Kapitel 27

 

27

 

Jim füllte den Benzinbehälter seines Wagens, steckte einige Konservenbüchsen, unter den Führersitz und fuhr in das Dorf. Er hielt zuerst bei der Post an und schickte ein Telegramm an Binger. Dann machte er vor der Werkstatt des Schmieds und Mechanikers halt, der nur die allerprimitivsten Reparaturen erledigen konnte. Jim wußte das genau.

 

»Es wäre besser, wenn Sie Ihren Wagen nach Horsham brächten, Mr. Morlake«, sagte der Mann. »Ich kenne diesen teuren Wagen nicht gut genug, um die Arbeit ausführen zu können, die Sie haben wollen.«

 

Einer der Detektive sah Jim fortfahren und ging natürlich gleich zu dem Schmied, um zu fragen, was los sei.

 

»Sein Steuerrad ist nicht in Ordnung. Er hat es selbst notdürftig repariert, aber ich sagte ihm, daß es gefährlich sei, so zu fahren. Nun hat, er den Wagen nach Horsham zur Reparatur gebracht.«

 

Hochbefriedigt ging Spooner zu seinem Vorgesetzten zurück und berichtete ihm, was er erfahren hatte.

 

Als die Dunkelheit hereinbrach, kehrte Jim in dem kleinen Autobus zurück, der dreimal am Tage die Verbindung zwischen Creith und Horsham herstellte. Auch diese Tatsache beobachtete Spooner genau.

 

»Ich weiß überhaupt nicht, zu welchem Zweck wir ihn hier überwachen sollen«, meinte Sergeant Finnigan. »Es ist doch unwahrscheinlich, daß er in der nächsten Zeit etwas unternimmt. Der letzte Prozeß hat ihm sicher einen heilsamen Schrecken eingejagt.«

 

»Ich wünschte nur, daß er die Angewohnheit hätte, früh zu Bett zu gehen«, brummte Spooner.

 

»Vielleicht läßt ihn das schlechte Gewissen nicht ruhen.«

 

Kurz nach Jims Rückkehr fand sich auch Binger mit einer kleinen Reisetasche ein, die alles enthielt, was notwendig war, um sich vollständig zu verkleiden.

 

»Ich habe eine Aufgabe, die Ihnen willkommen sein wird«, sagte Jim. »Sie müssen sich jeden Abend hier in einen Stuhl setzen und fünf oder sechs Stunden nichts tun. Sie können ja am Tag schlafen, und ich zweifle nicht im mindesten, daß Sie auch noch einige kleine Nickerchen einlegen, wenn Sie hier Ihre Pflicht tun.«

 

»Sie haben es doch hoffentlich aufgegeben?« fragte Binger besorgt. »Was sollte ich aufgegeben haben?«

 

»Das Einbrechen!« Plötzlich sah Binger einen Gegenstand auf dem Schreibtisch. »Lieben Sie neuerdings Musik?«

 

Jim schaute nach dem großen Plattenspieler hinüber, den er vor einigen Tagen angeschafft hatte.

 

»Ja, ich interessiere mich in letzter Zeit sehr für Jazzmusik. Aber hören Sie, Binger, Sie müssen meine Anordnungen auf das genaueste ausführen. Heute abend um zehn beziehen Sie Ihren Wachtposten vor meiner Tür. Sie können sich den bequemsten Stuhl im Haus aussuchen, und ich bin auch nicht böse, wenn Sie einschlafen. Aber niemand darf in dieses Zimmer kommen – verstehen Sie mich? Und unter gar keinen Umständen darf man mich stören. Wenn also die Detektive erscheinen sollten –«

 

»Sie meinen doch nicht etwa wirkliche Detektive?« fragte Binger entsetzt.

 

»Hier in Creith sind augenblicklich zwei, aber ich glaube nicht, daß Sie von ihnen belästigt werden. Sollten sie aber wirklich kommen und vorn an die Tür klopfen oder nach zehn etwas unternehmen, dann dürfen Sie die Leute auf keinen Fall einlassen, es sei denn, daß sie eine Vollmacht von einer Behörde vorweisen. Haben Sie alles verstanden?«

 

»Jawohl, Sir. Soll ich Ihnen später noch etwas Kaffee bringen?«

 

»Nein, Sie sollen mir gar nichts bringen. Wenn Sie versuchen, hereinzukommen oder mich irgendwie zu stören, sind Sie entlassen.«

 

Um halb zehn abends ging Jim auf dem Gelände umher und auch zum Haupttor. Die Straße lag verlassen da, aber im Schatten der Hecke sah er einen kleinen roten Punkt, der regelmäßig aufglühte und wieder schwächer wurde. Es war die Zigarre eines Detektivs. Jim lachte in sich hinein.

 

Als er in sein Arbeitszimmer zurückkam, fand er Binger davor, der auf einem bequemen Stuhl saß.

 

»Gute Nacht!« sagte Jim und verschloß die Tür.

 

Obgleich das Haus an das elektrische Stromnetz angeschlossen war, brannte auf dem Tisch eine Petroleumlampe, die ein äußerst helles Licht ausstrahlte. Er entfernte den Schirm, so daß die Helligkeit der Flamme blendete.

 

Dann hob er den Plattenspieler auf den Tisch, der in der Mitte des Raums stand, schaltete ihn ein und stellte auf das langsamste Tempo ein. Er schraubte einen langen Stab an den Plattenteller und befestigte daran eine Figur aus dünnem Karton. Es war der Schattenriß eines Mannes, der die Hände auf dem Rücken gekreuzt hatte. Dann nahm er die Lampe vom Schreibtisch, stellte sie in die Mitte des Plattentellers und ließ den Apparat laufen. Die Platte mit der Lampe und der Pappfigur drehte sich nur langsam, und der Schatten der Silhouette huschte über den Fenstervorhang.

 

»Er rennt schon wieder in seinem Zimmer herum«, sagte Spooner ärgerlich, als er von draußen den Schatten am Fenster vorübergleiten sah. »Wie lange wird er diesen Unsinn noch fortsetzen?«

 

Offenbar nicht mehr lange, denn Jim hielt den Apparat an, ging in sein Zimmer und zog die alten schwarzen Kleider an. Dann schlüpfte er in einen Mantel, der fast bis zu den Füßen reichte, setzte einen weichen schwarzen Hut auf und steckte das Werkzeug und eine starke Taschenlampe ein. Es war nun halb elf. Tiefes Schweigen herrschte im ganzen Haus, als er noch einmal ins Arbeitszimmer zurückkehrte und Binger durch die Tür ansprach.

 

»Sind Sie auf Ihrem Posten?«

 

»Jawohl.«

 

»Also denken Sie daran, daß ich unter keinen Umständen gestört werden möchte.«

 

»Jawohl.«

 

Jim hörte an Bingers Stimme, daß der Mann schon halb eingeschlafen war.

 

Wieder stellte er den Plattenspieler an und ging dann in sein Schlafzimmer. Durch das Fenster an der Hinterseite des Hauses trat er auf einen kleinen Balkon.

 

Kurze Zeit später stand er unten im Park und schlich sich fort. Im Schatten des Gebüsches eilte er zu der kleinen Brücke, die zum Creithschen Ufer hinüberführte. Nach einem Weg von zehn Minuten kam er an einen abseits liegenden Schuppen, in dem er seinen Wagen untergestellt hatte … »Jetzt geht’s wieder los«, sagte Spooner zu dem Sergeanten. »Sehen Sie, da ist er!« Er deutete auf den Schatten, der an den weißen Gardinen vorüberglitt.

 

Finnigan gähnte. »Dann können wir die ganze Nacht hier sitzen.«

 

*

 

Jim fuhr durch den feinen Regen über Haymarket. Er bog in die Wardour Street ein und parkte den Wagen in einer langen Reihe von Autos, die Theaterbesuchern gehören mochten. Dann ging er zur Shaftesbury Avenue und rief ein Mietauto an. Als das Taxi gerade an den Gehsteig heranfuhr, öffnete sich die Tür einer Bar, und ein Mann taumelte heraus.

 

Er fiel direkt gegen Jim, der ihn am Arm packte und wieder aufrichtete.

 

»– ’schuldigen Sie«, sagte der Betrunkene, »hatte eine kleine Auseinandersetzung … ’ne abstrakte Frage über Metaphysik …« Er konnte kaum sprechen.

 

Jim betrachtete ihn genauer. Es war der junge Mann, der damals in der Gewitternacht zu ihm gekommen war.

 

»Hallo, mein Freund, Sie haben aber noch einen weiten Weg nach Hause.« Dann besann er sich, daß er ja eigentlich nicht erkannt werden wollte. Der Betrunkene war jedoch dazu gar nicht in der Lage.

 

Das Mietauto wartete, und als Jim sah, daß sich schon Menschen um sie ansammelten, zog er den Mann schnell in das Innere des Wagens.

 

»Fahren Sie nach Long Acre!« befahl er.

 

In dem ruhigsten Teil der Straße ließ er halten und führte seinen Begleiter auf den Gehsteig.

 

»Nun gebe ich Ihnen den guten Rat, nach Hause zu gehen.«

 

»Nach Hause?« sagte der andere bitter. »Hab kein Zuhause! Keine Freunde – kein Mädel!«

 

»Vielleicht ist das ganz gut – für das Mädel«, erwiderte Jim ungeduldig, denn die Zeit drängte.

 

»So – meinen Sie? Ich nicht … ich möchte sie bloß noch mal erwischen, nachdem sie mich so schlecht behandelt hat – die bringe ich um – sicher, die bringe ich um!«

 

Sein blasses Gesicht war von Wut verzerrt, und plötzlich brach er hilflos in Tränen aus.

 

»Sie hat mein Leben ruiniert!« schluchzte er. »Und ich kenne sie nicht einmal … kenne nur ihren Vornamen und weiß nur, daß ihr Vater Lord ist … sie hat eine kleine Narbe auf der Hand –«

 

»Wie heißt denn die junge Dame – die ihr Leben ruiniert hat?« fragte Jim heiser.

 

»Joan – sie hat mich ins Unglück gebracht – wenn ich sie finde, ist es zu Ende mit ihr!«

 

Kapitel 28

 

28

 

Marborne spielte in letzter Zeit den großen Herrn und besuchte die teuersten Lokale. Als er eines Abends nach einem üppigen Mahl etwas bezecht nach Hause kam, wurde er plötzlich wieder nüchtern. Er hatte das Licht im Schlafzimmer angedreht und sah mit starrem Blick zu dem Geldschrank hinüber, den er sich angeschafft hatte. Die Tür hing nur noch an einem Gelenk, und der Schrank selbst war leer …

 

Nachdem er sich von seinem Schrecken etwas erholt hatte, durchsuchte er in aller Eile den Raum. Es war ihm sofort klar, wie der Dieb hereingekommen war. Er mußte auf der Feuerleiter nach oben gestiegen und durch das Fenster des Schlafzimmers eingedrungen sein.

