Sechzigstes Kapitel.


Sechzigstes Kapitel.

Handelt hauptsächlich von Hochzeiten.

Das große halbjährliche Fest des Doktors und der Mrs. Blimber, bei welcher Gelegenheit jeder junge Gentleman, der in jenem gentilen Institut seinen Studien oblag, um die Ehre seiner Teilnahme an einer auf halb acht Uhr anberaumten Quadrillen-Partie gebeten wurde, hatte getreulich um die besagte Zeit stattgefunden, und die jungen Gentlemen waren mit nicht unanständigen Kundgebungen von Leichtherzigkeit und in einem Zustande scholastischer Erschöpfung in ihre Heimat zurückgekehrt. Mr. Skettles war ins Ausland gegangen und verdankte zur bleibenden Zierde der Familie des Sir Barnet Skettles den populären Manieren seines Vaters eine diplomatische Anstellung, deren Ehren zur großen Verwunderung und Zufriedenheit ihrer Landsleute besagter Vater und Lady Skettles selbst zu vergeben hatten. Mr. Tozer, jetzt ein junger Mann von hoher Statur in Wellington-Stiefeln, war so vollgepfropft von Altertum, daß er sich in Kenntnis des Englischen nahezu mit einem alten echten Römer messen könnte – ein Triumph, der seine guten Eltern mit der innigsten Rührung erfüllte, und dem Vater und der Mutter des Mr. Briggs, dessen Gelehrsamkeit gleich schlecht geordnetem Gepäck so fest eingestallt war, daß er nie daran kommen konnte, wenn er etwas davon brauchte, Anlaß gab, beschämt ihre Häupter zu verbergen. Die Frucht, die der letztere junge Gentleman so mühsam von dem Baume des Wissens eingeheimst hatte, war so künstlich getrieben worden, daß sie mit einer intellektuellen Norfolker Ananas verglichen werden konnte, der nichts von der ursprünglichen Gestalt und Feinheit geblieben war. Master Bitherstone, auf den das Zwangssystem die nicht ungewöhnliche bessere Wirkung geübt hatte, daß nach Aufhören der Tätigkeit des Nötigungsapparats auch alle Eindrücke verschwanden, fühlte sich weit behaglicher und vergaß, da er sich zu einer Fahrt nach Bengalen an Schiffsbord begeben hatte, alles mit so bewunderungswürdiger Schnelligkeit, daß es wohl zweifelhaft erschien, ob die Deklination der Substantive bei ihm bis zum Ende der Reife aushalten würde.

Statt wie gewöhnlich am Morgen der Partie für die jungen Gentlemen zu bemerken: »Gentlemen, wir wollen am fünfundzwanzigsten des nächsten Monats unsere Studien wieder aufnehmen«, ging Doktor Blimber diesmal von der herkömmlichen Weise ab und sagte: »Gentlemen, als unser Freund Cincinnatus sich nach seinem Landgut zurückzog, stellte er dem Senat keinen Römer vor, den er sich zum Nachfolger gewünscht hätte. Aber hier ist ein Römer!« sagte Doktor Blimber, die Hand auf die Schulter des Mr. Feeder B. A. legend, »adolescens inprimis gravis et doctus, Gentlemen, den ich, ein abtretender Cincinnatus, meinem kleinen Senat als seinen künftigen Diktator vorzustellen wünsche. Gentlemen, wir wollen am fünfundzwanzigsten des nächsten Monats unter den Auspizien des Mr. Feeder B.A. unsere Studien wieder aufnehmen!« Hierauf antworteten die jungen Gentlemen (Doktor Blimber hatte sich nämlich zuvor schon mit sämtlichen Eltern beraten und ihnen höfliche Erklärungen gegeben) mit einem lauten Hurra, und Mr. Tozer überreichte dem Doktor sogleich im Namen der übrigen ein silbernes Tintenfaß, indem er dazu eine Rede vortrug, die nur sehr wenig von der Muttersprache, wohl aber fünfzehn Zitate aus dem Lateinischen und sieben aus dem Griechischen enthielt. Die jüngeren Gentlemen waren damit sehr unzufrieden und neidisch, denn sie meinten, o, o, es sei alles recht gut für den alten Tozer, aber sie seien der Ansicht, daß sie nicht deshalb Geld unterzeichnet hätten, um dem alten Tozer Gelegenheit zu geben, sich breitzumachen. Was ging es den alten Tozer mehr an, als jeden andern? Es war ja nicht sein Tintenfaß. Warum mußte er sich überhaupt mit dem Eigentum anderer befassen?

In dieser und ähnlicher Weise äußerten sie ihr Mißvergnügen und schienen in nichts einen größeren Trost zu finden, als darin, daß sie ihn den alten Tozer nannten.

Den jungen Gentlemen gegenüber fiel kein Wort, kein Wink oder irgend etwas, das auf eine beabsichtigte Verehelichung zwischen Mr. Feeder B. A. und der schönen Cornelia Blimber hingedeutet hätte. Namentlich gab sich Doktor Blimber den Anschein, wie wenn ihn nichts mehr als eine solche Kunde überraschen könnte. Gleichwohl war die Tatsache unter den jungen Gentlemen so wohl bekannt, daß sie, als sie zu ihren Verwandten und Freunden zurückkehrten, mit einer heiligen Scheu sich von Mr. Feeder verabschiedeten.

Die romantischsten Träume des Mr. Feeder waren erfüllt. Der Doktor hatte beschlossen, das Haus von außen anstreichen und im Innern vollständig ausbessern zu lassen; auch wollte er das Geschäft und Cornelia abgeben. Der Anstrich und die Ausbesserungen begannen an demselben Tage, an dem die jungen Gentlemen abgereist waren, und siehe jetzt – der Hochzeitmorgen war gekommen, und Cornelia sah in einer neuen Brille dem Augenblick entgegen, der sie an Hymens Altar führen sollte.

Der Doktor mit seinen gelehrten Beinen, Mrs. Blimber in einem Lila-Hut, Mr. Feeder B.A. mit seinen langen Knöcheln und seinem kurzgeschorenen Haarschopf, und Mr. Feeders Bruder, der ehrwürdige Alfred Feeder M.A., der die Trauungsfeierlichkeit vollziehen sollte, hatten sich im Salon versammelt, und Cornelia, die unter ihrem Orangeblütenschmuck und den Brautjungfern wie sonst auch aussah, ein bißchen zerdrückt, aber doch sehr bezaubernd, war eben eingetreten, als die Tür aufging und der blödsichtige junge Mann mit lauter Stimme die Ankündigung ausrief:

»Mr. und Mrs. Toots!«

Mr. Toots, der außerordentlich kräftig geworden war, trat jetzt ein; er hatte eine sehr hübsche und anständig gekleidete Dame mit glänzenden schwarzen Augen am Arm.

»Mrs. Blimber«, sagte Mr. Toots, »erlaubt mir, Euch meine Gattin vorzustellen.«

Mrs. Blimber war entzückt, sie kennenzulernen; sie benahm sich zwar ein wenig herablassend, aber doch sehr freundlich.

»Und da Ihr mich schon seit so langer Zeit kennt«, sagte Mr. Toots, »so muß ich Euch versichern, daß sie eines der herrlichsten Frauenzimmer ist, die je gelebt haben!«

»Mein Lieber!« stellte Mrs. Toots vor.

»Bei meinem Ehrenwort, es ist so«, sagte Mr. Toots. »Ich – ich versichere Euch, Mrs. Blimber, sie ist eine ganz außerordentliche Frau!«

Mrs. Toots lachte heiter, und Mrs. Blimber führte sie zu Cornelia. Nachdem Mr. Toots auch in dieser Richtung sein Kompliment gemacht und seinen alten Lehrer begrüßt hatte, der mit Anspielung auf seinen ehelichen Stand zu ihm sagte: »Schön, Toots, schön! Ihr seid also auch einer von den Unsrigen!« zog er sich mit Mr. Feeder B.A. in ein Fenster zurück. Mr. Feeder B.A., der sehr aufgeräumt war, machte gegen Mr. Toots eine Boxer-Schwenkung und klopfte ihn geschickt mit dem Rücken seiner Hand auf das Brustbein.

»He, alter Knabe!« sagte Mr. Feeder lachend. »Gut! da sind wir jetzt! Ein- und abgetan, he?«

»Feeder«, versetzte Mr. Toots, »ich wünsche Euch Glück. Wenn Ihr so – so – vollkommen glücklich seid im ehelichen Leben, wie ich, so bleibt Euch nichts zu wünschen übrig.«

»Ihr seht, ich vergesse meine alten Freunde nicht«, sagte Feeder. »Ich bitte sie zu meiner Hochzeit.«

»Feeder«, entgegnete Mr. Toots ernst, »die Sache verhält sich so, daß verschiedene Umstände mich hinderten, vor Vollziehung des Ehebundes Euch eine Mitteilung zu machen. Erstlich hatte ich mich vor Euch wegen Miß Dombey wie ein wahrer Esel benommen, und ich fühlte, wenn ich Euch zu meiner Hochzeit bäte, so würdet Ihr natürlich erwarten, daß ich mit Miß Dombey an den Altar träte. Die« hätte Erklärungen nötig gemacht, die mich auf Ehre bei einer solchen Wendung völlig niedergeschlagen haben würden. Zweitens fand unsere Trauung ganz im geheimen statt, und es war niemand dabei anwesend, als ein einziger Freund von mir und Mrs. Toots, der ein Kapitän ist bei – ich weiß nicht mehr genau, bei was«, sagte Mr. Toots, »aber es ist von keinem Belang. Ich hoffe, Feeder, daß ich die Pflichten der Freundschaft vollkommen erfüllt habe, indem ich Euch schriftlich mitteilte, was geschehen ist, ehe Mrs. Toots und ich unsere Hochzeitsreise ins Ausland antraten.«

»Toots, mein Junge«, versetzte Mr. Feeder, ihm die Hand drückend, »es war nur ein Scherz von mir.«

»Und nun möchte ich wohl gern wissen, Feeder«, sagte Mr. Toots, »was Ihr von meiner Verbindung haltet?«

»Sie scheint mir vortrefflich zu sein!« sagte Mr. Feeder.

»Kommt sie Euch so vor, Feeder?« erwiderte Mr. Toots feierlich. »Wie vortrefflich muß sie dann nicht für mich sein! Denn Ihr könnt nie wissen, welch eine außerordentliche Frau sie ist!«

Mr. Feeder war geneigt, dies für eine ausgemachte Sache anzusehen, aber Mr. Toots schüttelte den Kopf und wollte nicht an eine solche Möglichkeit glauben.

»Ihr seht«, sagte Mr. Toots, »was ich bei einem Weibe brauchte, war – mit einem Wort, war Verstand. Geld hatte ich, Feeder. Verstand hatte ich – hatte ich nicht besonders viel.«

»O ja. Ihr hattet´s wohl, Toots«, murmelte Mr. Feeder, aber Mr. Toots entgegnete:

»Nein, Feeder, ich hatte nicht. Warum sollte ich es bemänteln? Ich hatte nicht. Ich wußte, daß Verstand da war«, fügte er hinzu, die Hand nach seiner Gattin ausstreckend, »eigentlich in Haufen. Verwandte sind keine vorhanden, die an der Stellung einen Anstoß hätten nehmen können, denn ich stehe allein. Ich hatte nie einen Angehörigen als meinen Vormund, und diesen, Feeder, habe ich stets für einen Piraten und Korsaren gehalten. Ihr seht daher ein, daß es mir nicht darum zu tun sein konnte, seine Ansicht einzuholen.«

»Nein«, pflichtete Mr. Feeder bei.

»Demgemäß handelte ich ganz für mich«, nahm Mr. Toots wieder auf. »Gesegnet sei der Tag, an dem ich es tat. Feeder, niemand als ich kann sagen, welch einen Geist ich in dieser Frau gewonnen habe. Wenn je die Rechte der Frauen, und was dergleichen mehr ist, gehörig ins Licht gestellt werden sollen, so wird es durch ihren gewaltigen Verstand geschehen. – Susanna, meine Liebe!« sagte Mr. Toots, plötzlich zwischen den Fenstervorhängen hervorsehend, »ich bitte, strenge dich nicht zu sehr an!«

»Ich plaudere bloß«, versetzte Mrs. Toots.

»Laß dir raten, meine Liebe«, entgegnete Mr. Toots. »Du mußt in der Tat vorsichtig sein und dich ja nicht zu sehr anstrengen, meine teure Susanne. Sie ist so leicht aufzuregen«, sagte er beiseite zu Mrs. Blimber, »und dann denkt sie gar nicht mehr an ärztliche Vorschriften.«

Mrs. Blimber legte noch Mrs. Toots die Notwendigkeit der Vorsicht ans Herz, als Mr. Feeder B. A. herankam, um ihr seinen Arm zu bieten und sie nach dem Wagen zu führen, der für den Kirchgang unten wartete. Doktor Blimber geleitete Mrs. Toots, und Mr. Toots führte die schöne Braut, um deren funkelnde Brillen zwei prächtig herausgeputzte kleine Brautjungfern wie Motten herumflatterten. Mr. Feeders Bruder, Mr. Alfred M. A., war bereits vorausgegangen, um sich auf seine amtlichen Verrichtungen vorzubereiten.

Die Feierlichkeit verlief in bewunderungswürdiger Weise. Cornelia mit ihren krausen kleinen Locken »ging ein« – wie der Preishahn sich ausgedrückt haben würde – in großer Fassung, und Doktor Blimber vergab sie wie ein Mann, der eine solche Handlung gehörig erwogen hatte. Die prächtig herausgeputzten kleinen Brautjungfern schienen am meisten zu leiden. Mrs. Blimber gab sich einer sanften Rührung hin und erklärte dem ehrwürdigen Mr. Alfred Feeder M. A. auf dem Heimweg, wenn sie Cicero in seiner Abgeschiedenheit zu Tusculum hätte sehen können, so wären jetzt alle ihre Wünsche erfüllt.

Es gab dann ein Frühstück, das auf dieselbe kleine Gesellschaft beschränkt blieb. Mr. Feeder B. A. entwickelte dabei ungeheure Heiterkeit, die sich auch Mrs. Toots mitteilte, so daß man Mr. Toots mehrere Male über den Tisch hinüber bemerken hörte: »Meine teure Susanna, strenge dich ja nicht zu sehr an!« Das Beste aber war, daß Mr. Toots es für seine Pflicht hielt, eine Rede zu halten – sein erstes Auftreten im Leben, von dem ihn der ganze Kodex telegraphischer Winke, die von Mrs. Toots ausgingen, nicht abzumahnen imstande war.

»Ich muß wahrhaftig erklären«, sagte Mr. Toots, »daß ich in diesem Hause, was auch darin zu – zu geistiger Verwirrung bisweilen geschehen mochte – ’s ist von keinem Belang, und ich mache deshalb niemand einen Vorwurf – stets behandelt wurde wie einer, der zu Doktor Blimbers Familie gehört, und daß ich beträchtliche Zeit ein Pult für mich hatte. Deshalb kann – ich – nicht – zugeben – daß mein Freund Feeder – hem –«

»Verheiratet ist«, ergänzte Mrs. Toots.

»Es wird nicht unpassend oder überhaupt uninteressant sein«, sagte Mr. Toots mit entzücktem Gesicht, »bei dieser Gelegenheit zu bemerken, daß meine Frau eine ganz außerordentliche Frau ist und sich weit besser dazu eignete als ich – mein Freund Feeder verheiratet ist – namentlich mit –«

»Mit Miß Blimber«, half Mrs. Toots nach.

»Mit Mrs. Feeder, meine Liebe!« sagte Mr. Toots im gedämpften Ton des Privatgesprächs, »›welche Gott zusammengefügt hat,‹ Ihr wißt, ›damit kein Mensch‹ – wißt Ihr’s nicht? Ich kann nicht gestatten, daß mein Freund Feeder verheiratet ist, namentlich mit Mrs. Feeder, ohne ihre – ihre Gesundheit – auszubringen; und möge«, fügte er bei, wie in hohem Fluge der Begeisterung die Blicke auf seine eigene Frau heftend, »möge die Fackel Hymens der Leuchtturm der Freude sein, und mögen die Blumen, die heute auf ihren Pfad gestreut wurden, die – Vertreiber sein – von – von allem Düster!«

Doktor Blimber, der ein Freund von Metaphern war, drückte seinen Beifall in den Worten aus: »Sehr gut, Tools! in der Tat, sehr schön gesagt!« und nickte mit dem Kopf, während er zugleich in die Hände klopfte. Mr. Feeder antwortete in einer komischen Rede, in die er sentimentale Brocken mischte. Mr. Alfred Feeder M. A. fühlte sich später sehr glücklich in der Gesellschaft des Doktors und der Miß Blimber, während die stattlich herausgeputzten kleinen Jungfrauen auf Mr. Feeder B. A. einen kaum weniger günstigen Eindruck machten. Doktor Blimber gab dann mit kräftiger Stimme einige Gedanken in idyllischem Stil zum besten, indem er auf das Binsendach hindeutete, unter dem er mit Mrs. Blimber fortan zu wohnen beabsichtigte, und der Bienen erwähnte, die ihre Hütte umsummen würden. Bald nachher zeigte sich in den Augen des Doktors ein merkwürdiges Blinzeln. Sein Schwiegersohn hatte schon zuvor bemerkt, daß die Zeit nur für Sklaven vorhanden sei, und die Frage gestellt, ob Mrs. Toots singe, weshalb die verständige Mrs. Blimber die Sitzung aufhob und mit aller Ruhe und Gemächlichkeit Cornelia samt dem Mann ihres Herzens in eine Postchaise packte.

Mr. und Mrs. Toots kehrten nach Bedford zurück (Mrs. Toots hatte in alten Zeiten unter dem jungfräulichen Namen Nipper dort gewohnt) und fanden daselbst einen Brief, dessen Durchlesen Mr. Toots so ungemein lange in Anspruch nahm, daß Mrs. Toots darüber eigentlich in Schrecken geriet.

»Meine teure Susanna«, sagte Mr. Toots, »Schrecken ist schlimmer als Anstrengung. Ich bitte, beruhige dich!«

»Von wem ist er?« fragte Mrs. Toots.

»Von Kapitän Gills, meine Liebe«, sagte Mr. Toots. »Laß dich’s nicht angreifen. Walter und Miß Dombey werden in der Heimat erwartet.«

»Mein Lieber«, versetzte Mrs. Toots, die bei dieser Ankündigung erblaßte und sich hastig von dem Sofa erhob, »versuche nicht, mich zu täuschen, denn es ist doch unnütz. Sie sind nach Hause gekommen – ich lese es deutlich in deinem Gesicht.«

»Sie ist eine ganz außerordentliche Frau!« rief Mr. Toots in entzückter Bewunderung. »Du hast vollkommen recht, meine Liebe; sie sind nach Hause gekommen. Miß Dombey hat ihren Vater besucht, und sie sind versöhnt!«

»Versöhnt!« rief Mrs. Toots, die Hände zusammenschlagend.

»Ich bitte, laß dich’s nicht angreifen, meine Liebe«, sagte Mr. Toots. »Denk doch an den Arzt! Kapitän Gills sagt – nein, er sagt es nicht gerade, aber so viel ich aus dem Schreiben entnehmen kann, will er sagen, Miß Dombey habe ihren unglücklichen Vater aus dem alten Hause geholt und nach demjenigen gebracht, wo sie mit Walter lebt; er liegt dort sehr krank – vermutlich auf den Tod, und sie komme Tag und Nacht nicht von seiner Seite.«

Mrs. Toots begann bitterlich zu weinen.

»Meine teuerste Susanna«, stellte ihr Mr. Toots vor, »denke doch, wenn du anders kannst, an den Arzt! Bist du aber außerstande, – nun, ’s ist von keinem Belang – aber gib dir doch Mühe.«

Seine Gattin, die nach ihrer alten Weise schnell wieder hergestellt war, bat ihn so flehentlich, er möchte sie unverweilt zu ihrem Herzchen, zu ihrer kleinen Gebieterin, zu ihrem Liebling und dergleichen bringen, daß Mr. Toots, dessen Teilnahme und Bewunderung von der kräftigsten Art waren, bereitwillig zusagte. Sie kamen miteinander überein, unverweilt aufzubrechen und dem Kapitän die Antwort auf seinen Brief in Person zu bringen.

Die geheime Sympathie der Dinge oder der Zufall hatte den Kapitän, zu dem Mr. und Mrs. Toots eben reisten, an jenem Tage in die blumige Schleppe einer Hochzeit gebracht – allerdings nicht als Hauptperson, sondern nur als Anhängsel. Dies war folgendermaßen zugegangen.

