Siebenundfünfzigstes Kapitel.


Siebenundfünfzigstes Kapitel.

Wieder ein Hochzeit.

Mr. Sownds, der Kirchendiener, und Mrs. Miff, die Kirchenstuhlöffnerin, sind in der Kirche, wo Mr. Dombey getraut wurde, früh auf ihrem Posten. Ein gelbgesichtiger alter Gentleman aus Indien will sich heute morgen mit einem jungen Weibe verbinden, und es werden sechs Wagen voll Gesellschaft erwartet: auch weiß Mrs. Miff, daß der gelbgesichtige alte Gentleman den Weg nach der Kirche mit Diamanten pflastern lassen könnte, ohne es zu spüren. Die Feierlichkeit soll sehr vornehm gehalten werden, da ein sehr ehrwürdiger Dekan für die Einsegnung bestellt ist und die Dame als ein außerordentliches Geschenk von jemand vergeben wird, der zu diesem Zweck ausdrücklich von den Horse Guards herkommt.

Mrs. Miff ist heute morgen gegen das gemeine Volk noch intoleranter als sonst, obschon sie in dieser Beziehung, da sie mit Freisitzen in Verbindung steht, zu allen Zeiten sehr entschiedene Ansichten hegt. Sie hat sich mit dem Studium der Staatswirtschaft nicht abgegeben – sie meint, diese Wissenschaft beziehe sich auf »Dissenters, Baptisten, Wesleyaner oder dergleichen Volk«, sagt sie – kann aber nicht begreifen, wie gemeine Leute auch heiraten wollen. »Zum Henker mit ihnen«, sagt Mrs. Miff, »man muß das nämliche mit ihnen vornehmen und kriegt statt Goldstücke Sixpence.«

Mr. Sownds, der Kirchendiener, ist liberaler als Mrs. Miff – freilich aber auch kein Stuhlöffner. »Es muß geschehen, Ma’am«, sagt er. »Wir müssen sie zusammengeben. Wir brauchen Nationalschulen, denen wir vorangehen müssen, und brauchen stehende Heere. Wir müssen sie zusammengeben, Ma’am«, fährt Mr. Sownds fort, »und das Land im Gang halten.«

Mr. Sownds sitzt auf der Portaltreppe, und Mrs. Miff fegt eben die Kirche aus, als ein einfach gekleidetes junges Paar eintritt. Mrs. Miffs zerbeulter Hut wendet sich rasch zu ihnen hin, denn sie erkennt in diesem frühen Besuch Anzeichen einer Entführungshochzeit. Das Paar will übrigens nicht heiraten – »nur sich in der Kirche umsehen«, sagt der Gentleman. Und da er ein höfliches Kompliment in Mrs. Miffs Handfläche gleiten läßt, so wird ihr Essiggesicht milder, während der zerbeulte Hut und ihre schmächtige, dürre Gestalt rasselnd sich ducken.

Mrs. Miff nimmt ihr Abstäuben wieder auf und klopft auf die Polster los – denn der gelbgesichtige alte Gentleman soll sehr empfindliche Knie haben – folgt aber mit ihrem stuhlöffnenden Auge ohne Unterlaß dem jungen Paare, das in der Kirche umhergeht. »Ahem«, hustet Mrs. Miff, deren Husten noch trockener ist als die Binsen in den ihrer Obhut vertrauten Matten, »wenn ich mich nicht sehr täusche, meine Lieben, so werdet ihr eines schönen Morgens auch herkommen!«

Sie betrachteten eine Wandtafel, die zum Andenken eines Toten eingefügt wurde. Ihre Entfernung von Mrs. Miff ist groß, aber letztere kann mit einem halben Auge sehen, wie sie sich auf seinen Arm lehnt und wie er den Kopf zu ihr niederbeugt. »Na, na«, sagt Mrs. Miff, »ihr könnt etwas Schlimmeres tun, denn ihr seid ein nettes Pärchen!«

Es liegt nichts Persönliches in Mistreß Miffs Bemerkung, da sie nur von ihrem Gewerbsvorrat spricht. Paare haben für sie ebensoviel Interesse wie Särge. Sie ist eine so schmächtige, stracke, ausgetrocknete alte Dame – ein solcher Kirchenstuhl von einer Weibsperson, daß man ebensoviele individuelle Sympathien in einem Zimmerspan finden könnte. Mr. Sownds dagegen, der fleischig ist und Scharlach an seinem Rocke trägt, besitzt ein ganz anderes Temperament. Während er auf der Kirchentreppe dem sich entfernenden jungen Paare nachsieht, bemerkt er, sie habe eine recht hübsche Figur und, so viel er sehen kann (denn sie trug beim Herauskommen den Kopf gesenkt), ein ungewöhnlich nettes Gesicht. »Sie ist im ganzen Mrs. Miff«, sagt Mr. Sownds mit Wohlbehagen, »was ich eine Rosenknospe nennen möchte.«

Mrs. Miff stimmt mit einem dürren Nicken ihres zerbeulten Huts zu, ist aber von der Bemerkung so wenig erbaut, daß sie in ihrem Innern sich vornimmt, sie möchte um kein Gold, das er ihr geben könne, das Weib des Mr. Sownds werden, Kirchendiener hin, Kirchendiener her.

Und was sagt das junge Paar, als es die Kirche verläßt und zum Gittertor des Hofs hinausgeht?

»Ich danke dir, lieber Walter, ich kann jetzt glücklich von hier scheiden.«

»Und nach unserer Zurückkunft besuchen wir sein Grab wieder, Florence.«

Florence erhebt ihre von Tränen glänzenden Augen zu seinem freundlichen Gesicht und schlingt die freie Hand in die andere, die bescheiden in seinem Arm ruht.

»Es ist noch sehr früh, Walter, und die Straßen sind fast noch leer. Laß uns einen Spaziergang machen.«

»Aber du wirst müde werden, meine Liebe.«

»O nein! das erstemal, als wir zusammen gingen, war ich allerdings müde, aber heute wird es nicht der Fall sein.«

Und so gingen Florence und Walter – nicht viel verändert – sie so unschuldig und warmherzig, er aber so offen und hoffnungsvoll, nur noch stolzer auf sie – an ihrem Brautmorgen miteinander durch die Straßen.

Nicht einmal bei jenem kindlichen Gang vorzeiten waren sie so weit entfernt von der ganzen sie umgebenden Welt wie heute. Die kindlichen Füße betraten damals keinen so bezauberten Boden wie jetzt. Die vertrauensvolle Liebe von Kindern mag oftmals verschenkt werden und an vielen Orten aufsprießen: aber ein so weibliches Herz wie das von Florence mit seinem ungeteilten Schatz kann sich nur einmal geben und unter Geringschätzung oder Wechsel bloß hinwelken und sterben.

Sie wählten nur die ruhigsten Straßen und vermieden die Gegend, wo Florences alte Heimat steht. Es ist ein schöner, warmer Sommermorgen, und die Sonne trifft sie mit ihren Strahlen, während sie in den Dünsten, die sich über der Stadt herbreiten, weiter wandeln. Reichtümer enthüllen sich in den Läden: Gold, Silber und Edelsteine blitzen in den sonnigen Fenstern der Goldarbeiter, und große Häuser werfen einen vornehmen Schatten auf sie, während sie vorübergehen. Aber durch Licht und Schatten wandeln sie liebevoll miteinander, ohne auf ihre Umgebung zu achten: sie denken an keine stolzere Heimat, an keine andern Reichtümer, als die sie sich selbst gegenseitig bieten.

Allmählich kommen sie in die dunkleren, schmaleren Straßen, wo die Sonne, bald gelb, bald rot, nur an den Straßenecken und an kleinen offenen Plätzen durch den Nebel zu sehen ist: sie erhellt daselbst einen verkümmerten Baum, eine von den zahlreichen Kirchen, einen gepflasterten Weg und eine Treppenflucht, ein wunderliches Streiflein Garten oder einen Friedhof, wo die wenigen Gräber und Grabsteine fast schwarz aussehen. Liebend und vertrauensvoll geht Florence, sich an seinem Arme festhaltend, durch alle die engen Höfe, Gäßchen und schattigen Straßen, um seine Gattin zu werden.

Ihr Herz beginnt schneller zu schlagen, denn Walter sagt ihr, daß sie jetzt in der Nähe ihrer Kirche seien. Sie kommen an einigen großen Magazinen vorbei, wo Wagen vor den Türen stehen und geschäftige Fuhrleute den Weg versperren; aber Florence sieht und hört nichts von ihnen. Die Luft ist ruhig und das Licht des Tages gedämpft, als sie zitternd in eine Kirche tritt, die den dumpfigen Geruch eines Kellers verbreitet.

Das schäbige alte Männchen, das die hoffnungslose Glocke zu läuten pflegt, steht vor dem Portal. Sein Hut liegt in dem Taufstein, denn er ist der Totengräber, folglich hier ganz zu Hause. Er führt das Paar in eine von Alter gebräunte, getäfelte, staubige Sakristei, die wie ein Eckschrank mit herausgenommenen Simsbrettern aussieht. Die von Würmern zerfressenen Register riechen scharf nach altem Schnupftabak, so daß die tränenvolle Nipper niesen muß.

Wie schön und jugendlich sieht an dem staubigen alten Platz die junge Braut aus, der außer ihrem Gatten kein verwandtes Wesen zur Seite steht. Ein staubiger alter Küster ist da, der in einem gegenüberliegenden Bogengang hinter einem eigentlichen Bollwerk von Pfählen einen Laden unterhält und damit hinreichend beschäftigt zu sein glaubt. Ein staubiger alter Kirchendiener ist da (Kirchendiener und Stuhlöffnerin dieselben, denen am letzten Sonntag Mr. Toots zu schaffen machte), ein Mann im Dienste einer frommen Gesellschaft, die im nächsten Hof eine Halle mit einem farbigen Glasfenster hat, das noch nie einem Sterblichen zu Gesicht gekommen ist. Ferner sieht man hier ein- und ausspringende staubige Karniese, Holzleisten und Kränze über dem Altar, über der Schirmwand an der Empore herum, und über der Inschrift von dem, was der Gründer und die Direktoren der frommen Gesellschaft im Jahr tausendsechshundertvierundneunzig getan haben; desgleichen staubige alte Schalbretter über der Kanzel und dem Lesepult, die aussehen, als seien sie Deckel, um auf die funktionierenden Kirchendiener niedergelassen weiden zu können, im Falle sie ihrer Zuhörerschaft Anstoß geben. Kurz, einer bequemen Ablagerung von Staub ist überall die beste Gelegenheit geboten, nur im Kirchhofe nicht, der in dieser Beziehung nur sehr beschränkten Raum darbietet.

Der Kapitän, Onkel Sol und Mr. Toots sind angelangt. Der Geistliche zieht in der Sakristei seinen Kirchenrock an, während der Küster um ihn hergeht und den Staub abbläst; Braut und Bräutigam stehen vor dem Altare. Eine Brautjungfer fehlt, wenn man nicht etwa Susanna Nipper dafür gelten läßt, und in Ermangelung eines Besseren muß Kapitän Cuttle die Stelle des Vaters vertreten. Ein Mann mit einem hölzernen Beine, der an einem faulen Apfel nagt und einen blauen Sack in der Hand trägt, schaut herein, um zu sehen, was es gibt; da er aber nichts Unterhaltliches findet, so stelzt er wieder weiter und weckt draußen das Echo mit seinem Auftretens Man steht keinen freundlichen Lichtstrahl auf Florence fallen, die mit schüchtern gebeugtem Haupte vor dem Altare kniet. Der helle Morgen ist verbaut und scheint nicht herein. Draußen steht ein magerer Baum, auf dem die Sperlinge zirpen, und dem Fenster gegenüber sieht man in einem nadelöhrgroßen Sonnenblick an der Dachwohnung eines Färbers eine Amsel, die während des Gottesdienstes mit Macht ihre Kehle in Tätigkeit setzt; auch hört man das Holzbein weiterstelzen. Die Amen scheinen dem staubigen Küster wie dem Macbeth ein wenig in der Kehle stecken zu bleiben; aber Kapitän Cuttle leistet Aushilfe und tut dies mit so gutem Willen, daß er das Wort an drei ganz neuen Stellen anbringt, an denen man es nie zuvor während einer Trauung gehört hat.

Sie sind sich zur Ehe gegeben und haben ihre Namen in eines der alten Schnupftabak-Register eingezeichnet. Der Kirchenrock des Geistlichen ist wieder dem Staub überantwortet und der Geistliche nach Hause gegangen. In einer dunkeln Ecke der dunkeln Kirche hat Florence Susanna Nipper gefunden, und sie weint in ihren Armen. Die Augen des Mr. Toots sind rot. Der Kapitän poliert seine Nase. Onkel So! hat seine Brille von der Stirne nach den Augen niedergelassen und ist zur Tür hinausgegangen.

»Gott segne dich, Susanna, teuerste Susanna! Wenn du je Zeugnis geben kannst von der Liebe, die ich für Walter im Herzen trage, und von den Gründen, die mich zu dieser Liebe bewegen, so tue es um meinetwillen! Gott sei mit dir! Gott sei mit dir!«

Sie haben es für besser gehalten, nicht nach dem Midshipman zurückzugehen, sondern so zu scheiden. Eine Kutsche wartet auf sie in der Nähe.

Miß Nipper kann nicht sprechen, sondern nur schluchzen und würgen, und umarmt ihre Gebieterin. Mr. Toots tritt heran, bittet sie guten Muts zu sein, und nimmt sie in seine Obhut. Florence reicht ihm ihre Hand – bietet ihm in der Überfülle ihres Herzen die Lippen – küßt Onkel Sol und Kapitän Cuttle, und wird von ihrem jungen Gatten fortgezogen.

Aber Susanna kann es nicht ertragen, daß Florence mit einer traurigen Erinnerung an sie scheiden soll. Sie hat sich so ganz anders verhalten wollen, daß sie sich bittere Vorwürfe macht. In der Absicht, durch eine letzte Anstrengung die Ehre ihrer Standhaftigkeit zu retten, reißt sie sich von Mr. Toots los und eilt fort, um die Kutsche zu suchen und noch ein Abschiedslächeln zur Schau zu stellen. Der Kapitän, der ihren Zweck ahnt, setzt ihr nach, denn er hält es gleichfalls für seine Pflicht, das Brautpaar womöglich mit einem Hurra zu entlassen. Onkel Sol und Mr. Toots bleiben miteinander zurück und warten vor der Kirche, bis sie wiederkehren.

Die Kutsche ist bereits abgefahren; aber die steile, schmale Straße muß irgendwo ein Hindernis bieten. Susanna gewinnt diese Überzeugung aus einem Stillstehen der Menschen in der Ferne. Kapitän Cuttle folgt der Berganfliegenden und schwenkt als allgemeines Signal, das vielleicht von der rechten Kutsche aufgefangen wird, seinen Glanzhut.

Susanna ist dem Kapitän weit voran und erreicht den Wagen. Sie schaut zum Fenster hinein, sieht Walter mit dem sanften Gesicht an seiner Seite, schlägt ihre Hände zusammen und ruft:

»Miß Floy, mein Herz, seht heraus! Wir alle sind jetzt so glücklich, meine Liebe. Nur noch ein Lebewohl, mein Kleinod – nur noch ein einziges!«

Wie es Susanna möglich wird, weiß sie nicht, aber sie erreicht das Fenster, küßt Florence und hat im Nu die Arme um ihren Hals geschlungen.

»Wir sind alle so – so glücklich jetzt, meine liebe Miß Floy!« sagt Susanna mit einem verdächtigen Drücken in ihrer Stimme. »Ihr werdet mir jetzt nicht zürnen – nicht wahr?«

»Zürnen, Susanna?«

»Nein, nein; ich wußte es ja. Ich sagte, Ihr würdet’s nicht, mein Liebling!« ruft Susanna. »Und da ist auch der Kapitän – Ihr wißt, Euer Freund, der Kapitän – um Euch noch einmal Lebewohl zu sagen.«

»Hurra, meine Herzensfreude!« brüllte der Kapitän mit sehr aufgeregtem Gesicht. »Hurra, Wal’r, mein Junge! Hurra! Hurra!«

Der junge Mann ist an dem einen Fenster, die junge Frau an dem andern; der Kapitän hängt rechts und Susanna links an dem Kutschenschlag; aber der Wagen muß vorwärts, mag er wollen oder nicht, da alle andern Karren und Kutschen wegen seines Zögerns aufrührerisch werden. Nie hat es eine solche Verwirrung auf vier Rädern gegeben. Aber Susanna Nipper führt standhaft ihr Vorhaben aus. Sie behauptet das lächelnde Gesicht bis auf den letzten Augenblick, während ihre Gebieterin gleichfalls durch ihre Tränen lächelt. Und sogar als sie schon zurückbleibt, fährt der Kapitän fort, mit dem Rufe: »Hurra, mein Junge! Hurra meine Herzensfreude!« vor dem Schlag aufzutauchen und zu verschwinden; sein Hemdkragen kommt dabei in sehr ungestüme Aufregung, bis er zuletzt die Hoffnungslosigkeit des Versuches, länger mit der Kutsche gleichen Schritt zu halten, einsieht. Zum Schlusse, nachdem der Wagen abgefahren ist, verfällt Susanna Nipper in einen Zustand der Bewußtlosigkeit, und der Kapitän muß sie in einen Bäckerladen führen, damit sie sich daselbst wieder erhole. Onkel Sol und Mr. Toots sitzen auf dem Schlußstein des Geländers und warten geduldig im Kirchhof, bis Kapitän Cuttle und Susanna zurückkommen. Obschon es ihnen durchaus nicht ums Sprechen oder Angeredetwerden zu tun ist, leisten sie sich doch trefflich Gesellschaft und sind vollkommen zufrieden. Wieder im kleinen Midshipman angelangt, setzen sich alle vier zum Frühstück nieder, aber niemand ist imstande, auch nur einen Bissen anzurühren. Kapitän Cuttle tut, als sei er ungeheuer gierig auf einige Röstschnitte, gibt es aber bald als einen Betrug wieder auf. Nachdem der Tisch wieder abgeräumt ist, verspricht Mr. Toots, am Abend wieder zurückzukommen, und wandert den ganzen Tag mit dem unbestimmten Gefühl in der Stadt umher, als sei er vierzehn Tage lang keines Bettes ansichtig geworden.

Es liegt ein eigentümlicher Zauber auf dem Hause und auf dem Stübchen, in dem sie zusammenzusitzen pflegten und das jetzt so viel verloren hat. Er erhöht und beschwichtigt zugleich den Schmerz des Abschieds. Mr. Tools teilt, als er abends zurückkommt, Susanna Nipper mit, er habe sich den ganzen Tag über nicht so elend gefühlt, und doch könne er sich von dem Stübchen nicht trennen. Da er mit ihr allein ist, so schenkt er ihr sein Vertrauen und erzählt ihr von seinen Gefühlen, als sie ihm so offen ihre Ansicht über die Unwahrscheinlichkeit mitteilte, daß Miß Dombey je ihn lieben werde. Das Vertrauen wird durch solche gemeinschaftliche Rückblicke und durch ihre Tränen erhöht, so daß Mr. Toots zuletzt seiner Gefährtin den Vorschlag macht, sie wollen miteinander ausgehen und Nachtessen kaufen. Miß Nipper gibt ihre Zustimmung, und sie schaffen allerlei Kleinigkeiten herbei, so daß unter Mithilfe von Mrs. Richards ein stattliches Souper aufgetragen werden kann, ehe der Kapitän und der alte Sol nach Hause kommen.

Der Kapitän und der alte Sol sind am Bord des Schiffes gewesen, um Diogenes dahin zu verpflanzen und die Ladung des Gepäcks zu überwachen. Sie wissen viel davon zu erzählen, wie beliebt Walter sei; er habe es ganz gemächlich und sei mit aller Ruhe früh und spät tätig, um seine Kajüte zu einem »Bildchen«, wie es der Kapitän nennt, zu machen und seine junge Frau damit zu überraschen. »Wohlverstanden«, sagt der Kapitän, »eine Admiralskajüte könnte nicht schmucker sein.«

Eine von des Kapitäns Hauptfreuden besteht jedoch darin, daß er weiß, die große Uhr, die Zuckerzange und die Teelöffel seien wohlbehalten an Bord. Man hört ihn wieder und wieder vor sich hinmurmeln: »Ed’ard Cuttle, mein Junge, du hast in deinem Leben nie auf einen so guten Kurs angelegt, als wie du das kleine Eigentum gemeinsam überwachtest. Du hast sogleich gemerkt, wo das Land lag, Ed’ard«, sagte der Kapitän, »und es macht dir Ehre, mein Junge.«

Der alte Instrumentenmacher ist zerstreuter und düsterer als sonst; er nimmt sich die Hochzeit und den Abschied sehr zu Herzen. Zum Trost gereicht es ihm übrigens, daß er seinen alten Bundesgenossen Ned Cuttle zur Seite hat, und er setzt sich mit dankbarem und zufriedenem Gesicht zum Nachtessen nieder.

»Mein Junge ist erhalten worden und gedeiht«, sagt der alte Sol Gills, indem er sich die Hände reibt. »Habe ich ein Recht, etwas anderes zu sein als dankbar und glücklich?«

Der Kapitän, der seinen Sitz am Tisch noch nicht eingenommen, aber sich eine Zeitlang sehr unruhig umgetrieben hat, sieht jetzt Mr. Gills zaudernd an und beginnt:

»Sol, wir haben noch die letzte Flasche alten Madeira drunten. Wünscht Ihr, mein Junge, daß sie heute abend Wal’r und seiner Frau zu Ehren angebrochen werde?«

Der Instrumentenmacher sieht den Kapitän nachdenklich an, steckt die Hand in die Brusttasche seines kaffeefarbigen Rocks, holt seine Brieftafel hervor und nimmt ein Schreiben heraus.

»An Mr. Dombey«, sagt der alte Mann. »Von Walter. Es soll ihm nach drei Wochen zugesendet werden. Ich will es lesen.«

»Sir.

Ich bin mit Eurer Tochter vermählt und sie hat mit mir eine weite Reise angetreten. Obschon ihr, Gott weiß es, mein ganzes Dasein gewidmet ist und ich sie über alle Erdendinge liebe, hätte ich doch meine Ansprüche nicht bis zu ihr oder zu Euch erheben sollen; indes sind Gründe vorhanden, die mich bewogen, ohne Gewissensbisse ihr Geschick mit den Unsicherheiten und Gefahren meines Lebens zu verflechten. Ich will nichts weiter sagen. Ihr seid ihr Vater und wißt warum. Macht ihr keine Vorwürfe. Sie hat Euch nie einen Vorwurf gemacht. – Ich denke und hoffe nicht, daß Ihr mir je vergeben werdet. Ich erwarte es am allermindesten. Wenn aber eine Stunde kommen sollte, in der Euch das Bewußtsein tröstlich wird, Florence habe stets jemand in der Nähe, der sich’s zur großen Aufgabe seines Lebens macht, die Erinnerungen an den vergangenen Kummer zu verwischen, so gebe ich Euch die feierliche Versicherung, daß Ihr Euch in einer solchen Stunde dieser Überzeugung hingeben dürft.«

Solomon legt das Schreiben bedächtig wieder in seine Brieftafel und steckt sie in seine Rocktasche.

»Wir wollen die letzte Flasche des alten Madeira noch nicht trinken, Ned«, sagte der alte Mann. »Noch nicht.«

»Nein«, pflichtete der Kapitän bei. »Nein, noch nicht.« Susanna und Mr. Toots sind derselben Ansicht. Nach einer schweigsamen Pause setzen sie sich zum Nachtessen nieder und trinken die Gesundheit des jungen Ehepaars in etwas anderem. Die letzte Flasche alten Madeiras bleibt unter dem Staub und den Spinngeweben noch ungestört.

Einige Tage sind vergangen, und ein stattliches Schiff sticht in die See, seine weißen Schwingen vor dem günstigen Winde ausbreitend. Auf dem Deck – für den rauhesten Mann an Bord ein Bild der Anmut, Schönheit und Unschuld, ein Bild von etwas Gutem und Angenehmem, das die Reise glücklich machen muß – befindet sich Florence. Es ist Abend. Sie und Walter sitzen allein und betrachten den feierlichen Lichtpfad auf dem Meer zwischen ihnen und dem Mond.

Endlich kann sie nicht mehr deutlich sehen, denn Tränen füllen ihre Augen. Sie lehnt ihr Haupt an seine Brust, schlingt die Arme um seinen Nacken und sagt:

»O Walter, mein teures Leben, ich bin so glücklich!« Der junge Gatte drückt sie an seine Brust. Ein stilles Glück erfüllt ihre Herzen, und das stattliche Schiff gleitet ruhig weiter.

»Wenn ich lauschend da sitze und das Rauschen des Meeres höre«, sagte Florence, »so kommen mir viele Tage der Vergangenheit in den Sinn. Es erinnert mich stets – –«

»An Paul, meine Liebe. Ich weiß es.«

»An Paul und Walter.«

Und die Stimmen in den Wellen flüstern in ihrem unablässigen Gemurmel Florence stets zu von Liebe – von Liebe, ewig und grenzenlos, nicht abgeschieden durch die Schranken dieser Welt oder durch das Ende der Zeit, sondern weiter sich breitend über Meer und Himmel, hinaus nach dem fernen unsichtbaren Lande!

Achtundfünfzigstes Kapitel.


Achtundfünfzigstes Kapitel.

Später.

Das Meer hatte während eines ganzen Jahres geebbt und geflutet. Ein ganzes Jahr waren die Winde gekommen und gegangen; die Zeit hatte ihre rastlose Arbeit getan in Sturm und Sonnenschein. Während eines ganzen Jahres waren die Fluten menschlicher Zufälligkeiten in den ihnen angewiesenen Strömungen fortgegangen. Während eines ganzen Jahres hatte das berühmte Haus Dombey und Sohn einen Lebenskampf gekämpft gegen widrige Zufälle, zweifelhafte Gerüchte, verunglückte Wagnisse und ungünstige Zeiten, am meisten aber gegen die Betörung seines Hauptes, das seine Unternehmungen nicht um eine Haaresbreite beschränken und nie dem warnenden Winke Gehör schenken wollte, das so hart gegen den Sturm gedrängte Schiff sei schwach und vermöge ihn nicht auszuhalten. Das Jahr war um, und das große Haus fiel.

An einem Sommernachmittag, nicht völlig ein Jahr nach der Hochzeit in der Citykirche, summte und flüsterte man auf der Börse von einem großen Bankrott. Ein dort wohlbekannter, kalter, stolzer Mann war nicht zugegen und auch durch niemand vertreten. Am nächsten Tage verbreitete sich da« Gerücht, Dombey und Sohn habe seine Zahlungen eingestellt, und am Abend darauf stand dieser Name obenan auf der Liste der Bankrotten.

Die Welt war in der Tat jetzt sehr geschäftig und wußte gar viel zu sagen. Es war eine unschuldige, leichtgläubige, eine viel mißhandelte Welt – eine Welt, in der es nie Bankrotte anderer Art gegeben hatte. Man erblickte darin keine Personen, die weit und breit auf mürben Ufern von Religion, Patriotismus, Tugend und Ehre Geschäfte machen. Es gab keinen auch nur des Zeitungspapiers werten Betrag, von dem dieser und jener sich recht hübsch durchbrachte – wir meinen, einen Betrag von Tugenden, der wohl versprochen, aber nicht bezahlt wird. Es gab nirgends und in nichts eine Verkürzung, als im Gelde. Die Welt war in der Tat sehr aufgebracht, und namentlich zeigten sich diejenigen besonders entrüstet, die in einer schlechteren Welt selbst des moralischen Bankrotts verdächtig gewesen wären.

Für den armen Spielball der Umstände, Mr. Perch, den Ausläufer, gab es jetzt neue Verlockung zu einem ungeregelten Leben. Das Schicksal schien diesen Mann dazu bestimmt zu haben, daß er stets aufwachen und sich berühmt finden mußte. Man möchte sagen, kaum gestern hatte es ihm das Verklingen des Rufs, den er der Entführung und den darauffolgenden Umständen verdankte, möglich gemacht, wieder in seinem ruhigen Gang fortzuwandeln, und nun wurde er durch den Bankrott zu einem bedeutsameren Mann als je. Wenn Mr. Perch von dem Trippel im Außenkontor, von wo aus er jetzt die fremden Gesichter der Rechnungsprüfer und anderer Personen musterte, die rasch fast alle alten Buchhalter verdrängten, herunterglitt, brauchte er sich nur im Hof draußen oder höchstens in der Schenkstube des Königswappens zu zeigen, um augenblicklich mit einer Menge Fragen überschüttet zu werden, unter denen die, was er zu trinken wünsche, obenan stand. Er pflegte dann über die Stunden bitterer Unruhe zu lamentieren, die er und Mrs. Perch in Balls Pond draußen erlitten hätten, seit zum erstenmal der Argwohn in ihnen aufgetaucht sei, »daß es schief gehe«. Dann eröffnete er den gaffenden Zuhörern mit gedämpfter Stimme, als ob die Leiche des gefallenen Hauses unbeerdigt im nächsten Zimmer liege, wie Mrs. Perch zuerst auf die Mutmaßung gekommen sei, daß es wirklich nicht richtig sein müsse, weil sie ihn im Schlaf hatte stöhnen hören: »Zwölf Schilling und neun Pence am Pfund, zwölf Schilling und neun Pence am Pfund.« Diese somnambulische Prophezeiung mußte wohl, wie er meinte, von dem Eindruck herrühren, den der Wechsel von Mr, Dombeys Gesicht auf ihn gemacht habe. Sodann teilte er seinem Auditorium mit, wie er einmal gesagt habe: »Darf ich mir wohl die Freiheit nehmen zu fragen, Sir, ob Ihr Euch im Gemüt bedrückt fühlt?« und wie Mr. Dombey darauf erwiderte: »Mein treuer Perch – aber nein, es kann nicht sein!« Und mit diesen Worten sei er mit der Hand über seine Stirn gefahren und habe gesagt: »Laßt mich allein, Perch!« Mit einem Wort: Mr. Perch, ein Opfer seiner Stellung, pflegte Lügen aller Art vorzubringen, rührte sich dabei selbst bis zu Tränen und glaubte am Ende wirklich, die Erfindungen von gestern seien durch die öftere Wiederholung heute zu einer Art Wahrheit geworden.

Mr. Perch schloß solche Konferenzen stets mit der bescheidenen Bemerkung, daß es natürlich, welchen Argwohn er auch gehabt haben möge (als ob er je einen gehabt hätte!), ihm nicht zustehe, das in ihn gesetzte Vertrauen zu verraten – eine Gesinnung, die, weil nie Gläubiger anwesend waren, unter Anerkennung der Ehrenhaftigkeit seiner Gefühle aufgenommen wurde. So brachte er in der Regel ein beruhigtes Gewissen wieder fort und hinterließ einen angenehmen Eindruck, wenn er wieder nach seinem Trippel zurückkehrte, um die fremden Gesichter der Rechnungssteller und anderer zu beobachten, die so frei mit den großen Geheimnissen der Bücher umgingen. Hin und wieder schlich er dann auf den Zehen in Mr. Dombeys leeres Zimmer, um das Feuer zu schüren, oder schöpfte Luft unter der Tür und plauderte mit irgendeinem vorübergehenden Bekannten über die klägliche Geschichte. Auch ließ er es nicht daran fehlen, dem Hauptrechnungssteller unterschiedliche kleine Aufmerksamkeiten zu erweisen und sich denselben dadurch günstig zu stimmen: denn er hoffte, der besagte Gentleman werde ihm, wenn die Angelegenheiten des Hauses abgeschlossen seien, zu einem Ausläuferposten bei einer Feuerversicherungs-Gesellschaft verhelfen.

Für Major Bagstock war der Bankrott eine richtige Kalamität. Der Major war kein sympathischer Charakter, da sich seine Aufmerksamkeit ganz auf J. B. konzentrierte, und auch keinen lebhaften Erregungen ausgesetzt, wenn wir von der physischen des Keuchens und Erstickenwollens absehen. Er hatte jedoch im Klub mit seinem Freund Dombey so groß getan, ihn den Mitgliedern desselben im allgemeinen so an den Kopf geworfen und den Reichtum des großen Mannes stets so nachdrücklich behauptet, daß der Klub, der nur ein menschlicher war, ein Entzücken darin fühlte, sich an dem Major zu rächen, indem er ihn mit dem Anschein großer Teilnahme fragte, ob dieser furchtbare Schlag überhaupt erwartet worden sei und wie sein Freund Dombey ihn ertrage. Auf solche Fragen pflegte der Major, der dabei ganz purpurrot wurde, zu antworten, es sei ganz und gar eine schlechte Welt, Sir, und Joe wisse ein und das andere, aber es sei jetzt aus mit ihm, Sir, aus wie mit einem Kinde: wenn man dies J. Bagstock vorausgesagt hätte, Sir, als er mit Dombey auf Reisen ging und jenem Vagabunden durch Frankreich auf und ab nachjagte, so würde J. Bagstock einem jeden, der etwas Derartiges behauptet hätte, ins Gesicht gehustet – ja, ins Gesicht gehustet haben, Sir – so wahr Gott lebt! Joe sei getäuscht, sei angeführt und geblendet worden, Sir, habe aber jetzt seine Augen wieder weit offen, in der Tat so weit, Sir, daß, wenn Joes eigener Vater morgen aus dem Grab aufstünde, er dem alten Kunden keinen Penny anvertrauen, sondern zu ihm sagen würde, sein Sohn Josh sei ein zu alter Soldat, um sich noch einmal über den Löffel barbieren zu lassen. Er sei ein argwöhnischer, schwieriger, vorsichtiger, aufgebrauchter J. B.-Heide, Sir, und wenn es sich mit der Würde eines rauhen und zähen alten Majors von der alten Schule, der die Ehre hatte, von Ihren königlichen Hoheiten, den Herzogen von Kent und Jork, ausgezeichnet zu werden, vertrüge, so würde er sich, bei Gott, in ein Faß zurückziehen und darin leben. Er würde sich morgen in Pall Mall ein Faß anschaffen, Sir, um damit seine Verachtung vor der Menschheit auszudrücken.

Solcher Vorträge mit allerlei Variationen über das gleiche Thema entledigte sich der Major mit so vielen schlagflüssigen Symptomen, einem so einschüchternden Rollen des Kopfes und einem so ungestümen Brummen des Ärgers über seine mißbrauchte Persönlichkeit, daß die jüngeren Mitglieder des Klubs auf die Vermutung kamen, er habe bei dem Hause seines Freundes Dombey Geld angelegt und es verloren, obschon die älteren Soldaten und die schlaueren Männer, die Joe besser kannten, nichts von dergleichen hören wollten. Der unglückliche Eingeborene, der keine Ansicht ausdrückte, litt furchtbar, nicht bloß in seinen moralischen Gefühlen, die von dem Major jede Stunde des Tages mit einem regelmäßigen Feuer bearbeitet wurden, sondern auch körperlich durch Püffe und Stöße, so daß er keinen Augenblick zu einer leiblichen Ruhe kommen konnte. Sechs volle Wochen nach dem Bankrott lebte der unglückliche Ausländer in einer Regenzeit von Stiefelziehern und Bürsten.

Über den schrecklichen Umschwung der Dinge hatte Mrs. Chick drei Vorstellungen. Die erste war, daß sie ihn nicht begreifen könne, die zweite, daß ihr Bruder keine Anstrengung gemacht habe, und die dritte, daß dies, wie sie schon damals gesagt habe, nie hätte vorkommen können, wenn sie an dem bewußten ersten Tag zum Diner eingeladen worden wäre.

Die Ansicht von niemand trat auf die Seite des Unglücks, erleichterte es oder machte es schwerer. Man wußte, die Angelegenheiten des Hauses würden so gut, als es gehen wolle, zum Abschluß kommen, und Mr. Dombey habe freiwillig auf all sein Eigentum verzichtet, ohne sich von irgend jemand eine Gunst zu erbitten. Von einer Wiederaufnahme des Geschäfts könne keine Rede sein, da er von keinem gütlichen Vergleich, dessen Möglichkeit in Aussicht stehe, etwas wissen wolle; auch habe er alle Posten des Vertrauens und der Auszeichnung, die ihm als einem unter den Kaufleuten geachteten Mann übertragen worden, abgegeben. Die einen erklärten, er sei todkrank, die andern wollten wissen, die Schwermut habe ihm den Verstand verwirrt, alle aber vereinigten sich dahin, daß er ein zugrunde gerichteter Mann sei.

Die Angestellten zerstreuten sich nach einem kleinen Beileids-Diner, das durch Possenlieder belebt wurde, und fanden wunderbar guten Abgang. Einige nahmen Plätze im Ausland an, andere erhielten ein Unterkommen in englischen Häusern, wieder einige erinnerten sich plötzlich, daß sie eine besondere Vorliebe für gewisse Bekanntschaften im Land hätten, und andere boten ihre Dienste in den Zeitungen an. Nur Mr. Perch blieb in dem Hause und betrachtete sich von seinem Trippel aus die Rechnungssteller oder stürzte von seinem Posten herunter, um den Hauptrechner, der ihn bei der Feuerversicherungs-Gesellschaft unterbringen sollte, für sich zu gewinnen. Das Kontor sah bald sehr schmutzig und vernachlässigt aus. Der Hauptpantoffel- und Hundehalsband-Verkäufer an der Ecke des Hofs hatte seine Bedenken, ob er nicht eine Ungebühr begehe, wenn er bei Mr. Dombeys Heraustreten auch nur seinen Zeigefinger an den Rand seines Hutes lege, und der Zettelträger mit den Händen unter der weißen Schürze moralisierte in sehr nüchterner Weise über das Sprichwort, daß Hochmut vor dem Fall komme.

Mr. Morfin, der braunäugige Junggeselle mit dem graugesprenkelten Haar und Bart, war vielleicht in der Atmosphäre des Hauses die einzige Person – natürlich den Prinzipal ausgenommen – dem das hereingebrochene Unglück tief und schwer zu Herzen ging. Er hatte Mr. Dombey durch eine Reihe von Jahren mit der gebührenden Achtung behandelt, aber nie seinen natürlichen Charakter verheimlicht oder zu Förderung selbstsüchtiger Zwecke mit der Leidenschaft seines Herrn ein Spiel getrieben, weshalb es denn auch bei ihm keine Mißachtung zu rächen, überhaupt keine lang angespannten Federn gab, die mit einem raschen Rückprall sich losmachten. Er arbeitete früh und spät, um die verwickelten oder schwierigen Verhältnisse des Hauses zu entwirren, war stets bereit, etwa verlangte Auskunft zu erteilen, blieb bisweilen bis tief in die Nacht hinein auf dem alten Kontorstübchen, um sich so weit in die Verhältnisse hineinzuarbeiten, daß er Mr. Dombey den Schmerz einer persönlichen Vernehmung ersparen konnte, und ging dann nach seiner Wohnung in Islington, wo er vor Schlafengehen seinen Geist durch die ungeheuerlichsten Töne, die er seinem Violoncello entlockte, zu beruhigen suchte.

Er unterhielt sich eines Abends mit diesem melodischen Gekratze und holte, da er den Tag über sehr niedergeschlagen gewesen, sich Trost aus den tiefsten Baßtönen seines Instruments, als seine Hauswirtin, die zum Glück nicht gut hörte und von künstlerischen Leistungen ihres Mieters keinen andern Eindruck erhielt, als ob etwas in ihren Knochen knarre, den Besuch einer Dame ankündigte.

»In Trauer«, sagte sie.

Der Violoncellobogen hörte augenblicklich auf zu streichen, und nachdem der Musiker mit großer Sorgfalt sein Instrument auf ein Sofa gelegt hatte, deutete er durch ein Zeichen an, daß die Dame kommen könne. Zugleich ging er zur Tür hinaus, um den Besuch zu empfangen, und traf Harriet Carker auf der Treppe.

»Allein«, sagte er; »und John war heute morgen hier? Ist etwas vorgefallen, meine Liebe? Doch nein«, fügte er hinzu; »Euer Gesicht läßt mich etwas ganz anderes lesen.«

»Dann fürchte ich, Ihr findet darin nur eine selbstsüchtige Enthüllung«, antwortete sie.

»Jedenfalls eine sehr angenehme«, sagte er, »und ist sie selbstsüchtig, so wird sie noch obendrein zu einer Neuigkeit, die man nicht leicht bei Euch zu hören bekommt. Ich glaube es übrigens nicht.«

Er hatte ihr inzwischen einen Stuhl angeboten und nahm ihr gegenüber Platz, während das Violoncello behaglich zwischen ihnen auf dem Sofa lag.

»Ihr werdet Euch nicht wundern, daß ich allein komme oder daß John von meinem beabsichtigten Besuche nichts gegenüber Euch erwähnt hat«, sagte Harriet, »wenn ich Euch mitteile, weshalb ich hier bin? Darf ich?«

»Ihr könnt nichts Besseres tun.«

»Ihr waret nicht beschäftigt?«

Er deutete nach dem auf dem Sofa liegenden Violoncello und sagte:

»Ich war’s den ganzen Tag. Hier ist mein Zeuge. Ihm habe ich alle meine Sorgen vertraut. Wollte Gott, ich hätte ihm keine als meine eigenen mitzuteilen.«

»Ist’s mit dem Haus zu Ende?« fragte Harriet dringlich.

»Völlig zu Ende.«

»Und wird nie wieder aufgenommen werden?«

»Nie.«

Der glänzende Ausdruck ihres Gesichtes wurde nicht überschattet, als ihre Lippen leise das Wort wiederholten. Er schien dies mit einer unwillkürlichen kleinen Überraschung zu bemerken und fuhr fort:

»Nie. Ihr erinnert Euch, was ich Euch sagte. Es ist unmöglich gewesen, ihn zu überzeugen, unmöglich, ihm Vernunft beizubringen, bisweilen sogar unmöglich, ihm nur nahezukommen. Das Schlimmste ist eingetroffen und das Haus gefallen, um nicht wieder aufgerichtet zu werden.«

»Und ist Mr. Dombey persönlich zugrunde gerichtet?«

»Ja.«

»Wird denn kein Privatvermögen übrig bleiben? Nichts?«

Eine gewisse Hast in ihrer Stimme und ein Ausdruck in ihrem Gesicht, der fast freudig zu sein schien, überraschte ihn noch mehr, und zwar nicht in angenehmer Weise, da seine eigenen Gefühle dadurch widerlich berührt wurden. Er trommelte mit den Fingern der einen Hund auf den Tisch, blickte sie fragend an, schüttelte den Kopf und sagte nach einer Pause:

»Ich weiß nicht genau, wie weit sich Dombeys Hilfsquellen erstrecken, aber wenn sie auch ohne Zweifel sehr groß sind, stehen ihnen doch ungeheure Verbindlichkeiten gegenüber. Er ist ein Gentleman von Ehre und hoher Rechtschaffenheit. Mancher in seiner Lage hätte sich retten können und würde sich auch gerettet haben durch Anbieten von Bedingungen, die die Verluste der Geschäftsfreunde nur gering, fast unmerklich vergrößert und ihm doch noch einen Rest gelassen hätten, von dem er leben kann. Aber er ist entschlossen, bis auf den letzten Heller seines Vermögens Zahlung zu leisten. Seine eigenen Worte lauten, sein Haus werde dadurch zwar geleert oder nahezu geleert werden, indes könne im schlimmsten Fall niemand viel verlieren. Ach, Miß Harriet, es würde uns nicht schaden, wenn wir öfters daran dächten, daß Laster bisweilen nur übertriebene Tugenden sind. Wir sehen hierin wieder seinen Stolz.«

Sie hörte ihn mit geringem oder gar keinem Wechsel in dem Ausdruck ihres Gesichts und mit einer geteilten Aufmerksamkeit an, die zeigte, daß ihr Inneres mit etwas anderem beschäftigt war. Als er schwieg, fragte sie ihn abermals:

»Habt Ihr ihn in letzter Zeit gesehen?«

»Er läßt niemand vor. Wenn dieser Wendepunkt seiner Angelegenheiten es nötig macht, sein Haus zu verlassen, so zeigt er sich, geht wieder nach Hause und sperrt sich gegen jedermann ab. Er hat mir ein Schreiben zugehen lassen, in dem er unsere frühere gegenseitige Beziehung höher anschlägt, als sie es verdiente, und von mir Abschied nimmt. Das Zartgefühl verbietet mir, mich ihm jetzt aufzudringen, da ich in besseren Zeiten nie viel Verkehr mit ihm hatte; aber gleichwohl habe ich einen Versuch dazu gemacht. Ich schrieb ihm, ging zu ihm und bat ihn um Gehör, aber völlig vergeblich.«

Er sah sie an, in der Hoffnung, sie dürfte eine größere Teilnahme kundgeben, als sie bisher an den Tag gelegt hatte. Obschon er ernst und gefühlvoll gesprochen, als wolle er den Tatbestand ihr näher ans Herz legen, ließ sich doch kein Wechsel in ihr bemerken.

»Doch lassen wir das, Miß Harriet«, sagte er mit der Miene getäuschter Erwartung: »es führt zu nichts. Ihr seid nicht hierhergekommen, um dies zu hören. Es liegt Euch ein anderer, angenehmerer Gegenstand auf dem Herzen. Laßt mich teilnehmen daran, und wir werden unter gleicheren Verhältnissen uns besprechen können.«

»Nein, es ist derselbe Gegenstand«, entgegnete Harriet mit unverhohlenem Erstaunen. »Warum sollte dies nicht der Fall sein? Ist es nicht natürlich, daß John und ich in letzter Zeit oft und viel an die kürzlichen großen Veränderungen dachten und davon sprachen? Mr. Dombey, dem er so viele Jahre gedient hat – Ihr wißt, unter welchen Verhältnissen – so heruntergekommen, wie Ihr sagt, und wir dagegen eigentlich reich.« So gut und ehrlich auch ihr Gesicht war und so lieblich es Mr. Morfin, dem braunäugigen Junggesellen, seit der Zeit geworden sein mochte, als er es zum erstenmal erblickte, gefiel es ihm in diesem Moment, in dem ein Strahl von Freude darüber hinblitzte, weniger als je zuvor.

»Ich brauche Euch nicht daran zu erinnern«, sagte Harriet, nach ihrem schwarzen Gewand niederbückend, »durch welche Mittel unsere Umstände so verändert wurden. Ihr habt nicht vergessen, daß unser Bruder James an jenem schrecklichen Tage kein Testament und außer uns keine Verwandten hinterließ.«

Das Gesicht kam ihm jetzt wieder lieblicher vor, obschon es blaß und schwermütig aussah. Er schien freier aufzuatmen.

»Ihr kennt unsere Geschichte«, sagte sie, »die Geschichte meiner beiden Brüder in ihrer Beziehung zu dem unglücklichen Gentleman, von dem Ihr eben mit so viel Wärme gesprochen habt. Ihr wißt, wie wenig wir – John und ich – bedürfen und wie wir nach der Lebensweise, die wir so viele Jahre gemeinschaftlich geführt haben, keinen großen Aufwand nötig haben: auch verdankt er Eurer gütigen Verwendung einen Posten, dessen Ertrag für uns vollständig ausreicht. Ihr könnt Euch jetzt wohl denken, um welcher Bitte willen ich zu Euch gekommen bin?«

»Ich weiß es kaum. Vor einer Minute meinte ich, es mir denken zu können, jetzt aber glaube ich, daß ich in einem Irrtum befangen war.«

»Von meinem verstorbenen Bruder will ich nicht sprechen. Wüßte der Tote, was wir tun – aber Ihr versteht mich. Von meinem lebenden Bruder könnte ich viel sagen: doch wozu bedarf es einer weiteren Erklärung, als daß die pflichtmäßige Handlung, bei der wir Eure Mithilfe nicht entbehren können, von ihm ausgeht, und daß er weder rasten noch ruhen kann, bis sie erfüllt ist!«

Sie erhob abermals ihren Blick, und das Licht der Freude auf ihrem Gesicht erschien wunderlieblich in den Augen dessen, der es betrachtete.

»Mein teurer Sir«, fuhr sie fort, »es muß in aller Stille und Heimlichkeit geschehen. Eure Erfahrung und Sachkenntnis wird Euch ein Mittel an die Hand geben, uns dabei behilflich zu sein. Man kann vielleicht Mr. Dombey den Glauben beibringen, von den Trümmern seiner Habe sei unerwarteterweise etwas gerettet worden; es handle sich dabei um einen freiwilligen Zoll, der von einem seiner bedeutenderen früheren Geschäftsfreunde seinem ehrenhaften und aufrichtigen Charakter gebracht werde, oder um eine alte für verloren gegebene Schuld, für welche Zahlung einlief. O, es gibt viele Arten, die Sache einzuleiten, und ich weiß, Ihr werdet die beste wählen. Nur bitte ich Euch um die Gunst, in Eurer eigenen freundlichen, ehrenhaften und rücksichtsvollen Weise für uns zu handeln. Sprecht mit John nicht davon, denn er fühlt sich am glücklichsten, wenn dieser Akt der Rückerstattung im geheimen, unbekannt und ohne Lob geschieht. Nur ein sehr kleiner Teil der Erbschaft soll uns vorbehalten bleiben, Mr. Dombey aber die Nutznießung des übrigen für Lebenszeit bekommen. Aber Ihr müßt treulich unser Geheimnis bewahren – ich bin überzeugt, daß Ihr es werdet, und von Stunde an wollen auch wir beide darüber schweigen, denn ich sehe nur einen neuen Grund darin, dem Himmel zu danken und auf meinen Bruder stolz zu sein.«

Solch ein frohlocken mag sich auf den Gesichtern der Engel ausdrücken, wenn unter neunundneunzig Gerechten der einzige reuige Sünder in den Himmel eingeht. Es wurde nicht getrübt oder gemindert durch die frohen Tränen, die ihre Augen füllten, sondern erschien dadurch nur um so glänzender.

»Meine teure Harriet«, sagte Mr. Morfin nach einer Pause, »hierauf war ich nicht vorbereitet. Wenn ich Euch recht verstehe, so wünscht Ihr Euren eigenen Anteil an der Erbschaft ebensogut Einem schönen Zweck dienstbar zu machen als den Eures Bruders John?«

»Ja«, entgegnete sie. »Nachdem wir so lange Zeit alles miteinander geteilt haben und uns keine weitere Sorge oder Hoffnung vorbehalten bleibt, hatte ich mich wohl von der Beteiligung ausschließen können? Darf ich nicht verlangen, bis auf den letzten Augenblick in allem seine Gesellschafterin und Teilhaberin zu sein?«

»Verhüte der Himmel, daß ich dies bestreite!« erwiderte er.

»Wir dürfen uns also auf Eure freundliche Beihilfe verlassen?« sagte sie. »Ich wußte wohl, daß ich keine Fehlbitte tun werde.«

»Ich wäre ein schlechterer Mensch, als – ich hoffentlich bin oder zu sein glaube, wenn ich Euch nicht aus vollem Herzen und von ganzer Seele diese Versicherung gäbe. Zählt unbedingt auf mich. Bei meiner Ehre, ich will Euer Geheimnis bewahren, und stellt sich wirklich heraus, daß Mr. Dombey so weit herabgekommen ist, als ich besorge, so soll Euch bei Ausführung des Plans, zu dem Ihr Euch mit Eurem Bruder verbunden habt, mein ganzer Einfluß zur Seite stehen.«

Sie gab ihm ihre Hand und dankte ihm mit herzlichem, glücklichem Gesicht.

»Harriet«, fuhr er fort, die ihm dargebotene Rechte festhaltend, »es wäre eitel und anmaßend, mit Euch über den Wert irgendeines Opfers, das Ihr jetzt bringen könnt, namentlich aber eines bloßen Geldopfers sprechen zu wollen, und mein Inneres sagt mir, daß jede Aufforderung, Euer Vorhaben noch einmal zu überlegen oder ihm engere Grenzen zu stecken, die gleiche Bezeichnung verdiente. Ich habe kein Recht, das großartige Ende einer großen Geschichte durch eine Aufdrängung meines eigenen schwachen Ichs zu verderben, sondern muß mein Haupt beugen vor dem, was Ihr mir vertraut, in der festen Überzeugung, daß es aus einer höheren und besseren Begeisterungsquelle stammt, als mein armes weltliches Wissen zu bieten vermag. Laßt mich nur noch hinzufügen, daß ich Euer getreuer Verwalter sein werde. Da ich nicht Ihr selbst sein kann, so ziehe ich es allem in der Welt vor, von Euch zum Freund gewählt worden zu sein.«

Sie dankte ihm abermals herzlich und wünschte ihm gute Nacht.

»Geht Ihr nach Hause?« fragte er. »Erlaubt mir, Euch zu begleiten.«

»Nein, heute nicht. Ich gehe nicht nach Hause, sondern habe noch einen Besuch zu machen. Wollt Ihr morgen kommen?«

»Ja, ja, ich komme morgen«, versetzte er. »Inzwischen will ich mir die Sache überlegen und sehen, wie sie sich am besten einleiten läßt. Vielleicht denkt Ihr gleichfalls darüber nach, teure Harriet, und – und denkt dabei auch ein wenig an mich.«

Er geleitete sie nach der Kutsche hinunter, die vor der Tür wartete, und wenn seine Hauswirtin nicht halb taub gewesen wäre, so hätte sie, als er nach Abfahrt des Wagens wieder die Treppe hinaufstieg, wohl hören müssen, wie er vor sich hin murmelte, wir seien doch schlimme Gewohnheitsgeschöpfe, und am meisten ärgere ihn die Gewohnheit, daß es alte Junggesellen gebe.

Da das Violoncell zwischen den beiden Stühlen auf dem Sofa lag, so nahm er es auf, ohne den leeren Sitz beiseite zu rücken, und begann auf den Saiten zu streichen, während er zugleich lange, lange Zeit mit dem Kopf nach dem verlassenen Stuhle nickte. Der Ausdruck, den er anfänglich in die Töne seines Instrumentes legte, war zwar ungeheuerlich und pathetisch genug, aber doch nichts gegen den, den er dem leeren Sitze gegenüber seinem eigenen Gesichte mitteilte, denn es lag darin eine so große Aufrichtigkeit, daß er mehr als einmal zu Kapitän Cuttles Hilfsmittel seine Zuflucht nehmen mußte. Allmählich glitt jedoch, im Einklang mit seiner eigenen Gemütsstimmung, das Violoncell melodisch in den fröhlichen Hammerschmied über, den er wieder und wieder spielte, bis sein rötliches, heiteres Gesicht ganz wie das Metall auf dem Ambos eines wahrhaftigen Hammerschmiedes glühte. Mit einem Wort, das Violoncell und der leere Stuhl waren bis fast um Mitternacht die Gefährten seines Junggesellenstandes, und als er sein Instrument, geschwellt von der verborgenen Harmonie einer ganzen Gießerei voll lustiger Hammerschmiede, in die Sofaecke legte, um sein Nachtessen einzunehmen, schien ihn der leere Stuhl in ungemein vielsagender Weise aus seinen gekrümmten Augen anzugucken.