 

Marborne stürzte hinunter und riß die Haustür auf. Auf dem Gehsteig stand Captain Welling, er hatte die Hände auf den Rücken gelegt und schaute unentwegt zu den erleuchteten Fenstern der Wohnung hinauf.

 

»Kommen Sie mit!« schrie Marborne erregt.

 

»Ist etwas nicht in Ordnung?« fragte der Beamte, als er näher trat. »Es ist doch merkwürdig, daß ich gerade in diesem Augenblick hier sein muß.«

 

»Ich bin bestohlen worden – ausgeplündert!« rief Marborne. »Man hat meinen Geldschrank erbrochen …«

 

Er stieg die Treppe wieder hinauf und redete zusammenhangloses Zeug.

 

Welling untersuchte den Safe.

 

»Der Mann hat gründliche Arbeit geleistet. Am besten rühren Sie den Schrank bis morgen nicht an. Ich will ihn fotografieren lassen, um eventuell Fingerabdrücke zu entdecken.«

 

Er ging zum Fenster und stieg auf der Feuerleiter hinunter.

 

»Oh, was ist dies?« fragte er und nahm einen Gegenstand auf, der auf dem eisernen Podest zu seinen Füßen lag. »Ein Baumwollhandschuh! Dann hat es auch keinen Zweck, nach Fingerabdrücken zu suchen.« Er stieg wieder hinauf und betrachtete den Handschuh genauer unter der elektrischen Lampe.

 

»Daran kann man gar nichts sehen, selbst wenn man sich größte Mühe gäbe. Ich fürchte, der Mann ist gut davongekommen. Wieviel Geld haben Sie verloren?«

 

»Zwischen zwei- und dreitausend Pfund!« schluchzte Marborne.

 

»Sonst noch etwas?« Welling sah ihn scharf an.

 

»Was hätte ich denn sonst noch verlieren sollen?« fragte Marborne plötzlich rauh. »Ist es denn nicht genug, wenn einem zweitausend Pfund gestohlen werden?«

 

»Hatten Sie nicht noch Bücher oder Dokumente in Ihrem Schrank?«

 

»Nein, nicht im Schrank«, erwiderte Marborne schnell. »Auch sonst nirgends.«

 

»Es sieht so aus, als ob es der Schwarze gewesen ist«, meinte Welling fast belustigt und ging wieder zum Safe. »Ich wüßte gar nicht, wer es sonst so gut hätte machen können. Haben Sie Telefon?«

 

»Im Wohnzimmer.«

 

Welling telefonierte lange mit dem Yard und ging dann in das Schlafzimmer zurück, um nach Anhaltspunkten zu suchen. Er wußte aber schon im voraus, daß seine Arbeit ohne Erfolg sein würde.

 

Der Dieb war offenbar nicht mit dem Geld zufrieden gewesen, das er im Safe gefunden hatte, denn alle anderen Schubladen waren durchwühlt, und ihr Inhalt war auf dem Boden verstreut. Das Büfett war aufgebrochen, ein Koffer unter dem Bett mit Gewalt geöffnet, das Bett selbst vollständig abgedeckt. Sogar die Matratzen hatte der Dieb aufgehoben.

 

»Ihr Freund hat etwas gesucht – was mag das nur gewesen sein?«

 

»Zum Teufel, wie soll ich das wissen?« rief Marborne wild. »Auf jeden Fall hat er es nicht bekommen.«

 

»Ich weiß nicht, wie Sie das sagen können, wenn Sie überhaupt keine Ahnung haben, was er gesucht hat«, entgegnete der Beamte.

 

Das Telefon läutete, und das Fernamt meldete sich, denn Welling hatte ein Gespräch nach Creith bestellt.

 

»Captain Welling am Apparat. Sind Sie dort, Finnigan?«

 

»Ja.«

 

»Wo ist Ihr Mann?«

 

»In seinem Haus. Vor fünf Minuten war er noch dort.«

 

»Sind Sie dessen sicher?«

 

»Absolut. Ich habe ihn zwar nicht persönlich, aber seinen Schatten am Fenster gesehen. Es stimmt, daß er hier ist. Außerdem hat er gar kein Auto, denn er mußte es heute nach Horsham zur Reparatur schicken.«

 

»So? Zur Reparatur?« fragte Welling höflich. »Dann ist alles in Ordnung.«

 

Er legte den Hörer wieder auf und ging zu Marborne zurück, der verstört den zertrümmerten Geldschrank betrachtete.

 

»Es wäre ganz gut, wenn Sie die Sache Ihrem Polizeirevier meldeten und bäten, daß ein Mann von dort herkommt«, sagte sein früherer Vorgesetzter. »Ich glaube ja nicht, daß sie Ihnen helfen können. Es ist aber auch zu schlimm, daß Sie soviel Geld verloren haben. Banken sind doch sicherer.«

 

Marborne erwiderte nichts darauf.

 

Kapitel 19

 

19

 

Halb belustigt und halb verwundert schaute er sie an.

 

»Jane Smith?« wiederholte er. »Sie haben mich vor Hamon gewarnt. Ist er ein Freund von Ihnen?«

 

»Ach nein.« Sie schüttelte heftig den Kopf. »Aber er kommt öfters in das Dorf, in dem ich wohne – in Creith.«

 

»Sie leben in Creith? Ich kann mich aber nicht darauf besinnen, Sie schon gesehen zu haben.«

 

»Ich glaube, Sie kennen dort überhaupt niemand. Sie sind wenig gesellig. Und Leute unseres Standes sehen Sie wahrscheinlich überhaupt nicht an.«

 

Sie ließen sich in einer kleinen Nische nieder, und Joan behandelte den Kellner so sachkundig und gewandt, daß Jim Morlake sie erstaunt betrachtete. Er überlegte sich, wer sie sein könne und wie es kam, daß ihm dieses schöne Mädchen in Creith noch nicht aufgefallen war.

 

»Halten Sie sich schon lange dort auf?«

 

»Ich bin sogar dort geboren.«

 

»Woher wußten Sie denn, daß Hamon diese falsche Anklage gegen mich plante?«

 

»Ich vermutete es nur. Eine Freundin von mir wohnt in Creith House. Sie hat viel von Mr. Hamon gehört.«

 

Der Kellner brachte den Tee, und sie schenkte Jim ein. Er beobachtete sie nachdenklich und fuhr fort: »Ich habe einerseits Hamon unterschätzt und andererseits die Begabung dieses gewissenlosen Marborne überschätzt. Es war ein plumper und wenig intelligenter Versuch, mich zu fangen.«

 

»Sie werden von jetzt ab das Gesetz nicht mehr übertreten?« fragte sie ruhig. »Soviel ich beurteilen kann, müssen Sie ein großes Vermögen zusammengebracht haben.«

 

Er antwortete ihr nicht gleich, denn er hatte plötzlich das Gefühl, daß er sie doch schon gesehen haben müsse.

 

»Ich kenne Sie – Sie waren die junge Dame, die damals bei dem Gewitter beinahe vom Blitz getroffen wurde!«

 

»Ja«, gestand sie und errötete leicht. »Aber Sie haben doch damals mein Gesicht nicht gesehen?«

 

»Ich kann mich auf Ihre Stimme besinnen. Sie ist so sanft und einschmeichelnd, daß man sie nicht vergessen kann.«

 

Das sollte kein Kompliment sein, aber ihre Wangen färbten sich doch dunkler.

 

»Sie sagten mir an dem Abend, daß Sie zu Besuch im Herrenhaus seien – wie ist es dann möglich, daß Sie im Dorf wohnen?«

 

Jane Smith riß sich zusammen und hatte sich auch gleich wieder in der Gewalt.

 

»Ich habe gelogen«, erwiderte sie kühl. »Durch Lügen kann man sich nämlich am leichtesten aus schwierigen Situationen befreien. Wenn Sie es durchaus wissen wollen, Mr. Morlake – ich war damals im Herrenhaus angestellt.«

 

»Sie sind aber doch kein Dienstmädchen?« fragte er ungläubig.

 

»Natürlich, ich bin ein Zimmermädchen, und zwar ein sehr gutes.«

 

»Daran zweifle ich keinen Augenblick«, entgegnete er schnell. »Also daher wußten Sie das alles. Ich bin Ihnen sehr dankbar, Miss Smith. Sind Sie noch im Herrenhaus beschäftigt?«

 

»Nein, ich habe meine Stellung verloren«, log sie weiter, »weil ich in jener Gewitternacht so spät nach Haus kam.« Das Thema wurde ihr aber doch allmählich zu gefährlich, und sie begann von etwas anderem zu sprechen. »Sie werden doch nun hoffentlich keine Einbrüche mehr verüben, nachdem Sie eben mit knapper Not einer Verurteilung entgangen sind?«

 

Er lachte laut.

 

»Ich sehe, daß Sie die Freuden eines Einbrechers nicht kennen und schätzen. Sonst würden Sie nicht so leichten Herzens von mir fordern, daß ich ein Leben aufgeben soll, das große Anziehungskraft auf mich ausübt. Der Richter war sicher sehr streng zu mir, aber ich kümmere mich nicht viel um Richter und das, was sie sagen.«

 

Sein scherzhafter Ton fand kein Echo bei ihr.

 

»Gibt es denn niemand, der Sie überreden könnte –«

 

»Es ist sehr freundlich von Ihnen, Miss Smith«, erwiderte er liebenswürdig. »Ich erkenne die gute Absicht, die hinter Ihrer Bitte steht. Aber ich muß meinen eigenen Weg gehen, denn nur so kann ich Genugtuung und Zufriedenheit im Leben erreichen. Ich möchte Sie jetzt auch bitten, nach Hause zu gehen. Sie halten sich schon viel zu lange in der Gesellschaft eines Verbrechers auf. Wohnen Sie zur Zeit in London?«

 

»Ja, ich wohne – ich meine, ich bin hier bei Freunden«, sagte sie etwas verwirrt.

 

Er zahlte, und sie verließen zusammen das Restaurant.

 

Kapitel 2

 

2

 

Stephens, der Butler in Creith House, las in der Morgenzeitung, daß ›der Schwarze‹ wieder einen Einbruch verübt hatte. In raffinierter Weise war der Mann in die Burlington-Bank eingedrungen, hatte die Wachleute betäubt und die Alarmvorrichtungen unbrauchbar gemacht. Stephens war eine mitteilsame Natur und erzählte die Neuigkeit seinem Herrn, als er ihm den Morgenkaffee servierte. Hätte er dieselbe Geschichte dem Gast berichtet, der sich gerade im Haus aufhielt, so würde er eine größere Sensation hervorgerufen haben. Aber aus vielen Gründen konnte er Mr. Ralph Hamon nicht leiden. Bei seinen ersten Besuchen war dieser Herr dem Lord gegenüber sehr höflich gewesen, hatte sich in Gegenwart der jungen Lady bescheiden benommen und sich die größte Mühe gegeben, ihr zu gefallen. Aber mit der Zeit hatte sich das Verhalten des Finanzmannes gegenüber der Familie des Lords bedeutend geändert, und Stephens war aufgebracht und böse darüber.