Nachdem der Kapitän bei einem kurzen Besuch bei Florence und ihrem Knaben sich Herzstärkung geholt und geraume Zeit mit Walter geplaudert hatte, machte er einen Spaziergang, weil er die Notwendigkeit fühlte, einsam über die Wechsel in menschlichen Angelegenheiten nachzudenken und mit tiefsinniger Miene den Glanzhut über den Fall des Mr. Dombey zu schütteln, an dem er in dem Edelmut und in der Einfachheit seines Herzens lebhaften Anteil nahm. Das Unglück des armen Gentleman würde in der Tat sehr verdüsternd auf ihn gewirkt haben, wenn ihm nicht stets der Knabe vor Augen geschwebt hätte, der einen so erfreulichen Eindruck auf ihn übte, daß er, während er durch die Straße ging, oft laut lachte und in der Tat mehr als einmal in einer plötzlichen Lustanwandlung zum Erstaunen aller Zuschauer den Glanzhut in die Luft warf und ihn wieder auffing. Der schnelle Wechsel von Licht und Schatten, dem diese beiden widerstreitenden Betrachtungsgegenstände den Kapitän aussetzten, setzte seinem Geist in einer Weise zu, daß er weit gehen mußte, um wieder Fassung zu gewinnen, und da in dem Einflusse harmonischer Ideenverknüpfungen so viel liegt, so wählte er für seinen Spaziergang die alte Gegend unter den Masten, Rudern, Zimmerleuten, Zwiebackbäckern, Kohlenträgern, Teerkesseln, Matrosen, Docks, Aufzugbrücken und andern beschwichtigenden Dingen.

Diese friedlichen Schauplätze und namentlich die Gegend um die Lehmgrube her wirkten so beruhigend auf den Kapitän, daß er in stiller Heiterkeit weiterging und in der Tat eben halblaut mit dem Lied von der lieblichen Peg sich unterhielt, als er bei einer Ecke plötzlich durch einen triumphierenden Zug festgebannt und sprachlos gemacht wurde.

Die erschreckende Prozession wurde von jenem entschlossenen Weibe, der Mrs. Mac Stinger, angeführt, die in ihrem Gesicht die Unerbittlichkeit ihres Willens ausdrückte und an ihrem ehernen Busen sehr augenfällig eine ungeheure Uhr samt Anhängseln trug, die der Kapitän sogleich als Bunsbys Eigentum erkannte, unter ihrem Arm keine geringere Person führte als jenen weisen Seemann selbst. Mit der zerstreuten, melancholischen Miene eines Gefangenen, der in ein fremdes Land gebracht werden soll, ließ sich Bunsby demütig fortschleppen und ergab sich ohnmächtig in ihren Willen. Hinter ihnen kam die jubelnde Gesamtzahl der jungen Mac Stingers, und dieser folgten zwei Damen von schrecklich gesetztem Aussehen, die ebenfalls jubelnd einen kleinen Gentleman mit einem hohen Hut zwischen sich führten. Im Kielwasser folgte Bunsbys Schiffsjunge, der Sonnenschirme trug. Der ganze Zug befand sich in guter Marschordnung, und der schreckliche Aufputz, der sich an der ganzen Gesellschaft bemerklich machte, würde, wenn dies auch nicht in den unerschütterlichen Gesichtern der Damen zu lesen gewesen wäre, hinreichend an den Tag gelegt haben, daß es sich hier um eine Opferprozession handelte, und daß Bunsby das Opfer war.

Des Kapitäns erster Gedanke war, Reißaus zu nehmen, und bei Bunsby schien es der gleiche Fall zu sein, so hoffnungslos auch jeder Versuch dazu ausgefallen sein dürfte. Von der Gesellschaft ging jedoch ein Schrei des Erkennens aus, und Alexander Mac Stinger lief mit offenen Armen auf den Kapitän zu, so daß letzterer seine Flagge strich.

»Ah, Kap’tn Cuttle!« sagte Mrs. Mac Stinger. »Dies ist in der Tat eine seltene Begegnung! Ich trage Euch keinen Groll mehr nach, Kap’tn Cuttle – Ihr braucht nicht zu fürchten, daß ich Euch wieder Vorwürfe machen will. Ich hoffe, daß ich mit einem andern Geiste vor den Altar trete.« Mrs. Mac Stinger hielt jetzt inne, warf den Kopf auf, erweiterte sich die Brust mit einem langen Atemzug und fügte mit Hindeutung auf das Opfer hinzu:

»Mein Mann, Kap’tn Cuttle.«

Der unglückliche Bunsby schaute weder nach rechts noch nach links, weder auf seine Braut noch auf seinen Freund, sondern gerade vor sich hin ins Leere. Der Kapitän streckte seine Hand aus und Bunsby tat das gleiche, obschon er auf den Gruß des Kapitäns kein Wort der Erwiderung fand.

»Kap’tn Cuttle«, sagte Mrs. Mac Stinger, »falls Ihr alte Feindschaft zum Heilen bringen und Euren Freund, meinen Gatten, zum letztenmal als ledige Person sehen wollt, so werden wir uns glücklich schätzen, wenn Ihr uns nach der Kapelle begleitet. Hier ist eine Dame«, fügte sie hinzu, sich gegen die Unerschrockenste von den beiden umwendend, »meine Brautführerin, die gern Euren Schutz annehmen wird, Kap’tn Cuttle.«

Der kleine Gentleman in dem hohen Hut, der dem Anschein nach der Gatte der andern Dame war und augenscheinlich über die Versetzung eines Nebenmenschen in eine der seinigen ähnliche Lage jubelte, trat jetzt zurück und überließ die erwähnte Unerschrockene dem Kapitän. Diese faßte sogleich ihren Mann, bemerkte, daß keine Zeit zu verlieren sei, und erteilte in kräftiger Stimme die Weisung, man solle nicht länger säumen.

Die Sorge um den Freund, in die sich anfangs auch einige Sorge um das eigene Ich mischte, – denn ein unbestimmter Schrecken bemächtigte sich des Kapitäns, man könnte ihn mit Gewalt heiraten wollen, bis er sich endlich im Hinblick auf das Ritual erinnerte, daß er persönlich sicher sei, solange er nur auf dem Entschluß bleibe, auf eine jede Frage des Geistlichen mit »Nein« zu antworten – preßte dem guten Mann den Schweiß auf die Stirne und versetzte ihn in eine Stimmung, so daß er geraume Zeit nicht wußte, wie die Prozession, zu der er nun auch selbst gehörte, vorwärts kam oder was seine schöne Begleiterin mit ihm sprach. Nachdem sich seine Aufregung einigermaßen gelegt hatte, erfuhr er von dieser Dame, daß sie die Witwe eines Mr. Bokum, eines vormaligen Zollbeamten, und die wärmste Freundin der Mrs. Mac Stinger sei, die sie für ein Muster ihres Geschlechts halte; sie habe oft von dem Kapitän gehört und hoffe nur, er werde sein vergangenes Leben bereut haben, wie sie der Überzeugung lebe, daß Mr. Bunsby den ihm zugegangenen Segen zu schätzen wisse, obschon sie fürchte, daß die Männer ihr Glück selten früher erkennen, bis sie es verloren haben – und was dergleichen mehr war.

Diese ganze Zeit über entging dem Kapitän nicht, daß Mrs. Bokum kein Auge von dem Bräutigam verwandte, und daß sie, so oft sie in die Nähe eines Hofes oder einer andern schmalen Straßenwendung kamen, die eine Flucht zu begünstigen schien, sorgfältig auf der Hut war, um bei einem versuchten Ausreißen ihn schnell wieder abzufangen. Die andere Dame, wie auch ihr Gatte, der kleine Gentleman mit dem hohen Hut, war infolge eines früher besprochenen Plans gleichfalls auf der Lauer, während Mrs. Mac Stinger den unglücklichen Mann so fest hielt, daß jede Bemühung, sich durch die Flucht zu retten, vergeblich wurde. Sogar der Straßenpöbel schien dies zu bemerken und drückte seine Ansicht durch Geschrei und Spottreden aus, gegen die sich übrigens die furchtbare Mac Stinger mit unwandelbarer Gleichgültigkeit benahm, während Bunsby selbst in einem Zustand von Bewußtlosigkeit sich weiter schleppen ließ.

Der Kapitän versuchte etliche Male, sich mit dem Philosophen, wenn auch nur durch eine einzige Silbe oder durch ein Signal in Rapport zu setzen, verfehlte aber stets seinen Zweck – einesteils infolge der Aufmerksamkeit der Wachen, und dann, weil es Bunsbys eigentümliche Konstitution zu allen Zeiten schwierig machte, seinen Geist durch irgendein äußeres sichtbares Zeichen zu fesseln. So näherten sie sich der Kapelle, einem hübschen, weiß getünchten Gebäude, letzter Zeit unter der Leitung des ehrwürdigen Melchisedek Heuler stehend, der sich auf sehr dringendes Bitten herabgelassen hatte, die Welt noch zwei Jahre bestehen zu lassen – eine Frist, nach der sie übrigens, wie er seine Jünger belehrte, notwendig untergehen mußte.

Während der ehrwürdige Melchisedek aus dem Stegreife einige Gebete sprach, fand der Kapitän Gelegenheit, dem Bräutigam ins Ohr zu brummen:

»Wie geht’s, mein Junge – wie geht’s?« Bunsby antwortete darauf mit einer Rücksichtslosigkeit gegen den ehrwürdigen Melchisedek, die durch nichts, als durch seine verzweifelten Umstände entschuldigt werden konnte:

»Verteufelt schlecht.«

»Jack Bunsby«, flüsterte der Kapitän, »tut Ihr dies hier aus eigenem freien Willen?«

»Nein«, antwortete Mr. Bunsby.

»Warum laßt Ihr’s dann nicht lieber bleiben, mein Junge?« lautete die nicht unnatürliche Frage des Kapitäns.

Bunsby, der noch immer mit unbeweglichem Gesicht in die Welt hinausschaute, gab keine Antwort.

»Warum schert Ihr nicht ab?« fragte der Kapitän.

»He?« flüsterte Bunsby mit einem vorübergehenden Hoffnungsstrahle.

»Schert ab«, sagte der Kapitän.

»Wozu nützt’s«, entgegnete der verkaufte Weise. »Sie würde mich wieder kapern.«

»Probiert’s!« versetzte der Kapitän. »Hellauf! Kommt! Noch ist’s Zeit. Schert ab, Jack Bunsby!«

Statt übrigens von diesem Rat Gebrauch zu machen, erwiderte Jack Bunsby in kläglichem Flüstern:

»Die ganze Geschichte hat mit jener Truhe von Euch angefangen. Warum mußte ich sie auch an jenem Abend in den Hafen geleiten?«

»Mein Junge«, stotterte der Kapitän, »ich meinte, Ihr wäret über sie, nicht sie über Euch gekommen. Ein Mann, der solche Ansichten hat, wie Ihr!«

Mr. Bunsby stieß bloß ein ersticktes Ächzen aus.

»Kommt!« sagte der Kapitän, ihn mit dem Ellbogen anstoßend, »noch ist’s Zeit! Schert ab! Ich will Euren Rückzug decken. Die Stunde drängt. Bunsby, es gilt die Freiheit. Wollt Ihr – zum ersten Mal?«

Bunsby blieb unbeweglich.

»Bunsby«, flüsterte der Kapitän, »wollt Ihr – zum zweiten Mal?« Bunsby wollte auch zum zweiten Mal nicht.

»Bunsby«, drängte der Kapitän, »es gilt die Freiheit! Wollt Ihr – zum dritten Mal? Jetzt oder nie!«

Bunsby wollte nicht und wollte nie, denn er wurde unmittelbar darauf mit Mrs. Mac Stinger zusammengegeben.

Eine der schrecklichsten Beigaben zu dieser Feierlichkeit war für den Kapitän die todbringende Teilnahme, die Juliane Mac Stinger dafür an den Tag legte, und die verhängnisvolle Spannung aller Geisteskräfte, womit dieses vielversprechende Kind – jetzt schon das treue Abbild ihrer Mutter – dem ganzen Verfahren zusah. Der Kapitän bemerkte darin eine endlose Reihenfolge von Männerfallen und halbe Jahrhunderte von Zwang und Bedrückung, die den armen Seefahrern in Aussicht standen. Dies war ein denkwürdigerer Anblick als die wandellose Festigkeit der Mrs. Bokum und der andern Dame, als der Jubel des kleinen Gentlemans in dem hohen Hut, oder sogar als die schnöde Unbeugsamkeit der Mrs. Mac Stinger. Die männlichen jungen Mac Stinger verstanden wenig von dem, was vorging, und kümmerten sich noch weniger darum, da sie während der Zeremonie hauptsächlich damit beschäftigt waren, einander auf die Halbstiefel zu treten, aber der Gegensatz, den diese unglücklichen Kleinen darboten, stach nur um so vorteilhafter gegen das frühreife Weib in Juliane ab. Noch ein Jährchen oder zwei, dachte der Kapitän, und wer mit diesem Kinde in einem Hause wohnt, ist dem Untergang verfallen.

Die Zeremonie schloß mit einem allgemeinen Hinaufspringen der jungen Familie an Mr. Bunsby, den das junge Volk jetzt mit dem zärtlichen Vaternamen begrüßte und um Halbpence anbettelte. Nachdem diese Liebesergüsse vorüber waren, wollte der Zug wieder aufbrechen, wurde aber noch eine Weile länger durch einen unerwarteten Jammererguß von seiten des Alexander Mac Stinger zurückgehalten. Dieses liebe Kind schien sich bei einer Kapelle, die mit Grabsteinen in Verbindung stand, nicht denken zu können, daß sie außer den gewöhnlichen gottesdienstlichen Verrichtungen und den Beerdigungen auch noch andere Zwecke habe, und war der festen Überzeugung, man werde jetzt seine Mutter mit allem Anstand begraben und sie sei für ihn auf immer verloren. In seiner Angst schrie er mit erstaunlicher Gewalt, bis er ganz schwarz im Gesicht wurde. Wie rührend übrigens solche Zeichen zärtlicher Anhänglichkeit für die Mutter sein mochten, lag es doch nicht in dem Charakter dieses merkwürdigen Weibes, ihre Anerkennung derselben in Schwäche ausarten zu lassen. Nachdem sie vergeblich versucht hatte, ihn durch Rütteln, Rippenstöße und Anschreien zur Vernunft zu bringen, führte sie ihn ins Freie hinaus und versuchte ein anderes Mittel, das sich der Hochzeitsgesellschaft durch eine rasche Reihenfolge scharfer Töne, wie wenn jemand Beifall klatschte, und unmittelbar darauf durch den Umstand kundgab, daß Alexander sehr erhitzt und laut wehklagend in Berührung mit dem kühlsten Pflasterstein des Hofes dasaß.

Die Prozession, die sich nun wieder bilden und nach Brig-Place begeben konnte, wo ein Hochzeitsmahl bereit stand, kehrte zurück, wie sie gekommen war, bei welcher Gelegenheit der Straßenpöbel Mr. Bunsby manchen humoristischen Glückwunsch zu seinem neu erlangten Segen zurief. Der Kapitän ging bis zur Haustür mit, wo er sich unter dem Vorwand einer Bestellung und mit der Zusage, sogleich wieder zurückzukommen, von dem Zug und von dem Gefangenen verabschiedete, da ihn das zärtlichere Benehmen der Mrs, Bokum, die ihrer früheren Pflicht der Wachsamkeit nach der glücklichen Verheiratung des Bräutigams entbunden war und jetzt Muße hatte, selbst die Angenehme zu spielen, sehr beunruhigt hatte. Es war auch ein anderer Anlaß der Sorge für ihn vorhanden, denn er mußte sich den Vorwurf machen, daß er, freilich ohne es zu beabsichtigen, durch sein unbegrenztes Vertrauen in den hohen Geist des weisen Bunsby das erste Mittel zu dessen Verstrickung gewesen war.

Es lag nicht in der Absicht des Kapitäns, jetzt zu dem alten Sol Gills im hölzernen Midshipman zurückzukehren, ohne zuvor einen Umweg zu machen und zu fragen, wie es Mr. Dombey gehe, obschon das Haus, in dem sich derselbe befand, außerhalb Londons und am Saume einer frischen Heide stand. Er fuhr daher, wenn er müde wurde, eine Strecke weit und kam in solcher Weise wohlgemut an seinem Bestimmungsort an.

Die Laden waren niedergelassen und das Haus so ruhig, daß der Kapitän sich fast fürchtete, zu klopfen; als er aber an der Tür lauschte, vernahm er drinnen ganz in der Nähe gedämpfte Stimmen, weshalb er leise pochte und von Mr. Toots eingelassen wurde. Letzterer war eben mit seiner Frau angelangt und hatte den Kapitän in dem Midshipman aufgesucht, wo man ihm übrigens nur sagen konnte, wo er zu finden sein dürfte.

Sie waren kaum ins Haus getreten, als Mrs. Toots bereits das Bübchen irgend jemand abgejagt, es in ihre Arme genommen und damit auf der Treppe Platz gefunden hatte, wo sie es küßte und streichelte. Florence stand niedergebeugt an ihrer Seite, und man hätte nicht wohl sagen können, wen Mrs. Toots mit mehr Innigkeit herzte und umarmte, die Mutter oder das Kind; oder wer am eifrigsten seine Zärtlichkeit kundgab – Florence für Mrs. Toots, Mrs. Toots für Florence, oder beide für den Knaben. Mit einem Worte, es war eine kleine Gruppe von Liebe und Aufregung.

»Und ist Euer Papa sehr krank, meine liebe, herzige Miß Floy?« fragte Susanna.

»Er ist sehr leidend«, versetzte Florence. »Aber liebe Susanna, du darfst jetzt nicht mehr mit mir sprechen, wie du sonst tatest. Und was ist das?« fügte sie hinzu, erstaunt Susannas Kleider befühlend. »Dein alter Anzug, meine Liebe? Dein altes Häubchen, die Locken und alles ganz so wie früher?«

Susanna brach in Tränen aus und drückte viele Küsse auf die kleine Hand, von der sie so verwundert berührt worden war.

»Meine teure Miß Dombey«, sagte Mr. Toots, der jetzt vortrat, »ich will alles aufklären. Sie ist ein ganz außerordentliches Frauenzimmer und hat nicht viele ihresgleichen! Sie sagte stets – sagte so vor unserer Verheiratung, bis auf den heutigen Tag – wenn Ihr nach Hause kämet, wolle sie in keinem andern Anzug vor Euch erscheinen, als in dem, in welchem sie Euch zu dienen pflegte, denn sie fürchtete, sie möchte Euch fremd vorkommen und Ihr könntet sie weniger lieben. Diese Kleidung gefällt auch mir vor allen andern«, fügte er hinzu. »Ich bete sie darin an! Meine teure Miß Dombey, sie will wieder Euer Mädchen, Eure Wärterin, kurz alles sein, was sie je war, und noch mehr. In ihr ist keine Veränderung vorgegangen. Aber liebe Susanna«, sagte Mr. Toots, der mit viel Empfindsamkeit und hoher Bewunderung gesprochen hatte, »vergiß mir ja nicht den Doktor und laß dich nicht allzusehr aufregen!«

Einundsechzigstes Kapitel.


Einundsechzigstes Kapitel.

Erlösung

Florence bedurfte des Beistandes, und der leidende Zustand ihres Vaters machte ihr die Unterstützung ihrer alten Freundin sehr wertvoll. Mr. Dombey stand am Rande des Grabes. Schon hatte ein Schatten dessen, was er gewesen, seinen Geist erschüttert, und da er auch körperlich gefährlich erkrankt war, so legte er sein müdes Haupt auf das Bett nieder, das ihm die Hände seiner Tochter bereitet hatten, um es fortan nie wieder stolz aufzurichten.

Sie war stets um ihn. Er kannte sie in der Regel, obschon er in seinen Delirien oft die Umstände verwirrte, unter denen er mit ihr sprach. So konnte er sie bisweilen anreden, als ob sein Knabe erst kürzlich gestorben sei, und dabei bemerken: wenn er gleich nichts gesagt habe, als sie an dem kleinen Bett wartete, habe er es doch gesehen – er habe es gesehen; und dann verbarg er schluchzend sein Gesicht und streckte die abgezehrte Hand aus. Bisweilen fragte er sie nach ihr selbst. »Wo ist Florence?« – »Hier, Papa; ich bin hier.« – »Ich kenne sie nicht!« konnte er entgegnen. »Wir sind so lange getrennt gewesen, daß ich sie nicht kenne!« Und dann bemächtigte sich seiner ein Gefühl des Schreckens, das nur mit Not ihrem beschwichtigenden Zureden wich, und sie freute sich in solchen Augenblicken, wenn die Tränen wiederkehrten, die sie in andern Zeiten so eifrig zu trocknen bemüht war.

Er beschäftigte sich fast ohne Unterlaß mit den Szenen der Vergangenheit, und während solcher Träume verlor er die zuhörende Florence bisweilen stundenlang aus dem Gesicht. So wiederholte er oft die Frage seines kleinen Sohnes: »Was ist Geld?« brütete darüber, machte sich mehr oder weniger zusammenhängende Vorstellungen und forschte nach einer passenden Antwort, als werde ihm die Frage in diesem Augenblick zum ersten Male vorgelegt. Dann sprach er viele tausendmal den Titel seiner alten Firma vor sich hin und drehte bei jeder Wiederholung unruhig den Kopf auf seinem Pfühl. Auch pflegte er seine Kinder zu zählen! Eins – zwei – dann machte er halt, ging wieder zurück und fing von vorne an.

