ein Mörder?« fragte er düster. »Nun, mehr als henken können sie mich auch nicht. Ich wollte Ihnen eigentlich etwas sagen, aber Sie haben mein Programm umgestoßen, Joan. Ich kann leicht erfahren, ob Morlake in Tanger ist.«

 

»Ich habe nicht gesagt, daß er in Tanger ist, davon weiß ich nichts.«

 

Seine Züge erheiterten sich.

 

»Ich werde es bald herausbringen«, wiederholte er dann und verließ den Raum durch eine von einem Vorhang verborgene Tür.

 

Einige Minuten später kam das maurische Mädchen zurück und führte Joan in einen Raum auf der Rückseite des Hauses. Aus glasierten Klinkern war hier eine Badewanne in den Fußboden eingemauert, und das Mädchen gab Joan ein Zeichen, sich zu entkleiden. Über der Lehne eines etwas wackligen Stuhls hingen Kleider, wie sie maurische Frauen trugen. Zuerst sträubte sich Joan, aber das Mädchen zeigte bedeutungsvoll auf die Tür, und Joan vermutete, daß man Gewalt anwenden würde, wenn sie Widerstand leistete. Sie entkleidete sich deshalb unter den wachsamen Augen des Mädchens und stieg ins Bad.

 

Ihre Kleider wurden entfernt, und es blieb ihr nichts anderes übrig, als danach das arabische Kostüm anzulegen.

 

Die Dunkelheit brach schon herein, als Ralph Hamon zu ihr zurückkehrte.

 

»Ihr Freund Morlake hat eine böse Geschichte angerichtet die maurischen Behörden sind hinter ihm her, aber er hat es ja selbst so gewollt. Ein Mann, der so gut mit den Sitten des Landes vertraut ist wie er, sollte es sich doch zweimal überlegen, bevor er versucht, in den Harem eines maurischen Großen einzudringen. Sie werden sich vielleicht dafür interessieren, daß er Sie heute nachmittag gesucht hat.«

 

»Alles, was Sie mir von ihm sagen, interessiert mich sehr.«

 

Sein Gesicht verfinsterte sich.

 

»Ich glaube, es ist besser, wenn Sie die Dinge von einer anderen Seite betrachten, Joan, und vor allem den Tatsachen Rechnung tragen, wie sie nun einmal sind. Es wird eine große Veränderung in Ihrem und in meinem Leben geben.«

 

Er setzte sich neben sie auf den Diwan, aber sie stand auf.

 

»Ich werde jetzt endlich das Leben führen, von dem ich schon so lange geträumt habe.«

 

»Glauben Sie denn nicht, daß die Gerechtigkeit Sie auch hier erreichen wird?«

 

»Gerechtigkeit!« sagte er ironisch. »In diesem Bergland gilt nur das Gesetz des Stärkeren und die Freundschaft des Häuptlings, der den Distrikt regiert. Meine liebe Joan, ich werde Ihnen vielleicht sogar den größten Dienst erweisen – Sie werden das Leben kennenlernen – ein Leben, das wenigstens lebenswert ist.«

 

»Was soll das heißen?«

 

»Sie werden mich heiraten. Sie werden Arabisch lernen. Ich bringe es Ihnen bei, und dann lesen wir zusammen die Gedichte von Hafis. Sie werden erstaunt sein, welche Freuden Ihnen das Leben erschließt.«

 

»Reden können Sie ganz gut«, unterbrach sie ihn. »Sie sind wirklich ein sonderbarer Mensch. Ich weiß nicht, wieviel Morde Sie begangen haben, aber einen haben Sie sicher auf dem Gewissen, und wahrscheinlich ist Ihr ganzer Reichtum auf ein schreckliches Verbrechen gegründet.«

 

Er war sprachlos vor Wut und Furcht, als sie ihm diese Worte ins Gesicht schleuderte.

 

»Ich bin kein gemeiner Mörder«, stieß er hervor. Sein Gesicht zuckte. »Ich bin überhaupt kein Mörder, hören Sie? Ich – ich habe zwar viel getan, aber ein Mörder bin ich nicht.«

 

»Wer hat denn Ferdie Farringdon getötet?« fragte sie kalt.

 

Er hob den Blick, und sie las Sorge und Furcht darin.

 

»Ich weiß nicht – vielleicht habe ich es –, ich wollte ihn ja nicht töten … ich wollte – ich weiß jetzt nicht mehr, was ich beabsichtigte. Ich wollte eigentlich Morlake erschießen – ich fuhr mit meinem Wagen bis an den Ort und ging dann zu Fuß.«

 

Er bedeckte die Augen mit der Hand, als ob er eine schreckliche Erscheinung bannen wollte. Dann verließ er den Raum.

 

Sie sah ihn an diesem Abend nicht wieder, aber als sie auf dem Diwan saß und vor sich hinträumte, hörte sie plötzlich, wie die Tür geöffnet wurde. Sie richtete sich auf und sah die junge Araberin, die einen langen, blauen Mantel über dem Arm trug und ihn über Joans Schultern hängte. Der zweite Teil der Reise sollte also beginnen.

 

Wohin würde sie führen? Sie vertraute darauf, daß Jim Morlake ihr irgendwo begegnen und ihr helfen würde.

 

Kapitel 47

 

47

 

Hamon hatte Joan die Wahrheit erzählt, als er sagte, daß Jim in große Unannehmlichkeiten mit den Behörden geraten sei. Aber das waren Schwierigkeiten, die er kannte und deren er Herr werden konnte. »Es wird nahezu unmöglich sein, die Häuser zu durchsuchen, in denen sie verborgen sein könnte«, sagte er zu Lord Creith. »Ich bin schon jetzt in eine recht böse Lage gekommen. Wenn wir jetzt etwas unternehmen, können wir es nur auf eigene Faust tun. Die Räuber sind jedenfalls nicht die Fesstraße weiter entlanggegangen. Ich bin zwanzig Meilen über die Stelle hinausgegangen, wo wir den Wagen fanden, und ich habe niemand gesehen. Ich werde jetzt weitere Nachforschungen anstellen.«

 

Der alte Herr ging in sein Zimmer hinauf, um eine Vollmacht zu holen, die er diesen Nachmittag von den verschiedenen Konsulaten besorgt hatte. Jim wartete unten und trat auf den Balkon hinaus. Der Abend war kühl, und der Vollmond erhob sich in voller Pracht am wolkenlosen Himmel. Einen Augenblick war er überwältigt von der Schönheit dieses Anblicks. Die breite Hotelterrasse war verlassen, nur ein Mann saß noch dort, der den Mantelkragen hochgeklappt und die Füße auf das Steingeländer gelegt hatte. Er mußte Amerikaner oder Engländer sein. Niemand sonst würde es wagen, sich der Nachtluft auszusetzen. Der Fremde rauchte eine Zigarre.

