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»Bitte, erzähle mir alles genau«, bat er, als sie sich etwas beruhigt hatte. »Und lasse vor allem den Kopf nicht hängen, Joan. Es gibt nichts, was meine Zuneigung zu dir irgendwie beeinträchtigen könnte. Du bist die einzige in der Welt, die mir nicht lästig und unangenehm ist.«
»Bannockwaite ist an allem schuld. Er gründete damals die Gesellschaft der Mitternachtsmönche. Die Schüler von Hulston kletterten über die Mauern; wir saßen zusammen im Klostergarten und aßen allerlei Näschereien. Es war so eine Art Mitternachtspicknick. Es wird dir komisch vorkommen, aber es ging ganz harmlos dabei zu. Alle andern merkwürdigen Gesellschaften, die er gründete, waren ähnlich. Wir waren also die Mitternachtsmönche, und meine beste Freundin, Ada Lancing, war unsere Äbtissin. Natürlich haben die Nonnen nichts von der Sache erfahren. Die Armen wären wahrscheinlich vor Furcht gestorben, wenn sie auch nur im Traum geahnt hätten, was dort vorging. Eins der Mitglieder gab nun die Anregung, die beiden Zweige der Geheimgesellschaft für ewige Zeiten miteinander zu verbinden. Zu diesem Zweck sollte eine symbolische Hochzeit stattfinden. Bannockwaite war damals gerade von Oxford gekommen und hatte eine kleine Kapelle im Wald gebaut. Er hat später nie die Verbindung mit einer seiner Geheimgesellschaften aufgegeben, und besonders stark war er an den Mitternachtsmönchen Interessiert, da sie seine älteste Gründung waren. Er kam an einem unserer Sommernachtsfeste zu uns und führte den Vorsitz. Wir zogen Lose, wer die Braut sein sollte –«
»Und die Wahl fiel auf dich?« fragte Lord Creith freundlich.
»Nein, auf Ada. Sie war begeistert, bis der Tag der Hochzeit selbst kam. Es war ein Feiertag, und den älteren von uns war erlaubt, zu zweien auszugehen. Mr. Bannockwaite hatte alles arrangiert. Der Bräutigam mußte sich wie ein Mönch kleiden und die Kapuze über das Gesicht ziehen, und die Braut war dicht verschleiert. Keiner wußte, wer der andere war, selbst wir durften nicht wissen, wer die Lose gezogen hatte. Kannst du dir etwas Verrückteres vorstellen? Mr. Bannockwaite selbst wollte die Trauung vollziehen, und wir gingen alle zu der kleinen, hübschen Kapelle in der Nähe von Ascot … Aber in der Sakristei brach die arme Ada zusammen. Damals kam mir zum erstenmal der Gedanke, daß die Sache eigentlich furchtbar ernst war. Um es kurz zu machen, Vater – ich bin für Ada eingesprungen.«
»Und du hast nie das Gesicht des jungen Mannes gesehen?«
»Doch, die Mönchskapuze fiel einen Augenblick zurück. Als die Trauung vorüber war, unterzeichnete ich das Protokoll. Dort stand auch sein Name, und ich habe ihn gelesen. Aber ich glaube nicht, daß er meinen kennt – es sei denn, daß er später zur Kapelle zurückging.«
»Hast du ihn nicht wiedergesehen, bis – er hierherkam? Früher hörte ich einmal, er sei gestorben.«
Lord Creith stopfte eine Pfeife, seine Hand zitterte.
»Das war eine ganz verabscheuungswürdige Handlungsweise von Bannockwaite. Aber es hätte ja noch schlimmer sein können. Es ist furchtbar traurig für dich, Joan, aber es gibt keinen Grund, deshalb zu verzweifeln.«
»Es ist schlimmer, als du denkst.«
»Warum denn, mein liebes Kind? Liebst du einen anderen?«
Sie nickte.