Nachdem Harriet das Haus verlassen hatte, schlug der Kutscher eine Richtung ein, die ihm augenscheinlich keine neue war. Es ging auf Nebenwegen durch einen Teil der Vorstädte, bis er einen offenen Grund erreichte, wo einige ruhige alte Häuschen in den Gärten standen. An einem Gartentürchen machte der Kutscher halt, und Harriet stieg aus.

Ihr leichter Zug an der Klingel rief ein kläglich aussehendes Weib mit blasser Gesichtsfarbe, hochgezogenen Augenbrauen und seitwärts gesenktem Kopfe herbei, die bei ihrem Anblick knixte und sie durch den Garten nach dem Hause fühlte.

»Wie geht es heute abend Eurer Kranken, Wärterin?« fragte Harriet.

»Ich fürchte, schlimm, Miß. O wie erinnert sie mich bisweilen cm meines Onkels Betsey Jane!« entgegnete die Frau mit der blassen Gesichtsfarbe in einer Art melancholischen Entzückens.

»In welcher Beziehung?« fragte Harriet.

»In allen Beziehungen, Miß«, versetzte die andere, »den einzigen Umstand ausgenommen, daß sie erwachsen ist, und Betsey Jane, als sie am Tor des Todes stand, nur ein Kind war.«

»Ihr habt mir aber erzählt, das Kind sei mit dem Leben davongekommen«, bemerkte Harriet mild; »es ist daher um so mehr Grund zur Hoffnung vorhanden, Mrs. Wickam.«

»Ach, Miß, die Hoffnung ist wohl etwas Schönes für solche, die heiter genug sind, um sich damit zu tragen«, sagte Mrs. Wickam, den Kopf schüttelnd. »Ich beneide diejenigen, welche so gesegnet sind, denn mein Geist kann sich nicht so weit erheben, obschon ich nicht darüber murre.«

»Ihr solltet es versuchen, ob Ihr Euch nicht aufheitern könnt«, versetzte Harriet.

»Danke schön, Miß«, entgegnete Mrs. Wickam grämlich. »Wenn ich auch Lust dazu hätte, so würde die Einsamkeit dieses Platzes – Ihr entschuldigt mich, daß ich so frei spreche – mir es in vierundzwanzig Stunden verleiden. Dies ist übrigens bei mir nicht der Fall, und ich lasse den Versuch lieber ganz und gar. Das bißchen Heiterkeit, da« ich je besaß, wurde mir vor einigen Jahren zu Brighton genommen, und ich denke, es ist mir um deswillen jetzt nur wohler.«

In der Tat war die Sprecherin dieselbe Mrs. Wickam, die Mrs. Richards in der Pflege des kleinen Paul verdrängt hatte und durch den fraglichen Verlust unter dem Dach der liebenswürdigen Pipchin gewonnen zu haben glaubte. Das ausgezeichnete und verständige, durch lange Vorschrift geheiligte alte System, das gewöhnlich die traurigsten und unleidlichsten Personen, die nur aufzutreiben sind, zu Jugend- Erziehern, Tugend-Weisern, Ermahnern, Krankenwärtern und dergleichen auswählt, hatte Mrs. Wickam auf dem Boden der Krankenpflege zu einem recht guten Geschäft verholfen und dazu Anlaß gegeben, daß ihre ernsten Eigenschaften von vielen Bewunderern ganz besonders löblich gefunden wurden.

Die Augenbrauen aufgezogen und den Kopf auf die eine Seite geneigt, leuchtete Mrs. Wickam die Treppe hinauf nach einem reinlichen Zimmer, das nach einem matt erhellten Zimmer mit einem Bette führte. In dem ersten Zimmer saß ein altes Weib, das vor dem offenen Fenster mechanisch in die Dunkelheit hinausstierte; im zweiten aber lag, auf dem Bette ausgestreckt, der Schatten einer Gestalt, die in einer bekannten Winternacht dem Wind und Regen Trotz geboten hatte, jetzt aber kaum an etwas anderem zu erkennen war, als an dem langen dunkeln Haar, das gegen das farblose Gesicht und das weiße Bettzeug auffallend abstach.

O, die großen Augen und der hinfällige Körper! die Augen, die sich so hastig und funkelnd der Tür zuwandten, als Harriet hereinkam – der schwache Kopf, der sich nicht aufrichten konnte und so langsam auf dem Kissen sich umdrehte!

»Alice«, sagte der Besuch mit milder Stimme, »komme ich heute spät?«

»Ihr scheint immer spät zu kommen, kommt aber stets früh.«

Harriet hatte sich neben dem Bett niedergelassen und die auf der Decke liegende abgezehrte Hand mit der ihrigen erfaßt.

»Geht es besser?«

Mrs. Wickam, die wie ein trostloses Gespenst unten an dem Bett stand, schüttelte entschieden und nachdrücklich den Kopf, um die Frage zu verneinen.

»Es liegt sehr wenig daran«, versetzte Alice mit einem matten Lächeln. »Heute besser oder schlimmer, es macht nur den Unterschied eines Tages aus – vielleicht nicht so viel.«

Mrs. Wickam drückte als ernster Charakter ihre Zustimmung in einem Seufzer aus. Dann befühlte sie die Füße der Patientin, die sie eiskalt zu finden erwartete, und klapperte unter den Arzneiflaschen auf dem Tisch umher, als wollte sie sagen: »Weil’s doch einmal so ist, so wollen wir die Mixtur wie bisher wiederholen.«

»Ein elendes Leben«, fuhr Alice flüsternd zu ihrem Besuch fort, »Gewissensbisse, das Umherziehen, Mangel und Unwetter, Sturm innen und Sturm von außen haben mein Leben aufgezehrt. Es wird nicht lange mehr währen.«

Sie zog bei diesen Worten Harriets Hand an sich und legte ihr Gesicht dagegen.

»Wenn ich so daliege, denke ich bisweilen, ich möchte wohl noch eine Weile am Leben bleiben, um Euch zu zeigen, wie dankbar ich sein könnte! Doch dies ist eine Schwäche, die bald vorüber geht. Für Euch ist’s besser so, wie es ist – und auch besser für mich!«

Wie ganz anders hielt sie jetzt die Hand fest, wenn man dabei an die Art denkt, wie sie dieselbe an dem kalten Winterabend neben dem Kamin ergriffen hatte! Geringschätzung, Wut, Trotz und Sorglosigkeit – schaut her! Dies ist das Ende.

Mrs. Wickam, die nun genug mit den Flaschen geklirrt hatte, brachte die Arznei. Als die Kranke sie nahm, sah sie mit aufgeworfenem Mund und in die Höhe gezogenen Augenbrauen zu, indem sie zugleich den Kopf schüttelte, als wollte sie sagen, nicht einmal die Folter sei imstande, sie zu überzeugen, daß dies ein hoffnungsloser Fall sei. Sie sprengte dann mit der Miene einer weiblichen Totengräberin, die Asche auf Asche, Staub auf Staub streut – denn sie war ein ernster Charakter – eine kühlende Feuchtigkeit im Zimmer umher und entfernte sich, um drunten gewisse leichenhaft gebackene Speisen zu sich zu nehmen.

»Wie lange ist es«, frug Alice, »seit ich zu Euch kam, um Euch zu sagen, was ich getan hatte – ich meine die Zeit, als man Euch versicherte, es sei zu spät, um einem gewissen Menschen zu folgen?«

»Es ist ein Jahr und darüber,« antwortete Harriet.

»Ein Jahr und darüber«, sagte Alice, gedankenvoll zu ihrem Gesicht aufblickend, »Und schon Monate und Monate, seit Ihr mich hierher gebracht habt!«

Harriet antwortete mit einem »Ja«.

»Mich hierher gebracht durch die Gewalt der Güte und Freundlichkeit. Mich!« sagte Alice, ihr Gesicht hinter der Hand verbergend. »Und mich durch die Blicke und Worte eines Weibes und durch die Handlungen eines Engels menschlich gemacht!«

Harriet beugte sich über sie nieder und suchte sie zu beruhigen. Alice hatte, die Hand noch immer an ihr Gesicht drückend, ihre frühere Lage wieder eingenommen und bat, man möchte ihre Mutter herbeirufen.

Harriet tat dies mehr als einmal, aber die Alte war an dem offenen Fenster so in die Nacht vertieft, daß sie nicht hörte. Erst als Harriet hinausging und sie berührte, richtete sie sich auf und kam herein.

»Mutter,« sagte Alice, die Hand wieder ergreifend und ihre glänzenden Augen mit Innigkeit auf Harriet heftend, während sie die Anwesenheit der Alten nur mit einer Bewegung des Fingers anerkannte, »sagt ihr, was Ihr wißt.«

»Heute, mein Herzchen?«

»Ja, Mutter«, antwortete Alice mit matter, aber feierlicher Stimme, »heute!«

Die Alte, deren Verstand durch Schrecken, Gewissensbisse oder Kummer irregeworden zu sein schien, schlich an der andern Seite des Bettes hin, kniete nieder, so daß ihr welkes Gesicht in gleicher Höhe mit der Decke war, streckte ihre Hand aus, um den Arm ihrer Tochter zu berühren, und begann:

»Mein schönes Mädel –«

Himmel, welch ein Schrei war das, mit dem sie innehielt, wahrend sie die klägliche Gestalt auf dem Bette ansah.

»Schon längst verändert, Mutter! schon längst hingewelkt«, sagte Alice, ohne sie anzusehen. »Grämt Euch jetzt nicht darüber.«

»Meine Tochter«, stotterte die Alte – »mein Mädel – sie wird bald besser werden und alle mit ihrem guten Aussehen beschämen.« Alice lächelte wehmütig zu Harriet hin und drückte die Hand inniger an sich, sprach aber nichts.

»Ich sage, sie wird bald besser werden«, wiederholte die Alte, mit der abgezehrten Faust in die leere Luft drohend, »und wird alle durch ihr gutes Aussehen beschämen. Ja, das wird sie – das soll sie!«

Sie rief es, als liege sie in leidenschaftlichem Kampf mit irgendeinem unsichtbaren Feind neben dem Bett, der ihr widersprach.

»Man hat sich von meiner Tochter abgewandt und sie verstoßen, aber sie könnte sich doch der Verwandtschaft mit stolzen Leuten rühmen, wenn sie wollte! Ah! diese stolzen Leute! Es gibt eine Verwandtschaft ohne eure Pfaffen und eure Trauringe – sie können sie machen, aber nicht brechen – und meine Tochter ist von gutem Blute. Zeigt mir Mrs. Dombey, und ich will Euch ein Geschwisterkind meiner Alice zeigen.«

Harriet blickte von der Alten nach den glänzenden Augen, die so angelegentlich auf ihrem Gesichte hafteten, und fand darin die Bestätigung dieser Worte.

»Was meint Ihr?« rief die Alte, den nickenden Kopf in unheimlicher Eitelkeit aufwerfend, »Obschon ich jetzt alt und häßlich bin, – viel älter durch das, was ich durchgemacht habe, als den Jahren nach – so war ich doch einmal so jung als eine. Ja, und obendrein so hübsch wie viele! Ich war meiner Zeit eine frische Landdirne, mein Schätzchen«, sie streckte über das Bett herüber ihren Arm nach Harriet aus, »und mein Aussehen war darnach. In meiner Gegend drunten waren Mrs. Dombeys Vater und sein Bruder die lebenslustigsten Gentlemen, die beliebtesten unter denen, die von London auf Besuch kamen – freilich sind sie jetzt längst tot! O Himmel, wie lange schon! Der Bruder, der der Vater meiner Ally war, am längsten von beiden.«

Sie richtete den Kopf ein wenig auf und blickte in das Gesicht ihrer Tochter, als führe sie die Erinnerung an ihre eigene Jugend auf die von der Jugend ihres Kindes. Dann drückte sie plötzlich ihr Gesicht auf das Bett nieder und verbarg ihren Kopf mit den Händen und Armen.

»Sie waren sich so ähnlich«, fuhr die Alte, ohne aufzublicken, fort, »wie Ihr nur zwei Brüder sehen könnt, auch fast gleichaltrig – soviel ich mich erinnere, nicht mehr als ein Jahr zwischen ihnen – und wenn Ihr mein Mädel hättet sehen können, wie ich sie einmal gesehen habe, Seite an Seite mit der Tochter des andern, so hättet Ihr trotz des Unterschieds in der Kleidung und Lebensweise bemerken müssen, daß sie einander glichen. O, ist diese Ähnlichkeit denn ganz dahin und mußte mein Mädel – nur mein Mädel – sich so verändern!«

»Es kommt an alle die Reihe des Anderswerdens«, sagte Alice.

»Die Reihe?« rief die Alte. »Aber warum kommt sie nicht ebenso bald an sie wie an mein Mädel? Die Mutter muß sich verändert haben – sie sah so alt aus wie ich und war ebenso runzlig, ungeachtet ihrer Schminke – aber sie war schön. Was habe ich getan, ich – was habe ich Schlimmeres getan als sie, daß nur mein Mädel so hinschwindend daliegt!«

Mit demselben Schrei wie früher eilte sie in das äußere Zimmer hinaus, kehrte aber in ihrer verwirrten Stimmung augenblicklich wieder zurück, kroch zu Harriet heran und sagte:

»Dies ist’s, was Alice mir Euch mitzuteilen auftrug, mein Schatz. Dies ist alles. Ich machte die Entdeckung, als ich eines Sommers mich in Warwickshire nach ihr und ihren Verhältnissen erkundigte. Damals waren solche Verwandte nicht gut für mich. Sie würden mich nicht anerkannt haben und hatten nichts zu verschenken. Nachher hätte ich sie vielleicht um ein bißchen Geld angehen können, wenn meine Alice nicht gewesen wäre; aber ich glaube, sie würde mich fast umgebracht haben, wenn ich’s getan hätte. Sie war in ihrer Art so stolz wie die andere«, sagte die Alte, furchtsam das Gesicht ihrer Tochter berührend und ihre Hand wieder zurückziehend, »obschon sie jetzt so ruhig ist. Aber sie wird sie noch mit ihrem guten Aussehen beschämen. Ha, ha. Meine schöne Tochter wird sie noch beschämen.«

Das Lachen, mit dem sie sich zurückzog, war noch schlimmer als ihr Schrei, schlimmer als der Ausbruch kleinmütigen Wehklagens, mit dem es endigte, schlimmer als das faselnde Gesicht, mit dem sie ihren alten Platz wieder einnahm und in die Dunkelheit hinausstierte.

Alice hatte diese ganze Zeit über kein Auge von Harriet verwandt und ihre Hand unablässig festgehalten.

»Wie ich so dalag«, sagte sie jetzt, »kam mir der Gedanke, es dürfte gut sein, wenn Ihr dies erfahrt. Es wird vielleicht einen Umstand erklären, der dazu mithalf, mich zu verhärten. Wenn ich unrecht tat, mußte ich so viel von Pflichtübertretung hören, daß der Glaube in mir Wurzel griff, an mir sei die Pflicht verabsäumt worden, und wie man säe, so müsse auch die Ernte ausfallen. Ich kam irgendwie auf die Ansicht, wenn vornehme Frauen schlimme Mütter und eine schlimme Heimat hätten, so gingen sie wohl auch in ihrer Art auf unrechten Pfaden, aber doch nicht auf so schlimmen, wie der meinige war, und sie hatten Ursache, Gott dafür zu danken. Doch das ist jetzt vorbei. Es kommt mir vor wie ein Traum, dessen ich mich nicht ganz erinnere, den ich nicht recht verstehen kann. Es wurde mir mit jedem Tag mehr und mehr zum Traum, seit Ihr mich zu besuchen und mir vorzulesen anfinget. Ich sage Euch dies nur, wie es eben in meiner Erinnerung ist. Wollt Ihr mir noch ein wenig vorlesen?«

Harriet wollte ihre Hand zurückziehen, um das Buch zu öffnen, aber Alice hielt sie noch einen Augenblick fest.

»Ihr werdet meine Mutter nicht vergessen? Ich vergebe ihr, wenn ich Ursache dazu habe, und weiß, daß sie mir verzeiht – daß ihr Herz traurig ist. Ihr werdet sie nicht vergessen?«

»Nein, Alice!«

»Noch einen Augenblick. Legt meinen Kopf so, daß ich, wenn Ihr lest, in Eurem lieben Gesicht die Worte sehen kann.«

Harriet entsprach ihrem Wunsch und las – las das ewige Buch für alle Müden und Schwerbeladenen, für alle Unglücklichen, Gefallenen und Verwahrlosten auf Erden, las die heilige Geschichte, in der der blinde und lahme Bettler, der Verbrecher, das mit Schande befleckte Weib und der von unserem ekeln Staub Gemiedene seinen Anteil findet, den weder menschlicher Stolz noch die Gleichgültigkeit oder Sophistik aller Jahrhunderte irdischen Bestands hinwegnehmen oder auch nur um das Gewicht eines Sonnenstäubchens verkürzen kann – las von dem Wirken dessen, der durch die ganze Runde des menschlichen Lebens mit seinen Hoffnungen und Schmerzen von der Geburt an bis zum Tode und von der Kindheit bis ins hohe Alter, für jede Szene und Abstufung desselben, für jeden Kummer und jedes Leid die innigste Teilnahme empfand.

»Ich will morgen sehr früh wiederkommen«, sagte Harriet, als sie das Buch zumachte.

Die glänzenden, noch immer auf ihr Antlitz gehefteten Augen schlossen sich für einen Moment und öffneten sich wieder. Alice küßte die Leidende und sprach einen Segenswunsch über sie.

Dieselben Augen folgten ihr bis zur Tür, die sich hinter der Abgehenden schloß; in ihrem Glanze und auf dem ruhigen Gesichte lag ein Lächeln.

Sie wandten sich nicht wieder ab. Die Kranke legte ihre Hand auf die Brust, murmelte den heiligen Namen, von dem ihr vorgelesen worden war, und das Leben wich aus ihrem Antlitz wie ein erlöschendes Licht.

Es lag nichts mehr da als die Trümmer der irdischen Hütte, auf die der Regen niedergefallen war, und das schwarze Haar, das im winterlichen Winde geflattert hatte.

Einundfünfzigstes Kapitel.


Einundfünfzigstes Kapitel.

Mr. Dombey und die Welt.

Was treibt wohl der stolze Mann, während die Tage entschwinden? Denkt er je an seine Tochter, oder wundert er sich, wohin sie gegangen ist? Meint er vielleicht, sie sei nach Haus gekommen und führe ihr altes Leben in dem verödeten Gebäude? Niemand kann das beantworten; denn er hat ihren Namen seitdem nie wieder ausgesprochen. Sein Haushalt fürchtet ihn zu sehr, um eine Sache zur Sprache zu bringen, über die er ein so tiefes Schweigen beobachtet, und die einzige Person, die ihn zu fragen sich erdreistet, bringt er augenblicklich zum Verstummen.

»Mein lieber Paul!« murmelt seine Schwester, die am Tage von Florences Flucht ihn besucht, »deine Gattin – dieses hochfahrende Weib! Ist es möglich, daß in dem verwirrten Gerücht Wahrheit liegt, und dankt sie dir so die beispiellose Aufopferung für sie; denn du hast ja deine eigenen Verwandten ihren Launen und ihrem Stolze opfern müssen! Mein armer Bruder!«

Während dieser Anrede und in der Erinnerung an die Tatsache, daß sie am Tag der Ankunft des Ehepaars von Paris nicht zum Diner gebeten wurde, macht Mrs. Chick reichlichen Gebrauch von ihrem Taschentuch und fällt Mr. Dombey um den Hals. Mr. Dombey aber macht sich frostig von ihr los und bietet ihr einen Stuhl an.

»Ich danke dir für diesen Beweis deiner Liebe, Louisa«, sagte er, »muß dich aber bitten, für dein Gespräch ein anderes Thema zu wählen. Wenn ich einmal mein Schicksal beklage, oder mir Trost bei dir holen will, so wird es immer noch Zeit sein, ihn mir zu spenden. Habe daher die Güte, Louisa, von andern Dingen zu reden.«

»Mein lieber Paul«, versetzt seine Schwester, die das Schnupftuch vor ihr Gesicht hält und den Kopf schüttelt, »ich kenne deinen großen Geist und will daher nicht bei einem Thema beharren, das so peinlich und empörend ist«, Mrs. Chick legt auf die beiden Beiwörter einen besonders entrüsteten Nachdruck; »aber darf ich dich fragen, – freilich fürchte ich etwas Erschütterndes und Betrübendes hören zu müssen – ob jenes unglückliche Kind, Florence –«

»Louisa«, sagt ihr Bruder finster, »stille! kein Wort mehr davon!«

Mrs. Chick kann nur den Kopf schütteln, ihr Taschentuch brauchen und über entartete Dombeys seufzen, die keine Dombeys sind. Indes hat sie nicht die mindeste Vorstellung davon, ob Florence bei Ediths Flucht beteiligt war, oder gar ihr nachgefolgt ist, ob sie zu viel oder zu wenig, ob etwas oder nichts getan hat.

Unwandelbar verschließt er seine Gedanken und Gefühle in seinem Innern, ohne sie jemandem anzuvertrauen. Nachforschungen nach seiner Tochter werden nicht angestellt. Er wähnt vielleicht, sie sei bei seiner Schwester, oder weile unter seinem eigenen Dache. Ob er oft oder nie an sie denkt – aus den Anzeichen, die er davon gibt, läßt sich weder das eine noch das andere erkennen.

So viel aber ist gewiß, er denkt nicht, daß er sie verloren hat. Keine Ahnung der Wahrheit kommt ihm in den Sinn. Er hat zu lange in seiner Höhe abgeschlossen gelebt, um das geduldige sanfte Geschöpf auf dem Pfad unten zu bemerken, oder etwas Derartiges zu befürchten. Die ihm zugegangene Beschimpfung ist erschütternd gewesen, hat ihn aber nicht zur Erde gedemütigt. Die Wurzel greift in die Breite und Tiefe, und im Lauf der Jahre haben ihre Fasern sich ausgedehnt und aus der ganzen Umgebung Nährstoff gezogen. Der Baum ist getroffen, aber nicht gefällt.

Obgleich er die Welt in seinem Innern vor der Außenwelt verbirgt, – er hält es zunächst für seine einzige Aufgabe, sich auf allen seinen Schritten und Tritten sorgfältig zu bewachen – so kann er doch jene rebellischen Spuren davon nicht verdecken, die sich in den hohlen Augen und Wangen, in der hageren Stirn und in seinem düsteren, brütenden Wesen ausdrücken. Zwar noch immer so unnahbar wie ehedem, ist er trotzdem ein veränderter Mensch, und wenn sein Stolz sich auch nicht gebeugt hat, fühlt er sich doch gedemütigt; denn sonst könnten solche Abzeichen nicht vorhanden sein. Die Welt! Was die Welt von ihm denkt, um was sie ihn ansieht und was sie sagt – das ist der Dämon, der seinen Geist umspukt. Das Gespenst folgt ihm überall hin und, was noch schlimmer, befindet sich auch überall, wo er nicht ist. Es tritt hinaus mit ihm unter seine Dienerschaft und bleibt flüsternd daselbst zurück. Er sieht, wie es auf der Straße mit den Fingern ihm nachdeutet; es harrt seiner im Kontor, schielt über die Schultern der reichen Kaufleute, geht winkend und plappernd unter der Menge umher, kommt ihm an jedem Platze zuvor und ist – er weiß das – stets am geschäftigsten, wenn er sich wieder entfernt hat. Schließt er sich nachts in seinem Zimmer ein, so schleicht es durch das Haus, macht sich hörbar in den Fußtritten auf dem Straßenpflaster, starrt ihn in den Zeitungen auf dem Tisch an, dampft auf den Eisenbahnen und in den Schiffen hin und her und macht sich überall mit nichts anderem zu schaffen als mit ihm.

Es ist kein Phantom seiner Einbildungskraft, sondern in den Köpfen anderer Leute ebenso gut tätig, wie in dem seinen. Zeuge davon Vetter Feenix, der von Baden-Baden ausdrücklich in der Absicht herkommt, um mit ihm zu sprechen. Zeuge davon Major Bagstock, der Vetter Feenix bei seinem Besuche freundschaftlich begleitet.

Mr. Dombey empfängt sie mit seiner gewöhnlichen Würde und steht aufrecht in seiner alten Haltung vor dem Feuer. Er fühlt, daß aus ihren Augen die Welt ihn ansieht, daß sie aus den Gemälden herunterglotzt, daß Mr. Pitt auf dem Bücherschranke sie repräsentiert, und daß sogar in seinem eigenen, an der Wand hängenden Porträt die gleichen Augen sind.

»Ein ungewöhnlich kaltes Frühjahr«, sagt Mr. Dombey – um die Welt zu täuschen.

»Gott verdamm mich«, versetzt der Major in der Wärme der Freundschaft, »Joseph Bagstock ist nicht leicht anzuführen. Wenn Ihr Eure Freunde abzuhalten und ihnen kalt den Rücken zu kehren wünscht, Dombey, so ist J. B. nicht der Mann dafür. Joe ist rauh und zäh, Sir; derb, Sir, derb ist Joe. Seine königliche Hoheit, der verstorbene Herzog von York, erwies mir die Ehre, zu sagen – gleichviel, ob verdient oder unverdient – ,wenn es im Dienst einen Mann gibt, auf dessen Offenheit man sich verlassen kann, so ist dieser Mann Joe – Joe Bagstock.«

Mr. Dombey deutete seine Zustimmung an.

»Wohlan, Dombey«, sagt der Major, »ich bin ein Weltmann. Unser Freund Feenix – wenn ich mich erkühnen darf, ihn so –«

»Rechne es mir zu großer Ehre«, versetzt Vetter Feenix.

»– ist gleichfalls ein Weltmann«, fährt der Major mit einem Wackeln des Kopfes fort. »Und Ihr seid ein Weltmann, Dombey. Wenn nun drei Weltmänner zusammentreffen und Freunde sind – wie ich glaube –«, die letztere Bemerkung gilt abermals dem Vetter Feenix.

»Natürlich, die allerbesten«, sagt Vetter Feenix. »– und Freunde sind«, nimmt der Major wieder auf, »so ist der alte Joe der Ansicht (vielleicht hat J. unrecht), daß die Meinung der Welt über irgendeinen besonderen Gegenstand sich leicht erkunden läßt.«

»Ohne Zweifel«, sagt Vetter Feenix. »In der Tat, sie spricht vollkommen für sich selbst. Ich wünsche nichts sehnlicher, Major, als meinem Freund Dombey mein großes Erstaunen und Bedauern darüber auszudrücken, daß meine liebenswürdige und begabte Verwandte, die jede Eigenschaft besaß, um einen Mann glücklich zu machen, ihre Pflichten gegen – mit einem Wort, gegen die Welt so weit vergessen konnte, um sich in einer so außerordentlichen Weise bloßzustellen. Ich bin seitdem in einem verteufelt schwermütigen Zustand gewesen und habe in der Tat erst gestern abend zu dem langen Sarby gesagt, – Mann von sechs Fuß zehn Zoll Höhe, mit dem mein Freund Dombey wahrscheinlich bekannt ist – daß mir die Geschichte verdammt zusetze und mich ganz gallig mache. Eine solche verhängnisvolle Katastrophe bringt einen auf den Gedanken«, sagt Vetter Feenix, »daß die Ereignisse unter der Leitung einer Vorsehung stehen, denn wenn meine Tante noch am Leben wäre, so glaube ich, das hätte auf eine so verteufelt lebhafte Frau, wie sie war, wie ein Todesstreich gewirkt, und sie wäre wahrhaftig ein Opfer derselben geworden.«

»Wohlan, Dombey! –« nimmt der Major seine Rede mit großem Nachdruck wieder auf.

»Ich bitte um Verzeihung«, unterbricht ihn Vetter Feenix. »Erlaubt mir nur noch ein Wort, Mein Freund Dombey wird mir die Bemerkung gestatten, der höllische Zustand von Schmerz, in dem ich mich bei diesem Anlaß befinde, könne durch nichts mehr erhöht werden, als durch das natürliche Erstaunen der Welt über das Gerücht, daß meine liebenswürdige und begabte Verwandte (denn ich wage es noch immer, sie so zu nennen) sich mit einem Menschen – allerdings Mann mit weißen Zähnen – kompromittiert habe, der ihrem Gatten gegenüber eine so untergeordnete Stellung einnimmt. Aber während ich mit Entschiedenheit meinen Freund Dombey ersuchen muß, meine liebliche und begabte Verwandte nicht anzuklagen, bis ihre Schuld vollkommen erwiesen ist, erlaube ich mir zugleich, meinem Freund Dombey die Versicherung zu geben, daß die Familie, die ich repräsentiere und die jetzt fast erloschen ist (verteufelt trauriger Gedanke für einen Mann), ihm kein Hindernis in den Weg zu legen gedenkt und sich glücklich schätzen wird, jedem ehrenhaften Verfahren, das er im Hinblick auf die Zukunft einzuschlagen beabsichtigt, ihre Zustimmung zu geben. Ich hoffe, mein Freund Dombey wird mir zutrauen, daß ich in dieser sehr betrübenden Angelegenheit von der besten Absicht beseelt bin, und – ein – in der Tat, ich wüßte nicht, daß ich nötig hätte, meinen Freund Dombey mit weiteren Bemerkungen zu behelligen.«

Mr. Dombey verbeugt sich, ohne die Augen aufzurichten und bleibt stumm.

»Wohlan, Dombey«, sagt der Major, »nachdem unser Freund Feenix mit einem Aufwand von Beredsamkeit, wie ihn der alte Joe B, nie gehört hat – nein, beim Himmel, Sir, nie!« sagt der Major mit sehr blauem Gesicht, indem er seinen Stock in der Mitte anfaßt – »den Fall, soweit er die Dame betrifft, auseinandergesetzt hat, werde ich mir im Hinblick auf unsere Freundschaft, Dombey, erlauben, ihn von einem andern Gesichtspunkt aus zu beleuchten. Sir«, fügt der Major mit einem Pferdehusten bei, »die Welt hat in solchen Dingen Ansichten, denen Genüge geleistet werden muß.«

»Ich weiß es«, versetzt Mr. Dombey.

»Natürlich wißt Ihr es«, sagt der Major. »Gott verdamm mich, Sir, ich weiß, daß Ihr es wißt. Ein Mann von Eurem Format kann hierin nicht im unklaren sein.«

»Ich hoffe es«, entgegnete Mr. Dombey.

»Dombey!« sagt der Major, »Ihr werdet das übrige erraten. Ich spreche mich aus – voreilig vielleicht –, weil die Bagstock-Zucht immer offen gewesen ist. Sie hat es zwar damit nie weit gebracht, Sir; aber es liegt im Blut der Bagstocks. Dem Mann gehört eine Kugel. Ihr habt J.B. auf Eurer Seite. Er macht Anspruch auf den Namen eines Freundes. Gott stehe Euch bei.«

»Ich bin Euch verbunden, Major«, erwidert Mr. Dombey, »und werde mich in Eure Hände geben, wenn die Zeit reif ist. So weit ist es übrigens noch nicht, und ich habe deshalb unterlassen, mit Euch zu sprechen.«

»Wo ist der Mensch, Dombey?« fragt der Major, nachdem er ihn eine Weile angestarrt und angekeucht hat.

»Ich weiß es nicht.«

»Keine Kunde von ihm?« fragt der Major.

»Dombey, es freut mich, das zu hören«, sagt der Major. »Ich wünsche Euch Glück.«

»Ihr werdet entschuldigen, Major«, versetzt Mr. Dombey, »wenn ich vorderhand nicht einmal gegen Euch in weitere Einzelheiten eingehe. Die Nachricht ist eigentümlicher Art und mir in eigentümlicher Weise zugegangen. Möglich, daß sie wertlos, möglich aber auch, daß sie wahr ist. Ich kann zur Zeit nichts weiter sagen und muß deshalb hier abbrechen.«

Obschon das nur eine dürre Antwort auf den purpurnen Enthusiasmus des Majors ist, so nimmt er sie doch gnädig auf und fühlt sich entzückt in dem Gedanken, daß die Welt eine so schöne Aussicht hat, bald zu erhalten, was ihr gebührt. Vetter Feenix wird sodann von dem Gatten seiner liebenswürdigen und begabten Verwandten mit dankbaren Phrasen belohnt, worauf er und Major Bagstock sich entfernen, während der besagte Gatte wieder der Welt überlassen bleibt und Muße hat, über die Ansichten und die gerechten, vernünftigen Erwartungen derselben, wie sie ihm von den beiden dargestellt wurden, nachzudenken.

Aber wer sitzt Tränen vergießend und mit aufgehobenen Händen in dem Zimmer der Haushälterin und bespricht sich in leisem Ton mit Mrs. Pipchin? Es ist eine Dame, deren Gesicht ein sehr enger schwarzer Hut verhüllt, der nicht ihr zu gehören scheint. Es ist Miß Tox, die diese Verhüllung von ihrem Dienstmädchen geborgt hat und so im geheimen vom Prinzessinnenplatz hierher gekommen ist, um ihre alte Bekanntschaft mit Mrs. Pipchin wieder aufzunehmen und über Mr. Dombeys Zustand sichere Auskunft einzuholen.

»Und wie trägt er es, meine liebe Mistreß?« fragt Miß Tox.

»Er ist so ziemlich wie gewöhnlich«, antwortet Mrs. Pipchin in ihrer schnippischen Weise.

»Äußerlich«, deutet Miß Tox an, »Aber was er in seinem Innern fühlt!«

Mistreß Pipchins hartes graues Auge zeigt den Ausdruck des Zweifels, während sie in drei bestimmten Absätzen entgegnet: »Ach!. . Vielleicht … Ich kann mir’s vorstellen.«

»Um offen mit Euch zu sprechen, Lukretia«, fährt Mrs. Pipchin fort; sie nennt Miß Tox noch immer Lukretia, weil sie an dieser Dame, als diese noch ein unglückliches, schmächtiges, kleines Mädchen von zarten Jahren war, die ersten Versuche im Geschäft des Kinderquälens gemacht hat; »um mit Euch zu reden, Lukretia, so denke ich, daß wir von Glück sagen dürfen. Ich selbst mag keine so frechen Gesichter hier haben.«

»Jawohl, frech! Das ist ein vollkommen bezeichnender Ausdruck, Mrs. Pipchin«, erwidert Miß Tox. »Ihn zu verlassen! Eine so edle Männergestalt!«

Und Miß Tox gerät ganz außer sich.

»Von edel spüre ich gerade nicht viel«, bemerkt Mrs. Pipchin, empfindlich sich die Nase reibend. »So viel aber weiß ich – wenn den Leuten Prüfungen zugeschickt werden, so müssen sie diese tragen. Du lieber Himmel, ich habe meiner Zeit selbst auch genug zu tragen gehabt! Was macht man da viel Wesens! Sie ist fort, und man kann sich Glück wünschen, daß man sie vom Halse hat. Ich denke, niemand verlangt sie zurück.«

Diese Anspielung auf die peruvianischen Minen bewegt Miß Tox, sich zum Abschied anzuschicken, und Mrs. Pipchin läutet Towlinson, damit er ihr das Geleit gebe. Mr. Towlinson, der Miß Tox seit einem Menschenalter nicht gesehen hat, drückt grinsend die Hoffnung aus, daß es ihr gut gehe, und bemerkt, er habe sie anfangs in ihrem Hut nicht gekannt.

»Ziemlich gut, Towlinson, ich danke Euch«, sagt Miß Tox. »Wenn Ihr mich zufällig hier seht, so habt die Güte, nicht davon zu sprechen. Meine Besuche gelten bloß Mrs. Pipchin.«

»Sehr wohl, Miß«, sagt Towlinson.

»Es ereignen sich schreckliche Dinge, Towlinson«, meint Miß Tox.

»Jawohl, Miß«, entgegnet Towlinson.

»Ich hoffe, Towlinson«, sagt Miß Tox, die sich durch das Unterrichten der Toodle-Familie einen ermahnenden Ton angeeignet hat und nicht gern eine dafür passende Gelegenheit verabsäumt, »die Vorgänge hier werden Euch eine Warnung sein, Towlinson.«

»Danke bestens, Miß, jawohl«, versetzt Towlinson.

Er scheint mit sich zu Rate zu gehen, in welcher Weise diese Warnung auf seinen speziellen Fall anwendbar sei. Aber die essigsaure Mrs. Pipchin stört ihn plötzlich mit einem »was treibt Ihr da? warum geleitet Ihr die Dame nicht nach der Tür?« aus seinem Sinnen, und er führt Miß Tox ab. Wie diese an Mr. Dombeys Zimmer vorbeikommt, zieht sie sich in die innersten Tiefen des schwarzen Hutes zurück und geht auf den Zehenspitzen. Es gibt kein anderes Wesen in der Welt, das ihn so umspukt und so viel Leid und Sorge um ihn trägt, als das, welches Miß Tox unter dem schwarzen Hut in die Straße mit sich nimmt und, vor den neu angezündeten Lampen beschattet, nach Haus zu bringen versucht.

Aber Miß Tox ist kein Teil von Mr. Dombeys Welt. Sie kommt jeden Abend in der Dunkelheit, fügt bei Regenwetter dem Hut noch einen Schirm und Überschuhe bei und läßt bereitwillig Towlinsons Grinsen und Mrs. Pipchins mürrisches Wesen über sich ergehen, bloß um fragen zu können, was er treibt und wie er sein Unglück erträgt. Aber sie hat nichts mit Mr. Dombeys Welt zu schaffen. Bedrückend und quälend, wie immer, nimmt diese ohne Miß Tox ihren Gang, und diese selbst, keineswegs ein glänzender oder besonderer Stern, bewegt sich an dem Ende eines andern Systems in ihrem kleinen Kreise; sie weiß das recht wohl – kommt, weint, geht wieder fort und ist zufrieden. Wahrhaftig, Miß Tox ist leichter befriedigt, als die Welt, um die Mr. Dombey sich so viel Sorge macht.

Im Geschäft verhandeln die Gehilfen das große Unglück in allen seinen Licht- und Schattenseiten und sind namentlich neugierig darauf, wer Mr. Carkers Platz erhalten wird. Sie drücken allgemein die Ansicht aus, die Stelle dürfte wohl in ihrem Einkommen beschnitten und durch neue Beschränkungen unbequem gemacht werden. Diejenigen, die die allergeringste Aussicht haben, meinen, sie möchten sie nicht einmal annehmen, und beneiden den Mann nicht, dem sie vorbehalten ist. Seit dem Tod von Mr. Dombeys kleinem Sohn hat nichts im Kontor solches Aufsehen erregt. Aber die ganze Aufregung schlägt eine soziale, um nicht zu sagen joviale Richtung ein und führt zu Unterhaltung guter Kameradschaft. Bei dieser günstigen Gelegenheit findet sogar eine Versöhnung zwischen dem anerkannten Witzling des Kontors und einem aufstrebenden Nebenbuhler statt, die seit Monaten in tödlicher Fehde miteinander gelebt haben. Zur Feier dieser glücklich wiederhergestellten Freundschaft wird in einem benachbarten Wirtshaus ein Diner abgehalten, bei dem der Witzling den Vorsitz führt und der Nebenbuhler die Rolle des Vizepräsidenten übernimmt. Die Reden, die der Entfernung des Tafeltuchs folgen, werden durch den Vorsitzenden eingeleitet, der seinen Kollegen nicht verbergen kann, daß es jetzt keine Zeit zu Privatzwistigkeiten sei. Kürzliche Ereignisse, auf die er nicht näher einzugehen brauche, die aber in einigen Sonntags-Journalen und Tagblättern – er wolle sie nicht nennen – (jedes andere Mitglied der Gesellschaft führt übrigens mit hörbarem Murmeln die Namen auf) nicht unbeachtet geblieben seien, hätten ihn zum Nachdenken gebracht, und er fühle, daß in einem solchen Augenblicke jeder persönliche Zwist zwischen ihm und Robinson für immer die gute Gesinnung in der allgemeinen Sache beeinträchtigen würde, durch die sich, wie er Grund zu glauben habe und wie er hoffe, die Gentlemen in Dombeys Hause stets ausgezeichnet hätten.

Robinson antwortete hierauf wie ein Mann und Bruder, während ein Gentleman, der drei Jahre unter steter Entlassungsbedrohung wegen seiner mangelhaften Arithmetik in dem Bureau beschäftigt gewesen, in einem vollkommen neuen Lichte erscheint und plötzlich mit einer ergreifenden Rede hervorbricht, in der er sagt: Möge der geachtete Chef nie wieder die Verödung kennenlernen, die seinen Herd betroffen hat! Dann fährt er in unterschiedlichen Dingen fort, die stets mit einem »Möge er nie wieder« beginnen und donnernden Beifall ernten. Mit einem Wort, der Abend vergeht in der größten Herrlichkeit und wird nur durch einen Hader zwischen zwei jüngeren Kollegen gestört, die in einem Streit über die wahrscheinliche Höhe von Mr. Carkers letztem Jahreseinkommen sich mit Flaschen drohen und in großer Aufregung fortgeschafft werden. Am andern Tag ist im Bureau das Sodawasser sehr begehrt, und die meisten, die an der gestrigen Gesellschaft teilgenommen, halten die Wirtsrechnung für einen unverschämten Betrug.

Was Perch, den Boten, betrifft, so ist er auf dem schönsten Weg, für Lebenszeit zugrunde gerichtet zu werden. Man findet ihn unablässig in den Schenken, wo er traktiert wird und fürchterlich aufschneidet. Es stellt sich heraus, daß er überall mit den bei dem kürzlichen Vorfall beteiligten Personen zusammentraf und zu ihnen sagte, »Sir«, oder »Madame«, je nachdem der Fall war, »warum seht Ihr so blaß aus«, worauf die betreffende Person vom Kopf bis zu den Füßen schauderte, in die Worte ausbrach »o Perch«, und davonlief.

Entweder der Gedanke an diese Ungeheuerlichkeiten oder die Rückwirkung des genossenen Branntweins machen Mr. Perch gegen Abend um die Zeit, in der er gewöhnlich in der Gesellschaft der Mrs. Perch zu Balls Pond Trost sucht, sehr bedrückt. Dann ist Mrs. Perch ungemein reizbar; denn sie fürchtet, sein Vertrauen zu dem weiblichen Geschlecht sei jetzt erschüttert und er erwarte sozusagen, eines Abends beim Nachhausekommen, daß sie mit einem Grafen davongelaufen sei.

Mr. Dombeys Dienstboten wurden um die gleiche Zeit ganz ausgelassen und für jedes Geschäft untauglich. Sie haben jeden Abend ein warmes Nachtessen und unterhalten sich dabei, während dampfendes Getränk auf dem Tisch steht. Nach halb elf Uhr ist Mr. Towlinson regelmäßig bezecht und fragt, ob er nicht immer gesagt habe, daß bei dem Wohnen in einem Eckhause nie etwas Gutes herauskomme. Man flüstert über Florence und möchte wissen, wo sie sich aufhält. Aber man ist mit ihrem Schritt einverstanden; wenn auch Mr. Dombey nichts darüber wisse, so werde es doch Mrs. Dombey besser wissen. Dies bringt das Gespräch auf Edith, und die Köchin sagt von ihr: »Sie hatte doch eine recht vornehme Art an sich, etwa nicht? Aber sie trug sich zu hoch!« Alle andern stimmen bei, daß sie sich zu hoch trug, und Mr. Towlinsons alte Flamme, die Hausmagd (die sehr tugendhaft ist), bittet, man solle ihr nur nicht mehr mit Personen kommen, die ihre Köpfe so hoch halten, als ob der Erdboden nicht gut genug für sie sei.

Alles, was mit Ausnahme von Mr. Dombey in dieser Angelegenheit gesprochen und verhandelt wird, geschieht im Chor. Mr. Dombey und die Welt sind miteinander allein.

Sechsundvierzigstes Kapitel.


Sechsundvierzigstes Kapitel.

Prüfend und nachdenklich

Unter verschiedenen kleineren Änderungen, die um diese Zeit in Mr. Carkers Leben und Gewohnheiten stattzufinden begannen, war keine merkwürdiger, als der außerordentliche Fleiß, mit dem er sich dem Geschäft widmete, und die Sorgfalt, mit der er die vor ihm offen daliegenden Angelegenheiten des Hauses bis ins einzelnste verfolgte. Obgleich er in solchen Dingen stets tätig und scharfblickend war, hatte sich doch jetzt seine luchsäugige Wachsamkeit ums zwanzigfache gesteigert. Seine behutsame Aufmerksamkeit hielt nicht nur gleichen Schritt mit jenen Punkten, die jeder Tag ihm in irgendeiner neuen Form darbot, sondern er fand auch inmitten dieser sich häufenden Beschäftigungen Muße – d.h. er nahm sich dieselbe – die früheren Verbindungen der Firma, die während einer langen Reihe von Jahren abgeschlossen worden waren, und seine Beteiligung dabei zu prüfen. Oft, wenn sämtliche Angestellte fort waren, die Kontore leer und dunkel, und alle ähnlichen Geschäftslokale geschlossen waren, pflegte Mr. Carker, vor dem die ganze Anatomie des eisernen Zimmers offen dalag, mit dem geduldigen Eifer eines Mannes, der die kleinsten Nerven und Fasern eines tierischen Körpers zergliedert, die Geheimnisse der Bücher und Papiere zu erforschen. Der Ausläufer Perch, der bei solchen Gelegenheiten gewöhnlich dablieb, um sich beim Licht einer einzigen Kerze mit dem Lesen der Preisliste zu unterhalten, oder im äußeren Kontor auf die Gefahr hin, jeden Augenblick kopfüber in die Kohlentruhe zu purzeln, über dem Feuer schlummerte, konnte diesem Fleiß den Zoll seiner Bewunderung nicht versagen, wie sehr er auch dadurch in dem Genusse seines häuslichen Glückes verkürzt wurde, und verbreitete sich wieder und wieder gegen Mrs. Perch, die jetzt Zwillinge säugte, über den Eifer und die Pünktlichkeit ihres geschäftsführenden Gentlemans in der City.

Dieselbe gesteigerte, scharfe Aufmerksamkeit, mit der Mr. Carker die Geschäfte des Hauses behandelte, verwendete er auch auf seine persönlichen Angelegenheiten. Obgleich er kein Associé der Firma war, da diese Auszeichnung bisher nur den Erben des großen Namens Dombey vorbehalten gewesen, bezog er doch von dem Ertrag gewisse Prozente, und da es ihm vermöge seiner Stellung sehr leicht wurde, Geld vorteilhaft zu verwenden, so galt er bei den Schmerlen unter den Tritonen des Ostens als ein reicher Mann. Diese schlauen Beobachter begannen schon untereinander zu bemerken, daß Jem Carker bei Dombey sich umschaue, um zu sehen, was er wert sei, und als ein in die Ferne blickender Mann darauf Bedacht nehme, sein Geld in guter Zeit einzuziehen; ja es wurden sogar auf der Stockbörse Wetten auf die Wahrscheinlichkeit angeboten, daß Jem eine reiche Witwe heiraten werde.

Gleichwohl taten diese vermehrten Geschäfte Mr. Carker in dem Bewachen seines Prinzipals, in seiner Reinlichkeit, seiner Glätte oder irgendeiner katzenartigen Eigenschaft, die er besaß, nicht den mindesten Abtrag. In seinen Gewohnheiten war nicht derart ein Wechsel vorgegangen, sondern sie zeigten sich nur in einer gesteigerten Tätigkeit. Alles, was man früher an ihm bemerken konnte, war auch jetzt noch an ihm zu sehen, nur in höherem Grade konzentriert. Er besorgte jedes einzelne, als ob es nichts anderes für ihn gebe – ein ziemlich sicheres Anzeichen bei einem Mann von seiner Fähigkeit und seinem Geiste, daß er etwas tut, was seine ganze Energie schärft und rege erhält. Die einzige entschiedene Veränderung an ihm bestand darin, daß er, wenn er in den Straßen hin und her ritt, oft in ein ähnliches tiefes Nachdenken versank, wie das, in dem er an dem Morgen von Mr. Dombeys Unfall das Haus des letzteren verlassen hatte. Zu solchen Zeiten wich er nur mechanisch den im Wege liegenden Hindernissen aus, und es hatte den Anschein, als sehe und höre er nichts, bis er seinen Bestimmungsort erreichte, oder ein plötzlicher Zufall ihn aus seinen Träumen weckte.

So ließ er eines Tages sein weißbeiniges Pferd im Schritt nach dem Kontor von Dombey und Sohn gehen, ohne das Lauern von zwei Paar Weiberaugen oder den von seinem Anblick bezauberten Schleifer Rob zu bemerken, der, um seine Pünktlichkeit zu zeigen, eine Straßenlänge näher, als auf dem bestimmten Platz, seines Gebieters harrte und vergeblich durch ein wiederholtes Greifen an seinen Hut die Aufmerksamkeit desselben auf sich zu ziehen suchte, weshalb er denn jetzt zu Fuß an seiner Seite hintrabte, um bei seinem Absteigen sogleich bereit zu sein, ihm den Bügel zu halten.

»Siehst du ihn vorbeireiten?« rief eine der beiden Frauen, eine alte Hexe, die ihre welke Hand ausstreckte, um ihn ihrer jüngeren Begleiterin, die unter einem Torweg dicht an ihrer Seite stand, zu zeigen.

Auf dieses Geheiß von seiten der Mrs. Brown schaute ihre Tochter hinaus, und in ihrem Gesicht zeigte sich die wilde Aufregung des Zorns und der Rachsucht.

»Ich hätte nie gedacht, ihn wieder zu sehen«, sagte sie mit gedämpfter Stimme; »aber es ist vielleicht gut so. Ich sehe. Ich sehe!«

»Nicht verändert!« sagte die Alte mit einem boshaften Blick.

»Er verändert?« entgegnete die andere. »Warum auch? Was hat er gelitten! Nur in mir ist Veränderung genug für zwanzig. Genügt das nicht?«

»Sieh, wie er reitet!« murmelte die Alte, die roten Augen auf ihre Tochter heftend: »so leicht und so geschniegelt auf seinem Pferd, während wir im Kot –«

»Und von Kot sind«, unterbrach sie die Tochter ungeduldig. »Wir sind der Schmutz unter den Füßen seines Pferdes. Was könnten wir auch anders sein?«

In der Begierde, mit der sie ihm wieder nachsah, machte sie, als die Alte antworten wollte, mit der Hand eine hastige Gebärde, wie wenn der bloße Ton einer Stimme sie im Sehen störe. Mrs. Brown, die nur sie, nicht ihn im Auge behielt, blieb stumm, bis der funkelnde Blick ihrer Tochter milder geworden war. Letztere atmete endlich tief auf, als fühle sie sich erleichtert, daß er fort war.

»Herzchen!« begann die Alte. »Alice! Schönes Mädel! Ally!« Sie zupfte sie leicht am Ärmel, um ihre Aufmerksamkeit zu wecken. »Willst du ihn so ziehen lassen, da du ihm doch Geld abringen kannst? Ei, das wäre gottlos, meine Tochter.«

»Habe ich Euch nicht gesagt, daß ich kein Geld von ihm wolle?« versetzte Alice. »Und Ihr glaubt mir noch immer nicht? Habe ich von seiner Schwester Geld angenommen? Würde ich auch nur einen Penny berühren, wenn ich wüßte, er sei durch seine weißen Hände gegangen – es wäre denn, daß ich denselben vergiftet ihm zurückschicken könnte? Seid stille, Mutter, und kommt mit.«

»Und er so reich?« murmelte die Alte. »Und wir so arm!«

»Arm, weil wir nicht imstande sind, ihm etwas von dem Leid heimzuzahlen, das wir ihm verdanken«, entgegnete die Tochter. »Könnte er mir solche Schätze ablassen, so würde ich sie von ihm annehmen und Gebrauch davon machen. Kommt mit; es führt zu nichts, seinem Pferde nachzusehen, kommt mit, Mutter!«

Für die Alte aber schien der Anblick Robs, des Schleifers, der das reiterlose Pferd die Straße heraufführte, irgendein außerordentliches Interesse zu haben, das er an sich selbst nicht besaß; sie betrachtete daher den jungen Menschen mit der größten Angelegentlichkeit und faßte, was sie auch sonst für Bedenken hegen mochte, bei seinem Näherkommen schnell einen Entschluß. Mit einem funkelnden Blick nach ihrer Tochter legte sie den Finger an ihre Lippe, trat in dem Augenblick, als Rob vorüberging, aus dem Torweg und legte ihre Hand auf seine Schulter.

»Ei, wo ist denn mein munterer Rob diese ganze Zeit über gewesen?« fragte sie, als er sich umwandte.

Der muntere Rob, dessen Munterkeit durch diese Begrüßung sehr gemindert wurde, machte ein sehr langes Gesicht und entgegnete, während ihm das Wasser in die Augen stieg:

»O! warum könnt Ihr einen armen Burschen nicht gehen lassen, Mrs. Brown, wenn er einem ehrlichen Unterhalt nachgeht und sich ordentlich aufführt? Warum kommt Ihr her, um einen jungen Burschen dadurch seines guten Namens zu berauben, daß Ihr ihn auf der Straße anredet, während er das Pferd seines Herrn nach einem ehrlichen Stall bringt – ein Pferd, das Ihr für Katzen- und Hundefleisch verkaufen würdet, wenn man Euch gewähren ließe! Ich dachte wahrhaftig«, fügte der Schleifer hinzu, seine Schlußbemerkung in einer Weise vorbringend, als sei sie der Höhepunkt aller von ihm erlittenen Kränkungen, »Ihr wäret längst tot.«

»So spricht er jetzt mit mir«, rief die Alte, sich an ihre Tochter wendend, »und doch hat er wochen- und monatelang mit mir Bekanntschaft gepflogen, mein Herzchen, und ich bin oft und vielmals seine Freundin gewesen unter den Galgenstricken, die sich mit dem Fang von Tauben und Vögeln abgaben.«

»O redet mir nur nicht von den Vögeln, Mrs. Brown«, versetzte Rob im Ton der bittersten Reue. »Ich denke, es ist besser, sich mit Löwen abzugeben als mit solchen kleinen Geschöpfen, denn sie fliegen einem immer ins Gesicht zurück, wo man es am wenigsten erwartet, Nun, wie geht es Euch und was wollt Ihr?«

Der Schleifer brachte diese höflichen Fragen vor, als verwahre er sich dagegen in großer Gereiztheit.

»Höre, wie er mit einer alten Freundin spricht, mein Schatz!« sagte Mrs. Brown, sich wieder an ihre Tochter wendend. »Doch es gibt einige von seinen alten Freunden, die nicht so geduldig sind wie ich. Wenn ich einigen, die er kennt, mit denen er sich umgetrieben und mit denen er Spitzbübereien angerichtet hat, mitteile, wo sie ihn finden können –«

»Wollt Ihr Euer Maul halten, Mrs. Brown«, unterbrach sie der unglückliche Schleifer, der jetzt hurtig umherschaute, als erwarte er die glänzenden Zähne seines Gebieters neben seinem Ellenbogen zu sehen. »Macht es Euch denn eine so große Freude, einen jungen Burschen zugrunde zu richten? Und noch dazu in Eurem Alter, in dem Ihr an ganz andere Dinge denken solltet.«

»Welch ein schönes Pferd«, sagte die Alte, den Hals des Tieres streichelnd.