 

Lord Creith erschien mit der Vollmacht.

 

»Ich fürchte, sie wird Ihnen auch nicht viel nützen«, meinte er, »aber in Orten, die die Oberhoheit des Sultans anerkennen, werden Ihnen die Behörden Hilfe und Beistand leisten.« Er streckte ihm die Hand entgegen. »Also, gehen Sie – ich wünsche Ihnen viel Glück. Bringen Sie mir Joan zurück, ich muß sie wiederhaben – und ich glaube, Sie auch.«

 

Jim drückte die Hand des alten Mannes, nickte ihm noch einmal zu und schob ihn dann durch die Glastür in die große Hotelhalle zurück. Er mußte jetzt allein sein.

 

Eine Sekunde schaute er dem alten Mann noch nach, der etwas gebückt über den Korridor schritt, dann wandte er sich um und eilte die Stufen hinunter, die zur Küstenstraße führten. Er war gerade unten, als er angerufen wurde.

 

»Hallo!«

 

Es war der Fremde mit der Zigarre. Jim dachte, daß der andere sich geirrt habe, und ging weiter.

 

»Kommen Sie doch her, Morlake!«

 

Erstaunt wandte sich Jim um.

 

»Wenn Sie mich so gut kennen, daß Sie meinen Namen wissen, darf ich Ihnen sicher ohne Umschweife sagen, daß ich in großer Eile bin.«

 

»Gewiß.« Der Mann streckte die Beine gemütlich von sich. »Ich möchte von Ihnen nur eins erfahren – haben Sie vielleicht etwas von meinem Freund Hamon gesehen?«

 

Jim beugte sich nieder, um das Gesicht des Fremden besser sehen zu können. Es war Captain Welling …

 

Kapitel 48

 

48

 

»Was in aller Welt tun Sie denn hier?«

 

»Ich werde mir Rheumatismus holen«, brummte Welling. »Sie sind in Eile – was gibt es denn?«

 

»Lady Joan ist verschwunden.« Jim erzählte ihm von der Entführung.

 

Der Detektiv hörte nachdenklich zu.

 

»Das ist allerdings eine schlechte Neuigkeit«, sagte er dann. »Ich hatte schon gehört, daß es einen Skandal gegeben haben soll, aber ich wußte nicht, was es war. Mein Spanisch ist schon sehr in Vergessenheit geraten, und Arabisch verstehe ich so gut wie gar nicht. Lady Joan! Das ist recht böse. Was haben Sie denn nun vor?«

 

»Ich will mich nach ihr umsehen!« erwiderte Jim kurz.

 

»Dann darf ich Sie nicht aufhalten. Haben Sie nichts von Hamon entdeckt? Ich habe ihn bis Cadiz verfolgt. Er kam auf der ›Peleago‹ nach Gibraltar. Dort habe ich die Spur verloren. Er war plötzlich verschwunden, und ich konnte ihn nicht wieder auffinden.«

 

Bestürzt hörte Jim diese Nachricht.

 

»Dann ist er hier – gesehen habe ich ihn allerdings noch nicht. Zuerst hatte ich Sadi Hafis in Verdacht, aber es ist leicht möglich, daß Hamon die Entführung dirigierte.«

 

Mit einem hastigen Lebewohl eilte er fort.

 

In der Nähe der Straße der Moschee stand ein kleines, unansehnliches Haus, zu dessen Tür man auf einer schmalen Treppe emporklettern mußte. Jim stieg hinauf, klopfte an und wurde sofort eingelassen. Er nickte dem maurischen Schneider, der mit untergeschlagenen Beinen bei seiner Arbeit saß, einen Gruß zu, ging in einen inneren Raum, zog den Rock aus und erschien dann wieder in der Tür.

 

»Haben Sie alles vorbereitet?« fragte er.

 

»Ja«, entgegnete der Schneider, der nicht von seiner Arbeit aufschaute. »Sie warten auf Sie in der Straße, wo der englische Arzt wohnt.«

 

Jim hatte die Weste ausgezogen, als er plötzlich ein lautes Brummen hörte. Er sah nach einer viereckigen Öffnung, zu der eine alte, zerbrochene Leiter hinaufführte.

 

»Wer ist dort oben?«

 

Der Schneider fädelte mit außerordentlicher Schnelligkeit eine Nadel ein, bevor er antwortete.

 

»Ein Mann«, sagte er dann gleichgültig. »Er hat das Dachzimmer, das früher der Wasserverkäufer bewohnte. Yassin konnte keinen Mieter finden, weil der Wasserverkäufer an den Pocken starb. Deshalb gab er es an den Englesi für sechs Pesetas den Monat. Er raucht und wird jetzt in ein Café gehen, wo er seine Pfeife Haschisch für zehn Centimos bekommt.«

 

Als Jim noch verwundert nach oben schaute, erschien ein zerrissener Schuh auf der Leiter, darüber ein Bein, das kaum durch eine zerlumpte Hose bedeckt wurde. Der Mann stieg langsam herab, und Jim betrachtete ihn genau. Schmutzig graue Haare hingen über den Kragen des Mannes herunter, und sein Anzug war zerschlissen. Er hatte eine dicke, rote Nase, und ein verwilderter Bart umrahmte sein Gesicht. Schläfrig richtete er den trüben Blick auf Jim.

 

»Guten Abend«, keuchte er.

 

»Sind Sie Engländer?« fragte Jim, überrascht und abgestoßen durch die häßliche Erscheinung des Fremden.

 

»Ja, Brite. Aber sehen Sie mich doch nicht so verteufelt an, als ob Ihnen schlecht würde, mein Lieber! An Ihrer verfluchten Aussprache erkenne ich, daß Sie aus den Staaten sind. Was treiben Sie denn hier? Leihen Sie mir fünf Peseten, alter Junge, ich erhalte morgen eine Geldsendung von zu Hause.«

 

Jim drückte ihm eine spanische Münze in die ausgestreckte Hand und sah dem verkommenen Mann nach, der in die Nacht hinauswankte.