 

Er stand am großen Fenster des getäfelten Bankettsaals und starrte über die breite grüne Rasenfläche zu dem Fluß hinüber, der im Norden die Grenze des Landsitzes bildete. Es war ein herrlicher Frühherbstmorgen, und die Bäume glänzten noch in grünem Laub. Nur hier und dort färbten sich schon einige Blätter gelb und rot. Besonders schön leuchteten die Baumgruppen auf No Man’s Hill.

 

»Guten Morgen, Stephens!«

 

Der Butler drehte sich schuldbewußt um, als er die Stimme des Mannes hörte, an den er eben gedacht hatte.

 

Ralph Hamon war geräuschlos eingetreten. Er war von mittlerer Größe, hatte eine gedrungene Gestalt und neigte etwas zur Korpulenz. Stephens schätzte ihn auf fünfundvierzig. Hamons großes Gesicht war bleich und im allgemeinen ausdruckslos. Die hohe, kahle Stirn, die dunklen, tiefliegenden Augen und die harten Linien seines wenig schönen Mundes deuteten auf Klugheit und Geschicklichkeit. Die Kahlheit des Kopfes war noch deutlicher zu sehen, als er sich bückte, um eine Stecknadel vom Parkett aufzuheben.

 

»Das nennt man Glück«, sagte er und steckte sie unter die Klappe seines eleganten Anzugs. »Besser kann man den Tag gar nicht anfangen, als daß man etwas findet, was man gebrauchen kann.«

 

Stephens hatte auf der Zunge, daß die Stecknadel schon jemand gehörte, aber er beherrschte sich.

 

»Der Schwarze war wieder an der Arbeit«, erwiderte er nur.

 

Hamon runzelte die Stirn und nahm ihm hastig die Zeitung aus der Hand.

 

»Der Schwarze – wo denn?«

 

Während er den Artikel las, verdüsterten sich seine Züge noch mehr.

 

»Diesmal hat er die Burlington-Bank erwischt«, sagte er zu sich selbst. »Ich möchte nur wissen…?« Er warf Stephens einen Blick zu. »Sonderbar. Ist Lord Creith schon heruntergekommen?«

 

»Nein.«

 

»Und Lady Joan?«

 

»Die Lady ist vor einer Stunde ausgeritten.«

 

»Hm.«

 

Mr. Hamon sah mißmutig drein, als er die Zeitung weglegte. Gestern abend hatte er Joan Carston gebeten, mit ihm auszureiten, aber sie hatte sich damit entschuldigt, daß sich ihr Lieblingspferd verletzt habe. Stephens war kein Gedankenleser, aber er erinnerte sich plötzlich an gewisse Instruktionen.

 

»Lady Joan dachte eigentlich nicht, daß es möglich sei, aber ihr Pferd hatte sich heute morgen wieder soweit erholt.«

 

»Hm«, wiederholte Mr. Hamon. »Sie erzählte mir, daß sie jemandem eines der kleinen Häuser als Wohnung angewiesen habe – vielmehr ich hörte nur, wie sie es Lord Creith gegenüber erwähnte. Können Sie mir sagen, um wen es sich handelt?«

 

»Ich weiß leider nichts Genaues. Soviel ich gehört habe, ist es eine Dame mit ihrer Tochter… Lady Joan hat sie in London kennengelernt und ihr das kleine Haus als Erholungsaufenthalt überlassen.«

 

Mr. Hamon lächelte spöttisch.

 

»Sie betätigt sich wohl als Menschenfreundin?«

 

Langsam ging er durch die Halle ins Freie. Von Lady Joan war nichts zu sehen, und er vermutete ganz richtig, daß Stephens entweder Unkenntnis vorschützen oder ihm die Unwahrheit sagen würde, wenn er sich nach ihrem Weg erkundigte.

 

Er konnte die junge Dame nicht entdecken, so scharf er auch Ausschau hielt, aber sie sah ihn sehr genau von No Man’s Hill aus. Sie ritt im Herrensattel auf einem alten Fuchs und schaute nachdenklich zu dem großen, etwas verfallenen Herrenhaus hinüber. Ihr Gesicht war sorgenvoll, und es lag wie ein Schleier über ihren grauen Augen. Ihre schlanke, vornehme Gestalt wirkte fast knabenhaft. Sie beobachtete den dicken Mann, der jetzt wieder zum Haus zurückging, und als er verschwunden war, lächelte sie.

 

»Vorwärts, Toby!« Sie schlug mit den Zügeln auf den Hals des Pferdes und war in wenigen Augenblicken auf der Höhe des Hügels angelangt. Dort stieg sie ab, ließ das Tier grasen und ging zur höchsten Spitze hinauf. Mechanisch sah sie nach ihrer Armbanduhr – es war genau acht. Ihre Blicke verfolgten den breiten Weg, der unten am Hügel vorbeiführte.

 

Sie hätte nicht nach der Uhr zu sehen brauchen, denn der Mann, nach dem sie ausschaute, ritt Tag für Tag, Monat für Monat zur selben Zeit aus dem Gebüsch heraus. Er war groß und schlank, lenkte sein Pferd mühelos und rauchte wie immer eine Pfeife. Sie nahm den Feldstecher aus dem Lederetui und stellte ihn ein. Ihre Neugierde war wirklich unentschuldbar, und sie gestand sich diesen Fehler auch ohne Zögern ein. Er war es: Sie sah die stattliche, sehnige Gestalt mit dem schönen Gesicht und den leicht ergrauten Haaren an den Schläfen. In der einen Hand trug er eine dünne, schmiegsame Reitgerte, mit der er die Mähne seines Pferdes zerstreut streichelte.

 

›Joan Carston, du bist geradezu schamlos!‹ sagte sie zu sich selbst. ›Bedeutet dir denn dieser Mensch etwas? – Nein! Aber umgibst du ihn nicht mit dem goldenen Schimmer der Romantik? – Ja! Treiben dich nicht reine Neugierde und der Hang zu geheimnisvollen Abenteuern jeden Morgen hierher, um diesen harmlosen Gentleman zu beobachten? – Ja! Und schämst du dich nicht deshalb? – Nein!‹

 

Der Mann, der nichts von Joans Selbstgespräch ahnte, ritt weiter und befand sich nun auf gleicher Höhe mit ihr. Er schaute weder nach rechts noch nach links, bis er außer Sicht kam.

 

Mr. James Lexington Morlake war für die Bevölkerung der Umgebung eine rätselhafte, interessante Persönlichkeit. Man wußte nichts Genaues über ihn, nur war er offensichtlich sehr reich. Freunde besaß er bestimmt nicht, und alle Einladungen, die ihn in nähere Berührung mit seinen Nachbarn gebracht hätten, lehnte er strikt ab. Er machte und empfing keine Besuche. Man zog Erkundigungen über ihn ein und erfuhr schließlich durch die Dienstboten, daß er ein ganz merkwürdiges und unregelmäßiges Leben führe. Sein Aufenthalt in Wold House oder in London war stets unbestimmt. Selbst seinen Angestellten teilte er nicht mit, welche Absichten er für den nächsten Tag, geschweige denn für die nächste Woche hatte.

 

Joan Carston bestieg wieder ihr Pferd und ritt den Hügelpfad hinunter, den James Morlake eben eingeschlagen hatte. Als sie an die Weggabelung kam, schaute sie noch gerade zur rechten Zeit nach links, um seinen großen schwarzen Filzhut hinter der Senkung des Geländes, das zum Fluß hinabführte, verschwinden zu sehen.

 

»Ich bin eine wenig anständige junge Dame«, sagte sie in die zurückgelegten Ohren ihres Pferdes. »Ich besitze keine Zurückhaltung und habe nicht den geringsten Stolz, Toby, und ich würde zwei Pfund Sterling dafür geben – das ist meine ganze Barschaft–, um einmal mit ihm persönlich zu sprechen. Und dann wäre ich natürlich enttäuscht.«

 

In kurzem Galopp legte sie den Rest des Weges zurück und bog durch das verfallene Tor ein. Wo die Hauptstraße den Park ihres Vaters berührte, stand ein einfaches Fachwerkhaus, und dorthin ritt sie. Eine Frau winkte ihr aus dem Garten zu, als sie vorbeikam. Sie war etwas über vierzig Jahre alt, sah aber noch sehr gut aus.

 

»Guten Morgen, Lady Joan! Ich bin gestern abend hier angekommen, und Sie haben alles so schön für mich vorbereitet. Es war sehr liebenswürdig von Ihnen, daß Sie sich meinetwegen so viel Mühe gegeben haben.«

 

»Ach, das macht nichts.« Joan war schnell abgestiegen. »Wie geht es denn Ihrem Patienten, Mrs. Cornford?«

 

Die Frau lächelte.

 

»Ich weiß es nicht. Er kommt erst heute abend an. Hoffentlich haben Sie nichts dagegen, daß sich noch jemand bei mir aufhält?«

 

»Ach nein. Wollen Sie eigentlich nicht für immer hier wohnen? Mein Vater würde Ihnen gern die Erlaubnis dazu geben. Wer ist denn der Herr?«

 

»Ein junger Mann, für den ich mich interessiere. Ich muß Ihnen aber sagen, daß er leider ein periodischer Trinker ist. Ich habe versucht, ihn zu heilen, und ich hoffe sogar, daß er keine Rückfälle mehr bekommen wird. Er stammt aus einer vornehmen Familie. Es ist wirklich tragisch, daß so viele junge, blühende Menschen durch Trunk zugrunde gehen. Ich arbeite bei der Trinkerhilfe, wenn ich Zeit habe, und ich erlebe dabei viel Trauriges.«

 

»Darf ich einen Augenblick eintreten?« fragte Joan. »Eigentlich erwartet man mich in Creith – wenigstens unser Besuch erwartet mich. Mein Vater denkt wohl weniger daran. Er hofft nur immer, daß ein Wunder passiert und ihm eine Million in den Schoß fällt, ohne daß er sich anstrengen muß. Und denken Sie, dieses Wunder hat sich nun tatsächlich zum Teil erfüllt!«

 

Mrs. Cornford blickte erstaunt auf.

 

»Wir sind nicht reich«, fuhr Joan fort. »Wir gehören zum verarmten Landadel. Der Herrensitz, die Güter und unser Londoner Stadthaus sind – oder waren wenigstens bis zur vorigen Woche – mit Hypotheken überlastet. Wir sind die ärmste Familie in der Gegend.«

 

Mrs. Cornford war über Joans offenes Bekenntnis verwundert.

 

»Das tut mir leid«, sagte sie. »Es muß schrecklich für Sie sein.«

 

»Ach, ich mache mir nicht viel daraus. Hier sind alle Leute arm, mit Ausnahme dieses geheimnisvollen Mr. Morlake, den man allgemein für einen Millionär hält. Aber er steht wahrscheinlich nur deshalb in dem Ruf, weil er nicht mit anderen Leuten über seine Schulden und Hypotheken spricht.«

 

Mrs. Cornford schwieg und sah nur traurig auf das schöne Gesicht Joans. Sie kannte sie nun seit einem Jahr; eine Zeitungsannonce, in der sie um Näharbeit bat, hatte Joan in die kleine, enge Vorstadtwohnung geführt, wo sich die Frau mit ihrem Töchterchen durch ihre geschickte und flinke Arbeit ernährte.