»Wollt Ihr so gut sein, es gehen zu lassen?« rief Rob, ihre Hand zurückschiebend. »Ihr seid imstande, einen reuigen, jungen Burschen von Sinnen zu bringen.«

»Ei, was schadet’s ihm denn, Kind?« entgegnete die Alte.

»Was es ihm schadet?« fragte Rob. »Es hat einen Herrn, der dahinterkommt, und wenn es nur mit einem Strohhalm berührt wird.«

Er blies auf die Stelle, wo die Hand der Alten einen Augenblick geruht hatte, und glättete sie sanft mit seinen Fingern, als glaube er ernstlich an die Wahrheit seiner Worte.

Die Alte, die nach der ihr folgenden Tochter murmelnd zurücksah, hielt sich dicht an die Ferse Robs, der mit dem Zügel in der Hand weiterging, und setzte das Gespräch fort.

»Ein guter Platz, Rob, he?« sagte sie. »Ihr seid im Glück, mein Kind.«

»O sprecht mir nicht von Glück, Mrs. Brown«, versetzte der unglückliche Schleifer, indem er sein Gesicht umwandte und haltmachte. »Wenn Ihr nie hierhergekommen wäret oder wenn Ihr fortginget, dann könnte sich ein junger Bursch in der Tat für ziemlich glücklich halten. Wollt Ihr denn gar nicht gehen und ablassen, mich zu verfolgen, Mrs. Brown?« heulte Rob in plötzlichem Trotz. »Wenn die junge Frauensperson eine Freundin von Euch ist, warum nimmt sie Euch nicht lieber hinweg, statt daß sie Euch gestattet, Euch hier so unangenehm zu machen!«

»Was?« krächzte die Alte und näherte mit einem boshaften Grinsen, das ihre welke Haut bis nach dem Hals hinunter in Falten legte, ihr Gesicht dem seinen. »Ihr verleugnet Eure alten Kameradschaften? Seid Ihr nicht dutzend- und dutzendmal in mein Haus geschlichen und habt bei mir in einer Ecke geschlafen, als Ihr kein anderes Bett hattet als das Straßenpflaster – und jetzt sprecht Ihr so mit mir? Habe ich nicht, als Ihr noch ein vagabundierender Schuljunge wart, Euch in meiner Art fortgeholfen und für Euch gekauft und verkauft – und jetzt kommt Ihr mir und heißt mich gehen? Bin ich nicht imstande, Euch schon morgen früh einen Haufen alter Kameraden über den Hals zu schicken, die sich wie Euer Schatten an Euch heften und Euch ins Verderben hetzen können – und Ihr werft mir so kecke Blicke zu? Doch ich will gehen. Komm, Alice.«

»Haltet, Mrs. Brown!« rief der Schleifer außer sich. »Was wollt Ihr denn? Geratet nur nicht so in Zorn! O, seid so gut, sie nicht gehen zu lassen. Ich hab’s ja nicht böse gemeint. Sagte ich nicht gleich anfangs: ›Wie geht’s Euch?‹ aber Ihr wolltet nicht antworten. Wie geht’s Euch? Außerdem könntet Ihr ja selbst einsehen«, fügte Rob mit einer Jammermiene hinzu, »daß es einem Burschen nicht möglich ist, mit dem Pferd seines Gebieters auf der Straße stehenzubleiben, wenn es gestriegelt werden sollte, und der Herr gleich hinter alles kommt, sobald nur im geringsten etwas Unrechtes vorfällt.«

Die Alte tat, als sei sie teilweise beschwichtigt, schüttelte aber noch immer den Kopf und maulte vor sich hin.

»Kommt mit nach dem Stall und laßt Euch ein Gläschen schmecken, das Euch gut tun wird – könnt Ihr nicht, Mrs. Brown?« sagte Rob. »Dies wäre doch besser, als daß Ihr’s in solcher Weise macht, die weder Euch noch jemand anders von Nutzen ist. Bringt sie mit, wollt Ihr so gut sein?« fügte Rob gegen Alice hinzu, »Gewiß, es hätte mich sehr gefreut, sie wieder zu sehen, wenn das Pferd nicht gewesen wäre!«

Mit dieser Rechtfertigung wandte sich Rob, ein jämmerliches Bild der Verzweiflung, ab und führte sein Tier eine Nebenstraße hinunter. Die Alte, die nach ihrer Tochter hinmurmelte, blieb nicht zurück, und Alice folgte.

Nachdem sie ein ruhiges kleines Square oder einen Hofraum, den ein großer Kirchturm überragte und dessen Geschäftsplätze aus den Magazinen eines Packers und eines Flaschenhändlers bestanden, erreicht hatten, überlieferte Rob, der Schleifer, das weißbeinige Tier einem Stallknecht und lud Mrs. Brown mit ihrer Tochter ein, sich auf einer steinernen Bank neben dem Stalltor niederzulassen. Dann begab er sich nach einem benachbarten Wirtshaus, um einige Augenblicke später mit einer zinnernen Maßkanne und einem Glas wieder zurückzukehren.

»Auf die Gesundheit Eures Gebieters – des Mr. Carker, Kind!« lautete der langsam vorgebrachte Trinkspruch der Alten. »Gott segne ihn.«

»Ei, ich habe Euch ja nicht gesagt, wie er heißt«, bemerkte Rob mit weit aufgesperrten Augen.

»Wir kennen ihn vom Ansehen«, versetzte Mrs. Brown, deren murmelnder Mund und wackelnder Kopf in der Spannung ihrer Aufmerksamkeit unbeweglich wurden. »Wir sahen ihn heute früh vorbeireiten und Euch in seiner Nähe, um ihm das Pferd abzunehmen.«

»Ei, daß dich!« entgegnete Rob, augenscheinlich im geheimen wünschend, daß ihn sein Diensteifer lieber an jeden andern Platz hingeführt hätte. »Was ist denn mit ihr – will sie nicht trinken?«

Diese Frage bezog sich auf Alice, die, in ihren Mantel eingehüllt, ein wenig zur Seite saß, ohne auf das ihr angebotene volle Glas auch nur im mindesten zu achten.

Die Alte schüttelte den Kopf.

»Kehrt Euch nicht an sie«, sagte sie. »Ihr fändet ein sonderbares Geschöpf in ihr, wenn Ihr sie kennen würdet, Rob. Aber Mr. Carker –«

»Bst!« versetzte Rob, der vorsichtig seine Blicke nach den Magazinen des Packers und des Flaschenhändlers hin schießen ließ, als fürchte er, Mr. Carker könnte aus den Fenstern auf ihn niederschauen. »Still!«

»Ei, er ist ja nicht hier!« rief Mrs. Brown.

»Ich weiß das nicht gewiß«, murmelte Rob und sein unsteter Blick wandelte nach dem Kirchturm hinauf, als könnte er von dort aus, mit einer übernatürlichen Hörgabe versehen, ihn belauschen.

»Ein guter Herr?« fragte Mrs. Brown.

Rob nickte und fügte mit gedämpfter Stimme bei:

»Aber haarscharf.«

»Er wohnt außerhalb der Stadt – nicht wahr, mein Schatz?« sagte die Alte.

»Wenn er zu Hause ist«, versetzte Rob; »aber wir haben jetzt ein anderes Quartier.«

»Wo?« fragte die Alte.

»Eine Mietwohnung – in der Nähe von Mr. Dombeys Haus«, antwortete Rob.

Die jüngere Frauensperson heftete ihre Augen so plötzlich und so spähend auf Rob, daß dieser völlig verwirrt wurde und ihr abermals das Glas anbot, obschon mit nicht größerem Erfolg als früher.

»Mr. Dombey – Ihr wißt. Ihr und ich, wir beide pflegten bisweilen von ihm zu sprechen«, sagte Rob zu Mrs. Brown. »Ihr hattet es gern, wenn ich Euch von ihm erzählte.«

Die Alte nickte.

»Nun, Mr. Dombey hat einen Unfall gehabt und ist vom Pferd gestürzt«, fuhr Rob wider Willen fort. »Mein Herr muß deshalb jetzt mehr als gewöhnlich entweder bei ihm oder bei Mrs. Dombey sein, und so sind wir in die Stadt gekommen.«

»Sind sie gute Freunde, mein Schatz?« fragte die Alte.

»Wer?« entgegnete Rob.

»Er und sie?«

»Wie, Mr. und Mrs. Dombey?« sagte Rob. »Wie könnte ich das wissen?«

»Nicht sie – Euer Herr und Mrs. Dombey, mein Hühnchen«, versetzte die Alte schmeichelnd.

»Ich weiß es nicht«, sagte Rob, sich wieder umschauend. »Ich glaube es. Wie neugierig Ihr seid, Mrs. Brown. Je weniger man davon spricht, desto besser ist es.«

»Ei, was sollte es denn schaden?« rief die Alte, indem sie lachend die Hände zusammenschlug. »Der muntere Rob ist ja ganz zahm geworden, seit es ihm gut geht! Es kann nichts schaden.«

»Ich weiß es wohl«, entgegnete Rob mit demselben mißtrauischen Blicke nach der Kirche sowohl als nach den Magazinen des Packers und des Flaschenhändlers; »aber das Plaudern geht nicht an, wenn’s auch nur die Zahl der Knöpfe auf dem Rocke meines Herrn beträfe. Ich sage Euch, bei ihm geht es nicht, und ein junger Bursche täte besser, vorher ins Wasser zu springen. Er sagte dies, und ich würde Euch sicherlich seinen Namen nicht genannt haben, wenn Ihr ihn nicht zuvor gewußt hättet. Sprecht lieber von jemand anders.«

Während Rob sich abermals vorsichtig im Hof umsah, machte die Alte eine geheime Bewegung gegen ihre Tochter. Dies war nur ein Moment, aber die Tochter wandte mit einem leichten Ausdruck des Verständnisses ihre Augen von dem Gesicht des Knaben ab und blieb wieder in ihren Mantel gehüllt sitzen.

»Rob, mein Schätzchen«, sagte die Alte, ihm nach dem andern Ende der Bank zuwinkend, »Ihr seid immer mein Liebling gewesen. War’s etwa nicht so – und wißt Ihr es nicht selbst?«

»Ja, Mrs. Brown«, entgegnete der Schleifer nicht in der angenehmsten Stimmung.

»Und Ihr konntet mich verlassen«, sagte die Alte, ihre Arme um seinen Hals schlingend. »Ihr konntet weggehen und groß werden, so daß man Euch kaum mehr kennt – ohne auch nur ein einziges Mal zu Eurer armen alten Freundin zu kommen und ihr zu erzählen, wie glücklich Ihr geworden seid! Stolzer Junge – oho, oho!«

»O, es ist schrecklich für einen armen Burschen, der einen hellwachenden Herrn in der Nachbarschaft hat«, rief der unglückliche Schleifer, »wenn er sich so anheulen lassen muß.«

»Wollt Ihr mich nicht besuchen, Robby?« sagte Mrs. Brown. »Oho, wollt Ihr nie kommen und nach mir sehen?«

»Ja, sage ich Euch! Ja, ich will!« antwortete der Schleifer.

»So ist’s recht, Rob, mein Schätzchen!« sagte Mrs. Brown, die Tränen von ihrem welken Gesicht wegwischend und ihm einen empfindsamen Händedruck gebend. »Am alten Platze, Rob?«

»Ja«, versetzte der Schleifer.

»Bald, mein lieber Robby«, rief Mrs. Brown, »und oft?«

»Ja. Ja«, entgegnete Rob. »Ich verspreche es Euch auf Seele und Leib.«

»Und dann«, sagte Mr«. Brown, ihren Arm zum Himmel erhebend und den wackelnden Kopf zurückwerfend, »wenn er Wort hält, will ich nie in seine Nähe kommen, obschon ich weiß, wo er ist, und nie eine Silbe über ihn verlauten lassen. Nie!«

Dieser Ausruf schien wie ein Tröpflein Trostes auf den unglücklichen Schleifer zu wirken. Er gab Mrs. Brown die Hand und bat sie flehentlich und mit Tränen in den Augen, sie möchte einen jungen Burschen gehen lassen und nicht seine Aussichten zerstören. Mrs. Brown sagte dies unter einer abermaligen zärtlichen Umarmung zu; aber als sie schon im Begriff war, ihrer Tochter zu folgen, wandte sie sich mit verstohlen aufgerichtetem Finger noch einmal um und bat ihn mit heiserem Flüstern um etwas Geld.

»Einen Schilling, mein Schatz«, sagte sie mit gierigem Gesicht, »oder sechs Pence! Um alter Bekanntschaft willen. Ich bin so arm. Und mein schönes Mädel, Rob«, – sie blickte über ihre Achseln zurück – »sie ist mein Mädel, Rob – nagt mit mir am Hungertuche.«

Während der Schleifer mit Widerstreben ihrer Forderung entsprach, kehrte die Tochter ruhig zurück, ergriff die Hand ihrer Mutter und entrang ihr die Münze.

»Wie, Mutter!« sagte sie. »Immer Geld – Geld vom Anfang an bis zuletzt? Denkt Ihr so wenig an das, was ich Euch vor kurzem erst gesagt habe. Hier. Nehmt es wieder.«

Die Alte stieß bei der Zurückerstattung des Geldes ein tiefes Stöhnen aus, ohne jedoch einen andern Widerstand zu versuchen, und folgte humpelnd ihrer Tochter nach der Nebenstraße, die von dem Hof abführte. Der erstaunte und entsetzte Rob, der ihnen mit weit aufgesperrten Augen nachglotzte, sah, daß sie bald nachher haltmachten und sich sehr angelegentlich miteinander besprachen, dabei bemerkte er mehr als einmal eine wild drohende Gebärde der jüngeren Frauensperson (augenscheinlich hatte sie Beziehung auf eine Person, von der sie redete) und eine ärmliche Nachahmung derselben von seiten der Mrs. Brown, eine Wahrnehmung, die ihm die ernstliche Hoffnung einflößte, daß nicht er der Gegenstand ihres Gespräches sein möchte.

Mit dem vorläufigen Trost, daß sie fort seien, und der Aussicht, Mrs. Brown könne nicht ewig leben und werde ihn wahrscheinlich nicht mehr lange belästigen, suchte der Schleifer, der seine schlimmen Streiche nur dann bereute, wenn sie für ihn von derartigen schlimmen Folgen begleitet waren, die Bestürzung seines Gesichtes in einen heiteren Ausdruck umzuwandeln, indem er an die bewunderungswürdige Weise dachte, mit der er Kapitän Cuttle abgefertigt hatte – eine Erinnerung, die selten verfehlte, seinen Geist wieder in Schwung zu bringen. Dann begab er sich nach Dombeys Kontor, um die Befehle seines Gebieters einzuholen. Dort empfing ihn das Auge seines Gebieters so schlau und wachsam, daß er davor zurückbebte, weil er mehr als halbwegs erwartete, es werde ihm seine Besprechung mit Mrs. Brown vorgehalten werden. Mr. Carker übergab ihm die gewöhnliche Briefkapsel für Mr. Dombey und ein Billett an Mrs. Dombey, wobei er als Einschärfung pünktlicher und schneller Besorgung nur mit dem Kopf nickte. Diese geheimnisvolle Ermahnung schloß, wie der Schleifer sich einbildete, die unheimlichsten Warnungen und Drohungen in sich und wirkte mächtiger auf ihn, als es alle Worte imstande gewesen wären. Mr. Carker ging in seinem Zimmer wieder allein ans Geschäft und arbeitete den ganzen Tag. Er ließ viele Besuche vor, überblickte eine Menge von Dokumenten, begab sich nach verschiedenen Handelsplätzen und ließ keine Zerstreutheit aufkommen, bis die Aufgabe des Tages beendigt war. Sobald er jedoch seinen Tisch in der gewohnten Weise von den Papieren gesäubert hatte, versank er wieder in seine gedankenvolle Stimmung.

Er stand in der gewöhnlichen Haltung an seinem alten Platz, die Augen auf den Boden geheftet, als sein Bruder eintrat, um einige Briefe zurückzubringen, die im Laufe des Tages ausgetragen worden waren. Er legte sie ruhig auf den Tisch und wollte sich sogleich wieder entfernen; aber Mr. Carker, der Geschäftsführer, dessen Augen bei seinem Eintritt auf ihm ruhten, als hätten sie stets ihn und nicht den Zimmerboden zum Gegenstand ihrer Betrachtung gehabt, redete ihn an:

»Nun, John Carker, was bringt Ihr da?«

Sein Bruder deutete auf die Papiere und wollte wieder gehen.

»Es wundert mich«, sagte der Geschäftsführer, »daß Ihr kommen und gehen könnt, ohne zu fragen, wie sich Euer Herr befindet.«

»Es ist heute morgen im Kontor gemeldet worden, daß es mit Mr. Dombey gut gehe«, versetzte sein Bruder.

»Ihr seid ein so zahmer Bursche«, bemerkte der Geschäftsführer mit einem Lächeln, – »oder seid es doch im Lauf der Jahre geworden, – daß ich darauf schwören will. Ihr würdet Euch unglücklich fühlen, wenn ihm etwas Schlimmes zustieße.«

»Es würde mir in der Tat sehr leid tun, James«, entgegnete der andere.

»Es würde ihm leid tun!« sagte der Geschäftsführer, nach ihm hindeutend, als ob eine andere Person zugegen sei, an die er sich berufe, »Es würde ihm in der Tat leid tun! Dieser Bruder von mir! Der Junior des Platzes, dieses verachtete Stück Gerümpel, beiseite geschoben mit dem Gesicht gegen die Wand gleich einem verschimmelten Gemälde, und so gelassen, der Himmel weiß, wie viele Jahre; er möchte mich glauben machen, daß er voll Dankbarkeit, Achtung und Anhänglichkeit sei!«

»Ich will Euch nichts glauben machen, James«, erwiderte der andere. »Seid gegen mich so gerecht, wie Ihr es gegen jeden andern sein würdet, der unter Euch steht. Ihr fragt mich, und ich antworte.«

»Und du hast dich über nichts gegen ihn zu beschweren, hündische Seele?« sagte der Geschäftsführer mit ungewöhnlicher Gereiztheit. »Keine stolze Behandlung, keine Unverschämtheit, keine Anmaßung irgendeiner Art zu ahnden? Was zum Teufel – bist du ein Mensch oder eine Maus?«

»Es müßte wunderlich zugehen, wenn zwei Personen, namentlich in der Stellung des Vorgesetzten und des Untergeordneten, so viele Jahre beisammen sein könnten, ohne daß sie gegenseitig an sich etwas auszusetzen fänden – jedenfalls in Gedanken«, versetzte John Carker. »Aber abgesehen von meiner Geschichte hier – –«

»Seine Geschichte hier!« rief der Geschäftsführer, »Ja, da liegt’s. Sogar der Umstand, der ihn zu einem äußersten Fall macht, wirft ihn aus dem ganzen Kapitel! Nun?«

»Abgesehen davon, liegt in ihr, wie Ihr andeutet, für mich (zum Glück für alle übrigen) ein ausschließlicher Grund zum Dank, und es ist gewiß niemand im Hause, der nicht teilnehmend mitfühlen würde, wenn dem Prinzipal ein Unglück zustößt. Ihr glaubt doch nicht, daß in einem solchem Falle irgend jemand hier gleichgültig bleiben könnte?«

»Ja, Ihr habt guten Grund, an ihn gefesselt zu sein!« sagte der Geschäftsführer verächtlich. »Seht Ihr denn nicht ein, daß man Euch nur hier behält als ein wohlfeiles, glänzendes Beispiel der Milde von Dombey und Sohn, das die Ehre des erlauchten Hauses ausposaunen soll?«

»Nein«, versetzte sein Bruder mild. »Ich habe stets geglaubt, daß ich aus wohlwollenderen, uneigennützigeren Gründen hierbehalten wurde.«

»Wie ich bemerkte«, sagte der Geschäftsführer mit dem Pfauchen einer Tigerkatze, »wart Ihr im Zuge, irgendeinen christlichen Spruch vorzubringen.«

»Nein, James«, entgegnete der andere; »aber obschon das brüderliche Band längst zwischen uns zerbrochen und abgelöst ist –«

»Wer zerbrach es, mein guter Sir?« fragte der Geschäftsführer.

»Ich, durch mein schlechtes Benehmen. Euch mache ich daher keinen Vorwurf.«

Der Geschäftsführer erwiderte mit derselben stummen Tätigkeit seines wohlbewehrten Mundes, »o, Ihr macht mir keinen Vorwurf!« und hieß ihn weiter sprechen.

»Ich sage, obgleich kein solches Band mehr zwischen uns besteht, so bitte ich Euch doch flehentlich, mich nicht mit unnötigem Hohn anzugreifen, oder das, was ich spreche oder sprechen will, falsch zu deuten. Ich wollte nur bemerken, daß Ihr im Irrtum seid, wenn Ihr glaubt, bloß Ihr nähmet Rücksicht auf sein Wohl und seinen Ruf, weil Ihr um Eurer Treue willen vor allen andern so hoch in Mr. Dombeys Vertrauen steht, mit ihm fast auf dem Fuße der Gleichheit umgeht und von ihm bereichert worden seid. Ja, ich glaube aufrichtig, daß von Euch herab bis zum Niedrigsten niemand sich im Haus befindet, der nicht warme Teilnahme fühlt für das Wohlergehen des Prinzipals.«

»Ihr lügt!« rief der Geschäftsführer, den eine plötzliche Zornglut überflog. »Ihr seid ein Heuchler, John Carter, und lügt!«

»James!« entgegnete der andere, gleichfalls tief errötend. »Wie muß ich diese beschimpfenden Worte nehmen? Warum behandelt Ihr mich in so schnöder Weise, ohne daß ich Euch Anlaß dazu gab?«

»Ich will Euch nur sagen«, erwiderte der Geschäftsführer, »daß mir Eure Heuchelei und Demut – alle Heuchelei und Demut an diesem Platze nicht so viel gilt«, er schnippte dabei mit den Fingern. »Ich durchschaue sie, als ob sie Luft wäre! Es ist niemand zwischen mir und dem Geringsten an diesem Platze (Ihr habt guten Grund, Euch um den letzteren so anzunehmen, da er nicht fern ist), den es nicht von Herzen freuen würde, seinen Herrn gedemütigt zu sehen – der ihn nicht im geheimen haßte – der ihm nicht lieber Schlimmes als Gutes wünschte – und der ihm nicht zuwiderhandelte, wenn er die Macht und den Mut dazu hätte. Je näher seiner Gunst, desto näher seiner Unverschämtheit – je näher an ihm, desto weiter von ihm ab. Das ist hier das Glaubensbekenntnis.«

»Ich weiß nicht«, versetzte sein Bruder, dessen Unwille bald der Überraschung gewichen war, »wer Euch mit solchen Darstellungen behelligt haben mag, oder warum Ihr gerade mich und nicht lieber einen andern wählen mußtet, um ihre Wirkung zu versuchen. So viel sehe ich ein, daß Ihr mich auf die Probe stellen wolltet. Euer Wesen und Aussehen ist ganz anders, als ich es je an Euch bemerkte. Indes muß ich Euch noch einmal sagen, daß Ihr getäuscht seid.«

»Das weiß ich«, entgegnete der Geschäftsführer, »und habe es Euch gesagt.«

»Nicht durch mich«, erwiderte sein Bruder – »durch Euren Angeber, wenn ein solcher vorhanden ist, – wo nicht, durch Eure Gedanken und durch Euren Argwohn.«

»Ich habe keinen Argwohn«, sagte der Geschäftsführer, »sondern Gewißheit. Ihr hasenherzigen, verächtlichen, kriechenden Hunde! Alle stellen sich in der gleichen Weise an, alle leiern das nämliche Lied, alle winseln dieselben Beteuerungen her, und alle bergen das nämliche durchsichtige Geheimnis in ihrem Innern.«

Sein Bruder entfernte sich, ohne weiter zu sprechen, und drückte die Tür hinter sich zu. Mr. Carker, der Geschäftsführer, brachte einen Stuhl dicht vor das Feuer und fing an, mit dem Schüreisen sanft auf die Kohlen loszuschlagen.

»Die feigen, wedelnden Schufte«, murmelte et, und seine beiden glänzenden Zahnreihen entblößten sich. »Es ist keiner unter ihnen, der nicht dergleichen täte, als fühle er sich ebenso erschüttert und beleidigt! Pah! Und doch würde jeder, wenn er einmal die Macht, den Verstand und den Mut dazu hätte, Dombeys Stolz so schonungslos in den Staub legen, wie ich hier diese Asche auseinander breite.«

Er fuhr mit einem gedankenvollen Lächeln in diesem Geschäft fort.

»Noch dazu, ohne daß ihm dieselbe Königin winkte!« fügte er plötzlich hinzu: »und wohlgemerkt, es ist Stolz da, wie wir aus eigener Erfahrung wissen!«

Er versank in ein noch tieferes Brüten und blieb vor dem Kamin sitzen, bis die Funken nahezu erstorben waren; dann stand er gleich einem Manne auf, der sich in ein Buch vertieft hat, schaute umher, nahm Hut und Handschuhe auf, begab sich nach dem Platz, wo sein Pferd wartete, bestieg dasselbe und ritt in den nächsten Straßen weiter; denn es war Abend.

Er ritt in die Nähe von Mr. Dombeys Haus, wo er sein Tier im Schritt gehen ließ und nach den Fenstern hinaufschaute. Das Fenster, wo er vordem Florence mit ihrem Hund hatte sitzen sehen, fesselte zuerst seine Aufmerksamkeit, obschon es nicht erhellt war; dann ließ er seine Blicke lächelnd an der hohen Vorderseite des Hauses hingleiten, als sei er längst weg über den früheren Gegenstand.

»Es gab eine Zeit«, sagte er, »in der es sich schon der Mühe verlohnte, sogar über deinem aufgehenden kleinen Stern zu wachen und sich nach der Richtung der Wolken umzusehen, um dich im Notfall damit zu beschatten. Aber ein Planet ist aufgestiegen, und in seinem Licht verschwindet das deine.«

Er lenkte das weißbeinige Pferd um die Straßenecke und suchte an der Hinterseite des Hauses ein anderes Fenster auf, das erhellt war. Es knüpfte sich daran die Erinnerung an eine gewisse stattliche Person, an eine mit dem Handschuh bedeckte Hand, an die Schwungfedern eines schönen Vogels, die auf dem Boden umhergestreut worden, und an das Beben des leichten, weißen Schwanenflaums, als ahne derselbe einen fernen Sturm. Mit solchen Vorstellungen erfüllt, wandte er sich wieder ab und ritt raschen Trabs durch die dunkler werdenden verlassenen Parke.

Verhängnisvolle Wahrheit, – seine Gedanken galten einer Frau, einer stolzen Frau, die ihn haßte, die aber durch seine Schlauheit und durch ihren eigenen gekränkten Stolz langsam und sicher dazu verleitet worden war, seine Gesellschaft zu dulden und ihn mehr und mehr als einen Mann zu empfangen, der das Vorrecht hatte, mit ihr von ihrer trotzigen Mißachtung des Gatten und ihrer Rücksichtslosigkeit für sich selbst zu sprechen. Sie galten einer Frau, die ihn aus tiefster Seele haßte, – die ihn kannte und Mißtrauen in ihn setzte, weil sie ihn und er sie kannte, aber gleichwohl durch ihre wilde Rachsucht sich bewegen ließ, zu gestatten, daß er ihr mit jedem Tage näher kam, ungeachtet des Hasses, den sie gegen ihn hegte.

Ungeachtet desselben? Nein, gerade deswegen; denn auf dem Grunde – zu weit unten, als daß ihr drohendes Auge es hätte erfassen können, obschon sie es in unbestimmten Zügen sah – lag die düstere Vergeltung, deren leisester Schatten – einmal und nie wieder unter Schaudern bemerkt – zugereicht haben würde, ihre Seele zu beflecken.

Umspukte ihn das Phantom eines solchen Weibes auf seinem Wege – der Wirklichkeit getreu und von ihm erkannt?

Ja. Er sah sie in seinem Geiste gerade so, wie sie war. Sie leistete ihm Gesellschaft mit ihrem Stolz, ihrer Rachsucht und ihrem Haß, alles ihm so deutlich wie ihre Schönheit, aber nichts deutlicher als ihr Haß gegen ihn. Er sah sie bisweilen stolz und abstoßend an seiner Seite, bisweilen aber unter den Hufen seines Pferdes, gefallen und im Staube. Doch stets sah er sie, wie sie war, ohne Maske, und bewachte sie auf dem gefährlichen Wege, den sie ging.

Nachdem er seinen Ritt beendigt und sich umgekleidet hatte, kam er mit gesenktem Haupte, weicher Stimme und beschwichtigendem Lächeln in das Licht ihres prächtigen Zimmers. Auch jetzt sah er sie noch ebenso deutlich. Er argwöhnte sogar das Geheimnis der Hand in dem Handschuh, und hielt sie um dieses Verdachtes willen nur um so länger in der seinen. Auf dem gefährlichen Pfade, den sie ging, war auch er, und sie ließ keine Spur ihres Fußes zurück, ohne daß er sogleich seinen eigenen darauf setzte.

Siebenundvierzigstes Kapitel.


Siebenundvierzigstes Kapitel.

Der Donnerschlag

Die Schranke zwischen Mr. Dombey und seiner Gattin wurde durch die Zeit nicht geringer. Unglücklich in ihrem Innern und durch einander, durch kein Band zusammengeknüpft, als durch die Kette, die gegenseitig ihre Hände fesselte, und an der sie so mächtig zerrten, daß sie bis auf den Knochen schnitt, war die Zeit, diese Trösterin im Leid, diese Beschwichtigerin der Leidenschaft, außerstande, dem schlecht zusammenpassenden Paare zu helfen. Ihr Stolz, wie verschieden er auch der Art und dem Gegenstand nach war, blieb stets in der gleichen Höhe, so daß in dem gegenseitigen kieselharten Zusammenprallen Funken aufflogen, die je nach den Umständen still fortglosteten oder in helle Lohe ausbrachen, stets aber alles in ihrem wechselseitigen Bereich niederbrannten und den Weg ihrer Ehe zu einem Aschenpfad machten.

Laßt uns gerecht gegen ihn sein. In der ungeheuerlichen Verblendung seines Lebens, die sich mit jedem Sandkorn im Stundenglase steigerte, drängte er sie vorwärts, ohne daß er sich einfallen ließ, wohin, oder auf die dazu gewählten Mittel Rücksicht nahm; aber dennoch blieb sein Gefühl gegen sie stets das gleiche wie im Anfang. Es haftete an ihr die große Verschuldung, der Anerkennung seines gewaltigen Einflusses und ihrer völligen Unterwerfung unter denselben einen unerklärlichen Widerspruch entgegenzusetzen, und insoweit war es nötig, sie zu bessern und zur Besinnung zu bringen; aber anderseits sah er in seiner kalten Weise in ihr noch immer eine Dame, die, wenn sie wollte, imstande war, seiner Wahl und seinem Namen Ehre zu machen, so daß er sich auf ihren Besitz etwas zugute tun konnte.

Sie dagegen richtete von jener Nacht an, als sie die Schatten an der Wand betrachtend dasaß, bis zu der schnell kommenden tieferen Nacht, mit der ganzen Stärke leidenschaftlichen, stolzen Rachegefühls täglich und stündlich ihren düsteren Blick auf eine einzige Gestalt, die mit Demütigungen aller Art darauf antwortete, und diese Gestalt war die ihres Gatten.

Kann man wohl den Hauptmangel, der so unerbittlich Mr. Dombey beherrschte, einen unnatürlichen Charakterzug nennen? Es dürfte bisweilen der Mühe wert sein, zu fragen, was die Natur ist, wie die Menschen arbeiten, um sie umzuwandeln, und ob bei den hierdurch veranlaßten Verzerrungen das Unnatürlichsein nicht als natürlich erscheint. Man bringe was immer für einen Sohn oder Tochter unserer mächtigen Mutter in eine enge Sphäre, knüpfe sie fest an eine einzige Idee, die man durch kriechende Unterwerfung von seiten der kleinen, schüchternen oder arglistigen Umgebung nährt, und was wird die Natur sein für den freiwilligen Gefangenen, der sich nie mit den Fittichen eines freien Geistes aufgeschwungen hat? Sicher vermag er bald nicht mehr, sie im Lichte ihrer umfassenden Wahrheit zu erkennen!

Ach, gibt es denn so wenige Dinge in unserer nächsten Umgebung, die ganz natürlich höchst unnatürlich sind? Höre man die Ermahnungen der Richter und Magistratspersonen an die unnatürlichen Auswürflinge der Gesellschaft – unnatürlich in ihren tierischen Gewohnheiten, unnatürlich in ihrem Mangel an Anstand, unnatürlich in dem Mangel an Erkenntnis des Guten und Bösen, unnatürlich in Unwissenheit, Laster, Leichtsinn, Schande, Geist, Miene und allem. Folge man nur dem wackeren Geistlichen oder Arzt, der, mit jedem Atemzug sein Leben gefährdend, in ihre Höhlen geht, in denen man den Widerhall von dem Rasseln unserer Prachtwagen und den täglichen Tritt der Menschen auf dem Straßenpflaster hört. Seht Euch um in der Welt voll häßlicher Anblicke – Millionen unsterblicher Wesen haben auf Erden keine andere Welt –, bei deren leisester Erwähnung schon die Menschheit sich empört und die ekle Verfeinerung in der nächsten Straße sich die Ohren verstopft; seht Euch um in ihr und sprecht: »Ich glaube es nicht.« Atmet die befleckte Luft, angefüllt mit jeder Unreinigkeit, die die Gesundheit und das Leben vergiftet; denkt Euch jeden Sinn, der unserem Geschlecht zum Glück und zur Freude geschenkt wurde, aufs abscheulichste beleidigt und zu einem Kanal umgewandelt, durch den nur Elend und Tod eintreten kann. Macht den vergeblichen Versuch, Euch eine einfache Pflanze, eine Blume oder ein gesundes Gewächs zu denken, die, in ein so häßliches Beet versetzt, ihren natürlichen Wuchs haben oder ihre Blätter der Sonne zuwenden könnten, wie es Gott beabsichtigt hat. Und dann ruft irgendein leichenhaft aussehendes Kind mit verkümmerter Gestalt und boshaftem Gesicht auf, haltet ihm seine unnatürliche Sündigkeit vor und beklagt, daß es in seiner frühen Jugend schon so weit abgekommen ist vom Himmel – denkt aber auch ein wenig daran, daß es in einer Hölle gezeugt, geboren und erzogen wurde.

Diejenigen, die die physikalischen Wissenschaften in ihrem Verhältnis zur Gesundheit des Menschen zu erforschen bemüht sind, sagen uns, wenn die schädlichen Teilchen, die aus einer verdorbenen Luft aufsteigen, dem Gesicht erkennbar wären, so würden wir sie über solchen Schlupfwinkeln in dichten schwarzen Wolken schweben sehen, die langsam weiterrollen, um auch die besseren Teile der Stadt in ihr Bereich zu ziehen. Aber wenn die moralische Pest, die sich mit ihnen hebt und nach den ewigen Gesetzen der beleidigten Natur von ihnen unzertrennlich ist, gleichfalls dem Auge zugänglich wäre, welche Schrecken müßten sich da nicht offenbaren? Wir würden sittliche Verderbnis, Gottlosigkeit, Trunksucht, Diebstahl, Mord und eine lange Reihe namenloser, gegen die Statur verstoßender Sünden über den unglücklichen Plätzen hängen und sich weiterverbreiten sehen, um die Unschuldigen in ihre feindselige Atmosphäre zu ziehen und auch unter die Reinen Ansteckung zu bringen. Wir würden sehen, wie dieselben vergifteten Quellen, die in unsern Spitälern und Lazaretten springen, die Gefängnisse unter Wasser setzen, die Deportationsschiffe fast zum Versinken bringen, ihre Wellen über die Meere hin entsenden und ungeheure Kontinente mit Verbrechen überfluten. Mit Entsetzen würden wir erfahren, daß wir, wo wir Krankheiten aufkommen lassen, die unsere Kinder wegraffen und sich sogar an ungeborene Geschlechter anheften, durch denselben Prozeß auch eine Kindheit heranziehen, die keine Unschuld kennt, eine Jugend ohne Bescheidenheit oder Scham, eine Reife, die in nichts reif ist als in Leiden und Schuld, und ein hohes Alter, das zur Schmähschrift wird auf die Gestalt, die wir tragen. Eine unnatürliche Menschheit! Wenn wir Trauben sammeln von Dornen und Feigen von den Disteln – wenn der Kehricht an den Straßen unserer verderbten Städte sich zu Getreidefeldern umwandelt und in den von Elend gemästeten Kirchhöfen Rosen aufblühen, dann mögen wir uns auch nach einer natürlichen Menschheit umsehen und ihr Gedeihen nach solch einer Saat erwarten.

O daß doch ein guter Geist mit mächtigerer und wohlwollenderer Hand als der lahme Dämon im Märchen, die Hausgiebel abnehmen und einem christlichen Volke zeigen könnte, welch schwarze Gestalten von solchen Herden aufsteigen, um das Gefolge des langsam weiterschreitenden Zerstörungsengels anzuschwellen! Könnten wir nur eine einzige Nacht die blassen Gespenster der Szenen sehen, die von uns zu lang vernachlässigt wurden, um dann mit der dicken, schweren Luft, in welcher Verbrechen und Fieber sich fortpflanzen, der schrecklichen Wiedervergeltung Einhalt zu tun, die stets von solchen Plätzen ausströmt und immer qualmender herankommt! Wie heiter und gesegnet müßte der Morgen nach einer solchen Nacht sein; denn die Menschen – nicht mehr durch selbstgeschaffene Hemmnisse aufgehalten, die nur Staubflecken sind auf dem Pfade zwischen ihnen und der Ewigkeit – würden als Geschöpfe einer gemeinsamen Abkunft, die dem Vater einer einzigen Familie dieselbe Pflicht schulden und nach dem gleichen gemeinsamen Ziele ringen, sich dann bemühen, die Welt zu einem besseren Aufenthalt zu machen!

Nicht weniger heiter und gesegnet würde der Tag sein, weil er in einigen, die nie hinausgeblickt haben auf die sie umgebende Welt von Menschenleben, das Bewußtsein ihrer eigenen Beziehung zu ihr weckte und sie in ihren engherzigen Sympathien und Ansichten eine Verkehrtheit der Natur erkennen ließe, die ebenso groß und, wenn ihre Entwicklung einmal angefangen hat, in ihrem Fortschreiten ebenso natürlich ist wie ihre niedrigste Abstufung.

Aber für Mr. Dombey oder seine Gattin, und für den Pfad, den jeder von ihnen eingeschlagen hatte, war nie ein solcher Tag aufgedämmert. Sechs Monate lang nach Mr. Dombeys Sturz mit seinem Pferde blieben sie stets in dem gleichen gegenseitigen Verhältnis. Ein Marmorfels hätte ihm nicht starrer im Wege liegen können als sie, während er so eisig kalt blieb wie die Quelle, die, nie von einem Lichtstrahle erheitert, in den Tiefen einer tiefen Höhle sprudelt.

Die Hoffnung, die in Florence sich regte, als ihr die Aussicht auf eine neue Heimat dämmerte, war jetzt ganz aus ihrer Seele gewichen. Diese Heimat war jetzt beinahe zwei Jahre alt, und sogar ihr geduldiges Vertrauen konnte nicht standhalten gegen den täglichen Mehltau einer solchen Erfahrung. Wenn sie auch im geheimen noch einem leisen Gedanken Raum gab, Edith und ihr Vater könnten vielleicht in einer fernen Zeit miteinander glücklich leben, so war jetzt jeder Funke von Hoffnung erstorben, daß ihr Vater je sie selbst lieben würde. Der kleine Zeitraum, in dem sie sich vorgestellt hatte, er sei etwas milder gegen sie geworden, geriet durch den Hinblick auf seine Kälte vor- und nachher in Vergessenheit, oder erschien ihr nur noch in dem Lichte einer schmerzlichen Selbsttäuschung.

Florence liebte ihn noch, war aber dabei allmählich so weit gekommen, daß sie sich bei ihrem Lieben nicht in der kalten Wirklichkeit, die vor ihren Augen stand, sondern als etwas vorstellte, was der Vergangenheit angehörte oder doch hätte gewesen sein können. Etwas von der milden Trauer, mit der sie das Andenken an den kleinen Paul oder an ihre Mutter liebte, schien sich in ihre Gedanken an ihn zu mischen und sie sozusagen zu einer teuren Erinnerung zu machen. Lag der Grund darin, daß er für sie tot war, oder teilweise in seiner Beziehung zu früheren Gegenständen ihrer Liebe und in dem Rückblick auf die lang genährten zärtlichen Hoffnungen, die durch ihn vernichtet worden waren? – Sie wußte es nicht; aber der Vater, den sie liebte, begann für sie eine unbestimmte träumerische Idee zu werden, die kaum wesenhafter mit ihrem wirklichen Leben verkettet war als das Bild, das sie sich bisweilen von ihrem Bruder heraufbeschwor, indem sie sich dachte, er sei noch am Leben, wachse zu einem Manne heran und werde sie liebevoll beschützen.

Dieser Wechsel, wenn man ihn so nennen kann, hatte sie beschlichen, wie der Übergang vom Kind zur Jungfrau, in dessen Gefolge er gekommen. Florence war fast siebzehn, als sie bei ihrem einsamen Grübeln sich dieser Gedanken bewußt wurde.

Sie war jetzt allein, denn auch in ihrem Verhältnis zu ihrer Mama war vieles anders geworden. Nach dem Unfall ihres Vaters, als dieser in seinem Zimmer unten lag, bemerkte Florence zum erstenmal, daß Edith ihr auswich. Verletzt und erschüttert, aber doch nicht imstande, diese Gefühle mit ihrer Liebe in Einklang zu bringen, suchte sie eines Abends wieder einmal ihre Mutter in ihrem Zimmer auf.

»Mama«, sagte Florence, leise an ihre Seite tretend, »habe ich Euch etwas zuleide getan?«

»Nein«, lautete Ediths Antwort.

»Und doch muß ich etwas Unrechtes begangen haben«, entgegnete Florence. »Sagt mir, worin es besteht. Ihr seid so ganz anders gegen mich geworden, liebe Mama. Ich kann Euch nicht beschreiben, wie schnell ich auch nur den mindesten Wechsel fühle, denn ich liebe Euch aus ganzer Seele.«

»Und ich dich auch«, sagte Edith. »Ach, Florence, glaube mir, ich liebte dich nie mehr als gerade jetzt!«

»Warum weicht Ihr mir so oft aus und haltet Euch fern von mir?« fragte Florence. »Und warum seht Ihr mich bisweilen so seltsam an, liebe Mama? Ihr wißt doch selbst, daß Ihr es tut?«

Edith deutete mit ihren dunkeln Augen eine Bejahung an.

»Warum«, entgegnete Florence bittend – »ach, sagt mir, warum, damit ich weiß, wie ich’s anfangen muß, um Euch besser zu gefallen. Sagt es mir, und ich werde gewiß allen weiteren Anlaß vermeiden.«

»Meine Florence«, versetzte Edith, indem sie die Hand ergriff, die ihren Nacken umschlungen hielt, und in die so liebevoll zu ihr aufschauenden Augen blickte, während Florence vor ihr auf dem Boden kniete, »warum es so ist, kann ich dir nicht sagen, da es nicht für deine Ohren paßt. Genug, daß ich weiß, es muß so sein. Glaubst du, ich würde es tun, wenn es nicht der Fall wäre?«

»Sollen denn wir einander fremd werden, Mama?« fragte Florence, erschrocken zu ihr aufblickend.

Ediths stumme Lippen bildeten ein »Ja«.

Florence blickte sie mit zunehmender Furcht und Verwunderung an, bis sie unter den sie blendenden Tränen, die auf ihre Wangen niederfielen, nichts mehr sehen konnte.

»Florence! mein Leben!« sagte Edith hastig, »höre mich an. Ich kann es nicht ertragen, dich so bekümmert zu sehen. Beruhige dich. Du siehst, ich bin gefaßt – und meinst du, die Aufgabe werde mir so leicht?«

Bei den letzteren Worten nahm sie ihre gewöhnliche Festigkeit in Ton und Wesen wieder an und fügte dann hastig hinzu:

»Nicht ganz fremd, Nur teilweise – und auch dies nur zum Schein, Florence, denn in meinem Innern bin ich noch immer dieselbe gegen dich und werde es stets sein. Was ich tue, geschieht nicht um meinetwillen.«

»Etwa um meinetwillen, Mama?« fragte Florence.

»Es ist genug, zu wissen, daß es so ist«, antwortete Edith nach einer Pause. »An dem Warum liegt nicht viel. Liebe Florence, es ist besser – es ist notwendig, daß wir weniger häufig miteinander verkehren. Die Vertraulichkeit, die zwischen uns stattgefunden hat, muß abgebrochen werden.«

»Wann?« rief Florence. »O, Mama, wann?«

»Jetzt«, versetzte Edith.

»Für alle künftige Zeit?« fragte Florence.

»Ich will das nicht sagen«, antwortete Edith, »weiß es aber selbst noch nicht. Ebensowenig will ich behaupten, daß eine Freundschaft zwischen uns im besten Falle nur eine unpassende, unheilige Verbindung sei, von der ich hätte vorauswissen können, daß sie zu nichts Gutem führe. Mein Weg hier ging auf Pfaden, die du nie betreten wirst, und welches Ende ihm bevorsteht – Gott weiß es –, mir ist es noch dunkel –.«

Ihre Stimme erstarb in einem Schweigen, und wie sie so dasaß, schauderte sie fast vor Florence zurück, während sie ihr den nämlichen seltsamen, scheuen Blick zuwarf, den das Mädchen schon früher an ihr bemerkt hatte. Dann stürmte derselbe düstere Stolz und Zorn über ihre Züge hin, gleich einer zürnenden Hand über die Saiten einer wild ertönenden Harfe. Keine Weichheit, keine Milde folgte darauf. Sie senkte jetzt nicht weinend ihr Haupt und sagte, daß sie keine Hoffnung habe als in Florence, sondern hielt es aufrecht wie eine schöne Meduse, als wolle sie ihn Angesicht gegen Angesicht in Stein verwandeln. Ja, und sie würde es getan haben, wenn sie diesen Zauber besessen hätte.

»Mama«, sagte Florence ängstlich, »es ist eine Veränderung in Euch vorgegangen, größer, als Ihr mir sagt, und ich erschrecke darüber. Laßt mich ein wenig bei Euch bleiben.«

»Nein«, entgegnete Edith, »nein, meine Liebe. Es ist am besten, wenn ich jetzt allein bleibe – auch am besten für dich, wenn namentlich du dich fern von mir hältst. Stelle keine Fragen an mich und glaube nur, – wenn ich, was auch kommen mag, wankelmütig und launenhaft gegen dich erscheine, so geschieht dies nicht mit Absicht und gegen meinen Willen. Obgleich wir jetzt fremder gegeneinander sein müssen, als wir waren, so vertraue darauf, daß mein Inneres gegen dich unverändert ist. Vergib mir, daß ich je deine freudelose Heimat getrübt habe – ich weiß es wohl, ich bin ein Schatten darauf – und laß uns nie wieder davon sprechen.«

»Mama«, schluchzte Florence, »wir sollen uns doch nicht trennen?«

»Damit dies nicht geschehe, müssen wir so handeln«, sagte Edith. »Frage nicht weiter. Geh‘ jetzt, Florence! Meine Liebe und mein Schmerz begleiten dich.«

Sie entließ Florence mit einer Umarmung und sah der sich Entfernenden mit einem Blick nach, als weiche in der lieblichen Gestalt ihr guter Engel von ihr, um sie den stolzen, zürnenden Leidenschaften zu überlassen, die sich ihrer bemächtigt und ihr Siegel auf ihre Stirne gedrückt hatten.

Von dieser Stunde waren Florence und Edith einander nie mehr, was sie sich gewesen. Es vergingen Tage, ohne daß sie anders als bei Tisch und in Mr. Dombeys Gegenwart zusammentrafen. Edith saß dann gebieterisch, stumm und unbeugsam da, ohne nur nach ihr hinzusehen.

Nahm Mr. Carker an dem Mahl teil, was im Laufe von Mr. Dombeys Genesung und nachher oft geschah, so benahm sie sich sogar noch abgemessener gegen das arme Mädchen als zu anderen Zeiten. Trafen sie sich aber allein, so schlang sie Florence ebenso liebevoll in ihre Arme wie vordem, obschon nicht mit demselben Milderwerden ihres stolzen Aussehens, und oft, wenn sie spät nach Hause gekommen war, konnte sie wie früher im Dunkeln sich nach ihrem Zimmer hinaufstehlen, um über ihrem Pfühl ein »gute Nacht« zu flüstern. Florence, die in ihrem Schlummer nichts von solchen Besuchen ahnte, erwachte bei diesen leisen Worten zuweilen wie aus einem Traum, und es war ihr, als fühle sie ihr Gesicht von Lippen berührt. Doch kam dies im Laufe der Monate weniger und weniger häufig vor.

Und nun begann die Leere in Florences Herzen abermals eine Öde um sie her zu breiten. Wie das Bild ihres Vaters, den sie liebte, unbewußt zu einem bloßen Gedanken geworden war, so verblich auch Edith, das Schicksal aller übrigen teilend, an die sich ihre Liebe gekettet hatte, mit jedem Tage mehr in der Entfernung. Ganz allmählich wich sie von Florence zurück, gleich dem entschwindenden Geiste dessen, was sie gewesen; allmählich schien die Kluft zwischen ihnen weiter und tiefer zu werden; allmählich erstarrte die Innigkeit, die sie an den Tag gelegt hatte, mehr und mehr in dem kecken, zornigen Trotz, mit dem sie, ohne daß Florence eine Ahnung davon hatte, sich dem Rande eines tiefen Abgrunds näherte und in denselben niederschaute. Der schwere Verlust, den Florence in Edith erlitten, wurde nur durch eine einzige Rücksicht gemildert, und obschon ihr schwer belastetes Herz nicht viele Beruhigung darin fand, so versuchte sie doch, sich zu überreden, daß einiger Trost für sie darin liege. Nicht länger in ihrer Zuneigung und ihrem Pflichtgefühl gegen die Eltern geteilt, konnte sie jetzt beide lieben, ohne einem davon unrecht zu tun. Waren sie doch nur Schatten in ihrer warmen Einbildungskraft, und sie konnte ihnen in ihrem Herzen einen gleichen Platz anweisen, ohne daß sie zweifelhaft an ihr werden mußten.

Sie versuchte es so. Bisweilen, ja sogar oft konnten sich ihr verwunderte Mutmaßungen über den Grund zu Ediths verändertem Benehmen aufdrängen und ihr Schrecken einflößen; doch fand sie in der Ruhe ihrer Einsamkeit und ihres stummen Grams nicht Raum zu nachhaltigem Grübeln. Genügte es ja an der Erinnerung, daß der Stern ihrer Hoffnung von dem allgemeinen Düster, das über dem Hause hing, umwölkt war, und sie ergab sich darein mit Tränen.

In einem solchen Traumleben, in dem die überströmende Liebe ihres jungen Herzens sich an luftigen Gestalten erschöpfte, während sie in der wirklichen Welt nicht viel anderes erfuhr, als das Aufsichselbstzurückschlagen der gewaltigen Flut, wurde Florence siebzehn. Die Einsamkeit hatte sie zwar schüchtern gemacht, aber ihr sanftes Gemüt und die Innigkeit ihres Wesens nicht verbittert. In unschuldiger Einfalt ein Kind, in bescheidenem Selbstvertrauen und in der Wärme ihres Herzens eine Jungfrau, schienen diese beiden Eigenschaften sich zugleich als anmutiges Gemisch in ihrem schönen Gesicht und in der Zartheit ihres Körpers auszudrücken, gleichsam als wolle der Frühling nur ungern dem kommenden Sommer Platz machen, dessen Pracht er mit der früheren Schönheit seiner Blüten zu erhöhen suchte. In ihrer ansprechenden Stimme aber, in ihren ruhigen Augen, zuweilen in einem eigentümlichen ätherischen Licht, das auf ihrem Haupte zu ruhen schien, und stets in einem gewissen sinnigen Zug ihrer Schönheit lag ein Ausdruck, wie man ihn an dem toten Knaben gesehen hatte, und der hohe Rat in der Bedientenhalle flüsterte unter Kopfschütteln davon und aß und trank desto mehr in dem engen Bunde guter Kameradschaft.

Die erwähnte achtsame Körperschaft wußte gar viel über Mr. und Mrs. Dombey, namentlich aber über Mr. Carker zu sagen, der augenscheinlich den Vermittler zwischen beiden machen sollte und stets ab- und zuging, als versuche er Frieden zu stiften, obschon es nie gelang. Alle beklagten den unbehaglichen Stand der Angelegenheit und drückten vereint ihre Ansicht dahin aus, Mrs. Pipchin, die im höchsten Grade unpopulär war, habe ihre Hand mit im Spiel; im ganzen übrigens war es angenehm, eine so gute Zielscheibe zu haben, und man ging mit aller Lust auf dieselbe los.

Diejenigen, die im Hause Besuch machten oder die von Mr. und Mrs. Dombey besucht wurden, hielten – jedenfalls sofern der Stolz in Rechnung kam – das Ehepaar für ziemlich gut zusammenpassend und machten sich keine weiteren Gedanken darüber. Die junge Lady mit dem Rücken ließ sich einige Zeit nach Mrs. Skewtons Tode nicht mehr sehen und bemerkte gegen ihre besonderen Freunde mit ihrem gewöhnlichen mädchenhaften Gekreisch, daß sie bei dieser Familie stets an Grabsteine und derartige entsetzliche Dinge denken müsse; als sie aber endlich wieder erschien, bemerkte sie nichts Unrechtes, mit Ausnahme des Umstandes, daß Mr. Dombey einen großen Bündel goldener Petschafte an seiner Uhr trug, der ihr ein abergläubisches Entsetzen einflößte. Diese junge Herzenseroberin war der Ansicht, daß eine Stieftochter schon dem Grundsatz nach verwerflich sei; außerdem hatte sie gegen Florence nichts einzuwenden, als daß es ihr kläglich an »Stil« fehle, womit sie vielleicht »Rücken« sagen wollte. Viele, die nur bei besonders wichtigen Anlässen ins Haus kamen, wußten kaum, wer Florence war, und sagten beim Nachhausegehen:

»Das Mädchen in der Ecke war also Miß Dombey? Recht hübsch, aber so zart und gedankenvoll in ihrem Aussehen!«

Diese übergroße Zartheit wurde durch das Leben, das Florence während der letzten sechs Monate geführt hatte, nicht gemildert, und sie nahm am Abend vor dem zweiten Jahrestage der Vermählung ihres Vaters und Ediths (am ersten hatte Mrs. Skewton ihren Lähmungsanfall erlitten) mit einer Unruhe, die sich bis zur Furcht steigerte, an der Dinertafel Platz. Sie wußte sich eigentlich keinen anderen Grund dafür anzugeben, als das bevorstehende Fest, den Ausdruck in dem Gesicht ihres Vaters, den sie in einem hastigen Hinblick bemerkte, und die Anwesenheit Mr. Carkers, die ihr, obschon stets unangenehm, an diesem Tage bedrückender wurde als je.