 

»Wie lange ist der schon hier?«

 

»Fünf Jahre«, antwortete der Schneider, »mir ist er auch fünf Pesetas schuldig.«

 

»Wie heißt er denn?«

 

»Das weiß ich nicht – was kommt es auch auf den Namen an?«

 

Jim gab ihm innerlich recht.

 

*

 

Der heruntergekommene Mann schwankte die Straße entlang und stieß gleich darauf mit einem anderen Europäer zusammen.

 

»Verdammt noch einmal«, sagte Hamon. »Passen Sie doch auf!«

 

Er war sehr erstaunt, als ihm auf englisch erwidert wurde.

 

»Verfluchter Hund! Machen Sie selbst die Augen auf, Sie Esel! Wie können Sie einen Gentleman anrennen – Sie sind ja vollständig betrunken, Sir!«

 

Ralph war so verwundert, daß er schnell ein Streichholz ansteckte, aber er hätte es beinahe wieder fallen lassen, als er das blutunterlaufene Gesicht und den roten Bart des Mannes sah.

 

»Das Licht bricht aus der Finsternis«, murmelte der Haschischraucher. »Entschuldigen Sie, wenn meine Sprache etwas ungebildet war – verzeihen Sie.« Er schaute zum mondhellen Himmel hinauf.

 

»Würde es Sie sehr belästigen, wenn ich Sie bäte, mir den Stern Gamma im Bild des Orion zu zeigen? Mein Café liegt nämlich ungefähr in dieser Richtung. Ich lebe in einer greulichen Höhle, Sir, über dem Laden eines schrecklichen maurischen Schneiders. Und was bin ich, mein lieber Freund? Ein Geistlicher! Kein Priester, den man ausgestoßen hat – sondern ein Prediger! Ein Offizier, der die höchste Auszeichnung der Welt erhalten hat, das Victoria-Kreuz! Aylmer Bernando Bannockwaite! Aber würden Sie nicht die außerordentliche Liebenswürdigkeit haben, mir fünf Peseten zu leihen – morgen erhalte ich eine Geldsendung von zu Hause.«

 

Wie im Traum gab ihm Ralph Hamon einen Geldschein.

 

Bannockwaite! Der Mann, der Joan und Ferdie Farringdon getraut hatte!

 

Kapitel 49

 

49

 

Vier Stunden lang ritt Joan in der Nacht auf einem tänzelnden Maultier durch eine Landschaft, die sie nicht sah und deren Charakter ihr ein Geheimnis blieb. Soweit sie erkennen konnte, folgte die kleine Karawane keinem festliegenden Weg. Von Zeit zu Zeit verfingen sich ihre Füße in dem dornigen Gebüsch, das sich mit seinen Spitzen auch in ihr weißes Kleid einhakte.

 

Bei Tagesanbruch entdeckte sie, daß sie sich in einem wilden und anscheinend unbewohnten Landstrich befanden. Sechs Männer und das Mädchen, das sie schon bedient hatte, begleiteten sie. Einer der Leute machte ein Feuer und hängte einen Wasserkessel darüber, während ein anderer die Maulesel zu einem nahen Bach führte.

 

Joan blickte umher und versuchte vergeblich, sich vorzustellen, wo sie waren. Blaue Hügel zogen sich am Horizont hin. Ein Araber durchsuchte das Gebüsch und fand ein stilles, schattiges Plätzchen. Dort breitete er ein Tuch aus und deutete ihr an, daß sie sich zur Ruhe legen sollte. Aber nie war sie wacher gewesen, und obgleich sie sich dorthin zurückzog, konnte sie doch nicht schlafen. Sie mußte immer wieder ihre Lage überdenken.

 

Die Araberin brachte ihr Kaffee und Weizenkuchen, und Joan war dankbar für die Erfrischung, denn sie hatte seit dem Mittag vorher nichts gegessen.

 

Nachdem die kleine Karawane zwei Stunden geruht hatte, wurde der Marsch fortgesetzt. Joan wunderte sich zuerst, daß die Leute, denen sie zuweilen begegnete, nicht erstaunt waren, eine europäische Frau zu sehen. Aber dann erinnerte sie sich daran, daß sie maurische Kleidung trug. Wenn die Leute sie überhaupt ansahen, so war es nur, weil sie ihr Gesicht nicht verschleiert hatte.

 

Die Berge rückten näher und näher, und sie entdeckte einen weißen Flecken an einem Abhang, ohne zu wissen, daß es das Ziel ihrer Reise war. Als der Weg sich aufwärtszog, erkannte sie allmählich, daß es ein Gebäude war. Nach und nach traten die Umrisse des palastartigen Hauses immer deutlicher hervor, und sie war erstaunt über die Schönheit dieser Anlage. Es erschien ihr wie ein weitstrahlender Edelstein, und selbst aus dieser Entfernung konnte sie die Anmut der Gärten und Terrassen ahnen, die sich nach oben und unten in verschiedenen Abstufungen um das Haus zogen.

 

Die Landschaft hatte hier wellenförmigen Charakter, und als die kleine Karawane zwischen Sträuchern einen sanften Hügelrücken hinaufritt, sah Joan einen Mann auf einem müden Pferd. Er hielt in kurzer Entfernung von ihnen rechts an der Straße. Die anderen schenkten ihm weiter keine Beachtung, aber das maurische Mädchen sagte ein Wort, das Joan verstand.

 

»Ein Bettler?« fragte sie erstaunt. Bei anderer Gelegenheit hätte sie sich darüber gewundert, einen Bettler zu Pferd zu sehen.

 

Es war ein älterer Mann mit grauem Bart. Sein Gesicht sah aus, als ob er noch nie Wasser und Seife benützt hätte, und seine Kopfbedeckung war alt und verschossen. Er schaute auf die kleine Schar, als sie vorüberkam, und Joan betrachtete bestürzt das zerrissene Gewand, das seine gebeugte Gestalt nur spärlich bedeckte, und das schmutzige Hemd, das sich am Hals zeigte. Sie glaubte, noch nie einen so abstoßenden Menschen gesehen zu haben.