So ging es übrigens nur, als sein Geist in seinem verwirrten Zustande war. In allen andern Phasen seiner Krankheit, namentlich in den Perioden der Klarheit, waren seine Gedanken stets Florence zugekehrt. Am häufigsten rief er sich jene Nacht ins Gedächtnis, deren er sich so kürzlich erinnert hatte – der Nacht, an der sie zu ihm ins Zimmer kam; es war ihm dann, als wolle ihm das Herz brechen, und als gehe er ihr die Treppe hinauf nach, um sie zu suchen. Dann verwechselte er die Zeit mit den späteren Tagen der vielen Fußstapfen; er war erstaunt über ihre Zahl und fing an, sie zu zählen, während er zugleich stets nach der Tochter forschte. Plötzlich sah er eine blutige Fußspur unter den andern durchlaufen, und dann taten sich in Zwischenräumen die Türen auf, durch die er in Spiegeln gewisse schreckliche Bilder von hageren Männern sah, die etwas in der Brust verbargen. Unter den vielen Fußstapfen und den Blutspuren zeigte sich jedoch ohne Unterlaß Florences Tritt. Sie ging immer vor ihm her. Der unruhige Geist folgte ihr unter Zählen immer weiter, höher hinauf bis zu dem Gipfel eines gewaltigen Turms, so daß Jahre nötig waren, ihn zu erklettern.

Eines Tages fragte er, ob er nicht vor einer geraumen Weile Susanna habe sprechen hören.

Florence antwortete mit Ja und fragte ihn, ob er sie zu sehen wünsche.

Auf seine Zustimmung erschien Susanna nicht ohne Zittern an seinem Bett.

Er schien eine große Erleichterung darin zu finden und bat sie, daß sie doch nicht gehen solle, als wolle er damit andeuten, er verzeihe ihr, was sie gesprochen, und wünsche nicht, daß sie ihren Dienst verlasse. Florence und er seien jetzt ganz anders und leben glücklich miteinander, sagte er. Man solle es nur sehen! Er machte dabei eine Gebärde, als ziehe er Florences Kopf zu sich aufs Kissen nieder und legte ihn an seine Seite.

So blieb er Tage und Wochen lang, bis er – bloß noch der Schatten von einem Mann und so leise sprechend, daß man ihn nur verstehen konnte, wenn man das Ohr fast an seine Lippen hielt – endlich ruhiger wurde. Es war ihm jetzt angenehm, bei offenem Fenster dazuliegen und nach dem Sommerhimmel und den Bäumen, abends aber nach der untergehenden Sonne hinauszuschauen. Dabei achtete er auf die Schatten der Wolken und Blätter, und es war natürlich, daß er dafür eine Teilnahme empfand, da Leben und Welt für ihn nichts anderes mehr war als ein Schatten.

Er begann jetzt zu zeigen, daß er einen Sinn für Florences Anstrengungen hatte, denn wenn er ihre Schwäche bemerkte, flüsterte er ihr oft zu: »Mach‘ einen Spaziergang in der frischen Luft, meine Liebe. Geh‘ zu deinem guten Gatten!« Einmal, als Walter im Zimmer war, winkte er ihn heran und zu sich nieder; dann drückte er ihm die Hand und flüsterte ihm die Versicherung zu, er wisse, daß sein Kind bei ihm geborgen sei, wenn er einmal im Grabe ruhe.

Eines Abends gegen Sonnenuntergang, als Florence und Walter beisammen in seinem Zimmer saßen, wie er es so gern hatte, begann Florence, die ihren Knaben in den Armen hatte, dem kleinen Knirps mit gedämpfter Stimme etwas vorzusingen. Es war die alte Weise, die sie oft dem sterbenden Bruder gesungen. Er konnte es nicht ertragen und streckte seine zitternde Hand aus, indem er sie bat, innezuhalten; aber am nächsten Tag forderte er sie auf, das Lied wieder zu singen und es jeden Abend zu wiederholen. Sie tat es, und er hörte mit abgewandtem Gesichte zu.

Einmal saß Florence an seinem Fenster. Sie hatte ihr Arbeitskörbchen vor sich, und neben ihr befand sich die alte Dienerin, die ihr noch immer treulich Gesellschaft leistete. Er lag im Schlummer da. Der Abend war schön, und man hatte noch zwei Stunden bis zum Sonnenuntergang. Die Ruhe und Stille machte Florence gedankenvoll, und sie vertiefte sich in die Vergegenwärtigung des Augenblicks, als die so veränderte Gestalt auf dem Bett ihr zum erstenmal die schöne Mama vorgestellt hatte. Eine Berührung Walters, der über die Lehne des Stuhles sich niederbeugte, weckte sie rasch aus ihren Träumen.

»Meine Liebe«, sagte Walter, »es ist jemand unten, der dich zu sprechen wünscht.«

Walter kam ihr so ernst vor, daß sie ihn fragte, ob etwas vorgefallen sei.

»Nein, nein, meine Liebe!« versetzte Walter. »Ich habe den Gentleman selbst gesehen und mit ihm gesprochen. Es ist nichts vorgefallen. Willst du kommen?«

Florence legte ihren Arm in den seinen, vertraute ihren Vater der schwarzäugigen Mrs. Toots, die so emsig an ihrer Arbeit saß, wie es einem schwarzäugigen Frauenzimmer nur möglich war, und begleitete ihren Gatten die Treppe hinunter. In dem hübschen Wohnstübchen, das in den Garten hinausging, saß ein Gentleman, der bei ihrem Eintritt sich erhob, um ihr entgegenzugehen, aber infolge der Eigentümlichkeit seiner Beine seitab kam, bis ihm der Tisch Halt gebot.

Florence erinnerte sich nun des Vetters Feenix, da sie ihn anfänglich im Schatten der Blätter nicht erkannt hatte. Vetter Feenix reichte ihr die Hand und wünschte ihr Glück zu ihrer ehelichen Verbindung.

»Natürlich wäre es mir lieb gewesen«, sagte Vetter Feenix, der wieder Platz nahm, sobald Florence sich niedergelassen hatte, »wenn ich früher Gelegenheit gefunden hätte, meinen Glückwunsch darzubringen; aber es sind in der Tat so viele schmerzliche Vorfälle eingetreten – Vorfälle, die sich sozusagen auf der Ferse folgten –, daß ich mich selbst in einem ganz verteufelten Zustand befand und somit durchaus in keine Gesellschaft paßte. Die einzige Gesellschaft, mit der ich mich umgab, war meine eigene, und es ist gewiß nichts weniger als schmeichelhaft für die Meinung, die jemand von seinen Hilfsquellen hat, wenn man sich sagen muß, man besitze die Eigenschaft, sich bis in alle Ewigkeit zu langweilen.«

Aus einer gewissen Befangenheit in dem Benehmen des Gentleman – das stets das eines Gentleman war, ungeachtet der harmlosen kleinen Exzentrizitäten, die sich daran hefteten – wie auch aus Walters Haltung zog Florence den Schluß, daß Vetter Feenix nicht bloß um des erwähnten Glückwunsches willen hergekommen war.

»Ich bemerkte bereits meinem Freund Mr. Gay, wenn er mir die Ehre gestattet, ihn so zu nennen«, sagte Vetter Feenix, »wie erfreut ich bin, daß es mit meinem Freund Dombey entschieden der Besserung zugeht. Ich hoffe, mein Freund Dombey wird sich einen bloßen Verlust von zeitlichen Gütern nicht allzusehr zu Herzen nehmen. Ich kann nicht sagen, daß ich je selbst einen besonders großen Vermögensverlust erlitten hätte, da ich in der Tat nie viel zu verlieren hatte. Aber so viel da war, habe ich wirklich verloren, und ich finde nicht, daß ich mich besonders darum kümmerte. Ich kenne meinen Freund Dombey als einen verteufelt ehrenhaften Mann, und es dürfte wohl meinem Freund Dombey sehr tröstlich werden, wenn er erfährt, daß dies die allgemeine Ansicht ist. Sogar Tommy Screw – ein sehr gallsüchtiger Mann, mit dem mein Freund Gay wahrscheinlich bekannt ist – kann diese Tatsache mit keiner Silbe in Abrede stellen.«

Florence fühlte mehr als je, daß noch etwas im Hinterhalt war, und sah demselben ernst entgegen – so ernst, daß Vetter Feenix antwortete, als habe sie offen die Frage gestellt.

»Die Sache verhält sich so,« sagte Feenix, »daß ich mich mit meinem Freund Gay besprach, ob es wohl angehe, Euch um eine Gunst zu bitten. Da ich nun die Zustimmung meines Freundes Gay habe – er kam mir dabei in einer ungemein freundlichen und offenen Weise entgegen, wofür ich ihm sehr zu Danke verpflichtet bin – so erlaube ich mir, mich auszusprechen. Ich fühle, eine so liebenswürdige Dame, wie die liebliche und begabte Tochter meines Freundes Dombey ist, wird nicht viel des Zuredens brauchen; gleichwohl freue ich mich der Überzeugung, daß ich durch den Einfluß und die Zustimmung meines Freundes Gay unterstützt werde. In den Tagen meiner parlamentarischen Wirksamkeit, wenn einer irgendeinen Antrag zu stellen hatte – es kam damals freilich selten vor, denn wir wurden sehr scharf im Zügel gehalten, und die Führer auf beiden Seiten waren eigentliche Tyrannen, ein verteufelt guter Umstand für einen in Reih und Glied stehenden Mann, wie ich, da wir dadurch verhindert wurden, uns jeden Augenblick bloßzustellen, wie so viele unter uns gewaltig Lust hatten –, ich wollte sagen, wenn in der Zeit meiner parlamentarischen Wirksamkeit einer einen kleinen Privat-Sackpuffer loslassen wollte, hielt er stets große Stücke darauf, zu versichern, er habe das Glück, zu glauben, daß seine Gefühle nicht ohne Echo seien in der Brust des Mr. Pitt, dieses Lotsen, der in Wahrheit den Sturm umluvt habe. Es rief ihm dann eine verteufelt große Anzahl von Mitgliedern augenblicklich Beifall zu, so daß sein Mut gekräftigt wurde. Diese Mitglieder hatten die Weisung, stets Bravo zu rufen, so oft Mr. Pitts Name erwähnt wurde, und dieser Name war das Schlagwort, das sie jedesmal weckte. In anderer Art waren sie bei allen Vorgängen so unschuldig, daß der Konversations-Brown – Vier-Flaschenmann bei der Schatzkammer, mit dem der Vater meines Freundes Gay vermutlich bekannt war, da er vor der Zeit meines Freundes Gay lebte – zu sagen pflegte, wenn einer sich von seinem Platze erhebe und sein Bedauern ausdrückte, dem Hause mitteilen zu müssen, daß in der Vorhalle ein ehrenwertes Mitglied im Stadium der letzten Zuckungen liege, und daß der Name dieses ehrenwerten Mitglieds Pitt sei, so würde der Beifallssturm ebenso laut sein.«

Dieses Hinausschieben des eigentlichen Punktes brachte Florence in Verwirrung, und sie blickte mit steigender Aufregung von Vetter Feenix auf Walter. »Meine Liebe«, sagte Walter, »es ist nichts vorgefallen.«

»Nein, auf Ehre, es ist nichts vorgefallen,« fuhr Vetter Feenix fort. »Es tut mir ungemein leid, Veranlassung gewesen zu sein, daß Ihr Euch nur einen Augenblick beunruhigtet. Nehmt die Versicherung, daß nichts vorgefallen ist. Die Gunst, um die ich bitten möchte, besteht einfach darin – doch sie scheint in der Tat so ungewöhnlich zu sein, daß ich meinem Freund Gay im höchsten Grad verbunden wäre, wenn er die Güte haben wollte – mit einem Worte, das Eis zu brechen.«

Der so aufgeforderte Walter, an den jetzt auch Florences Blicke appellierten, ergriff folgendermaßen das Wort:

»Meine Liebe, es handelt sich einfach darum, daß du diesen Gentleman, der dir bekannt ist, nach London begleiten möchtest.«

»Ich bitte um Verzeihung, und auch meinen Freund Gay«, unterbrach ihn Vetter Feenix.

»Er wünscht, daß du mit mir irgendwo einen Besuch machst.«

»Bei wem?« fragte Florence, bald den einen, bald den andern ansehend.

»Wenn ich bitten dürfte«, versetzte Vetter Feenix, »daß Ihr nicht auf einer Beantwortung dieser Frage besteht, so würde ich mir die Freiheit nehmen, dieses Ansinnen zu stellen.«

»Bist du davon unterrichtet, Walter?« fragte Florence.

»Ja.«

»Und hältst du es für recht?«

»Ja. Nur weil ich überzeugt bin, daß du es auch für recht halten würdest. Allerdings dürften, wie ich recht wohl begreife, Gründe vorhanden sein, die es besser erscheinen lassen, wenn vorderhand nicht mehr darüber gesprochen wird.«

»Wenn Papa noch schläft, oder im Falle er wach ist, mich entbehren kann, so will ich sogleich gehen«, sagte Florence.

Sie stand gelassen auf, warf den beiden einen etwas beunruhigten, aber vollkommen vertrauenden Blick zu und verließ das Zimmer.

Als sie wieder zurückkam, um mit ihnen aufzubrechen, besprachen sie sich ernst miteinander im Fenster, und Florence war natürlich neugierig auf einen Gegenstand, der die beiden in kurzer Frist so gut miteinander bekannt gemacht hatte. Weniger verwundert war sie über den Blick voll Stolz und Liebe, mit dem ihr Gatte bei ihrem Eintritt abbrach, denn sie sah denselben nie anders.

»Ich will für meinen Freund Dombey eine Karte zurücklassen«, sagte Vetter Feenix, »und hoffe aufrichtig, daß jede kommende Stunde ihm Kraft und Gesundheit geben wird. Mein Freund Dombey ist vielleicht so gütig, mich für einen Mann anzusehen, der eine verteufelt warme Bewunderung vor seinem Charakter als britischer Kaufmann und als ein verteufelt ehrenhafter Gentleman hegt. Mein Landsitz ist zwar in einem verwünscht baufälligen Zustand; aber wenn mein Freund Dombey einer Luftveränderung benötigt wäre und dort sein Quartier aufschlagen wollte, so würde er einen merkwürdig gesunden Platz finden – natürlich da es dort erstaunlich langweilig ist. Leidet mein Freund Dombey an körperlicher Schwäche und wollte er mir erlauben, ihm zu empfehlen, was mir selbst als einem Mann, dem es zuzeiten außerordentlich schlecht war, da er in den Tagen eines freien Lebens ziemlich frei lebte, treffliche Dienste geleistet hat, so würde ich ihm ein Eigelb anraten, das mit Zucker und Muskatnuß geklopft, mit einem Glas Xeres gemischt und morgens mit einer Röstschnitte genossen wird. Jackson, der die Vorzimmer in Bondstreet hielt – Mann von sehr überlegenen Eigenschaften, dessen Ruf meinem Freund Gay ohne Zweifel bekannt ist, bemerkte zu sagen, daß diejenigen, die sich für den Wahlplatz ausbildeten, statt des Xeres Rum nehmen. Im gegenwärtigen Fall möchte ich aber Xeres empfehlen, weil sich mein Freund Dombey in einem geschwächten Zustand befindet. Der Rum könnte ihm in der Tat zu Kopf steigen und ihn in eine verteufelte Lage versetzen.«

Dieses medizinischen Rats entledigte sich Vetter Feenix augenscheinlich mit sehr verwirrter Miene. Er reichte sodann Florence seinen Arm, tat seinen eigensinnigen Beinen, die mit Gewalt in den Garten hinaus zu wollen schienen, allen möglichen Zwang an, führte sie zur Tür und half ihr in den bereitstehenden Wagen.

Walter stieg nach ihm ein, und sie fuhren ab.

Der Weg mochte wohl ein paar Stunden betragen. Es war bereits dunkel, als sie durch gewisse düstere, vornehme Straßen im westlichen Teile von London fuhren. Florence hatte Walters Hand gefaßt, und ihre Aufregung steigerte sich, so oft sie in irgendeine neue Straße einbogen.

Als der Wagen endlich vor dem Hause in Brook-Street, wo ihr Vater seine unglückliche Hochzeit gefeiert hatte, haltmachte, sagte Florence:

»Walter, was soll das? Wer ist hier?«

Während ihr Walter Mut zusprach, ohne sich auf eine weitere Erwiderung einzulassen, blickte sie an der Vorderseite des Hauses hinauf und bemerkte, daß alle Fenster geschlossen waren, als sei das Gebäude unbewohnt. Vetter Feenix war inzwischen ausgestiegen und reichte ihr seine Hand.

»Kommst du nicht, Walter?« fragte sie.

»Nein, ich will hier bleiben. Du brauchst nicht zu zittern. Es ist nichts zu fürchten, teuerste Florence.«

»Ich weiß das wohl, Walter, da du mir so nahe bist. Wenn ich aber auch davon überzeugt bin, so – –«

Die Tür ging, ohne daß gepocht wurde, leise auf, und Vetter Feenix führte sie aus der Sommerabendluft in das dumpfe, düstere Haus. Brauner als je schien es von dem Hochzeitstage an verschlossen geblieben zu sein; es sah aus, als habe es seitdem Trauer und Düster zusammengespart.

Florence stieg zitternd die dunklen Treppen hinan und machte mit ihrem Führer an der Tür des Besuchszimmers halt. Er öffnete, ohne zu sprechen, und deutete durch ein Zeichen die Bitte an, sie möchte in das innere Zimmer treten, während er hier zurückbleibe. Nach einem kurzen Zögern entsprach Florence der Aufforderung.

Neben dem Fenster an einem Tisch saß eine Dame, die geschrieben oder gezeichnet hatte. Ihr Kopf war dem hinsterbenden Licht zugekehrt und ruhte auf der Hand. Florence trat zweifelnd näher, blieb aber mit einem Male stehen, als habe sie alle Kraft der Bewegung verloren. Die Dame hatte den Kopf umgewandt.

»Gütiger Himmel!« sagte sie. »Was ist dies?«

»Nein, nein!« rief Florence, die, als die Dame sich erhob, einige Schritte zurückwich und ihre Hände ausstreckte, um sie abzuhalten. »Mama!«

Sie blieben stehen und sahen sich an. Stolz und Leidenschaft hatten ihre verheerenden Spuren in Ediths Gesicht zurückgelassen, aber noch immer war es schön und stattlich, während in Florences Antlitz trotz des Schreckens, in dem sie die andere zu vermeiden suchte, Mitleid, Kummer und dankbare Rückerinnerung ausgedrückt waren. Auf jedem Gesicht war Erstaunen und Furcht deutlich zu lesen – jedes so still und stumm, während sie sich gegenseitig über der schwarzen Kluft einer unwiderruflichen Vergangenheit ansahen.

Bei Florence ging zuerst eine Veränderung vor. Sie brach in Tränen aus und rief aus der Fülle ihres Herzens:

»O Mama, Mama, warum müssen wir uns so wiedersehen! Ihr wart sonst so freundlich gegen mich, als ich niemand anders hatte. Warum müssen wir uns so wieder finden!«

Edith stand stumm und regungslos vor ihr. Ihre Augen hafteten auf ihrem Gesicht.

»Ich wage nicht daran zu denken«, sagte Florence. »Ich komme von Papas Krankenbett. Wir sind jetzt stets beisammen und werden uns nie mehr trennen. Wenn Ihr wünscht, daß ich für Euch seine Verzeihung erbitte, so will ich es tun, Mama. Ich bin fest überzeugt, daß er sie erteilen wird, wenn ich ihn darum angehe. Möge auch der Himmel Euch verzeihen und Euch trösten.«

Sie antwortete mit keiner Silbe.

»Walter – ich bin mit ihm verheiratet, und wir haben einen Sohn«, sagte Florence schüchtern, »ist unten an der Tür und hat mich hergebracht. Ich will ihm mitteilen, daß Ihr reuig, daß Ihr verändert seid,« fügte sie mit einem Blick der Wehmut hinzu. »Ich weiß, er wird mit mir dem Papa zusprechen. Kann ich außerdem noch etwas für Euch tun?«

Edith unterbrach ihr Schweigen, ohne ein Auge und ein Glied zu bewegen, und erwiderte langsam:

»Der Flecken auf Eurem Namen, auf dem Eures Gatten und Eures Kindes – kann er je vergeben werden, Florence?«

»Ob er’s kann, Mama? Er ist vergeben! Offen und unverhohlen von Walter und von mir. Wenn Euch dies Trost bereiten kann, so mögt Ihr mit Sicherheit darauf bauen. Ihr sprecht – Ihr sprecht –« stotterte Florence – »nicht von Papa; aber zuverlässig wünscht Ihr, daß ich ihn in Eurem Namen um Verzeihung bitte.«

Sie antwortete mit keiner Silbe.

»Ich will es tun«, fuhr Florence fort. »Ich will Euch seine Vergebung bringen, wenn Ihr mir’s gestattet; und dann können wir uns wieder so Lebewohl sagen, wie in alten Zeiten. Ich bin«, fügte sie in sanftem Tone hinzu, während sie näher herantrat – »ich bin nicht vor Euch zurückgewichen, Mama, weil ich Euch fürchte oder weil ich durch Euch beschimpft zu werden glaube. Ich wünsche nur gegen Papa meine Pflicht zu erfüllen. Ich bin ihm sehr teuer und liebe ihn aus ganzer Seele. Gleichwohl kann ich nie vergessen, wie gütig Ihr gegen mich wart. O, betet zum Himmel«, rief Florence, indem sie an ihre Brust sank, »betet zum Himmel, Mama, er möge Euch die Sünde und Schande vergeben – er möge, falls es unrecht ist, auch mir verzeihen, daß ich so handeln muß, wenn ich denke, was Ihr sonst wart.«

Edith sank, als bräche sie unter Florences Berührung zusammen, auf ihre Knie nieder und umschlang ihren Nacken.