Edith war reich gekleidet, denn sie und Mr. Dombey wollten an diesem Abend eine große Gesellschaft besuchen, und das Diner war auf eine späte Stunde bestellt worden. Mrs. Dombey erschien erst, als die übrigen schon Platz genommen hatten, und bei ihrem Eintritt erhob sich Mr. Carker, um sie nach ihrem Stuhl zu führen. So schön und prächtig sie auch war, lag doch in ihrem Gesicht und in ihrer Haltung ein Zug, der sie hoffnungslos von Florence und jedermann sonst zu scheiden schien. Und doch erblickte Florence für einen Moment einen Strahl von Wohlwollen in ihren Augen, der sie den Abstand, der zwischen ihnen stattfand, nur um so bitterer beklagen ließ.

Bei Tisch wurde nur wenig gesprochen, Florence hörte ihren Vater gelegentlich mit Mr. Carker über Geschäftssachen reden, worauf der letztere leise antwortete; aber sie achtete nicht auf das, was sie sagten, und wünschte nur, daß das Diner zu Ende wäre. Nachdem der Nachtisch aufgetragen worden und die Diener sich entfernt hatten, begann Mr. Dombey nach mehrmaligem Räuspern, das auf nichts Gutes deutete:

»Vermutlich wißt Ihr, Mrs. Dombey, daß ich der Haushälterin die kleine Gesellschaft angekündigt hatte, die morgen hier dinieren wird.«

»Ich speise nicht zu Hause«, entgegnete sie.

»Keine große Partie«, fuhr Mr. Dombey fort, indem er tat, als habe er sie nicht gehört; »nur zwölf oder vierzehn. Meine Schwester, Major Bagstock und einige andere, die Euch nur wenig bekannt sind.«

»Ich speise nicht zu Hause«, wiederholte sie.

»Wie zweifelhaften Grund ich auch haben mag, Mrs. Dombey,« sagte Mr. Dombey, majestätisch weitersprechend, als ob keine Silbe von ihr erwidert worden wäre, »den Anlaß eben jetzt in sehr erfreulicher Erinnerung zu tragen, so muß doch in diesen Dingen vor der Welt der Schein bewahrt werden. Wenn Ihr keine Achtung vor Euch selbst habt, Mrs. Dombey–«

»Ich habe keine«, unterbrach ihn Edith.

»Madame«, rief Mr. Dombey, mit der Hand auf den Tisch schlagend, »laßt mich ausreden, wenn ich bitten darf. Ich sage, wenn Ihr keine Achtung vor Euch selbst habt –«

»Und ich sage, daß ich keine habe«, antwortete sie.

Er blickte nach ihr hin; aber das Gesicht, das sie ihm zeigte, würde sich nicht verändert haben, selbst wenn der Tod ihr seinen Blick zugeworfen hätte.

»Carker«, sagte Mr. Dombey, sich mit mehr Ruhe an diesen Gentleman wendend, »da Ihr schon bei früheren Gelegenheiten die Vermittlung zwischen mir und Mrs. Dombey übernahmt, und da ich, soweit ich selbst mit in Beteiligung komme, den Anstand des Lebens wahren möchte, so will ich Euch um die Gefälligkeit bitten, Mrs. Dombey zu unterrichten, wenn sie keine Achtung vor sich selbst habe, so sei der Fall bei mir wenigstens anders, und ich bestehe deshalb auf meiner Maßregel für morgen.«

»Sagt Eurem souveränen Gebieter, Sir«, ergriff Edith das Wort, »daß ich mir die Freiheit nehmen werde, gelegentlich über diesen Gegenstand mit ihm zu sprechen, aber nur unter vier Augen.«

»Mr. Carker, Madame«, sagte ihr Gatte, »kennt den Grund, der mich nötigt, Euch dieses Vorrecht zu verweigern, und hat deshalb nicht nötig, sich mit einem solchen Auftrag zu befassen.«

Er bemerkte während dieser Worte eine Bewegung ihrer Augen und folgte derselben mit den seinen.

»Eure Tochter ist anwesend, Sir«, bemerkte Edith.

»Meine Tochter wird anwesend bleiben«, sagte Mr. Dombey.

Florence, die aufgestanden war, setzte sich wieder und verbarg zitternd ihr Antlitz mit den Händen.

»Meine Tochter, Madame« – begann Mr. Dombey.

Aber Edith fiel ihm mit einer Stimme ins Wort, die zwar nicht heftig, aber doch so klar, nachdrücklich und bestimmt klang, daß man sie in einem Sturm hätte hören können.

»Ich erkläre Euch, daß ich allein mit Euch sprechen will«, sagte sie, »Wenn Ihr nicht wahnsinnig seid, so achtet auf das, was ich sage.«

»Ich habe das Recht, Madame«, entgegnete ihr Gatte, »mit Euch zu sprechen, wann und wo es mir beliebt, und es beliebt mir, dies jetzt und hier zu tun.«

Sie stand auf, als wolle sie das Zimmer verlassen, setzte sich aber wieder nieder, blickte mit der größten äußeren Ruhe nach ihm hin und sagte mit derselben Stimme:

»So tut es!«

»Ich muß Euch zuvörderst bemerken, Madame«, sagte Mr. Dombey, »daß ich in Eurem Benehmen etwas Drohendes finde, das Euch nicht zusteht.«

Sie lachte. Die erschreckten Diamanten zitterten in ihrem Haare. Man kennt Sagen von kostbaren Steinen, die erblaßten, wenn sich ihr Träger in Gefahr befand. Wären diese mit solcher Eigenschaft begabt gewesen, so hätten ihre gefangenen Lichtstrahlen in diesem Augenblicke die Flucht ergriffen und einer trüben Bleifarbe Raum gegeben. Carker hörte mit zur Erde gesenkten Augen zu.

»Was meine Tochter betrifft, Madame«, sagte Mr. Dombey, den Faden seiner Rede wieder aufnehmend, »so ist es keineswegs mit ihrer Pflicht gegen mich unverträglich, wenn sie erfährt, welches Benehmen sie zu vermeiden hat. Ihr gebt ihr in diesem Augenblick eine sehr bezeichnende Probe davon, und ich hoffe, daß sie sich dieselbe zunutzen macht.«

»Ich will Euch nicht unterbrechen«, erwiderte seine Gattin unbeweglich in Blick, Stimme und Haltung, »ich würde nicht aufstehen, mich entfernen oder Euch im Sprechen auch nur eines Wortes hindern, selbst wenn das Zimmer in Flammen stünde.«

Mr. Dombey bewegte seinen Kopf, wie in spöttischem Dank für ihre Aufmerksamkeit, und fuhr fort. Aber nicht mit derselben Fassung wie zuvor, denn Ediths Unruhe in Beziehung auf Florence und ihre Gleichgültigkeit gegen ihn und seinen Tadel wirkten so bitter auf ihn wie eine starrende Wunde.

»Mrs. Dombey«, sagte er, »es wird sich wohl mit der besseren Belehrung meiner Tochter vertragen, wenn sie erfährt, wie sehr ein starrsinniger Charakter zu beklagen und wie nötig dessen Umwandlung ist, besonders da, wo er – ich muß hinzufügen, undankbar – nach Befriedigung des Ehrgeizes und des Interesses sich geltend macht. Ich glaube, diese beiden Punkte haben einigermaßen mitgewirkt, um Euch zu veranlassen, Eure gegenwärtige Stellung an diesem Tische einzunehmen.«

»Nein, ich will nicht aufstehen, will nicht gehen, will Euch an keiner Silbe hindern«, wiederholte sie in derselben Weise wie zuvor, »und wenn das Zimmer in Flammen stünde.«

»Es ist wohl natürlich genug, Mrs. Dombey«, fuhr er fort, »daß Ihr Euch bei so unangenehmen Wahrheiten durch die Anwesenheit von Zuhörern beunruhigt fühlt, obschon ich« – er konnte hier sein wahres Gefühl nicht verhehlen und ebensowenig es seinen Augen verwehren, daß sie nicht einen düsteren Blick nach Florence hinwarfen – »obschon ich gestehen muß, daß ich nicht begreife, wie jemand anders als ich, den sie so nahe angehen, ihnen einen größeren Nachdruck zu verleihen imstande sein sollte. Es mag natürlich genug sein, daß Ihr vor Zeugen nicht gern die Rüge Eures widerspenstigen Charakters anhört, den Ihr nicht bald genug zügeln könnt, den Ihr zügeln müßt, Mrs. Dombey, und den Ihr, wie ich schon vor unserer Vermählung bei mehreren Gelegenheiten mit Zweifel und Mißfallen bemerkte, leider sogar gegen Eure eigene Mutter kundgegeben habt. Doch das Abhilfmittel steht Euch zu Gebot. Ich habe von Anfang an keineswegs vergessen, daß meine Tochter zugegen ist, Mrs. Dombey, muß aber jetzt Euch bitten, nicht zu vergessen, daß morgen mehrere Personen anwesend sein werden, die Ihr mit einiger Rücksicht auf den Schein in anständiger Weise zu empfangen habt.«

»So, ist es nicht genug«, sagte Edith, »daß Ihr wißt, was zwischen Euch und mir vorgegangen; es ist nicht genug, daß dieser Anblick hier« – sie deutete auf Carker, der mit zu Boden gesenkten Augen noch immer zuhörte – »Euch an die Beschimpfungen erinnert, denen Ihr mich aussetztet; es ist nicht genug, daß Ihr jenes Wesen dort seht«, während sie nach Florence hinwies, bemerkte man das erste- und einzigemal ein leichtes Zittern ihrer Hand, »und dabei denkt, was Ihr getan habt, um mir täglich, stündlich und ohne Unterlaß den herbsten Schmerz zu bereiten; es ist nicht genug, daß vor allen andern im Jahr gerade dieser Tag mich erinnern muß an einen Kampf – er ist zwar wohl verdient, obschon ein Mann, wie Ihr seid, keinen Sinn dafür hat –, in dem mir der Tod so wünschenswert gewesen wäre! Ihr fügt zu alledem noch die das Ganze krönende Gemeinheit, daß Ihr sie zur Zeugin macht von der Tiefe, in die ich gefallen bin, während Ihr doch wißt, daß Ihr mich für Ihren Frieden zum Opfer machtet – das einzig edle Gefühl und Interesse meines Lebens –, während Ihr wißt, daß ich um ihretwillen sogar jetzt noch, wenn ich könnte – aber ich kann’s nicht, meine Seele verabscheut Euch zu sehr – mich ganz Eurem Willen unterwerfen und der demütigste Abhängige sein würde, der unter Euch steht.«

Dies war nicht die Art, die Mr. Dombeys Größe gefallen konnte. Ihre Worte riefen das alte Gefühl stärker und ungestümer als je ins Dasein. Abermals zeigte sich ihm sein vernachlässigtes Kind auf dem rauhen Pfade seines Lebens sogar in seiner widerspenstigen Gattin als mächtig, wo er machtlos – als alles, wo er nichts war.

Er wandte sich an Florence, als sei sie die Sprecherin gewesen, und befahl ihr, das Zimmer zu verlassen. Mit verhülltem Antlitz gehorchte sie, indem sie zitternd und weinend sich entfernte.

»Ich begreife den Geist des Widerspruchs, Madame«, sagte Mr. Dombey mit der Glut eines grimmigen Triumphs auf seinem Gesicht, »der Eure Zuneigung in diesen Kanal leitete; aber sie hat keine Erwiderung gefunden, Mrs. Dombey – sie hat keine Erwiderung gefunden!«

»Um so schlimmer für Euch«, antwortete sie, unverändert in ihrer Stimme und in ihrem Wesen. »Ja!« sie wandte sich rasch um, während sie dieses sprach, »was schlimm für mich ist, wird zwanzigmillionenfältig schlimmer für Euch. Faßt dies ins Auge, wenn Ihr auch auf sonst nichts Rücksicht nehmt.«

Der Diamantenbogen, der sich über ihr dunkles Haar breitete, blitzte und funkelte wie eine Sternbrücke. Es war kein Warnzeichen, sonst wäre er trüb und dunkel geworden wie eine befleckte Ehre. Carker saß noch immer da und hörte mit niedergeschlagenen Augen zu.

»Mrs. Dombey«, sagte Mr. Dombey, seine frühere anmaßende Haltung nach Kräften wieder annehmend, »durch ein solches Verhalten werdet Ihr mich nicht versöhnen oder von irgendeinem Vorsatz abbringen.«

»Es ist das einzig Wahre, obschon nur ein matter Ausdruck dessen, was in meinem Innern lebt«, versetzte sie. »Wenn ich übrigens dächte, es könnte Euch versöhnen, so würde ich es unterdrücken, sofern dies menschlicher Anstrengung möglich wäre. Ich werde nichts tun, um was Ihr mich ersucht.«

»Ich bin nicht gewöhnt, zu ersuchen, Mrs. Dombey«, bemerkte er. »Ich befehle.«

»Was auch morgen in Eurem Hause vorgehen wird, ich werde keine Rolle dabei übernehmen, denn ich mag mich zu einer solchen Zeit nicht als die widerspenstige Sklavin, die Ihr gekauft habt, zur Schau stellen lassen. Wenn ich meinen Hochzeitstag feire, will ich ihn als einen Tag der Schmach begehen. Selbstachtung! Schein vor der Welt! Was soll dies mir? Ihr habt alles aufgeboten, um sie für mich zu nichts zu machen, und sie sind wirklich nichts.«

»Carker«, sagte Mr. Dombey mit gefurchter Stirn und nach kurzem Besinnen, »Mrs. Dombey hat alle Rücksichten auf sich und auf mich vergessen und versetzt mich in eine mit meinem Charakter so unverträgliche Stellung, daß ich diesen Stand der Dinge zu einem Schluß bringen muß.«

»So befreit mich von der Kette, durch die ich gefesselt bin«, entgegnete Edith, unbeweglich in Stimme, Blick und Haltung, wie sie es die ganze Zeit über gewesen. »Laßt mich ziehen.«

»Madame!« wiederholte er, »Mrs. Dombey!«

»Erlöst mich! Gebt mir die Freiheit!«

»Madame!« wiederholte er. »Mrs. Dombey!«

»Bedeutet ihm«, sagte Edith, ihr stolzes Gesicht Mr. Carker zukehrend, »daß ich die Scheidung wünsche – daß sie wohl das beste sein werde – daß ich sie ihm empfehle. Sagt ihm, er dürfe dabei seine eigenen Bedingungen machen – sein Reichtum ist nichts für mich –, aber sie könne nicht zu bald stattfinden.«

»Gütiger Himmel, Mrs. Dombey«, sagte ihr Gatte mit größtem Erstaunen, »haltet Ihr es für möglich, daß ich je einem solchen Vorschlag Gehör schenken könnte? Wißt Ihr, wer ich bin, Madame? Wißt Ihr, was ich vertrete? Habt Ihr je von Dombey und Sohn gehört? Die Leute sagen zu lassen, daß Mr. Dombey – Mr. Dombey! – von seiner Frau geschieden worden sei! Gemeines Volk sollte reden dürfen von Mr. Dombey und seinen häuslichen Angelegenheiten! Glaubt Ihr ernstlich, Mrs. Dombey, ich könne je meinen Namen in solcher Weise preisgeben? Bah, bah, Madame! Pfui! Ihr seid abgeschmackt.«

Mr. Dombey lachte hellauf.

Aber nicht wie sie. Besser, sie wäre tot gewesen, als daß sie lachen konnte, wie sie es jetzt tat, während ihr Blick noch immer fest auf ihm haftete. Besser, er wäre tot gewesen, als daß er dasitzen mußte in seiner Großartigkeit, um sie zu hören.

»Nein, Mrs. Dombey«, nahm er wieder auf, »nein, Madame. Eine Scheidung zwischen Euch und mir ist etwas Unmögliches, und ich rate Euch deshalb um so mehr, der Stimme Eures Pflichtgefühls Gehör zu schenken. Und Carker, wie ich gegen Euch bemerken wollte –«

Mr. Carker, der die ganze Zeit dagesessen und zugehört hatte, schlug jetzt seine Augen auf, in denen ein helles, ungewöhnliches Licht blitzte.

»Wie ich Euch bemerken wollte«, wiederholte Mr. Dombey, »ich muß Euch, nun die Sache so weit gekommen ist, bitten, Mrs. Dombey zu belehren, es sei gegen meine Grundsätze, zu gestatten, daß mir irgend jemand in den Weg trete – wer es auch sein mag, Carker – oder zu dulden, daß denjenigen, die mir zur Unterwürfigkeit verpflichtet sind, ein kräftigerer Beweggrund zum Gehorsam vorgehalten werde, als ich bin. Die Art, wie meiner Tochter erwähnt wurde, und der Gebrauch, der im Widerspruch gegen mich von meiner Tochter gemacht wurde, ist unnatürlich. Ob meine Tochter in wirklichem Einvernehmen mit Mrs. Dombey steht, weiß ich nicht, und ich kümmere mich auch nicht darum; aber nach dem, was Mrs. Dombey heute gesagt und was meine Tochter heute angehört hat, möchte ich Euch bitten, Mrs. Dombey mitzuteilen, daß ich, wenn sie fortfährt, dieses Haus in einen Kampfplatz umzuwandeln, dem eigenen Zugeständnisse dieser Dame gemäß, meine Tochter einigermaßen verantwortlich machen und mit meinem strengsten Mißfallen strafen werde, Mrs. Dombey hat gefragt, ob es nicht genug sei, daß sie dies und dies getan habe. Ihr seid wohl so gütig, ihr darauf zu antworten: ›Nein, es ist nicht genug.‹«

»Gestattet mir einen Augenblick«, rief Carker, sich ins Mittel legend. »So peinlich auch im besten Falle meine Lage ist, und wie leid es mir tut, wenn es den Anschein gewinnen sollte, als hege ich eine von der Eurigen verschiedene Meinung« – er wandte sich dabei an Mr. Dombey – »so möchte ich doch fragen, ob es nicht besser wäre, wenn Ihr die Frage der Scheidung noch einmal in Erwägung zöget. Ich weiß, wie wenig sie sich mit Eurer hohen öffentlichen Stellung zu vertragen scheint, und kenne Eure Entschlossenheit, wenn Ihr Mrs. Dombey zu verstehen gebt« – das Licht in seinen Augen flog zu ihr hin, als er die nachstehenden Worte mit der Bestimmtheit ebenso vieler Glocken getrennt vortrug –, »daß nichts Euch je trennen könne, als der Tod. Nichts anderes. Wenn Ihr aber bedenkt, daß Mrs. Dombey, so lange sie in diesem Hause lebt und es, wie Ihr Euch ausdrücktet, zu einem Kampfplatz macht, in diesem Zwist nicht nur ihre Rolle hat, sondern auch (denn ich kenne Eure Entschiedenheit) jeden Tag Miß Dombey darin verflicht, so findet Ihr es doch vielleicht besser, sie vor einer unablässigen Geistesaufregung zu bewahren und ihr das fast unerträgliche Gefühl zu ersparen, daß sie ungerecht gegen jemand anders sei. Gewänne es andernfalls nicht den Anschein – ich will nicht sagen, daß es wirklich so sei –, als wolltet Ihr Mrs. Dombey bei der Erhaltung Eurer hohen und unangreifbaren Stellung zum Opfer bringen?«

Abermals fiel das Licht seiner Augen auf sie, als sie jetzt dastand und mit einem unheimlichen Lächeln auf ihrem Gesicht nach ihrem Gatten hinsah.

»Carker«, versetzte Mr. Dombey mit hochmütigem Stirnerunzeln und in einem Ton, der entscheidend sein sollte, »Ihr verkennt Eure Stellung, wenn Ihr mir über einen solchen Punkt Euren Rat anbietet, und verkennt auch, wie ich erstaunt bemerken muß, mich, indem Ihr mir mit einem derartigen Rat kommt. Ich habe nichts weiter zu sagen.«

»Vielleicht verkanntet Ihr meine Stellung«, sagte Carker, mit einem ungewöhnlichen und unbeschreiblichen Hohn in seiner Miene, »als Ihr mich mit den Aufträgen betrautet, die ich« – mit einer Handbewegung nach Mrs. Dombey hin – »hier auszurichten hatte.«

»Durchaus nicht, Sir, durchaus nicht«, entgegnete der andere hochmütig. »Es war Eure Aufgabe – –«

»Durch meine untergeordnete Persönlichkeit zu Mrs. Dombeys Demütigung beizutragen. Ich vergaß dies. O ja, dies war die wohlverstandene Absicht«, sagte Carker. »Ich bitte um Verzeihung!«

Während er mit einer Haltung von Unterwürfigkeit, die schlecht mit seinen in vollkommen bescheidenem Ton vorgebrachten Worten zusammenstimmte, gegen Mr. Dombey den Kopf verbeugte, drehte er ihn seitwärts gegen sie und entsandte seine spähenden Blicke in diese Richtung.

Besser, ihre Schönheit hätte sich in Häßlichkeit verwandelt und sie wäre tot zusammengesunken, als daß sie dastand mit einem solchen Lächeln auf ihrem Gesicht in der trotzigen Majestät eines gefallenen Geistes. Sie erhob ihre Hand zu dem Juwelen-Diadem, das auf ihrem Kopfe funkelte, riß es mit einem Ungestüm herab, so daß ihr grausam zerrauftes, üppiges schwarzes Haar wirr auf ihre Schultern niederfiel, und schleuderte die Edelsteine auf den Boden. Dann zerrte sie die diamantenen Spangen von ihren Armen, warf sie dem Kopfschmucke nach und zertrat den funkelnden Haufen mit ihren Füßen. Ohne ein Wort, ohne einen Schatten in dem Feuer ihres blitzenden Auges schaute sie, während sie sich nach der Tür hin bewegte, mit demselben unheimlichen Lächeln nach Mr. Dombey hin und verließ das Zimmer.

Florence hatte während ihrer Anwesenheit genug gehört, um daraus die Überzeugung zu gewinnen, daß Edith sie noch liebe, daß sie um ihretwillen gelitten und daß sie in der Stille ihr Opfer gebracht hatte, um nicht den Frieden des ihr teuren Wesens zu stören. Sie verlangte nicht, mit ihr hierüber zu sprechen – konnte es auch nicht, wenn sie dachte, wem sich ihre Mutter entgegengesetzt hatte –, aber sie sehnte sich nach einer einzigen stummen liebevollen Umarmung, um ihr die dankbare Versicherung zu geben, daß sie all dies in tiefster Seele empfand.

Ihr Vater ging an jenem Abend allein aus, und bald nach seiner Entfernung verließ Florence ihr Zimmer, um im Hause umherzuwandeln, ob ihr nicht Edith begegne; aber vergeblich. Letztere befand sich in ihren eigenen Gemächern, und Florence wagte schon lange nicht mehr, dorthin zu gehen, um nicht willkürlich neue Mißhelligkeiten herbeizuführen. Gleichwohl gab Florence der Hoffnung Raum, sie noch zu sehen, bevor sie sich schlafen legte, weshalb sie in dem so prächtigen und doch so traurigen Hause ruhelos die Zimmer durchwandelte.

Sie ging eben durch eine Galerie, die nach der Treppe hinführte und nur bei besonders wichtigen Anlässen beleuchtet wurde, als sie durch die bogenförmige Öffnung die Gestalt eines Mannes auf der entgegengesetzten Stiege herunterkommen sah, In der Furcht, ihrem Vater zu begegnen, machte sie im Dunkeln halt und schaute durch den Bogen in das Licht hinaus. Es war jedoch nicht Mr. Dombey, sondern Carker, der allein herabkam und über das Geländer nach der Halle hinunterschaute. Keine Klingel wurde angezogen, um seine Entfernung zu melden, und auch von den Dienern war niemand in der Nähe. Er stieg ruhig hinab, öffnete selbst die Türe, glitt ruhig hinaus und schloß leise hinter sich zu.

Ihr unüberwindlicher Widerwille gegen diesen Mann und vielleicht auch ihr heimliches Beobachten eines andern, das selbst unter so unschuldigen Umständen ihr wie ein Verbrechen vorkam, ließ sie vom Kopf bis zu den Füßen erzittern. Das Blut schien eiskalt durch ihre Adern zu rinnen, und sobald es ihr möglich war – denn anfangs bannte sie die Furcht an die Stelle – eilte sie hastig nach ihrem Zimmer hinauf, wo sie sich mit ihrem Hunde einschloß. Aber auch da noch fühlte sie ein Frösteln des Schreckens, als ob irgendwo in ihrer Nähe Gefahr lausche. Diese Vorstellung mischte sich in ihre Träume und beunruhigte sie die ganze Nacht. Nach einem unerquicklichen Schlaf stand sie am andern Morgen mit der peinlichen Erinnerung an das häusliche Unglück des gestrigen Tages auf und spähte abermals in allen Zimmern, die sie während der Frühstunden zu öfteren Malen durchwandelte, nach Edith. Diese aber blieb in ihren Gemächern, und Florence sah nichts von ihr. Als sie übrigens erfuhr, das beabsichtigte Diner im Hause sei verschoben worden, so hielt sie es für wahrscheinlich, ihre Mutter werde abends ausgehen, um der besprochenen Einladung Folge zu geben, weshalb sie sich vornahm, zu sehen, ob sie nicht mit ihr auf der Treppe zusammenkommen könne.

Bei Eintritt der Dämmerung hörte sie von dem Zimmer aus, in dem sie absichtlich harrte, einen Fußtritt auf der Treppe, den sie für den ihrer Mutter hielt. Sie eilte hinaus und begegnete ihr auf dem Weg nach ihrem Zimmer.

Florence wollte mit ihren verweinten Augen und ausgestreckten Armen auf sie zugehen; aber wie erschrak sie nicht, als Edith bei ihrem Anblick mit einem Aufschrei zurückwich.

»Komm nicht in meine Nähe!« rief sie. »Bleib zurück! Tritt mir nicht in den Weg!«

»Mama!« sagte Florence.

»Nenne mich nicht mit diesem Namen! Sprich nicht mit mir! Sieh mich nicht an, Florence!« Sie wich zurück, als Florence ihr einen Schritt näher kam, »berühre mich nicht.«

Während Florence wie gebannt dem hageren Gesichte und dem starren Blicke gegenüber stand, bemerkte sie wie in einem Traum, daß Edith ihre Hände über die Augen breitete, am ganzen Leibe schaudernd sich nach der Wand hin duckte, wie ein scheues Tier an ihr vorbeischlich, sich dann wieder aufrichtete und von hinnen floh.

Florence brach auf der Treppe ohnmächtig zusammen und wurde daselbst, wie sie glaubte, von Mrs. Pipchin aufgefunden. Sie kam erst wieder zur Besinnung, als sie auf ihrem Bette lag und die erwähnte Dame mit einigen Dienstboten um sie her stand.

»Wo ist Mama?« war ihre erste Frage.

»Zu einem Diner ausgegangen«, antwortete Mrs. Pipchin.

»Und Papa?«

»Mr. Dombey befindet sich auf seinem Zimmer, Miß Dombey«, sagte Mrs. Pipchin, »und Ihr tut wohl am besten, wenn Ihr jetzt Eure Kleider abnehmt und Euch sogleich zu Bett legt.«

Dies war das Heilmittel dieser weisen Frau gegen alle Beschwerden, namentlich aber gegen Schwermut und Schlaflosigkeit – ein paar Vergehungen, deretwegen viele junge Opfer in den Tagen des Brightoner Kastells oft schon morgens um zehn Uhr nach dem Bett verwiesen worden waren.

Ohne gerade Gehorsam zu versprechen, wohl aber unter dem Vorwande, daß sie völlig ungestört zu sein wünsche, befreite sich Florence, sobald sie konnte, von der fürsorglichen Mrs. Pipchin und ihrer Dienstleute, und nun machte sie sich in ihrer Einsamkeit Gedanken über den Vorgang auf der Treppe – anfangs an dessen Wirklichkeit zweifelnd, dann aber mit Tränen und endlich unter einer unbeschreiblichen Angst, ähnlich derjenigen, von der sie in der Nacht zuvor befallen worden war.

Sie beschloß, nicht zu Bett zu gehen, bis Edith zurückgekehrt wäre, damit sie wenigstens, wenn sie diese auch nicht sprechen könne, die Überzeugung habe, sie sei wohlbehalten zu Hause angelangt. Welche unbestimmte und schattenhafte Furcht sie zu diesem Entschluß bewog, wußte sie selbst nicht, und sie wagte es nicht einmal, daran zu denken. Nur dies fühlte sie, daß ihr schmerzender Kopf oder ihr pochendes Herz keine Ruhe finden konnte, ehe Edith zurück war.

Der Abend wurde zur Nacht und die Mitternacht kam heran; keine Edith.

Florence konnte nicht lesen und fand keinen Augenblick Ruhe. Sie schritt in ihrem Zimmer hin und her, öffnete die Tür, ging in der Treppengalerie draußen auf und ab, sah durchs Fenster in die Nacht hinaus, hörte auf das Sausen des Windes und das Klatschen des Regens, setzte sich nieder, um den Gesichtern im Feuer zuzusehen, stand aufs neue auf und blickte dem Mond nach, der wie ein vom Sturm getriebenes Schiff durch das Wolkenmeer hinflog.

Im Hause hatte sich mit Ausnahme zweier Dienstboten, die unten die Rückkehr ihrer Gebieterin erwarteten, alles zu Bett gelegt.

Ein Uhr. Die Wagen, die in der Ferne rasselten, schlugen eine andere Richtung ein, machten halt oder fuhren vorbei. Die tiefe Stille wurde immer seltener und zuletzt nur noch durch das Getöse des Windes oder des Regens unterbrochen. Zwei Uhr. Keine Edith.

Florences Aufregung steigerte sich. Sie fand weder in ihrem Zimmer, noch in der Galerie draußen Ruhe und schaute abermals in die Nacht hinaus, trübe von den Regentropfen an den Scheiben und von den Tränen in ihren Augen. Welchen Gegensatz bildete nicht das bewegte Treiben am Himmel zu der einsamen Ruhe unten! Drei Uhr! Jedes Fünkchen, das aus dem Feuer sprühte, war mit Schrecken beladen. Noch keine Edith.

Mit immer größerer Aufregung schritt Florence in ihrem Zimmer und auf der Galerie umher oder schaute nach dem Mond hinauf, der ihr jetzt wie ein bleicher Flüchtling vorkam, der von hinnen eilte, um sein schuldiges Gesicht zu verbergen. Vier – fünf Uhr! Noch immer keine Edith!

Aber jetzt regte es sich behutsam im Hause, und Florence fand, daß Mrs. Pipchin von denen, die aufgeblieben, geweckt worden war. Die Haushälterin hatte ihr Bett verlassen und sich nach der Türe Mr. Dombeys begeben. Florence, die sich die Treppe hinunterschlich, um der kommenden Dinge zu harren, sah ihren Vater in seinem Schlafrock heraustreten und zusammenfahren, als er die Kunde vernahm, daß seine Gattin nicht nach Hause zurückgekehrt sei. Er schickte einen Diener nach dem Stall, um nachfragen zu lassen, ob der Kutscher dort sei, und kleidete sich dann hastig an.

Der Diener kehrte eiligst mit dem Kutscher zurück, und dieser erklärte, er sei schon seit zehn Uhr zu Hause und in seinem Bett. Er habe seine Gebieterin nach ihrem alten Hause in Brook Street gefahren, wo sie mit Carker zusammengetroffen sei, –

Florence stand auf derselben Stelle, wo sie ihn hatte herunterkommen sehen. Abermals durchschauerte sie das namenlose Entsetzen jenes Anblicks, und es blieb ihr kaum Besinnung genug, um das, was nun folgte, zu hören und zu verstehen.

– der ihm bedeutet habe, fuhr der Kutscher fort, daß seine Gebieterin zu ihrer Rückkehr des Wagens nicht bedürfe und ihn in entsprechender Weise abfertigte.

Sie sah das Gesicht ihres Vaters leichenblaß werden und hörte ihn rasch und mit bebender Stimme nach Mrs. Dombeys Mädchen fragen. Das ganze Haus geriet in Aufregung; denn sie war im Augenblick herbeigeholt, sah sehr blaß aus und sprach unzusammenhängend.

Sie sagte, sie habe ihre Gebieterin früh ankleiden müssen – volle zwei Stunden früher, ehe sie ausging – und von ihr, wie dies oft geschehen sei, die Abfertigung erhalten, daß ihre Dienste für die Nacht nicht nötig wären. Sie komme eben von den Gemächern ihrer Frau herunter, aber –

»Was aber? was ist dort?« hörte Florence ihren Vater wütend fragen.

Aber das innere Ankleidezimmer sei abgeschlossen und der Schlüssel fort.

Mr. Dombey ergriff eine Kerze, die auf dem Boden brannte – es hatte sie jemand hingestellt und vergessen – und stürmte dann mit solcher Wut die Treppe hinauf, daß Florence in ihrer Furcht kaum Zeit hatte, sich vor ihm zu flüchten, Mit wild ausgebreiteten Händen, wallendem Haar und einem Gesicht, ähnlich dem einer Wahnsinnigen, eilte sie nach ihrem Zimmer zurück, und inzwischen hörte sie ihren Vater die Türe einschlagen.

»Was sah er dort, nachdem die Tür seinem Ungestüm gewichen war? Niemand erfuhr es. Aber in wirrer Masse lagen alle Kostbarkeiten, die sie als seine Gattin getragen, ihre kostbaren Kleider und alles, was sie besessen, auf dem Boden. Dies war das Zimmer, wo er im Spiegel das stolze Gesicht gesehen, das ihm die Türe wies. Dies war das Zimmer, in dem er der eitlen Neugierde Raum gegeben hatte, wie wohl die Gegenstände sich ausnehmen würden, wenn er sie zum nächsten Mal sähe.

Während er die Sachen wieder in die Schubfächer warf und eigentlich in einer Wuthast die Kummoden verschloß, sah er einige Papiere auf dem Tisch liegen. Der Ehevertrag, den er vor der Vermählung abgeschlossen, und ein Brief. Er las, daß sie fort war. Er las das Zeugnis seiner Entehrung. Er las, daß sie sich an dem Jahrestag ihres schmählichen Ehebundes mit dem Manne geflüchtet hatte, den er zu ihrer Demütigung auserlesen. Mit der verwirrten Vorstellung, er könne sie noch an der Stelle finden, nach der sie sich begeben hatte, stürzte er aus dem Zimmer und aus dem Hause, um mit seiner Faust ihr jede Spur von Schönheit aus dem triumphierenden Gesichte zu schlagen. Florence legte, ohne zu wissen, was sie tat, ein Halstuch um und setzte einen Hut auf. Sie träumte von einem Laufen durch alle Straßen, bis sie Edith gefunden habe, um sie dann in ihre Arme zu schlingen, sie zu retten und wieder zurückzuführen. Aber als sie auf die Treppe hinauskam und die erschreckten Diener sah, die mit Lichtern auf und nieder gingen, sich gegenseitig zuflüsterten und vor ihrem herunterkommenden Vater auswichen, erwachte sie zum Bewußtsein ihrer eigenen Machtlosigkeit. Sie verbarg sich in einem der großen Gemächer, die man um eines solchen Endes willen so prächtig ausgestattet hatte, und das Herz wollte ihr brechen vor Gram. Mitleid mit ihrem Vater war die erste bestimmte Regung, die gegen den gewaltigen Strom ihres Schmerzes sich anstemmte.

Ihre treue Seele fühlte sich in seinem Unglück so warm und innig zu ihm hingezogen, als wäre er in seinem Glück die Verkörperung jener Idee gewesen, die allmählich so matt und trübe geworden war. Obgleich sie den Schimpf, der ihn betroffen, nur aus den Einflüsterungen ihrer Furcht zu ermessen vermochte, stand er doch verlassen und gekränkt vor ihr, und ihr liebevolles Sehnen drängte sie an seine Seite. Er blieb nicht lange aus. Florence gab noch unter Tränen in dem großen Zimmer solchen Gedanken Raum, als sie ihn wieder zurückkehren hörte. Er befahl den Dienern, wieder ihren gewöhnlichen Geschäften nachzugehen, und begab sich nach seinem Gemach, in dem er so ungestüm auf und nieder schritt, daß man seine Tritte von einem Ende des Hauses bis zum andern hören konnte.

Noch einmal dem Antrieb ihrer Liebe nachgebend, zu allen andern Zeiten schüchtern, aber kühn in ihrer Treue zu ihm in seiner Widerwärtigkeit und uneingeschüchtert durch frühere Zurückweisung, eilte Florence, angekleidet wie sie war, die Treppe hinunter. Als sie ihren leichten Fuß in die Halle setzte, kam er aus seinem Zimmer heraus. Sie stürzte mit dem Rufe: »O lieber, lieber Papa!« auf ihn zu und breitete die Arme aus, als ob sie seinen Hals umschlingen wollte.

Und sie würde es getan haben. Aber in seiner Wut erhob er seine grausame Faust und ließ sie so schwer auf das Haupt seiner Tochter niederfallen, daß sie auf den Marmorboden hinstürzte; und während er den Streich führte, sagte er ihr, was Edith sei, und gab ihr die Weisung, der Entlaufenen zu folgen, da sie doch immer mit ihr im Bunde gestanden.

Sie sank nicht zu seinen Füßen nieder; sie schloß nicht seinen Anblick mit ihren zitternden Händen aus; sie weinte nicht und sprach keine Silbe des Vorwurfs. Aber sie sah nach ihm hin, und ein Schmerzensruf der Verlassenheit entrang sich ihrem Herzen. Denn mit diesem Blicke sah sie ihn jene teure Vorstellung morden, die sie so lange trotz aller Umstände mit Liebe gehegt hatte. Sie sah, daß seine Grausamkeit und sein Haß den Sieg davontrugen und jenes Bild zu Boden traten. Sie sah, daß sie auf Erden keinen Vater hatte, und flüchtete sich als Waise aus seinem Hause.

Sie floh aus seinem Hause. Ein Augenblick, und ihre Hand war auf der Klinke, der Schrei entrang sich ihren Lippen, und sein Gesicht nahm sich in dem doppelten Licht der tief niedergebrannten, träufenden Kerzen und der über der Tür einfallenden Tageshelle nur noch blasser aus. Ein weiterer Augenblick, und das dumpfe Düster des verschlossenen Hauses (man hatte es zu öffnen vergessen, obschon es längst Tag war) wich dem unerwarteten Licht und der Freiheit des Morgens. Florence stand mit gesenktem Haupt, weil sie den Schmerz ihrer Tränen verbergen wollte, auf der Straße.

Achtundvierzigstes Kapitel.


Achtundvierzigstes Kapitel.

Florencens Flucht.

In dem Irrsinn seines Schmerzes, seiner Scham und seines Schreckens eilte das arme Mädchen durch den Sonnenschein eines herrlichen Morgens, als wäre er das tiefe Dunkel einer Mitternacht. Unter bitterem Weinen die Hände ringend, gegen alles unempfindlich, nur nicht gegen die tiefe Wunde in ihrer Brust, betäubt durch den Verlust aller ihrer Lieben und die einzige von dem Wrack eines großen Schiffes an eine verlassene Küste geworfene Überlebende, floh sie ohne Gedanken, ohne Hoffnung und ohne irgendeinen anderen Zweck, als eben zu fliehen, gleichviel, wohin es war.

Die lange, vom Morgenlicht vergoldete Straße, der Anblick des blauen Himmels und duftiger Wolken, die belebende Frische des Tages, so rosig nach dem Kampf mit der Nacht – all das weckte kein entsprechendes Gefühl in ihrer so tief verletzten Brust. Nur einen Platz, gleichviel, welcher es sein mochte, um ihr Haupt zu verbergen – irgendein Zufluchtsort, fern genug von der Stelle, der sie entronnen, um nie wieder ihren Blick auf sie werfen zu müssen!

Aber es gingen Leute hin und her; die Läden wurden geöffnet, und unter den Haustüren zeigten sich die Dienstboten. Das ruhige Getümmel des Tages hatte seinen Anfang genommen. Florence sah Überraschung und Neugierde in den an ihr vorbeieilenden Gesichtern, bemerkte zurückkehrende lange Schatten auf dem Pflaster und hörte fremde Stimmen fragen, wohin sie wolle und was es gebe. Obgleich dies anfangs sie nur um so mehr einschüchterte und ihre Hast beschleunigte, kam es ihr doch so weit zustatten, daß es sie einigermaßen zur Besinnung rief und sie an die Notwendigkeit einer größeren Fassung erinnerte.

Wohin gehen? Noch immer gleichgültig gegen den Ort – noch immer weiter; aber wohin? Sie gedachte jener einzigen anderen Zeit, in der sie sich unter der weiten Häuserwildnis verirrt hatte – allerdings damals nicht so verlassen wie jetzt – und schlug die gleiche Richtung ein. Nach der Heimat von Walters Onkel.

Sie unterdrückte ihr Schluchzen, trocknete ihre geschwollenen Augen und versuchte, ihr aufgeregtes Wesen zu beruhigen, damit sie nicht allzusehr die Aufmerksamkeit der Vorübergehenden auf sich ziehe. So lang es möglich war, die unbesuchteren Straßen einzuhalten, ging sie gelassener weiter, als mit einem Male ein bekannter kleiner Schatten auf dem sonnigen Pflaster vorbeischoß, haltmachte, wieder umwandte, dicht zu ihr herankam, wieder forteilte und um sie her hüpfte. Es war der ihres treuen Hundes, der sich jetzt, nach Luft schnappend, aber doch die Straße mit seinem frohen Bellen erfüllend, an ihre Kleider schmiegte.

»O, Di! o lieber, guter, treuer Di, wie bist du hierher gekommen? Daß ich auch dich zurücklassen konnte, Di, der du mich nie verlassen hast!«

Florence beugte sich gegen das Pflaster nieder und drückte seinen rauhen, närrischen alten Kopf an ihre Brust, worauf sie wieder miteinander weitergingen. Di, der mehr in der Luft als auf dem Boden war, bemühte sich, seine Gebieterin im Fluge zu küssen, überpurzelte sich oft und richtete sich mit der größten Gleichgültigkeit wieder auf, fuhr auf die großen Hunde mit dem possierlichen Trotz seiner Spielart los, erschreckte mit dem Anprall seiner Nase die Hausmägde, die die Türtreppen fegten, und machte inmitten von tausend Ungereimtheiten alle Augenblicke halt, um nach Florence zurückzusehen und zu bellen, bis alle Hunde in Hörweite Antwort gaben und alle, die herauskommen konnten, sich auf der Straße zeigten, um ihn anzuschauen.

Von diesem letzten Anhänger geleitet, eilte Florence in dem vorrückenden Morgen und in dem wachsenden Sonnenschein weiter nach der City. Die lärmenden Töne des Tages wurden lauter, die Vorübergehenden zahlreicher und die Läden rühriger, bis sie sich in einen Strom von Leben hineingerissen sah, der die nämliche Richtung einschlug und gleichgültig an Marktplätzen, Herrenhäusern, Gefängnissen, Kirchen, Reichtum, Armut, Gut und Bös vorbeiflutete, wie der nahe breite Strom, der, erwacht aus seinen Träumen von Binsen, Weiden und grünem Moos, trüb und unruhig unter dem Arbeiten und Sorgen der Menschen seine Wellen nach dem tiefen Meere hinwälzte.

Endlich tauchte die Gegend, in der der kleine Midshipman stand, vor ihren Blicken auf. Noch näher, und der kleine Midshipman zeigte sich auf seinem Posten, so angelegentlich wie nur je seinen Beobachtungen nachhängend. Noch näher, und die Tür stand offen, um sie zum Eintritt einzuladen. Florence, die am Ende ihrer Wanderung ihre Schritte beschleunigt hatte, eilte, von Diogenes begleitet, der in dem Lärm etwas verwirrt worden war, über die Straße hinüber in den Laden hinein und sank auf der Schwelle des wohlbekannten kleinen Besuchszimmers zusammen.

Der Kapitän stand in seinem Glanzhut vor dem Feuer und fertigte eben seinen Morgenkakao an; dabei lag jene elegante Kleinigkeit, seine Uhr, auf dem Kaminmantel, damit er sie im Laufe seiner Kocherei befragen konnte. Er hörte einen Fußtritt, das Rauschen eines Gewandes und wandte sich in herzklopfender Erinnerung an die schreckliche Mrs. Mac Stinger in dem Augenblick um, als Florence mit ihrer Hand ihm zuwinkte und taumelnd auf den Boden niederfiel.

Der Kapitän, so blaß wie Florence, blaß sogar in jedem Winkel seines Gesichtes, hob sie auf, als wäre sie ein kleines Kind und legte sie auf dasselbe Sofa, auf dem sie vordem geschlummert hatte.

»Es ist die Herzensfreude«, sagte der Kapitän, angelegentlich ihr Gesicht betrachtend. »Das holde Geschöpf ist zu einer Jungfrau herangewachsen!«

Kapitän Cuttle hatte so großen Respekt vor ihrem neuen Charakter, daß er sie während ihrer Bewußtlosigkeit nicht um tausend Pfund hätte in seinen Armen behalten mögen.

»Meine Herzensfreude!« sagte der Kapitän, sich in einige Entfernung zurückziehend, während die größte Unruhe und Teilnahme sich in seinem Gesicht ausdrückte. »Wenn Ihr Ned Cuttle mit einem Finger anstoppen könnt, so tut es.«

Aber Florence rührte sich nicht.

»Meine Herzensfreude!« sagte der Kapitän zitternd. »Um Wal’rs willen, der in der schaurigen Tiefe ertrank, dreht bei und hißt irgend etwas auf, wenn Ihr könnt!«

Da sie auch gegen diese nachdrückliche Beschwörung unempfindlich blieb, so griff Kapitän Cuttle vom Frühstückstisch ein Becken mit kaltem Wasser auf und sprengte ihr einiges davon ins Gesicht. Der Dringlichkeit des Falles nachgebend, bediente er sich sodann seiner gewaltigen Hand mit außerordentlicher Zartheit, indem er ihr den Hut abnahm, Lippen und Stirne anfeuchtete, ihre Haare zurückstrich, ihre Füße mit seinem Rock, den er zu diesem Zweck ausgezogen hatte, bedeckte und ihre Hand streichelte, die sich in der seinigen so klein ausnahm, daß er sich bei Berührung derselben nicht genug wundern konnte.

Als er bemerkte, daß ihre Augenlider zuckten und ihre Lippen sich zu bewegen begannen, setzte er seine Belebungsversuche mit gesteigertem Mut fort.

»Hellauf!« sagte der Kapitän. »Hellauf! Halt bei, mein Herzchen, halt bei! So! Es ist Euch jetzt besser. Durchhalten ist die Losung, und so haben wir es jetzt. Bleibt nur dabei! Trinkt ein Tröpflein von diesem da«, fuhr der Kapitän fort, »So recht! Wie ist es Euch jetzt, mein Herz, wie ist es Euch jetzt?«

Als er mit ihrer Erholung so weit gekommen war, nahm Kapitän Cuttle, dem bei ärztlicher Behandlung eines Patienten unbestimmt eine Uhr vorschwebte, seine eigene vom Kaminsims herunter, hing sie an seinen Haken und ergriff Florences Hand, abwechselnd von der einen zur andern hinsehend, als erwarte er von dem Zeiger irgend eine heilkräftige Wirkung.

»Wie geht es, mein Schätzchen?« sagte der Kapitän. »Wie geht es jetzt? Ich glaube, du bist ihr einigermaßen zugute gekommen, mein Junge«, fügte er halblaut bei, indem er einen zufriedenen Blick auf seine Uhr warf. »Stellt man dich alle Morgen eine halbe Stunde und gegen Abend wieder eine Viertelstunde zurück, so bist du eine Uhr, die nicht leicht ihresgleichen findet und von keiner übertroffen wird. Wie geht es, mein kleines Fräulein?«

»Kapitän Cuttle, seid Ihr es?« rief Florence, sich ein wenig aufrichtend.

»Ja, ja, mein kleines Fräulein«, sagte der Kapitän, dem diese Form der Anrede weit zierlicher und als die höflichste vorkam, die er sich erdenken konnte.

»Ist Walters Onkel hier?« fragte Florence.

»Hier, mein Herz?« entgegnete der Kapitän. »O, es ist lange her, seit er zum letzten Male hier war, und er ließ nichts mehr von sich hören, seit er ausriß, um dem armen Wal’r nachzuziehen. Aber«, fügte der Kapitän als Trostspruch bei, »wenn auch dem Blick entschwunden, ist er doch der Erinnerung, der Heimat und der Schönheit teuer.«

»Wohnt Ihr hier?« fragte Florence.

»Ja, mein kleines Fräulein«, versetzte der Kapitän.

»O, Kapitän Cuttle!« rief Florence außer sich, während sie die Hände zusammenschlug, »rettet mich! behaltet mich hier! Laßt es niemanden wissen, wo ich bin! Ich will Euch, wenn ich kann, gelegentlich sagen, was vorgefallen ist. Ich habe in der ganzen Welt niemanden, zu dem ich gehen könnte. Schickt mich nicht wieder fort!«

»Euch fortschicken, mein kleines Fräulein?« rief der Kapitän. »Euch, meine Herzensfreude? Einen Augenblick! Wir wollen die Blende da aufziehen und den Schlüssel doppelt umdrehen!«

Mit diesen Worten holte der Kapitän, der seine eine Hand und seinen Haken mit der größten Gewandtheit arbeiten ließ, den Türladen heraus, schob ihn vor, machte alles fest und verschloß die Tür.

Als er wieder zu Florence zurückkam, nahm sie seine Hand und küßte sie. Die Hilflosigkeit dieser Handlung, das vertrauensvolle Flehen, das darin lag, der unaussprechliche Kummer in ihrem Gesicht mit dem nur allzu deutlich darin ausgedrückten Seelenschmerze, seine Kunde von ihrer früheren Geschichte und ihr gegenwärtiges, verlassenes, schutzloses Aussehen – das alles ging in dem Kopf des Kapitäns so wirr durcheinander, daß vor Mitleid und zarter Teilnahme seine Augen feucht wurden.

»Mein kleines Fräulein«, sagte der Kapitän, indem er mit dem Ärmel die Brücke seiner Nase polierte, bis sie sich wie blankes Kupfer ausnahm, »sprecht kein Wort mit Ed’ard Cuttle, bis Ihr einmal glatt und behaglich vor Anker liegt, und das kann weder heute noch morgen sein. Was dann das Aufgeben von Euch oder den Rapport darüber betrifft, wo Ihr seid, so ist hieran nicht zu denken, so wahr mir Gott helfe – seht nach im Kirchenkatechismus und biegt ein Ohr ein.«

Der Kapitän sprach das alles in einem Atem und mit großer Feierlichkeit; auch nahm er bei seinem »so wahr mir« den Hut ab und setzte ihn wieder auf, sobald er mit seinem Satz zu Schluß gekommen war.

Florence konnte außer ihrem Dank nur noch eines tun, um ihm zu zeigen, wie sehr sie ihm vertraute, und dies geschah. An den rauhen Seemann sich als an die letzte Zuflucht ihres blutenden Herzens anklammernd, legte sie ihr Köpfchen auf seine ehrliche Schulter, schlang den Arm um seinen Hals und wollte niederknien, um Gottes Segen über ihn zu erbitten; aber er ahnte ihre Absicht und hielt sie aufrecht, wie ein treuer Mann.

»Ruhig«, sagte der Kapitän. »Ruhig. Ihr seht, mein Herz, daß Ihr zu schwach seid, um stehen zu können, und müßt Euch deshalb wieder legen. So, so.«

Und es wäre mehr wert gewesen, als hundert Szenen, der vornehmen Welt entnommen, wenn man hätte mit ansehen können, wie der Kapitän sie auf das Sofa hob und mit seiner Jacke zudeckte.

»Jetzt müßt Ihr etwas frühstücken, kleines Fräulein«, fuhr der Kapitän fort, »und der Hund soll auch nicht vergessen bleiben. Dann könnt Ihr nach dem Stübchen des alten Sol Gills hinaufgehen und dort schlafen wie ein Engel.«

Kapitän Cuttle streichelte Diogenes, als er diese Anspielung auf ihn machte, und Diogenes kam dem Erbieten in Gnaden auf dem halben Wege entgegen. Während der Anwendung der Belebungsmittel hatte er augenscheinlich nicht gewußt, ob er auf den Kapitän losfahren oder Freundschaft mit ihm schließen sollte, und diesen Kampf seiner Gefühle abwechselnd durch Wedeln mit dem Schwanze und Weisen seiner Zähne mit gelegentlichem Knurren angedeutet. Inzwischen hatten sich jedoch alle seine Bedenken gehoben, und es war klar, daß er den Kapitän als einen der liebenswürdigsten Menschen und als einen Mann betrachtete, dessen Bekanntschaft einem Hund zur Ehre gereichte.

Um diese Überzeugung zu bekunden, wartete Diogenes vor dem Kapitän auf und zeigte ein lebhaftes Interesse für die Haushaltung des Mannes, der eben ein kleines Frühstück anfertigte, obschon diese Bemühung sehr vergeblich war; denn Florence konnte vor Weinen und Weinen nichts genießen, wie sehr sie sich auch Mühe gab, der Bewirtung Ehre anzutun.

»Nun, nun«, sagte der teilnehmende Kapitän, »deckt Euch jetzt nur ein, meine Herzensfreude, und dann wird es schon vorwärts gehen. Ich will jetzt dir deine Ration zuteilen, mein Junge« – dies galt Diogenes – »und du sollst droben bei deiner Gebieterin Wache halten.«

Diogenes hatte das ihm zugedachte Frühstück mit wässernder Schnauze und glänzenden Augen betrachtet; statt aber, als es ihm vorgesetzt wurde, gierig darüber herzufallen, spitzte er die Ohren, stürzte nach der Ladentür hin und bellte wütend, während er zugleich mit dem Kopf an der unteren Leiste bohrte, als wolle er zum Durchgang eine Mine anlegen.

»Kann jemand kommen wollen?« fragte Florence beunruhigt.

»Nein, mein kleines Fräulein«, antwortete der Kapitän. »Wer würde so kommen, ohne Lärm zu machen? Seid guten Muts, mein Herz. Es sind nur Leute, die vorübergehen.«

Gleichwohl bellte und bellte, bohrte und bohrte Diogenes in hartnäckiger Wut fort, und so oft er inne hielt, um zu lauschen, schien er in seinem Innern eine neue Überzeugung zu gewinnen, denn er hub wohl ein dutzendmal stets wieder an, zu bellen und zu bohren. Sogar als man ihn durch Überredung bewog, zu seinem Frühstück zurückzukehren, entsprach er dem Locken nur mit zweifelhafter Miene und schoß in einem abermaligen Krampf wieder fort, noch ehe er einen Bissen berührt hatte.

»Wenn jemand draußen lauschte?« flüsterte Florence. »Jemand, der mich kommen sah und mir vielleicht nachgegangen ist?«

»Könnte es wohl die junge Person sein, kleines Fräulein?« fragte der Kapitän, dem plötzlich eine glänzende Idee auftauchte.