 

»Die Armen haben es nicht leicht«, meinte sie nach einer Pause.

 

Joan schaute auf.

 

»Sie sind früher auch bemittelt gewesen. Ich wußte es. An einem der nächsten Tage müssen Sie mir einmal Ihre Geschichte erzählen – aber nein, ich will Sie damit nicht quälen. Kennen Sie eigentlich Mr. Morlake?«

 

Mrs. Cornford lächelte.

 

»Er scheint hier in der Gegend eine Art Sehenswürdigkeit zu sein. Ich würde ja kaum etwas von ihm wissen, aber die Phantasie der Leute hier beschäftigt sich sehr mit ihm. Das Mädchen aus dem Dorf, das Sie freundlicherweise geschickt haben, um das Häuschen in Ordnung zu halten, hat mir schon viel von ihm erzählt. Ist er ein Freund von Ihnen?«

 

»Er ist mit niemandem befreundet. Im Gegenteil, er ist so ablehnend und abweisend, daß er reich sein muß. Ich dachte früher einmal daran, daß er mein Freund sein könnte.« Bei diesen Worten seufzte sie.

 

»Ich weiß nicht, ob Sie im Ernst sprechen und ob Sie wirklich so traurig sind«, erwiderte Mrs. Cornford lächelnd.

 

Joans Züge wurden undurchsichtig.

 

»Sie glauben wohl nicht, daß auch ich eine traurige Geschichte haben könnte? Ich bin schon recht alt – beinahe dreiundzwanzig.«

 

»Sie sehen aber viel jünger aus!«

 

»Vielleicht habe auch ich ein schreckliches Geheimnis.«

 

»Das kann ich doch kaum annehmen.«

 

Joan seufzte wieder.

 

»Ich werde jetzt zu meinen Sorgen und Lasten zurückkehren.« Mit diesen Worten verabschiedete sie sich.

 

Die ›Sorgen und Lasten‹ spazierten zu der Zeit gerade die lange Allee von Walnußbäumen entlang.

 

»Ich freue mich sehr, daß Sie zurückgekommen sind«, sagte Hamon mit schlecht angebrachter Heiterkeit, als sie ihn überholte. »Ich habe mich sehr nach Ihnen gesehnt!«

 

Kapitel 20

 

20

 

Ralph Hamon betrieb mancherlei Geschäfte und war an vielen Projekten beteiligt. Das hohe Bürogebäude mit der schmalen Front, in dem seine Unternehmungen untergebracht waren, hieß das Marokko-Haus, denn die Interessen Mr. Hamons hatten hauptsächlich mit diesem Land zu tun.

 

Aufgeregt ging er durch die Räume. Er war nicht im Gericht gewesen; er hielt es für besser, sich dort nicht sehen zu lassen. Dagegen hatte er den Ausgang des Prozesses im Klub erwartet. Das ›Nicht schuldig‹ hatte seine Wut zur Weißglut gebracht.

 

Marborne hatte ihm allerdings schon vorher mitgeteilt, daß der Prozeß nicht nach Wunsch gehe und man mit Überraschungen rechnen müsse. Aber Hamons Meinung nach stand eine Verurteilung außer allem Zweifel, und er war seiner Sache so sicher, daß er an einen Freispruch Morlakes überhaupt nicht gedacht hatte. Und nun sah er sich plötzlich dieser schrecklichen Tatsache gegenüber. – Jim Morlake war frei, der alte Kampf begann von neuem. Solange Morlake auf freiem Fuß war, blieb Hamon bedroht.

 

Mr. Hamons Privatbüro ähnelte in gewisser Weise einem Boudoir. Dicke Teppiche bedeckten den Boden, bequeme, gepolsterte Möbel standen umher, und ein schwacher Duft von Weihrauch und Zedern schwebte in der Luft. Er schob den Stoß Briefe, den ihm ein Sekretär brachte, beiseite und schickte den Mann mit einem Fluch fort.

 

»Es sind drei Telegramme von Sadi angekommen«, sagte der Angestellte und blieb in der Tür stehen.

 

»Bringen Sie sie sofort her«, brummte Hamon. Er entzifferte sie mit Hilfe eines Notizbuches, das er aus der Tasche zog. Offensichtlich wurde seine Stimmung dadurch nicht besser, denn er saß zusammengekauert und hatte die Hände tief in die Hosentaschen vergraben. Schließlich griff er nach dem Telefonhörer und rief seine Wohnung am Grosvenor Place an.

 

»Sagen Sie Miss Lydia, daß ich sie sprechen möchte.« Nach einer geraumen Weile hörte er ihre Stimme. »Stelle den Apparat nach meinem Arbeitszimmer um«, bat er leise. »Ich muß eine private Sache mit dir besprechen. Morlake ist freigekommen.«

 

»Ach, wirklich?« fragte sie gleichgültig.

 

»Höre auf mit deinem ›Ach, wirklich‹!« fuhr er sie an. »Stelle das Telefon um.«

 

Er hörte ein Knacken, danach waren sie wieder verbunden.

 

»Was gibt es denn, Ralph? Ist es so schlimm, daß Morlake freigekommen ist?«

 

»Das ist das Schlimmste, was überhaupt passieren konnte. Jetzt mußt du dein Heil mit ihm versuchen, Lydia. Aus deiner Reise nach Karlsbad kann nichts werden. Wahrscheinlich muß ich nach Tanger gehen, und du mußt mich begleiten.«

 

Er hörte ihren betroffenen Ausruf und grinste.

 

»Du hast mir doch versprochen, daß ich nie mehr dorthin brauche«, beklagte sie sich. »Ralph, ist das wirklich nötig? Ich will ja gern alles tun, was du von mir verlangst, aber bringe mich nicht wieder in dieses schreckliche Haus.«

 

»Wir werden sehen – warte auf mich; in einer halben Stunde bin ich zu Hause.«

 

Er legte den Hörer auf, sah rasch die Korrespondenz durch und wollte gerade dem Sekretär klingeln, als der geschäftige und überarbeitete Mann schon in der Tür erschien.

 

»Ich kann niemand empfangen«, sagte Hamon schnell, als er eine Visitenkarte in seiner Hand sah.

 

»Aber er sagt –«

 

»Das ist mir ganz gleich, was er sagt – Sie hören doch, ich kann niemand empfangen. Wer ist es denn?««

 

Schnell nahm er die Karte und las. Captain Julius Welling von der Kriminalpolizei!

 

Ralph Hamon biß sich auf die Lippen. Er hatte von Welling gehört und wurde nervös.

 

»Lassen Sie ihn hereinkommen«, sagte er kurz.

 

Hamon war erstaunt, als er diesen Mann mit dem milden Gesicht vor sich sah, dem die weißen Haare ein freundliches, wohlwollendes Aussehen gaben. Der Beamte ging ein klein wenig vornübergeneigt und war sehr höflich.

 

»Bitte, nehmen Sie Platz, Captain Welling. Was wünschen Sie von mir?«

 

»Ich kam hier vorbei und dachte, daß ich einmal mit Ihnen sprechen könnte«, sagte Julius liebenswürdig. »Ich gehe oft hier vorbei – Sie liegen eigentlich sehr bequem für uns, Mr. Hamon – nur ein paar Schritte vom Kriminalgericht entfernt.«

 

Hamon schaute ihn unruhig an.

 

»Ich glaube, ich habe Sie in der Verhandlung gegen Morlake nicht gesehen.«

 

»Ich habe mich wenig für den Fall interessiert.«

 

»Ach so – ich nahm allerdings das Gegenteil an. Wie konnte ich auch nur auf einen solchen Gedanken kommen?«

 

Er sah mit traurigen Augen auf Hamon, der unter diesem Blick unsicher wurde.

 

»Es wäre ja auch möglich, daß ich mich in gewisser Weise dafür interessierte. Dieser Mensch ist mir schon seit Jahren auf die Nerven gefallen, und Sie wissen, daß ich in der Lage war, der Polizei einige wertvolle Informationen über ihn zu geben.

 

»Nicht der Polizei – Sie meinen wohl Inspektor Marborne, der allerdings auf den ersten Blick wie ein Polizeibeamter aussieht. Ein merkwürdiger Mann, dieser Mr. Morlake, nicht wahr?«

 

»Alle Verbrecher sind mehr oder weniger merkwürdig.«

 

»Da haben Sie recht – alle Verbrecher sind merkwürdig. Aber manche sind merkwürdiger als andere, und dann gibt es auch sehr merkwürdige Leute, die nicht zu den Verbrechern gehören. Haben Sie das auch schon beobachtet? Er hat einen maurischen Diener, Mahmet, und soviel ich weiß, spricht er sehr gut Arabisch. Aber sagen Sie einmal, Sie sprechen doch diese Sprache auch?«

 

»Ja.«

 

»Sehen Sie einmal an. Ist das nicht ein bemerkenswertes Zusammentreffen? Sie beide haben enge Beziehungen zu Marokko. Sie haben ja auch eine ganze Anzahl Gesellschaften gegründet, die mehr oder weniger mit dem Land zu tun haben. Da wurde zunächst die Marrakesch-Gesellschaft gegründet zur Ausbeutung der Ölquellen in der Wüste Hari. Die Wüste war da, aber kein Petroleum, wenn ich mich richtig besinne – und dann ging die Gesellschaft in Liquidation.«

 

»Es war wohl Petroleum da, aber die Quellen waren erschöpft.«

 

»Und Morlake – war der auch an marokkanischen Finanzgeschäften interessiert? Er lebte doch einige Zeit dort. Haben Sie ihn drüben getroffen?«

 

»Ich habe ihn niemals getroffen – einmal habe ich ihn allerdings gesehen. Aber Tanger ist doch der Ort, wo aller Unrat Europas zusammenkommt.«

 

»Da haben Sie recht. Erinnern Sie sich noch an das Rifdiamanten-Syndikat? Das haben Sie doch vor ungefähr zwölf Jahren gegründet?«

 

»Ja. Das ist leider auch in Liquidation gegangen.«

 

»Ich denke dabei weniger an die Gesellschaft als an die armen Aktionäre.«

 

»Darüber brauchen Sie sich keine Sorge zu machen, denn ich war der einzige Aktionär«, entgegnete Hamon schroff. »Wenn Sie aber hergekommen sind, Captain Welling, um sich nach meinen Gesellschaften zu erkundigen, dann wäre ich Ihnen sehr verbunden, wenn Sie nicht immer um die Sache herumredeten, sondern mir ganz klar und offen sagten, was Sie wissen möchten.«

 

»Ich möchte gar nichts wissen.« Welling machte eine abwehrende Bewegung. »Ich bin nun schon so alt geworden, Mr. Hamon, daß ich gern ein bißchen klatsche. Ja, sehen Sie, so geht die Zeit hin; mir ist es, als ob ich die Prospekte des Rifdiamanten-Syndikats erst vor kurzem gelesen und von den prachtvollen Steinen gehört hätte, die in der Mine gefunden worden sein sollten, ungefähr fünfundvierzig Meilen südwestlich von Tanger. Sind eigentlich viele Leute darauf hereingefallen?«

 

Der Beamte sprach so gleichgültig und harmlos, daß Hamon die Beleidigung, die in diesen Worten lag, zuerst gar nicht merkte.