»Florence!« rief sie. – »Mein besserer Engel! Ehe ich wieder wahnsinnig werde – ehe mein Starrsinn zurückkehrt und meine Zunge bindet, glaube mir, – bei meiner Seele, ich bin unschuldig!«

»Mama!«

»Schuldig in vielem, schuldig in dem, was für immer eine Öde zwischen uns wirft. Schuldig in dem, was mich für den ganzen Rest meines Lebens trennen muß von Reinheit und Unschuld – vor allem auf Erden von dir; schuldig einer blinden, leidenschaftlichen Rachsucht, die ich selbst jetzt nicht bereuen kann oder will; aber nicht schuldig mit jenem toten Manne. Gott ist mein Zeuge!«

Sie tat diesen Schwur mit erhobenen beiden Händen und auf ihren Knien liegend.

»Florence!« sagte sie, »reinstes und bestes Wesen – das ich liebe – das mich längst hätte umwandeln können und eine Zeitlang sogar in dem Weibe, das ich bin, einen Wechsel hervorbrachte – glaube mir, hierin bin ich unschuldig. Laß mich noch einmal dein teures Haupt an mein verödetes Herz drücken – zum letztenmal!«

Sie weinte in tiefer Ergriffenheit. Wäre sie in früherer Zeit öfter so gewesen, so hätte sie jetzt glücklicher sein können.

»In der ganzen Welt gibt es nichts anderes«, sagte sie, »was mir diese Verneinung hätte entringen können. Weder Liebe noch Haß, weder Hoffnung noch Drohung. Ich erklärte, daß ich sterben wollte, ohne es durch ein Zeichen anzudeuten. Ich hätte Wort halten können, würde Wort gehalten haben, wenn wir uns nicht wiedergesehen hätten, Florence.«

»Ich hoffe«, sagte Vetter Feenix, der zur Tür hereinkam und halb im Zimmer, halb draußen zu sprechen anfing, »daß meine liebliche und begabte Verwandte mich entschuldigen wird, wenn ich durch eine kleine Kriegslist diese Begegnung herbeiführte. Ich kann nicht sagen, daß ich anfänglich ganz ungläubig war in betreff der Möglichkeit, meine liebliche und begabte Verwandte könnte sich unglücklicherweise in Beziehung auf den verstorbenen Mann mit den weißen Zähnen eine Blöße gegeben haben; denn in der Tat, man sieht in dieser Welt, die sich durch seltsame Verkettungen auszeichnet und Dinge erleben läßt, die man völlig unbegreiflich findet – gar sonderbare Konjunktionen solcher Art. Aber wie ich meinem Freund Dombey erklärte, ich konnte die Schuld meiner lieblichen und begabten Verwandten nicht zugestehen, bis sie vollkommen bewiesen wäre. Als nun der verstorbene Mann in einer so verteufelt schrecklichen Weise zugrunde ging, dachte ich mir, ihre Lage müsse sehr peinlich sein, und da ich außerdem fühlte, unsere Familie habe sich einiges vorzuwerfen, weil wir ihr nicht mehr Aufmerksamkeit schenkten und überhaupt eine unbekümmerte Familie sind – ferner, weil meine Tante, obschon eine verteufelt lebhafte Frau, doch vielleicht nicht unter die besten Mütter gehörte – so nahm ich mir die Freiheit, sie in Frankreich aufzusuchen und ihr den Schutz anzubieten, den ein Mann von ziemlich beschränkten Mitteln gewähren kann. Bei dieser Gelegenheit erwies mir meine liebliche und begabte Verwandte die Ehre, mir zu erklären, daß sie mich in meiner Art für einen verteufelt guten Burschen halte und deshalb von meinem Schutz Gebrauch machen wolle. Es war dies in der Tat sehr freundlich von meiner lieblichen und begabten Verwandten, da ich nachgerade ungemein unbeholfen werde und ihrer häuslichen Sorgfalt viel Bequemlichkeit verdanke.«

Edith, die Florence auf das Sofa zu sich niedergezogen hatte, winkte ihm mit der Hand, als bitte sie ihn, nicht weiterzusprechen.

»Meine liebliche und begabte Verwandte wird mich entschuldigen«, nahm Vetter Feenix wieder auf, während er noch immer an der Tür umherschwankte, »wenn ich zu ihrer und meiner eigenen Befriedigung, wie auch zur Befriedigung meines Freundes Dombey, dessen liebliche und begabte Tochter wir so sehr bewundern, den Faden meiner Bemerkungen vollends abwickle. Sie wird sich erinnern, daß von Anfang an nie eine Hindeutung auf ihre Entführung zwischen uns stattfand. Ich habe allerdings immer unter dem Eindruck gelebt, daß in der Sache ein Geheimnis liege, das sie erklären könne, wenn sie dazu geneigt sei; da aber meine liebliche und begabte Verwandte eine verteufelt entschlossene Frau ist, so wußte ich in der Tat wohl, daß sie nicht mit sich spielen läßt, und ich enthielt mich daher jeder Erörterung. In letzter Zeit nun bemerkte ich, daß ihre zugänglichste Seite eine sehr lebhafte Zärtlichkeit für die Tochter meines Freundes Dombey sei, und da fiel mir ein, wenn ich, beiderseits unerwartet, eine Zusammenkunft zusammenbringen könnte, so dürfte dies wohltätige Folgen nach sich ziehen. Wir sind noch in unserer Abgeschiedenheit in London, ehe wir nach dem südlichen Italien ziehen, um uns dort niederzulassen, bis wir in die lange Heimat eingehen (eine verteufelt unangenehme Betrachtung), und ich schickte mich deshalb an, den Aufenthalt meines Freundes Gay – schöner Mann von ungemein offenem Charakter, der wahrscheinlich meiner lieben und begabten Verwandten bekannt ist – zu entdecken, und hatte das Glück, seine liebenswürdige Gattin hierherzubringen. Und nun«, fügte Vetter Feenix mit einem wahren und echten Ernste hinzu, der durch die Leichtigkeit seines Wesens und seine geschraubte Sprache durchblickte, »beschwöre ich meine Verwandte, nicht auf halbem Wege stehenzubleiben, sondern, soweit es ihr möglich ist, das begangene Unrecht wieder gutzumachen – nicht im Interesse der Ehre ihrer Familie, ihres Rufs oder sonstiger Rücksichten, die sie infolge unglücklicher Verkettungen für hohl und abgeschmackt anzusehen gelernt hat– sondern weil es Unrecht ist und vor dem Rechte nicht bestehen kann.«

Die Beine des Vetters Feenix willigten nun ein, ihn abzuführen. Er ließ die beiden allein und schloß die Tür.

Edith blieb einige Minuten stumm, während Florence dicht an ihrer Seite stand. Dann nahm sie ein versiegeltes Papier aus ihrem Busen.

»Ich ging lange mit mir zu Rat«, sagte sie mit gedämpfter Stimme, »ob ich für den Fall eines plötzlichen oder zufälligen Todes dies überhaupt schreiben sollte, bis ich mich endlich dazu gedrungen fühlte. Seitdem erwog ich immer, wann und wie ich es wieder vernichten sollte. Nimm es, Florence. Die Wahrheit ist darin aufgezeichnet.«

»Ist es für den Papa?« fragte Florence.

»Für wen du willst«, antwortete sie. »Es ist dir übergeben und muß durch deine Hand gehen. Anders hätte er es nie erhalten können.«

Wieder eine stumme Pause, während die Nacht hereinbrach.

»Mama«, sagte Florence, »er hat sein Vermögen verloren, stand am Rande des Grabes und erholt sich vielleicht nie wieder. Habt Ihr kein Wort, das ich ihm in Eurem Namen sagen soll?«

»Hast du mir nicht gesagt«, fragte Edith, »daß du ihn sehr liebst?«

»Ja«, entgegnete Florence mit bebender Stimme.

»So sage ihm, es tue mir leid, daß wir uns je gesehen hätten.«

»Weiter nichts?« entgegnete Florence nach einer Pause.

»Wenn er fragt, so sage ihm, daß ich nicht bereue, was ich getan habe – auch jetzt noch nicht –, denn falls es morgen wieder geschehen müßte, so würde ich nicht zögern. Aber wenn er ein veränderter Mann ist –«

Sie hielt inne. Es lag etwas in der stummen Berührung von Florences Hand, das ihr Einhalt gebot.

»Er weiß wohl jetzt, wäre er anders gewesen, so würde es nie vorgefallen sein. Sage ihm, ich wünsche, es hätte nie stattgefunden.«

»Darf ich ihm mitteilen«, entgegnete Florence, »daß Ihr mit Bedauern vernommen habt, welches Unglück ihn betroffen?«

»Wenn es ihn gelehrt hat, seine Tochter zu lieben – nein«, erwiderte sie. »Er wird es mit der Zeit selbst nicht beklagen, daß eine solche Lehre über ihn kommen mußte, Florence.«

»Ihr wünscht ihm aber nichts Schlimmes – Ihr wünscht, daß er glücklich sei? O, gewiß wünscht Ihr dies!« sagte Florence. »Setzt mich in die Lage, ihm bei irgendeiner künftigen Gelegenheit dies mitteilen zu können.«

Edith heftete ihre dunkeln Augen fest vor sich auf den Boden und antwortete nicht, bis Florence ihre Bitte wiederholt hatte. Dann zog sie die Hand ihrer Gefährtin durch ihren Arm, richtete denselben gedankenvollen Blick in die Nacht hinaus und sprach:

»Sage ihm, wenn er in seiner gegenwärtigen Gemütsstimmung einen Grund finden könne, meiner Vergangenheit Mitleid zu schenken, so bitte ich ihn, es zu tun. Sage ihm, wenn er in seiner gegenwärtigen Gemütsstimmung einen Grund finden könne, mit weniger Bitterkeit meiner zu gedenken, so bitte ich ihn, es zu tun. Sage ihm, obschon wir tot seien für einander und uns nie mehr auf dieser Seite der Ewigkeit treffen werden, so wisse er, es gebe jetzt ein einziges gemeinsames Gefühl zwischen uns, das früher nie bestanden.«

Ihre Strenge schien sich zu mildern, und Tränen traten in ihre dunkeln Augen.

»Diesem Gefühl vertraue ich«, fuhr sie fort, »daß es in ihm bessere Gedanken von mir und in mir bessere von ihm wecke. Wenn er seine Florence am meisten liebt, wird er mich am wenigsten hassen. Wenn er am stolzesten und glücklichsten ist in ihr und ihren Kindern, wird er am meisten seine Beteiligung an dem düsteren Traum unseres ehelichen Lebens bereuen. Dann will auch ich bereuen – laß ihn dies dann wissen. Ich will dann darüber nachdenken, daß mir, wenn ich alle diese Ursachen erwogen hätte, die mich zu dem machten, was ich war, vielleicht Anlaß gegeben worden wäre, mit den Ursachen, die ihn zu dem machten, was er war, mehr Nachsicht zu haben. Ich will dann versuchen, ihm seine Beteiligung an der Schmach zu verzeihen. Versuche er, mir die meinige zu vergeben!«

»O Mama!« rief Florence. »Wie erleichtert es mir das Herz, auch bei einem solchen Zusammentreffen und Scheiden dies zu hören!«

»Seltsame Worte in meinen Ohren«, sagte Edith, »und befremdlich für den Ton meiner eigenen Stimme! Aber selbst wenn ich das elende Geschöpf gewesen wäre, für das mich zu halten ich ihm Anlaß gab, so glaube ich, daß ich sie hätte sprechen können, nachdem ich hörte, daß du und er, ihr beide euch gegenseitig teuer seid. Möge er, wenn er dich am meisten liebt, stets fühlen, daß er auch mir in seinen Gedanken die meiste Nachsicht zuteil werden lassen muß – daß ich dann in meinen Gedanken die meiste Nachsicht mit ihm trage! Dies sind die letzten Worte, die ich ihm zugehen lasse! Jetzt, Gott mit dir, mein Leben!«

Sie schlang sie in ihre Arme und schien ihre ganze Seele voll Liebe und Innigkeit mit einemmal auszugießen.

»Diesen Kuß deinem Kinde! Diese Küsse, Segenswünsche über dein Haupt! Meine teure Florence, mein süßes Mädchen, lebe wohl!«

»Um uns wiederzusehen!« rief Florence unter Tränen.

»Nie – nie wieder! Wenn du dieses düstere Gemach verläßt, so denke, du habest mich im Grabe gelassen. Erinnere dich meiner als eines Wesens, das war und das dich liebte!«

Und Florence entfernte sich, von ihren Umarmungen und Liebkosungen bis auf den letzten Augenblick begleitet, ohne jedoch ihr Gesicht wiederzusehen.

Vetter Feenix trat ihr an der Tür entgegen und führte sie nach dem trüb aussehenden Speisesaal zu Walter hinunter, auf dessen Schulter sie ihr weinendes Haupt legte.

»Es tut mir verteufelt leid«, sagte Vetter Feenix, in der möglichst einfachen Weise und ohne die mindeste Verhehlung seine Manschetten zu den Augen erhebend, »daß die liebliche und begabte Tochter meines Freundes Dombey, die liebenswürdige Gattin meines Freundes Gay, bei ihrem empfindsamen Wesen durch das Zusammentreffen, das eben zum Schluß gekommen ist, so traurig gestimmt wurde. Aber ich hoffe und vertraue, daß ich aufs beste gehandelt habe und daß mein ehrenwerter Freund Dombey sich durch die stattgefundenen Enthüllungen erleichtert fühlen wird. Ich beklage ungemein, daß mein Freund Dombey sich durch eine Verbindung mit unserer Familie in eine so verteufelte Verwicklung eingelassen hat, obschon ich lebhaft der Ansicht bin, wäre jener höllische Schurke, Carker – Mann mit weißen Zähnen – nicht gewesen, so hätte alles noch ziemlich ordentlich ablaufen können. Was meine Verwandte betrifft, die mir die Ehre erweist, eine ungewöhnlich gute Meinung von mir zu haben, so kann ich der liebenswürdigen Gattin meines Freundes Gay die Versicherung geben, daß ich in der Tat wie ein Vater an ihr handeln werde, und in Anbetracht der Wechsel im menschlichen Leben und der außerordentlichen Weise, in der wir uns stets benehmen, kann ich nur mit meinem Freund Shakespeare – Mann, der nicht für ein Menschenalter, sondern für alle Zeit lebte, und den mein Freund Gay ohne Zweifel kennt – sagen, daß sie dem Schatten eines Traumes zu vergleichen sind.«

Fünfunddreißigstes Kapitel.


Fünfunddreißigstes Kapitel.

Das glückliche Paar.

Der schwarze Klecks in der Straße ist fort. Wenn sich Mr. Dombeys Haus noch immer wie eine Lücke unter den benachbarten ausnimmt, so liegt der Grund nur darin, weil es in der Pracht und in dem Stolz, womit es die anderen zurückweist, nicht zu beneiden ist. Das Sprichwort sagt: Heimat sei Heimat, wie ärmlich sie auch sein möge. Wenn nun auch das Gegenteil wahr ist und sie Heimat bleibt, wie stattlich sie sei, welch ein Altar war dann nicht hier den heimischen Hausgöttern errichtet!

Es ist Abend. Lichter funkeln durch die Fenster, die rötliche Glut der Kaminfeuer übergießt warm und hell die Vorhänge und die weichen Teppiche; das Diner ist bereitet, der Serviertisch mit Silbergeschirr beladen und die Speisetafel großartig gerüstet, obschon nur vier Gedecke aufgelegt sind. Das erstemal seit den jüngsten Veränderungen soll das Haus wirkliche Dienste leisten, und man sieht der Ankunft des glücklichen Paares mit jeder Minute entgegen.

Dieser Abend, der die Rückkehrenden begrüßen soll, steht an Interesse, das es der erwartungsvollen Dienerschaft bietet, nur dem Morgen der Trauung nach. Mrs. Perch, die die Runde durch das Haus gemacht, die Seiden- und Damaststoffe der Elle nach abgeschätzt und für den Ausdruck ihrer Bewunderung und ihres Staunens alle nur erdenklichen Ausrufwörter erschöpft hat, sitzt jetzt in der Küche und trinkt Tee. Der erste Gehilfe des Tapezierers hat seinen stark nach Firniß riechenden Hut mit dem Schnupftuch darin unter einem Stuhl in der Halle gelassen, schleicht im Hause umher, blickt nach den Gesimsen empor, beaugenscheinigt die Teppiche auf dem Boden, zieht gelegentlich in stummem Entzücken ein Metermaß aus der Tasche und mißt hurtig mit unaussprechlichen Gefühlen einzelne kostbare Gegenstände. Die Köchin ist ungemein heiter und erklärt, es gefalle ihr nur an einem Platz, wo es viel Gesellschaft gebe (sie wette sechs Pence, daß dies fortan im Hause der Fall sein werde), denn sie habe von Kindheit auf ein lebhaftes Temperament gehabt und es sei ihr gleich, was die Welt zu diesem Temperament sage. Diese Gesinnung wird von Mrs. Perch mit einem entsprechenden Gemurmel des Beifalls aufgenommen. Die Hausmagd hofft, es werde dem Paare glücklich ergehen – aber das Heiraten sei eine Lotterie, und je mehr sie darüber nachdenkt, desto mehr gewinnt sie die Überzeugung, daß sie im ledigen Stande am sichersten und unabhängigsten lebe. Mr. Towlinson ist ernst und grämlich, sagt, das sei auch seine Meinung, und erklärt nebenbei allen Ausländern den Krieg, indem er ruft: »Nieder mit den Franzosen!« Der junge Mann gibt sich nämlich dem allgemeinen Eindrucke hin, jeder Ausländer sei ein Franzose und könne der Natur der Sache nach unmöglich etwas anderes sein.

Sooft sich draußen Rädergerassel vernehmen läßt, halten alle in ihren Reden inne und horchen. Ja, es kommt sogar mehr als einmal zu einem allgemeinen Aufbruch, als sich der Ruf verbreitet: »Sie sind es!« Aber sie sind es noch nicht, und die Köchin fängt bereits an, über das Essen zu klagen, das schon zweimal hat zurückgestellt werden müssen, während der Tapeziergehilfe, ungestört in seinen glücklichen Träumen, noch immer in den Zimmern umherwandelt.

Florence ist bereit, ihren Vater und ihre neue Mama zu empfangen. Ob die Regungen, die in ihrer Brust pochen, im Schmerz oder Freude ihren Grund haben? – sie weiß es kaum. Aber das klopfende Herz rötet ihre Wangen und erhöht das Feuer ihrer Augen. Unten stecken sie die Köpfe zusammen und flüstern sich zu – denn sie sprechen stets leise, wenn von ihr die Rede ist – wie schön Miß Florence heute abend aussehe und was für eine liebliche Lady sie geworden sei, das liebe Herz! Es folgt eine Pause, und dann erklärt die Köchin in dem Gefühl, daß man von ihr, als der Präsidentin, ihre Ansicht erwarte, sie möchte nur wissen, ob – aber der Vortrag geht nicht weiter. Auch die Hausmagd möchte wissen – desgleichen Mrs. Perch, die die glückliche soziale Eigenschaft hat, stets neugierig zu sein, wenn es andere sind, ohne es gerade mit dem Gegenstand besonders genau zu nehmen. Mr. Towlinson, dem die Gelegenheit günstig scheint, die Stimmung der Damen zu seiner eigenen Skepsis herabzudrücken, meint, sie sollten nur abwarten und sehen; ihm für seine Person wäre es lieb, wenn gewisse Personen gut wegkämen. Die Köchin wirft mit einem Seufzer die Bemerkung hin: »Ach, es ist eine seltsame Welt – jawohl!« geht um den Tisch herum und fügt im Ton der Überzeugung bei, »aber Miß Florence kann es bei keinem Wechsel noch schlimmer ergehen, Tom.« Mr. Towlinson antwortet mit schrecklicher Bedeutsamkeit: »O, es kann noch ganz anders kommen!« und verstummt sodann in dem Gefühl, daß man kaum prophetischer sprechen oder etwas Weiteres hinzufügen könne.

Mrs. Skewton, die ihre liebe Tochter und den teuren Schwiegersohn mit offenen Armen empfangen will, ist für diesen Zweck ungemein passend in ein sehr jugendliches Kostüm mit kurzen Ärmeln gehüllt. Zur Zeit blühen übrigens ihre reifen Reize noch in dem Schatten ihrer eigenen Zimmer, die sie vor einigen Stunden bezogen und nicht verlassen hat. Sie ist sehr ärgerlich wegen der Verspätung des Diners. Ihr Mädchen aber, das die Stelle des Gerippes mit der Sense so gut vertreten könnte, obschon sie im übrigen als eine hübsche Jungfer erscheint, ist überfroh, weil sie meint, daß ihr Vierteljahrlohn jetzt sicherer sei und auch, was Kost und Wohnung angehe, eine Änderung zum Besseren bevorstehe.