»Susanne?« entgegnete Florence mit Kopfschütteln. »Ach, nein! Susanne ist schon lange nicht mehr bei mir.«

»Hoffentlich doch nicht desertiert?« versetzte der Kapitän, »Ihr wollt doch nicht sagen, das junge Frauenzimmer sei davongelaufen, mein Herzchen?«

»O nein, nein!« rief Florence. »Sie ist eine der treuesten Seelen von der Welt.«

Der Kapitän fühlte sich bei dieser Antwort sehr erleichtert und drückte seine Zufriedenheit dadurch aus, daß er den harten Glanzhut abnahm und sich mit seinem zur Kugel zusammengeballten Taschentuch den ganzen Kopf rieb. Dabei bemerkte er zu wiederholten Malen mit ungemeiner Selbstgefälligkeit und strahlendem Gesicht, daß er das im voraus gewußt habe.

»Bist du jetzt ruhig, Kamerad?« sagte der Kapitän zu Diogenes. »Gott behüte, es ist niemand dagewesen, mein kleines Fräulein.«

Diogenes war hiervon nicht überzeugt, denn die Tür zog ihn von Zeit zu Zeit noch immer an. Er schnüffelte daran herum und legte sich vor ihr hin, ohne den Gegenstand vergessen zu können. Dieser Umstand nebst der Bemerkung, daß Florence müde und erschöpft war, bewog den Kapitän, sogleich Sol Gills‘ Stübchen als Zufluchtsort für sie herzurichten. Er begab sich daher hastig nach dem Giebel des Hauses hinauf und traf die besten Vorbereitungen, die ihm seine Einbildungskraft und seine Mittel an die Hand gaben.

Es war bereits sehr rein, und der Kapitän, der die Ordnung liebte und gerne alles schiffsgerecht hielt, wandelte das Lager in ein Ruhebett um, indem er es ganz mit einem reinen, weißen Überwurf bedeckte. In ähnlicher Weise machte er den kleinen Ankleidetisch zu einer Art Altar, den er mit zwei silbernen Teelöffeln, einem Blumentopf, einem Fernrohr, seiner berühmten Uhr, einem Taschenkamm und einem Gesangbuch ausschmückte – eine kleine Raritätensammlung, die sich ganz schön ausnahm. Nachdem er noch die Fenster verdunkelt, den Bodenteppich glatt gelegt und seine Vorbereitungen eine Weile mit großer Behaglichkeit gemustert hatte, stieg er nach dem kleinen Hinterstübchen hinunter, um Florence nach ihrem neuen Wohnsitz zu holen.

Nichts konnte den Kapitän zu dem Glauben an die Möglichkeit bewegen, daß Florence die Treppe hinaufgehen könne, und selbst wenn ihm ein anderer Gedanke gekommen wäre, würde er es für einen schmählichen Bruch der Gastfreundschaft gehalten haben, ihr dies zu gestatten. Florence war zu schwach, um sich hierüber in einen Streit einzulassen, weshalb er sie unangefochten hinauftrug, auf das Ruhebett niederlegte und mit einem großen Wachtmantel bedeckte.

»Mein kleines Fräulein«, sagte der Kapitän, »Ihr seid hier so sicher, als befändet Ihr Euch bei weggeschaffter Leiter auf der Spitze der St.-Pauls-Kirche. Vor allen Dingen ist Euch jetzt Schlaf nötig, und wohl bekomme Euch dieser Balsam für die stille kleine Stimme eines verwundeten Herzens. Braucht Ihr irgend etwas, meine Herzensfreude, was Euch dieses geringe Haus oder die Stadt bieten kann, so erlaßt ein Signal an Ed’ard Cuttle, der von jener Tür aus- und einsteuern wird, und der Mann zittert vor Freude, es beizuschaffen.«

Zum Schlusse küßte der Kapitän Florences ihm hingebotene Hand mit der Galanterie eines alten fahrenden Ritters und schlich sich auf den Zehen aus dem Gemach.

Kapitän Cuttle stieg nach dem kleinen Stübchen hinunter und beschloß nach einem hastig mit sich selbst gehaltenen Kriegsrat, für einige Minuten die Ladentür zu öffnen und sich zu überzeugen, daß jedenfalls jetzt niemand draußen mehr herumlungere. Demgemäß schloß er auf, trat auf die Schwelle, hielt scharfen Auslug und bestrich die ganze Straße mit seiner Brille.

»Wie geht es Euch, Kapitän Gills?« fragte eine Stimme neben ihm.

Der Kapitän schaute nieder und fand, daß er, während er den Horizont untersuchte, von Mr. Toots aufgesucht worden war.

»Wie geht es Euch, mein Junge?« versetzte der Kapitän.

»Ziemlich gut, danke, Kapitän Gills«, sagte Mr. Toots. »Ihr wißt ja, es ist mir nie ganz, wie ich es wünschen könnte; und ich erwarte auch nicht, daß es je soweit kommen wird.«

Mr. Toots näherte sich, wenn er sich mit Kapitän Cuttle unterhielt, infolge der stattgehabten Übereinkunft dem großen Gegenstand seines Lebens nie weiter, als etwa in solcher Weise.

»Kapitän Gills«, fuhr Mr. Toots fort, »wenn ich das Vergnügen haben könnte, ein Wort mit Euch zu sprechen. Es handelt sich um – um etwas Besonderes.«

»Nun ja, aber Ihr seht, mein Junge«, versetzte der Kapitän, der nach dem Hinterstübchen voranging, »ich bin heute morgen nicht ganz – wie soll ich sagen – nicht ganz frei, und wenn Ihr es deshalb ein bißchen kurz machen könnt, so wird mir dies sehr lieb sein.«

»Allerdings, Kapitän Gills«, entgegnete Mr. Toots, der von des Kapitäns Meinung nur selten eine richtige Vorstellung hatte. »Das gerade wünsche ich ja auch. Natürlich.«

»Wenn dies der Fall ist, mein Junge«, erwiderte der Kapitän, »so tut es.«

Der Kapitän war von dem wichtigen Geheimnis, daß Miß Dombey in diesem Augenblick sich unter seinem Dach befand, während der unschuldige, nichts ahnende Toots ihm gegenüber saß, so sehr in Anspruch genommen, daß ihm der Schweiß auf der Stirn ausbrach und er, als er denselben, den Glanzhut in der Hand, abtrocknete, seine Augen nicht von dem Gesicht seines Gastes verwenden konnte. Mr. Toots, der gleichfalls einen geheimen Grund zur Aufgeregtheit zu haben schien, geriet unter dem starren Blick des Kapitäns in eine so unaussprechliche Verlegenheit, daß er, nachdem er ihn eine Weile ausdruckslos angeschaut hatte, unruhig auf seinem Stuhl hin und her rückte und dann begann:

»Ich bitte um Verzeihung, Kapitän Gills, aber seht Ihr denn nichts Besonderes an mir?«

»Nein, mein Junge«, versetzte der Kapitän. »Nein.« »Ja, schaut nur«, sagte Mr. Toots mit einem Kichern, »ich weiß, daß ich magerer werde. Ihr könnt Euch ohne Bedenken darüber aussprechen. Es – es ist mir sogar lieb. Ich bin so dünn geworden, daß Burgeß und Co. sogar mein Maß ändern mußten. Aber es freut mich. Ich – ich bin froh darüber. Ich – ich würde sogar lieber ganz und gar schwindsüchtig werden, wenn ich könnte. Ihr wißt, ich bin nur ein Tier, das auf der Oberfläche der Erde herumgrast, Mr. Gills.«

Je mehr Mr. Toots in dieser Weise fortfuhr, desto schwerer fühlte sich der Kapitän von dem Gewicht seines Geheimnisses bedrückt und mit desto größeren Augen musterte er ihn. Dieser Anlaß der Unruhe und sein Wunsch, Mr. Toots los zu werden, versetzte den guten alten Mann in einen so verschüchterten, seltsamen Zustand, daß sogar eine Unterhaltung mit einem Gespenst ihn kaum weniger außer Fassung hätte bringen können.

»Aber was ich sagen wollte, Kapitän«, fuhr Mr. Toots fort, »offen gestanden, als ich heute morgen zufällig dieses Weges kam, wollte ich ein Frühstück mit Euch einnehmen. Was den Schlaf betrifft, so wißt Ihr wohl, daß ich jetzt nie schlafen kann. Ich könnte für einen Nachtwächter gelten, mit der Ausnahme, daß ich keine Zahlung dafür bekäme und er nichts auf dem Herzen hätte.«

»Nur weiter, mein Junge«, sagte der Kapitän in ermunterndem Ton.

»Ja, Kapitän Gills«, versetzte Mr. Toots. »Vollkommen richtig. Ich war heute morgen – etwa vor einer Stunde – zufällig in dieser Straße, und da ich die Türen verschlossen fand – –.«

»Wie, Ihr habt draußen gewartet, Bruder?« fragte der Kapitän.

»Durchaus nicht, Kapitän Gills«, antwortete Mr. Toots. »Ich hielt mich keinen Augenblick auf. Ich dachte, Ihr wäret ausgegangen. Aber die Person sagte – beiläufig, Ihr haltet doch keinen Hund, oder, Kapitän Gills?«

Der Kapitän schüttelte den Kopf.

»Natürlich«, sagte Mr. Toots. »Das nämliche, was ich auch sagte. Ich wußte es ja. Es ist ein Hund mit im Spiele, Kapitän Gills – aber entschuldigt mich. Dies ist ein verbotener Boden.«

Der Kapitän starrte Mr. Toots so lange an, bis ihm dieser wenigstens zweimal so groß vorkam, und abermals brach auf seiner Stirn der Schweiß aus, wenn er dachte, Diogenes könnte es sich in den Kopf setzen, herunterzukommen und im Hinterstübchen der Dritte im Bunde sein zu wollen.

»Die Person sagte«, fuhr Mr. Toots fort, »sie habe im Laden einen Hund bellen hören, und da ich wußte, dies sei unmöglich, so sagte ich es ihr. Aber sie beharrte so entschieden auf ihrer Angabe, als ob sie den Hund gesehen hätte.«

»Was für eine Person, mein Junge«, sagte der Kapitän.

»Ja seht, eben da liegt der Hase im Pfeffer, Kapitän Gills«, entgegnete Mr. Toots, und man merkte ihm noch mehr an, wie angegriffen er war. »Es steht mir nicht zu, zu sagen, was stattgefunden haben mag, oder nicht. In der Tat, ich weiß es nicht. Es gehen so allerlei Dinge in mir um, daß ich sie nicht recht zusammenreimen kann, und ich denke, es ist etwas ein bißchen schwach in meinem – – kurz, in meinem Kopf.«

Der Kapitän nickte mit dem seinen zum Zeichen der Zustimmung.

»Aber als wir weitergingen«, fuhr Mr. Toots fort, »sagte die Person, daß Ihr wüßtet, was unter obwaltenden Umständen sich zutragen könne« – er betonte das ›könne‹ sehr nachdrücklich – »und wenn man Euch auffordere, Euch bereit zu halten, so werde man Euch ohne Zweifel auch bereit finden.«

»Die Person, mein Junge!« wiederholte der Kapitän.

»Ich weiß wahrhaftig nicht, wer sie ist, Kapitän Gills, und kann mir auch nicht die mindeste Vorstellung von ihr machen«, versetzte Mr. Toots. »Aber als ich an die Tür kam, fand ich sie hier wartend, und sie fragte mich, ob ich wieder komme, worauf ich ja sagte. Besagte Person ist aber ein Mann. Er fragte mich dann, ob ich Euch kenne, und ich antwortete dann, ja, ich hätte das Vergnügen Eurer Bekanntschaft – Ihr hättet mir nach einigem Zureden die Ehre Eurer Bekanntschaft geschenkt; und er sagte, ob ich, wenn das der Fall sei, Euch nicht sagen wolle, was ich Euch bereits mitgeteilt habe, von obwaltenden Umständen und Vorbereitetsein, und ob ich Euch, sobald ich Euch sehe, nicht ersuchen wolle, daß Ihr, wäre es auch nur für eine Minute, wegen einer sehr wichtigen Angelegenheit um die Ecke hinüber zu Mr. Brogley, dem Makler, kommen möchtet. Ich will Euch sagen, Kapitän Gills: um was es sich auch handeln mag – ich bin überzeugt, daß es sehr wichtig ist, und wenn Ihr jetzt rasch mal hinüberkommen möchtet, so will ich hier warten, bis Ihr zurückkommt.

Der Kampf zwischen der Furcht, durch sein Nichtgehen Florence in irgendeiner Weise bloßzustellen, und dem Schrecken, Mrs. Toots im Hause zu lassen, wo er hinter das Geheimnis kommen konnte, versetzte den Kapitän in eine solche geistige Not, daß sogar Mr. Toots nicht blind dagegen sein konnte. Der junge Gentleman aber, der darin nur die Vorbereitungen seines seemännischen Freundes auf die bevorstehende Zusammenkunft sah, ließ sich dadurch nicht anfechten und konnte auf sein eigenes kluges Benehmen nur mit Kichern zurückblicken.

Endlich entschied sich der Kapitän dafür, unter zweien Übeln das kleinere zu wählen und zu dem Makler Brogley hinüber zu gehen, zuvor aber die Tür, die die Verbindung mit dem oberen Teil des Hauses herstellte, abzusperren und die Schlüssel in die Tasche zu stecken.

»Ihr werdet mich entschuldigen, Bruder, wenn ich dies tue«, sagte der Kapitän zu Mr. Toots zögernd und nicht ohne tiefe Scham.

»Kapitän Gills«, entgegnete Mr. Toots, »ich bin mit allem einverstanden, was Ihr tut.«

Der Kapitän dankte ihm herzlich, versprach, nach weniger als fünf Minuten wieder zurückzukehren, und entfernte sich, um die Person aufzusuchen, die den Mr. Toots mit einer so geheimnisvollen Botschaft beauftragt hatte. Der arme Mr. Toots, der jetzt sich selbst überlassen war, dachte, als er sich auf das Sofa ausstreckte, wenig daran, wer erst kürzlich darauf geruht hatte, und während er, in Träume an Miß Dombey sich vertiefend, nach dem Hochlichtfenster hinaufschaute, hatte er bald Zeit und Raum vergessen.

Das war gut für ihn; denn obgleich der Kapitän nicht lange ausblieb, zögerte er doch viel länger, als er versprochen hatte. Als er endlich zurückkehrte, war er sehr blaß und aufgeregt. Ja, er sah sogar aus, als habe er Tränen vergossen. Er schien das Sprachvermögen völlig verloren zu haben, bis er den Schrank geöffnet und aus der Korbflasche ein Schlücklein Rum geholt hatte. Dann atmete er tief auf, setzte sich auf einen Stuhl und legte die Hand vor sein Gesicht.

»Kapitän Gills«, sagte Mr. Toots teilnehmend, »ich hoffe, es ist doch nichts Schlimmes vorgefallen.«

»Danke, mein Junge, nicht das Geringste«, versetzte der Kapitän. »Ganz im Gegenteil.«

»Ihr scheint aber sehr aufgeregt zu sein, Kapitän Gills«, bemerkte Mr. Toots.

»Ach, mein Junge, ich bin freilich ein bißchen an den Mast geworfen«, räumte der Kapitän ein. »Jawohl.«

»Und kann ich nichts dabei tun, Kapitän Gills?« fragte Mr. Toots. »Wenn irgend möglich, so gebietet über mich.«

Der Kapitän entspannte sein Gesicht, sah ihn mit einem merkwürdigen Ausdruck von Mitleid und Innigkeit an, ergriff ihn bei der Hand und drückte sie kräftig.

»Nein, ich danke Euch«, sagte der Kapitän. »Nichts. Aber Ihr tut mir einen Gefallen, wenn Ihr mich vorderhand allein laßt. Ich glaube, Bruder« – mit einem abermaligen Händedruck, »daß Ihr nach Wal’r, nur in einer ganz andern Art, ein so guter Bursche seid, wie nur je einer ein Schiff bestieg.«

»Wahrhaftig, Kapitän Gills«, erwiderte Mr. Toots, indem er der Hand des Kapitäns einen vorläufigen Schlag gab, ehe er sie wieder drückte, »ich bin überglücklich, Eure gute Meinung zu besitzen. Danke Euch.« »Und laßt den Mut nicht sinken«, sagte der Kapitän, ihn auf den Rücken klopfend. »Der Tausend, es gibt mehr als ein süßes Geschöpf in der Welt.«

»Für mich nicht, Kapitän Gills«, entgegnete Mr. Toots ernst. »Ich versichere Euch, für mich nicht. Meine Gefühle für Miß Dombey sind so unsagbar, daß mir mein Herz wie eine verlassene Insel erscheint, in der sie allein wohnt. Ich zehre mich mit jedem Tag mehr ab, und ich bin stolz darauf. Wenn Ihr meine Beine sehen könntet und ich mir die Stiefel auszöge, so würdet Ihr Euch eine Vorstellung davon machen, was unerwiderte Liebe bedeutet. Man hat mir Chinarinde verordnet, aber ich nehme sie nicht, weil ich nicht wünsche, daß meine Konstitution in irgendeiner Weise wieder gekräftigt werde. Nein, ich will dies nicht. Aber ich berühre verbotenes Gebiet. Kapitän Gills, Gott befohlen!«

Kapitän Cuttle erwiderte die Wärme von Mr. Toots Lebewohl herzlich, schloß die Tür hinter ihm ab, schüttelte mit demselben merkwürdigen Ausdruck von Mitleid und Innigkeit, wie früher, den Kopf und begab sich nach dem oberen Teile des Hauses, um zu sehen, ob Florence nichts von ihm begehre.

In dem Gesichte des Kapitäns ging ein völliger Wechsel vor, als er die Treppe hinaufstieg. Er wischte sich die Augen mit dem Taschentuch und polierte, wie er bereits am Morgen getan hatte, die Brücke seiner Nase mit seinem Ärmel. Aber seine Züge hatten einen ganz andern Ausdruck. Das eine Mal hätte man ihn für überschwenglich glücklich, das andere Mal für traurig halten können. Aber der Ernst, der auf seinem Gesichte lag, war etwas so ganz Neues und übte eine so angenehme Wirkung, daß man wohl auf den Glauben kommen konnte, seine Züge hätten einen Verfeinerungsprozeß durchgemacht.

Er klopfte mit seinem Haken zwei- oder dreimal an Florences Tür, erhielt aber keine Antwort. Deshalb wagte er es, zunächst einmal hineinzuschauen und dann einzutreten. Zu letzterem Schritt ermutigte ihn vielleicht die vertrauliche Begrüßung des Hundes, der an der Seite ihres Lagers auf dem Boden ausgestreckt lag, mit dem Schwanz wedelte und dem Kapitän mit den Augen zublinzelte, ohne daß er sich die Mühe nahm, aufzustehen.

Sie lag in einem tiefen Schlaf, der nur hin und wieder durch ein Seufzen unterbrochen wurde. Kapitän Cuttle, den ihre Jugend, ihre Schönheit und ihr Kummer mit einer tiefen Ehrfurcht erfüllten, richtete ihren Kopf auf, legte den Mantel auf die Stellen, wo er heruntergefallen war, wieder zurecht, verhüllte das Zimmer etwas mehr, damit sie ungehindert weiterschlafen könne, schlich dann wieder hinaus und bezog seinen Wachtposten auf der Treppe. Alles das geschah mit einem Berühren und Auftreten, so leicht wie Florences eigener Gang.

Es mag in dieser gemischten Welt wohl lang ein nicht leicht zu entscheidender Punkt bleiben, was der schönere Beweis von der Güte des Allmächtigen ist – die zarten Finger, die, zu teilnehmender Berührung gebildet, die Eigenschaft besitzen, Schmerz und Pein zu mildern, oder die rauhe, harte Hand des Kapitäns Cuttle, der unter der Lehre und Leitung eines gefühlvollen Herzens in einem Nu so weich wird!

Florence schlief, ihre Heimatlosigkeit und Verwaisung vergessend, auf ihrem Lager fort, und Kapitän Cuttle wachte auf der Treppe. Ein ungewöhnlich lautes Schluchzen oder Stöhnen brachte ihn bisweilen nach der Tür. Aber allmählich wurde ihr Schlaf ruhiger, und der Kapitän setzte seine Wache ungestört fort.

Neunundvierzigstes Kapitel.


Neunundvierzigstes Kapitel.

Der Midshipman macht eine Entdeckung.

Es dauerte lange, bis Florence erwachte. Der Tag erreichte seine Mittagshöhe und nahm wieder ab. Aber noch immer schlief sie unruhig fort, des fremden Bettes, des Lärms und Getümmels auf der Straße und des Lichtes vergessend, das außerhalb des verhüllten Fensters schien. Indessen konnte sogar der tiefe Schlummer der Erschöpfung die Erinnerung an das, was in der nicht mehr bestehenden Heimat vorgefallen war, nicht ganz verdrängen. Einige unbestimmte, schmerzliche Bilder davon, die unruhig schlummerten, aber nie wirklich schliefen, wühlten während der ganzen Zeit ihrer Rast fort. Ein dumpfes Weh, gleich einem halbbeschwichtigten Schmerzgefühl, war ihr immer gegenwärtig, und ihre blassen Wangen befeuchteten sich öfter mit Tränen, als dem ehrlichen Kapitän, der von Zeit zu Zeit seinen Kopf leise durch die angelehnte Tür hereinsteckte, zu sehen lieb war.

Die Sonne sank im Westen und durchdrang, aus einem roten Nebel hervorblickend, mit ihren Strahlen, als wären sie durchdringende goldene Pfeile, die Öffnungen und die durchbrochene Arbeit an den Türmen der Stadtkirchen. Weithin über den Fluß und seine flachen Ufer breitete sie einen Glanz, ähnlich einem Feuerpfad; auf dem Meere draußen brach sich ihr Licht an den Segeln der Schiffe, und von ruhigen Kirchhöfen oder den Hügelspitzen des Landes aus gesehen, übergoß sie die fernen Landschaften mit einer rötlichen Glut, in der Erde und Himmel herrlich zusammenzuschmelzen schienen. Jetzt erst öffnete Florence die schweren Augen, ohne jedoch anfangs die fremden Wände um sie her zu erkennen, blickte teilnahmslos auf ihre Umgebung und hörte mit ebensowenig Achtsamkeit den Lärm auf der Straße. Bald aber fuhr sie von ihrem Lager auf, und nach einem erstaunten Umherschauen kam ihr wieder alles ins Gedächtnis.

»Mein Herzchen«, sagte der Kapitän, an die Tür klopfend, »wie geht es?«

»Lieber Freund«, rief Florence, auf ihn zueilend, »seid Ihr da?«

Der Kapitän war so stolz auf diese Bezeichnung und fühlte sich so glücklich bei der frohen Glut, die sich bei seinem Anblick in ihrem Gesichte ausdrückte, daß er als Antwort in sprachloser Selbstzufriedenheit seinen Haken küßte.

»Wie geht es, mein funkelnder Diamant?« sagte der Kapitän.

»Ich habe gewiß sehr lange geschlafen«, entgegnete Florence. »Wann kam ich hierher? Gestern?«

»Nein, heute ist der gesegnete Tag, mein kleines Fräulein«, antwortete der Kapitän.

»Es ist also keine Nacht dazwischen – noch immer Tag?« fragte Florence.

»Es geht jetzt stark auf Abend, mein Herzchen«, sagte der Kapitän, den Fenstervorhang zurückziehend. »Seht!«

Florence, ihre Hand so schüchtern und bekümmert auf den Arm des Kapitäns gelegt, und der Kapitän, mit seinem rauhen Gesicht und seiner stämmigen Gestalt so ruhig als Schützer ihr zur Seite, standen in dem rosigen Lichte des schönen Abendhimmels da, ohne ein Wort zu sprechen. In was für eigentümliche Worte der Kapitän auch seine Gefühle gebracht haben würde, wenn er sie hätte laut werden lassen, so sagte ihm doch sein Inneres, wie es nur der beredteste Mensch tun konnte, es liege etwas in der Ruhe der Zeit und in ihrer sanften Schönheit, das Florences verwundetes Herz zum Überströmen bringen würde, und es sei besser, daß solche Tränen ihren Lauf nähmen. Er sprach daher kein Wort. Aber als er seinen Arm inniger umfaßt fühlte, das Köpfchen ihm näher kam und sich endlich an seinen groben, blauen Ärmel anschmiegte, drückte er es sanft mit seiner rauhen Hand; er verstand sie und wurde verstanden.

»Jetzt besser, mein Herzchen!« sagte der Kapitän. »Hellauf! hellauf! Ich will jetzt hinuntergehen und Essen bereit halten. Wollt Ihr dann selbst kommen, mein Herz, oder soll Ed’ard Cuttle kommen und Euch holen?«

Florence versicherte ihm, daß sie jetzt völlig imstande sei, die Treppe hinunterzugehen, und wenngleich der Kapitän im Zweifel zu sein schien, ob es sich mit seinen Pflichten als Wirt und Beschützer vertrage, dies zu gestatten, entfernte er sich doch, um sogleich über dem Feuer im kleinen Stübchen ein Huhn zu braten. Damit er seine Kochkunst mit größerer Geschicklichkeit entfalten konnte, zog er seinen Rock aus, schlug die Hemdärmel zurück und setzte seinen Glanzhut auf, ohne dessen Beistand er nie an ein verfängliches oder schwieriges Unternehmen ging.

Nachdem Florence den schmerzenden Kopf und das brennende Gesicht mit dem frischen Wasser gekühlt hatte, das während ihres Schlafes von dem sorgfältigen Kapitän in das Zimmer geschafft worden war, trat sie an den kleinen Spiegel, um ihr wirres Haar in Ordnung zu bringen. Da bemerkte sie nun allsogleich – denn sie bebte erschrocken davor zurück –, daß sich auf ihrer Brust das dunkle Malzeichen einer zürnenden Hand befand.

Bei diesem Anblick strömten ihre Tränen aufs neue. Scham und Schrecken erfüllten sie, obschon sie dabei keinem Unwillen gegen ihn Raum gab. Der Heimat und des Vaters beraubt, vergab sie ihm alles, oder dachte kaum daran, daß sie ihm etwas zu vergeben habe. Aber sie floh jetzt vor dem Bilde von ihm, das sie in ihrem Herzen getragen, wie sie vor der Wirklichkeit geflüchtet, und er war jetzt ganz dahin und verloren. Es gab kein solches Geschöpf mehr in der Welt.

Die arme unerfahrene Florence konnte sich noch nicht denken, was sie tun oder wo sie sich aufhalten sollte. Es schwebte ihr wie in einem unbestimmten Traum vor, sie könnte in weiter Entfernung von London ein Haus finden, wo es einige kleine Schwestern zu unterrichten gäbe, die freundlich gegen sie wären, und denen sie sich unter einem andern Namen anschließen könnte. Sie wuchsen dann auf in ihrer glücklichen Heimat, heirateten, blieben gütig gegen ihre alte Gouvernante und vertrauten ihr vielleicht mit der Zeit die Erziehung ihrer eigenen Töchter an. Und sie dachte, wie seltsam und bekümmernd es sein würde, in solcher Weise grau zu werden und ihr Geheimnis ins Grab mitzunehmen, nachdem Florence Dombey längst vergessen war. Alles erschien ihr jetzt trüb und umwölkt. Sie wußte nur, daß sie auf Erden keinen Vater hatte, und sagte sich das oft selbst, wenn sie in stiller Einsamkeit ihr betendes Haupt vor dem himmlischen Vater beugte.

Ihr kleiner Geldvorrat belief sich nur auf einige Guineen. Einen Teil davon mußte sie auf Anschaffung einiger Kleidungsstücke verwenden, da sie nichts hatte, als was sie auf dem Leibe trug. In ihrem Leid konnte sie nicht daran denken, wie bald ihr Geld aufgebraucht sein würde – ja, sie war auch in weltlichen Dingen noch zu sehr Kind, um sich deshalb sehr zu grämen, selbst wenn ihr anderer Kummer geringer gewesen wäre. Sie versuchte, ihre Gedanken zu beruhigen und ihren Tränen Einhalt zu tun – den Sturm in ihrem klopfenden Kopf zu beschwichtigen und sich zu dem Glauben zu zwingen, was vorgefallen war, habe sich nur vor wenigen Stunden, nicht aber vor Wochen und Monaten zugetragen, wie es ihr vorkam. Dann ging sie hinunter zu ihrem freundlichen Beschützer. Der Kapitän hatte mit großer Sorgfalt das Tischtuch ausgebreitet und war eben damit beschäftigt, in einem kleinen Pfännchen eine Eierbrühe anzufertigen. Auch bestrich er gelegentlich das vor dem Feuer sich bräunende Huhn mit großer Aufmerksamkeit. Das Sofa war um der größeren Behaglichkeit willen in eine warme Ecke gerückt und für Florence bequem aufgepolstert worden, so daß der Kapitän seine Küche ungehindert weiter ordnen konnte. Er tat dies mit außerordentlicher Fertigkeit, machte in einem zweiten Pfännchen Fleischbrühe heiß, kochte in einem dritten eine Handvoll Kartoffeln, vergaß aber nie die Eierbrühe in dem ersten und machte unparteiisch seine Runde bei allen, indem er mit dem brauchbarsten Löffel bald den Braten beträufelte, bald die Brühen umrührte. Außer diesen Obliegenheiten mußte der Kapitän ein weiteres Augenmerk der winzigen Bratkachel zuwenden, in der einige Würste in sehr musikalischer Weise zischten und prutzelten, und in dem Eifer seines Geschäfts nahm er sich so strahlend aus, daß man unmöglich sagen konnte, ob sein Gesicht oder sein Hut am meisten glänzte.

Endlich war das Mahl fertig, und Kapitän Cuttle trug es mit nicht geringerer Gewandtheit auf, als er es gekocht hatte. Dann kleidete er sich für das Diner an, indem er seinen Glanzhut abnahm und den Rock anlegte. Sobald dies geschehen war, rückte er den Tisch vor das Sofa, sprach ein Gebet, schraubte seinen Haken ab, ersetzte diesen durch seine Gabel und machte die Honneurs der Tafel.

»Mein Frauenzimmerchen«, sagte der Kapitän, »hellauf, und versucht ordentlich zu essen. Halt bei, mein Schätzchen. Hier ein Hühnerflügel. Sauce. Würste. Und Kartoffel!«

Alles das ordnete der Kapitän symmetrisch auf einem Teller, goß mit dem brauchbaren Löffel heiße Fleischbrühe über das Ganze und setzte es seinem geehrten Gast vor.

»Die ganze Fensterreihe im Vorderschiff ist zu, Frauenzimmerchen«, bemerkte der Kapitän ermutigend, »und alles sicher. Versucht ein bißchen zu picken, mein Schatz. Wenn Wal’r hier wäre –«

»Ach, daß ich ihn jetzt zum Bruder hätte!« rief Florence.

»Laßt es Euch nicht so angreifen, mein Schatz!« sagte der Kapitän; »tut mir den Gefallen! Er war Euch wie ein natürlich geborner Verwandter – war es nicht so, mein Herz?«

Florence hatte keine Worte zur Erwiderung und sagte nur:

»O lieber, lieber Paul, o Walter!«

»Sogar die Planken, auf denen sie ging«, murmelte der Kapitän, nach ihrem gesenkten Antlitz hinblickend, »hat Walter so hochgeschätzt, wie die Wasserbäche, nach denen er in Dombeys Bücher eingetragen wurde, und als er beim Diner von ihr sprach, glänzte sein Gesicht wie eine neu aufgeblühte Rose im Tau, obschon es nur in der größten Bescheidenheit geschah. Ja, ja, wenn unser armer Walter hier wäre, mein Fräuleinchen – oder wenn er hier sein könnte – denn er ist ertrunken, nicht wahr?«

Florence schüttelte den Kopf.

»Ja, ja, ertrunken«, fuhr der Kapitän beschwichtigend fort, »wie ich sagen wollte, wenn er hier sein könnte, mein Kleinod, so würde er bei Euch bitten und betteln, daß Ihr ein bißchen mehr zulanget und für Eure eigene süße Gesundheit sorgtet. Nehmt doch Bedacht darauf, mein Kindchen, als wäre es um Walters willen, und legt Euren hübschen Schnabel vor den Wind.«

Florence versuchte, dem Kapitän zu Gefallen einen Bissen zu essen. Dieser aber schien sein eigenes Diner ganz vergessen zu haben; denn er legte Messer und Gabel nieder und rückte seinen Stuhl an das Sofa.

»Wal’r war doch ein prächtiger Junge, meint Ihr nicht, mein Kleinod?« sagte der Kapitän, die Augen auf sie geheftet, nachdem er eine Weile stumm dagesessen und das Kinn gerieben hatte, »und ein braver Junge, und ein guter Junge.« Unter Tränen pflichtete Florence bei.

»Und er ist ertrunken, mein schönes Kind, ist er es nicht?« sagte der Kapitän in beschwichtigender Stimme.

Florence konnte abermals nichts anderes tun, als zustimmen.

»Er war älter als Ihr, mein kleines Fräulein«, fuhr der Kapitän fort; »aber Ihr wart von Anfang an wie zwei Kinder gegeneinander – nicht wahr, so war es?«

»Ja«, lautete Florences Antwort.

»Und Wal’r ist ertrunken«, sagte der Kapitän. »Nicht wahr?«

Die Wiederholung dieser Frage war eine eigentümliche Art Trost, schien aber jedenfalls für Kapitän Cuttle diese Eigenschaft zu besitzen, da er immer wieder auf sie zurückkam.

Florence, die gerne ihr Mahl unberührt beiseite geschoben und sich auf das Sofa zurückgelehnt hätte, gab ihm ihre Hand in dem Gefühl, daß sie seine Erwartungen getäuscht hätte, obschon sie nichts sehnlicher wünschte, als ihm nach aller seiner Mühe gefällig zu sein. Er behielt sie in der seinen, drückte sie und murmelte, des Diners und ihres Appetitmangels ganz vergessend, bisweilen im Tone brütender Teilnahme für sich hin: »Der arme Wal’r. Ja, ja! ertrunken. Ist es nicht so?« Dabei wartete er stets auf ihre Antwort, die augenscheinlich bei diesen seltsamen Betrachtungen ihm das wichtigste war.

Das Huhn und die Würste waren kalt, die Fleischbrühe und die Eiersauce aber fest geworden, ehe sich der Kapitän erinnerte, daß sie noch bei Tisch saßen. Dann aber fiel er unter dem Beistand von Diogenes über das Mahl her, und es gelang ihren vereinigten Kräften, rasch damit fertig zu werden. Das frohe Erstaunen des Kapitäns über die ruhige Emsigkeit, womit Florence ihm beim Abräumen des Tisches, beim Ordnen des Stübchens und beim Reinigen des Herds sich betätigte – man hätte nur den Eifer, womit er ihren Beistand ablehnen wollte, damit vergleichen können – steigerte sich allmählich so sehr, daß er zuletzt selbst nichts mehr tat und ihr bloß zusah, als wäre sie irgendeine Fee, die derlei Gefälligkeiten so zierlich für ihn verrichtete. Dabei begann in seiner unaussprechlichen Bewunderung der rote Streifen auf seiner Stirne wieder zu glühen.

Aber als Florence vom Kaminsims seine Pfeife herunterlangte und sie ihm mit der Bitte in die Hand gab, daß er jetzt rauchen möchte, wurde der Kapitän durch ihre Aufmerksamkeit so verwirrt, daß er das Rauchinstrument auf eine Art in der Hand hielt, als habe er sich sein ganzes Leben über nie mit dergleichen Dingen abgegeben. Und als nun Florence gar in den kleinen Schrank hineinsah, die Korbflasche herausnahm und unaufgefordert ein Glas trefflichen Grogs für ihn mischte, das sie vor ihm niedersetzte, da wurde seine rötliche Nase eigentlich blaß ob der Ehre, die ihm widerfuhr. Nachdem er in einer wahren Verzückung seine Pfeife gefüllt hatte, zündete Florence ihm diese an, ohne daß er imstande gewesen wäre, eine Einwendung dagegen zu erheben oder sie daran zu hindern. Dann nahm sie ihren Platz auf dem Sofa wieder ein und blickte mit einem so liebevollen und dankbaren Lächeln nach ihm hin, – einem Lächeln, das ihm zeigte, ihr kummervolles Herz sei ihm in gleicher Weise zugewendet, wie ihr Gesicht – daß sich der Rauch seiner Pfeife in seiner Kehle verfing und ihn zum Husten zwang, während er zugleich seine Augen so sehr belästigte, daß sie ihm überliefen.

Es war in der Tat ergötzlich anzusehen, wie der Kapitän sich glauben zu machen versuchte, der Grund dieser Wirkungen liege in der Pfeife selbst; denn er suchte in dem Kopf darnach, und als er ihn da nicht fand, tat er, als wolle er ihn zum Rohr hinausblasen. Die Pfeife geriet jedoch bald in ein besseres Stadium, und er kam in jenen Zustand von Ruhe, der es ihm möglich machte, ordentlich fortzurauchen. Gleichwohl verwandte er kein Auge von Florence, und mit einer strahlenden Selbstgefälligkeit, die sich nicht beschreiben läßt, hielt er hin und wieder inne, um von seinen Lippen langsam eine kleine Wolke zu entsenden, als wäre sie ein langer Streifen Papier mit der Inschrift: »Ja, ja, der arme Wal’r. Ertrunken, ist es nicht so?« Dann fuhr er mit unendlicher Zartheit wieder in seinem Rauchgeschäft fort.

So ungleich sie auch im Äußeren waren – es konnte kaum einen schrofferen Gegensatz geben, als den, der Florence in ihrer zarten Jugend und Schönheit dem knaufigen Gesicht, der breiten, verwitterten Gestalt und der rauhen Stimme des Kapitäns gegenüber darbot – standen sie sich doch, was einfache Unschuld und Arglosigkeit betraf, sehr nahe. Der Kapitän verstand sich auf gar nichts, als auf Wind und Wetter, und sein einfacher Charakter, seine Leichtgläubigkeit und Vertrauensfülle glichen denen eines Kindes. Sein ganzes Wesen war in die drei Haupttugenden, Glaube, Hoffnung und Liebe geteilt, so, daß für nichts anderes mehr Raum vorhanden war, als für eine gewisse romanhafte Weltanschauung, ohne denkbare wirkliche Grundlage, indem sie alle Rücksichten auf die zeitliche Klugheit oder die Wirklichkeit außer acht ließ. Während der Kapitän rauchend dasaß und Florence ansah, trug er sich mit weiß Gott wie viel unmöglichen Bildern, in denen sie ihm stets als Hauptgestalt vor die Seele trat. Ebenso haltlos und unsicher, obschon nicht so hoffnungsreich waren ihre eigenen Gedanken über das vor ihr liegende Leben, und wie ihre Tränen das Licht in prismatischen Farben sich brechen ließen, so sah sie auch in ihrem neuen schweren Gram bereits am fernen Horizont den matten Abglanz eines Regenbogens. Eine wandernde Prinzessin und ein treu gesinntes Ungeheuer, wie sie in den Märchenbüchern dargestellt werden, hätten ebenso neben dem Kamin sitzen und sprechen können, wie Kapitän Cuttle und die arme Florence dachten. Auch würde ein solcher Vergleich, was ihr Äußeres angeht, nicht ganz unpassend gewesen sein.

Der Kapitän ließ es sich nicht entfernt einfallen, er könnte sich eine Last oder Verantwortlichkeit aufbürden, wenn er Florence bei sich behalte, und er glaubte in dieser Beziehung alles getan zu haben, wenn er Läden und Türe schloß. Ja, hätte sie sich sogar unter dem besonderen Schutz des Lord-Kanzlers befunden, so würde er sich nicht im mindesten daran gekehrt haben, denn von allen Menschen auf Erden war er gewiß derjenige, der sich zuletzt durch derartige Rücksichten anfechten ließ.

So rauchte der Kapitän ganz behaglich seine Pfeife, während Florence ihren eigenen Gedanken nachhing. Nachdem die Pfeife ausgegangen war, genossen sie etwas Tee, und Florence bat ihn nun, er möchte sie nach einem benachbarten Laden begleiten, wo sie einige zunächst nötige Bedürfnisse einkaufen wollte. Es war schon ganz dunkel, und der Kapitän willigte ein, schaute aber sorgfältig vorher hinaus, wie er es in den Zeiten seines Verstecks vor Mrs. Mac Stinger getan hatte, und bewaffnete sich mit einem großen Stock, für den Fall, daß durch eine unerwartete Wendung der Gebrauch von Waffen nötig würde.

Mit ungemeinem Stolz reichte Kapitän Cuttle Florencen seinen Arm und geleitete sie einige hundert Schritte weit, durch seine große Wachsamkeit und die zahllosen Vorsichtsmaßregeln die Blicke aller Vorübergehenden auf sich ziehend. In dem Laden angelangt, glaubte der Kapitän, das Zartgefühl fordere von ihm, sich für die Dauer des Einkaufs, der aus Kleidungsartikeln bestehen sollte, zurückzuziehen. Zuvor aber stellte er seine Zinnbüchse auf den Tisch und erklärte dem Ladenmädchen, daß sie vierzehn Pfund zwei Schillinge enthalte. Wenn übrigens dieser Betrag nicht zureiche, um den Aufwand für die kleine Ausstattung seiner Nichte zu bestreiten – bei dem Wort »Nichte« warf er Florence einen sehr bedeutsamen Blick zu und begleitete denselben mit einer Gebärde, die Schlauheit und Geheimnisfülle ausdrückte – so solle sie nur die Güte haben, Signal zur Tür hinaus zu geben, da er dann den Mehrbetrag aus seiner Tasche entrichten wolle. Gelegentlich zog er auch seine große Uhr hervor, als ein schlaues Mittel, das Ladenpersonal durch den Anschein von großem Vermögen zu blenden, küßte sodann gegen die neue Nichte seinen Haken und ging zur Tür hinaus, nach der Außenseite des Fensters, wo man von Zeit zu Zeit unter den Seidenstoffen und Bändern sein großes Gesicht in augenscheinlichem Argwohn hereingucken sah, Florence könnte durch eine Hintertür geistartig verschwinden.

»Mein lieber Kapitän«, sagte Florence, als sie mit einem Päckchen herauskam, dessen Umfang die Erwartungen des Kapitäns sehr enttäuschte, da dieser geglaubt hatte, es werde ihr ein Lastträger mit einem Warenballen folgen, »ich brauche in der Tat dieses Geld nicht und habe auch nichts davon ausgegeben. Ich bin selbst mit Geld versehen.«

»Mein kleines Fräulein«, entgegnete der betroffene Kapitän und ließ seinen Blick die Straße hinuntergleiten, »wollt Ihr so gut sein, es für mich aufzuheben, bis ich es einmal fordere?«

»Darf ich es an den gewöhnlichen Platz zurückstellen und es dort aufbewahren?« fragte Florence.

Der Kapitän war mit diesem Vorschlag nicht ganz zufrieden, antwortete aber:

»Nun ja, mein Kindchen, stellt es hin, wohin Ihr wollt, wofern Ihr nur wißt, daß Ihr es wieder finden könnt. Für mich ist es unnütz«, fügte er hinzu, »und es wundert mich nur, daß ich es nicht schon längst beim Würfeln verspielt habe.«

Der Kapitän war für den Augenblick völlig entmutigt, lebte aber bei der ersten Berührung von Florences Arm wieder auf, und sie kehrten mit derselben Vorsicht wie auf dem Herweg nach Hause zurück. Der Kapitän öffnete die Tür zum Bord des kleinen Midshipman und huschte mit einer Schnelle hinein, wie nur viele Übung es ihn gelehrt haben konnte. Während Florences Morgenschlummer hatte er die Tochter einer älteren Frau gemietet, die gewöhnlich auf dem Leaden Hall-Markt unter einem blauen Sonnenschirm Geflügel verkaufte, daß sie ins Haus komme, Florences Zimmer in Ordnung bringe und ihr andere kleine Dienste leiste. Während ihrer Abwesenheit war diese Jungfer erschienen, und Florence fand jetzt alles um sich her so bequem und ordentlich, wenn auch nicht so schön, wie in dem schrecklichen Traum, den sie früher ihre Heimat nannte.

Sobald sie wieder allein waren, bestand der Kapitän darauf, daß sie eine Röstschnitte essen und ein Glas Würzgrog, den er vortrefflich anzufertigen wußte, trinken müsse. Nachdem er ihr außerdem mit freundlichen Worten und allen nur erdenklichen ungereimten Redewendungen zugesprochen hatte, führte er sie zu ihrem Schlafgemach hinauf. Aber auch er trug etwas auf seinem Herzen, und seinem ganzen Wesen war eine gewisse Unruhe anzumerken.

»Gute Nacht, mein liebes Herz«, sagte er zu ihr, als er sich an der Tür von ihr verabschiedete.

Florence erhob ihre Lippen zu seinem Gesicht und küßte ihn.

Zu jeder andern Zeit würde der Kapitän durch einen solchen Beweis von Zuneigung und Dankbarkeit ganz und gar das Gleichgewicht verloren haben. Aber obschon er auch jetzt nicht unempfindlich dafür war, blickte er ihr sogar mit größerer Unruhe, als er früher kundgegeben, ins Gesicht und schien nicht Lust zu haben, sie zu verlassen.

»Der arme Wal’r!« sagte der Kapitän.

»Der arme, arme Walter!« seufzte Florence.

»Ertrunken, nicht wahr?« sagte der Kapitän.

Florence schüttelte den Kopf und seufzte.

»Gute Nacht, mein kleines Fräulein!« sagte Kapitän Cuttle, seine Hand ausstreckend.

»Gott behüte Euch, mein lieber, wohlwollender Freund!«

Aber der Kapitän zögerte noch immer.

»Ist etwas vorgefallen, lieber Kapitän Cuttle?« fragte Florence, die in ihrem gegenwärtigen Gemütszustand leicht in Schrecken geriet. »Habt Ihr mir etwas zu sagen?«

»Euch etwas zu sagen, Frauenzimmerchen?« versetzte der Kapitän, sie in großer Verwirrung ansehend. »Nein, nein; was sollte ich Euch auch zu sagen haben, mein Herz? Ihr erwartet doch nicht, daß ich Euch etwas Gutes mitteilen könne?«

»Nein«, versetzte Florence kopfschüttelnd.

Der Kapitän blickte gedankenvoll nach ihr hin, wiederholte das »Nein« und zögerte noch immer in großer Verlegenheit.

»Armer Wal’r«, sagte er. »Mein Wal’r, wie ich dich zu nennen pflegte! Neffe des alten Sol Gills. Allen, die dich gekannt haben, so willkommen wie die Blumen im Mai! Wo bist du hingekommen, wackerer Junge – ertrunken, nicht wahr?«

Sein Selbstgespräch mit diesem plötzlichen Grübeln und dieser Wendung an Florencen schließend, wünschte er ihr gute Nacht und stieg die Treppe hinunter, während sie oben das Licht hinaushielt, um ihm zu leuchten. Er war schon in der Dunkelheit verschwunden und, wenn man aus dem Schall seiner sich entfernenden Tritte einen Schluß ziehen durfte, eben im Begriff, nach dem kleinen Stübchen sich zu wenden, als sein Kopf und seine Schultern unerwartet wieder aus der Tiefe auftauchten, augenscheinlich in keiner anderen Absicht, als um die Worte zu wiederholen: »Ertrunken, nicht wahr, meine Liebe?« Wenigstens verschwand er sogleich wieder, nachdem er diese Frage im Tone zarten Mitleids gestellt hatte.

Florence bedauerte sehr, daß sie durch ihre Flucht hierher – ohne es zu wissen, obschon ganz natürlich – im Innern ihres Beschützers solche Erinnerungen geweckt hatte. Sie setzte sich an den kleinen Tisch, den der Kapitän mit dem Fernrohr, dem Gesangbuch und andern Raritäten ausgestattet hatte, und dachte an Walter und alle die Dinge, die in der Vergangenheit mit ihm in Verbindung standen, bis sie zuletzt fast wünschte, sie möchte sich niederlegen und sterben können. Aber ihrer einsamen Sehnsucht nach dem Toten, den sie geliebt hatte, mengte sich kein Gedanke an die Heimat oder an die Möglichkeit der Rückkehr dahin – kein Bild von ihrem Vorhandensein bei. Sie hatte den Mord vollziehen sehen. Als der Vater, an dem sie so sehr gehangen, das letztemal vor ihr gestanden, war auch jede zögernde Spur von dem so zärtlich gehegten Bilde aus ihrem Heizen gerissen, verzerrt und erschlagen worden. Der Gedanke daran wirkte so erschütternd auf sie, daß sie die Augen bedeckte und nur mit Zittern auf die Tat oder die grausame Hand, die sie verübte, zurückblicken konnte. Wenn ihr inniges Herz imstande gewesen wäre, nach einem solchen Vorgang sein Bild noch länger zu bewahren, so hätte es brechen müssen. Aber es vermochte dies nicht, und an die Stelle der Leere trat eine wilde Furcht, die vor jedem zerstreuten Bruchstück dieses Bildes sich flüchtete – eine Furcht, die sich nur aus den Tiefen einer so innigen, einer so schwer verletzten Liebe erheben konnte.

Sie wagte es nicht, in den Spiegel zu sehen; denn bei dem Anblick des dunklen Males auf ihrer Brust erschrak sie vor sich selbst, als trage sie etwas Abscheuliches an sich herum. Sie bedeckte es im Dunkeln mit hastiger, unsteter Hand und legte weinend ihr müdes Haupt nieder.

Der Kapitän ging noch lange nicht zu Bett, sondern spazierte eine volle Stunde in dem Laden und in dem Hinterstübchen umher. Nachdem er durch diese Leibesübung wieder zu einiger Fassung gekommen war, setzte er sich mit ernstem gedankenvollen Gesicht nieder und las aus dem Gebetbuch die Gebetformeln für Seeleute. Das war nicht so leicht abgetan; denn der gute Kapitän war ein sehr langsamer, ungeschickter Leser und machte oft bei einem schweren Worte halt, um sich durch ein »na, mein Junge! nur lustig vorwärts!« oder »los, Ed’ard Cuttle, los!« zu ermuntern – Zusprüche, die ihm in der Regel aus jeder Not halfen. Dazu kam noch, daß sein Sehvermögen durch die Brille sehr beeinträchtigt wurde. Aber ungeachtet dieser Hindernisse lag der Kapitän, dem es sehr ernst damit war, mit großem Gefühl den Schiffsgottesdienst bis auf die letzte Zeile und verstaute sich dann in großer Zufriedenheit über das vollbrachte Werk mit heiterer Seele und mit von Wohlwollen strahlendem Gesicht unter dem Ladentisch, nachdem er zuvor noch die Treppe hinaufgegangen war und an Florences Tür gelauscht hatte.

Er stand auch im Laufe der Nacht mehrere Male auf, um sich zu überzeugen, daß sein Pflegling ruhig schlummere, bis er bei Tagesanbruch die Entdeckung machte, daß sie wache. Sie hörte nämlich Fußtritte in der Nähe der Tür und rief ihm zu, ob er es sei.

»Ja, mein kleines Fräulein«, versetzte der Kapitän in dumpfem Flüstern. »Steht alles recht bei Euch, mein Kleinod?«

Florence dankte ihm und sagte »Ja«.

Der Kapitän konnte eine so günstige Gelegenheit nicht versäumen und legte seinen Mund an das Schlüsselloch, durch das er wie eine heitere Brise rief:

»Der arme Wal’r! ertrunken – ist es nicht so?« Dann ging er wieder hinunter, verstaute sich abermals und schlief bis gegen sieben Uhr.

Im Laufe des ganzen Tages zeigte sich an ihm immer noch das unruhige, verlegene Wesen, obgleich sich Florence, die in dem kleinen Hinterstübchen ihre Nadel in Tätigkeit setzte, in weit gefaßterer Stimmung befand, als am vorhergehenden Tage. Indessen bemerkte sie fast immer, so oft sie die Augen von ihrer Arbeit aufschlug, daß der Kapitän nach ihr hinsah und sich gedankenvoll das Kinn strich. Auch rückte er seinen Armstuhl oft an ihre Seite, als ob er ihr eine vertrauliche Mitteilung machen wolle, schob ihn aber immer wieder zurück, da er über den Anfang nicht mit sich ins reine zu kommen schien, so daß er im Lauf des Tages mit dieser gebrechlichen Barke das ganze Stübchen nach allen Richtungen durchkreuzte und mehr als einmal in sehr trostloser Lage an dem Getäfel oder der Schranktür auf den Strand lief.

Endlich um die Zeit der Dämmerung warf Kapitän Cuttle neben Florence Anker und begann in einigem Zusammenhang zu reden. Als jedoch das Licht des Feuers die Wände und Decke des kleinen Stübchens, das Teebrett mit seinen Tassen auf dem Tisch und ihr ruhiges, der Flamme zugekehrtes Gesicht erhellte, während es zugleich sich in den Tränen spiegelte, die ihre Augen füllten, unterbrach der Kapitän ein langes Schweigen folgendermaßen:

»Ihr seid wohl noch nie zur See gewesen, meine Liebe?«

»Nein«, versetzte Florence.

»Hm«, sagte der Kapitän respektvoll; »es ist ein allmächtiges Element. Es gibt Wunder in der Tiefe, mein Schätzchen. Denkt Euch, wenn die Winde brausen und die Wellen sich auftürmen, denkt Euch eine Sturmnacht, so pechfinster«, fuhr der Kapitän fort, indem er feierlich seinen Haken in die Höhe hielt, »daß man nicht einmal die vorgehaltene Hand sehen kann, wenn nicht etwa ein Blitzstrahl sie erhellt, wo es dann fort, fort und fort geht durch Sturm und Dunkel, als gehe es schnabelvoran immer weiter in die Welt ohne Ende, Amen, und wenn Ihr es gefunden habt, so biegt ein Ohr ein. Das sind Zeiten, mein schönes Kind, wo einer wohl zu seinem Kameraden sagen kann: ›Ein steifer Nordwester, Bill; horch – hörst du ihn brausen? Gott helfe ihnen – wie dauert mich jetzt all das unglückliche Volk am Lande!‹«

Diese Rede, die in eigentümlicher Weise die Schrecken des Ozeans versinnlichte, brachte der Kapitän in sehr nachdrücklicher Weise hervor, und den Schluß bildete ein kräftiges: »Halt bei!«

»Habt Ihr schon einen schweren Sturm durchgemacht?« fragte Florence.

»Ei ja, Kindchen, ich habe meinen Teil schlecht Wetter gesehen«, sagte der Kapitän, mit bebender Hand seinen Kopf trocknend, »ich bin tüchtig umhergeworfen worden; aber – aber ich wollte nicht von mir selbst sprechen. Unser lieber Junge«, – er rückte ihr näher – »Wal’r, meine Liebe, der ertrunken ist.«

Der Kapitän sprach mit so unsicherer Stimme und blickte Florence mit einem so blassen aufgeregten Gesicht an, daß sie sich erschreckt an seinen Arm schmiegte.

»Euer Gesicht ist verändert«, sagte Florence. »Ihr seht mit einem Male so ganz anders aus. Was gibt es? Lieber Kapitän Cuttle, es überläuft mich eiskalt, wenn ich Euch so sehe.«

»Ach, Kindchen«, entgegnete der Kapitän, sie mit seiner Hand unterstützend, »Ihr müßt Euch nicht so an den Mast zurückwerfen lassen. Nein, nein, es steht alles recht, alles recht, meine Liebe. Was ich sagen wollte – Wal’r – er ist – er ist ertrunken. Ist es nicht so?«

Florence verwandte keinen Blick von ihm und legte, bald errötend, bald erblassend, ihre Hand auf die Brust.