 

»Almosen!« sagte er. »Almosen im Namen des barmherzigen Gottes!«

 

Einer der Männer warf ihm eine Kupfermünze zu, und er fing sie geschickt auf.

 

»Almosen, o du schöne Rose, im Namen des Barmherzigen und Gnädigen! Habe Mitleid mit den Armen!«

 

Seine Stimme erstarb in einem Murmeln.

 

Joan war sehr müde, als sie die Tore erreichten und durch die blühenden Gärten schritten. Das Mädchen lief zum Haus voraus und sprach mit einer der Frauen, die neugierig ihre Ankunft beobachteten.

 

Dann trat eine behäbige Frau einige Schritte vor. Ihr Gesichtsausdruck war düster und verärgert, und sie sagte etwas in scharfem Ton. Als Joan den Kopf schüttelte, um anzudeuten, daß sie sie nicht verstanden habe, biß sie sich ungeduldig auf die Lippen.

 

Das maurische Mädchen schien sich vor der Frau zu fürchten; es zeigte auf eine Tür, öffnete sie schnell und bat Joan herein.

 

Das Zimmer erinnerte an einen geschmackvoll eingerichteten englischen Raum. Nur die Fenster waren, wie in den meisten maurischen Häusern; mit Gittern versehen. Joan sah sich neugierig um.

 

»Wer war denn die Frau?« fragte sie in dem gebrochenen Spanisch, in dem sie sich mit der Araberin zu verständigen suchte.

 

Das Mädchen wollte sich vor Lachen ausschütten.

 

»Das ist Senora Hamon!«

 

Joan setzte sich auf den nächsten Sessel und lachte gleichfalls laut auf.

 

Kapitel 5

 

5

 

Ralph Hamon sprang auf. Sein Gesicht zuckte, und er biß sich auf die Lippen, um seine Erregung zu meistern.

 

»Sie verfluchter Hund! Ich soll gehenkt werden? Das will ich Ihnen aber heimzahlen! Ich weiß genug von Ihnen!«

 

Morlake machte eine abwehrende Bewegung.

 

»Versuchen Sie nicht, mir einen Schrecken einzujagen. Seien Sie vernünftig. Sagen Sie mir alles, was Sie inzwischen erlebt haben. Wie ich höre, haben Sie eine halbe Million bei den Varoni-Diamanten verdient, und sogar auf ehrliche Weise – das ist das Merkwürdigste an der ganzen Sache. Wenn Sie doch nur auf den Erfolg gewartet hätten, Hamon! Dann brauchten Sie jetzt nicht um Ihr Leben zu zittern. Wissen Sie eigentlich, wie die Eingeborenen Affen fangen? Sie stecken eine Pflaume oder eine Dattel in eine enghalsige Kürbisflasche, der Affe greift hinein, packt die Dattel, aber er kann die Hand durch den engen Hals nicht mehr herausziehen. Die Dattel will er nicht loslassen, er ist aber auch nicht stark genug, die Flasche zu zertrümmern, und so wird er gefangen. Sie sind auch so ein Affenmann!«

 

Hamon hatte seine Wut unterdrückt, aber er sah noch unheimlich bleich aus.

 

»Ich verstehe Sie nicht. Sie sind einer von diesen ganz Oberschlauen, die sich gern reden hören. Ich habe Sie gewarnt. Vielleicht sind Sie die Kürbisflasche, die zerschmettert wird!«

 

»Das mag sein. Aber wenn ich in die Binsen gehe, so geschieht es wenigstens für eine gute Sache. Inzwischen werde ich in Wold House wohnen und mich daran freuen, daß sich alle Leute hier über meine geheimnisvolle Erscheinung den Kopf zerbrechen.«

 

»Das Geheimnis werde ich bald aufklären«, rief Hamon.

 

Am Rand des Wegs blieb er noch einmal stehen und drehte sich um. »Ich lasse Ihnen sieben Tage Zeit, von hier zu verschwinden!«

 

»Schließen Sie das Tor, wenn Sie hinausgehen«, erwiderte James Morlake.

 

Hamon stieg in seinen Wagen und fuhr verärgert die Hauptstraße entlang, bis er wieder zu dem holperigen Weg kam, der die Grenze der Creithschen Besitzung bildete. Dann wurde er etwas ruhiger. Das war jetzt sein Eigentum, er war Herr dieser Äcker und der kleinen, traulichen Farmhäuser, die sich zwischen den Hügeln in die Täler einschmiegten. Aber er wollte auch das schlanke, schöne Mädchen besitzen.

 

Er fühlte das unbändige Verlangen, Joan zu zähmen, zu erniedrigen und für ihre Anmaßung zu bestrafen. Das wäre etwas, das ihn mehr befriedigen würde als alles andere …

 

Das Auto war schon auf die Nebenstraße abgebogen, als sein Blick auf ein kleines Haus fiel, das sich hinter einem Holzzaun erhob. Er hielt an, weil er sich erinnerte, daß hier seit gestern eine Freundin Joans wohnte.

 

Ralph Hamon war ein Mann, der alle Vorteile wahrnahm. Eine Freundin Joans konnte ja auch seine Freundin werden. Vielleicht konnte er mit Hilfe dieser Frau Joans Antipathie überwinden.

 

Er stieg aus und ging auf die Hauptstraße zurück, bis er zur Gartentür kam. Dann trat er ein und sah sich nach rechts und links um, aber die Bewohnerin war nicht im Garten. Schließlich klopfte er an die Haustür. Als ihm Mrs. Cornford öffnete, schaute er sie mit starren Augen an, als ob sie eine Erscheinung aus einer anderen Welt wäre.

 

Dann versuchte er zu sprechen, aber nur ein unverständliches Stöhnen kam über seine Lippen. Plötzlich drehte er sich um und eilte wie gehetzt den Pfad zurück. Schwere Schweißtropfen standen auf seiner Stirn, und er biß sich vor Furcht auf die Lippen. Elsa Cornford kannte einen Teil jenes Geheimnisses, das der Besitzer von Wold House bisher nicht herausgebracht hatte.

 

Kapitel 50

 

50

 

»Und die anderen Frauen? Sind das auch seine Gemahlinnen?« fragte Joan.