Wo ist das glückliche Paar, auf das eine so wackere Heimat wartet? Lassen Dampf, Flut, Wind und Pferde in ihrer Eile nach, um länger Zeugen eines solchen Glückes zu bleiben? Werden sie auf ihrem Weg durch die Scharen von Liebesgöttinnen und Grazien zurückgehalten, die sie umschwärmen? Blühen so viele Blumen auf ihrem glücklichen Pfad, daß sie kaum vorwärts kommen können, ohne sich in dornenlosen Rosen und süßduftendem Gesträuch zu verstricken?

Sie sind endlich da! Rädergerassel wird hörbar und kommt immer näher, bis der Wagen vor der Tür haltmacht. Ein donnerndes Klopfen kommt Mr. Towlinson und dem übrigen Hausgesinde, das zum Öffnen nach der Tür eilt, zuvor. Mr. Dombey steigt aus mit seiner Gattin, bietet ihr den Arm und tritt ein.

»Meine süßeste Edith«, ruft aus dem ersten Stock eine Stimme. »Mein teuerster Dombey!«

Und die kurzen Ärmel sind in voller Tätigkeit, um abwechselnd ihn oder sie zu umarmen.

Florence war auch nach der Halle heruntergekommen, ohne jedoch näher zu treten, da sie ihren schüchternen Willkomm aufsparen wollte, bis sich das mehr berechtigte, wertvollere Entzücken etwas gelegt hätte. Aber Ediths Augen suchten sie schon von der Schwelle aus, und nachdem die neue Mrs. Dombey ihre Mutter mit einem Kusse auf die Wange abgefertigt hatte, eilte sie auf das Mädchen zu, um es zu umarmen.

»Wie geht es dir, Florence?« sagte Dombey, seine Hand ausstreckend.

Als Florence dieselbe zitternd zu ihren Lippen erhob, begegnete sie seinem Blick. Er war kalt und abgemessen genug. Aber ihr Herz glaubte etwas mehr Teilnahme darin zu entdecken, als je zuvor. Er drückte sogar eine Art leichter Überraschung – nicht unangenehmer Überraschung bei ihrem Anblick aus. Sie wagte es nicht, ihr Auge abermals zu dem seinigen zu erheben, fühlte aber, daß er sie wieder anschaute und daß der Eindruck nicht weniger günstig war. O, welch ein freudiges Beben durchschauerte sie sogar bei dieser unhaltbaren und grundlosen Bestätigung ihrer Hoffnung, daß es ihr durch ihre neue, schöne Mama gelingen werde, seine Liebe zu gewinnen!

»Ihr werdet vermutlich nicht lange zum Umkleiden brauchen, Mrs. Dombey?« sagte Mr. Dombey.

»Es ist bald geschehen«, versetzte Edith.

»Das Diner muß in einer Viertelstunde bereitstehen.«

Mit diesen Worten verfügte sich Mr. Dombey stattlichen Schritts nach seinem Ankleidezimmer, während Mrs. Dombey zu gleicher Zeit nach dem ihren hinaufging. Mrs. Skewton begab sich mit Florence in das Besuchszimmer, wo diese trefflichste der Mütter es für ihre Pflicht hielt, über das vermeintliche Glück ihrer Tochter einige ununterdrückbare Tränen zu vergießen. Sie war noch recht sorgfältig im Abtrocknen derselben begriffen – ein Geschäft, das sie mit dem Ende ihres spitzengesäumten Tuches verrichtete, als ihr Schwiegersohn erschien.

»Und wie hat mein teuerster Dombey jene lieblichste von allen Städten – Paris – gefunden?« fragte sie, ihre Erregtheit niederkämpfend.

»Es war kalt«, entgegnete Mr. Dombey.

»Aber natürlich so lebhaft, wie immer«, sagte Mrs. Skewton.

»Nicht besonders. Es kam mir langweilig vor«, versetzte Mr, Dombey.

»Pfui, mein teuerster Dombey«, erwiderte sie schalkhaft. »Langweilig!«

»Es machte diesen Eindruck auf mich, Madame«, sagte Mr. Dombey mit ernster Höflichkeit. »Ich glaube, Mrs. Dombey hat es auch langweilig gefunden. Wenigstens äußerte sie sich ein- oder zweimal gegen mich auf diese Weise.«

»Ach, du garstiges Mädchen!« rief Mrs. Skewton ihrem lieben Kinde zu, das in diesem Augenblick eintrat – »was für schrecklich ketzerische Äußerungen hast du dir über Paris erlaubt!«

Edith erhob matt die Augenbrauen, ging, ohne einen Blick danach zu werfen, an der Flügeltür, die geöffnet war, um die Zimmerreihe mit ihrer neuen schönen Ausstattung zu zeigen, vorbei und setzte sich an Florences Seite nieder.

»Mein teurer Dombey«, sagte Mrs. Skewton, »wie entzückend diese Leute jede von uns angedeutete Idee ausgeführt haben! Das Haus ist unter ihren Händen zu einem wahren Palast geworden.«

»Es ist schön«, sagte Mr. Dombey, umherschauend. »Ich habe die Weisung erteilt, daß man keine Kosten sparen solle, und glaube, es ist alles geschehen, was durch Geld erzielt werden kann.«

»Und was wäre nicht damit zu erzielen, lieber Dombey?« bemerkte Cleopatra.

»Geld ist Macht, Madame«, sagte Mr. Dombey.

Er schaute in der gewohnten feierlichen Weise nach seiner Gattin hin, die übrigens keine Silbe darauf erwiderte.

»Ich hoffe, Mrs. Dombey«, fuhr Mr. Dombey nach einer kurzen Pause mit besonderer Bestimmtheit gegen sie fort, »daß diese Veränderungen Euren Beifall finden?«

»Sie sind so schön, wie sie sein können«, versetzte sie mit stolzer Gleichgültigkeit. »Sie müssen es natürlich sein, und deshalb vermute ich auch, daß es der Fall ist.«

Ein Ausdruck von Verachtung lag gewöhnlich auf dem stolzen Gesicht und schien sich davon nicht trennen zu lassen. Aber die Geringschätzung, mit der sie jedes, auch das unbedeutendste Merkmal von Bewunderung oder Achtung seines Reichtums aufnahm, bildete in ihrem Antlitz einen neuen, ganz eigenartigen Zug von so kräftigem Gepräge, daß er mit keinem früheren einen Vergleich aushielt. Ob Mr. Dombey, in den Mantel seiner Größe gehüllt, dies wußte oder nicht? Jedenfalls hatte es ihm nicht an Gelegenheit zu Belehrung gefehlt, und in jenem Augenblick konnte ihm der einzige Blick des dunkeln Auges, der auf ihn niederfiel, nachdem sie rasch und gleichgültig die Gegenstände des erwähnten Selbstlobes gemustert hatte, allen wünschenswerten Aufschluß geben. Dieser Blick sagte ihm: nichts, was durch seinen Reichtum selbst in zehntausendfacher Steigerung erzielt werden konnte, vermochte dieser trotzigen Frau, die an ihn gefesselt war, obschon ihre ganze Seele sich gegen ihn empörte, eine Äußerung oder Miene der Anerkennung zu entringen. Er hätte in diesem Blick lesen können, daß sie seine Schätze schon wegen des schmutzigen, zur Sinnbegierde führenden Einflusses, den sie auf sie selbst geübt hatten, verachte. Zwar nahm sie diese Schätze kraft des geschlossenen Handels für sich in Anspruch – als schnöden, wertlosen Ersatz dafür, daß sie sein Weib geworden war. Er hätte darin lesen können, daß, wenn sie ohnehin schon stets ihr Haupt dem Blitz ihres Stolzes und ihrer Selbstverachtung preisgab, die geringste Anspielung auf seinen Reichtum sie aufs neue herabwürdigte, das verzehrende Gefühl ihres Innern erhöhte und die vom Fluch getroffene Wüste in ihrem Herzen noch öder machte.

Das Diner wurde angekündigt. Mr. Dombey bot Cleopatra seinen Arm, und Edith folgte mit Florence. An der Schaustellung von Gold und Silber auf dem Seitentisch vorbeirauschend, als ob es aufgehäufter Straßenstaub wäre, und die elegante Umgebung keines Blickes würdigend, nahm sie zum erstenmal an dem Tisch Platz und blieb während des ganzen Mahles wie eine Statue sitzen.

Mr. Dombey, der sich gleichfalls ziemlich wie eine Statue ausnahm, war nicht unzufrieden mit der Kälte, dem Stolz und der Unbeweglichkeit seiner Gattin. Da ihre Haltung stets Eleganz und Anmut zeigte, so stand ihr Benehmen im allgemeinen mit seinen eigenen Empfindungen vollkommen im Einklang. Deshalb führte er jetzt mit seiner gewohnten Würde den Vorsitz. Ohne von sich selbst Wärme und Heiterkeit auf Edith überstrahlen zu lassen, trug er mit kalter Selbstgefälligkeit seinen Anteil zu den Honneurs der Tafel bei. So verlief das erste Mahl in dem neuen Heim von oben her gesehen in höflicher, zeremonieller, frostiger Weise, wenn man gleich in der Küche unten diesen Anfang nicht für sehr verheißungsvoll zu halten geneigt war.

Bald nach dem Tee begab sich Mrs. Skewton zu Bett; denn sie war, wie sie sagte, völlig erschöpft von den Aufwallungen des Entzückens, weil sie nun ihre Tochter mit dem Mann ihres Herzens vereint sah. Zwar mochte ihr dieses Familienleben an sich ziemlich langweilig vorkommen, wenn man aus ihrem hinter dem Fächer verborgenen, fast unablässigen Gähnen einen maßgebenden Schluß ziehen durfte. Auch Edith zog sich schweigend zurück, um nicht wieder zu erscheinen. So fügte es sich, daß Florence, die droben gewesen war, um sich mit Diogenes zu unterhalten, als sie mit ihrem Arbeitskörbchen wieder nach dem Speisezimmer kam, nur noch ihren Vater antraf, der in traurig anzusehender Großartigkeit auf und nieder ging.

»Ich bitte um Verzeihung, soll ich wieder fortgehen, Papa?« fragte Florence schüchtern, während sie unter der Tür stehenblieb.

»Nein«, versetzte Mr. Dombey, über die Schultern nach ihr hinblickend. »Du kannst hier nach Belieben ein- und ausgehen, Florence. Das ist nicht mein Privatzimmer.«

Florence trat ein und setzte sich mit ihrer Arbeit an einen kleinen Seitentisch. Es war – seit sie sich von ihrer frühesten Kindheit auf entsinnen konnte – das erstemal, daß sie sich bei ihrem Vater allein befand. Sie, seine natürliche Gefährtin, sein einziges Kind, das in seinem einsamen Leben den vollen Gram eines brechenden Herzens erlitten – das in seiner zurückgewiesenen Liebe während seiner nächtlichen Gebete den Namen des Vaters nie anders gehaucht als mit einem tränenreichen Segenswunsch, einem Segen, noch schwerer auf ihm lastend als ein Fluch – das zum Himmel gefleht, er möge es doch jung abrufen, damit es nur in seinen Armen sterben könne – das den Schmerz kalter Vernachlässigung und Abneigung stets nur mit anspruchsloser Liebe getragen, ja sogar ihn entschuldigt und für ihn gebetet hatte, wie sein besserer Engel!

Sie zitterte, und ihre Augen wurden trübe. Seine Gestalt schien, während er im Zimmer auf und ab ging, sich nach allen Richtungen auszudehnen; jetzt erschien ihr alles wirr und unbestimmt durcheinander, dann wieder klar und deutlich. Ja, es kam ihr bisweilen vor, als habe sie nicht die Gegenwart vor sich, sondern ihre ganze Umgebung sei ein Bild aus vielen, vielen vergangenen Jahren. Ihr Herz fühlte sich zu ihm hingezogen; und doch wagte sie es nicht, sich ihm zu nähern. Eine unnatürliche Erregung in einem Kind, das sich keiner Schuld bewußt war – eine unnatürliche Hand, die den scharfen Pflug gefühlt und in einem edlen Wesen solche Furchen aufgeworfen hatte, um ihre Saat hineinzustreuen!

Um ihm durch ihren Kummer keinen Anstoß zu geben, tat sich Florence Gewalt an und blieb ruhig bei ihrer Arbeit sitzen. Nachdem er noch einige Male durch das Zimmer gegangen war, zog er sich in eine schattige Ecke zurück, wo ein Lehnstuhl stand, bedeckte den Kopf mit seinem Taschentuch und schickte sich zum Schlafen an.

Es war für Florence genug, dasitzen und ihn ansehen zu können. Von Zeit zu Zeit warf sie ihre Blicke nach dem Stuhl hin und beschäftigte sich unablässig, selbst wenn ihre Augen emsig auf ihrer Arbeit hafteten, mit seinem Bild. Der Gedanke, daß er schlafen konnte, während sie da war, und daß ihm ihre befremdliche, langversagte Nähe nicht die Ruhe raubte, bereitete ihr eine wehmütige Freude.

Was würde sie wohl gedacht haben, wenn sie gewußt hätte, daß er nicht schlief, daß der Schleier über seinem Gesicht – sei es absichtlich oder aus Zufall – die Augen frei ließ und daß er keinen Blick von ihrem Antlitz verwandte – daß, wenn sie in die dunkle Ecke nach ihm hinsah, ihre sprechenden Augen den seinen begegneten, ernster und ergreifender in ihrer stummen Klage, als alle Redner der Welt – daß er leichter aufatmete, sooft sie das Haupt wieder gegen ihre Arbeit senkte, obgleich er dann mit derselben Aufmerksamkeit ihre weiße Stirne, ihr wallendes Haar und ihre geschäftigen Hände betrachtete, als wirke das Bild vor ihm wie ein bannender Zauber?

Sogar in dem Leben der härtesten Männer gibt es weichere Augenblicke, obschon das meist als ein Geheimnis verwahrt bleibt. Der Anblick der Tochter in ihrer Schönheit, der Tochter, die sich ohne sein Vorwissen fast zur Jungfrau entwickelt hatte, mochte auch in seiner stolzen Existenz solch einen Augenblick wachgerufen haben. Vielleicht tauchte der flüchtige Gedanke in ihm auf, daß in seiner Nähe eine glückliche Heimat lag, die er in seiner anmaßenden Starrheit übersah und der er auswich, bis er völlig in der Irre war.

Eine einfache Beredsamkeit, nicht in Worten auszudrücken, lag in ihren Blicken, obschon er selbst nicht wußte, daß er sie schon einmal vernommen hatte: »Bei den Sterbebetten, an denen ich stand, bei meiner kummervollen Kindheit, bei unserm mitternächtlichen Zusammentreffen in diesem traurigen Hause, bei dem Schrei, der sich mir in der Beklommenheit meines Herzens entrang, beschwöre ich dich, o Vater, kehre dich zu mir und suche eine Zuflucht in meiner Liebe, ehe es zu spät ist.« Das ahnte er vielleicht in diesen Augenblicken, die möglicherweise auch aus gemeineren Gedanken stammten, nämlich daß etwa sein toter Knabe jetzt durch neue Bande ersetzt sei und er nunmehr vergeben könne, wenn er durch sie aus dessen Liebe verdrängt wurde. Denkbar, daß auch schon der Gedanke, daß sie unter dem vielen Pomp, der ihn umgab, eine weitere Zierde sein könne, ausschlaggebend war. Kurz, je mehr er sie betrachtete, desto milder wurde er gegen sie gestimmt. Sie verschmolz vor seinen Blicken mit dem Kinde, das er geliebt hatte, und er konnte die beiden kaum mehr trennen. Vorübergehend erschien sie ihm in einem klareren, helleren Lichte, nicht als seine Nebenbuhlerin – o des ungeheuerlichen Gedankens – über den Pfühl jenes Kindes gebeugt, sondern als der Schutzgeist seiner Heimat, der sich nicht weniger zärtlich an ihn anzuschmiegen wünschte, als er ein anderes Mal mit aufgestütztem Haupt zu den Füßen des kleinen Bettes saß. Er fühlte einen Antrieb, mit ihr zu sprechen und sie zu sich zu rufen. Die Worte: »Florence, komm her!« drängten sich – freilich nur langsam und mit Schwierigkeit, da sie ihm so gar fremd waren – schon zu seinen Lippen, als sie durch einen Fußtritt auf der Treppe wieder zurückgehalten und erstickt wurden.

Es war der seiner Gattin. Sie hatte den Anzug für die Tafel gegen ein leichtes Nachtgewand vertauscht, und das aufgelöste Haar wallte frei um ihren Nacken. Doch dies war nicht die Veränderung an ihr, die ihn betroffen machte. »Meine liebe Florence«, sagte sie, »ich habe dich überall gesucht.«

Sie setzte sich neben Florence nieder, neigte das Haupt und küßte ihre kleine Hand. Seine Gattin war so sehr verändert, daß er sie kaum mehr kannte. Nicht bloß, daß ihm ihr Lächeln neu war, obschon er es nie zuvor gesehen, sondern ihr Wesen, der Ton ihrer Stimme, das Licht ihrer Augen, die Teilnahme, das Vertrauen und der Wunsch, der sich in allem ausdrückte, einen gewinnenden Eindruck zu machen – nein, dies war nicht Edith.

»Leise, liebe Mama. Papa schläft.«

Jetzt war es wieder Edith.

Sie schaute nach der Ecke hin, wo er saß – ja dieses Gesicht und diese Haltung kannte er sehr gut.

»Ich hätte nicht gedacht, dich hier zu finden, Florence.«

Wieder, wie verändert, wie sanft – und das in einem Augenblick.

»Ich bin früh aufgebrochen«, fuhr Edith fort, »um noch eine Weile mit dir zusammenzusitzen und zu sprechen. Aber als ich auf dein Zimmer kam, war mein Vögelchen ausgeflogen, und ich wartete seitdem dort auf seine Rückkehr.«

Wenn Florence wirklich ein Vögelchen gewesen wäre, so hätte sie es nicht zärtlicher und sanfter an ihre Brust drücken können.

»Komm, meine Liebe!«

»Ich denke, Papa wird mich nicht mehr erwarten, wenn er erwacht«, versetzte Florence zögernd.

»Glaubst du, er werde Florence?« sagte Edith, sie voll ansehend.

Florence senkte den Kopf, erhob sich und nahm ihr Arbeitskörbchen auf. Edith legte die kleine Hand in ihren Arm, und sie verließen das Gemach wie zwei Schwestern. Sogar ihr Fußtritt kam Mr. Dombey anders und so ganz neu vor, als seine Augen ihr nach der Tür folgten.

Er blieb in seinem schattigen Winkel so lange sitzen, daß die Kirchturmuhren noch dreimal die Stunde ausriefen, ehe er sich in jener Nacht von der Stelle bewegte. Diese ganze Zeit über blieb sein Gesicht angelegentlich dem Platz zugekehrt, wo Florence gesessen hatte. Die Lichter brannten herab und erloschen; das Zimmer wurde dunkel, aber um sein Gesicht breitete sich ein Düster, das das der Nacht noch übertraf.

In dem abgelegenen Gemache, wo der kleine Paul gestorben war, saßen Florence und Edith vor dem Feuer und sprachen noch lange miteinander. Diogenes, der auch dabei war, erhob anfangs Einwürfe dagegen, daß Edith zugelassen war. Dann fügte er sich aus gewohnter Unterwürfigkeit dem Wunsch seiner Gebieterin, nur mit knurrendem Protestieren. Hin und wieder aus dem Vorzimmer hereinguckend, wohin er zur Strafe verwiesen worden, schien er übrigens bald zu begreifen, daß er in der anerkennenswertesten Absicht einen von jenen Mißgriffen begangen habe, deren sich bisweilen die beste Hundeseele schuldig macht. Deshalb pflanzte er sich in freundlicher Abbitte an einem sehr heißen Platz vor dem Feuer zwischen den beiden auf. Da blieb er denn mit heraushängender Zunge und einem sehr schüchternen Gesichtsausdruck keuchend sitzen, um der Unterhaltung zuzuhören.

Sie drehte sich anfänglich um Florences Bücher, ihre Lieblingsbeschäftigungen und um die Art, wie sie seit dem Hochzeitstag ihre Zeit verbracht hatte. Dies führte auf einen Gegenstand, der dem Mädchen sehr nahe am Herzen lag, und sie sagte unter hervorquellenden Tränen:

»O, Mama, ich bin seit jener Zeit in große Trauer versetzt worden.«

»Du, in große Trauer, Florence?«

»Ja. Der arme Walter ist ertrunken.«

Florence breitete ihre Hände vor das Gesicht und weinte aus tiefstem Herzen. Wie viele Tränen hatte ihr nicht Walters Tod im geheimen bereitet; und sie flossen noch immer, wenn sie an ihn dachte oder von ihm sprach.

»Aber sage mir, meine Liebe«, entgegnete Edith, sie beschwichtigend, »wer war Walter, und was war er dir?«

»Er war mir ein Bruder, Mama. Als der liebe Paul starb, sagten wir uns, wir wollten Bruder und Schwester sein. Ich habe ihn lange vorher gekannt – von Kindheit an. Er kannte Paul, der ihn sehr liebte, und fast mit seinem letzten Atem sagte Paul noch: ›Vergeßt Walter nicht, lieber Papa! er ist mir lieb gewesen!‹ Walter wurde herbeigeholt, damit er ihn noch einmal sehe, und er war damals hier – in diesem Zimmer.«

»Und hat er Walter nicht vergessen?« fragte Edith ernst.