»Das ist allerdings schmerzlich«, sagte er und richtete sich auf. »Aber komm, fasse dich.« Sie küßte ihn und ging dann in ihr Zimmer.
Lord Creith fand Hamon im Wohnzimmer. Der Finanzmann machte ein düsteres Gesicht und überhäufte ihn mit Vorwürfen, daß er der Polizei Auskunft über seine Privatangelegenheiten gegeben habe. Schließlich wurde es dem Lord zuviel, und er wies Hamon kurzerhand aus dem Haus.
Diese Entwicklung der Dinge änderte Hamons Pläne erheblich. Der Tod Marbornes und die Wiedererlangung des Dokumentes versprachen ihm keine vollkommene Sicherheit, und da er nun unter Verdacht stand, an dem Mord beteiligt zu sein, hatte er doppelten Grund, Creith nicht zu verlassen, bis er sein Ziel erreicht hatte. Deshalb siedelte er in den ›Löwen‹ um.
Er hatte Ahmet nur den Auftrag gegeben, Marborne zu verletzen, nicht ihn zu töten – also war es doch nicht seine Schuld, wenn dieser verrückte Kerl seine Instruktionen überschritt.
Nach kurzer Überlegung telegrafierte er an Lydia, daß sie ihn am nächsten Tag in London treffen solle. Er wartete, bis es dunkel war, und ging dann zu Mrs. Cornford. Sie selbst öffnete, erkannte ihn aber in der Dunkelheit zuerst nicht.
»Ich möchte Sie sprechen, Mrs. Cornford.«
»Wer sind Sie denn?«
»Ralph Hamon.«
Sie stand einen Augenblick reglos, aber dann Öffnete sie die Tür weiter.
»Treten Sie ein«, sagte sie und ging hinter ihm in das Wohnzimmer.
»Sie haben sich nicht sehr verändert«, begann er und überlegte krampfhaft, wie er fortfahren könne. »Sie sind mir wohl noch sehr böse?«
»Nein«, antwortete sie ruhig. »Aber warum setzen Sie sich nicht, Mr. Hamon?«
»Ich wüßte auch nicht, warum Sie mir böse sein sollten. Ich habe doch für John alles getan, was ich nur tun konnte.«
»Wo ist er?«
»Ich weiß es nicht – ich nehme an, daß er tot ist.«
Sie zuckte unter seinen Worten zusammen.
»Ich glaube auch, daß er tot ist«, sagte sie dann leise. »Aber vor zwölf Jahren lebte er doch noch. Was ist aus seinem Geld geworden, Mr. Hamon?«
»Er muß es verloren haben«, erklärte er ungeduldig. »Ich sagte es Ihnen doch schon früher.«
Sie ließ ihn nicht aus den Augen.
»Er schrieb mir aus Marokko, daß er die Mine gesehen habe und daß sie eine glänzende Sache sei. Einen Monat später teilte er mir aus London mit, daß er alles mit Ihnen abmachen wolle. Und dann hörte ich nichts mehr von ihm.«
»Er verschwand – das ist alles, was ich von ihm weiß. Er wollte in mein Büro kommen, um den Kauf der Aktien zu vollziehen, aber er erschien nicht. Ich telegrafierte Ihnen ja damals und fragte bei Ihnen an, wo er sein könne.«
»Ich weiß nur, daß er hunderttausend Pfund von der Bank abgehoben hatte, daß aber weder er noch das Geld jemals wieder zum Vorschein kam. Ich will nicht gerade behaupten, Mr. Hamon, daß mein Mann und ich sehr glücklich waren – er war ein zu ruheloser Geist und hatte zuviel Freunde, sowohl unter den Männern als auch unter den Frauen. Außerdem trank er. Aber er war doch in mancher Beziehung auch gut und gewissenhaft, und er hätte mich niemals ohne Geld zurückgelassen.«
Hamon zuckte die Schultern.