 

»Nein, hier ist nur eine Frau. Die anderen sind Dienerinnen. Sie ist erst vor einiger Zeit hergekommen. Seit vielen Jahren hat sie ihren Mann nicht gesehen.«

 

Joan wunderte sich, daß sie so vergnügt sein konnte. Aber die frische, gesunde Luft in den Bergen tat ihr gut und gab ihr neue Kraft. Oder war es vielleicht das Bewußtsein, daß die Zukunft ihr keine Überraschungen mehr bringen konnte? Ralph Hamon hatte diesen Zufluchtsort sicher schon seit langem vorbereitet.

 

Alles war herrlich, aber es blieb doch ein Gefängnis.– vielleicht noch etwas Schlimmeres.

 

Am andern Ende des Zimmers fiel Licht durch ein großes Fenster, das von außen durch ein geschmiedetes Gitter geschlossen war. Sie öffnete es und staunte über die Schönheit und Pracht des weiten Tales. In der Ferne konnte sie das Meer erkennen, und am Horizont tauchte der düstere Felsen von Gibraltar auf.

 

Im Tal bewegte sich etwas. Sie hielt die Hand vor die Augen, um sie gegen die hellen Sonnenstrahlen zu schützen. Es war der Bettler, der wohl nach Tanger zurückritt.

 

Sie schloß das Fenster, ging zum Eingang zurück und drückte auf die silberne Klinke. Zu ihrem Erstaunen gab sie nach, und eine große weite Halle öffnete sich vor ihr. Auch die Pendeltüren, die ins Freie führten, waren nicht verschlossen. Offensichtlich ließ man ihr hier also größere Freiheit, und sie war dankbar dafür.

 

Aber als sie in den Garten kam, erkannte sie, daß es hoffnungslos war, von hier entkommen zu wollen. Die Mauern waren selbst für ein maurisches Haus ungewöhnlich hoch. Oben waren sie mit unzähligen Glasscherben belegt, die im Sonnenlicht glitzerten und daran erinnerten, daß jeder Fluchtversuch vergeblich sein würde.

 

Trotz ihres festen Vorsatzes, tapfer zu bleiben, ging sie langsam und niedergeschlagen in das große Zimmer zurück, das augenscheinlich für sie reserviert war. –

 

Ralph Hamon hatte Nachricht von dem Gelingen der Flucht erhalten und ritt nun quer durch das unebene Gelände. Er triumphierte, daß er sein Ziel soweit erreicht hatte, und sein Blick ruhte wohlgefällig auf dem weißen Haus in den Bergen.

 

Dort war Joan Carston endlich sein eigen in des Wortes wahrster Bedeutung. Er hatte vorher in Tanger noch eine geheime Unterredung mit Mr. Bannockwaite gehabt, die auch zu seiner Zufriedenheit ausgefallen war.

 

Sadi Hafis ritt an Hamons Seite, aber er war lange nicht so froh gestimmt wie dieser. Er schaute düster drein und hatte noch kaum ein Wort gesprochen.

 

»Wir werden bald nach Sonnenuntergang dort sein«, sagte Ralph.

 

»Mag der Himmel wissen, warum ich überhaupt mitkomme«, erklärte Sadi unwirsch. »Sie haben all meine Angelegenheiten zu einem schlechten Ende gebracht!«

 

»Beruhigen Sie sich doch. Lydia hatte einen Aufenthalt in Lissabon. In ein paar Tagen ist sie hier. – Ach, Joan ist wirklich außergewöhnlich schön«, rief er begeistert.

 

»Würde ich sonst diese beschwerliche Reise machen?« fragte Sadi kühl.

 

Ralph Hamon wurde aufmerksam.

 

»Nun ja, Sie mögen Ihre Neugierde befriedigen und dann wieder gehen«, erwiderte er kurz. »Sie dürfen ihr Aufmerksamkeiten erweisen, wo sie am Platz sind – aber damit von Anfang an kein Mißverständnis herrscht, diese junge Dame heiratet mich.«

 

Der Scherif zuckte die Schultern.

 

»Frauen gibt es soviel wie Bettler«, entgegnete er gleichgültig und wies mit dem Kopf nach der wenig anziehenden Gestalt, die ihnen entgegenkam.

 

»Almosen, im Namen Allahs, des Allmächtigen und Allgütigen!« murmelte der zerlumpte Greis.

 

»Ein zahnloser, alter Teufel«, sagte Hamon und warf ihm eine Kupfermünze hin.

 

»Gott gebe dir glückliche Träume!« bedankte sich der Bettler mit singender Stimme und ritt langsam hinter den beiden her. »Mögen dir die Freuden des Himmels sicher sein und die Herrlichkeiten der Propheten! Laß mich unter dem Dach deines Hauses zur Nacht schlafen, denn ich bin ein alter Mann …«

 

Sadi konnte als Maure diese Bitte mit philosophischer Ruhe und Gleichgültigkeit anhören. Ralph wandte sich zornig um.

 

»Mach, daß du fortkommst, du Hund!« brüllte er. Doch der Alte folgte ihnen unentwegt und wiederholte dauernd seine eintönigen Bitten.

 

»Lassen Sie ihn schwatzen«, sagte Sadi. »Wozu kümmern Sie sich überhaupt um ihn? Sie kennen doch Marokko lange genug.«

 

Der Bettler hielt sich ständig in einiger Entfernung von ihnen, und erst als sie ihm die Tür vor der Nase zuschlugen, kehrte er schimpfend und unzufrieden um. Später sah Ralph, daß das Pferd in der Umgebung graste. Eine blaue Rauchwolke stieg aus den Büschen zum Himmel auf, wo der Alte sein Lager bereitete.

 

Ralph Hamon hatte noch eine unangenehme Aufgabe vor sich, und er hatte es nicht besonders eilig, sie zu lösen. In einem kleinen Raum hinter der Halle speiste er mit Sadi zu Abend.

 

»Sie sind aber kein eifriger Liebhaber«, meinte der Araber. »Haben Sie sie schon gesehen?«

 

»Sie kann warten.«

 

»Dann werde ich ihr einstweilen meine Aufwartung machen«, erwiderte Sadi schmeichlerisch. »Sie sind kein Muselman, und ich denke, die junge Dame wird beruhigt sein, wenn sie einen wirklichen maurischen Edelmann kennenlernt und erfährt, daß wir auch gute Sitten haben.«

 

»Ich werde Sie später vorstellen, aber erst muß ich noch etwas anderes erledigen«, entgegnete Ralph kurz.