»Es gibt Mühseligkeiten und Gefahren auf der Tiefe, meine Schönheit«, sagte der Kapitän, »und über manchem wackeren Schiff, über manchem und manchem kühnen Herzen hat sich das verschwiegene Wasser geschlossen, ohne etwas von seiner Geschichte zu erzählen. Aber man entkommt auch aus der Tiefe, und bisweilen wird ein einziger Mann von einem halb Hundert – ja, von einem Hundert vielleicht, mein Herzchen – durch die Gnade Gottes gerettet, so daß er wieder nach Hause kommt, nachdem man ihn für tot gehalten und alles ihn für verloren gegeben hat. Ich – ich kenne eine derartige Geschichte, Herzensfreude«, stotterte der Kapitän, »die mir einmal erzählt wurde, und da wir jetzt auf diesem Gang sind und wir beide, Ihr und ich, allein beim Feuer sitzen, so ist es Euch vielleicht nicht unangenehm, wenn ich sie Euch erzähle. Ist es Euch recht, meine Liebe?«

Zitternd vor Aufregung, die sie nicht beherrschen oder sich erklären konnte, folgte Florence unwillkürlich seinem Blick nach einer Stelle hinter ihr im Laden, wo eine Lampe brannte. Aber ebenso schnell, als sie den Kopf umwandte, sprang der Kapitän von seinem Stuhl auf und hielt sie mit der Hand zurück.

»Es ist nichts da, mein schönes Kind«, sagte er. »Ihr müßt nicht dorthin sehen.«

»Warum nicht?« fragte Florence.

Der Kapitän murmelte vor sich hin, es sei dort so finster, um das Feuer herum aber so behaglich. Dann lehnte er die Tür, die bis jetzt offen gestanden hatte, an und nahm seinen Sitz wieder ein. Florence folgte ihm mit den Augen und verwandte keinen Blick von seinem Gesicht.

»Die Geschichte betrifft ein Schiff, mein Herzenskind«, begann der Kapitän, »das mit günstigem Wind und Wetter aus dem Hafen von London aussegelte und nach – erschreckt nicht, mein Kindchen – es war nur nach auswärts bestimmt, mein Herz, nur nach auswärts.«

Der Ausdruck in Florences Gesicht beunruhigte den Kapitän, der selbst sehr erhitzt war und kaum weniger Aufregung zeigte als sie.

»Soll ich fortfahren, mein schönes Kind?« sagte der Kapitän.

»Ja, ja, bitte!« rief Florence.

Der Kapitän schluckte, als müsse etwas hinunter, was ihm in der Kehle stecken geblieben war, und fuhr mit unsicherer Stimme fort:

»Jenes unglückliche Schiff wurde in der See draußen von so schlechtem Wetter betroffen, wie man es in zwanzig Jahren kaum einmal trifft, meine Liebe. Es gibt Orkane am Land, die ganze Wälder und Städte niederreißen, und es gibt in jenen Breiten zur See Stürme, die das stärkste Schiff, das je vom Stapel gelassen wurde, nicht aushalten kann. Wie mir erzählt wurde, benahm sich jenes unglückliche Schiff Tag um Tag wacker und hat seine Schuldigkeit getan, meine Liebe. Aber mit einem einzigen Stoß waren fast alle seine Bollwerke eingestoßen, Masten und Steuer weggerissen und die besten Matrosen über Bord gefegt, so daß der Rumpf ganz der Gnade eines Sturmes preisgegeben war, der nicht gnädig verfuhr, sondern immer schwerer und schwerer blies, während die Wellen über ihn hinschlugen und ihn jedesmal mit ihrem donnernden Anprall wie eine Eierschale zerknickten. Jeder schwarze Punkt auf den Wasserbergen, die weiterrollten, war ein Stückchen von dem Leben des Schiffs oder ein lebender Mensch, und so ging es in Trümmer, mein liebes Mädchen, ohne daß je Gras wachsen wird über den Gräbern derer, die das Fahrzeug bemannt hatten.«

»Sie gingen nicht alle zugrunde!« rief Florence. »Einige wurden gerettet! – war es vielleicht nur ein Einziger?«

»An Bord jenes unglücklichen Schiffes«, sagte der Kapitän, indem er von seinem Stuhl aufstand und mit außerordentlichem Nachdruck jubelnd seine Hand ballte, »befand sich ein Junge, ein wackerer Junge – wie ich mir erzählen ließ – der als Knabe gerne von wackeren Handlungen bei Schiffbrüchen las und sprach – ich habe ihn gehört! ich habe ihn gehört! – und er erinnerte sich derselben in der Stunde seiner Not; denn während die mutigsten Herzen und die erfahrensten Matrosen niedergeholt wurden, blieb er fest und wohlgemut. Es war nicht der Mangel an Gegenständen der Liebe und Zuneigung auf dem Lande, was ihm solchen Mut gab, sondern es war sein natürlicher Sinn. Ich habe das in seinem Gesicht gelesen, als er noch ein bloßes Kind war – ja, oft und vielmal – obschon ich damals dachte, es sei nichts, als sein gutes Aussehen, Gott segne ihn!«

»Und er wurde gerettet!« rief Florence. »Wurde er gerettet?«

»Jener brave Junge«, sagte der Kapitän – »schaut mich an, mein Herzchen! Ihr müßt Euch nicht umsehen.«

Florence vermochte kaum zu wiederholen: »Warum nicht?«

»Weil nichts da ist, meine Liebe«, antwortete der Kapitän. »Laßt Euch nicht an den Mast zurückwerfen, mein hübsches Kind! Tut es nicht um Wal’rs willen, der uns allen lieb war! Jener Junge«, fuhr er fort, »nachdem er mit den Besten um die Wette gearbeitet und den Mutlosesten beigestanden hatte, ohne sich je zu beklagen oder ein Zeichen von Furcht blicken zu lassen, so daß er allen Matrosen einen Mut einflößte, der ihm Ehre machte, als wäre er ein Admiral gewesen – jener Junge blieb mit dem zweiten Maat und einem einzigen Matrosen von all den klopfenden Herzen, die an Bord jenes Schiffes gingen, allein am Leben – sie hatten sich an ein Stück des Wracks festgebunden und schweiften weiter auf dem stürmischen Meere.«

»Wurden sie gerettet?« rief Florence.

»Tage und Nächte schweiften sie fort auf dem endlosen Wasser«, sagte der Kapitän, »bis endlich – nein. Ihr müßt nicht dorthin sehen, mein Herzchen – ein Segel auf sie zukam, und sie wurden mit Gottes Erbarmen an Bord genommen, zwei noch am Leben und einer tot.«

»Welcher von ihnen war tot?« rief Florence.

»Nicht der Junge, von dem ich spreche«, sagte der Kapitän.

»Gott sei Dank! o, Gott sei Dank!«

»Amen!« fiel der Kapitän ein. »Laßt Euch nicht an den Mast zurückwerfen! Nur noch eine Minute standhalten, mein kleines Fräulein. An Bord jenes Schiffes nun machten sie eine lange Reise geradenwegs über die Karte hin; denn sie hielten nirgends an, und während dieser Fahrt starb der Matrose, der mit ihm aufgelesen wurde. Aber er blieb verschont und –«

Ohne zu wissen, was er tat, hatte der Kapitän eine Scheibe Brot von dem Laib abgeschnitten, sie an seinen Haken, der seine gewöhnliche Röstgabel war, gesteckt und über das Feuer gehalten; er sah dabei mit großer Aufregung in seinem Gesicht nach einer Stelle hinter Florence hin und ließ das Brot zu Kohle zusammenbrennen. »Blieb verschont«, wiederholte Florence, »und – –?«

»Und machte in jenem Schiff die Heimreise«, sagte der Kapitän, noch immer in dieselbe Richtung schauend, »und – erschreckt nur nicht, mein Schätzchen – wurde ans Land gebracht. Da kam er nun eines Morgens vorsichtig nach seiner eigenen Türe, um eine Beobachtung anzustellen, weil er wußte, daß seine Freunde ihn für ertrunken hielten, fuhr aber wieder ab bei dem unerwarteten – –«

»Bei dem unerwarteten Bellen eines Hundes?« rief Florence rasch.

»Ja«, rief der Kapitän. »Ausgehalten, mein Schatz! Mut! Ihr müßt noch nicht umschauen. Seht, dort – an der Wand!«

An der Wand in ihrer Nähe war der Schatten eines Mannes sichtbar. Sie sprang auf, schaute um und stieß einen jähen Schrei aus, als sie Walter Gay hinter sich erblickte.

Sie sah in ihm nichts anderes als einen Bruder, einen Bruder, der aus dem Grab erstanden war, einen schiffbrüchigen Bruder, der sich gerettet hatte und jetzt an ihrer Seite stand. Im Augenblick lag sie in seinen Armen; denn er schien ihr jetzt ihr Trost, ihre Hoffnung, ihre Zuflucht und ihr natürlicher Beschützer zu sein. »Vergeßt Walter nicht; Walter ist mir lieb gewesen!« Das teure Andenken an die ersterbende Stimme, die so gesprochen, erfüllte ihre Seele wie nächtliche Musik. »O, willkommen in der Heimat, liebster Walter! Willkommen diesem schwer geprüften Herzen!« Sie fühlte die Worte, obschon sie diese nicht aussprechen konnte, und hielt ihn in reiner Umarmung umfangen.

In einem Anfall von Irrsinn versuchte der Kapitän Cuttle sich den Kopf mit der zu Kohle verbrannten Brotscheibe an seinem Haken zu wischen, und da er diese Substanz unpassend fand, so warf er sie in die Krone seines Glanzhutes, den er mit einiger Schwierigkeit auf seinem Kopf zurechtbrachte. Dann fing er einen Vers von der lieblichen Peg an, brach aber schon mit dem ersten Wort wieder ab und zog sich nach dem Laden zurück, von wo aus er schnell mit glutrotem, beschmiertem Gesicht und ganz schlaffem Hemdkragen wieder zurückkam, um die Worte zu sprechen:

»Wal’r, mein Junge, hier ist ein bißchen Eigentum, das ich euch beiden gemeinschaftlich ausfolgen möchte!«

Der Kapitän langte hastig die große Uhr, die Teelöffel, die Zuckerzange und die Zinnbüchse hervor, legte sie auf den Tisch und fegte sie mit seiner großen Hand in Walters Hut. Als er jedoch diesen wunderlichen Sparhafen Walter vermachte, fühlte er sich abermals so angegriffen, daß er aufs neue in den Laden flüchten mußte, um dieses Mal länger auszubleiben, als bei seinem ersten Rückzuge.

Walter ging ihm jedoch nach, um ihn zu holen, und nun drückte der Kapitän seine große Besorgnis aus, die Erschütterung könnte Florence nachteilig werden. Er fühlte dies so angelegentlich, daß er wieder ganz vernünftig wurde und Waltern für die nächsten paar Tage jede weitere Berührung seiner Abenteuer aufs entschiedenste untersagte. Er hatte jetzt hinreichend Fassung gewonnen, um sich der verkohlten Brotscheibe in seinem Hut zu entledigen und seinen Platz am Teetisch einzunehmen. Als er aber zu seiner Rechten auf der Schulter Walters Hand fühlte und zur Linken Florence ihre tränenvollen Glückwünsche flüstern hörte, stürzte er plötzlich wieder hinaus und ließ gute zehn Minuten nichts von sich sehen.

In seinem ganzen Leben nie hatte das Gesicht des Kapitäns so geglänzt und gestrahlt, wie um die Zeit, als er endlich am Teetisch festsaß und bald Walter, bald Florence ansah. Auch wurde diese Wirkung weder hervorgebracht noch erhöht durch das Reiben mit dem Rockärmel, das während der letzten halben Stunde fast unablässig stattfand. Der Glanz war ausschließlich der Abdruck seiner inneren Erregtheit. In dem Kapitän selbst herrschte eine Wonne und Herrlichkeit, die sich über sein ganzes Gesicht verbreitete und es wahrhaft illuminierte.

Einen Beitrag dazu lieferte wohl der Stolz, mit dem der Kapitän die gebräunten Wangen und das mutige Auge seines wiedergewonnenen Knaben betrachtete – der Stolz, mit dem er die edle Glut des Jünglings in aller ihrer Offenheit und Hoffnungsfülle wieder in dem frischen, festen Wesen und in dem glühenden Gesicht leuchten sah. Einen gleichen Eindruck übte die Bewunderung und Teilnahme, mit der er seine Blicke auf Florence wandte, deren Schönheit, Anmut und Unschuld keinen treueren und eifrigeren Kämpen hätte gewinnen können, als ihn selbst. Aber die Hauptglorie, die sich um ihn ergoß, konnte bloß durch die Betrachtung der beiden zugleich und durch die schönen Bilder hervorgerufen werden, die in Verbindung mit diesem Anblick in seinem Kopf funkelnd und strahlend umhertanzten.

Wie sie von dem armen Onkel Sol sprachen und bei jedem kleinen Umstand verweilten, der sich auf sein Verschwinden bezog; wie ihre Freude gedämpft wurde durch die Abwesenheit des alten Mannes und durch Florences Unglück; wie sie Diogenes in Freiheit setzten, den der Kapitän vor einiger Zeit die Treppe hinaufgelockt hatte, damit er nicht wieder belle; alles das begriff der Kapitän vollkommen, obschon er sich in einer dauernden Aufregung befand und noch oft wieder für ein Weilchen in den Laden hinausstürzte. Wenn aber Walters Augen so oft das liebende Gesicht suchten und selten dem offenen Blick schwesterlicher Liebe begegneten, ohne sich zur Erde zu senken, ließ er es sich ebensowenig träumen, daß sein Junge Florence so ferne stehen könne, wie er glaubte, daß die ihm zur Seite sitzende Gestalt Walters Geist sei. Er sah sie da, beisammen in ihrer Jugend und Schönheit, kannte die Geschichte ihrer jüngeren Tage und hatte unter seiner großen blauen Weste keinen Zoll Raum für etwas anderes, als für die Bewunderung gegen ein solches Paar und für den Dank, den er dem Allmächtigen spendete, der sie wieder vereinigt hatte.

Sie blieben beieinander sitzen, bis es spät geworden war. Der Kapitän hätte eine Woche so bleiben können. Aber Walter erhob sich, um für die Nacht Abschied zu nehmen.

»Ihr geht, Walter!« sagte Florence. »Wohin?«

»Er hat seine Hängematte vorderhand bei Brogley drüben aufgeschlungen, kleines Fräulein«, sagte Kapitän Cuttle. »Es ist in Rufweite, Herzensfreude.«

»Ich bin die Ursache, daß Ihr wieder fort müßt, Walter«, sagte Florence. »Eure Stelle hat eine heimatlose Schwester eingenommen.«

»Liebste Miß Dombey«, versetzte Walter stockend – »wenn es nicht zu dreist ist, Euch so zu nennen –«

»Walter!« lief sie erstaunt.

»Wenn mich irgend etwas glücklicher machen könnte, als die Erlaubnis, Euch zu sehen und zu sprechen, würde das nicht die Entdeckung sein, daß ich auch nur einigermaßen Euch nützlich geworden bin? Wohin wollte ich nicht gehen, was würde ich nicht tun um Euretwillen?«

Sie lächelte und nannte ihn Bruder.

»Ihr seid so verändert«, sagte Walter –

»Ich verändert?« unterbrach sie ihn.

»Gegen mich«, sagte Walter, als ob er nur laut vor sich hindenke. »Verändert gegen mich. Ich verließ Euch als ein Kind und finde Euch – o, so ganz anders –«

»Doch als Eure Schwester, Walter. Ihr habt nicht vergessen, was wir beim Abschied einander versprachen?«

»Vergessen!«

Nur dieses, nicht weiter.

»Und wenn Leiden und Gefahr es aus Euren Gedanken verdrängt haben sollten – ich glaube es übrigens nicht –, so würdet Ihr Euch dessen jetzt entsinnen, Walter, da Ihr mich arm und verlassen findet, mit keiner andern Heimat, als dieser hier, und keinen Freunden, als den beiden, die mich sprechen hören.«

»Jawohl! der Himmel weiß es!« sagte Walter.

»O Walter!« rief Florence unter Schluchzen und Tränen. »Teurer Bruder! zeigt mir einen Weg durch die Welt – einen bescheidenen Pfad, den ich allein gehen kann und auf dem mich meine Arbeit weiterbringt. Ich will dann an Euch denken als an den, der mich als Schwester schützen und für mich sorgen wird! O, steht mir bei, Walter, denn ich bin der Hilfe so sehr bedürftig!«

»Miß Dombey! Florence! Ich würde für Euch in den Tod gehen, wenn ich Euch damit dienen könnte. Aber Eure Verwandten sind stolz und reich – Euer Vater – –«

»Nein, nein, Walter!« rief sie laut hinaus und hielt in einer Haltung des Entsetzens, die ihn sofort innehalten ließ, ihre Hände an den Kopf. »Sprecht dieses Wort nicht.«

Er vergaß von Stunde an nie die Stimme und den Blick, womit sie ihm bei Nennung dieses Namens Einhalt getan hatte. Es war ihm, als könne er das nie vergessen, und wenn er Jahrhunderte lebte. Irgendwo – überall – nur nicht in der Heimat! Alles dahin, alles vergangen, verloren und zertrümmert. Die ganze Geschichte ihres stillen, verachteten Lebens lag in dem Ruf und in dem Blick; er fühlte, daß er sie nie vergessen konnte, und bewahrte beides in seinem Gedächtnis.

Sie legte ihr holdes Gesicht auf die Schulter des Kapitäns und erzählte, wie und warum sie geflohen war. Wenn jede schmerzliche Träne, die sie dabei vergoß, als Fluch auf das Haupt dessen gefallen wäre, den sie nie nannte oder tadelte, so würde das noch immerhin besser für ihn gewesen sein, dachte Walter erschüttert, als von einer solchen Kraft und Macht der Liebe aufgegeben zu werden.

»So, mein Kleinod!« sagte der Kapitän, als sie zum Schlusse gekommen war; er hatte ihren Worten die tiefste Aufmerksamkeit geschenkt und, den Glanzhut ganz schräg auf dem Kopf, mit weit aufgesperrtem Mund zugehört. »Gott behüte meine Augen! Wal’r, lieber Junge, segle jetzt für heut nacht ab und überlaß den Diamanten mir!«

Walter ergriff ihre Hand mit den seinen, drückte sie an die Lippen und küßte sie. Er wußte nun, daß sie ein heimatloser, unsteter Flüchtling war; in diesem Zustande aber ihm gegenüber reicher, als in dem ganzen Reichtum und Stolz der ihr gebührenden Stellung, so daß es ihm vorkam, sie stehe sogar auf einer viel höheren Stufe, als es die gewesen, nach der er in seinen knabenhaften Träumen schwindelnd hinaufgeblickt hatte.

Kapitän Cuttle, der sich nicht mit solchen Betrachtungen belästigte, geleitete Florence nach ihrem Gemach und hielt in Zwischenräumen auf dem gefeiten Grund vor ihrer Türe – denn das war er für ihn in Wirklichkeit – Wache, bis er sich im Geist hinreichend beruhigt fühlte, um sich unter dem Ladentisch verstauen zu können. Ehe er in dieser Absicht seinen Posten verließ, konnte er es sich in seinem Freudentaumel nicht versagen, noch einmal durch das Schlüsselloch zu rufen: »Ertrunken. Ist es nicht so, mein Schätzchen?« – und als er unten anlangte, machte er einen abermaligen Versuch mit jenem Vers von der lieblichen Peg. Aber es saß ihm etwas in der Kehle, und er konnte damit nicht fertig werden. Deshalb ging er zu Bett und träumte von dem alten Sol Gills, der mit Mrs. Mac Stinger verheiratet war und von dieser Dame bei schmaler Kost in einem verborgenen Stübchen gefangen gehalten wurde.

Fünfzigstes Kapitel.


Fünfzigstes Kapitel.

Mr. Toots Herzeleid.

Im oberen Stock des hölzernen Midshipmans befand sich ein leeres Zimmer, das in früherer Zeit Walters Schlafgemach gewesen war. Walter, der am andern Morgen beizeiten den Kapitän weckte, machte den Vorschlag, sie wollten es mit den schönsten Möbeln des Hinterstübchens ausstatten, damit Florence bei ihrem Herunterkommen davon Besitz nehmen könne. Kapitän Cuttle, dem nichts lieber war, als wenn er sich für eine solche Sache in Hitze und außer Atem bringen konnte, legte, wie er selbst sagte, mit gutem Willen Hand an, und nach ein paar Stunden war das erwähnte Stübchen in eine Art Landkajüte umgewandelt, der die auserlesensten Möbel des Hinterzimmers zur Zierde dienten. Sogar die Tartaren-Fregatte war nicht vergessen worden, und der Kapitän hing sie selbst mit einem so ungemeinen Wohlbehagen über dem Kaminsimse auf, daß er eine halbe Stunde lang nichts anderes zu tun wußte, als bewundernd vor dieser zu stehen oder vor ihr hin und zurück zu gehen.

Keine Überredung von Walters Seite konnte den Kapitän dazu bewegen, die große Taschenuhr aufzuziehen, die Zinnbüchse zurückzunehmen oder die Zuckerzange und die Teelöffel anzurühren. »Nein, nein, mein Junge«, lautete unabänderlich die Antwort des Kapitäns auf jeden derartigen Zuspruch, »ich habe das kleine Eigentum Euch beiden gemeinschaftlich vermacht.« Diese Worte wiederholte er mit großer Würde und Salbung, augenscheinlich des Glaubens lebend, sie hätten die Kraft einer Parlamentsakte und in einer solchen Form der Übertragung wäre kein Makel zu finden, wofern er nicht sich selbst durch irgendeine neue Einräumung des Besitzrechtes eine Blöße gab.

Die neue Einrichtung bot außer der größeren Abgeschiedenheit Florences auch den Vorteil, daß der Midshipman an seinem gewöhnlichen Beobachtungsposten wieder aufgestellt und auch die Ladenblende abgenommen werden konnte. Diese Zeremonie, wie wenig Wichtigkeit ihr auch der nichtsahnende Kapitän beilegte, war nicht ganz überflüssig, denn der Umstand, daß tags zuvor der Laden verschlossen geblieben war, hatte in der Nachbarschaft große Aufregung verursacht. Man hatte dem Hause des Instrumentenmachers die Ehre einer ungewöhnlichen öffentlichen Teilnahme zugewiesen, indem vom Morgen bis zum Sonnenuntergang Gruppen hungriger Gaffer stehen blieben und von der andern Seite der Straße herüberglotzten. Die Müßiggänger und Landstreicher interessierten sich ganz besonders für das Schicksal des Kapitäns, indem sie sich in den Staub niederlegten, um durch das Kellergitter unter dem Ladenfenster hineinzuschauen und ihre Einbildungskraft durch die Vorstellung zu ergötzen, sie können einen Rockzipfel des in einer Ecke aufgehängten Mannes sehen. Freilich erhob sich gegen diese Annahme mannhafter Widerspruch von seiten einer andern Partei, die der Meinung war, er liege, mit einem Hammer ermordet, auf der Treppe. Es erregte daher einige Unzufriedenheit, als man am andern Morgen früh den Gegenstand dieser Gerüchte so gesund und wohl unter der Ladentür stehen sah, als ob gar nichts vorgefallen sei. Der Polizist des Stadtteils, ein Mann von ehrgeizigem Charakter, der auf die Auszeichnung gerechnet hatte, beim Erbrechen der Tür anwesend sein und in voller Uniform vor der Leichenschau Zeugnis ablegen zu dürfen, ging sogar so weit, daß er zu einem gegenüber wohnenden Nachbar sagte, der Kerl in dem Glanzhut töte besser, wenn er es nicht wieder probierte – ohne gerade das Was näher zu bezeichnen – und er, der Herr Polizist, wolle ein wachsames Auge auf ihn haben.

»Kapitän Cuttle«, sagte Walter nachsinnend, als sie, von ihrer Arbeit ausruhend, unter der Ladentür standen und die bekannte alte Straße hinabsahen – es war noch früh am Morgen. »Ihr habt also in dieser ganzen Zeit gar nichts von Onkel Sol erfahren?«

»Nicht das mindeste, mein Junge«, versetzte der Kapitän mit Kopfschütteln.

»Der liebe, gute alte Mann ist fortgegangen, um mich zu suchen«, sagte Walter, »und hat Euch nicht ein einziges Mal geschrieben! Aber warum nicht? Er sagt doch ausdrücklich in dem Paket, das Ihr mir gegeben habt«, er nahm aus seiner Tasche das Papier, das in Anwesenheit des erleuchteten Bunsby geöffnet worden war, »wenn Ihr vor Erbrechung desselben nichts von ihm hörtet, so könnt Ihr ihn für tot halten. Gott verhüte dies! Aber Ihr solltet von ihm gehört haben, auch wenn er tot ist, und wenn er nicht mehr schreiben konnte, hätte es sicherlich seinem Wunsche gemäß jemand anders getan, um Euch zu sagen, ›an diesem und jenem Tage starb in meinem Hause‹ oder ›unter meiner Pflege‹ und so weiter, ›Mr. Solomon Gills aus London, der Euch seinen letzten Gruß und diese letzte Botschaft zugehen läßt.‹«

Der Kapitän, der nie zuvor eine so klare Geisteshöhe der Wahrscheinlichkeit erklettert hatte, war sehr betroffen über die weite Aussicht, die sich vor ihm auftat, und entgegnete mit einem gedankenvollen Kopfschütteln:

»Wohl gesprochen, mein Junge; sehr wohl gesprochen!«

»Ich habe mir während einer ganzen schlaflosen Nacht Gedanken darüber gemacht«, sagte Walter und fügte errötend bei, »oder wenigstens an das eine und das andere gedacht und kann nicht anders glauben, Kapitän Cuttle, als daß mein Onkel Sol – Gottes Segen sei mit ihm! – noch am Leben sei und zurückkehren wird. Ich wundere mich nicht so fast über sein Fortgehen, denn abgesehen von der Vorliebe für das Abenteuerliche, die stets in seinem Charakter lag, und seiner großen Zuneigung zu mir, vor der jede andere Rücksicht seines Lebens zunichte wurde, wie niemand besser weiß, als ich, der ich in ihm den besten aller Väter hatte« – Walters Stimme wurde hierbei unbestimmt und heiser, während er zugleich den Blick abwandte und auf die Straße hinunterschaute – »ich sage, abgesehen hiervon, habe ich von Leuten gelesen und gehört, die nach dem vermeintlichen Schiffbruch eines nahen treuen Verwandten ihren Wohnort nach dem Teil der Küste hin verlegten, wo Nachrichten über das vermißte Schiff zuerst, wäre es auch nur eine Stunde oder zwei früher als anderswo, ankommen mußten, oder sogar nach dem Bestimmungsort des Fahrzeugs gereist sind, als ob sie in solcher Weise Auskunft erlangen könnten. Ich glaube, ich würde ebenso gut, wie ein anderer, oder vielleicht vor vielen andern so handeln. Jedenfalls kann ich mir nur noch nicht erklären, warum mein Onkel Euch nicht schrieb, da er das doch so augenscheinlich beabsichtigte, oder wie er auswärts gestorben sein sollte, ohne daß Ihr es durch eine andere Hand erführet.«

Kapitän Cuttle bemerkte kopfschüttelnd, sogar Jack Bunsby habe sich darin nicht zurechtfinden können, und dieser sei doch ein Mann von den gesundesten Ansichten.

»Wäre mein Onkel ein unbesonnener junger Mensch gewesen, der sich von einer lustigen Gesellschaft nach einem schlechten Wirtshaus verlocken lassen konnte, wo man ihn vielleicht wegen des Geldes, das er bei sich hatte, abfertigte«, sagte Walter, »oder wäre er ein leichtsinniger Matrose gewesen, der mit einem Sold von zwei oder drei Monaten in der Tasche ans Land ging, so könnte ich sein Verschwinden, ohne daß eine Spur von ihm zurückblieb, wohl begreifen. Denke ich aber daran, was er war – und was er hoffentlich noch ist – so kann ich es nicht glauben.«

»Wal’r, mein Junge«, fragte der Kapitän, seinen in Gedanken vertieften Gefährten aufmerksam betrachtend, »könnt Ihr nichts ‚rauskriegen?«

»Ich weiß in der Tat nicht, was ich davon halten soll, Kapitän Cuttle«, erwiderte Walter. »Ihr seid der Ansicht, er habe nie geschrieben? Ist das auch über allen Zweifel erhaben?«

»Wenn Sol Gills geschrieben hat, mein Junge«, versetzte der Kapitän im Tone der Beweisführung, »wo ist seine Nachricht?«

»Nehmen wir an, sie sei einer Privatperson anvertraut worden«, bemerkte Walter, »die diese vergessen, sorglos beiseite geworfen oder verloren hat. Sogar das ist mir noch wahrscheinlicher, als der andere Fall. Kurz, ich kann und will nicht das Schlimmste für möglich halten, Kapitän Cuttle.«

»Ihr seht, Wal’r, Hoffnung«, sagte der Kapitän, mit weiser Miene. »Hoffnung. Sie ist es, die Euch belebt. Die Hoffnung ist eine Boje – seht darüber in der sentimentalen Abteilung des kleinen Warbler nach – aber, du mein Himmel, Junge, wie jede andere Boje schwimmt sie nur und kann nirgendwohin gesteuert werden. Auf der sinnbildlichen Darstellung der Hoffnung ist ein Anker«, fügte der Kapitän bei; »aber was nützt einen der Anker, wenn man keinen Grund finden kann, um ihn einbeißen zu lassen?«

Kapitän Cuttle trug das nicht so sehr aus seiner gewöhnlichen Natur heraus, sondern eher in der Eigenschaft des wohlweisen Bürgers und Hausmanns vor, der sich für verpflichtet hält, einen Brocken von seinem Wissensvorrat einem unerfahrenen Jüngling mitzuteilen. In der Tat ertappte ihn auch Walter darauf, daß während dieser Worte sein Gesicht eigentlich strahlend wurde von neuer Hoffnung, und der gute Mann schloß ganz sachgemäß damit, daß er seinen Gefährten auf den Rücken klopfte und mit Begeisterung ausrief:

»Hurra, mein Junge, was mich betrifft, so bin ich Eurer Meinung.«

Walter erwiderte den Gruß mit heiterem Lachen und sagte:

»Jetzt nur noch ein Wort über meinen Onkel, Kapitän Cuttle. Ich nehme an, es sei unmöglich, daß er auf dem gewöhnlichen Wege geschrieben – Ihr versteht mich, durch Segel- oder Dampfschiffe?«

»Ja, ja, mein Junge«, entgegnete der Kapitän beifällig.

»Und daß Euch der Brief irgendwie verfehlte?«

»Nun, Wal’r«, sagte der Kapitän, mit einem leichten Anflug von Strenge seine Augen ihm zuwendend, »bin ich nicht, seit dieser gelehrte Mann, der alte Sol Gills, Euer Onkel, verlorenging, Tag und Nacht auf dem Auslug gewesen, ob nicht Nachrichten von ihm einliefen? Ist seinet- und euretwegen nicht mein Herz immer schwer und unruhig gewesen? War ich nicht, schlafend und wachend, unablässig auf meinem Posten, und würde ich mich nicht vor der Sünde gefürchtet haben, ihn zu verlassen, so lang der Midshipman da zusammenhält?«

»Ich weiß das, Kapitän Cuttle«, entgegnete Walter, seine Hand ergreifend; »ich weiß und fühle vollkommen, wie wahr alles ist, was Ihr sagt. Ihr zweifelt selbst auch nicht daran, ich sei hiervon so vollkommen überzeugt, wie von der Tatsache, daß mein Fuß wieder auf dieser Schwelle steht, und daß ich wieder diese treue Hand in der meinigen halte. Oder?«

»Nein, nein. Wal´r«, erwiderte der Kapitän mit leuchtendem Gesicht.

»Ich will keine weiteren Vermutungen aufstellen«, sagte Walter, indem er mit Wärme die harte Hand drückte und der Kapitän den Druck nicht weniger kräftig erwiderte, »und nur noch beifügen: der Himmel verhüte, daß ich das Eigentum meines Onkels berühre, Kapitän Cuttle. Alles, was er hier zurückließ, soll unter der Obhut des wackersten Mannes und des treuesten Verwalters bleiben – und wenn dieser nicht Cuttle heißt, so hat er gar keinen Namen! Jetzt, mein wackerer Freund, von – von Miß Dombey!«

Bei diesen letzten drei Worten ging in Walters Wesen eine große Veränderung vor; denn alle seine heitere Zuversicht schien ihn mit einem Male verlassen zu haben.

»Ich war der Ansicht, ehe mir Miß Dombey ins Wort fiel, als ich gestern abend von ihrem Vater sprach«, sagte Walter – »Ihr erinnert Euch, wie das geschah?«

Der Kapitän erinnerte sich dessen vollkommen und schüttelte den Kopf.

»Ich war damals der Ansicht«, fuhr Walter fort, »wir hätten nur eine einzige schwere Pflicht zu erfüllen, nämlich die, sie zu veranlassen, daß sie sich mit ihren Freunden in Verbindung setze und nach Haus zurückkehre.«

Der Kapitän murmelte ein schwaches »Heiliges Donnerwetter!« oder ein »Halt bei!«, kurz irgendeine derartige sachgemäße Bemerkung. Man konnte nicht recht darüber ins klare kommen, denn der Schrecken, mit dem er diese Ankündigung aufnahm, hatte die Laute ganz und gar erstickt.

»Aber das ist jetzt unmöglich!« sagte Walter. »Man darf hieran nicht mehr denken. Lieber wollte ich mich wieder auf das Stück Wrack versetzen lassen, auf dem ich seit meiner Bergung so oft im Traume wieder geschwommen bin, um in den Wellen weiter zu treiben und zu sterben.«

»Hurra, mein Junge!« rief der Kapitän in einem Ausbruch unbezwingbarer Freude. »Hurra! Hurra! Hurra!«

»Der Gedanke, daß sie, so jung, so gut und schön«, sagte Walter, »so zart erzogen und zu einem ganz andern Schicksal geboren, mit der rauhen Welt ringen soll! – Aber wir haben die Kluft gesehen, die alles hinter ihr absperrt, obschon niemand außer ihr deren Tiefe zu ermessen vermag. Es gibt für sie keine Rückkehr.«

Ohne gerade zu verstehen, was der junge Mann sagen wollte, gab Kapitän Cuttle seinen großen Beifall zu erkennen und bemerkte im Tone nachdrücklicher Bekräftigung, daß der Wind recht von hinten komme.

»Man sollte sie nicht allein hier lassen; seid Ihr nicht auch der Ansicht, Kapitän Cuttle?« fragte Walter ängstlich.

»Na, mein Junge«, versetzte der Kapitän nach kurzer, weiser Erwägung, »ich weiß nicht. Ihr seht, Ihr seid da und könnt ihr Gesellschaft leisten, und ihr beide zusammen –«

»Mein lieber Kapitän Cuttle, wie könnt Ihr von mir reden?« verwies ihm Walter. »Miß Dombey betrachtet mich in ihrem arglosen, unschuldigen Herzen als ihren angenommenen Bruder. Aber wie schlimm und schuldig müßte mein Herz sein, wenn ich den Glauben heuchelte, daß ich in dieser Eigenschaft ein Recht habe, mich mit ihr vertraulich zu machen, während ich doch weiß, daß mir dies meine Ehre verbietet?«

»Wal’r, mein Junge«, deutete der Kapitän an, und der frühere Kleinmut wollte einigermaßen wieder aufleben, »gibt es denn keine andere Eigenschaft, als die –«

»O!« unterbrach ihn Walter, »wünscht Ihr, daß ich sterbe in ihrer Achtung – in einer Achtung, wie die ihrige – und daß ich für immer einen Schleier lege zwischen mich und ihr engelgleiches Antlitz, indem ich aus ihrer Schutzlosigkeit und dem Vertrauen, das sie hierher geführt hat, Vorteil ziehe und mich erdreiste, bei ihr den Liebhaber zu spielen? Was sage ich! Wenn ich dies könnte, so würde niemand in der ganzen Welt mir entschiedener in den Weg treten, als Ihr.«

»Wal’r, mein Junge«, sagte der Kapitän, der immer kleinlauter wurde, »vorausgesetzt, es sei ein gerechter Grund oder ein Hindernis vorhanden, warum zwei Menschen im Hause des Bundes nicht vereinigt werden sollten – lest es nach und biegt ein Ohr ein – so würde ich sicherlich meine Erklärung abgeben beim Aufgebot. Fällt Euch da nicht eine andere Eigenschaft ein – wie, mein Junge?«

Walter winkte hastig verneinend mit der Hand.

»Gut, mein Junge«, brummte der Kapitän langsam, »ich leugne nicht, daß ich da die Ohren hängen lassen muß und in einer sauberen Klemme stecke. Aber was das kleine Fräulein betrifft, Wal’r, paßt auf, die Achtung und das Pflichtgefühl gegen sie gilt auch als Achtung und Pflichtgefühl in meinen Artikeln, wie ganz anders ich es mir auch gedacht haben mag, und deshalb folge ich auch Eurem Kielwasser, mein Junge, und fühle, daß Ihr da ohne Zweifel nur sachgemäß handelt. Aber gibt es denn keine andere Eigenschaft, gar keine andere?« fügte der Kapitän hinzu, mit sehr zaghaftem Gesicht über den Trümmern seines eingestürzten Luftschlosses brütend.

»Ich bin der Ansicht, Kapitän Cuttle«, sagte Walter, der mit heiterer Miene auf einen neuen Punkt überging, um auch den Kapitän heiterer zu stimmen – allerdings eine vergebliche Bemühung, da dieser viel zu bekümmert war – »daß wir uns Mühe geben sollten, für Miß Dombey eine passende und zuverlässige Gesellschafterin aufzufinden, welche für die Dauer ihres Hierseins um sie bleibt. Aus ihren bisherigen Bekanntschaften ist nichts herauszubringen, denn wir sehen deutlich, daß Miß Dombey fühlt, sie seien insgesamt ihrem Vater dienstbar. Was ist aus Susanna geworden?«

»Aus dem jungen Frauenzimmer?« entgegnete der Kapitän. »Ich glaube, sie wurde gegen den Willen der Herzensfreude fortgeschickt. Ich schickte, als der Diamant zum ersten Male hierherkam, ihretwegen ein Signal aus und erhielt die Meldung, sie sei schon lange fort, obschon ich bemerken konnte, daß sie noch hoch in Gnaden steht.«

»Dann fragt Miß Dombey«, sagte Walter, »wohin sie gegangen ist, und wir wollen dann sehen, ob wir sie nicht auffinden können. Der Morgen rückt weiter, und Miß Dombey wird bald aufstehen. Ihr seid ihr bester Freund. Wartet oben auf sie und laßt mich hier unten das Weitere besorgen.«

Der Kapitän wiederholte kleinlaut den Seufzer, mit dem Walter das sagte, und entsprach der an ihn ergangenen Aufforderung. Florence war entzückt über ihr neues Stübchen, drückte ihr Verlangen aus, Walter zu sehen, und war überfroh bei der Aussicht, ihrer alten Freundin Susanna einen Gruß zugehen lassen zu können. Sie wußte übrigens über ihren Aufenthalt nichts weiter anzugeben, als daß sie in Essex sei, und wenn nicht etwa Mr. Toots nähere Auskunft erteilen könne, so werde man wohl vergeblich Nachfrage halten.

Mit dieser Meldung kehrte der betrübte Kapitän zu Walter zurück und gab ihm zu verstehen, daß Mr. Toots der junge Gentleman sei, mit dem er auf der Türtreppe zusammengetroffen wäre. Der junge Mann gehöre zu seinen Freunden, habe Vermögen und sei ein hoffnungsloser Anbeter der Miß Dombey. Dabei berichtete er noch ferner, wie die Kunde von Walters vermeintlichem Schicksal ihn zuerst mit Mr. Toots bekannt gemacht habe, und wie sie einen feierlichen Vertrag miteinander geschlossen, daß Mr. Toots über den Gegenstand seiner Liebe keine Silbe verlauten lassen dürfe.

Es wurde dann die Frage aufgeworfen, ob Florence Mr. Toots trauen könne, und da sie lächelnd antwortete: »O ja, von ganzem Herzen!« so war ein weiterer wichtiger Punkt, das ausfindig zu machen, wo der junge Gentleman wohnte. Florence wußte das nicht, und der Kapitän hatte es vergessen. Aber kaum hatte er in dem kleinen Hinterstübchen Walter mitgeteilt, daß der betreffende junge Mann ohne Zweifel sich bald einstellen werde, als Mr. Toots selbst eintraf.

»Kapitän Gills«, sagte Mr. Toots, ohne Umstände ins Zimmer stürmend, »ich bin in einem Zustand, der an Irrsinn grenzt!« Mr. Toots hatte diese Worte wie aus einem Bombenwerfer abgeschossen, noch ehe er Walter bemerkte. Jetzt aber erkannte er ihn und begrüßte ihn mit einem wahrhaften Kichern des Elends.

»Ihr werdet mich entschuldigen, Sir«, sagte Mr. Toots, indem er die Hand an seine Stirne drückte, »aber ich bin gegenwärtig in einem Zustand, daß ich den Kopf verlieren könnte, wenn ich ihn nicht schon verloren habe, und jeder Höflichkeitsversuch in einer so eigentümlichen Lage würde nur eitler Hohn sein. Kapitän Gills, ich bitte Euch um die Freundlichkeit eines Gesprächs unter vier Augen.«

»Ei, Bruder«, versetzte der Kapitän, ihn bei der Hand nehmend, »Ihr seid gerade der Mann, nach dem wir auslugten.«

»O, Kapitän Gills«, erwiderte Mr. Toots«, »was muß dies für ein Auslugen sein, wenn ich der Gegenstand davon bin. Es geht in meinem Gehirn alles so durcheinander, daß ich mich nicht einmal getraut habe, mich zu rasieren. Meine Kleider sind nicht ausgebürstet, meine Haare nicht gekämmt, und ich sagte dem Preishahn, wenn er mir meine Stiefel putzen wolle, so würde ich ihn als Leichnam vor mir niederstrecken.«

Alle diese Anzeichen eines wirren Geistes bestätigten sich in dem Aussehen des jungen Menschen, das in der Tat wild und ungeordnet genug war.

»Schaut her, Bruder«, sagte der Kapitän. »Dies ist Wal’r, der Neffe des alten Sol Gills – derselbe, von dem wir glaubten, er sei auf dem Meer zugrunde gegangen.«

Mr. Toots nahm die Hand von seiner Stirne und sah Walter mit großen Augen an.

»Ach, du mein Himmel!« stammelte Mr. Toots. »Welch ein Zusammentreffen von Elend! Wie geht es Euch? Ich – ich fürchte, Ihr müßt sehr naß geworden sein. Kapitän Gills, wollt Ihr mir im Laden draußen ein Wort gestatten?«

Er nahm den Kapitän am Rock, zog ihn mit sich hinaus und flüsterte:

»Das also, Kapitän Gills, ist der Mensch, den Ihr meintet, als Ihr sagtet, er und Miß Dombey seien füreinander wie geschaffen?«

»Ach ja, mein Junge«, versetzte der trostlose Kapitän. »Ich war einmal dieser Ansicht.«

»Und zu solcher Zeit!« rief Mr. Toots, die Hand abermals an seine Stirne legend. »Auch dieses noch! – ein verhaßter Nebenbuhler. Nein, nein, nicht verhaßt!« fügte Mr. Toots nach kurzem Besinnen bei, indem er seine Hand wieder sinken ließ; »warum sollte ich ihn hassen? Ich kann jetzt den Beweis liefern, Kapitän Gills, daß meine Liebe wahrhaft uneigennützig ist!«

Mr. Toots schoß plötzlich wieder nach dem Stübchen zurück, ergriff Walters Hand und sagte:

»Wie geht es Euch? Ihr habt doch hoffentlich keinen Schnupfen dabei bekommen? Es – es wird mich sehr freuen, wenn Ihr mir das Vergnügen Eurer Bekanntschaft schenkt. Ich wünsche Euch Glück und langes Leben. Auf mein Ehrenwort«, fügte er hinzu, indem er wärmer wurde, je mehr er sich mit Walters Gesicht und Gestalt bekannt machte, »ich bin sehr erfreut, Euch zu sehen.«

»Herzlichen Dank«, versetzte Walter. »Ihr könnt mir kein edleres und wärmeres Willkomm wünschen.«

»Meint Ihr?« sagte Mr. Toots, ihm noch immer die Hand schüttelnd. »Es ist sehr gütig von Euch. Ich bin Euch sehr verbunden. Ich hoffe, Ihr habt doch alles wohl verlassen über dem – das heißt, auf dem – Ihr wißt, ich meine, wo Ihr Euch zuletzt aufgehalten habt.«

Auf alle diese guten und noch besser gemeinten Wünsche antwortete Walter besonnen.

»Kapitän Gills«, sagte Mr. Toots, »ich möchte mich wohl streng wie ein Ehrenmann benehmen, hoffe aber, daß es mir gestattet sein wird, auf einen gewissen Gegenstand anzuspielen, der –«

»Jawohl, mein Junge«, versetzte der Kapitän, »ganz unverhohlen.«

»Dann, Kapitän Gills«, sagte Mr. Toots, »und Leutnant Walter – seid Ihr schon unterrichtet von dem schrecklichen Vorfall, der sich in Mr. Dombeys Haus zugetragen hat – ich meine, daß Miß Dombey ihren Vater verließ, der meiner Ansicht nach«, Mr. Toots sprach dies in großer Aufregung, »ein Untier ist, und es wäre Schmeichelei, ihn ein – eine Marmorsäule oder einen Raubvogel zu nennen – und daß man sie nirgends finden kann, und daß niemand weiß, wohin sie gekommen ist?«

»Darf ich fragen, woher Ihr diese Kunde habt?« entgegnete Walter.

»Leutnant Walter«, sagte Mr. Toots, der zu dieser Benennung durch eine nur ihm eigentümliche Gedankenverbindung gekommen war, vielleicht weil er den Taufnamen der angeredeten Person mit ihrem Beruf zur See zusammenwarf und eine Beziehung zwischen ihr und dem Kapitän annahm, die sich natürlich auch auf ihre Titel ausdehnen mußte; »Leutnant Walter, ich nehme keinen Anstand, Euch unverhohlen zu antworten. Die Sache verhält sich nämlich so, daß ich an allem lebhaften Anteil nehme, was sich auf Miß Dombey bezieht – nicht aus selbstsüchtigen Gründen, Leutnant Walter; denn ich weiß wohl, daß ich für alle Beteiligten nichts Besseres tun könnte, als wenn ich meinem Dasein ein Ende machte, da es doch nur als eine Last betrachtet werden kann. Ich pflegte dem Lakaien, einem sehr achtbaren jungen Mann, namens Towlinson, der schon geraume Zeit im Hause gelebt hat, hin und wieder eine Kleinigkeit zu schenken, und dieser teilte mir nun gestern abend mit, wie die Sachen stehen. Seitdem, Kapitän Gills – und Leutnant Walter – bin ich völlig von Sinnen gekommen und habe die ganze Nacht nur auf dem Sofa gelegen, so daß ich jetzt die Ruine bin, die Ihr in mir seht.«

»Mr. Toots«, sagte Walter, »es freut mich, etwas zu Eurer Beruhigung beitragen zu können. Ich bitte, beruhigt Euch. Miß Dombey geht es gut, und sie ist in Sicherheit.«

»Sir!« rief Mr. Toots«, von seinem Stuhl auffahrend und ihm aufs neue die Hand schüttelnd, »die Erleichterung ist so übermäßig, so unaussprechlich, daß ich sogar lächeln könnte, wenn Ihr mir jetzt sagtet, daß Miß Dombey verheiratet sei. Ja, Kapitän Gills«, fügte er bei, sich an den Bezeichneten wendend, »bei meiner Seligkeit, ich glaube wirklich, daß ich lächeln könnte, was auch hinterdrein folgen könnte – so leicht ist es mir jetzt um das Herz.«

»Es wird Euch noch leichter werden, und ein edler Sinn wie der Eure wird in Entzücken geraten«, sagte Walter, der in Erwiderung der ihm zuteil gewordenen Begrüßung nicht flau war, »wenn Ihr erfahrt, daß Ihr Miß Dombey einen Dienst erweisen könnt. Kapitän Cuttle, wollt Ihr die Güte haben, Mr. Toots die Treppe hinaufzuführen?«

Der Kapitän winkte Mr. Toots, der ihm mit verwirrtem Gesicht folgte, führte ihn nach dem Hausgiebel hinauf und stellte ihn ohne ein Wort der Vorbereitung Florence vor.

Von ihrem Anblick wurde der arme Mr. Toots so freudig überrascht, daß er seinen Gefühlen nur in den größten Ungereimtheiten Luft machen konnte. Er lief auf sie zu, ergriff ihre Hand, küßte sie, ließ sie wieder sinken, faßte sie abermals, fiel auf ein Knie nieder, vergoß Tränen, kicherte und achtete nicht im mindesten auf die Gefahr, von Diogenes gepackt zu werden. Dieser war nämlich im Glauben, daß solche Demonstrationen eine feindliche Absicht gegen seine Gebieterin verrieten, und umstrich ihn mit einer Miene, als sei er noch nicht ganz schlüssig, welchen besonderen Körperteil er für seinen Angriff wählen solle, obschon in jedem seiner Blicke zu lesen war, daß er auf fürchterliches Unheil sann.

»O Di, du böser, undankbarer Hund! Lieber Mr. Toots, ich bin ungemein erfreut, Euch zu sehen.«

»Danke«, sagte Mr. Toots, »es ergeht mir ziemlich gut. Danke schönstens, Miß Dombey. Ich hoffe, der ganzen Familie ergeht es ebenso.«

Mr. Toots sprach das, ohne im mindesten zu wissen, was er sagte, und setzte sich auf einen Stuhl nieder, während er zugleich Florence mit einem Gesicht ansah, auf dem sich der Ausdruck von Wonne und Verzweiflung in der eigentümlichsten Weise mengte.

»Kapitän Gills und Leutnant Walter haben erwähnt, Miß Dombey«, keuchte Toots, »daß ich Euch einen Dienst erweisen könne. Wäre es mir durch irgendein Mittel möglich, die Erinnerung an jenen Tag zu Brighton auszulöschen, wo ich mich mehr wie ein Vatermörder, als wie ein Mensch von eigenem Vermögen benommen habe«, fügte er in strenger Selbstanschuldigung bei, »so würde ich mit Lust und Freude in das stille Grab sinken.«

»Ich bitte, Mr. Toots«, versetzte Florence, »wünscht nicht, irgend etwas in unserer Bekanntschaft zu vergessen. Glaubt mir, ich kann es nie. Ihr seid dafür stets zu gütig und freundlich gegen mich gewesen.«

»Miß Dombey«, erwiderte Mr. Toots. »Eure Rücksicht auf meine Gefühle ist ein Teil Eures engelgleichen Charakters. Danke Euch tausendmal. Es ist von durchaus keinem Belang.«

»Was nun unser Anliegen betrifft«, sagte Florence, »so möchten wir Euch fragen, ob Ihr Euch nicht erinnern könnt, wo Susanna, die Ihr nach dem Kutschen-Bureau zu begleiten so gütig wart, als sie mich verließ, aufzufinden ist?«

»Ich erinnere mich nicht genau mehr des Ortes, Miß Dombey«, versetzte Mr. Toots nach einigem Besinnen, »dessen Namen ich auf der Kutsche las, weiß aber noch wohl, daß sie zu mir sagte, sie bleibe nicht dort, sondern reise weiter. Wenn es Euch nun darum zu tun ist, Miß Dombey, sie aufzufinden und hier zu haben, so soll Eurem Wunsch mit all der Eile entsprochen werden, die durch meine Ergebenheit und die große Einsicht des Preishahn erzielt werden kann.«

Mr. Toots war bei der Aussicht, sich nützlich machen zu können, so erfreut und belebt; auch konnte die uneigennützige Aufrichtigkeit seines Erbietens so wenig in Zweifel gezogen werden, daß es Grausamkeit gewesen wäre, ihn zurückzuweisen. Mit instinktartigem Zartgefühl verzichtete also Florence darauf, auch nur die mindeste Einwendung dagegen zu erheben, ja, überhäufte ihn sogar mit Danksagungen, und Mr. Toots unterzog sich voll Stolz dem Auftrag, den er sogleich auszuführen beschloß.

»Miß Dombey«, sagte Mr. Toots, ihre ihm dargebotene Hand mit dem Schmerz hoffnungsloser Liebe ergreifend, der ihn sichtlich durchschoß und sich in seinem Gesichtsausdruck verriet, »lebt wohl! Gestattet mir die Bemerkung, daß Euer Unglück mich völlig elend macht, und daß Ihr nächst Kapitän Gills Euer volles Vertrauen in mich setzen könnt. Ich kenne meine Mängel wohl, Miß Dombey – sie sind nicht vom geringsten Belang, danke Euch – aber seid versichert, Miß Dombey, daß Ihr Euch völlig auf mich verlassen könnt.«

Mit diesen Worten verließ Mr. Toots das Zimmer, abermals von dem Kapitän begleitet, der den Hut unter dem Arm und sein wirres Haar mit dem Haken ordnend, in einiger Entfernung gestanden hatte und ein nicht teilnahmloser Zeuge der Szene gewesen war. Aber als sich die Tür hinter ihnen schloß, war das Licht von Mr. Toots‘ Leben wieder dunkel umwölkt.

»Kapitän Gills«, sagte der junge Gentleman, auf der unteren Treppe haltmachend und sich umwendend, »offen gestanden, ich bin für den Augenblick nicht in einer Gemütsverfassung, die es mir möglich machte, Leutnant Walter ganz das freundliche Gefühl zu zeigen, das ich in meinem Innern für ihn bergen möchte. Wir können nicht immer über unsere Empfindungen gebieten, Kapitän Gills, und Ihr würdet mir einen ganz besonderen Gefallen erweisen, wenn Ihr mich durch die Hintertür hinausließet.«

»Bruder«, entgegnete der Kapitän, »Ihr könnt da ganz Euren eigenen Kurs wählen. Welchen Ihr auch einschlagen wollt, ich bin überzeugt, daß er ehrlich und seemännisch ist.«

»Kapitän Gills«, sagte Mr. Toots, »Ihr seid sehr gütig, und Eure gute Meinung gereicht mir zum Trost. Da fällt mir ein«, fügte er hinzu und blieb hinter der halb offenen Tür in dem Flur stehen, »und ich hoffe, Kapitän Gills, Ihr werdet darauf Bedacht nehmen – auch wäre es mir lieb, wenn Leutnant Walter davon unterrichtet würde – Ihr wißt, ich bin jetzt völlig in den Besitz meines Vermögens gekommen und weiß nicht, was ich damit anfangen soll. Wenn ich mich überhaupt im Punkt des Geldes nützlich machen könnte, so würde ich mit Ruhe und Freude in das stille Grab sinken.«

Mr. Toots sagte nicht mehr, sondern glitt leise hinaus, schloß die Tür selbst ab, und ersparte damit dem Kapitän eine Antwort.