»Warum sind Sie denn damals nicht zur Polizei gegangen?« fragte er freundlich. »Wenn Sie irgendwelchen Zweifel über meine Person hatten –«
Sie schaute ihn mit verächtlichem Lächeln an.
»Sie baten mich doch selbst, nicht zur Polizei zu gehen – ich sehe erst jetzt ein, wie töricht ich damals handelte. Sie baten mich, um meinetwillen und auch um der Verwandten meines Mannes willen nichts zu unternehmen, und vor allem nicht in die Zeitungen zu bringen, daß er vermißt wurde.«
»Habe ich denn nicht in allen Zeitungen annonciert? Habe ich nicht meine Beauftragten nach Monte Carlo, nach Aix, nach Deauville geschickt – nach jedem Ort, wo es Spielbanken gab und wo er sich aufhalten konnte?« fragte er mit gespielter Entrüstung. »Mrs. Cornford, ich glaube, Sie tun mir unrecht.«
Es war nutzlos, ihm zu antworten. Er hatte sie damals von ihren Nachforschungen so lange abgehalten, bis selbst die tüchtigsten Detektivagenturen Englands nicht mehr imstande waren, ihr zu helfen. Einst war sie eine reiche Frau gewesen, hatte ein eigenes, vornehmes Haus besessen und ein großes Einkommen gehabt.
Wäre John Cornford ein Geschäftsmann wie andere gewesen, so hätte sie sofort die Polizei alarmiert. Aber er kümmerte sich wenig um seine Familie und verschwand manchmal auf längere Zeit, ohne daß jemand wußte, wo er sich aufhielt. Während ihres Zusammenlebens hatte sie gelernt zu schweigen.
»Warum sind Sie jetzt zu mir gekommen?« fragte sie.
»Weil ich die Angelegenheit ein für allemal regeln will. Ich fühle mich bis zu einem gewissen Grad verantwortlich, weil ich ihn nach London zurückbrachte. Würden Sie mir den Brief zeigen, den er Ihnen damals schrieb?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Sie haben mich schon früher danach gefragt, Mr. Hamon. Er ist aber das einzige Beweisstück dafür, daß mein Mann nach England zurückkehrte. Vor einiger Zeit wurden Sie von jemand gefragt, was aus Mr. Cornford geworden sei, und Sie erklärten, daß er in der Wüste von Marokko verschwunden sei. Hunderte von Leuten, die ihn kannten, leben in der Überzeugung, daß er dort drüben gestorben ist.«
»Mrs. Cornford, wenn Sie mich den Brief lesen lassen, erzähle ich Ihnen die volle Wahrheit über Johns Tod.«
»Dann wissen Sie also genau, daß er tot ist?« fragte sie heiser.
»Ja, Er ist vor zehn Jahren gestorben.«
Sie schien mit sich selbst zu kämpfen, aber plötzlich stand sie auf, ging in das Schlafzimmer und schloß die Tür. Einige Minuten später kehrte sie mit einem kleinen Ebenholzkasten zurück, den sie auf den Tisch stellte und öffnete.
»Hier ist der Brief – Sie können ihn lesen.«
Ja, es war blaues Papier. Hamon wußte, daß es ein Briefbogen des Critton-Hotels sein mußte – und das war seit vielen Jahren blau.
Er las die etwas kritzelige Schrift.
*
›Ich gehe heute zu Ralph Hamon. Wir wollen alle Einzelheiten des Kaufs der Aktien festsetzen. Ich bin mir nur noch nicht darüber klar, ob die Mine, die ich sah, tatsächlich Hamons Eigentum ist oder ob es sich um ein anderes gutgehendes Bergwerk handelt, das mit Ralph Hamons Gesellschaft nichts zu tun hat. Dies schreibe ich dir aber nicht, weil ich denke, daß er mich betrügen will.‹
*
Sie beobachtete ihn dauernd und war bereit, ihm den Brief aus der Hand zu reißen, wenn er den leisesten Versuch machen würde, ihn in die Tasche zu stecken. Aber er gab ihn zurück. Sie legte ihn wieder in den Kasten und schloß den Deckel.