 

Die andere Aufgabe bestand darin, seine Frau zu sprechen, die er acht Jahre nicht gesehen hatte. Als er in ihr Zimmer trat, wollte er nicht glauben, daß diese dicke, düstere Frau einst ein schönes maurisches Mädchen von schlankem, wundervollem Wuchs gewesen war.

 

»So bist du doch endlich gekommen?« fragte sie hart. »All diese Jahre habe ich nichts von dir gehört oder gesehen.«

 

»Hast du etwa Hunger gelitten?« erwiderte er kühl. »Hast du kein Dach über dem Kopf gehabt?«

 

»Wer ist dieses Mädchen?«

 

»Sie wird bald meine Frau sein.«

 

Die Maurin sprang auf und zitterte vor Zorn.

 

»Warum hast du mich dann hierherholen lassen?« rief sie aufgebracht? »Soll ich wie eine Närrin vor meinen Dienerinnen dastehen? Warum hast du mich nicht in Mogador gelassen? Dort hatte ich wenigstens Freunde und Bekannte. Hier bin ich mitten in der Wildnis lebendig begraben. Soll ich deinem neuen Weib vielleicht als Sklavin dienen? Das tue ich niemals, Hamon!«

 

Er fühlte sich nun sicher.

 

»Du kannst nächste Woche wieder nach Mogador zurückkehren. Ich habe dich aus einem besonderen Grund hierherkommen lassen.«

 

Sie war hergebracht worden, damit Joan sie sehen und ihre eigene Lage besser beurteilen solle.

 

Er ging zu Sadi zurück.

 

»Ich gehe jetzt zu meiner Dame. Später werde ich Sie vorstellen.«

 

Er klopfte an die Tür des Wohnzimmers, und als keine Antwort kam, trat er ein. Joan saß vor dem großen Flügel und hatte die Hände im Schoß gefaltet. Sie hatte sich gerade an das Instrument gesetzt, als Hamon in der Tür erschien.

 

»Wie geht es Ihnen – fühlen Sie sich schon ein wenig heimisch?« fragte er.

 

Eine Weile blieb er stehen und bewunderte ihre schlanke Gestalt und ihre ruhigen, gleichmäßigen Züge. Sie schenkte ihm überhaupt keine Beachtung. Er hätte ebensogut ein Diener im Herrenhaus von Creith sein können, der auf ihr Klingelzeichen erschienen war.

 

»Ist es hier nicht herrlich?« fuhr er fort. »Dies ist einer der schönsten Plätze Marokkos. Eine Dame könnte es hier schon ein oder zwei Jahre aushalten. Haben Sie meine Frau Nummer eins gesehen?«

 

Er setzte sich und steckte sich eine Zigarre an.

 

»Wollen Sie mit Nummer eins Mrs. Hamon bezeichnen?« fragte sie langsam.

 

Er nickte.

 

Sie hatte Ralph Hamon noch nie so vergnügt gesehen. Er machte einen so freien und fröhlichen Eindruck, als ob alle Sorgen von ihm abgefallen wären.

 

»Sie müssen mir erzählen, wie man hier Ehen schließt. Ich fürchte, daß ich darüber vollkommen unwissend bin.«

 

»Hören Sie zu, Joan. Ich werde Sie nicht nach maurischem Ritual heiraten. Es wird eine christliche Eheschließung werden, und ein wirklicher Geistlicher der englischen Kirche wird uns trauen. Ich habe Sie vorhin gefragt, ob Sie meine maurische Frau gesehen haben. Was denken Sie von ihr?«

 

Joan erwiderte nichts. Sie bemühte sich, seine Absicht zu erkennen.

 

»Was denken Sie von ihr?« fragte er noch einmal.

 

»Sie tut mir leid – sie war nicht gerade sehr höflich zu mir, aber trotzdem fühle ich Sympathie für sie.«

 

»So? Die Dame ist Ihnen sympathisch? Sie ist etwas fett und hat ein zu dickes Gesicht. In Marokko werden sie alle so, weil sie sich dauernd im Harem aufhalten müssen, keine Freiheit und nicht genügend Bewegung haben. Sie werden hier behandelt wie Vieh, in einem heißen Haus eingeschlossen, in dem Tag und Nacht furchtbare Luft herrscht. Joan, möchten Sie tatsächlich ein solches Leben führen?«

 

Sie sah ihm gerade ins Gesicht.

 

»Ich möchte überhaupt nicht Ihre Frau sein.«

 

»Möchten Sie das Leben einer maurischen Frau führen?« wiederholte er. »Oder möchten Sie nach europäischer Weise heiraten und Kinder haben, die später Ihren Namen tragen und den Titel Ihres Vaters erben?«

 

Sie erhob sich schroff und drehte ihm den Rücken zu.

 

»Nun gut, wir wollen diese Frage im Augenblick nicht erörtern«, sagte Ralph und stand auch auf. »Ich möchte Sie bitten, jetzt Sadi Hafis zu empfangen. Er ist ein guter Freund von mir. Seien Sie liebenswürdig zu ihm, aber nicht zu sehr. Er ist im Moment nicht gut auf mich zu sprechen, da er Lydia haben wollte. Sie hat ihn aber ausgeschlagen. Und ich wünsche nicht, daß er sich Hoffnungen auf Sie macht.«

 

Er verschwand und ließ sie mit ihren Gedanken allein. Nach einigen Minuten kehrte er mit Sadi zurück.

 

Joan erkannte sofort, daß dieser Mann eine ebenso große Gefahr für sie bedeutete wie Ralph Hamon, vielleicht eine noch größere. Mit Abscheu betrachtete sie Sadis dickes, ausdrucksloses Gesicht und seine dunklen, trüben Augen, mit denen er sie durchbohrte und ihren Wert einschätzte. Sie haßte ihn wegen seines Benehmens, seiner höflichen Sprache und seines glatten Lächelns. Der Maure blieb nur so lange, um Eindruck auf sie zu machen.

 

»Was denken Sie von ihm?« fragte Ralph, als Sadi fort war.

 

»Ich bin mir noch nicht klar über ihn«, log sie.

 

»Ein guter Freund, aber auch ein furchtbarer Feind«, erwiderte er vielsagend. »Ich wünschte, Lydia wäre vernünftiger gewesen.«

 

Plötzlich erhob er sich.