Florence dachte an den guten Menschen noch lange nach seiner Entfernung mit den gemischten Empfindungen von Schmerz und Freude. Er war so ehrlich und warmherzig, daß sein Besuch und die Überzeugung, er sei ihr treu in ihrer Not, sie mit besonderem Trost erfüllte. Aber aus demselben Grunde fühlte sie sich ergriffen, wenn sie dachte, sie habe ihm auch nur einen einzigen unglücklichen Augenblick bereitet oder den harmlosen Strom seines Lebens durch einen Hauch getrübt. Ihr Auge füllte sich mit Tränen, und ihr Herz strömte über von Mitleid. Auch Kapitän Cuttle hielt in seiner Art viel auf Mr. Toots, ebenso Walter, und als sie abends in Florences neuem Stäbchen beisammen waren, konnte dieser des Lobes über ihn gar nicht satt werden. Er teilte Florence mit, mit welchem Anerbieten Mr. Toots das Haus verlassen hatte, und ließ dem wackeren Sinn des jungen Mannes alle jene anerkennende Gerechtigkeit widerfahren, deren ein ehrliches, teilnehmendes Herz fähig war.

Mr. Toots ließ sich in den nächsten Tagen nicht wieder blicken, und Florence lebte inzwischen ohne neue Beunruhigung gleich einem stillen Vögelchen in einem Käfig unter dem Giebel im Hause des alten Instrumentenmachers. Aber im Lauf der Zeit ließ sie mehr und mehr das Köpfchen hängen; und der Ausdruck, der in dem Gesicht des toten Kindes sichtbar geworden war, wandte sich oft von ihrem hohen Fenster aus dem Himmel zu, als suchten ihre Blicke einen Engel auf dem strahlenden Ufer, von dem er gesprochen, während er auf seinem kleinen Bette lag.

Florence war in letzter Zeit sehr zart und schwächlich geworden, und der Einfluß der Aufregung auf ihre Gesundheit ließ sich nicht verkennen, obschon sich vorderhand noch kein körperliches Leiden ausgebildet hatte. Aber ihr Geist litt, und die Ursache davon war Walter.

Es entging ihr nicht, daß er sie mied, und ungeachtet seiner Teilnahme und seiner Besorgnis für sie, ungeachtet seines freudigen Eifers, wenn es sich darum handelte, ihr einen Dienst zu leisten, und bei der ganzen Wärme und Begeisterung seines Charakters kam er doch im Laufe des Tages nur selten in ihr Zimmer. Wenn sie nach ihm fragte, erschien er und war dann für den Augenblick wieder so innig und erfreut, wie sie sich seiner aus der Zeit ihres Verirrens in dem Labyrinth der Londoner Straßen erinnerte. Aber bald wurde er gezwungen – ihrem schnell begreifenden Gefühl konnte dies nicht entgehen – und unruhig, so daß er nicht lange zu weilen vermochte. Unaufgefordert erschien er nie während der ganzen Zeit von Morgen bis zum Abend, und erst wenn dieser eingebrochen war, kam er – die glücklichste Zeit für sie; denn sie glaubte dann halb, der alte Walter ihrer Kindheit sei unverändert geblieben. Freilich konnte sie auch dann schon ein unbedeutendes Wort, ein Blick oder sonst etwas belehren, daß eine nicht bestimmbare Scheidewand zwischen ihnen stand, die nicht übersprungen werden durfte.

Sie mußte dabei bemerken, daß diese Merkmale einer großen Veränderung in Walter sich offenbarten, obschon er sich die größte Mühe gab, sie zu verbergen. Aus Rücksicht für sie, wie sie dachte, und in der Innigkeit seines Wunsches, sie mit jeder Wunde von seiner freundlichen Hand zu verschonen, nahm er zu zahlreichen kleinen Kunstgriffen und Bemäntelungen seine Zuflucht. Das ließ aber Florence den großen Wechsel in ihm nur desto mehr fühlen, und sie weinte desto öfter über das Fremdwerden ihres Bruders.

Der gute Kapitän – ihr unermüdlicher, warmer, stets eifriger Freund – sah es, wie Florence weinte, gleichfalls und grämte sich darüber. Er zeigte sich weniger heiter und hoffnungsvoll, als er anfangs gewesen war, und ließ oft mit traurigem Gesicht verstohlene Blicke zwischen ihr und Walter hin und her gleiten, wenn sie abends alle drei beisammen waren.

Florence beschloß endlich, mit Walter zu sprechen. Sie glaubte jetzt den Grund seiner Entfremdung zu kennen und dachte, ihr volles Herz werde eine Erleichterung darin finden, er selbst aber ruhiger werden, wenn sie ihm erkläre, sie habe die Ursache entdeckt, füge sich völlig darein und mache ihm keine Vorwürfe darüber.

Es war eines Sonntags nachmittags, als Florence diesen Entschluß faßte. Der treue Kapitän saß mit einem erstaunlichen Hemdkragen ihr gegenüber und las mit aufgesetzter Brille in einem Buche. Sie fragte ihn, wo Walter sei.

»Ich denke, er wird unten sein, mein Kindchen«, versetzte der Kapitän.

»Ich möchte ihn sprechen«, sagte Florence und erhob sich hastig, als ob sie die Treppe hinuntergehen wolle.

»Ich will ihn sofort hier oben haben, meine Schönheit«, entgegnete der Kapitän.

Der Kapitän schulterte nun mit großer Behendigkeit sein Buch – denn er hielt es für einen Punkt der Pflicht, an Sonntagen nur sehr große Bücher zu lesen, da das ein viel gesetzteres Aussehen verlieh. Darum hatte er vor Jahren an einem Trödelstand einen ungeheuren Band gekauft, dessen fünf erste Zeilen ihn jedesmal im höchsten Grad verwirrten, so daß er bis jetzt noch immer nicht mit sich ins reine gekommen war, von was das Werk eigentlich handelte – und entfernte sich. Walter erschien bald.

»Kapitän Cuttle sagt mir, Miß Dombey«, begann er hastig beim Hereinkommen, hielt aber inne, als er ihr Gesicht sah.

»Ihr seid heute nicht ganz wohl. Ihr seht leidend aus. Ihr habt geweint.«

Er sagte das so teilnahmsvoll und mit einem so innigen Beben in seiner Stimme, daß bei dem Ton seiner Worte ihr Tränen in den Augen quollen.

»Walter«, versetzte Floren« sanft, »ich bin nicht ganz wohl und habe geweint. Ich möchte mit Euch sprechen.«

Er setzte sich ihr gegenüber und blickte ihr in das schöne, unschuldige Antlitz. Sein eigenes aber wurde blaß und seine Lippen zitterten.

»Ihr sagtet an dem Abend, als ich Kunde erhielt von Eurer Rettung – und o! lieber Walter, was ich an jenem Abend fühlte und was ich hoffte! –«

Er legte seine bebende Hand auf den zwischen ihnen stehenden Tisch und blickte sie an.

»– daß ich verändert sei. Ich war erstaunt, dies von Euch zu hören, begreife aber jetzt, daß Ihr recht hattet. Seid mir nicht böse, Walter. Ich war damals zu erfreut, um daran zu denken.«

Sie schien ihm wieder ein Kind zu sein. Er sah und hörte in ihr das offene, vertrauensvolle, liebende Kind – nicht die Jungfrau, zu deren Füßen er bereitwillig alle Schätze der Erde niedergelegt haben würde.

»Ihr erinnert Euch doch noch unserer letzten Zusammenkunft vor Eurer Abreise, Walter?«

Er steckte seine Hand in die Brust und nahm eine kleine Börse heraus.

»Ich habe sie stets um meinen Hals getragen! Hätte die Tiefe mich verschlungen, so würde sie jetzt mit mir auf dem Grunde des Meeres ruhen!«

»Und Ihr tragt sie noch immer um meines früheren Ichs willen, Walter?«

»Bis ich sterbe!«

Sie legte so einfach und furchtlos ihre Hand auf die seine, als habe sie ihm das kleine Erinnerungszeichen erst heute gegeben.

»Das freut mich. Der Gedanke daran wird mir immer tröstlich sein, Walter. Erinnert Ihr Euch auch, daß an jenem Abend, als wir miteinander sprachen, eine Ahnung dieses Wechsels gleichzeitig uns zu befallen schien?«

»Nein«, antwortete er im Tone der Verwunderung.

»Ja, Walter. Ich bin schon damals die Ursache gewesen, Eure Hoffnungen und Aussichten zu beeinträchtigen, und obschon ich mich vor dem Gedanken fürchtete, so bin ich doch jetzt von der Wahrheit der Tatsache überzeugt. Wenn Ihr in Eurem edeln Sinne damals imstande waret, vor mir zu verbergen, daß Ihr es gleichfalls wußtet, so ist es Euch doch jetzt nicht mehr möglich, selbst wenn Euer Zartgefühl Euch veranlassen sollte, es zu versuchen. Ich sehe, Ihr versucht es wirklich, und ich danke Euch aus tiefster Seele dafür, Walter; aber es kann Euch nicht gelingen. Ihr habt in den Gefahren, die Euch und Eure teuersten Verwandten betroffen haben, zu viel gelitten, um die unschuldige Ursache von all diesem Leid zu übersehen, und weil Ihr diese Eigenschaft an mir nicht ganz zu vergessen vermögt, so können wir nicht länger Bruder und Schwester sein. Mein lieber Walter, glaubt nicht, daß ich mich deshalb über Euch beschwere. Ich hätte es wissen können – hätte es wissen sollen – dachte aber nicht daran in meiner Freude. Ich hoffe übrigens, dieses Gefühl wird Euch weniger drückend sein, wenn es nicht mehr ein geheimes ist, und ich bitte Euch nun, Walter, im Namen des armen Kindes, das einst Eure Schwester war, daß Ihr, nun ich alles weiß, nicht mehr um meinetwillen mit Euch selbst kämpft und Euch grämt.«

Walter hatte sie, während sie so sprach, mit einem Gesicht so voll Verwunderung und Erstaunen angesehen, daß für keinen anderen Ausdruck mehr Raum darin blieb. Er ergriff jetzt die Hand, die die seinige so bittend berührt hatte, und hielt sie fest.

»O, Miß Dombey«, sagte er, »ist es möglich, daß ich Euch das Leid bereitete, das mir Eure Worte enthüllen, während ich selbst in dem Erkennen dessen, was Euch gebührt und was Euch gezollt werden muß, einen so schweren Kampf kämpfte? Der Himmel ist mein Zeuge, ich habe Euch mir nie anders vergegenwärtigt, denn als die schönste, reinste und glücklichste Rückerinnerung meiner Jugend. Wie von Anfang an, werde ich bis auf den letzten Augenblick den Teil meines Lebens, der mich mit Euch verbindet, als etwas Heiliges betrachten, das nur ernsten Gedanken Raum gibt, nie hoch genug zu schätzen ist und nur im Tode vergessen werden kann. Euch wiederzusehen und sprechen zu hören, wie an jenem Abend unseres Abschieds, das ist ein Glück für mich, das ich nicht in Worten auszusprechen vermag, und die Liebe, das Vertrauen, das Ihr mir als einem Bruder bietet, ist die nächst große Gabe, die ich annehmen könnte und zu schätzen wüßte.«

»Walter«, sagte Florence, ihn fest anblickend, obschon der Ausdruck ihres Gesichts sich veränderte, »Ihr spracht von etwas, das mir unter Aufopferung von all diesem gebühre und mir gezollt werden müsse. Was meint Ihr damit?«

»Achtung«, versetzte Walter in gedämpftem Tone. »Ehrerbietung.«

Ihr Antlitz rötete sich wie der Morgenhimmel, und sie zog scheu und gedankenvoll ihre Hand zurück, obschon sie ihn noch immer mit ungeminderter Innigkeit ansah.

»Ich habe weder die Rechte noch die Ansprüche eines Bruders«, sagte Walter. »Ich verließ ein Kind und finde eine Jungfrau.«

Ein tiefes Rot breitete sich über ihr Gesicht. Sie machte eine Bewegung, als bitte sie ihn, nicht weiterzusprechen, und ließ dann das Haupt auf ihre Hände niedersinken.

Es herrschte eine Weile tiefes Schweigen, und Florence weinte.

»Ich bin es einem so reinen, guten und vertrauenden Herzen schuldig«, sagte Walter, »mich sogar von demselben loszureißen, und wenn das meine darüber bräche. Wie kann ich mich unterfangen zu sagen, es sei das meiner Schwester!«

Sie weinte stumm fort.

»Wäret Ihr glücklich und, wie es der Fall sein sollte, von liebenden und bewundernden Freunden, kurz von allem umgeben gewesen, was die Stellung, für die Ihr geboren wurdet, beneidenswert macht«, fuhr Walter fort; »und würdet Ihr dann in warmem Rückblick auf die Vergangenheit mich Bruder genannt haben, so hätte ich von meinem weiten Abstand aus auf diese Bezeichnung antworten können, ohne mir den Vorwurf machen zu müssen, daß ich Eurer reinen Seele zu nahe trete. Aber hier – und jetzt –«

»O, ich danke Euch, ich danke Euch, Walter! Verzeiht mir, daß ich Euch insoweit unrecht getan habe. Ich hatte niemanden, der mir raten konnte, und stehe so ganz allein.«

»Florence!« sagte Walter leidenschaftlich, »ich sehe mich jetzt gedrungen, meine Gedanken auszusprechen, obschon sie vor wenigen Augenblicken noch nichts meinen Lippen hätte entringen können. Wäre ich wohlhabend und im Besitz der Mittel oder auch nur der Hoffnung gewesen, Euch eines Tages eine Stellung, die der Eurigen nahe ist, zu sichern, so würde ich Euch gesagt haben, daß es einen Namen gäbe, den Ihr mir verleihen könnt – zugleich ein ausschließliches Recht, Euch zu schützen und zu pflegen, obschon ich dessen durch nichts würdig bin, als durch die achtungsvolle Liebe, die ich zu Euch im Innern trage, und durch den Umstand, daß mein ganzes Herz Euch gehört. Ich würde Euch gesagt haben, das sei der einzige Anspruch, den Ihr mir geben könnt, Euch zu verteidigen und zu beschützen – der einzige, den ich anzunehmen und zu behaupten wagen dürfe. Indessen, wenn ich im Besitz eines solchen Rechtes wäre, würde ich es als ein so teures und unschätzbares Gut betrachten, daß die ungeteilte Treue und Innigkeit meines ganzen Lebens nur eine dürftige Anerkennung zu bieten vermöchte.«

Das Köpfchen war noch immer gesenkt, die Tränen flossen fort, und ihre Brust schwellte sich unter Schluchzen.

»Liebe Florence! Liebste Florence! So pflegte ich Euch in meinen Gedanken zu nennen, ehe ich mir vorstellen konnte, welche wahnsinnige Anmaßung dies war. Nur dieses letzte Mal gestattet mir, Euch den mir so teuren Namen zuzurufen, und diese zarte Hand zu ergreifen, zum Zeichen, daß Ihr schwesterlich vergessen wollt, was ich gesagt habe.«

Sie erhob ihr Haupt und begann mit einer feierlichen Anmut in ihren Augen, mit einem ruhigen holden Lächeln, das durch ihre Tränen leuchtete und mit einem leisen Beben ihres Körpers und ihrer Stimme, so daß die innerste Saite seines Herzens ergriffen und alles trüb und nebelig vor seinen Blicken wurde.

»Nein, Walter, ich kann es nicht vergessen – möchte es um keine Welt vergessen. Seid Ihr – seid Ihr sehr arm?«

»Ich bin nur ein unsteter Wanderer«, sagte Walter, »der um seines Lebensunterhaltes willen Seereisen machen muß. Das ist fortan mein Beruf.«

»Wollt Ihr bald wieder fort, Walter?«

»Sehr bald.«

Sie sah ihn eine kurze Weile an und legte dann ihre zitternde Hand in die seine.

»Wenn Ihr mich zu Eurem Weibe nehmen wollt, Walter, so werde ich Euch zärtlich lieben. Laßt Ihr mich mit Euch ziehen, so will ich ohne Furcht mit Euch bis an das Ende der Welt gehen. Ich muß um Euretwillen nichts aufgeben, habe auf nichts zu verzichten und niemanden zu vergessen. Aber all mein Lieben und Leben soll Euch geweiht sein, und mit meinem letzten Hauch will ich gegen Gott noch Euren Namen atmen, wenn ich überhaupt noch Kraft und Besinnung dazu habe.«

Er drückte sie an seine Brust und legte seine Wange an die ihrige. Sie weinte jetzt, nicht mehr zurückgestoßen und nicht mehr verlassen, an dem Herzen ihres teuren Geliebten.

Gesegnete Sonntagsglocken, die so ruhig läuten zu ihrem Glück und ihrem Entzücken. Gesegneter Sonntagsfriede, der so im Einklang steht mit der Ruhe in ihren Seelen und ein heiliges Licht um sie her breitet! Gesegnete Dämmerung, die sich heranschleicht und beschwichtigend sie überschattet, während sie wie ein eingelulltes Kind an der Brust, wo sie Frieden sucht, einschlummert!

O welches Übermaß von Liebe und Vertrauen, das so leicht hier liegt! Ja, schau nieder auf die geschlossenen Augen mit einem stolzen Blick der Zärtlichkeit, Walter; denn auf der ganzen weiten Erde suchen sie jetzt nichts mehr außer dich.

Der Kapitän blieb in dem kleinen Hinterstübchen, bis es ganz dunkel war. Er setzte sich in den Stuhl, den Walter eingenommen hatte, und blickte nach dem Hochlichtfenster hinauf, bis der Tag allmählich dahinschwand und die Sterne niederschauten. Dann machte er Licht, zündete seine Pfeife an, rauchte sie aus und erging sich in Gedanken darüber, was in aller Welt doch droben vorgehen möge und warum man ihn nicht zum Tee rufe.

Während er sich noch auf diesem Gipfel seiner Verwunderung befand, trat Florence an seine Seite:

»Ach, so, kleines Fräuleinchen!« rief der Kapitän. »Der Tausend, Ihr und Wal’r habt ja mächtig lang miteinander geplaudert, mein schönes Kind.«

Florence umfaßte mit ihrer kleinen Hand einen von den großen Knöpfen seines Rocks und sagte, zu seinem Gesicht niederblickend:

»Lieber Kapitän, ich möchte Euch etwas mitteilen, wenn Ihr mich anhören wollt.«

Der Kapitän richtete den Kopf rasch auf, um zu hören, was es gebe. Um aber Florence genauer ansehen zu können, rückte er seinen Stuhl und sich so weit zurück, wie es gehen wollte.

»Wie, Herzensfreude!« rief der Kapitän mit strahlendem Gesicht. »Ist es das?«

»Ja!« sagte Florence schnell.

»Wal’r! ein Bräutigam, das?« brüllte der Kapitän seinen Glanzhut nach dem Hochlichtfenster hinaufwerfend.

»Ja!« rief Florence, zugleich lachend und weinend.

Der Kapitän umarmte sie, bückte sich dann nach seinem Glanzhut, setzte ihn auf, legte ihren Arm in den seinen und begleitete sie nach dem Dachstübchen, – im Gefühl, daß er jetzt den besten Witz seines Lebens anbringen könne. »Ei, Wal’r, mein Junge«, sagte er mit einem Gesicht zur Tür hineinschauend, das sich wie eine behagliche Wärmepfanne ausnahm, »so gibt es also keine andere Möglichkeit, he?«

Dieser Scherz mußte ihm wohl eigentlich erstickend auf der Brust liegen, denn er wiederholte ihn während des Tees wenigstens vierzigmal und polierte in den Zwischenräumen sein glänzendes Gesicht mit dem Rockärmel, oder fuhr mit seinem Taschentuch auf dem Kopf herum. Indes hatte er doch auch noch eine ernstere Quelle der Heiterkeit im Hinterhalt; denn man hörte ihn, während er in unaussprechlicher Wonne nach Walter und Florence hinsah, öfters in gedämpftem Ton sagen:

»Ed’ard Cuttle, mein Junge, der beste Kurs, den du in deinem ganzen Leben gehalten hast, war damals, als du das kleine Eigentum vereint als Mitgift sozusagen aussetztest.«

Dreiunddreißigstes Kapitel.


Dreiunddreißigstes Kapitel.

Gegensätze

Wenden wir unsere Blicke auf zwei Wohnungen. Sie liegen nicht Seite an Seite, sondern weit voneinander, obschon beide dem Bann der großen Stadt London angehören.

Die erste müssen wir auf dem grünen, waldigen Strich in der Nähe von Nordwood aufsuchen. Sie ist kein Landhaus und sehr anspruchslos, was ihren Umfang angeht, aber hübsch eingerichtet und in guter Ordnung erhalten. Der Hof, der weiche glatte Rasen, der Blumengarten, die Baumgruppen, unter denen die zierlichen Eschen und Weiden nicht fehlen, die Diele, die ländliche Veranda mit süßduftenden Schlingpflanzen, die sich um die Strebepfeiler winden, die einfache Außenseite, die wohlgeordneten Arbeitsräume, obschon ihr Umfang nur dem eines bloßen Bauernhauses entspricht – alles dies deutet auf eine behagliche Eleganz im Innern, die einem Palast nicht übel anstehen würde. Auch zeigt wirklich die innere Einrichtung seinen Geschmack und Luxus. Reiche Farben in schöner Verbindung treten in jedem Gemach dem Auge entgegen. In dem Möbelwerk, das durch Form sowohl wie Größe bewundernswürdig den kleinen Gemächern angepaßt ist, zeigt sich derselbe Geschmack. An den Wänden und auf den Fußböden wird das Licht, das da und dort durch die hübschen Glastüren und Fenster einfällt, in eigentümlicher Weise gedämpft und gebrochen. Auch einige auserlesene Kupferstiche und Gemälde sind vorhanden. In den Nischen stehen gefüllte Bücherschränke, und auf den Tischen sieht man die Gerätschaften zu allerlei Hazard- und Geschicklichkeitsspielen, zum Beispiel phantastische Schachfiguren, Würfel, Brettspiele, Karten und Billardkugeln.

Dennoch drückt sich in dem Allgemeincharakter dieser gemächlichen Wohlhabenheit ein Zug aus, der etwas erkältend wirkt. Liegt er in der Weichheit der Teppiche und Polster, so daß die, die sich darauf bewegen, nur verstohlen zu handeln scheinen? Rührt es daher, daß die Gemälde und Kupferstiche nicht Kunde geben von großen Gedanken und Taten oder von der Poesie der Natur in schönen Landschaftsbildern, sondern daß sie insgesamt einer wollüstigen Phantasie entstammen, die weiter nichts bietet als Farben und Formen? Hat er seinen Grund in den Bücherreihen, die all ihr Gold nur auf der Außenseite tragen und deren Titel großenteils darauf hindeuten, daß sie passende Gefährten der Gemälde und Kupferstiche sind? Liegt er darin, daß die Pracht des Ganzen mitunter in unwesentlichen bedeutungslosen Dingen durch eine erkünstelte Bescheidenheit ebenso falsch ist, wie das Gesicht des an der Wand hängenden, nur allzu treu aufgefaßten Porträts oder wie das des Originals, das darunter in seinem Lehnstuhl beim Frühstück sitzt – der Lüge geziehen wird? Oder rührt er davon her, daß mit dem täglichen Atem des besagten Originals und Gebieters im Hause ein feiner Teil seines Ichs ausströmt, der der gesamten Umgebung einen unbestimmten Ausdruck der Verwandtschaft mit diesem Ich verleiht?

Der in dem Lehnstuhl Sitzende ist Mr. Carker, der Geschäftsführer. Ein bunter Papagei in einem auf dem Tisch stehenden, blanken Käfig hackt mit seinem Schnabel in die Drähte, spaziert nach der Kuppel hinauf, rüttelt sein Haus und kreischt. Aber Mr. Carker ist gleichgültig gegen den Vogel und blickt mit gedankenvollem Lächeln nach einem Bild an der gegenüberstehenden Wand.

»In der Tat eine höchst merkwürdige Zufallsähnlichkeit«, sagte er.

Vielleicht ists eine Juno, vielleicht Potiphars Weib, vielleicht auch eine stolze Nymphe – je nachdem der Gemäldehändler den Markt fand, auf dem er es kaufte. Das Bild stellt ein ungemein schönes Weib vor, das sich abwendet, aber doch dem Betrachter das Gesicht zukehrt und das stolze Auge nach ihm hinblitzen läßt.

Es gleicht Edith.

Mit einer flüchtigen Gebärde seiner Hand nach dem Gemälde – wie, ist sie eine Drohung? nein; aber doch etwas dergleichen – ein Zeichen des Triumphs? nein; aber etwas Ähnliche« – ein dreist ihr zugeworfenes Kußhändchen? nein; aber doch dem nahekommend – nimmt er sein Frühstück wieder auf und ruft dem ungeduldigen Vogel zu. Dieser kommt nach dem vergoldeten Reif herunter, der wie ein großer Trauring in dem Käfig hängt, und unterhält seinen Gebieter damit, daß er darin Purzelbäume macht.

Die zweite Wohnung liegt auf der andern Seite von London, unfern der vormaligen großen Nordstraße, die jetzt so still und verlassen geworden ist, daß man auf ihr nur noch zu Fuß gehende Wanderer weiterziehen sieht. Es ist ein armes, kleines Häuschen mit spärlichem Möbelwerk, aber sehr reinlich gehalten und sogar mit Schmuckversuchen, wie sich in den einheimischen Blumen, die um die Türe her und in dem kleinen Garten blühen, zu erkennen gibt. Die Umgebung kann sich ebensowenig eines ländlichen wie eines städtischen Aussehens rühmen, da sie weder dem Lande noch der Stadt angehört. Erstere ist wie der Riese mit den Siebenmeilenstiefeln darüber hinausgeschritten und hat ihre Ziegel- und Mörtelferse weit vorgeschoben. Aber der Raum zwischen den Füßen des Recken zeigt sich bis jetzt nur als ein verkümmerter Strich, ohne Stadt zu sein. Hier nun, unter einigen hohen Schornsteinen, die Tag und Nacht ihren Qualm ausfauchen, unter den Ziegelfeldern und Torfstichen, wo die Zäune zusammenbrechen, staubige Nesseln wachsen, ein paar Überreste einer Hecke noch zu sehen sind und nur hin und wieder der Vogelfänger sich blicken läßt, obschon er es jedesmal verschwört, nie wieder nach diesem Platz zu kommen – hier müssen wir die zweite Wohnung aufsuchen.

Die Bewohnerin ist die, die den einen Bruder verließ, um sich dem verstoßenen zu widmen. Mit ihr zog aus jenem Hause der versöhnende Geist und aus der Brust seines Gebieters der einzige Engel. Aber obgleich nach diesem undankbaren Benehmen, wie er es nennt, seine Liebe gegen sie erloschen ist, obschon zur Erwiderung auch er sie vollkommen aufgegeben hat, kann er sich doch des Gedankens an sie nicht völlig entschlagen. Ihr kleiner Blumengarten ist ein sprechendes Zeugnis dafür; denn neben allen den kostspieligen Veränderungen wird er noch ebenso erhalten, als wäre sie erst gestern abgezogen – trotzdem er nie seinen Fuß hineinsetzt.

Harriet Carker hat sich seit damals verändert, und über ihrer Schönheit liegt ein Schatten, schwerer als ihn die sonst doch so allmächtige Zeit ohne Beihilfe zu werfen vermag – der Schatten des Kummers und der Sorge in dem täglichen Kampf um ein dürftiges Dasein. Gleichwohl ist sie noch immer schön – eine sanfte, ruhige, zurückgezogene Schönheit, die man suchen muß, weil sie sich nicht vordrängen kann. Wäre sie hierzu fähig, so würde sie nicht mehr das sein, was sie ist.

Ja, die schmächtige, kleine, geduldige, hübsch in einfache Stoffe gekleidete Gestalt, an der sich nichts bekundet als die Langweiligkeit häuslicher Tugenden, die so wenig gemein haben mit der beliebten Idee von Heldengröße, wenn nicht etwa ein Strahl davon durch das Leben der Großen auf Erden leuchtet und dann zu einer Konstellation wird, die geradeswegs zum Himmel fährt – jene schmächtige, kleine, geduldige Gestalt, angeschmiegt an den Mann, dessen Haare ergraut sind in seiner Jugend, ist die Schwester, die allein in der ganzen Welt zu ihm überging in seiner Schmach, ihre Hand in die seine legte und mit edler Fassung und Entschlossenheit hoffnungsvoll ihn weiterführte auf seinem einsamen Pfade.

»Es ist noch früh, John«, sagte sie. »Warum gehst du heute so zeitig?«

»Nicht viele Minuten früher als gewöhnlich, Harriet. Wenn mir noch Zeit dazu bleibt, so möchte ich, glaub‘ ich, wohl – es ist nur eine Grille – einmal an dem Hause vorbeigehen, wo ich von ihm Abschied nahm.«

»Ich wünschte, ich hätte ihn gesehen oder gekannt, John.«

»Wenn wir an sein Schicksal denken, ist es besser so, wie es ist, Liebe.«

»Dennoch könnte ich ihn nicht mehr bedauern, auch wenn ich ihn gekannt hätte. Ist nicht dein Kummer auch der meine? Und hätte ich ihn gekannt, so würdest du mich vielleicht für geeigneter halten, mit dir von ihm zu sprechen, als das jetzt der Fall ist.«

»Meine teure Schwester, gibt es wohl ein Leid oder eine Freude, worin ich nicht deiner warmen Teilnahme sicher sein kann?«

»Ich hoffe, du bist hiervon überzeugt, John.«

»Wie könntest du mir also dann eine bessere Gefährtin oder mir näher sein, als jetzt oder überhaupt?« entgegnete der Bruder. »Es ist mir, Harriet, als hättest du ihn gekannt und als teiltest du meine Gefühle für ihn.«

Sie schlang den Arm, den sie auf seiner Schulter liegen hatte, um seinen Hals und antwortete mit einigem Zögern:

»Nein, nicht ganz.«

»Ich verstehe«, versetzte er. »Du meinst, es würde ihm keinen Schaden gebracht haben, wenn ich zugelassen hätte, daß er mich näher kennenlernte?«

»Ob ich dies meine? Ich weiß es gewiß!«

»Der Himmel ist mein Zeuge, mit Absicht wäre es nicht geschehen«, erwiderte er mit einem wehmütigen Kopfschütteln: »aber sein Ruf war mir zu kostbar, als daß ich ihn durch einen Verkehr mit mir hätte gefährden dürfen. Ob du nun dieses Bewußtsein teilst oder nicht, meine Liebe –«

»Ich teile es nicht«, versetzte sie mit Ruhe.

»Es bleibt trotzdem eine Wahrheit, Harriet, und ich fühle mich beruhigter, wenn ich mit der Erinnerung an ihn zugleich an das denke, was mir damals das Herz so, schwer machte,« Er bekämpfte jetzt seine wehmütige Stimmung, lächelte ihr zu und sagte: »Gott sei mit dir!«

»Und mit dir, lieber John! Heute abend werde ich um die gewöhnliche Zeit bis an den alten Platz dir entgegenkommen. Gott behüte dich!«

Das herzliche Gesicht, das sie zu ihm erhob, um ihn zu küssen, war seine Heimat, sein Leben, seine Welt, und doch zugleich ein Teil seiner Strafe und seines Kummers. Denn in der Wolke, die er darauf liegen sah – zwar eine heitere, ruhige, lichte Wolke, wie nur irgendeine um Sonnenuntergang – in der treuen Hingebung ihres Lebens und in der Tatsache, daß sie ihm alle Freuden und Hoffnungen zum Opfer gebracht hatte, mußte er stets die bitteren Früchte seines einstigen Vergehens erkennen, die ihm im Geist mit immer gleicher Beständigkeit und Reife vorschwebten.

Sie blieb mit leicht ineinandergeschlungenen Händen unter der Tür stehen und schaute ihm nach, als er über den feuchten, unebenen Grund hinging. Der Platz, auf dem das Häuschen stand, war vor noch nicht langer Zeit eine Wiese gewesen, jetzt aber ein öder Boden, auf dem eine ordnungslose Ernte von schlechten Häusern aus dem Schutt aufzusteigen schien, als seien die Samen dazu von einer ungeschickten Hand hingestreut worden. So oft John zurückschaute – er tat dies einige Male –, leuchtete ihr herzliches Gesicht gleich einem freundlichen Stern in sein Herz: aber wenn er auf seinem Wege weiterwandelte, ohne sie zu sehen, füllten sich seine Augen mit Tränen, während sie ihm nachschaute.

Sie hielt sich nicht lange unter der Tür auf. Es gab tägliche Obliegenheit zu erfüllen und tägliche Arbeiten zu verrichten. So gewöhnliche, nicht heroische Seelen müssen sich oft schwer abmühen, und darum war auch Harriet bald in ihre Haushaltungsgeschäfte vertieft. Nachdem sie diese zu Ende und das arme Häuschen in nette Ordnung gebracht hatte, überzählte sie mit ängstlichem Gesicht ihren geringen Geldvorrat und ging aus, um einige Einkäufe für die Küche zu besorgen, wobei sie unterwegs sich fortwährend überlegte, wie sie wohl am besten sparen könne. So trist ist das Leben derartiger alltäglicher Naturen, die nicht nur nicht heroisch sind gegen ihre Bedienten und Kammermädchen, sondern nicht einmal Bedienten und Kammermädchen haben, gegen die sie überhaupt heroisch sein könnten.

Während ihrer Abwesenheit näherte sich auf einem andern Weg, als es der war, den ihr Bruder eingeschlagen hatte, dem leer dastehenden Hause ein Gentleman von gesunder, blühender Gesichtsfarbe, aufrechter Haltung und offener, heiterer, gutmütiger Miene, obschon er ein wenig über die Blütezeit des Lebens hinaus zu sein schien. Seine Augenbrauen und Haare waren noch schwarz; aber darein mengten sich bereits da und dort graue Sprenkeln, so daß die ersteren um so anmutiger dagegen abstachen und der breiten, freien Stirn, wie auch den biederen Augen einen sehr vorteilhaften Ausdruck verliehen.

Nachdem er an die Tür geklopft hatte, ohne Antwort zu erhalten, setzte er sich in der Laube vor der Pforte auf eine Bank, um zu warten. Eine gewisse geschickte Bewegung der Finger, während er einige Arien vor sich hinsummte und auf dem Sitz an seiner Seite den Takt schlug, schien auf einen Musiker, und zwar auf einen wissenschaftlichen Musiker zu deuten. Aus der Zufriedenheit, mit der er einige Läufe der nicht recht erkennbaren Melodie sehr langsam und gedehnt behandelte, durfte man solches schließen.

Der Gentleman gab sich noch immer mit seinem Thema ab, das sich um und um zu drehen und gleich einem auf dem Tisch in kreisende Bewegung gesetzten Korkzieher zu verwickeln schien, als ob es gar nicht zu Ende gelangen wolle, bis Harriet sich wieder dem Häuschen näherte. Er erhob sich von seinem Sitz und blieb vor ihr, den Hut in der Hand, stehen.

»Ihr seid wieder hier, Sir?« begann sie zögernd.

»Ich habe mir die Freiheit genommen«, lautete seine Antwort. »Darf ich Euch fünf Minuten lästig fallen?«

Nach kurzem Zögern öffnete sie die Tür und hieß ihn in das kleine Wohnstübchen eintreten. Der Gentleman nahm Platz, rückte seinen Stuhl ihr gegenüber an den Tisch und sprach mit gewinnender Einfachheit und einer Stimme, die ganz im Einklang stand mit seinem Aussehen:

»Miß Harriet, Ihr könnt nicht stolz sein. Zwar gabt Ihr mir bei meinem letzten Besuch zu verstehen, daß Ihr es seiet. Aber verzeiht mir, wenn ich sage, daß ich Euch bei jener Gelegenheit ins Gesicht sah, und dieses hat Euren Worten widersprochen. Ich betrachte es wieder«, fügte er bei, indem er seine Hand für einen Augenblick sanft auf ihren Arm legte, »und es widerspricht Eurer Versicherung mehr und mehr.«

Sie war etwas verwirrt und aufgeregt, so daß sie nicht gleich eine Antwort finden konnte.

»Es ist ein Spiegel der Wahrheit und der Sanftmut«, fuhr der Besuch fort. »Entschuldigt mich, daß ich im Vertrauen darauf wiederkehrte.«

Die Art, wie er dieses sagte, nahm seinen Worten ganz den falschen Schimmer einer bloßen Schmeichelei. Die Worte klangen so einfach, ernst, ungekünstelt und ehrlich, daß sie den Kopf senkte, als wolle sie ihm zumal danken und seine Aufrichtigkeit anerkennen.

»Unsere Altersungleichheit«, sagte der Gentleman, »und die Ehrlichkeit meiner Absicht sollten mir, wie ich gern denken möchte, erlauben, vom Herzen weg zu sprechen. Dies ist meine Meinung, und Ihr seht mich deshalb zum zweitenmal.«

»Es gibt eine Art Stolz, Sir«, versetzte sie nach einem kurzen Schweigen, »oder einen vermeintlichen Stolz, der nur Pflicht ist. Ich hoffe, daß ich keinen andern habe.«

»Wegen Eurer selbst?« versetzte er.

»Ja.«

»Oder – verzeiht mir«, entgegnete der Gentleman – »wegen Eures Bruders John?«

»Ich bin stolz auf seine Liebe«, sagte Harriet, ihm voll ins Gesicht sehend und plötzlich ihr ganzes Wesen ändernd – nicht als ob sie weniger gefaßt und ruhig gewesen wäre, aber sie zeigte jetzt eine tiefe, leidenschaftliche Innigkeit, durch die sogar das Beben ihrer Stimme zu einer Art Festigkeit wurde, »und ich bin stolz auf ihn. Sir, Ihr seid auf unerklärliche Weise zur Kunde der Geschichte seines früheren Lebens gekommen und habt mir das bei Eurem letzten Besuche mitgeteilt –«

»Bloß um mir zu Eurem Vertrauen einen Weg zu bahnen«, unterbrach sie der Gentleman. »Um’s Himmels willen, glaubt ja nicht –«

»Ich bin überzeugt«, fuhr sie fort, »daß Ihr mir in guter und wohlwollender Absicht die Vergangenheit wieder vorgeführt habt. Ich zweifle nicht im mindesten daran.«

»Ich danke Euch für diese gute Meinung«, entgegnete der Gentleman, ihr hastig die Hand drückend. »In der Tat, Ihr laßt mir nur Gerechtigkeit widerfahren. Ihr wolltet sagen, daß ich, der ich die Geschichte von John Carkers Leben kenne –«

»Es mir für Stolz auslegen werdet«, fuhr sie fort, »wenn ich sage, daß ich stolz auf ihn sei. Dies ist wirklich der Fall. Ihr wißt, daß es eine Zeit gab, in der ich es nicht war – nicht sein konnte – aber das ist längst vorbei. Die Demut vieler Jahre, sein Dulden ohne Murren, die wahre, tiefgefühlte Reue und der Schmerz, den ihm sogar meine Liebe bereitet – denn er meint, sie komme mich teuer zu stehen, obschon der Himmel weiß, daß ich vollkommen glücklich wäre, wenn ich nicht eine stete Zeugin seines Kummers sein müßte – o Sir, nach dem, was ich gesehen, möchte ich Euch beschwören, falls es in Eurer Macht liegt und Euch Unrecht zugefügt wird, nie eine Strafe zu verhängen, die nicht widerrufen werden kann; denn es ist ein Gott über uns, der die Herzen, die er schuf, auch umzuwandeln imstande ist.«

»Euer Bruder ist ein anderer Mensch«, entgegnete der Gentleman mit Teilnahme. »Ich versichere Euch, daß ich keinen Augenblick hieran zweifle.«

»Er war ein anderer Mensch, als er auf den Wegen des Unrechts ging«, sagte Harriet. »Dies liegt in der Vergangenheit, und glaubt mir, Sir, daß er seinem eigenen Ich wieder treu ist.«

»Aber wir treiben uns von Tag zu Tag in unserem Uhrwerkgange fort«, versetzte der Gentleman, sich zerstreut die Stirne reibend und dann gedankenvoll mit der Hand auf den Tisch trommelnd, »und haben keinen Blick für solche Veränderungen, denen wir nicht folgen können. Sie – sie sind mehr Erscheinungen für den Philosophen, und für – für ihre Beobachtung fehlt es uns an Muße. Ja wir – wir haben nicht einmal den Mut dazu. In Schulen oder Kollegs lernt man nichts davon, und wir wissen nicht, wie wir damit zustande kommen sollen. Mit einem Wort, es geht bei uns alles so verwünscht geschäftsmäßig zu«, fügte der Gentleman bei, indem er unmutig aufstand und nach dem Fenster ging, um bald nachher in derselben ärgerlichen Stimmung wieder nach seinem Sitz zurückzukehren.

»Wahrhaftig«, fuhr der Gentleman fort und rieb sich abermals die Stirne, eine Beschäftigung, die er durch das frühere Trommeln auf den Tisch unterbrach, »ich habe guten Grund zu glauben, daß der gemeine, alltägliche Trab des Lebens uns an alles gewöhnen kann. So viel ist Tatsache, daß man nicht alles sieht, nicht alles hört, nicht alles weiß. Wir nehmen die Dinge für ausgemacht an, und so geht es fort, bis unser ganzes Tun und Treiben, mag es nun gut, schlecht oder gleichgültig sein, eine Sache der Gewohnheit wird. Soll ich mich einmal auf meinem Sterbebett vor meinem Gewissen verantworten, so kann ich ihm nichts entgegenhalten, als die Gewohnheit. ›Gegen Millionen Dinge‹, muß ich sagen, ,war ich taub, stumm, blind und tot – nur Gewohnheit.‹ ›In der Tat eine sehr geschäftsmäßige Abfertigung, Mr. Soundso‹, sagt das Gewissen. ›Aber damit ist es hier nicht abgetan.‹«

Der Gentleman stand abermals auf, um nach dem Fenster zu gehen, und kehrte in ernstlicher Unruhe wieder zurück, obschon diese bei ihm einen eigentümlichen Ausdruck hatte.

»Miß Harriet«, sagte er, als er sich wieder auf seinen Stuhl niederließ, »ich muß mir bittere Vorwürfe machen, daß ich all das schon seit zwölf Jahren hätte sehen und wissen können, wenn ich mir Zeit genommen hätte, Euch kennenzulernen. Ja, ich bin so sehr ein Geschöpf nicht nur meiner eigenen, sondern auch anderer Leute Gewohnheit, daß ich es mir selbst kaum erklären kann, wie ich überhaupt hierher kam. Da es nun aber einmal so ist, so laßt mich etwas tun. Ich bitte darum in Ehren und mit aller Achtung; denn Ihr flößt mir letztere in hohem Grade ein. Laßt mich etwas tun.«

»Wir sind zufrieden, Sir.«

»Nein, nein, nicht ganz«, entgegnete der Gentleman. »Ich glaube, nicht ganz. Es gibt gewisse kleine Bequemlichkeiten, die Euch und ihm das Leben angenehmer machen können – auch ihm«, fügte er in der Meinung bei, daß er einigen Eindruck auf sie gemacht habe. »Ich hatte mich an den Gedanken gewöhnt, für ihn brauche nichts zu geschehen; aber das ist jetzt abgetan und vorüber – kurz, ich habe mir über das Ganze gar keine Gedanken gemacht. Jetzt ist es anders. Laßt mich etwas für ihn tun. Auch Ihr habt Ursache«, fügte er mit behutsamer Zartheit bei, »um seinetwillen Eure Gesundheit sehr in acht zu nehmen, da sie, wie ich fürchte, nicht die beste ist.«

»Wie Ihr auch dazu kommt, Sir«, entgegnete Harriet, zu seinem Gesicht aufblickend, »ich bin Euch zu tiefem Dank verpflichtet. Ich fühle die Überzeugung, daß alle Eure Worte die wohlwollendste Absicht haben. Aber seit wir dieses Leben begannen, sind Jahre verstrichen, und meinem Bruder nur einen Teil davon nehmen, was ihn mir so teuer gemacht und seine besseren Entschlüsse erprobt hat – die Beseitigung auch nur eines Bruchstücks von dem Verdienste seiner ununterstützten, unbeachteten und vergessenen Sühne, hieße den Trost mindern, den wir beide darin finden werden, wann die Zeit kommt, von der Ihr eben erst gesprochen habt. Ich kann Euch meinen Dank besser durch diese Tränen, als in Worten ausdrücken. Ich bitte, glaubt mir das.«

Der Gentleman war gerührt; er führte die Hand, die sie ihm darbot, an seine Lippen, etwa so, wie ein zärtlicher Vater die Hand eines liebevollen Kindes küssen würde, aber mit mehr Verehrung.

»Wenn der Tag je kommen sollte«, sagte Harriet, »der ihn teilweise wieder einsetzt in seine verlorne Stellung –«

»Einsetzt?« rief der Gentleman hastig. »Wie sollte hierauf nur zu hoffen sein? In wessen Händen liegt die Macht einer solchen Wiederherstellung? Ich täusche mich in der Tat nicht, wenn ich annehme, der Umstand, daß er mit dem unschätzbaren Segen des Lebens davonkam, sei der einzige Grund des Hasses, den sein Bruder gegen ihn hegt.«

»Ihr berührt hier einen Gegenstand, der nie zwischen uns zur Sprache kam – nicht einmal zwischen uns«, sagte Harriet.

»Ich bitte um Verzeihung«, versetzte der Besuch. »Es hätte mir bekannt sein können, und ich bitte Euch, dies zu vergessen, daß es unabsichtlich durch mich angerührt worden ist. Und jetzt, da ich nicht weiter in Euch zu dringen wage und auch vielleicht kein Recht dazu habe – obschon, weiß der Himmel, am Ende auch dieses Bedenken nur Sache der Gewohnheit ist –«, fügte der Gentleman bei, während er so kleinmütig, wie zuvor, wieder seine Stirne rieb – »möchte ich als ein Mann, der Euch zwar fremd, aber doch nicht fremd ist, um eine doppelte Gunst ersuchen.«

»Die bestünde?« lautete Harriets Frage.

»Erstlich, daß Ihr mir erlauben möchtet, Euch zu dienen, im Falle Ihr Ursache findet, Euern Entschluß zu ändern. Ihr sollt dann auch meinen Namen erfahren, der Euch jetzt nutzlos und jederzeit nur unbedeutend ist.«

»Wir haben unter unsern Freunden keine solche Auswahl«, versetzte sie mit einem matten Lächeln, »daß hierfür eine Bedenkzeit nötig wäre. Ich kann Euch das versprechen.«

»Zweitens, daß Ihr mir gestattet, hin und wieder – ich will sagen, am Montag morgen um neun Uhr – wieder Gewohnheit, die mich alles geschäftsmäßig betreiben läßt –«, sagte der Gentleman, als habe er Lust, deshalb mit sich selbst Händel anzufangen, »Euch im Vorbeigehen unter der Tür oder am Fenster zu sehen. Ich verlange nicht einzutreten, da um diese Stunde Euer Bruder anwesend ist. Auch will ich Euch nicht einmal anreden. Ich wünsche Euch bloß zu sehen und daraus die Beruhigung zu gewinnen, daß Ihr wohlauf seid; dabei möchte ich Euch ohne alle Aufdringlichkeit durch meinen Anblick erinnern, daß Ihr einen Freund habt – einen älteren Freund, der mit jedem Tage grauer wird und Euch immer zur Verfügung steht.«

Ihr herzliches Gesicht blickte vertrauensvoll zu dem seinigen auf und gab die gewünschte Zusage.

»Es versteht sich«, fuhr der Gentleman fort, indem er sich von seinem Sitze erhob, »daß Ihr wie früher meinen Besuch vor Eurem Bruder nicht erwähnt, weil ihn mein Mitwissen um seine frühere Geschichte betrüben könnte. Dies wird mir lieb sein; denn es liegt außer dem gewöhnlichen Lauf der Dinge – da haben wir wieder die leidige Gewohnheit«, unterbrach er sich unmutig –, »als ob es nichts Besseres gebe, als den alltäglichen Gang der Welt.«

Mit diesen Worten schickte er sich zum Gehen an. Er behielt, bis er vor der Haustür draußen war, den Hut in der Hand und verabschiedete sich von ihr mit einer so glücklichen Mischung von zwangloser Achtung und ungekünstelter Teilnahme, wie diese nicht in der Schule der feinen Bildung gewonnen wird und wie sie es nur eine Vertrauen weckende, reine Einfachheit des Herzens einflößen kann.

Dieser Besuch rief in der Seele der Schwester manche halbvergessenen Gefühle wieder hervor. Es war gar so lang her, seit überhaupt eine teilnehmende Person über ihre Schwelle gekommen, seit ihr Ohr die Stimme des Mitgefühls vernommen hatte; und vor dem Auge ihres Geistes stand noch immer, als sie Stunden nachher mit ihrer Näherei am Fenster saß, die Gestalt des Fremden, der wieder und wieder seine wohlgemeinten Bitten vorzubringen schien. Er hatte das Schloß berührt, das ihr ganzes Leben öffnete; und wenn sein Bild auf kurze Zeit verwischt wurde, lag der Grund nur in den vielen Formen der einen großen Erinnerung, aus denen die Kette dieses Lebens gebildet war.

Abwechselnd nachsinnend und arbeitend, indem sie bald für eine geraume Weile die Nadel angestrengt in Tätigkeit setzte, bald diese unbeachtet ruhen ließ, um dem Strom ihrer Gedanken zu folgen, fand Harriet, daß die Stunden an ihr vorüberglitten und der Tag zur Neige ging. Der Morgen war schön und heiter gewesen; jetzt aber überwölkte sich allmählich der Himmel. Ein scharfer Wind begann zu wehen, der Regen fiel mit Macht nieder, und ein dichter Nebel verhüllte die ferne Stadt vor ihren Blicken.

Zu solchen Zeiten blickte sie oft mit Mitleid auf die einzelnen Wanderer, die auf der nahegelegenen Landstraße mit müden, wunden Füßen London zuschritten und furchtsamen Blicks die ungeheure, vor ihnen liegende Stadt betrachteten, als ahnten sie, daß ihr Elend dort nur ein Tropfen im Meer oder ein Sandkorn am Gestade sei, gleichwohl aber zusammenschaudernd weiterzogen, wie sehr auch in dem Ungestüm des Wetters sogar die Elemente sie zurückzuweisen schienen. Tag um Tag schlichen solche Reisende vorbei; aber immer, wie es ihr vorkam, derselben Richtung zu – stets nach der Stadt. Aufgesogen von einem oder dem andern Teil der Unermeßlichkeit, nach der sie durch einen verzweifelten Zauber hingedrängt zu werden schienen, kehlten sie nie wieder zurück. Nahrung für die Hospitäler, die Kirchhöfe, die Gefängnisse, den Fluß, das Fieber, den Wahnsinn, das Laster und den Tod – so eilten sie dem in der Ferne brüllenden Ungeheuer zu und waren verloren.

Der kalte Wind heulte, der Regen klatschte, und der Tag hatte sich in ein tiefes Düster gehüllt, als Harriet von ihrer Arbeit, der sie schon geraume Zeit mit beharrlichem Eifer sich hingegeben hatte, ihre Augen erhob und einen solchen Wanderer herankommen sah.

Eine Frau. Eine einzelne Frau von etlichen dreißig Jahren, groß, gut gebaut und schön, aber in erbärmlicher Kleidung. An ihrem von Nässe triefenden grauen Mantel waren die Spuren verschiedener Bodenarten, Merkmale des auf vielen Landstraßen durchgemachten schlechten Wetters – Staub, Kalk, Lehm und Kies – zu unterscheiden. Kein Hut, keine andere Kopfbedeckung als ein umgebundenes, zerrissenes Taschentuch schützte ihr reiches Haar gegen den Regen, und der Wind blies ihr unaufhörlich dessen Zipfel oder einzelne Haarstränge ins Gesicht, so daß sie oft haltmachen mußte, um die blendenden Hindernisse zurückzustreifen, damit sie den Weg sehen konnte, den sie ging.

Sie war eben in diesem Geschäft begriffen, als Harriet ihrer ansichtig wurde. Als die Fremde, mit der Hand über das sonnverbrannte Gesicht fahrend, ihr Haar beiseite strich, enthüllte sich eine fast verwegene, rücksichtslose Schönheit, eine furchtlose, wilde Gleichgültigkeit auch gegen andere Dinge, als das Wetter, eine Unbekümmertheit gegen alles, was Himmel oder Erde über ihr unbedecktes Haupt senden mochte. Dieser Anblick, in Verbindung mit dem Elend und der Verlassenheit des Weibes, rührte das Herz Harriets. Sie dachte an alles, was nicht nur im Äußern, sondern auch im Innern dieser Unglücklichen verkehrt und verderbt sein mochte – an die anspruchslosen Reize der Seele, die wahrscheinlich ebenso verhärtet und gestählt waren, wie die schönen Linien des Gesichts; an die vielen Gaben des Schöpfers, gleich dem wirren Haar in die Winde gestreut, und an alle die Trümmer von Lieblichkeit, die vom Sturm durchwühlt und von der einbrechenden Nacht umdüstert wurden.

Während sie diesen Gedanken nachsann, wandte sie sich nicht ab mit empfindsamem Unwillen, wie es nur zu viele Angehörige des mitleidigen zarteren Geschlechtes getan haben würden, sondern ließ das Gefühl inniger Teilnahme walten.

Die gefallene Schwester kam näher. Sie blickte weit vor sich hin, als wollten ihre blitzenden Augen durch den Nebel dringen, der die Stadt vor ihr verhüllte, und schaute hin und wieder mit der wirren, unsicheren Miene einer Fremden seitwärts. Obschon ihr Tritt kühn und mutig war, konnte sie ihre Ermüdung doch nicht verbergen, und nach kurzer Unschlüssigkeit setzte sie sich auf einen Steinhaufen, ohne Schutz gegen den Regen zu suchen, den sie unbekümmert auf sich niederströmen ließ.

Sie saß dem Haus gegenüber. Nachdem sie ihren Kopf für einen Augenblick mit beiden Händen gestützt hatte, erhob sie ihn wieder, und ihr Auge begegnete jetzt dem Blicke Harriets. Im Nu war diese an der Tür. Auf ihr Winken stand die Fremde auf und kam mit finsterer Miene langsam heran.

»Warum setzt Ihr Euch im Regen nieder?« fragte Harriet mit sanfter Stimme.

»Weil ich keinen andern Ruheplatz habe«, lautete die Antwort.

»Aber es sind in der Nähe viele Plätze, die Euch ein Obdach geben können. Diese Laube da ist doch weit besser als der Steinhaufen dort, und der Schutz, den Ihr hier findet, ist Euch von Herzen gegönnt.«

Die Fremde sah sie erstaunt und zweifelnd an, ohne aber irgend zu danken. Dann setzte sie sich nieder und nahm einen ihrer schlechten Schuhe ab, um den Staub und die Steinchen, die dort eingedrungen waren, herauszuklopfen. Dabei zeigte sich, daß ihr Fuß verletzt und blutig war.