 

»Was wollen Sie damit sagen?« fuhr er dann auf. »Ich habe Ihnen doch eben erklärt, daß keine Aktie in andere Hände ging. Nicht ein Penny fremdes Kapital steckte in der Gesellschaft!«

 

Mr. Welling seufzte, nahm Schirm und Hut und erhob sich etwas steifbeinig.

 

»So, so«, sagte er freundlich, »dann bleibt die ganze Sache also ein unerklärliches Geheimnis. Warum ist denn James Morlake so hinter Ihnen her, wenn keine Aktien ausgegeben wurden? Warum hat er denn seit zehn Jahren die Banken beraubt, bei denen Sie ein Depot haben, und warum wurde er dann zum Verbrecher?«

 

Er ging zur Tür, drehte sich aber noch einmal um.

 

»Haben Sie einmal einen Matrosen in der Portsmouth Road getroffen?« fragte er.

 

Hamon zuckte zusammen.

 

»Heutzutage begegnen Sie solchen Leuten nicht mehr auf der Landstraße, sie fahren in der Eisenbahn bequemer. Und es ist auch sicherer dort, denn im Zug werden sie nicht so leicht erschlagen wie auf der einsamen Portsmouth Road. Denken Sie einmal darüber nach!«

 

Kapitel 21

 

21

 

Wieviel mochte dieser Mann wissen? Hatte Morlake ihm erzählt –?

 

Hamon erinnerte sich an einen sonnigen Tag in Marokko, an dem zwei Männer auf Mauleseln durch die Wüste auf die Rifhügel zuritten. Er selbst war einer der beiden, der andere war ohne Namen. Als sie den sandigen Abhang emporklommen, kam plötzlich ein junger Mann im schärfsten Galopp auf sie zu, hielt an und beobachtete sie, nachdem sie vorüber waren. Das war Hamons erste Begegnung mit James Lexington Morlake gewesen.

 

Jetzt erinnerte er sich auch, daß er damals plötzlich den unbändigen Wunsch hatte, sich auf den Mann zu stürzen und ihn niederzuschießen. Der Beobachter bedeutete für ihn die größte Gefahr. Ralph Hamon faßte mit der Hand mechanisch zur Hüfttasche, wo seine Pistole steckte. Aber dann schüttelte er die Träume von sich ab und verließ das Büro.

 

Lydia wartete schon ungeduldig auf ihn.

 

»Ich habe eine Verabredung zum Abendessen mit Lady Clareborough. Ich habe nur noch fünf Minuten Zeit!« erklärte sie ärgerlich.

 

»So, fünf Minuten hast du nur für mich übrig? Na, ich glaube, das genügt auch. Es handelt sich um Morlake.«

 

»Morlake?« fragte sie, unangenehm berührt. »Haben wir mit ihm nicht Schluß gemacht?«

 

»Die Frage ist jetzt nur, ob er mit mir Schluß gemacht hat. Du mußt mit ihm bekannt werden, ganz gleich, wieviel Geld das kostet. Ich möchte zu irgendeiner Verständigung mit ihm kommen, Frieden mit ihm machen. Und ich glaube, daß du die Sache besser vermitteln kannst als ich. Du bist klug und hast Erfindungsgabe. Vielleicht ist er auch der Mann, der einer Frau gegenüber zugänglich ist – es gibt wohl nur wenige, auf die du keinen Eindruck machst.«

 

»Was meinst du mit – zugänglich? Soll er mich etwa heiraten oder sich in mich verlieben? Oder was soll es sonst heißen?«

 

»Es ist mir ganz egal, was er tut, wenn du ihn nur überreden kannst, seine Rachepläne gegen mich aufzugeben.«

 

»Sorgt denn nicht das Gesetz bereits dafür, daß du nichts mehr von ihm zu befürchten hast? Ich habe den Bericht über die Gerichtssitzung gelesen, und nach dem, was der Richter sagte, machst du dir doch wahrscheinlich unnötige Sorgen. Außerdem möchte ich die gesellschaftliche Stellung, die ich mir erobert habe, nicht leichtsinnig aufs Spiel setzen, indem ich mit einem verurteilten Verbrecher verkehre – nach dem Prozeß ist er so gut wie verurteilt. Ich muß vor allen Dingen an meine Bekannten denken.«

 

»Na, dann geh zu deinem Dinner!« entgegnete er barsch. »Ich dachte, du hättest dir diese Dummheiten aus dem Kopf geschlagen.«

 

Sie wollte ihm leidenschaftlich widersprechen, aber als sie seinen Blick sah, schwieg sie.

 

Ralph Hamon war ein reicher, aber ein geiziger Mann. Er verwahrte nutzlose Dinge in der Hoffnung, sie eines Tages doch noch verwenden zu können. Nie verschwendete er ein Blatt Papier, auf das man noch eine Zeile schreiben konnte.

 

Jim Morlake hatte diese Schwäche sehr gut charakterisiert, als er Hamon die Parabel von dem Affen und der Kürbisflasche erzählte. Aber diese Eigenschaft war nicht nur eine Schwäche, sie konnte ihm sogar zum Verhängnis werden. Seine Vernunft sagte ihm, daß er ein gewisses Schriftstück, das er besaß, verbrennen sollte. Aber obwohl er schon ein dutzendmal fest dazu entschlossen war, brachte er es doch nicht fertig.

 

Die Bibliothek, in der er sich gewöhnlich aufhielt, wenn er arbeitete, lag im Obergeschoß seines Hauses am Grosvenor Place. Er las wenig, trotzdem waren drei Wände des Raumes mit Bücherschränken und Regalen, die die üblichen Werke enthielten, bedeckt.

 

Einen Band nahm er allerdings öfter zur Hand. In einem kleinen, besonderen Schrank mit Glastüren standen neben anderen Büchern Emersons Essays.

 

Hamon verriegelte die Tür, zog die Vorhänge dicht zu, öffnete den Schrank und holte das prachtvoll gebundene Exemplar heraus. Er brauchte beide Hände, um es herunterzuheben und zum Tisch zu tragen.

 

Der Einband war äußerst geschickt nachgemacht, und der Buchschnitt täuschend ähnlich.

 

Hamon wählte einen Schlüssel aus dem Bund, den er an einer langen Kette in der Tasche trug, steckte ihn in ein Loch zwischen Deckel und Seiten und schloß auf. Als er den Deckel hochhob, enthüllte sich das Buch als ein flacher, halb mit Dokumenten gefüllter Kasten, der aus solidem Stahl gefertigt war. Hier verwahrte Hamon seine wichtigsten Akten.

 

Er nahm ein Schriftstück heraus, legte es auf den Schreibtisch und schaute auf das engbeschriebene Blatt. Es war von Anfang bis zu Ende eine große Anklage gegen ihn. Gefängnis und Todesstrafe standen auf die Taten, die hier von ihm berichtet wurden. Mit zitternder Hand entzündete er ein Streichholz, zögerte, warf es in den Kamin und legte das Blatt wieder in den Kasten zurück.

 

Es klopfte an die Tür. Nachdem er den Deckel hastig zugeklappt hatte, stellte er das Buch wieder an seinen Platz zurück und drückte die Schranktür zu.

 

»Wer ist da?«

 

»Wollen Sie Mr. Marborne empfangen?« fragte der Diener mit leiser Stimme.

 

»Ja, lassen Sie ihn heraufkommen!«

 

Er zog den Riegel zurück und trat an die Treppe hinaus, um den übelgelaunten Detektiv zu begrüßen.

 

»Sie haben die ganze Sache verpfuscht!« sagte Hamon ärgerlich.

 

»Meine Karriere ist futsch – das kann ich Ihnen sagen, Hamon! Ich muß den Dienst quittieren! Ich wünschte, ich hätte mich nie mit diesem verdammten Morlake abgegeben!«

 

»Es hat gar keinen Zweck, jetzt Spektakel zu machen.«

 

»Welling hat mir mitgeteilt, daß ich entlassen bin, aber selbst wenn ich noch im Dienst bleiben könnte, würde ich es doch vorziehen, meinen Abschied zu nehmen. Ich wäre doch für alle Zeiten gebrandmarkt. Sie müssen eine Stelle für mich finden!«

 

»Sieh mal einer an! Ich soll Ihnen jetzt eine Stelle beschaffen? Ich dachte, Sie wären bescheidener!«

 

»Ich weiß nicht, wer jetzt bescheidener sein muß, ich oder Sie!« fuhr Marborne heftig auf.

 

»Wir wollen uns nicht zanken.« Hamon goß Whisky ein und füllte das Glas aus dem Siphon. »Ich glaube, daß ich eine Stelle für Sie finden kann. Ich brauche einen Mann in Tanger, der meine Interessen dort vertritt. Aber überlegen Sie mal, ich war es nicht, der Sie in diese böse Lage gebracht hat – das war James Morlake!«

 

»Dieser verdammte Kerl!« rief Marborne und trank sein Glas in einem Zug aus. Dann setzte er sich an den Schreibtisch, nahm ein Blatt Papier aus der Brieftasche und entfaltete es.

 

»Ich habe meine Spesen für die Sache zusammengerechnet – hier ist die Aufstellung.«

 

Hamon stöhnte, als er die Endsumme las.

 

»Das ist aber doch ein starkes Stück – ich habe Sie nicht ermächtigt, so hohe Ausgaben zu machen!«

 

»Sie haben mir gesagt, ich könne so viel brauchen, wie ich wolle!«

 

»Das sind doch beinahe tausend Pfund!« rief Hamon entsetzt. »Ich bin ein geschlagener Mann.«

 

»Das ist mir gleich, was Sie sind; auf alle Fälle haben Sie zu zahlen! Auch Slone muß noch etwas bekommen!«

 

»Sie scheinen ganz zu vergessen, daß ich Ihnen schon reichlich Geld gegeben habe –« begann Hamon, als er plötzlich unterbrochen wurde.

 

Der Butler erschien in der Tür und flüsterte seinem Herrn etwas, zu.

 

»Er ist hier?« fragte Hamon aufgeregt.

 

»Ja, er wartet unten.«

 

Hamon wandte sich zu Marborne. Sein Ärger war verflogen.

 

»Er ist da!« sagte er.

 

»Er? Wer?« fragte Marborne verwundert. »Sie meinen doch nicht etwa Morlake?«

 

Hamon nickte.

 

»Sie bleiben besser hier oben, ich gehe hinunter und spreche mit ihm. Lassen Sie aber die Tür offen; wenn Lärm oder Streit entsteht, kommen Sie.«

 

Hamon begrüßte Jim Morlake in der Diele mit der größten Herzlichkeit.