 

»Ich verlasse Sie jetzt – Sie werden Ihr Schlafzimmer finden? Ich wünsche Ihnen angenehme Träume!«

 

An der Tür wandte er sich noch einmal um.

 

»Eine christliche Frau hat es besser als eine maurische – hoffentlich haben Sie das jetzt eingesehen!«

 

Sie sprach noch immer nicht.

 

»In zwei Tagen heiraten wir.« Er lächelte ironisch. »Wünschen Sie, daß jemand zu der Hochzeit geladen wird?«

 

»Sie werden doch nicht wagen, einen englischen Geistlichen zuzuziehen?«

 

»Ach, glauben Sie? Aber Sie sollen sehen, er wird uns trauen, was Sie auch immer sagen und welchen Widerspruch Sie auch erheben mögen. Außerdem werden Sie einen alten Freund in ihm wiedertreffen.«

 

»Einen alten Freund?« fragte sie betroffen.

 

»Ja – Reverend Bannockwaite.«

 

Mit diesen Worten verließ er sie und schloß die Tür ab.

 

Kapitel 37

 

37

 

»Eine Dame wünscht Sie zu sprechen«, sagte der Butler leise.

 

Jim schloß daraus, daß ein ungewöhnlicher Besuch gekommen war.

 

»Wer ist es denn?«

 

»Lady Joan.«

 

Jim sprang auf.

 

»Warum haben Sie die Dame nicht sofort hereingebeten?«

 

»Sie wollte nicht hereinkommen. Sie ist draußen und fragte mich nur, ob sie Sie sprechen könne.«

 

Jim eilte hinaus. Joan stand am Flußufer, hatte die Hände auf dem Rücken und schaute ins Wasser. Als sie seine Schritte hörte, wandte sie sich um.

 

»Ich möchte gern mit Ihnen sprechen. Wollen wir über den Fluß gehen? Ich bin auf dem Heimweg, und Sie könnten mich bis zu der Baumgruppe dort begleiten.«

 

Schweigend gingen sie eine Weile nebeneinander her.

 

»Ich habe Sie neulich auf No Man’s Hill so plötzlich verlassen«, sagte Joan endlich. »Ich glaube, daß ich es Ihnen schuldig bin, meine Geschichte zu Ende zu erzählen.«

 

Dann berichtete sie ihm mit fast denselben Worten alles, was sie ihrem Vater mitgeteilt hatte. Er lauschte bestürzt.

 

»Die Trauung könnte annulliert werden«, erwiderte er.

 

»Mein Vater hat mir das auch gesagt, und vermutlich erscheint Ihnen die Sache sehr einfach. Aber für mich bedeutet es, daß ich vor Gericht aussagen muß und daß diese ganze böse Geschichte Punkt für Punkt erörtert wird.« Sie zitterte. »Ich glaube, das könnte ich nicht. Ich bin feige, wissen Sie.«

 

»Ich habe Sie nie dafür gehalten. Nein, Joan, man ist noch nicht feige, weil man vor den Häßlichkeiten des Lebens zurückschreckt. Sie wollen verreisen, nicht wahr?«

 

»Ich möchte eigentlich nicht fort, aber ich glaube, für meinen Vater ist es gut. Das Winterklima hier bekommt ihm nicht. Zuerst dachte ich, daß eine hinterhältige Absicht Hamons dabei sei, aber er geht ja nach Amerika. Er ist gerade bei meinem Vater, um sich zu verabschieden.«

 

»Deshalb habe ich wohl auch den Vorzug, mit Ihnen zusammen zu sein?« fragte er lachend..

 

Aber sie protestierte energisch.

 

»Nein, ich wäre unter allen Umständen gekommen, ich mußte Ihnen doch noch diese Aufklärung geben.«

 

»Wie geht es denn Farringdon?«

 

»Besser. Ich sollte eigentlich dankbar dafür sein, aber ich kann es nicht. Heute habe ich ihn gesehen, er ging hinter dem Haus spazieren.«

 

»Hat er sich schon wieder soweit erholt?« fragte er verwundert. »Würde er Sie denn wiedererkennen?«

 

»Ich habe das Gefühl, daß er mich schon erkannt hat. Der Doktor sagte zu Mrs. Cornford, daß sich solche Fälle mit erstaunlicher Schnelligkeit bessern können. Was soll ich nur tun, Jim?«

 

Er mußte an sich halten, um sie nicht in die Arme zu schließen. Er liebte sie, aber bisher war ihm noch nicht zum Bewußtsein gekommen, wie sehr er sie liebte. Sie war die Erfüllung seiner Wünsche und Träume, um ihretwillen hätte er sein ganzes Leben geändert.

 

Als sie ihn ansah, senkte sie den Blick schnell, als ob sie in seinen Augen etwas von dem Feuer erkannt hätte, das in ihm brannte. Er legte die Hand auf ihre Schulter, und sie empfand diese Berührung wie eine zarte Liebkosung. Langsam schritten sie dem Wald zu, und sie lehnte sich immer näher an ihn, bis ihre Wange seinen Ärmel berührte.

 

*

 

Ralph Hamon hätte Lord Creith eben Lebewohl gesagt und war in den Park gegangen, um Joan zu suchen, als er die beiden plötzlich erblickte. Wie vom Blitz getroffen blieb er stehen. Selbst aus dieser Entfernung war es unmöglich, die stattliche Gestalt und das schöne Gesicht Jim Morlakes zu verkennen. Noch weniger waren die Beziehungen der beiden zueinander mißzuverstehen.

 

Sein Herz schlug wild vor ohnmächtiger Wut. Sicher bestand eine Verbindung zwischen Joan und Morlake! Als Lydia ihm von dieser Verlobung erzählt hatte, war er mit lächelnder Miene darüber weggegangen, aber jetzt zweifelte er nicht mehr im geringsten daran. Er eilte über den Abhang zu dem niedrigen Gehölz, um sie einzuholen. Er wußte nicht, was er tun oder sagen würde, aber er mußte sie finden und seinem Zorn freien Lauf lassen.

 

Als er den niederen Wald erreicht hatte, hielt er einen Augenblick an, hörte Schritte und sah gleich darauf einen Fußgänger. Es war Farringdon, den er im Haus von Mrs. Cornford so schwer krank gesehen hatte.