»Papa? Er bestimmte ihn für eine Reise übers Meer. Das Schiff ging unter, und er ertrank«, sagte Florence schluchzend.

»Ist ihm bekannt, daß er tot ist?« fragte Edith.

»Ich weiß es nicht, Mama. Wie sollte ich auch? Liebe Mama«, rief Florence, gleichsam Hilfe suchend, sich an sie anklammernd und ihr Antlitz an ihrem Busen verbergend, »ich weiß, Ihr habt gesehen –«

»Halt – halt, Florence!« Edith wurde so blaß und sprach so angelegentlich, daß sie nicht nötig gehabt hätte, ihre Hand auf Florences Lippen zu legen, »Erzähle mir zuerst alles von Walter, damit ich klar sehe in dieser Geschichte.«

Florence erstattete ihren Bericht bis zu der Freundschaft des Mr. Toots herunter, von dem sie sogar in ihrem Kummer kaum ohne ein tränenvolles Lächeln sprechen konnte, obschon sie sich ihm zu tiefem Dank verpflichtet fühlte. Edith hielt während der ganzen Mitteilung die Hand der Sprecherin in der ihren und hörte mit großer Aufmerksamkeit zu. Als Florence geendet, folgte ein Schweigen, das sie mit den Worten unterbrach:

»Was meinst du, das ich gesehen haben soll, Florence?«

»Daß ich«, entgegnete Florence mit derselben stummen Berufung und dem nämlichen raschen Verbergen ihres Gesichts, wie früher – »daß ich kein begünstigtes Kind bin, Mama. Ich war es nie und wußte es nie recht anzufangen, um es zu werden. Ich habe den Weg verfehlt, und es stand mir niemand zur Seite, der mir ihn wies. O laßt mich von Euch lernen, was ich tun muß, um meinem Papa lieber zu werden. Lehrt mich es – Ihr, die Ihr Euch so gut darauf versteht.«

Florence, die sich nun ihres traurigen Geheimnisses entladen sah, schmiegte sich mit einigen gebrochenen Worten glühenden liebevollen Dankes an ihre neue Mutter und weinte lange, obschon nicht so schmerzlich, wie früher, in deren Armen.

Blaß bis in die Lippen und mit einem Antlitz, das um Fassung rang, bis die stolze Schönheit desselben so starr wurde, wie der Tod, blickte Edith auf das weinende Mädchen nieder und küßte es abermals. Dann machte sie sich allmählich los und drängte Florence zurück. Ihre Haltung gewann die stolze Ruhe eines Marmorbildes, und sie erwiderte mit einer Stimme, die während des Sprechens wohl tiefer wurde, aber kein anderes Zeichen von Erregung kundgab:

»Florence, du kennst mich nicht! Verhüte der Himmel, daß du von mir lernen solltest.«

»Nicht von Euch lernen?« erwiderte Florence überrascht.

»Gott sei vor, daß ich dich lehre, wie man lieben oder geliebt werden muß!« sagte Edith. »Wenn du es mich lehren könntest, so wäre es wohl besser; aber es ist zu spät. Du bist mir so lieb, Florence. Ich hätte nicht geglaubt, daß mir irgend etwas je so lieb werden könnte, wie du mir es schon nach so kurzer Zeit bist.«

Sie bemerkte, daß Florence sprechen wollte, weshalb sie ihr mit der Hand Einhalt tat und fortfuhr:

»Ich will dir stets eine treue Freundin sein – will dich ebenso sehr, wenn auch nicht so gut pflegen, wie nur irgend jemand in dieser Welt es könnte. Du darfst mir vertrauen – ich weiß es, und sage es deshalb, mein liebes Kind – mit der ganzen Zuversicht deines reinen Herzens. Es gibt eine Menge von Frauen, die er hätte heiraten können und die in jeder andern Beziehung besser und zuverlässiger gewesen wären, als ich, Florence. Aber gewiß ist nicht eine vorhanden, deren Herz, wenn sie als seine Gattin hierhergekommen wäre, mit innigerer Treue für dich geschlagen haben würde, als das meine.«

»Ich weiß es, liebe Mama!« rief Floren«. »Von jenem ersten überglücklichen Tage an habe ich es gewußt.«

»Überglücklichen Tag?« Edith schien die Worte unwillkürlich zu wiederholen und fuhr dann fort: »Obschon mir dabei kein Verdienst zukommt, da ich nur wenig an dich dachte, bis ich dich sah, so laß mich doch den unverdienten Lohn in deinem Vertrauen und in deiner Liebe finden. Ich bitte dich darum, Florence, in der ersten Nacht, die ich hier zubringe. Ich habe meine guten Gründe, dir das zum ersten- und zum letztenmal zu sagen.«

Ohne zu wissen, warum, fürchtete sich Florence fast, ihren weiteren Worten zu folgen; sie verwandte jedoch kein Auge von dem schönen Gesicht, das stets dem ihrigen zugekehrt war.

»Suche nicht, in mir zu finden«, sagte Edith, die Hand auf ihre Brust legend, »was nicht hier ist. Wenn du anders kannst, Florence, so falle nicht von mir ab, weil es nicht hier ist. Du wirst mich allmählich besser kennenlernen, und die Zeit ist wohl nicht fern, in der du mich erkennen wirst, wie ich mich selbst erkenne. Sei dann so mild gegen mich, wie es dir möglich ist, und verwandle nicht die einzige süße Erinnerung, die mir bleiben wird, in Bitterkeit.«

Die Tränen, die in den sich nicht von Florence abwendenden Augen sichtbar wurden, zeigten, daß das ruhige Gesicht nur eine schöne Maske war. Sie behielt diese jedoch bei und fuhr fort:

»Ich habe in der Tat gesehen, was du andeutest, und weiß, wie wahr es ist. Aber glaube mir – du wirst es bald lernen, wenn du es nicht jetzt schon weißt –, auf der ganzen Erde ist niemand weniger geeignet, die Rolle einer Vermittlerin zu übernehmen, oder dir zu helfen, Florence, als ich. Frage mich nicht um den Grund – sprich nie mehr mit mir hiervon oder über meinen Mann. Wir können hier nie einen Sinnes werden, und es muß darüber zwischen uns beiden ein Schweigen herrschen, wie das des Grabes.«

Sie blieb eine Weile stumm, und Florence wagte kaum zu atmen, da trübe, unvollkommene Schatten der Wahrheit mit ihren alltäglichen Folgen in ihrer erschreckten, aber noch immer ungläubigen Einbildungskraft Schlag auf Schlag vorbeihuschten. Kaum aber hatte Edith zu sprechen aufgehört, als ihr Gesicht wieder den ruhigeren, sanften Ausdruck gewann, den es gewöhnlich zeigte, wenn sie und Florence allein waren. Sie verhüllte jetzt ihr Antlitz mit den Händen, stand auf, sagte Florence mit einer liebevollen Umarmung gute Nacht und entfernte sich rasch, ohne sich noch einmal umzuschauen. Als jedoch Florence im Bette lag und im Zimmer nur noch die Glut des fast erloschenen Feuers einiges Licht verbreitete, kehrte Edith zurück. Sie könne nicht schlafen, sagte sie, und in ihrem Ankleidezimmer sei es so einsam. Sie rückte deshalb einen Stuhl vor den Kamin und sah den ersterbenden Fünkchen zu. Florence tat das gleiche von ihrem Bett aus, bis der letzte Schimmer davon und die edle Gestalt davor mit ihrem herabfließenden Haar und den gedankenvollen Augen, die das Licht widerstrahlten, wirr und unbestimmt wurden, um sich endlich in ihrem Schlummer ganz zu verlieren.

Aber auch im Schlafe haftete an Florence ein unbestimmter Eindruck dessen, was kürzlich vorgegangen war. Er bildete den Gegenstand ihrer Träume und umspukte sie bald in einer, bald in einer andern Gestalt, aber stets beklemmend und Furcht einflößend. Es träumte ihr, sie suche ihren Vater in Wildnissen; sie folge seiner Spur nach Entsetzen erregenden Höhen hinauf, und in tiefe Gruben und Höhlen hinunter. Es liege ihr etwas Unbestimmtes auf dem Herzen, womit sie ihm ein außerordentliches Leiden abnehmen könne, obschon sie – der Grund davon wurde ihr nicht klar – nie das Ziel zu erreichen und ihn zu befreien vermochte. Dann sah sie ihn tot auf demselben Bett, in demselben Zimmer, mit dem Bewußtsein, daß er sie bis zum letzten Augenblick nie geliebt habe, und unter leidenschaftlichen Tränen sank sie an seine kalte Brust. Eine Aussicht tat sich vor ihr auf mit einem strömenden Fluß, und sie hörte eine ihr bekannte, klägliche Stimme rufen: »Er läuft fort, Floy! Er hat nie haltgemacht! Du schwimmst mit ihm!« Und sie sah ihn in der Ferne, wie er seine Arme nach ihr ausstreckte, während eine Gestalt, der Walters ähnlich, lautlos und in schauerlicher Ruhe an seiner Seite stand. Jedem dieser Gesichte gesellte sich Edith hinzu – das eine Mal ihr zur Freude, das andere Mal ihr zum Schmerz, bis sie allein nebeneinander standen an dem Rand eines schwarzen Grabes. Edith deutete darauf nieder. Sie sah hinab und erblickte – was? – eine andere Edith auf dessen Grund!

In ihrem Schrecken über diesen Traum schrie sie laut hinaus und erwachte – so glaubte sie wenigstens. Eine sanfte Stimme schien ihr ins Ohr zu flüstern: »Florence, liebe Florence, es ist nur ein Traum!« Ihre Arme ausstreckend, erwiderte sie die Liebkosungen ihrer Mama, die sodann zur Tür hinausging in das Licht des grauen Morgens. Florence richtete sich für einen Augenblick auf und machte sich Gedanken, ob das Wirklichkeit gewesen war oder nicht. Sie konnte nur ermitteln, daß der Morgen in der Tat dämmerte, daß in dem Kamin schwarze Asche lag, und daß sie allein war.

So entschwand die Nacht nach der Ankunft des glücklichen Paares in der Heimat.

Zweiundsechzigstes Kapitel.


Zweiundsechzigstes Kapitel.

Schluß.

Eine Flasche, die lang abgeschieden war vom Licht des Tages und eine dichte Hülle von Staub und Spinngeweben auf sich trägt, ist in den Strahl der Sonne gekommen, und der goldene Wein darin verbreitet einen Glanz über den Tisch.

Es ist die letzte Flasche des alten Madeira.

»Ihr habt vollkommen recht, Mr. Gills«, sagt Mr. Dombey. »Dies ist ein seltener, ein köstlicher Wein.«

Der Kapitän, der gleichfalls von der Partie ist, strahlt von Freude. Eine wahre Entzückensglorie breitet sich um seine glühende Stirn.

»Wir haben uns immer versprochen, Sir«, bemerkt Mr. Gills, »Ned und ich, meine ich –«

Mr. Dombey nickt dem Kapitän zu, der in sprachloser Wonne mehr und mehr erglänzt.

»– daß wir sie eines Tages trinken wollen, wenn Walter wohlbehalten nach Haus gekommen sei, obschon wir nie an eine solche Heimat dachten. Wenn Ihr gegen unsere alte Grille nichts einzuwenden habt, so laßt uns dieses erste Glas Walter und seiner Gattin weihen!«

»Walter und seiner Gattin!« sagt Mr. Dombey. »Florence, mein Kind« – und er beugt sich zu ihr hin, sie zu küssen.

»Walter und seiner Gattin!« sagt Mr. Toots.

»Wal’r und seiner Gattin!« ruft der Kapitän. »Hurra!«

Und der Kapitän zeigt große Lust, mit seinem Glas gegen ein anderes anzustoßen, worauf Mr. Dombey bereitwillig das seine hinhält. Die andern folgen. Es klingt so heiter und schön wie Hochzeitglocken.

Anderer begrabener Wein wird älter, wie der alte Madeira seinerzeit tat, und Staub und Spinngewebe häufen sich auf den Flaschen.

Mr. Dombey ist ein weißhaariger Gentleman, dessen Gesicht tiefe Spuren von Sorge und Leiden trägt; aber sie sind die Reste eines Sturms, der für immer vorübergegangen ist und einen klaren Abend zurückließ.

Ehrgeizige Pläne beunruhigen ihn nicht mehr. Seine Tochter und ihr Gatte sind sein einziger Stolz. Er hat ein ruhiges, stilles, gedankenvolles Wesen angenommen und ist stets um seine Tochter. Miß Tox besucht die Familie häufig, ist ihr sehr zugetan und sehr beliebt. Ihre Bewunderung vor dem einst so stattlichen Gönner war von dem Morgen der Erschütterung auf dem Prinzessinnenplatze an platonisch, ohne übrigens auch nur im mindesten nachzulassen.

Aus dem Schiffbruch seines Wohlstandes ist ihm nichts geblieben als eine gewisse jährliche Summe, die ihm, er weiß selbst nicht wie, mit der dringenden Bitte, daß er nicht nachforschen möchte, und mit der Versicherung zukommt, sie sei eine Schuld und ein Akt der Vergütung. Er hat sich mit seinem alten Buchhalter darüber beraten, und dieser ist der Überzeugung, daß sie mit Ehren angenommen werden könne, denn ohne allen Zweifel rühre sie von irgendeinem vergessenen Geschäft aus den Zeiten des alten Hauses her.

Der braunäugige Junggeselle, jetzt nicht mehr ein Junggeselle, ist verheiratet, und zwar mit der Schwester des grauhaarigen Junior. Er besucht bisweilen seinen alten Prinzipal, aber selten. In der früheren Geschichte des grauhaarigen Junior, noch mehr aber in seinem Namen liegt ein Grund, warum er sich von seinem alten Dienstherrn fernhält, und da er bei seiner Schwester und ihrem Gatten wohnt, so teilen sie diese Zurückgezogenheit. Walter kommt bisweilen zu ihnen – auch Florence – und das heitere Haus ertönt dann von tief aufgefaßten, für das Piano und Violoncello eingerichteten Duetten und von den Anstrengungen fröhlicher Hammerschmiede.

Und wie geht es dem hölzernen Midshipman in diesen veränderten Zeiten? Je nun, er hat es noch immer, den rechten Fuß voran, scharf auf die Kutschen abgesehen und benimmt sich dabei eifriger als je, da er von dem Eckenhut an bis zu den Schnallenschuhen hinunter einen frischen Anstrich erhalten hat. Über ihm liest man in goldenen Buchstaben die funkelnden Namen GILLS and CUTTLE.

Außer seinem gewöhnlichen leichten Geschäft tut der Midshipman keinen weiteren Zug. Aber man erzählt sich in einem weiten Kreise um den blauen Regenschirm auf dem Leadenhall-Markt, daß einige von Mr. Gills‘ alten Kapitalien wunderbar gut einliefen und daß der Instrumentenmacher, statt wie er gemeint hatte, in dieser Beziehung hinter der Zeit zurückzubleiben, ihr in Wahrheit ein wenig vorgeeilt sei und die Erfüllung derselben noch zu erwarten habe. Es geht das Geflüster, Mr. Gills‘ Geld habe angefangen zu roulieren, und es rolle immer recht hübsch. So viel ist gewiß, daß es, wenn er in seinem kaffeefarbigen Anzug mit dem Chronometer in der Tasche und der Brille auf der Stirn vor der Ladentür steht, nicht den Anschein hat, als breche ihm bei dem Ausbleiben der Kunden das Herz, denn er sieht recht heiter und zufrieden, wenngleich ganz so neblig aus, wie vor alters.

Was seinen Associé betrifft, so trägt sich der Geist des Kapitäns mit der Fiktion eines Geschäftes, die bei ihm mehr verfängt, als jede Wirklichkeit. Der Kapitän ist von der Bedeutsamkeit des Midshipman für den Handel und die Schiffahrt des Landes so überzeugt, daß er’s nicht in einem höheren Grade hätte sein können, wenn jedes Schiff, das den Hafen von London verließ, zuvor den Beistand des Midshipman hätte annehmen müssen. Sein Entzücken über seinen Namen auf dem Schild der Firma ist unerschöpflich. Er geht wohl zwanzigmal des Tags über den Weg hinüber, um ihn von der andern Seite der Straße aus anzusehen, und sagt bei solchen Gelegenheiten unabänderlich: »Ed’ard Cuttle, mein Junge, wenn deine Mutter gewußt hätte, daß du je ein Mann der Wissenschaft werden würdest, wie wäre da die gute alte Kreatur nicht an den Mast zurückgeworfen worden!«

Doch da kommt mit ungestümer Eile Mr. Toots auf den Midshipman herunter und stürzt mit glutrotem Gesicht in das kleine Wohnstübchen.

»Kapitän Gills«, sagt Mr. Toots, »und Mr. Sols. Ich bin so glücklich, Euch mitteilen zu können, daß Mrs. Toots einen Zuwachs ihrer Familie erhalten hat.«

»Das macht ihr Ehre!« ruft der Kapitän.

»Ich wünsche Euch Glück, Mr. Toots!« sagt der alte Sol.

»Danke Euch«, kichert Mr. Toots, »ich bin Euch sehr verbunden. Ich wußte, daß Euch diese Kunde freuen würde, und bin deshalb selbst gekommen. Ihr wißt, es geht bei uns vorwärts. Da ist die Florence, die Susanne, und jetzt kommt wieder ein kleiner Fremdling.«

»Ein weiblicher Fremdling?« fragt der Kapitän.

»Ja, Kapitän Gills«, sagt Mr. Toots, »und ich freue mich darüber. Ich bin der Ansicht, je öfter wir diese außerordentliche Frau wiederholen können, desto besser ist’s.«

»Halt!« ruft der Kapitän, sich nach der alten Korbflasche ohne Hals wendend – denn es ist Abend und der Midshipman hat seinen gewöhnlichen mäßigen Vorrat von Pfeifen und Gläsern an Bord. »Ich bringe ihr dies, und mögen noch ebenso viele nachfolgen!«

»Danke, Kapitän Gills«, sagt der entzückte Mr. Toots. »Ich wiederhole diesen Trinkspruch. Wenn Ihr mir’s erlaubt, so will ich eine Pfeife nehmen, da dies unter den Umständen niemandem unangenehm sein kann.«

Mr. Toots beginnt zu rauchen und wird in der Offenheit seines Herzens sehr redselig.

»Unter all den merkwürdigen Proben, die die herrliche Frau von ihrem vortrefflichen Verstand abgelegt hat, Kapitän Gills und Mr. Sols«, sagt Toots, »ist meiner Ansicht nach keine merkwürdiger, als die Vollkommenheit, womit sie meine Verehrung der Miß Dombey begreift.«

Beide Zuhörer stimmen zu.

»Denn Ihr wißt«, sagt Mr. Toots, »daß ich meine Gesinnungen gegen Miß Dombey nie geändert habe. Sie sind stets die gleichen. Sie erscheint mir noch immer als derselbe schöne Traum, wie zu der Zeit, ehe ich Walters Bekanntschaft machte. Als Mrs. Toots und ich zum erstenmal zu sprechen anfingen von – mit einem Wort, von der zarten Leidenschaft, wißt Ihr, Kapitän Gills.«

»Ja, ja, mein Junge«, bemerkt der Kapitän, »die uns alle treibt – seht darüber nach in dem Buch –«

»Ich werde es sicherlich nicht versäumen, Kapitän Gills«, sagt Mr. Toots mit großem Ernst. »Als wir zum erstenmal von solchen Dingen zu sprechen begannen, erklärte ich ihr, daß ich das sei, was man eine geknickte Blume nennen kann.«

Der Kapitän zollt dieser Redefigur großen Beifall und murmelt, daß keine Blume, die da blühe, der Rose zu vergleichen sei.

»Aber Gott behüte mich«, fuhr Mr. Toots fort, »sie kannte den Zustand meiner Gefühle gerade so gut, wie ich selbst. Es gab nichts, was ich ihr sagen konnte. Sie war die einzige Person, die zwischen mich und das schweigende Grab zu treten vermochte, und sie tat es in einer Weise, die mir ewige Bewunderung auflegt. Sie weiß, daß es niemand in der Welt gibt, zu dem ich aufblicken könnte, wie zu Miß Dombey. Sie weiß, daß nichts auf Erden ist, was ich nicht für Miß Dombey tun würde. Sie weiß, daß ich sie als die Schönste und Liebenswürdigste, als einen wahren Engel ihres Geschlechts betrachte. Was sagt sie darüber? Ein neuer Beweis von der Vollkommenheit ihres Verstandes. ›Mein Lieber, du hast recht. Ich denke auch so.‹«

»Und ich ebenfalls!« pflichtete der Kapitän bei.

»Ich desgleichen«, sagte Sol Gills.

»Ferner«, nimmt Mr. Toots wieder auf, nachdem er eine Weile nachdenklichst an seiner Pfeife gesogen und in seinem Gesicht das zufriedenste Nachdenken ausgedrückt hatte, »wie aufmerksam meine Frau ist! Welchen Scharfsinn sie besitzt! Welche Bemerkungen sie macht! Erst gestern abend, als wir in der Freude ehelichen Glücks beisammen saßen – auf Ehre, dies ist nur ein schwacher Ausdruck, um meine Gefühle in der Gesellschaft meiner Frau anzudeuten – sagte sie, wie merkwürdig es sei, die gegenwärtige Lage unseres Freundes Walter zu betrachten. ›Er ist hier‹, sagte sie, ›und braucht nach jener ersten langen Reise mit seiner jungen Frau nicht mehr über See zu gehen‹ – Ihr wißt, daß dies der Fall ist, Mr. Sols.«

»Ganz richtig«, sagt der alte Instrumentenmacher, seine Hände reibend.