 

»Treten Sie doch bitte näher, lieber Morlake!« Er öffnete die Tür des Wohnzimmers. »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie ich mich freue, daß Sie freigesprochen worden sind.«

 

Jim antwortete nicht, bis er in den Raum getreten war und die Tür geschlossen hatte. »Ich habe die Absicht, meine üble Karriere aufzugeben, Hamon«, sagte er kurz und bündig.

 

»Ich denke, daran tun Sie sehr gut. Wenn ich Ihnen irgendwie behilflich sein kann –«

 

»Ja, Sie können mir behilflich sein. Geben Sie mir ein Dokument, das von einem gewissen Mann unterschrieben ist – Sie wissen, wen ich meine. Vor etwa zwölf Jahren sah ich ihn mit Ihnen zusammen in Marokko.«

 

»Nehmen wir einmal an, ich hätte das Schriftstück«, erwiderte Hamon nach einer Pause, »glauben Sie, ich wäre so verrückt, es Ihnen zu geben, um meine Freiheit in Ihre Hände zu legen?«

 

»Ich würde Ihnen genug Zeit lassen, aus dem Land zu verschwinden, und ich würde mich auch verpflichten, die Anklage, die in dem Schriftstück gegen Sie erhoben wird, nicht zu unterstützen. Ohne meine Aussage würde eine Anklage gegen Sie zusammenbrechen.«

 

Hamon lachte rauh.

 

»Ich habe nicht die Absicht, England zu verlassen, besonders nicht am Vorabend meiner Hochzeit – ich heirate nämlich Lady Joan Carston.«

 

»Ist das nicht die Tochter von Lord Creith?«

 

Hamon nickte.

 

»Sie werden die Dame aber nicht heiraten, ohne daß sie verschiedenes über Sie erfährt.«

 

»Sie weiß alles von mir, was sie wissen muß.«

 

»Dann werde ich ihr noch ein wenig mehr erzählen. Immerhin haben Ihre Heiratspläne mit der Sache, die wir hier besprechen, nichts zu tun. Ich bin gekommen, um Ihnen eine Chance zu geben und mir zugleich eine Menge Unannehmlichkeiten zu ersparen. Ich brauche dieses Dokument.«

 

»Sie jagen hinter einem Phantom her«, entgegnete Hamon verächtlich. »Was dieses wertvolle Dokument betrifft, so existiert es überhaupt nicht – es hat sich jemand einen Scherz mit Ihnen erlaubt und sich über Ihre Leichtgläubigkeit lustig gemacht. Hören Sie, Morlake! Könnten wir unseren Streit denn nicht als Gentlemen beilegen?«

 

»Ich könnte das wohl von meiner Seite aus, denn ich bin ein echter Gentleman, aber Sie können Ihre Angelegenheiten höchstens als ein niederträchtiger Schwindler und Verbrecher regeln, der durch den finanziellen Ruin anderer Menschen zu Vermögen gekommen ist. Es ist die letzte Möglichkeit für Sie und vielleicht auch für mich. Geben Sie mir das Schriftstück, und wir sind miteinander fertig.«

 

»Eher will ich in die Hölle kommen«, rief Hamon wütend. »Selbst wenn ich es hätte – aber ich habe es nicht –«

 

Jim nickte nachdenklich und ging zur Tür.

 

»Ich sehe, die Hand des Affen, bleibt eben in der Kürbisflasche. Er ist zu gierig, um die Dattel fahrenzulassen.«

 

Hamon eilte zur Bibliothek hinauf, nachdem Morlake gegangen war.

 

»Unser Freund ist immer noch sehr aufsässig«, sagte er, aber er sprach in den leeren Raum. Rasch klingelte er nach dem Butler.

 

»Haben Sie gesehen, daß Mr. Marborne weggegangen ist?«

 

»Jawohl, er ging vor einigen Sekunden, gerade bevor Sie aus dem Wohnzimmer kamen. Er schien es sehr eilig zu haben.«

 

»Das ist aber seltsam«, meinte Hamon und entließ den Mann wieder.

 

Auf dem Schreibtisch entdeckte er eine Bleistiftnotiz.

 

›Wenn Sie meine Aufstellung nicht begleichen wollen, zahlen Sie vielleicht nachher eine größere Rechnung.‹

 

Hamon rieb sich nervös das Kinn. Was bedeuteten diese sonderbaren Worte? Wahrscheinlich war Marborne aus Ärger wieder gegangen. Hamon zuckte die Schultern und setzte sich. Er hatte keine Zeit, sich um die Launen der Leute zu kümmern, die ihm als Werkzeug gedient hatten.

 

Als er sich umschaute, bemerkte er, daß die Glastür zum Bücherschrank offenstand, und er hätte doch schwören mögen, daß er sie geschlossen hatte. Mit einem Fluch sprang er auf.

 

Das Stahlbuch war an seiner Stelle, aber der Titel stand auf dem Kopf. Jemand mußte es in der Hand gehabt haben.

 

Schnell nahm er es herunter, und zu seinem größten Schrecken‘ ließ sich der Deckel öffnen. Er hatte vergessen, es zuzuschließen.

 

Zitternd suchte er die Dokumente durch – aber das belastende Schriftstück fehlte!

 

Mit einem wütenden Ausruf lief er zur Tür und rief den Butler.

 

»In welcher Richtung hat sich Marborne entfernt?« fragte er hastig.

 

»Nach rechts.«

 

»Holen Sie mir schnell ein Auto!«

 

Hamon legte die Dokumente wieder in den Kasten, verschloß ihn und stellte ihn in den Schrank zurück. Dann fuhr er zu Marbornes Wohnung.

 

Als er dort ankam, sagte man ihm, daß der Detektiv nicht nach Hause gekommen sei. Er habe erst kurz vorher angeläutet und mitgeteilt, daß er nach dem Festland hinüber müsse.

 

Hamon überlegte schnell. Es blieb ihm nur eins übrig: sofort zur Polizei zu gehen. Marborne war noch Beamter und mußte sich früher oder später in Scotland Yard melden.

 

Dort hatte Hamon das Glück, Welling zu treffen. Der alte Herr schien über seinen Besuch in keiner Weise überrascht zu sein.

 

»Sie wollen Marborne sprechen? Handelt es sich um eine wichtige Angelegenheit?«

 

»Wird er denn überhaupt zurückkehren – ich meine …«, fragte Hamon atemlos.

 

»Sicher kommt er. Morgen früh hat er eine sehr dringende Besprechung mit dem Chef.«

 

»Hat er keine Freunde – wo wohnt eigentlich Slone?«

 

Welling rückte die Brille zurecht und sah seinen Besucher scharf an.

 

»Ist etwas Unangenehmes passiert?«

 

»Ja – ich wollte sagen nein. Wenigstens nichts Wichtiges – es geht nur mich und Marborne an.«

 

»So?« Welling ging zu einem Tisch, öffnete ein großes Buch und schlug Slones Adresse auf, notierte sie auf ein Blatt und gab es Hamon.

 

»Ich bin Ihnen zu größtem Dank verpflichtet. Ich erwartete nicht, daß Sie sich soviel Umstände machen würden.«

 

»Wir tun, was in unseren Kräften steht«, entgegnete Welling leise.

 

Als Hamon gegangen war, nahm Welling den Telefonhörer ab und rief den Posten am Portal an.

 

»Ein gewisser Hamon kommt gleich durch. Geben Sie Sergeant Lavington den Auftrag, ihm zu folgen und ihn nicht aus dem Auge zu verlieren. Ich will wissen, wohin er geht und was mit ihm los ist.«

 

Vergnügt rieb er sich die Hände und schaute in die Ferne.

 

Ich glaube, es wird sehr viel los sein, sagte er zu sich selbst.

 

Kapitel 15

 

15

 

Joan war am Vormittag Miss Lydia Hamon mit größtem Erfolg aus dem Weg gegangen und hoffte, daß ihr unentschuldbar beleidigendes Benehmen die junge Dame veranlassen werde, nicht wiederzukommen. Zu jeder anderen Zeit wäre sie sehr neugierig gewesen, die Schwester Ralphs zu sehen, aber heute hatte sie nur einen Gedanken, der sie in Anspruch nahm.

 

Zwei Stunden vor dem Abendessen legte sich Lord Creith nieder und hielt eine Siesta, wie er es nannte. Joan erledigte um diese Zeit ihre Korrespondenz, aber heute war sie nicht dazu aufgelegt. Noch weniger war sie in der Stimmung, Besuche zu empfangen, und als Stephens erschien, um ihr Miss Hamon zu melden, seufzte sie verzweifelt auf.

 

»Bitten Sie die Dame herauf«, sagte sie schließlich und nahm sich vor, höflich zu sein.

 

Sie war doch etwas erstaunt, als sie Lydia sah, die viele Vorzüge hatte und sich geschmackvoll zu kleiden verstand. Es war kaum zu glauben, daß dieses zarte, geschmeidige Mädchen mit dem häßlichen Mr. Hamon verwandt sein sollte.

 

»Es tut mir furchtbar leid, daß ich Sie gestört habe.« Lydia warf einen Blick auf den Schreibtisch, auf dem Joan in aller Eile Schreibpapier und Briefumschläge ausgelegt hatte, um die Unterredung möglichst bald abbrechen zu können. »Ich habe schon heute morgen versucht, Sie zu treffen. Ralph sagte, daß Sie mich am Vormittag erwarten würden, aber Sie waren leider schon ausgegangen.«

 

Joan murmelte ein paar Entschuldigungsworte und war gespannt, welche dringende Veranlassung Lydia noch einmal zu ihr geführt hatte.

 

»Ich bin nur ein paar Tage in London, und ich mußte Sie sprechen«, sagte Lydia, als ob sie Joans Gedanken erraten hätte. »Ich lebe sonst in Paris – kennen Sie Paris?«

 

»Nur oberflächlich. Ich liebe es nicht sehr.«

 

»Wirklich?« Lydia zog die Augenbrauen in die Höhe. »Ich kann die Leute, die Paris nicht gern haben, eigentlich kaum verstehen. Es ist doch herrlich dort für Menschen, die Geschmack haben.«

 

»Dann muß ich eben einen sehr schlechten Geschmack haben«, meinte Joan belustigt.

 

»Sie verstehen mich nicht richtig – das wollte ich damit nicht sagen«, entgegnete Lydia schnell, denn sie wollte unter allen Umständen einen günstigen Eindruck hinterlassen. »Ich meine Leute, die dort leben. Kennen Sie eigentlich den Herzog von Montvidier? Er ist eng mit uns befreundet.«

 

Sie rasselte noch ein Dutzend anderer Namen des französischen Hochadels herunter, ohne daß Joan jemand darunter fand, für den sie sich besonders interessiert hätte.

 

»Ralph hat mir erzählt, daß er Ihr Familiengut in Sussex gekauft hat.« Lydia spielte mit dem Griff ihres Schirmes und sah an Joan vorbei. »Es muß ein ganz wunderbares Haus sein.«

 

»O ja, es ist sehr schön dort.«

 

»Jammerschade, daß dieses alte Gut Ihnen nicht mehr gehören soll, das doch so viele Jahrhunderte im Besitz der Creith war. Ich sagte Ralph, wie sehr ich mich darüber wundere, daß er davon so herzlos Besitz ergriffen hat.«

 

»Er hat es noch nicht getan, und er kann es auch nicht tun, solange mein Vater lebt«, erklärte Joan, die jetzt Lydias Absichten durchschaute.