 

Hamon war nicht wenig erstaunt, diesem Mann hier zu begegnen, der seiner Meinung nach im Bett liegen mußte. Farringdon kam näher. Hamon versteckte sich und beobachtete ihn genau. Der junge Mann war nachlässig gekleidet. Er sprach im Gehen mit sich selbst, und Hamon strengte sich an, zu verstehen, was er sagte, aber es war unmöglich. In einiger Entfernung folgte er ihm, da er annahm, daß er dasselbe Ziel hatte wie er selbst.

 

Jim erlebte die schönsten Augenblicke seines Daseins. Alle Sorgen wichen von ihm, alle Pläne zerrannen, aller Ehrgeiz schwand vor diesem neuen, unerwarteten Glück. Schweigend ging er mit Joan durch den Wald, und die ganze Welt um sie her war versunken. Endlich hielt Joan an und setzte sich auf einen Baumstumpf.

 

»Wohin gehen wir?« fragte sie, und er wußte, daß sich ihre Frage nicht auf die Gegenwart allein bezog.

 

»Wir gehen ins Glück, früher oder später«, erwiderte er, ließ sich an ihrer Seite nieder und zog sie an sich. »Wir wollen alle Verstrickungen lösen, alle Hindernisse aus dem Weg schaffen, alle Pfade ebnen.«

 

Sie lächelte und bot ihm die Lippen.

 

In diesem Augenblick hörten sie ein leises, hämisches Lachen hinter sich. Jim löste sich sanft von Joan und wandte sich um.

 

»Ein liebliches Idyll im Wald! Ein angenehmer Anblick für einen Gatten – seine eigene Frau in den Armen eines anderen!«

 

Farringdon stand mit verschränkten Armen dicht vor ihm, und seine Augen glühten fiebrig. Joan sprang entsetzt auf.

 

»Er weiß es!«

 

Farringdon hörte ihren Ausruf.

 

»Er weiß es …!« äffte er sie nach. »Und ob er es weiß! Du bist also meine Joan?« Er nahm seinen Hut schwungvoll ab. »Ich freue mich sehr, Sie zu treffen, Mrs. Farringdon! Es ist schon lange her, daß wir durch die heilige Ehe miteinander verbunden wurden! Das ist also meine Joan! Ich habe all diese Jahre von dir geträumt, aber nie warst du so schön wie in Wirklichkeit. Weißt du es …« Er deutete mit zitterndem Finger auf sie. »Es begegnete mir ein Mädchen, das hätte ich heiraten können, und ich würde es geheiratet haben, wenn ich damals nicht diese verdammte Dummheit begangen hätte. Du warst das große Hindernis in meinem Leben. Nur durch den Trunk kam ich darüber hinweg!«

 

Er ging auf sie zu, packte sie am Arm und zog sie zu sich.

 

»Du kommst jetzt mit mir!« erklärte er und lachte rauh.

 

Im nächsten Augenblick wurde er weggestoßen und fiel taumelnd nieder. Jim bückte sich, um ihm wieder auf die Füße zu helfen, aber Farringdon schlug seine Hände zur Seite und stürzte sich mit einem Wutschrei auf ihn.

 

»Verdammter Hund!« schrie er. Aber in Jims starken Armen war er wie ein schwaches Kind.

 

»Sie sind krank, Farringdon«, sagte er liebenswürdig. »Es tut mir leid, daß ich Ihnen weh getan habe.«

 

»Lassen Sie mich los! Lassen Sie mich los! Sie ist meine Frau … Ich laufe ins Dorf und sage es allen … Du kommst jetzt mit mir, Joan Carston, hörst du? Du bist mit mir verheiratet, bis der Tod uns scheidet!«

 

Er riß sich aus Jims Griff los, taumelte zurück und atmete schwer. Sein Gesicht war wutentstellt, und seine Augen hatten einen wilden Ausdruck.

 

»Ich habe jetzt etwas, wofür ich leben kann – und das bist du! Du kamst doch, um mich zu sehen, nicht wahr? Du wirst wiederkommen, Joan – aber allein!«

 

Plötzlich drehte er sich um und lief wie ein Besessener den Pfad hinunter, bis er aus ihrem Gesichtskreis entschwand. Jim wandte sich zu ihr, und sie versuchte zu lächeln.

 

»Ach, Jim!«

 

Es schmerzte ihn, zu fühlen, wie sie vor Angst und Aufregung zitterte, als sie in seinen Armen lag.

 

»Es geht mir schon wieder besser«, sagte sie nach einer Weile. »Gott sei Dank, daß wir am nächsten Sonnabend abfahren!«

 

Er nickte.

 

»Farringdon hat entweder wieder getrunken oder er ist ganz verrückt geworden.«

 

»Glaubst du, daß er in unser Haus kommen wird?« fragte sie ihn ängstlich, nahm sich dann aber zusammen und überwand ihre Aufregung. »Ich sagte dir ja, daß ich feige bin. Ich beginne die Frauen zu verstehen, die ihre Männer ermordet haben. Es ist fürchterlich, daß ich das sagen muß, aber es ist so.«

 

Es fiel beiden schwer zu sprechen, denn sie waren zu sehr von ihren eigenen Gedanken erfüllt. Als sie in die Nähe des Herrenhauses kamen, stellte Joan plötzlich eine Frage.

 

»Jim, was warst du eigentlich, bevor du Einbrecher wurdest?«

 

»Ein achtbares Mitglied der Gesellschaft. Eine Zeitlang war ich im diplomatischen Dienst.«

 

»In Marokko?«

 

»In Marokko, in der Türkei und anderen asiatischen Ländern. Ich gab meine Stellung auf – nun ja, weil ich genügend Privatvermögen besaß und weil ich eine neue abenteuerliche Aufgabe fand.«

 

»Aber du darfst deine jetzige Tätigkeit nicht fortsetzen. Wirst du mir schreiben?«

 

Er zögerte.

 

»Ach, ich habe ganz vergessen – du weißt ja gar nicht, wohin du schreiben sollst. Mein Vater läßt die ganze Post an den Englischen Klub in Cadiz schicken. Willst du dir das bitte merken? Auf Wiedersehen!«

 

Sie reichte ihm beide Hände.

 

Hamon beobachtete die beiden aus einiger Entfernung, und er knirschte mit den Zähnen, als Morlake Joan in die Arme nahm und küßte.