»›Dessen ist er unmittelbar darauf entbunden worden‹, sagt meine Frau, ›und er hat in demselben Geschäft eine Stelle gefunden, bei welcher ihm viel anvertraut wurde. Er zeigte sich derselben wieder würdig, erstieg mit großer Schnelle die Leiter, ist von jedermann geliebt und wird von seinem Onkel nach Vermögen unterstützt‹ – ich glaube, dies ist der Fall, Mr. Sols? Meine Frau hat immer recht.«

»Nun ja, ja – einige von unseren verlorenen Goldschiffen sind in der Tat wieder angelangt«, entgegnet der alte Sol lachend. »Kleine Fahrzeuge, Mr. Toots, aber doch meinem Jungen nützlich.«

»Ganz richtig!« sagt Mr. Toots. »Ihr werdet meine Frau nie auf einem unrechten Weg erwischen. ›Er befindet sich jetzt in einer solchen Lage‹, sagt dieses höchst merkwürdige Weib, ›und was folgt daraus? Was folgt?‹ bemerkte Mrs. Toots. Jetzt bitte ich acht zu geben, Kapitän Gills und Mr. Sols, wie tief die Auffassung meiner Frau ist. ›Je nun, daß unter Mr. Dombeys Augen ein Grund gelegt wird, auf dem allmählich ein – ein Gebäude‹ – so lautete das Wort, dessen Mrs. Toots sich bediente«, sagt Mr. Toots jubelnd, »›sich erhebt, vielleicht ebenso groß, vielleicht noch größer, als dasjenige, an dessen Spitze er ehemals stand und dessen kleiner Anfang ihm (ein gewöhnlicher, aber sehr schlimmer Fehler, sagt Mrs. Toots) in Vergessenheit geraten war. So‹, sagte meine Frau, ›wird am Ende von seiner Tochter ein anderer Dombey und Sohn entstehen‹ – nein ›ausgehen‹, dies war das Wort, dessen Mrs. Toots sich bediente – ›und im Triumph sich zeigen!‹«

Unter dem Beistand der Pfeife, die Mr. Toots recht gern zu oratorischen Zwecken braucht, weil die gewöhnliche Benutzung derselben in ihm ein sehr unbehagliches Gefühl erregt, läßt er der Prophezeiung seiner Frau so großartige Gerechtigkeit widerfahren, daß der Kapitän im Zustande wildester Aufregung seinen Glanzhut wegwirft und ausruft:

»Sol Gills, Mann der Wissenschaft und mein alter Geschäftsteilhaber, was hieß ich Walter am selbigen Abend überholen, als er zum erstenmal auf das Bureau ging? War es nicht die Zitation: Kehr um, Whittington, Lord-Mayor von London, und wenn du alt bist, wirst du nie mehr daraus weichen. Waren es nicht diese Worte, Sol Gills?«

»Jawohl, Ned«, entgegnet der alte Instrumentenmacher. »Ich erinnere mich ihrer noch gut.«

»Dann will ich Euch was sagen«, erwidert der Kapitän, sich in seinen Stuhl zurücklehnend und seinen Brustkasten zu einem denkwürdigen Gebrüll ausdehnend. »Ich will die liebliche Peg ganz durchsingen, und ihr beide stimmt ein als Chor!«

Eingegrabener Wein wird älter, wie seinerzeit der alte Madeira tat, und Staub und Spinngewebe häufen sich auf den Flaschen.

Die Herbsttage sind schön, und am Seeufer sieht man oft eine junge Frau und einen weißhaarigen Gentleman. Um sie her tummeln sich zwei Kinder, ein Knabe und ein Mädchen, und ein alter Hund ist in der Regel ihre Gesellschaft.

Der weißhaarige Gentleman führt den kleinen Knaben, spricht mit ihm, hilft ihm in seinen Spielen und schenkt ihm so viele Aufmerksamkeit, als ob dies die ganze Aufgabe seines Lebens sei. Wenn der Knabe gedankenvoll ist, wird es der weißhaarige Gentleman gleichfalls, und bisweilen, wenn das Kind an seiner Seite sitzt, zu seinem Gesicht aufblickt und Fragen an ihn stellt, ergreift er die kleine Hand, hält sie fest und vergißt zu antworten. Das Kind sagt dann:

»Wie, Großpapa, habe ich wieder so große Ähnlichkeit mit meinem armen kleinen Onkel?«

»Ja, Paul. Aber er war schwächlich, und du bist sehr kräftig.«

»O ja, ich bin sehr kräftig.«

»Und er lag auf einem kleinen Bett am Meeresufer, und du kannst umherspringen.«

Und so gehen wir wieder weiter, denn der weißhaarige Gentleman liebt es, wenn das Kind frei sich umhertummelt, und während sie so zusammengehen, umschwebt sie die Geschichte des Bundes zwischen ihnen und folgt ihnen auf dem Fuße.

Aber niemand als Florence kennt das Übermaß, mit dem der weißhaarige Gentleman das Mädchen liebt. Diese Geschichte wagt sich nie ins Freie. Das Kind selbst wundert sich fast über ein gewisses Heimlichtun, das sich dabei kundgibt. Er bewahrt sie in seinem Herzen und kann es nicht ertragen, wenn eine Wolke auf dem Gesicht des Mädchens liegt. Er kann nicht mit ansehen, wenn sie allein dasitzt, und meint eine Vernachlässigung zu bemerken, wo weit und breit von nichts derart die Rede ist. Er schleicht fort, um sie in ihrem Schlaf zu betrachten, und es tut ihm wohl, wenn sie am Morgen kommt und ihn weckt. Am liebevollsten und zärtlichsten ist er gegen sie, wenn sie allein sind. Die Kleine fragt dann bisweilen:

»Lieber Großpapa, warum weint Ihr, wenn Ihr mich küßt?«

Er antwortet nur: »Kleine Florence!« und streicht die Locken zurück, die ihre ernsten Augen beschatten.

Ende.

Fünfundfünfzigstes Kapitel.


Fünfundfünfzigstes Kapitel.

Rob, der Schleifer, verliert seine Stelle.

Der Pförtner an der eisernen Gittertür, der den Hof von der Straße absperrte, hatte das kleine Pförtchen seines Hauses offen gelassen und war fortgegangen, ohne Zweifel, um bei dem fernen Lärm an der Tür des Treppenhauses mitzuwirken. Mr. Carker drückte leise auf die Klinke, schlich hinaus, machte das klirrende Pförtchen so geräuschlos wie möglich wieder zu und eilte hinweg.

In dem Fieber seines Verdrusses und einer nutzlosen Wut hatte der Schrecken, der sich seiner bemächtigt, ihn ganz und gar überwältigt und sich zu einer Höhe gesteigert, daß er lieber blindlings fast jede andere Gefahr als die eines Zusammentreffens mit dem Manne bestanden hätte, der ihm vor zwei Stunden noch so gleichgültig gewesen war. Die so unerwartete Ankunft desselben, der Ton seiner Stimme und eine Nähe, die sie fast Angesicht vor Angesicht zusammengeführt hatte, – alledem würde er nach der ersten Erschütterung kühn entgegengetreten sein; denn es fehlte ihm nicht an der kecken Stirn eines Schurken. Aber das Zurückspringen seiner Mine auf ihn selbst schien alle seine Dreistigkeit und Zuversicht zerrissen zu haben. Gleich einem Wurm verachtet, in die Schlinge gelockt und verhöhnt, von dem stolzen Weib niedergetreten, dessen Geist er langsam vergiftet hatte, bis es seiner Ansicht nach zu einem bloßen Werkzeug seiner Lust heruntergesunken war, erwacht aus seiner Täuschung und des Fuchspelzes entkleidet, schlich er scheu, beschämt und herabgewürdigt von dannen.

Ein anderer Schrecken, der mit seinem Verfolgtwerden nichts zu schaffen hatte, erschütterte ihn plötzlich wie ein elektrischer Schlag, als er in den Straßen weiterging – ein träumerischer Schrecken, unverständlich und unerklärbar, aber im Zusammenhang stehend mit einem Zittern des Bodens – mit dem Rauschen und Fegen von etwas durch die Luft, als trüge es den Tod auf seinem Fittich. Er wich zurück, als wolle er das Ding vorüberlassen. Es war nicht fort, war nie dagewesen und wirkte doch wie ein nachhaltiges Entsetzen.

Er erhob das schnöde, unruhvolle Gesicht zu dem Nachthimmel, wo die Sterne so friedlich auf ihn niederschienen wie in dem Augenblick, als er ins Freie hinausgetreten war, und blieb stehen, um über seine nächsten Schritte nachzudenken. Die Furcht, an einem fremden, fernen Orte verfolgt zu werden, wo die Gesetze ihn vielleicht nicht schützten – die Neuheit des Gefühls, daß es wirklich ein fremder, ferner Ort sei, an dem er plötzlich so allein stehe mitten in den Trümmern seiner Pläne – die noch größere Furcht, jetzt eine Zuflucht in Italien oder Sizilien zu suchen, wo, wie er meinte, an jeder dunkeln Straßenecke Meuchelmörder gegen ihn gedungen werden konnten – die Verkehrtheit des Schuldbewußtseins – vielleicht auch der Wunsch, wie seinen Plänen, so auch dem Schauplatze, auf dem sie zur Ausführung kommen sollten, den Rücken zu kehren – alles dies bestimmte ihn, den Heimweg nach England anzutreten.

»Jedenfalls bin ich dort sicherer«, dachte er. »Wenn ich diesem Narren nicht gerade absichtlich entgegentreten will, wird er mich in England weit weniger ausspüren als jetzt hier. Und sollte ich, nachdem dieser verwünschte Anfall vorüber ist, ihm begegnen, so stehe ich wenigstens nicht allein und ohne irgendeine Seele, die mir raten oder Beistand leihen kann. Ich werde dann nicht niedergerannt und gewürgt wie eine Ratte.«

Er murmelte Ediths Namen und ballte seine Hand. Während er im Schatten der hohen Gebäude weiterschlich, knirschte er mit den Zähnen, rief fürchterliche Verwünschungen über ihr Haupt herunter und sah sich überall um, als ob er sie suche. So gelangte er an die Tür eines Gasthauses. Die Leute lagen in ihren Betten: aber sein Klingeln rief bald einen Mann mit einer Laterne herbei, mit dem er sich sogleich nach einem dunkeln Kutschenschuppen begab, um einen alten Reisewagen nach Paris zu mieten.

Der Handel war bald im reinen, und es wurde nach den Pferden geschickt. Er hinterließ die Weisung, daß der Wagen, sobald er eingespannt sei, ihm nachfolgen solle, und schlich wieder weiter zur Stadt hinaus, an den alten Wällen vorbei und in die offene Straße, die die dunkle Ebene entlang hinzugleiten schien gleich einem Strom.

Wohin floß er? Wo hörte er auf? Als er auf eine solche Mahnung in seinem Innern hin stehen blieb und über die düstere Fläche schaute, wo die schmächtigen Bäume den Weg bezeichneten, kam abermals jener Flug des Todes herangerauscht und entschwand wieder ungestüm und widerstandslos, in seiner Seele nichts als ein Entsetzen zurücklassend, das ebenso dunkel wie die Landschaft und so unbestimmt wie ihr fernster Horizont war.

Es war windstill. Kein Laut regte sich, und im Dunkel der Nacht ließ sich nirgends ein flüchtiger Schatten bemerken. Die Stadt lag hinter ihm. Hier und da blinkte ein Licht, und Welten von Sternen bargen sich hinter dem Gemäuer des Kirchturms und des Daches, die sich kaum gegen den Himmel abzugrenzen schienen. Überall um ihn her Düsternis und Einsamkeit. Die Glocken schlugen in matten Tönen zwei.

Er ging, wie er meinte, lang und weit und machte hin und wieder halt, um zu lauschen. Endlich schlug das Klingeln von Pferdeglocken an sein ängstlich harrendes Ohr. Bald leiser, bald wieder lauter, das eine Mal unhörbar, das andere Mal langsam über schlechten Grund hinläutend, dann aber rasch und heiter herankommend, bis unter lautem Geschrei und Peitschenknallen ein schattenhafter, bis an die Augen eingehüllter Postknecht die vier schnaubenden Rosse neben ihm haltmachen ließ.

»Wer geht da? Monsieur?«

»Ja.«

»Monsieur hat einen weiten Weg gemacht in der dunkeln Nacht.«

»Was macht das aus? Jeder nach seinem Geschmack. Wurden in dem Posthaus noch andere Pferde bestellt?«

»Tausend Teufel! – Ah, Pardon! Andere Pferde? Zu solcher Stunde? Nein.«

»Hört mich an, mein Freund. Ich habe Eile. Wir wollen sehen, wie schnell wir reisen können. Je schneller, desto besser das Trinkgeld. Fort also – rasch!«

»Hi! Wupp! Halloh! Hi!«

Und dahin ging es über die nachtumhüllte Landschaft, während der Staub und Kot umhersprühten.

Das Gerassel und die Erscheinung bildeten ein Echo zu dem wirren Jagen der Gedanken des Flüchtlings. Außen nichts klar und in seinem Innern nichts klar. Gegenstände zuckten vorbei, ineinander übergehend und nur matt unterscheidbar, um sich schnell dem Blicke wieder zu entziehen! Jenseits der wechselnden Streifen von Zaun und Bauernhäusern, die unmittelbar an der Straße lagen, dehnte sich eine schwarze Wüste aus. Jenseits der schnell sich folgenden Bilder, die in seinem Geist aufstiegen und fast ebenso schnell wieder verschwanden, lag nur eine schwarze Öde von Furcht, Zorn und enthüllter Schurkerei. Gelegentlich kam ein seufzender Luftzug von dem fernen Jura her und verschwebte auf der Ebene. Bisweilen bemächtigte sich seiner Einbildungskraft jenes wild schreckliche Getöse, rauschte an ihr vorbei und ließ sein Blut fast zu Eis erstarren.

Die Lampen, die nach dem Gewirr von Pferdeköpfen hinblinkten und ihr Licht an dem schattenhaften Kutscher und seinem eigenen flatternden Mantel brachen, ließen tausend unbestimmte Gestalten auftauchen, die seinen Gedanken entsprachen. Schatten von bekannten Personen, die in der gewohnten Haltung sich über ihre Pulte und Bücher niederbeugten, – die gespenstischen Umrisse des Manns, vor dem er floh, oder Ediths – in dem Läuten der Glocken und in dem Rollen der Räder wiederholte Worte, die ehedem gesprochen worden waren – Verwechslungen von Ort und Zeit, die ihm die letzte Nacht um einen Monat früher erscheinen ließen, und die Zeit vor einem Monat auf die letzte Nacht verlegten – Verwirrung, Zwiespalt, hastiges Jagen und trostlose Dunkelheit in seiner Seele sowohl als rings um ihn her. – Halloh! Hi! fort im Galopp über die nachtumhüllte Landschaft: Staub und Kot wie Sprüh auffliegend, die dampfenden Pferde schnaubend und ausschlagend, als würden sie von Dämonen geritten, fort in wahnsinnigem Triumph auf dem dunkeln Weg – wohin?

Wieder bemächtigte sich seiner das namenlose Entsetzen, und als es vorüber war, läuteten ihm die Glocken in die Ohren: »Wohin?« Die Räder rasselten ihm zu: »Wohin?« Das ganze Getöse des Fahrens wandelte sich in die gleiche Frage um. Die Lichter und Schatten tanzen auf den Köpfen der Pferde wie Kobolde. Nur jetzt nicht halt! Nur jetzt nicht langsamer! Vorwärts, vorwärts! Wild fort mit ihm auf dem dunkeln Wege!

Er konnte nicht im Zusammenhang denken, konnte nicht einen einzigen Gegenstand, den er sah, hinreichend von dem andern trennen, um ihn nur für eine Minute gesondert festzuhalten. Die Vereitelung seines Plans, sich für früheren Zwang durch üppiges Wohlleben zu entschädigen, und der schlimme Ausgang seines Verrats gegen einen Mann, der treu und großmütig gegen ihn gewesen war, aber dessen stolze Worte und Blicke er seit Jahren mit Interesse zusammengespart hatte – denn falsche, schlaue Menschen verachten stets im geheimen den Gegenstand, dem sie schmeicheln, und blicken mit Ingrimm auf die gezollten Huldigungen, obschon sie wissen, daß sie nur wertlos sind –, das waren die Vorstellungen, die in seinem Geiste die Oberhand gewannen. Eine lauernde Wut gegen die Frau, die ihn so verlockt und sich an ihm gerächt hatte, wich nicht aus seiner Seele. Rohe, verzerrte Entwürfe der Vergeltung fluteten in seinem Hirn, aber nichts gewann Bestimmtheit. In allen seinen Gedanken herrschte, sich überstürzend, Hast und Widerspruch. Sogar während er sich ohne Unterlaß mit diesen fieberhaften, erfolglosen Betrachtungen trug, siegte stets die eine Idee, er wolle ein wirksames Nachdenken auf eine unbestimmte Zeit verschieben.

Dann erinnerte er sich der früheren Tage vor der zweiten Hochzeit. Er dachte an seine Eifersucht gegen den Knaben, an seine Eifersucht gegen das Mädchen und an die Arglist, mit der er alle Aufdringlinge ferngehalten und um den Betörten einen Zauberkreis gezogen hatte, den niemand als er überschreiten sollte. Und nun die Vorstellung, daß er all das getan hatte, um jetzt wie ein verschüchterter Dieb vor dem verachteten Geschöpfe zu fliehen, das in seinen Augen dieser arme Betörte war!

Er hätte um dieser Feigheit willen selbst Hand an sich legen mögen. Aber sie war der Schatten seiner Niederlage und konnte nicht von ihr getrennt werden. Die Tatsache, daß das Vertrauen zu seiner eigenen Schurkerei mit einem einzigen Schlag so zerschmettert worden, und daß er, wie er sich sagen mußte, bei der Rache des Weibes eine so erbärmliche Rolle gespielt hatte, wirkte lähmend auf ihn. Mit ohnmächtiger Wut tobte er gegen Edith; er haßte Mr. Dombey, haßte sich selbst, aber floh immer weiter, ohne etwas anderes tun zu können.

Wieder und wieder lauschte er auf den Ton von Rädern hinter sich. Wieder und wieder glaubte er ihn immer lauter herankommen zu hören. Endlich war er so überzeugt davon, daß er ein »Halt!« ausrief, weil er sogar den Verlust eines Vorsprungs einer solchen Ungewißheit vorzog.

Der Ruf brachte Wagen, Pferde und Kutscher in einen Haufen zusammen auf der Straße.

»Zum Teufel!« rief der Postillon, über seine Schultern zurückschauend. »Was gibt es?«

»Hört! was ist dies?«

»Was?«

»Das Geräusch.«

»So sei doch ruhig, verwünschter Lümmel!« Das galt einem Pferd, das seine Glocken schüttelte. »Welches Geräusch?«

»Hinter uns. Ist es nicht ein anderer Wagen im Galopp? Hört Ihr es? Was war dies?«

»Du Halunke mit deinem Schweinskopf, so steh doch stille!« Anrede an ein anderes Pferd, das seinen Nachbar biß und die beiden hinteren so einschüchterte, daß sie ausschlugen und rückwärts schoben. »Es ist weit und breit nichts.«

»Nichts?«

»Nein, nichts als der Tag dort.«

»Ich glaube, Ihr habt recht. Ich höre jetzt auch nichts mehr. Fahrt weiter.«

Die verstrickte Equipage, die in der von den Pferden ausströmenden Dampfwolke halb verborgen ist, geht anfangs nur langsam vorwärts, denn der Kutscher, der unnötigerweise aufgehalten worden, nimmt verdrießlich ein Taschenmesser heraus und knüpft eine neue Schnur in seine Peitsche. Dann »halloh, hupp! hallo, hi!« und nun wieder wildes Jagen.

Die Sterne verblichen, und der Tag dämmerte herauf. Er erhob sich in dem Wagen, und als er zurückschaute, konnte er über die ganze weite Fläche hin, die er zurückgelegt hatte, keine Spur von einem weiteren Reisenden unterscheiden. Es wurde heller und heller.

Die Sonne begann über die Kornfelder und Weinberge hinzuleuchten. Hier und da zeigten sich einzelne Arbeiter, die sich aus den Steinhaufen an der Straße jeweilige Nachtherbergen gemacht hatten und jetzt zur Ausbesserung des Weges ihrem Geschäft nachgingen oder ihr Frühstück verzehrten. Gelegentlich ließen sich auch Bauern erblicken, die ihre Tagesarbeit aufsuchten, nach dem Markt gingen oder von den Türen ihrer ärmlichen Hütten aus den Vorüberfahrenden nachschauten. Endlich zeigte sich ein knöcheltief im Schmutz liegender Posthof mit dampfenden Dunghaufen und großen, halb verfallenen Außengebäuden; neben diesem appetitlichen Anblick ein großes, altes, schattenloses, aus Stein gebautes Schloß, dessen Fenster halb geblendet waren, während grüne Schlinggewächse von der Terrassen-Balustrade an bis zu den schmalen Spitzen der lichtlöscherartigen Türmchen hinauf träge über das Gemäuer hinkrochen.