Harriet stieß einen Ruf des Mitleids aus. Die Fremde aber schaute sie mit einem verächtlichen, ungläubigen Lächeln an.

»Ha, was ist auch ein wunder Fuß für eine Person, wie ich es bin«, sagte sie. »Und was kann Euch ein wunder Fuß an einem armen Frauenzimmer kümmern?«

»Kommt herein und wascht ihn aus«, antwortete Harriet in mildem Ton. »Ich will Euch etwas geben, damit Ihr ihn verbinden könnt.«

Die Fremde ergriff ihren Arm, verbarg die Augen dahinter und weinte – nicht wie ein Weib, sondern wie ein finsterer Mann, der sich von einer solchen Schwäche überraschen läßt – mit einem ungestümen Wogen der Brust und einem inneren Kampf, der zeigte, wie ungewöhnlich eine derartige Erregung bei ihr war.

Sie ließ sich in das Haus führen, wo sie die wunde Stelle wusch und verband, aber augenscheinlich mehr aus Dankbarkeit als aus Sorge für sich selbst. Harriet setzte ihr dann die Überreste ihres eigenen spärlichen Mahls vor und forderte sie, nachdem sie ein wenig davon genossen hatte, auf, sie solle doch ihre Kleider vor dem Feuer trocknen, ehe sie ihre Wanderung, bei der sie es sehr eilig zu haben schien, wieder aufnehme. Abermals mehr aus Dankbarkeit als mit irgendeiner Kundgebung von Sorge für sich selbst, setzte sich die Fremde vor dem Kamin nieder, knüpfte das um den Kopf geschlungene Taschentuch los, so daß das dichte, feuchte Haar bis auf die Hüfte niederfiel, trocknete es mit ihren Handflächen und schaute in die Flamme.

»Ihr werdet wahrscheinlich denken«, sagte sie, plötzlich ihren Kopf aufrichtend, »daß ich einmal schön gewesen sein müsse. Ich glaube, daß es der Fall war – ja, ich weiß es. Schaut her!« sie hielt ihr Haar mit beiden Händen in die Höhe, umfaßte sie dann, als wolle sie sich dieselben ausreißen, und warf sie wieder zurück, als ob sie ein Haufen Schlangen wären.

»Seid Ihr fremd hier?« fragte Harriet.

»Fremd?« entgegnete sie, zwischen jeder kurzen Antwort innehaltend und ins Feuer blickend. »Ja. Fremd seit zehn oder zwölf Jahren. Wo ich war, hatte ich keinen Kalender. Zehn oder zwölf Jahre. Diesen Teil kenne ich nicht. Während meiner Abwesenheit hat sich viel verändert.«

»Seid Ihr weit fortgewesen?«

»Sehr weit. Monate um Monate auf dem Meer, und auch dann noch weit weg. Ich war an dem Platz, wo man die Missetäter hinschickt«, fügte sie bei, ihrer Wirtin voll ins Gesicht sehend. »Ich bin selbst eine Verbrecherin gewesen.«

»Der Himmel stehe Euch bei und verzeihe Euch!« lautete die sanfte Erwiderung.

»Ach, der Himmel mir beistehen und mir verzeihen!« versetzte sie, mit dem Kopf nach dem Feuer nickend. »Wenn die Menschen einigen von uns ein bißchen mehr beistehen wollten, würde Gott vielleicht uns allen desto bälder verzeihen.«

Aber das ernste Benehmen Harriets und das herzliche Gesicht, das mit so viel Milde und nicht mit der Miene der Verwerfung auf ihr ruhte, stimmte sie sanfter, so daß sie mit weniger Härte beifügte:

»Wir werden wohl im gleichen Alter sein, Ihr und ich. Wenn ich älter bin, so kann es kaum um ein Jahr oder um zwei sein. O denkt daran!«

Sie breitete ihre Arme aus, als ob sie durch Enthüllung ihrer äußeren Gestalt zeigen wolle, wie elend sie auch in ihrem Inneren sei; dann ließ sie die Arme wieder fallen und senkte den Kopf.

»Es gibt nichts, was wir nicht wieder gutmachen zu können hoffen dürfen. Zur Besserung ist es nie zu spät«, sagte Harriet. »Ihr seid reuig –«

»Nein«, entgegnete sie. »Ich bin es nicht – kann es nicht sein. Warum sollte auch ich bereuen – und die ganze übrige Welt frei ausgehen? Man schwatzt mir immer von Reue vor – wer bereut das Unrecht, das an mir geübt worden ist?«

Sie stand auf, knüpfte das Tuch wieder um den Kopf und schickte sich an, zu gehen.

»Wohin wollt Ihr?« fragte Harriet.

»Dorthin«, antwortete sie, mit der Hand deutend. »Nach London.«

»Habt Ihr dort eine Heimat?«

»Ich glaube, ich habe eine Mutter. Sie ist ebensowohl eine Mutter, wie ihre Wohnung eine Heimat genannt werden kann«, erwiderte sie mit einem bittern Lachen.

»Nehmt das«, rief Harriet, ihr ein Geldstück in die Hand drückend. »Gebt Euch Mühe, ein ordentliches Auskommen zu finden. Es ist nur sehr wenig, aber für einen Tag kann es Euch vielleicht forthelfen.«

»Seid Ihr verheiratet?« fragte die Fremde in ersticktem Ton, als sie das Almosen annahm.

»Nein. Ich lebe hier mit meinem Bruder. Wir haben nicht viel übrig, sonst würde ich Euch mehr gegeben haben.«

»Wollt Ihr mir erlauben, Euch zu küssen?«

Da sie in Harriets Gesicht kein Zeichen von Widerwillen oder Verachtung bemerkte, so beugte sie sich zu ihr nieder und drückte ihre Lippen gegen die Wangen ihrer Wirtin. Dann ergriff sie abermals Harriets Arm, bedeckte ihre Augen damit und war verschwunden.

Verschwunden in der dunkler werdenden Nacht, in dem heulenden Wind und dem schüttenden Regen. Das schwarze Haar und die Zipfel des Tuches flatterten um ihr wildes Gesicht, als sie weiter ging nach der in Nebel gehüllten Stadt mit ihrem matten Lichtergeflimmer.

Zweiundvierzigstes Kapitel.


Zweiundvierzigstes Kapitel.

Vertraulich und zufällig.

Nicht mehr in Kapitän Cuttles schwarzen Kleidern und in dem Südwesterhut, sondern in eine gute, braune Livree gehüllt, die, während sie gesetzte Nüchternheit heuchelte, in der Tat so stolz und zuversichtlich war, wie nur ein Schneider sie anzufertigen wünschen konnte, stand jetzt der in seinem äußeren Menschen so umgewandelte Rob, der Schleifer, im Dienst seines Gönners, Mr. Carker. In seinem Innern nahm er keine weitere Rücksicht auf den Kapitän und den Midshipman, als daß er einige Minuten seiner Muße der Aufgabe weihte, diese beiden unzertrennlichen Würdenträger zu verhöhnen und unter der Beifall zollenden Musik jenes Blech-Instrumentes, seines Gewissens, sich die triumphierende Manier zu vergegenwärtigen, durch die er von ihnen losgekommen war. Mitbewohner von Mr. Carkers Haus und mit dem persönlichen Dienst um seinen Beschützer betraut, hielt dafür Rob seine runden Augen mit Furcht und Zittern auf die weißen Zähne geheftet und fühlte, daß er nötig habe, sie weiter als je offenzuhalten.

Wäre er in den Dienst eines mächtigen Zauberers gekommen und hätten an besagten Zähnen die kräftigsten Bannsprüche gehaftet, so wären sie doch sicherlich nicht imstande gewesen, seinem ganzen Wesen eine größere Scheu einzuflößen. In den Augen des Knaben besaß sein Gebieter eine Gewalt und eine Autorität, die seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahmen und ihn zum unbedingtesten Gehorsam zwangen. Ja, selbst in Carkers Abwesenheit fühlte er sich, wenn er an ihn dachte, kaum sicher, ob er nicht plötzlich wieder am Kragen gepackt werde, wie an jenem Morgen der ersten Zusammenkunft, und ob nicht die Zähne die geheimste Regung seines Innern aufzufinden und zu würdigen wüßten. Angesicht in Angesicht mit ihm, zweifelte Rob ebensowenig daran, daß Mr. Carker seine geheimen Gedanken lese, oder doch, wenn er wolle, sie leicht lesen könne. Das Übergewicht war so vollständig und hielt ihn dermaßen im Bann, daß er kaum wagte, an etwas anderes zu denken, als an den unwiderstehlichen Einfluß seines Gönners und an dessen Macht, alles mit ihm anzufangen. Deshalb harrte er auch stets ängstlich seiner Befehle und versuchte in einer Art geistiger Spannung, denselben vor allen andern Dingen zuvorzukommen.

In seinem damaligen Gemütszustand wußte vielleicht Rob selbst nicht, und es wäre wohl ein Akt nicht gewöhnlicher Vermessenheit gewesen, sich darüber Gedanken zu machen, ob er sich nicht bloß deshalb so vollständig diesem Einflusse unterwarf, weil ihm der Argwohn vorschwebte, sein Gönner sei Meister in gewissen tückischen Künsten, in denen er selbst durch die Schleifer-Schule zu einem ärmlichen Anfänger geworden war. So viel ist gewiß, daß er ihn ebensosehr bewunderte wie fürchtete. Mr. Carker kannte vielleicht die Quellen seiner Macht besser und versäumte nicht, sie zu benützen.

An dem Abend nach dem Austritt aus des Kapitäns Dienst verkaufte Rob sogleich seine Tauben, ohne sich in der Eile viel an den schlechten Erlös zu kehren, und rannte geradewegs nach Mr. Carkers Haus, wo er sich mit glühendem Gesicht, das Rob zu erwarten schien, seinem neuen Gebieter vorstellte.

»Wie, du Galgenstrick!« sagte Mr. Carker, nach seinem Bündel hinsehend, »hast du deinen Platz verlassen, um zu mir zu kommen?«

»Ach, mit Eurer Erlaubnis, Sir«, stotterte Rob, »Ihr wißt ja, als ich zum letztenmal hier war, sagtet Ihr –«

»Ich sagte etwas?« erwiderte Mr. Carker. »Und was sagte ich?«

»Ich bitt‘ um Verzeihung, Sir, Ihr sagtet eigentlich nichts, Sir«, versetzte Rob in großer Verblüffung und durch die Art dieser Frage gewarnt.

Sein Gönner musterte ihn mit einer breiten Schaustellung des Zahnfleisches, schüttelte seinen Zeigefinger und bemerkte:

»Ich sehe voraus, mein vagabundierender Freund, daß es mit dir zu einem schlimmen Ende kommen wird. Es steht dir der Untergang bevor.«

»O, ich bitte, sprecht nicht so, Sir!« rief Rob, und die Knie zitterten unter ihm. »Gewiß, Sir, ich möchte nur für Euch arbeiten, Sir, Euch aufwarten, Sir, und getreulich alles tun, was Ihr mir befehlt, Sir.«

»Du wirst gut tun, alles, was man dir aufträgt, getreulich zu erfüllen, wenn du überhaupt mit mir zu schaffen hast«, erwiderte sein Gönner.

»Ja«, versetzte der unterwürfige Rob. »Ich bin davon überzeugt, Sir. Wenn Ihr nur so gut sein wolltet, es mit mir zu probieren! Und wenn Ihr je an mir findet, daß ich gegen Eure Wünsche handle, so mögt Ihr mich auf der Stelle totschlagen.«

»Du Hund!« sagte Mr. Carker, in seinem Stuhle sich zurücklehnend und ruhig nach ihm hinlächelnd. »Das wäre noch nichts gegen das, was ich dir antun würde, wenn du versuchtest, mich zu täuschen.«

»Ja, Sir«, versetzte der Schleifer geduckt, »ich weiß wohl, Ihr würdet schrecklich mit mir umgehen, Sir. Ich werde mir gewiß keinen solchen Versuch einfallen lassen, Sir, und wenn man mich sogar mit goldenen Guineen bestechen wollte.«

In seinen Erwartungen auf Lob vollkommen getäuscht, stand der verdutzte Schleifer da und sah seinen Gönner an, obschon er mit der Unruhe, die oft in ähnlicher Lage ein bissiger Hund kundgibt, vergeblich bemüht war, nicht nach ihm hinzublicken.

»Du hast also deinen alten Dienst verlassen und bist hierhergekommen, um mich zu bitten, daß ich dich in den meinen nehme?« fragte Mr. Carker.

»Mit Erlaubnis, ja, Sir«, entgegnete Rob, der bei seinem Schritt nur nach den Weisungen seines Gönners gehandelt hatte, obschon er es jetzt nicht wagte, sich durch die mindeste Andeutung darauf zu rechtfertigen.

»Gut!« sagte Mr. Carker. »Du kennst mich, Junge?«

»Ja, Sir«, erwiderte Rob, der seinen Hut rieb und noch immer durch Mr. Carkers Auge gebannt war, während er zugleich vergeblich sich abmühte, den Bann zu lösen.

Mr. Carker nickte mit dem Kopf.

»So sieh dich vor!«

Rob drückte durch eine Anzahl kurzer Verbeugungen aus, wie vollkommen er diese Warnung begriff, und setzte seine Kratzfüße bis nach der Tür fort, in der getrosten Hoffnung, sie bald hinter sich zu haben, als sein Gönner ihm Halt gebot.

»He!« sagte Mr. Carker, ihn rauh zurückrufend, »du hast – schließe die Tür dort.«

Rob gehorchte, als ob sein Leben von seiner Behendigkeit abhinge.

»Du hast dich ans Lauschen gewöhnt. Weißt du, was das besagen will?«

»Horchen, Sir?« – warf Rob aufs Geratewohl hin, nachdem er eine Weile verlegen sich besonnen hatte.

Sein Gönner nickte.

»Aufpassen und dergleichen.«

»Hier würde ich so etwas gewiß nicht tun, Sir«, erwiderte Rob. »Auf Ehre, gewiß nicht, Sir. Lieber wollte ich sterben, Sir, und wenn man mir auch alles Erdenkliche verspräche. Die ganze Welt könnte mich nicht zu so etwas bestechen, Sir, wenn es mir nicht befohlen würde, Sir.«

»Ich möchte es dir auch nicht raten. Du bist außerdem ans Schwatzen und Klatschen gewöhnt«, sagte sein Gönner mit vollkommener Ruhe. »Nimm dich hier in acht davor, Spitzbube, oder es ist um dich geschehen.« Er lächelte wieder und winkte abermals mit dem Zeigefinger.

Der Schleifer konnte vor Bestürzung kaum mehr atmen. Er versuchte die Reinheit seiner Absichten zu beteuern, konnte aber den lächelnden Gentleman nur in einer unterwürfigen Betäubung anglotzen, mit der Mr. Carker sehr wohl zufrieden zu sein schien; denn er befahl ihm nach einem kurzen Schweigen, die Treppe hinunterzugehen, und machte ihm damit bemerklich, daß er in Dienst genommen sei.

So gelangte Rob, der Schleifer, zu einem neuen Herrn, und seine ängstliche Ehrerbietung vor Mr. Carker wurde womöglich mit jeder Minute seines Dienstes noch erhöht und gekräftigt.

Er war einige Monate in seinem neuen Dienst gewesen, als er eines Morgens früh Mr. Dombey, der einer Verabredung gemäß bei seinem Gebieter frühstücken sollte, die Gartentür öffnete. Im gleichen Augenblick kam auch eiligst Mr. Carker herbei, um den angesehenen Gast zu empfangen und mit allen seinen Zähnen zu bewillkommnen.

»Ich hätte wahrhaftig nie gedacht«, sagte Mr. Carker, indem er Mr. Dombey beim Absteigen vom Pferd seine Unterstützung anbot, »Euch hier zu sehen. Das ist ein außerordentlicher Tag in meinem Kalender. Bei einem Mann wie Ihr kann es freilich als nichts Besonderes erscheinen, da Ihr in der Lage seid, alles zu tun; aber bei einem Mann wie ich gestaltet sich der Fall ganz anders.«

»Ihr habt hier eine sehr geschmackvolle Wohnung, Carker«, sagte Mr. Dombey, der sich herabließ, auf dem Rasen haltzumachen und umherzuschauen.

»Es beliebt Euch nur, so zu sagen«, entgegnete Carker. »Ich danke Euch.«

»In der Tat«, fuhr Mr. Dombey mit stolzer Gönnermiene fort, »ich habe auch allen Grund dazu. Soviel ich sehe, ist dies ein sehr bequemes, wohl eingerichtetes Heim – eigentlich elegant.«

»Es verdient wahrhaftig diese Bezeichnung nicht«, erwiderte Carker mit der Miene der Bescheidenheit. »Doch es ist genug davon gesprochen, und ich bin Euch nichtsdestoweniger dankbar, wenn Ihr es mit einem Lobe bedenkt, das ihm nicht gebührt. Wollt Ihr eintreten?«

Im Hause drinnen entgingen Mr. Dombey die vollständige Einrichtung der Zimmer und die zahlreichen Bequemlichkeiten und Zierden, an denen es wimmelte, nicht. Mr. Carker nahm in seiner geheuchelten Demut die Bemerkungen darüber mit einem ehrerbietigen Lächeln hin und sagte, er begreife wohl den zarten Sinn in Mr. Dombeys Worten und wisse ihn zu würdigen; aber in Wahrheit sei das Häuschen gut genug für einen Mann von seiner Stellung, vielleicht sogar besser, als es ihm gebühre, wie gering dasselbe auch sein möge.

»Euch aber, der Ihr so hoch über mir steht, mag es in der Tat vielleicht besser vorkommen, als es ist«, fügte er hinzu, und sein falscher Mund verzog sich von einem Ohre bis zum andern. »Gerade wie auch Monarchen in dem Leben von Bettlern einen Reiz zu finden glauben.«

Während er so sprach, richtete er einen scharfen Blick und ein scharfes Lächeln auf Mr. Dombey – einen noch schärferen Blick und ein noch schärferes Lächeln, als Mr. Dombey in der Haltung, die er so oft als der zweite im Kommando nachzubilden gewöhnt war, sich vor dem Feuer aufstellte und die Gemälde an den Wänden musterte. Das kalte Auge seines Prinzipals wanderte flüchtig darüber hin, und Mr. Carkers schlauer Blick folgte ihm allenthalben, genau sich merkend, wo es anhielt und was es sah.

Als es namentlich auf einem Gemälde ruhen blieb, schien Carker kaum zu atmen, und sein Blick wurde katzenartig lauernd; aber das Auge des großen Mannes ging darüber hin und nahm sichtlich keinen größeren Eindruck mit, als von den übrigen.

Carker sah dann hin – es war das Bild, welches Ähnlichkeit mit Edith hatte – als ob es ein lebendes Wesen wäre; ein boshaftes, stummes Lachen überflog sein Gesicht und schien teilweise dem Bild zu gelten, obschon es hauptsächlich einen Spott für den großen Mann enthielt, der ihm nichtsahnend zur Seite stand. Bald nachher dampfte das Frühstück auf dem Tisch, und während er Mr. Dombey einen Stuhl anbot, dessen Lehne dem Gemälde zugekehrt war, nahm er wie gewöhnlich ihm gegenüber seinen Sitz ein.

Mr. Dombey war sogar noch ernster, als sonst, und verhielt sich sehr schweigsam. Der Papagei, der sich auf dem vergoldeten Reif seines schönen Käfigs wiegte, gab sich vergeblich Mühe, die Aufmerksamkeit der Anwesenden auf sich zu ziehen; denn Mr. Carker war zu sehr von seinem Gast in Anspruch genommen, um auf den Vogel zu achten, und Mr. Dombey, der sich ganz seinem Nachdenken hingab, schaute starr, um nicht zu sagen verdrießlich, über seine steife Halsbinde weg, ohne die Augen von dem Tischtuch zu erheben. Was den dienstleistenden Rob betraf, so galten alle seine Fähigkeiten zu sehr der Aufmerksamkeit auf seinen Gebieter, als daß er es hätte wagen können, dem Gedanken Raum zu geben, der Gast sei der vornehme Herr, dem er in seiner Kindheit als Zeugnis für die Gesundheit der Familie vorgestellt worden war und dem er seine ersten Lederhosen zu danken hatte.

»Erlaubt mir die Frage«, sagte Carker plötzlich, »wie sich Mrs. Dombey befindet.«

Er beugte sich dabei unterwürfig vorwärts und stützte das Kinn auf seine Hand; zu gleicher Zeit aber richtete er seine Augen auf das Gemälde, als wollte er sagen: »Nun werden wir sehen, wie ich ihn weiterzuführen imstande bin.« »Mrs. Dombey befindet sich vollkommen wohl«, antwortete Dombey errötend. »Ihr erinnert mich hierdurch an einen Punkt, Carker, über den ich mit Euch sprechen möchte.«

»Robin, du kannst gehen«, sagte Mr. Carker in so mildem Ton, daß Robin betroffen darüber wurde, obschon er beim Fortgehen die Augen bis zum letzten Moment auf seinem Gebieter haften ließ. »Ihr erinnert Euch natürlich dieses Knaben?« fügte er hinzu, sobald der verstrickte Schleifer das Zimmer verlassen hatte.

»Nein«, sagte Mr. Dombey mit großartiger Gleichgültigkeit.

»Von einem Mann, wie Ihr, auch nicht wahrscheinlich – ja, kaum möglich«, murmelte Carker. »Er gehört aber zu der Familie, aus der Ihr eine Amme nahmt. Vielleicht erinnert Ihr Euch noch, daß Ihr Euch großmütig mit seiner Erziehung belastetet?«

»Ist dies der Knabe?« versetzte Mr. Dombey mit einem Stirnrunzeln. »Ich glaube, er macht seiner Erziehung wenig Ehre.«

»Ich fürchte, er ist ein junger Galgenvogel«, erwiderte Carker mit einem Achselzucken; »wenigstens steht er in diesem Ruf. Die Sache verhält sich übrigens so, daß ich den Burschen in meinen Dienst nahm, weil er keine andere Beschäftigung finden konnte und – ohne Zweifel wurde er zu Hause so unterrichtet – eine Art Anspruch an Euch zu haben glaubte, weshalb er denn auch Euch überall nachging, um Euch sein Anliegen vorzubringen. Zwar beschränkte sich meine Beziehung zu Euren Angelegenheiten nur auf Geschäftssachen; aber gleichwohl nehme ich aus freien Stücken Anteil an allem, was Euch angeht, so daß ich – –« er hielt inne, als wollte er erst erkunden, ob er Mr. Dombey schon weit genug geführt habe. Und abermals stützte er das Kinn auf seine Hand, um nach dem Gemälde hinzuschielen.

»Carker«, sagte Mr. Dombey, »ich weiß, Ihr beschränkt Eure – –«

»Dienstpflicht«, ergänzte der lächelnde Geschäftsführer.

»Nein; ich sage lieber Eure Anhänglichkeit –« bemerkte Mr. Dombey mit dem Bewußtsein, daß er ihm ein sehr schmeichelhaftes Kompliment mache – »nicht auf bloße Geschäftssachen. Eure Rücksicht auf meine Gefühle, meine Hoffnungen und getäuschten Erwartungen in dem kleinen Beispiel, das Ihr eben erwähntet, ist mir ein Beweis dafür. Ich bin Euch verbunden, Carker.«

Mr. Carker verbeugte sich langsam und rieb sehr sanft seine Hände, als fürchte er, durch jede andere Gebärde den Strom von Mr. Dombeys Vertrauen zu stören.

»Eure Hindeutung darauf kommt ganz gelegen«, fuhr Mr. Dombey nach kurzem Zaudern fort, »denn sie bahnt das an, was ich Euch sagen möchte, und erinnert mich daran, daß nicht unbedingt neue Beziehungen zwischen uns erwachsen, obschon meinerseits mehr persönliches Vertrauen ins Spiel kommen dürfte, als bisher – –«

»Mir in so auszeichnender Weise zuteil wurde«, ergänzte Carker mit einer abermaligen Verbeugung. »Ich will Euch nicht sagen, wie geehrt ich mich fühle, denn ein Mann, wie Ihr, weiß wohl, daß es in seiner Macht steht, beliebig Ehre zu vergeben.«

»Wir beide, Mrs. Dombey und ich«, fuhr Mr. Dombey fort, dieses Kompliment mit majestätischer Selbstverleugnung übergehend, »sind über manche Punkte nicht ganz einig. Es scheint, als ob wir uns gegenseitig noch nicht verstehen. Mrs. Dombey hat noch etwas zu lernen.«

»Mrs. Dombey ist mit vielen, seltenen, schönen Eigenschaften beglückt und ohne Zweifel sehr an Schmeichelei gewöhnt«, sagte der glatte, geschmeidige Geschäftsführer, der jeden Blick, jeden Ton seines Herrn aufs sorgfältigste beobachtete. »Aber wo Liebe, Pflichtgefühl und Achtung herrscht, werden kleine Mißverständnisse, die aus solchen Ursachen hervorgehen, bald ausgeglichen sein.«

Mr. Dombey dachte unwillkürlich an das Gesicht, das in dem Salon seiner Gattin ihn angeblickt, und an die gebieterische Hand, die nach der Tür hingewiesen hatte. Bei der Erinnerung an die Liebe, das Pflichtgefühl und die Achtung, welche sich hierin ausgesprochen, fühlte er, wie ihm das Blut in die Wangen schoß, ebenso deutlich, als es das beobachtende Auge ihm gegenüber sah.

»Ich hatte mit Mrs. Dombey«, fuhr er fort, »vor Mrs. Skewtons Tod einen kleinen Wortwechsel über die Gründe meiner Unzufriedenheit, von denen Ihr Euch eine allgemeine Vorstellung gebildet haben werdet aus der Szene, die in Eurer Gegenwart zwischen Mrs. Dombey und mir in unserm – in meinem Hause stattfand.«

»Ich bedauerte recht sehr, Zeuge sein zu müssen«, sagte der lächelnde Carker. »So sehr ein Mann in meiner Stellung notwendig auf Euer Vertrauen stolz sein muß – zwar darf ich es Euch nicht hoch anrechnen, da Ihr alles tun könnt, ohne Euch etwas zu vergeben – und so geehrt ich mich fühlte, als Ihr mich Mrs. Dombey vorstelltet, ehe sie sich noch der Auszeichnung erfreute, Euren Namen zu tragen, muß ich Euch doch die Versicherung geben, daß ich an jenem Abend fast bedauerte, der Gegenstand einer so ganz besonderen Gunst zu sein.«

Daß jemand unter was immer für Umständen bedauern konnte, durch Herablassung und Gönnerschaft ausgezeichnet zu werden, war für Mr. Dombey ein moralisches Wunder, das er nicht begreifen konnte. Er antwortete daher mit beträchtlicher Steigerung seiner Würde: »Wirklich? Und warum?«

»Ich fürchte«, versetzte der Geschäftsführer, »daß Mrs. Dombey, die mir nie sehr geneigt war – ein Mann in meiner Stellung konnte dies auch nicht erwarten von einer Dame, die von Natur aus so stolz ist und der ihr Stolz so gut steht – mir meine unschuldige Beteiligung an jenem Gespräch nicht leicht vergeben werde. Ihr müßt bedenken, daß Euer Mißfallen nichts Geringes ist, und es vor einer dritten Person fühlen zu müssen – –«

»Carker«, sagte Mr. Dombey in anmaßendem Tone, »ich denke doch, daß mir die erste Rücksicht gebührt.«

»O! Kann hierüber ein Zweifel obwalten?« entgegnete der andere mit der Ungeduld eines Mannes, der eine bekannte unumstößliche Tatsache einräumt.

»Ich meine, wenn wir beide in Frage kommen, so nimmt Mrs. Dombey eine untergeordnete Stellung ein«, fuhr Mr. Dombey fort. »Ist’s nicht so?«

»Ob es so ist?« erwiderte Carker. »Weiß jemand besser, als Ihr, daß hierüber keine Frage nötig ist?«

»Dann hoffe ich, Carker«, sagte Mr. Dombey, »daß Euer Bedauern über das Mißfallen der Mrs. Dombey fast aufgewogen werden dürfte durch das Bewußtsein, mein Vertrauen und meine gute Meinung gewonnen zu haben.«

»Ich habe also das Unglück gehabt«, entgegnete Carker, »dieses Mißfallen auf mich zu laden. Hat sich Mrs. Dombey so gegen Euch geäußert?«

»Mrs. Dombey hat allerlei Ansichten, über die ich nicht mit ihr einverstanden bin«, sagte Mr. Dombey mit majestätischer Kälte und Gleichgültigkeit, »und ich bin nicht geneigt, mich darauf einzulassen, oder sie mir wieder ins Gedächtnis zu rufen. Wie ich Euch bereits mitteilte, habe ich gegen Mrs. Dombey erklärt, daß ich auf gewissen Punkten häuslicher Ehrerbietung und Unterwürfigkeit notwendig bestehen müsse. Es ist mir nicht gelungen, sie zu überzeugen, es sei ebensowohl für ihren Frieden und ihre Wohlfahrt, als für meine Würde zweckdienlich, daß sie unverweilt in solchen Beziehungen ihr Benehmen ändere, weshalb ich ihr bedeutete, wenn ich es nötig finde, ihr wieder Vorstellungen zu machen, so werde ich ihr meine Ansicht durch Euch, meine vertraute Mittelsperson, zugehen lassen.«

In den Blick, den Mr. Carker auf ihn heftete, mischte sich ein teuflisches Schielen nach dem Gemälde an der Wand, das wie ein Blitz danach hinzuckte.

»Ich nehme keinen Anstand, Carker«, fuhr Mr. Dombey fort, »Euch zu sagen, daß ich meinen Entschluß durchzuführen beabsichtige. Ich lasse nicht mit mir spielen. Mrs. Dombey muß belehrt werden, daß mein Wille Gesetz ist, und daß ich von dieser ganzen Regel meines Lebens keine Ausnahme gestatten kann. Ihr werdet die Güte haben, Euch dieser Aufgabe zu unterziehen; ich hoffe, Ihr habt nichts dagegen einzuwenden, da sie von mir ausgeht, wie sehr Ihr es auch aus Höflichkeit gegen Mrs. Dombey bedauern mögt – ein Bedauern, für das ich Euch in ihrem Namen danke. Auch bin ich überzeugt, Ihr werdet sie so pünktlich wie jeden andern Auftrag erfüllen.«

»Ihr wißt«, sagte Mr. Carker, »daß Ihr mir nur zu befehlen braucht.«

»Ich weiß«, entgegnete Mr. Dombey mit majestätischer Zustimmung, »daß ich Euch nur zu befehlen brauche. Es ist nötig, daß ich durchgreifend verfahre. Mrs. Dombey ist eine Dame, die ohne Zweifel in vielfacher Beziehung hohe Eigenschaften besitzt, so daß sie – –«

»Sogar Eurer Wahl Ehre macht«, ergänzte Carker mit schmeichelnder Schaustellung seiner Zähne.

»Meinetwegen, wenn Ihr die Worte so gestellt wissen wollt«, sagte Mr. Dombey in seinem vornehmen Tone, »obschon ich für den Augenblick nicht bemerke, daß Mrs. Dombey diese Ehre in der gebührenden Weise zu schätzen weiß. Sie besitzt einen Widerspruchsgeist, der ausgerottet und bewältigt werden muß. Mrs. Dombey scheint nicht zu begreifen«, fügte er mit Nachdruck hinzu, »daß schon der Gedanke eines Widerstandes gegen mich ungeheuerlich und abgeschmackt ist.«

»Wir in der City kennen Euch besser«, versetzte Carker mit einem Lächeln von Ohr zu Ohr.

»Ihr kennt mich besser«, sagte Mr. Dombey. »Ich hoffe es. Gleichwohl muß ich Mrs. Dombey die Gerechtigkeit widerfahren lassen, daß meine Ermahnung, wie wenig dies sich auch mit ihrem späteren, sich stets gleich bleibenden Benehmen zu vertragen scheint, einen sehr mächtigen Eindruck auf sie machte, als ich ihr bei der erwähnten Gelegenheit mit etwas Strenge erklärte, daß ich nicht mit ihr zufrieden sein könne und deshalb entschieden gegen sie auftreten müsse.« Mr. Dombey entledigte sich dieser Worte mit einer ungemein wichtigtuenden Stattlichkeit. »Ich wünsche nunmehr, Carker, Ihr möget die Güte haben, Mrs. Dombey von mir aus mitzuteilen, daß ich ihr das frühere Gespräch ins Gedächtnis rufen wolle, und daß ich erstaunt sei, noch keine Wirkung desselben wahrzunehmen. Ich müsse darauf bestehen, daß sie ihr Benehmen nach den Einschärfungen regle, die sie aus jenem Gespräche kennt. Ich sei nicht zufrieden mit ihrem Betragen – ja sogar sehr unzufrieden, und werde mich in die unangenehme Notwendigkeit versetzt sehen, Euch zum Überbringer noch unwillkommenerer und bestimmterer Erklärungen zu machen, wenn ihr Verstand und ihr richtiges Gefühl sie nicht bewege, sich meinen Wünschen anzubequemen, wie dies bei der ersten Mrs. Dombey der Fall war, und – ich glaube, wohl hinzufügen zu dürfen – auch bei jeder andern Dame an ihrer Stelle der Fall sein würde.«

»Die erste Mrs. Dombey lebte sehr glücklich«, bemerkte Mr. Carker.

»Die erste Mrs. Dombey war verständig«, versetzte Mr. Dombey mit gentlemanischer Toleranz gegen die Tote, »und besaß ein sehr richtiges Gefühl.«

»Glaubt Ihr wohl, daß Miß Dombey ihrer Mutter gleiche?« fragte Carker.

Mr. Dombeys Gesicht veränderte sich schnell und wurde düster. Die vertraute Mittelsperson faßte es scharf ins Auge.

»Ich habe einen schmerzlichen Gegenstand berührt«, sagte er im sanften Tone des Bedauerns, der sich mit dem spähenden Blick schlecht vertrug, »und bitte daher um Verzeihung. In meiner Teilnahme übersah ich das Verbindungsglied zwischen Tochter und Mutter. Verzeiht mir.«

Ungeachtet dieser Worte blieb der Spürblick unverwandt auf Mr. Dombeys gesenktem Antlitz haften und blitzte dann in seltsamem Triumph nach dem Gemälde hin, als fordere er dasselbe auf, Zeuge zu sein, wie er seinen Prinzipal vorwärtsführe und was noch kommen werde.

»Carker«, sagte Mr. Dombey, der zuweilen auf den Tisch niederschaute, während er mit etwas veränderter, hastigerer Stimme und mit blasseren Lippen sprach, »es ist kein Grund zu einer Entschuldigung vorhanden. Ihr seid im Irrtum. Euer vermeintliches Bindeglied hat es mit der Gegenwart, nicht aber mit irgendeiner Erinnerung zu schaffen. Mrs. Dombeys Benehmen gegen meine Tochter gefällt mir nicht.«

»Verzeiht mir«, sagte Mr. Carker; »ich verstehe Euch nicht ganz.«

»Ich meine«, erwiderte Mr. Dombey, »daß Ihr Mrs. Dombey diesen Punkt von mir aus vorhalten möget. Ihr werdet die Güte haben, es zu tun – werdet ihr sagen, daß die Art, wie sie sich gegen meine Tochter anstellt, mir unangenehm ist. Sie fällt auf und könnte den Leuten Anlaß geben, Mrs. Dombey in ihrer Beziehung zu meiner Tochter mit Mrs. Dombey in ihrer Beziehung zu mir gegeneinander zu stellen. Ihr werdet so gefällig sein, Mrs. Dombey einfach wissen zu lassen, daß ich Einspruch dagegen erhebe, und daß ich von ihr erwarte, sie werde meinen Wünschen unverweilt Folge geben. Ob es Mrs. Dombey ernst sei, ob sie nur eine Grille verfolge, oder ob sie es im Widerspruch gegen mich tue, in jedem von diesen Fällen ist mir ihr Benehmen unangenehm. Wenn meine Gattin nach der ihr zustehenden Unterwürfigkeit gegen mich noch überflüssige Zärtlichkeit und Pflichten zu haben meint, so mag sie meinetwegen über dieselben verfügen, wo es ihr gut dünkt; aber zuerst will ich Unterwerfung haben! – Carker«, fügte Mr. Dombey hinzu, indem er der ungewöhnlichen Erregung, mit der er gesprochen, Einhalt tat und in einen Ton überging, der mehr mit der gewohnten Behauptung seiner Größe im Einklang stand, »Ihr werdet so gefällig sein, diesen Punkt nicht zu versäumen oder leicht darüber hinzugehen, denn ich wünsche, daß Ihr ihn als einen sehr wichtigen Teil Eures Auftrags betrachtet.«

Mr. Carker beugte den Kopf, stand von dem Tisch auf, trat, gedankenvoll die Hand an sein glattes Kinn gelegt, vor das Feuer und blickte mit der arglistigen Schlauheit eines antiken Schnitzwerks, in welchem sich halb ein menschlicher, halb ein tierischer Charakter ausdrückt, oder gleich dem lauernden Gesicht an einem alten Springbrunnen auf Mr. Dombey nieder. Letzterer, der allmählich seine Fassung wieder gewann, oder dessen Erregung in dem Bewußtsein seiner hohen Stellung nachließ, warf sich aufs neue in seine steife Haltung und schaute nach dem Papagei hin, der in dem großen Trauring seine Purzelbäume machte.

»Ich bitte um Verzeihung«, sagte Carker, der nach einer Pause plötzlich seinen Stuhl wieder einnahm und sich Mr. Dombey gegenüber setzte, »aber ich wünsche weitere Belehrung. Ist Mrs. Dombey davon unterrichtet, daß Ihr mich möglicherweise zum Organ Eures Mißfallens machen könntet?«

»Ja«, versetzte Mr. Dombey. »Sie weiß es.«

»Ja«, erwiderte Carker hastig; »aber wie?«

»Wie?« entgegnete Mr. Dombey nicht ohne Zögern. »Weil ich es ihr gesagt habe.«

»So?« versetzte Carter. »Aber warum habt Ihr es ihr gesagt? Ihr seht«, fuhr er mit einem Lächeln fort, indem er seine Samthand gleich einer Katze, die ihre Klauen eingezogen hat, sanft auf Mr. Dombeys Arm legte, »wenn ich vollkommen Eure Gesinnung weiß, so kann ich Euch nur um so nützlicher sein und desto wirksamer dienen. Ich glaube zwar, daß ich Euch verstehe. Ich habe nicht die Ehre, bei Mrs. Dombey in Gunst zu stehen, und kann es in meiner Stellung auch nicht erwarten. Dies muß ich wohl als Tatsache voraussetzen?«

»Ich glaube es«, sagte Mr. Dombey.

»Wenn Ihr also Mrs. Dombey derartige Mitteilungen durch mich machen laßt«, fuhr Carker fort, »so werden sie dieser Dame besonders unangenehm sein?«

»Es dünkt mich«, sagte Mr. Dombey mit stolzer Zurückhaltung, aber doch mit einiger Verlegenheit, »daß Mrs. Dombeys Ansichten über den Gegenstand keinen Einfluß auf den Gesichtspunkt ausüben, in dem er sich Euch und mir darstellt, Carker. Ihr mögt recht haben.«

»Und – verzeiht mir – verstehe ich Euch recht«, entgegnete Carker, »wenn ich annehme, Ihr glaubet hierin das beste Mittel gefunden zu haben, Mrs. Dombeys Stolz – ich bediene mich dieses Wortes, da es eine Eigenschaft bezeichnet, die, in den gebührenden Schranken gehalten, einer durch Schönheit und Talente so ausgezeichneten Dame nur zum Schmuck und zur Zierde gereichen kann – zu demütigen, ich will nicht sagen, sie zu strafen, sondern sie zur Unterwerfung zu bringen, auf die Ihr natürlich so gerechte Ansprüche habt?«

»Ihr wißt, Carker«, sagte Mr. Dombey, »ich bin gewohnt, für die Schritte, die mir als passend erscheinen, ausführliche Gründe anzugeben; indes will ich Euch hierin nicht widersprechen. Etwas anders ist es, wenn Ihr Einwendungen dagegen zu machen habt, und dann reicht Eure bloße Erklärung vollkommen zu. Ich gestehe übrigens, daß ich nicht geglaubt hatte, mein Vertrauen könne Euch möglicherweise herabwürdigen –«

»O! mich herabwürdigen!« rief Carter. »In Eurem Dienst!«

»Oder in eine falsche Stellung bringen«, fuhr Mr. Dombey fort.

»Ich in einer falschen Stellung!« rief Carker. »Ich werde stolz darauf sein – es macht mir Freude, wenn ich Euer Vertrauen rechtfertigen kann. Zwar hätte ich gewünscht, der Dame, zu deren Füßen ich gern meine bescheidene Huldigung niederlegen würde – denn ist sie nicht Eure Gattin? – keinen neuen Anlaß zur Abneigung geben zu müssen; aber vor Euren Wünschen treten natürlich alle andern weltlichen Rücksichten in den Hintergrund. Außerdem, wenn Mrs. Dombey von solchen kleinen Verirrungen ihres Urteils abgekommen ist, die ohne Zweifel nur die Folge der Neuheit ihrer Stellung sind, so wird sie hoffentlich in meiner geringen Beteiligung nur einen Gran – mein so weit unten stehender Wirkungskreis gibt für wenig mehr Raum – meiner Achtung für Euch erkennen und alle Rücksichten Euch unterordnen, indem es ihr dann eine Lust und ein heiliges Vorrecht sein wird, Euch jeden Tag Opfer zu bringen.«

Mr. Dombey schien in diesem Augenblick wieder die nach der Tür deutende Hand zu sehen und durch die milde Rede seiner vertrauten Mittelsperson ein Echo der Worte zu vernehmen: »Nichts kann uns fremder machen, als wir fortan gegeneinander sein werden!« Er schüttelte jedoch diese Vorstellung, die seinen Entschluß nicht wankend machen konnte, ab und sagte:

»Ja, ohne Zweifel.«

»Habt Ihr nichts weiter zu bemerken?« fragte Carker, der seinen Stuhl wieder an den alten Platz rückte – sie hatten bis jetzt noch wenig von dem Frühstück genossen – und auf Antwort harrend stehenblieb, ehe er sich niedersetzte.

»Nichts, als dies«, sagte Mr. Dombey. »Ihr werdet ihr gefälligst bemerken, Carker, daß keine Weisung, mit der Ihr möglicherweise an Mrs. Dombey betraut seid, eine Erwiderung zuläßt. Habt daher die Güte, mir keine Antwort mitzuteilen. Mrs. Dombey weiß, daß es sich nicht mit meiner Würde verträgt, über obwaltende Meinungsverschiedenheiten zu verhandeln und in Erörterungen einzugehen. Was ich ihr sagen lasse, ist maßgebend.«

Mr. Carter deutete durch ein Zeichen an, daß er mit dieser Vollmacht einverstanden sei, und sie beendigten nun mit gutem Appetit ihr Frühstück. Zuletzt erschien auch der Schleifer wieder, der von seinem Gebieter kein Auge verwandte und in einer steten Verzückung ehrfurchtsvollen Schreckens war. Mr. Dombeys Pferd wurde vorgeführt; auch Mr. Carker bestieg das seine, und sie ritten gemeinschaftlich der City zu.

Mr. Carker war sehr aufgeräumt und sprach viel. Mr. Dombey hörte mit der hohen Miene eines Mannes zu, der ein Recht hat, unterhalten zu werden, und ließ sich gelegentlich herab, einige Worte einzuflechten. So ritten sie charakteristisch genug weiter. Mr. Dombey in seiner Würde hatte sehr lange Steigbügel, sehr lose Zügel und ließ sich selten herab, nach dem Weg hinunterzuschauen, den sein Pferd nahm. Daher fügte es sich, daß letzteres beim Wenden um eine Ecke über einen Steinhaufen strauchelte, seinen Reiter abwarf, über denselben hinstürzte und im Ringen, sich wieder zu erheben, ihn mit seinem Hufe verletzte.

Raschen Blicks und mit sicherer Hand hatte sich Mr. Carker, der ein guter Reiter war, schnell von seinem Pferde geworfen, das gestürzte Tier beim Zügel gefaßt und es im Nu wieder aufgerichtet. Weniger Eile von seiner Seite, und Mr. Dombey würde ihm an diesem Morgen wohl zum letzten Male sein Vertrauen geschenkt haben. Das Rot der Anstrengung lag noch auf seinem Gesicht, als er sich über seinen Prinzipal mit einer Schaustellung aller seiner Zähne niederbeugte und murmelnd zu sich selber sagte: »Jetzt habe ich Mrs. Dombey einen guten Grund zum Unwillen gegeben, wenn sie es erfährt.«

Mr. Dombey lag besinnungslos da, und das Blut strömte ihm über das Gesicht. Einige Arbeiter brachten ihn Carkers Weisung gemäß nach einem nahe gelegenen Wirtshaus, wo sich bald eine Anzahl Wundärzte um ihn sammelte, die rasch von allen Seiten herströmten und von dem geheimnisvollen Instinkte beseelt zu sein schienen, wie der Geier lehrt, sich um ein in der Wüste gefallenes Kamel zu scharen. Nachdem Mr. Dombey mit Mühe wieder zum Bewußtsein gebracht war, untersuchten diese Gentlemen die Beschaffenheit seiner Verletzungen. Der eine Wundarzt, der in der Nachbarschaft wohnte, erklärte sich für einen komplizierten Beinbruch – eine Ansicht, der auch die Wirtin beipflichtete; aber zwei andere Chirurgen aus größerer Entfernung, die nur zufällig in diese Gegend gekommen waren, bestritten diese Meinung so uneigennützig, daß endlich die Entscheidung erfolgte, der Patient habe zwar schwere Quetschungen erlitten, aber mit Ausnahme einer kleineren Rippe oder so keinen Knochenbruch erlitten, könne folglich unter Anwendung großer Vorsicht wohl vor Abend nach Hause geschafft werden. Die Anlegung der Verbände brauchte lange Zeit, und als endlich Mr. Dombey der Ruhe überlassen wurde, stieg Mr. Carker wieder auf sein Pferd, um zu Hause die Kunde von dem Unfall zu melden.

So verschmitzt und grausam sein Gesicht auch zur besten Zeit war, – allerdings ein in Form und Regelmäßigkeit der Züge hinreichend schönes Gesicht – nahm es sich doch ganz besonders schlimm aus, als er diese Botschaft antrat. Angefeuert von der List und Grausamkeit seiner inneren Gedanken, bewogen ihn eher die unbestimmten Hinblicke auf eine ferne Möglichkeit, als klare Absichten und Pläne, zu reiten, als habe er Männer und Weiber zu hetzen. Erst als er in die besuchteren Straßen kam, hielt er die Zügel an und mäßigte seine Eile, indem er sein weißbeiniges Tier wieder die reinlichsten Wege aufsuchen ließ und sich selbst sowohl, als sein Elfenbeinlächeln so gut wie möglich unter seinem glatten, geschmeidigen, lauernden Wesen verbarg.

Er ritt geraden Weges auf Mr. Dombeys Haus zu, stieg vor der Tür ab und bat um die Erlaubnis, Mrs. Dombey wegen einer wichtigen Angelegenheit zu sprechen. Der Diener, der ihn nach Mr. Dombeys Zimmer wies, kehrte bald mit der Meldung zurück, Mrs. Dombey nehme um diese Zeit keine Besuche an; er müsse um Verzeihung bitten, daß er dies nicht gleich anfänglich erwähnt habe.

Mr. Carker, der auf einen kalten Empfang vollkommen vorbereitet war, schrieb auf eine Karte, daß er sich die Freiheit nehmen müsse, dringlichst um Gehör zu bitten; er würde sich nicht erdreisten, dies zum zweiten Male zu tun (die mit gesperrter Schrift gedruckten Worte waren unterstrichen), wenn er nicht überzeugt wäre, daß der Anlaß dazu ihn vollkommen rechtfertigen werde. Nach einigem Zögern erschien Mrs. Dombeys Mädchen und führte ihn nach einem Zimmer hinauf, in welchem sich Edith und Florence befanden.

Er hatte sich Edith früher nie halb so schön gedacht. Wie sehr er auch die frisch in seiner sinnlichen Erinnerung lebende Anmut ihres Gesichts und ihrer Gestalt bewunderte, hatte er sich sie dennoch nie halb so schön vorgestellt.

Ihr stolzer Blick fiel schon an der Schwelle auf ihn; aber er richtete den seinen – obschon nur unter Begleitung einer Kopfverbeugung beim Eintritt – mit einem ununterdrückbaren Ausdruck der neuen Gewalt, die ihm gegeben war, auf Florence. Es war ein Triumph für ihn, zu bemerken, daß jener Blick unsicher wurde, und daß Edith sich halb erhob, um ihn zu empfangen.

Er bedauerte sehr – es tat ihm ungemein leid – er konnte gar nicht sagen, welche schmerzliche Aufgabe es für ihn war, sie auf die Kunde von einem kleinen Unfall vorzubereiten. Er bat Mrs. Dombey, sich zu fassen. Auf sein heiliges Ehrenwort, es sei kein Grund zur Unruhe vorhanden. Aber Mr. Dombey – –

Florence stieß einen plötzlichen Schrei aus. Er sah nicht nach ihr hin, sondern nach Edith. Sie stieß keinen Schreckensruf aus. Nein, nein.

Mr. Dombey war beim Reiten ein Unfall zugestoßen. Sein Pferd hatte gestrauchelt und ihn abgeworfen.

»Ach, er ist schwer verwundet – wohl gar tot!« rief Florence außer sich.

Nein. Bei seinem Ehrenwort, obschon anfangs betäubt – war doch Mr. Dombey bald wieder zur Besinnung gekommen, und wenn er auch verletzt worden, so konnte doch von Gefahr durchaus nicht die Rede sein. Verhielte es sich nicht vollkommen so, so würde er, der bestürzte Aufdringling, nun und nimmermehr den Mut gehabt haben, sich Mrs. Dombey vorzustellen. Was er mitgeteilt, war, wie er feierlich versicherte, die vollkommene Wahrheit.

Alles dies sprach er nicht zu Florence, sondern zu Edith, auf der fortwährend sein Lächeln und seine Blicke hafteten.

Dann fuhr er fort, zu berichten, wo Mr. Dombey liege, und bat, ihm einen Wagen zur Verfügung zu stellen, damit er den Leidenden nach Hause bringen könne.

»Mama«, stotterte Florence in Tränen, »darf ich es wohl wagen, mitzugehen?«

Mr. Carker sah, als er diese Worte hörte, Edith an, warf ihr im geheimen einen bedeutungsvollen Blick zu und schüttelte leicht den Kopf. Es entging ihm nicht, welchen Kampf es sie kostete, ehe sie ihm mit ihren schönen Augen Antwort gab; aber er erzwang sie – zeigte ihr, daß er sie haben müsse, wenn er nicht selbst mit Florence sprechen und ihr Herz aufs tiefste verletzen sollte – und sie antwortete. Wie er am Morgen das Gemälde angeblickt hatte, so sah er jetzt nach ihr hin, als sie ihre Augen wieder abwandte. »Ich bin mit dem Ersuchen beauftragt«, sagte er, »daß die neue Haushälterin – Mrs. Pipchin, glaube ich, ist ihr Name –«

Nichts entging ihm. Er sah im Nu, daß dies ein neuer Schimpf war, den Mr. Dombey seiner Gattin zufügen wollte.

»– – Mr. Dombeys Wunsch gemäß die Weisung erhalte, seine Zimmer unten herzurichten, da er dieselben allen übrigen vorzieht. Ich kehre sogleich wieder zu Mr. Dombey zurück. Es bedarf wohl kaum der Versicherung, Madame, daß für seine Bequemlichkeit bestmöglichst Sorge getragen und er aufs angelegentlichste verpflegt wird. Erlaubt mir wiederholt die Bemerkung, daß nicht der mindeste Grund zur Besorgnis vorhanden ist. Glaubt mir, sogar Ihr könnt völlig beruhigt sein.«

Er verließ unter Bücklingen und mit Kundgebung der größten Ehrerbietigkeit das Gemach, kehrte nach Mr. Dombeys Zimmer zurück, erteilte Auftrag, ihm einen Wagen in die City nachzuschicken, und bestieg dann aufs neue sein Pferd, um langsam weiterzureiten. Unterwegs sowohl, als in der City und in dem Wagen, der ihn nach dem Wirtshaus führen sollte, wo Mr. Dombey zurückgeblieben, gab er sich tiefen Gedanken hin, so daß er erst an dem Bett seines Prinzipals wieder der wahre Carker und seiner Zähne bewußt wurde.

Um die Zeit der Dämmerung half man dem von Schmerzen schwer heimgesuchten Mr. Dombey in den Wagen und bereitete ihm mit Mänteln und Kissen ein geeignetes Lager, wahrend die vertraute Mittelsperson auf dem Vordersitz ihrem Gebieter Gesellschaft leistete. Da der Leidende nicht gerüttelt werden durfte, so kamen sie nur langsam weiter, und es war bereits völlig dunkel, als sie Mr. Dombeys Wohnung erreichten. Bitter, grimmig und – das ganze Hauswesen konnte aus Erfahrung davon reden – stets der peruvianischen Mine eingedenk, nahm Mrs. Pipchin den Patienten an der Tür in Empfang und belebte die Dienstboten mit einigem Sprenkeln von dem Essig ihrer Worte, als diese ihr den Herrn nach seinem Zimmer schaffen halfen. Mr. Carker blieb, bis sich der Leidende wohlbehalten im Bett befand, und machte dann, da letzterer sich alle weiblichen Besuche, den der Werwölfin ausgenommen, verbat, Mrs. Dombey noch einmal seine Aufwartung, um ihr über den Zustand ihres Gemahls Bericht zu erstatten.

Edith war wieder mit Florence allein, und er richtete abermals die Flut seiner beschwichtigenden Worte ausschließlich an erstere, als sei sie eine Beute der liebevollsten, peinlichsten Besorgnis. Ja er wurde in seiner achtungsvollen Teilnahme so dringend, daß er – mit einem weiteren Blick nach Florence hin – sich erdreistete, ihre Hand zu ergreifen, sich darüber hinzubeugen und sie mit seinen Lippen zu berühren.

Edith zog weder die Hand zurück, noch schlug sie ihm dieselbe in sein schönes Gesicht, obschon ihre Wange erglühte, ihre Augen blitzten und ihre Brust sich erweiterte. Aber als sie allein in ihrem Zimmer war, schlug sie diese Hand mit einer Gewalt, daß sie beim ersten Streiche blutete, gegen den marmornen Kaminsims und hielt sie in die Nähe des hellen Feuers, wie wenn sie sich dieses Glied abreißen und es verbrennen möchte.

Bis weit in die Nacht hinein saß sie in düsterer, drohender Schönheit allein vor der schwindenden Flamme, die schwarzen Schatten beobachtend, die ihre Gedanken, die Körper zu gewinnen schienen, an die Wand warfen. Was immer für Gestalten von Schimpf und Kränkung – was immer für dunkle Ahnungen der Dinge, die da kommen mußten, unbestimmt und riesenartig, vor ihr aufzuckten, stets stand an ihrer Spitze ein einziger rachsüchtiger Schatten. Es war der Schatten ihres Mannes.