Plötzlich hörten sie ein furchtbares Stöhnen aus dem Nebenraum, und Mrs. Cornford eilte hinüber. Nach einem kleinen Zögern folgte ihr Hamon verwundert.
»Wer ist das?« fragte er und betrachtete neugierig das eingefallene Gesicht des Kranken in den Kissen.
»Es ist der junge Mann, der bei mir wohnt«, sagte sie besorgt. »Ich fürchte, es wird eine schlimme Nacht werden.«
Farringdon stützte sich auf die Ellbogen und versuchte, aus dem Bett zu steigen. Es bedurfte all ihrer Kraft, ihn zurückzuhalten. Hamon unterstützte sie, aber es war selbst für ihn schwer, den Kranken zu bändigen.
»Würden Sie bei ihm bleiben, bis ich den Doktor geholt habe?« bat sie.
Ralph Hamon hatte allerdings keine Lust, hier Krankenwärter zu spielen, aber unter den gegebenen Umständen hielt er es für besser, ihrer Bitte nachzukommen. Er nahm sich einen Stuhl, setzte sich ans Bett und beobachtete den armen Menschen, der sich von einer Seite auf die andere warf, sprach, lachte und im Delirium schrie. Aber plötzlich wurde seine Stimme klarer.
»Joan – verheiratet? Ja, ihr Vater ist irgendein Lord«, sagte Ferdie zusammenhanglos. »Das wußte ich nicht – sehen Sie, das fand man an dem Nachmittag heraus – der Butler hörte nicht, wie ich zu Bannockwaite sprach. Wir wurden in der kleinen Kirche im Wald getraut. Ich wollte ja gar nicht heiraten, aber die anderen bestanden darauf. Wir hatten Lose gezogen. Das Ganze war doch nur Bannockwaites Schuld …«
Hamon lauschte gespannt. Joan! Das konnte niemand anders als Joan Carston sein. Er beugte sich über den Kranken.
»Wo wurden Sie denn getraut?«
Farringdon murmelte etwas Unverständliches.
»Wo war es?« fragte Hamon noch einmal scharf.
»In der kleinen Kirche im Wald bei Ascot. Es steht im Register.«
Hamon kannte den schlechten Ruf, in dem Bannockwaite stand, und den Rest der Geschichte konnte er sich denken. Joan war also verheiratet! Er preßte die Lippen zusammen. Er hörte draußen die Schritte der Frau und des Arztes und trat auf den Gang hinaus. Es war ein günstiger Augenblick, sich zu verabschieden. Er machte eine kurze Verbeugung und ging zum Gasthaus zurück.
Der Doktor blieb anderthalb Stunden bei dem Kranken. Das Fieber stieg.
Als er gegangen war, dachte sie über den seltsamen Besuch Ralph Hamons nach. Warum wollte er den Brief sehen? Schon vor Jahren hatte er sie darum gebeten, aber sie hatte es ihm damals glatt abgeschlagen, da sie fühlte, daß der Besitz dieses Schriftstücks doch noch eine gewisse Anwartschaft auf das verlorene Vermögen bedeutete.
Sie war ein großes Risiko eingegangen, als sie ihm den Brief in die Hände gab. Sie öffnete den Ebenholzkasten noch einmal. Obenauf lag der blaßblaue Brief, aber als sie ihn auseinanderfaltete, hatte sie ein unbeschriebenes Blatt vor sich.
Es war spät geworden. Sollte sie noch zum Herrenhaus hinübergehen und Lord Creith um Hilfe bitten? Sie hatte ihn früher einmal gesehen. Plötzlich dachte sie an James, diesen ruhigen und gefälligen Mann. Sie setzte den Hut auf, zog den Mantel an und eilte nach Wold House.