 

»O ja, ich weiß – ich dachte im Augenblick nicht an Ihren Vater, ich dachte ganz besonders an Sie. Ralph denkt sehr viel an Sie. Er leidet – er ist sehr gütig, nur wenige Menschen verstehen ihn. Im allgemeinen erscheint er den Leuten als ein Mensch, der sein Hauptinteresse darin sieht, Geld zusammenzuscharren. Aber in Wirklichkeit ist er feinfühlig und der treueste Freund.«

 

»Dann wird er ja eine Frau einmal sehr glücklich machen, wenn er heiratet«, sagte Joan, die den Stier bei den Hörnern packen wollte.

 

Auf diese Antwort war Lydia nicht gefaßt, und sie verlor plötzlich die Disposition, obwohl sie sich vorher genau überlegt hatte, was sie vorbringen wollte.

 

»Das denke ich auch«, erwiderte sie schließlich. »Aber ganz im Ernst – obgleich Sie denken können, daß es unverschämt von mir ist, das zu sagen –, Ralph ist ein begehrenswerter Preis, um den es sich zu kämpfen lohnt.«

 

»Da ich mich um diesen Preis in keiner Weise bewerbe, wüßte ich nicht, warum es unverschämt von Ihnen sein sollte«, entgegnete Joan kühl. »Ich könnte Ihren Bruder sowieso nicht heiraten – um ganz offen zu sein.«

 

»Warum denn nicht?« fragte Lydia begierig.

 

»Weil ich verlobt bin.«

 

»Verlobt!«

 

Lydia war empört über Ralph, der ihr eine so wichtige Sache nicht mitgeteilt hatte.

 

»Er weiß aber gar nichts davon –«

 

»Dann können Sie ihm ja eine interessante Neuigkeit erzählen!«

 

Lydia war aufgestanden, drehte verlegen an ihrem Schirm und wußte nicht, wie sie diese Unterredung beenden sollte.

 

»Ich wünsche Ihnen, daß Sie sehr glücklich werden. Aber ich glaube, es ist der größte Fehler für eine Dame Ihres Standes, wenn sie einen Mann ohne Geld heiratet. Ihr Verlobter hätte doch nicht gestattet, daß Ralph das Landgut Ihres Vaters kaufte, wenn er vermögend wäre.«

 

»Geldheiraten werden meistens sehr unglücklich. Wir hoffen, daß unsere Verlobung, die sich nur auf reine Liebe gründet und von der traurigen Geldfrage überhaupt nicht berührt wird, sehr glücklich ausgehen wird.«

 

»Vielleicht überlegen Sie sich die Sache noch«, meinte Lydia und reichte Joan ärgerlich die Hand. »Ralph ist ein Mann, der sich nicht leicht von seinen Vorsätzen abbringen läßt. Er ist ein guter Freund, aber auch ein böser Feind. Augenblicklich geht jemand ungeduldig im Gefängnis auf und ab, der erfahren hat, was es bedeutet, Ralph Hamon zum Feind zu haben.«

 

Sie sah, daß Joan errötete, aber sie deutete es falsch.

 

»Ich weiß nicht, warum sich die Leute im Gefängnis nicht damit die Zeit vertreiben sollen, in ihrer Zelle auf und ab zu gehen«, erwiderte Joan kühl. »Meiner Meinung nach ist Mr. Morlake übrigens sehr ruhig und gelassen.«

 

»Ach, Sie kennen Jim Morlake?«

 

»Ich muß ihn wohl kennen, denn ich bin mit ihm verlobt!«

 

Kapitel 16

 

16

 

Lord Creith kam aufgeräumt und vergnügt zum Abendessen herunter, nachdem er sein kleines Schläfchen gehalten hatte. Joan erzählte ihm bei Tisch von ihrer Unterhaltung mit Lydia.

 

»Um Himmels willen, wie kannst du so etwas sagen! Mit einem Einbrecher verlobt! Das war wirklich eine große Dummheit. Nun wird dieser Hamon kommen und mich mit der Sache belästigen. Und niemand weiß besser als du, Joan, daß ich nicht belästigt werden will.«

 

»Du kannst ihm aber doch sehr gut sagen, daß du nichts davon weißt. Du kannst ihm erklären, daß ich mein eigener Herr bin und mir von niemandem dreinreden lasse – das stimmt doch?«

 

»Vielleicht kommt er gar nicht«, meinte er hoffnungsvoll.

 

Aber er hatte sich kaum vom Tisch erhoben, als Ralph Hamon laut an die Tür klopfte.

 

»Ich bin nicht zu Hause, Joan«, sagte Lord Creith hastig.

 

Er verließ den Raum, und Joan ging ins Wohnzimmer, in dem Hamon wütend hin und her rannte. Er wandte sich schnell um, als sie die Tür öffnete.

 

»Was hat das zu bedeuten, was Lydia mir erzählt hat?« fragte er stürmisch.

 

Es war eine große Veränderung mit ihm vorgegangen. Er sah sonst schon wenig vorteilhaft aus, aber nun schauderte sie bei seinem Anblick. Sein Unterkiefer war vorgeschoben, und seine Augen funkelten vor Zorn.

 

»Sie kennen Morlake – Sie sind also Jane Smith!« Er ging auf sie zu. Und als sie nur ruhig nickte, steigerte sich seine Erregung noch mehr. »Joan, ich habe Ihnen früher schon gesagt, und ich sage es Ihnen wieder, daß Sie die einzige Frau auf der Welt sind, die zu mir paßt. Ich will Sie haben, sonst niemanden! Ich würde eher Sie und ihn töten –«

 

Sie zuckte mit keiner Wimper, und je verächtlicher und geringschätziger ihre Haltung ihm gegenüber war, desto begehrenswerter erschien sie ihm. Er streckte die Hände nach ihr aus, aber sie stand unbeweglich vor ihm.

 

»Ich kenne ein Dutzend Männer, die Sie am Kragen packen und aus dem Haus werfen würden, wenn sie nur die Hälfte von dem wüßten, was Sie eben gesagt haben.«

 

Ihre Stimme klang fest und sicher.

 

»Wenn ich falsch unterrichtet bin –« erwiderte er heiser.

 

»Das sind Sie. Es war ein Scherz von mir, Ihrer Schwester zu erzählen, daß ich verlobt sei. Ich konnte sie und ihr albernes Benehmen nicht mehr ertragen.«

 

Sie hatte die Tür aufgelassen, als sie hereinkam, und sie wußte, daß der Butler in der Diele war.

 

»Stephens!« rief sie.

 

Der Mann kam herein.

 

»Bitte, begleiten Sie Mr. Hamon hinaus!«

 

Kapitel 17

 

17

 

Colonel Carter vom Morddezernat nahm die Zigarre aus dem Mund.

 

»Mein lieber Welling, Sie sind romantisch, und deshalb müßte Ihnen eigentlich alles schiefgehen. Aber statt dessen sind Sie einer der erfolgreichsten Detektive.«

 

Julius Welling, der Chef der achten Abteilung von Scotland Yard, seufzte. Er war ein älterer, weißhaariger Mann mit melancholischen Zügen.

 

»Ich muß zugeben«, fuhr Carter fort, »daß Ihre phantastischen Träumereien manchmal zu den seltsamsten Enthüllungen geführt haben.«

 

»Wozu wird denn meine augenblickliche Kombination führen?« fragte Welling mit einem müden Lächeln.

 

»Damit werden wir sicher eine große Katastrophe erleben«, meinte der Colonel ernst. »Wir haben den Schwarzen gefangen – daran kann kein Zweifel bestehen. Ich wünschte nur, es hätte ihn ein anderer als Marborne gefaßt, denn ich war schon dabei, ihm den Laufpaß zu geben. Aber das ist eben das Glück des Zufalls – ausgerechnet Marborne muß ihn bekommen. Wir haben alles Beweismaterial in Händen, das wir brauchen – abgesehen davon wurde Morlake auf frischer Tat ertappt. Einbrecherwerkzeug und eine Waffe wurden bei ihm gefunden. Außerdem haben wir in seiner Wohnung in der Bond Street gestohlenes Gut entdeckt – ein Paket Banknoten mit den Stempeln der Home-Counties-Bank –«

 

»Die könnte schließlich auch ich von der Home-Counties-Bank bekommen, wenn ich nur darum nachsuchte«, sagte Welling halb zu sich.

 

»Ein Geldkasten war in seinem Garten vergraben –«

 

»Warum sollte er denn einen Geldkasten in seinem Garten vergraben? Das tun doch nur Amateurverbrecher.«

 

»Nun gut, aber wie kam dann das Geld dorthin?« fragte Carter gereizt.

 

Mr. Welling rieb sich nachdenklich die Nase.

 

»Man kann es ja dorthin gebracht haben, um Beweise gegen ihn anzuhäufen. Morlakes Geschichte klingt doch sehr merkwürdig. Er sagt, daß sein Diener verunglückte, der in Blackheath wohnt. Er kommt zu dem Haus, wo er liegen soll, wird plötzlich überfallen und zu Boden geschlagen. Denken Sie doch, er wird, ohne daß er recht weiß, was geschieht, gefaßt und zu Boden geschlagen – und dabei soll er eine Pistole bei sich gehabt haben! Er will in ein Haus einbrechen und läßt seinen Wagen an der Ecke der Straße mit brennenden Lampen stehen! Und dicht dabei ist eine Nebenstraße, in der er ihn großartig hätte verstecken können. Man nimmt an, daß er von der Rückseite in das Haus eingebrochen sei. Dort liegt ein Garten, der von einer niedrigen Mauer begrenzt wird. Er hätte auf dem Rückweg leicht über die Mauer steigen können und wäre dann gleich im Freien gewesen. Aber nein, er geht durch die Haupttür auf die Straße. Er wehrt sich – wie hat er sich denn gewehrt? Man darf doch nicht vergessen, daß er eine geladene Pistole bei sich gehabt haben soll! Aber er wehrt sich, so daß Marborne seinen Polizeiknüppel gegen ihn gebrauchen muß. Was hat er denn nur die ganze Zeit mit der Pistole gemacht?«

 

Colonel Carter schüttelte den Kopf. »Aber die Geschichte von dem telefonischen Anruf ist doch eine Lüge –«

 

»Im Gegenteil, sie ist wahr. Die Telefonzentrale in New Cross hat das Gespräch abgehört. Gerade zu dieser Zeit wurden nämlich die Anschlüsse untersucht und revidiert, weil ein Teilnehmer gemeldet hatte, daß sein Apparat nicht in Ordnung sei. Die Techniker hörten zufällig gerade diesen Anruf.«

 

Colonel Carter sah ihn erstaunt an: »Ich merke, daß Sie sich eingehend mit dem Fall beschäftigt haben.«

 

»Ich habe Marborne beschattet. Der Mann, der Morlake anrief, war Marborne selbst. Und ich werde nicht eher ruhen, als bis dieser Inspektor den Abschied bekommen hat!«

 

»Und was ist mit Morlake?«

 

»Ob man ihn verurteilt oder nicht, es steht jedenfalls fest, daß James Lexington Morlake der Schwarze ist, der schlaueste und tüchtigste Bankräuber, der in den letzten zwanzig Jahren aufgetaucht ist. Dafür habe ich genügend Beweise. Vor zehn Jahren«, sagte er ernst und bedeutungsvoll, »fand die Haslemere-Polizei einen sterbenden Matrosen auf der Portsmouth Road –«

 

»Von wem reden Sie denn jetzt?« fragte Carter verblüfft.

 

»Von dem Schwarzen, und warum er zum Einbrecher wurde. Ein sterbender Matrose, den man niedergeschlagen hatte und der in keiner Weise identifiziert werden konnte, ist daran schuld. Der Arme liegt auf einem kleinen Friedhof in Hindhead, und kein Name steht auf seinem Grabstein. Genügt das, um einen Mann zum Einbrecher zu machen?«

 

»Sie lieben das Geheimnisvolle«, erwiderte Carter unsicher.

 

»Ja, Geheimnisse sind meine besondere Liebhaberei.«

 

Kapitel 18

 

18

 

Der Gerichtssaal war am zweiten und letzten Tag des Prozesses dicht besetzt. Als sich der Richter niederließ, nickte er leicht, blickte flüchtig auf den Angeklagten und hörte die letzten Zeugenaussagen der Polizei.

 

Ein- oder zweimal lehnte er sich vornüber, um mit scharfklingender, dünner Stimme Fragen zu stellen.

 

Nachdem der letzte Zeuge den Stand verlassen hatte, erhob sich der Staatsanwalt.

 

Der Richter schaute Jim an: »Wollen Sie noch irgendeinen Zeugen benennen, Mr. Morlake?« fragte er.

 

Jim hatte keinen Anwalt genommen, er hatte die Kreuzverhöre der Zeugen selbst durchgeführt.

 

»Nein, Mylord. Ich hätte zwar den Telefonisten, der an dem Amt in New Cross arbeitete, laden können, aber die Polizei hat ja selbst zugegeben, daß ein Anruf an meine Wohnung kam und ich gebeten wurde, nach Cranfield Gardens zu kommen. Die Zeit dieses Anrufs ist festgelegt, ebenso die Zeit meiner Verhaftung. Daraus geht klar hervor, daß ich in der Zwischenzeit keine Möglichkeit hatte, in das Haus einzudringen. Die Anklage stützt sich auf die Aussage der Polizei, daß man Einbrecherwerkzeug und eine Pistole bei mir gefunden habe, aber es ist mir weder der Ankauf noch der Besitz dieser Gegenstände nachgewiesen worden. Die Polizei hat in ihren verschiedenen Aussagen dem Gerichtshof dartun wollen, daß ich ein alter, erfahrener Einbrecher sei und schon viele Bankdiebstähle begangen hätte.«

 

»Man hat nur gesagt, daß Sie unter einem solchen Verdacht stehen. Der Nachtwachmann in der Burlington-Depositenbank hat Ihre Stimme wiedererkannt – das ist alles, was über die Verbrechen gesagt wurde, die Sie eventuell früher begangen haben«, unterbrach ihn der Richter. »Ich nehme nicht an, daß Sie im Zeugenstand gegen sich selbst aussagen wollen.«

 

»Das ist nicht meine Absicht, Mylord.«

 

»Dann ist das, was Sie jetzt zu sagen haben, Ihre Verteidigungsrede?«

 

Jim stand hochaufgerichtet am Geländer, das die Anklagebank umgab. Er sah Gerichtshof und Geschworene scharf an.

 

»Meine Herren, wenn es wahr sein sollte, daß ich ein schlauer Bankeinbrecher bin, fällt Ihnen dann nicht auf, daß ich mich bei dem Versuch, aus einem Wohnhaus Juwelen von großem historischem, aber geringem Handelswert zu entwenden, recht täppisch und wenig fachmännisch benommen habe? Warum sollte ich das tun, wenn ich erst in der vorigen Woche aus der Burlington-Depositenbank eine große Summe raubte, wie hier behauptet wurde? Nehmen Sie doch einmal an, daß ich tatsächlich die Burlington-Bank beraubt habe!«

 

Große Bewegung ging durch den Saal, und Stimmen schwirrten durcheinander. Oben in der Galerie, wo das Publikum zuhörte, saß eine junge Dame, die den Prozeß während der beiden Tage aufmerksam verfolgt hatte. Kein Wort war ihr entgangen. Jetzt krampfte sich ihre Hand um ihr Taschentuch, und ihr Herz schlug wild.

 

»Sie brauchen und sollen auch keine Aussage machen, die Sie selbst belastet«, warnte der Richter.

 

»Nichts, was ich gesagt habe, wird oder kann mich irgendwie belasten«, erwiderte Jim ruhig. »Ich habe doch nur den Gerichtshof und die Geschworenen gebeten, einmal anzunehmen, daß ich ein erfahrener Einbrecher sei, um von diesem Gesichtspunkt aus den Einbruch in Cranfield Gardens zu beurteilen. Die Polizei hat immer betont, daß ich für all diese Bankeinbrüche verantwortlich sei. Soweit die Gesetzgebung dieses Landes ihnen erlaubt, haben diese Leute durch ihre Aussagen und Verdächtigungen mein ganzes Leben verdunkelt. Ich möchte die Atmosphäre wieder reinigen. Ich gebe zu, daß ich ›der Schwarze‹ bin, ohne irgendwie zu sagen, für welchen von den vielen Einbrüchen ich verantwortlich bin. War denn der Einbruch in Blackheath ein typischer Einbruch des Schwarzen? War da überhaupt irgend etwas zu holen? Lag eine Notwendigkeit oder ein Beweggrund vor, dort einzubrechen? Im Verlauf des Prozesses hat sich gezeigt, daß meine Angaben in bezug auf das Telefongespräch richtig waren. Ich wurde nur wenn ich es vorsichtig ausdrücke – durch einen Irrtum dieses tüchtigen Marborne festgenommen.«

 

Nachdem Jim geendet hatte, hielt der Staatsanwalt seine Rede, und nach ihm sprach noch der Richter.

 

»Ich habe nicht den geringsten Zweifel, daß der Angeklagte James Morlake ein Mann mit verbrecherischer Vergangenheit ist. Ich zweifle noch weniger daran, daß er der Einbrecher ist, der eine wenig beneidenswerte Berühmtheit unter dem Namen ›Der Schwarze‹ genießt. Aber am allerwenigsten zweifle ich an seiner Unschuld in der Anklage, die vor diesem Gerichtshof gegen ihn anhängig gemacht wurde. Die Aussagen der Polizei waren sehr wenig befriedigend. Ich glaube nicht, daß Marborne und Slone, die hier als Hauptzeugen aufgetreten sind, die reine Wahrheit sagten. Sie haben allerhand Indizienbeweise vorgebracht, die mich nicht überzeugen können. Mit anderen Worten: Ich bin der Meinung, daß diese ganze Sache von ihnen gemeinsam zusammengetragen wurde, um den Gerichtshof zu täuschen und den Angeklagten zu überführen. Ich gebe daher den Geschworenen den Rat, auf ›Nicht schuldig‹ zu entscheiden. Aber ich füge hinzu« – er wandte sich direkt an den Angeklagten –, »daß ich James Lexington Morlake vor einem Gerichtshof, dem ich präsidiere, zu lebenslänglichem Gefängnis verurteilen würde, wenn er eines Einbruches überführt wird. Denn ich bin überzeugt, daß er eine dauernde Bedrohung der Gesellschaft und ein Mann ist, mit dem kein ehrlicher und gewissenhafter Mensch jemals verkehren würde.«

 

Einen Augenblick schien es Joan, als ob Jim unter diesen harten Worten zusammenzuckte. Aber im nächsten Augenblick stand er wieder aufrecht, als ob nichts geschehen wäre, und hörte den Spruch der Geschworenen: »Nicht schuldig!«

 

Dann verließ er die Anklagebank und ging als freier Mann aus dem Gerichtssaal. Die Leute sahen ihm neugierig nach. Nur ein älterer weißhaariger Herr trat auf ihn zu.

 

»Ich freue mich, daß Sie so gut davongekommen sind, Morlake.«

 

Jim lächelte schwach: »Ich danke Ihnen, Mr. Welling – ich weiß, daß Sie es ehrlich meinen. Es war eine gemeine Schurkerei.«

 

»Das ist auch meine Ansicht«, sagte Welling ernst.

 

Es kamen nur wenig Leute aus dem Saal, denn der nächste Fall war eine Mordsache. Die große Marmorhalle lag still und verlassen da, als Morlake auf die Treppe zuging.

 

»Entschuldigen Sie –«

 

Er wandte sich um, und sein Blick fiel auf ein einfach gekleidetes, hübsches junges Mädchen.

 

»Ich bin so froh, Mr. Morlake!«

 

Er nahm ihre Hand und lächelte.

 

»Sie waren an den beiden Tagen hier. Ich habe Sie in der Ecke der Galerie gesehen. Ja, ich bin auch froh, daß es vorüber ist. Der alte Richter schenkte mir zwar nichts – wie?«

 

Sie schauderte: »Es war entsetzlich!«

 

Er wußte nicht, wie er sich ihr gegenüber verhalten sollte, aber ihre Freundlichkeit und ihr Mitgefühl berührten ihn mehr, als er es für möglich gehalten hätte.

 

»Ich hoffe, daß Sie nicht allzu günstig von mir denken«, sagte er freundlich. »Ein Verbrecher mag ja sehr interessant sein, aber er eignet sich schlecht zu einem Helden!«

 

Sie lächelte ein wenig: »Ich verehre Sie nicht als Helden – das meinten Sie doch damit«, erwiderte sie ruhig. »Ich bin furchtbar traurig – Ihretwegen! Ich glaube nicht, daß Sie irgendwie bereuen oder gestehen.«

 

Er schüttelte den Kopf. Als er sich umblickte, sah er, wie ihn ein Polizist neugierig beobachtete, und er hatte den dringenden Wunsch, die junge Dame nicht bloßzustellen.

 

»Ich denke, es ist besser, wenn wir gehen.«

 

»Würden Sie nicht irgendwo eine Tasse Tee mit mir trinken?« fragte sie ein wenig atemlos. »Hier in der Nähe ist ein kleines Restaurant.«

 

Er zögerte. »Ja gern«, entgegnete er dann.

 

»Sie wissen, daß Sie mir zu Dank verpflichtet sind?« sagte sie, als sie zusammen die Treppe hinuntergingen.

 

»Ihnen zu Dank verpflichtet?« fragte er erstaunt.

 

»Ich habe Ihnen einmal einen sehr wichtigen Brief geschickt. Ich bin Jane Smith.«