Er drückte sich düster in eine Ecke des Wagens, nur auf ein schnelles Fortkommen bedacht, obschon er zuweilen, wenn die Gegend freier wurde, während langer Strecken aufstand und rückwärts schaute. So setzte er seine Reise fort, noch immer von den gleichen irren Gedanken gequält und einen endgültigen Entschluß auf unbestimmte Zeit verschiebend.

Scham, getäuschte Erwartung und das Bewußtsein seiner Niederlage fraß ihm am Herzen, während die Furcht, eingeholt zu werden oder jemandem zu begegnen, – denn er scheute sich sogar vor den Reisenden, die von der Richtung herkamen, in der er fuhr, – ihn keinen Augenblick verließ. Dasselbe unerträgliche Entsetzen, das ihn während der Nacht angewandelt hatte, kehrte auch bei Tag mit ungeschwächter Kraft wieder. Das eintönige Klingeln der Glocken und das Stampfen der Pferde, die Eintönigkeit in seiner Angst und nutzlosen Wut, der eintönige Kreislauf von Furcht, Verdruß und Leidenschaftlichkeit – all das lastete ertötend auf ihm und machte ihm die Reise zu einem Traumgesicht, in dem nichts wirklich war als die Qual seines Innern.

Sie war ein Gesicht von langen Straßen, an einem Horizont sich hinerstreckend, der immer zurückwich und sich nie erreichen ließ – von schlecht gepflasterten, hügeligen Städten, in denen Gesichter an die dunkeln Türen und schlecht verglasten Fenster kamen, wo Reihen von mit Kot bespritzten Kühen und Ochsen in den langen, schmalen Straßen zum Verkauf angebunden waren, während dem blökenden und um sich stoßenden Vieh von derben Knütteln die dicken Köpfe fast eingeschlagen wurden – von Brücken, Kreuzen, Kirchen, Posthöfen, frischen Pferden, die gegen ihren Willen eingespannt wurden, und Pferden der letzten Station, die dampfend und keuchend an den Stalltüren kläglich die Köpfe sinken ließen – von kleinen Kirchhöfen mit schräg in die Gräber eingesetzten schwarzen Kreuzen, die mit welken Kränzen behangen waren – und wieder von langen, langen Straßen, die bergauf und bergab sich hinzogen nach dem tückischen Horizont.

Von Morgen, Mittag und Sonnenuntergang – von Nacht und dem Aufgehen der Mondsichel – von zurückgelegten langen Straßen und einem erreichten rauhen Pflaster – von dem Hinklappern über dieses und dem Aufblicken nach einem großen Kirchturm hinter den Dachgiebeln – von Aussteigen, hastigem Einnehmen eines Mahles und Weinflaschen, die keinen erheiternden Einfluß zu üben vermochten – vom Gehen durch einen Bettlerhaufen, von blinden Männern mit zuckenden Augenlidern, denen die sie führenden alten Weiber Lichter vors Gesicht hielten, blödsinnigen Mädchen, Lahmen und Fallsüchtigen – von Wiedereinsteigen und Niederschauen auf die aufwärts gekehrten Gesichter und die ausgestreckten Hände, mit der hastigen Furcht, darunter einen vorwärts drängenden Verfolger zu erkennen – von Weitergaloppieren auf dem langen, langen Weg, betäubt und in die Ecke geduckt oder wieder aufstehend, um zu sehen, wo der Mond meilenweit eine Strecke desselben endlosen Pfades erhellte, oder zurückschauend, ob niemand nachkomme.

Von fliehendem Schlaf und nur zeitweiligem Nicken mit ungeschlossenen Augen – von plötzlichem Auffahren und einer lauten Antwort auf eine eingebildete Stimme. Von Selbstverwünschungen, weil er da war, weil er geflüchtet, weil er sie hatte gehen lassen, weil er nicht stolz und trotzig ihm entgegengetreten. Von einem tödlichen Streit mit der ganzen Welt, aber hauptsächlich mit sich selbst. Von einem Fluch, den seine düstere Stimmung über die ganze Natur brachte, während er rasch dahingetragen wurde.

Es war ein fiebriges Gesicht von Dingen der Vergangenheit und Gegenwart, alles bunt durcheinandergemischt, sein Leben und seine Reise ineinander verflossen. Von einem tollen Jagen nach irgendeinem Ort, wohin er gelangen mußte, von alten Schauplätzen unter den neuen auftauchend, durch die er hinflog. Von Grübeln über etwas Vergangenes und Fernes mit einer scheinbaren Unachtsamkeit auf die Umgebung, obschon er sich in erschöpfender Weise bewußt wurde, daß sie seine Gedanken verwirrte und mit ihren Bildern noch sein glühendes Gehirn erfüllte, nachdem sie längst entschwunden war.

Ein Gesicht von Wechsel auf Wechsel, und noch immer dasselbe eintönige Geklingel, dasselbe Rasseln von Rädern und Stampfen von Hufen, ohne sich Ruhe zu gönnen. Von Stadt und Land, Posthöfen, Pferden, Kutschen, Berg und Tal, Licht und Finsternis, Straße und Pflaster, Höhen und Tiefen, nassem und trockenem Wetter, und noch immer das einförmige Getön von Glocken, Rädern und Roßhufen, das ohne Unterlaß fortfuhr. Ein Gesicht, das endlich die sich nahende, noch ferne Hauptstadt gewahren ließ. Auf belebteren Wegen – ein Gesicht – von Vorbeifahren an alten Kirchen, von Rasseln durch kleine Städte und Dörfer, die weniger spärlich als früher die Straße säumten, und vom Sitzen in der Ecke, den Mantel über das Gesicht gezogen, während die Vorübergehenden nach ihm hinschauten.

Von Weiter- und weiterrollen, stets das Nachdenken aufschiebend, und stets von Gedanken gequält – von einer Unfähigkeit, die auf der Reise zurückgelegten Stunden zu berechnen oder die Zeit- und Wegabschnitte zu begreifen. Von einer am Gaumen klebenden Zunge, von unwillkürlichem Vorwärtsdrängen, als ob er nicht halten könne, und von der Ankunft in Paris, wo der trübe Fluß ungestört rasch dahineilte zwischen den lärmenden Strömen des Lebens und der Geschäftigkeit.

Dann ein verwirrtes Gesicht von Brücken, Kais und Straßen, die kein Ende nehmen wollten – von Weinhäusern, Wasserträgern, großen Volksmassen, Soldaten, Kutschen, kriegerischen Trommeln und Arkaden. Von der Eintönigkeit der Glocken, der Räder und Roßhufe, die sich endlich in dem allgemeinen Lärm und im Getümmel verloren. Von allmählichem Aufhören dieses Getöses, als er in einem andern Wagen bei der entgegengesetzten Sperre die Stadt wieder verließ. Dann, als er wieder der Seeküste zueilte, von Wiederkehr der eintönigen Glocken, Räder und Roßhufe ohne Unterlaß. Von Morgenrot, Tagesanbruch und aufgehender Sonne, von langsamem Berganfahren und oben von dem Gefühl der frischen Seebrise, von dem Anblick des Morgenlichtes auf den Kämmen der fernen Wellen. Vom Anlangen in einem Hafen, wo die Flut ihre Höhe erreicht hatte, von schwimmenden Fischerbooten und von frohen Weibern und Kindern, die die zurückkehrenden Männer erwarteten. Von Netzen und Matrosenanzügen, die am Ufer zum Trocknen ausgebreitet waren – von rührigen Matrosen, deren Stimmen hoch aus dem Takelwerk niedertönten – von der Klarheit des bewegten Wassers und dem allgemeinen Gefunkel.

Vom Zurückweichen der Küste – vom Hinschauen danach, als sie sich, vom Deck aus betrachtet, nur wie ein Nebel auf dem Wasser ausnahm, während hie und da ein heller Sonnenblick einen Strich deutlichen Landes unterscheiden ließ. Von dem Wogen, Blitzen und Murmeln der ruhigen See. Von einer andern grauen Linie auf dem Meere, in der Fahrstraße des Schiffes liegend und schnell klarer und höher werdend. Von Klippen und Häusern – von einer Windmühle und einer Kirche, die näher und naher kamen. Endlich vom Einfahren in glattes Wasser und vom Anlegen an einem Kai, von wo aus Menschengruppen niederschauten und an Bord die Bekannten grüßten. Von Ausschiffen und hurtigem Weitergehen in dem Gedränge, wo er jedem Menschen auswich – von einem Bewußtsein, daß er endlich wieder in England sei.

Er hatte in seinem Traum gedacht, er wolle sich nach einem fernen, ihm bekannten Landstädtchen begeben und dort ruhig bleiben, um im geheimen Erkundigungen einzuziehen und darnach handeln zu können. Noch immer in derselben betäubten Stimmung erinnerte er sich einer gewissen Eisenbahnstation, von wo aus er nach dem gedachten Städtchen abbiegen mußte, und wo sich ein wenig besuchtes Wirtshaus befand. Dort wollte er verweilen und ausruhen.

In dieser Absicht huschte er so schnell, wie er konnte, in einen Eisenbahnwagen, hüllte sich in seinen Mantel, als ob er schlafe, und wurde im Flug von dem Meere fort und tief in das Grün des inneren Landes geführt. An der Station angelangt, sah er sich sorgfältig um. Der frühere Eindruck hatte ihn nicht getäuscht. Es war ein abgeschiedener Ort an dem Saum eines kleinen Waldes, nur aus einem einzigen neu gebauten oder für seinen gegenwärtigen Zweck veränderten Hause bestehend, an das sich ein hübscher Garten anschloß. Das nächste Städtchen lag etwa eine halbe Stunde ab. Hier stieg er aus, ging, von niemandem bemerkt, hastig in das Wirtshaus hinein und mietete sich oben ein paar miteinander in Verbindung stehende, hinreichend abgeschiedene Zimmer.

Seine Absicht war, hier zu ruhen, bis er seine Fassung wieder gewonnen hätte; denn immer tobte die ohnmächtige Wut so sehr in ihm, daß er, während er in dem Gemach umherging, mit den Zähnen knirschte. Seine Gedanken, die sich nicht halten oder lenken ließen, schleppten ihn noch immer nach Belieben mit sich fort. Er war betäubt und todmüde.

Es war jedoch, als laste der Fluch auf ihm, daß er nicht wieder zur Ruhe kommen sollte; denn seine schläfrigen Sinne wollten ihr Bewußtsein nicht verlieren. Er hatte in dieser Beziehung ebensowenig Einfluß auf sie, wie wenn sie die eines andern Mannes gewesen wären. Nicht, daß sie ihn gezwungen hätten, auf Töne und Gegenstände seiner Umgebung zu achten, sondern sie ließen sich nicht ablenken von dem wirren Gesicht seiner Reise. Es stand beharrlich in seiner Ganzheit vor ihm. Sie war da mit ihren dunkeln, gegen ihn Verachtung blitzenden Augen, während er dahinjagte durch Stadt und Land, Licht und Dunkelheit, nasses und trockenes Wetter, über Straßen und Pflaster, bergauf und bergab, gehetzt und verschüchtert durch die Eintönigkeit der Glocken, der Räder und der Roßhufe ohne Unterlaß.

»Welchen Tag haben wir heute?« fragte er den Kellner, der die Vorbereitungen zu seinem Diner traf.

»Welchen Tag, Sir?«

»Ist es Mittwoch?«

»Mittwoch, Sir? Nein, Sir. Donnerstag, Sir.«

»Ich vergaß es. Wie spät haben wir es eigentlich? Meine Uhr ist nicht aufgezogen.«

»Noch einige Minuten bis fünf Uhr, Sir. Vielleicht lange gereist, Sir?«

»Ja.«

»Mit Eisenbahn, Sir?«

»Ja.«

»Bringt einen sehr ln Verwirrung, Sir. Pflege zwar selbst nicht viel auf der Eisenbahn zu reisen, Sir, aber die Fremden sagen das oft.«

»Kommen viele Fremde hierher?«

»Im allgemeinen genügend, Sir. Zur Zeit ist niemand da. Etwas flau eben jetzt, Sir. Alles geht flau, Sir.«

Er gab keine Antwort, hatte aber auf dem Sofa, wo er gelegen, eine sitzende Haltung eingenommen und starrte, vorwärts gebeugt, mit auf die Knie gelegten Armen den Boden an. Er vermochte sich nicht für eine einzige Minute zu sammeln. Seine Gedanken stürzten hin, wohin sie wollten, ohne auch nur einen Augenblick sich in Schlaf zu verlieren.

Er trank nach dem Diner viel Wein. Vergeblich. Keines solcher künstlichen Mittel waren imstande, seinen Augen Schlaf zu bringen. Noch unzusammenhängendere Gedanken rissen ihn unbarmherzig mit fort, als wären sie wilde Pferde, die einen zu solcher Sühne verurteilten Elenden hinter ihren Hufen nachschleppten. Kein Vergessen, keine Ruhe!

Wie lang er dasaß, trank, grübelte und von seiner Einbildungskraft dahin und dorthin gezerrt werde, hätte niemand weniger genau anzugeben vermocht, als er. So viel wußte er übrigens, daß er schon geraume Zeit beim Kerzenlicht gesessen, als er in plötzlichem Schrecken auffuhr und lauschte.

Nein, jetzt war es in der Tat keine Einbildung. Der Grund zitterte, die Fenster klirrten, und das wilde ungestüme Rauschen fegte durch die Luft! Er fühlte, daß es herankam und vorbeischoß; und selbst als er nach dem Fenster eilte und sah, was es war, bebte er entsetzt zurück, als ob es nicht geheuer sei, nachzusehen.

Ein Fluch über den feurigen Teufel, der so glatt dahin donnerte, im fernen Tal an dem grellen Licht und dem trüben Rauch sich erkennen ließ und plötzlich wieder verschwunden war! Es kam ihm vor, als sei er aus dessen Pfad gerissen worden, ehe er ihn zu Brei zermalmte. Selbst jetzt noch schauderte er, obschon das Getöse verhallt war und die Schienen der Eisenbahn, so weit er sie im Mondlicht verfolgen konnte, nur in eine leere, stumme Einöde hineinführten.

Unfähig, zu ruhen, und – wie er meinte – unwiderstehlich nach diesem Schienenwege hingezogen, ging er hinaus und neben diesem hin, die Spur des Eisenbahnzugs in der noch rauchenden Asche verfolgend. Nachdem er etwa eine halbe Stunde in der Richtung gegangen war, die der Zug eingeschlagen hatte, wandte er sich um und kehrte auf der andern Seite der Bahn zurück. An dem Wirtshausgarten vorbei setzte er seinen Spaziergang noch lange fort, betrachtete neugierig die Brücken, die Signalposten und Lampen und machte sich Gedanken, wann wohl wieder ein Teufel vorbeikommen würde.

Ein Zittern des Bodens und ein ferner, schriller Schrei, der in seinen Ohren dröhnte – ein trübes Licht, das bei seinem Näherkommen sich schnell in zwei rote Augen umwandelte, und ein wildes Feuer, das glühende Kohlen auswarf – das unwiderstehliche Vorwärtsdringen einer sausenden, langgestreckten Masse – ein hoher Wind und ein Gerassel – im Augenblick da und ebenso schnell wieder fort. Der einsame Mann hielt sich dabei an ein Pförtchen, als wolle er sich vor dem Ungeheuer retten!

Er wartete auf ein weiteres und wieder ein weiteres. Zwischen den beiden Endpunkten seiner ersten Wanderung hin und her gehend und das bedrückende Gesicht seiner Reise stets mit sich herumtragend, sah er nach den herankommenden Teufeln aus. Bei dem Stationshaus zögerte er, erwartend, daß einer derselben haltmachen werde. Als das zum Zweck des Wassereinnehmens geschah, blieb er daneben stehen und betrachtete die schweren Räder samt der ehernen Vorderseite, sich Gedanken über die fürchterliche Gewalt der Maschine machend. Hu! wie die großen Räder sich langsam zu drehen anfingen – und dazu die Vorstellung, von ihnen überrannt und zerdrückt zu werden!

Verstört von Wein und dem Mangel an Ruhe – ein Mangel, dem trotz seiner Müdigkeit nichts abhelfen konnte –, schienen diese Vorstellungen und Gegenstände in seinen Gedanken eine krampfhafte Bedeutsamkeit zu gewinnen und umspukten ihn noch, als er gegen Mitternacht auf sein Zimmer zurückging und daselbst horchend sitzen blieb, ob nicht wieder ein Zug komme.

Er begab sich zu Bett, ohne jedoch auf einen Schlaf hoffen zu dürfen. Stets lag er lauschend da, und wenn er das Zittern und Dröhnen fühlte, so stand er auf und ging nach dem Fenster, um zu sehen, wie das trübe Licht sich in die zwei roten Augen umwandelte, wie das wilde Feuer glühende Kohlen auswarf, wie der Riese in seiner hastigen Flucht vorbeijagte und wie ein langer Streifen von Funken und Rauch sich das Tal entlangzog. Er schaute dann in die Richtung, in der er mit Sonnenaufgang weiterzureisen gedachte, da hier doch keine Ruhe für ihn zu finden war, und legte sich wieder nieder, um aufs neue durch das Gesicht seiner Reise und die alte Eintönigkeit der Glocken, der Räder und Hufschläge geängstigt zu werden, bis wieder ein Zug kam. So ging es die ganze Nacht hindurch, ohne daß er seine Fassung wiedergewinnen konnte, da er sie im Gegenteil mehr und mehr zu verlieren schien. Mit dem Anbruch der Dämmerung quälten ihn noch immer seine Gedanken, obschon er das Nachdenken fortwährend verschieben wollte, bis er sich in einer besseren Stimmung befände. Die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft – alles verschwand wirr vor ihm, und er hatte alle Macht verloren, irgend etwas davon gesondert aufzufassen.

»Um welche Zeit muß ich aufbrechen?« fragte er den Mann, der ihn abends zuvor bedient hatte und jetzt mit einem Licht eintrat.

»Um viertel nach vier, Sir. Um vier Uhr kommt ein Schnellzug durch, Sir, der nicht anhält.«

Er fuhr mit der Hand über die klopfende Stirn und sah auf seine Uhr. Nahezu halb vier Uhr.

»Wahrscheinlich geht niemand mit Euch, Sir«, bemerkte der Mann. »Es sind zwei Herren hier, Sir, aber sie warten auf den Londoner Zug.«

»Ich meinte, Ihr hättet gesagt, das Haus habe keine Gäste«, sagte Carker, sich mit einem Schatten jenes alten Lächelns an ihn wendend, wann er ärgerlich oder argwöhnisch war.

»Damals nicht, Sir. Zwei Herren langten heute nacht an mit dem kurzen Zug, der hier haltmachte. Warm Wasser, Sir?«

»Nein. Und nehmt das Licht mit. Es ist schon hell genug für mich.«

Da er sich nur halb ausgekleidet auf das Bett geworfen hatte, so trat er, als der Mann das Zimmer verließ, an das Fenster. Der Nacht war das kalte Licht des Morgens gefolgt, und am Himmel zeigte sich bereits das Rot der kommenden Sonne. Er wusch sich Kopf und Gesicht mit Wasser, ohne daß es ihn kühlte, legte hastig seine Kleider an, zahlte die Wirtsrechnung und ging hinaus.

Im Freien war es kalt und unbehaglich. Es lag ein schwerer Tau, und er fröstelte ungeachtet der Glut seines Innern. Nach einem Blick über die Strecke hin, die er gestern abend gegangen, und nach den Signallichtern, die matt im Morgen brannten und ihre Bedeutung verloren hatten, wandte er sich der aufgehenden Sonne zu, die mit all ihrer Herrlichkeit am Himmel sich erhob.

So ehrfurchtgebietend, so überschwenglich in ihrer Schönheit, so göttlich erhaben! Wer kann sagen, ob eine matte Vorstellung von Tugend auf Erden und ihrem Lohn im Himmel nicht auch ihm sich vergegenwärtigte, als seine trüben Augen das ruhige Gestirn auftauchen sahen, auf das alles Unrecht und alle Bosheit, die es seit dem Beginn der Welt beleuchten mußte, keine Einwirkung zu üben vermochte? Wenn er je seines Bruders oder seiner Schwester sich mit einem Anflug von Liebe und Treue erinnerte, wer kann sagen, ob dies nicht damals der Fall war?

Und er bedurfte wohl einer solchen Rührung. Der Tod stand ihm zur Seite. Er trug das Zeichen des Abschieds von der lebenden Welt an seiner Stirn, und es ging mit ihm dem Grabe zu.

Er zahlte seine Fahrt nach dem Landstädtchen, nach dem er reisen wollte, und ging allein hin und her, die langen Schienenreihen durch das Tal hin in der einen und nach der nahen dunkeln Brücke in der andern Richtung betrachtend. Als er sich aber einmal am Ende des hölzernen Gerüstes, das für die Einsteigenden bestimmt war, umwandte, sah er plötzlich den Mann, vor dem er geflohen, in der Tür auftauchen, durch die er selbst eingetreten war. Ihre Augen begegneten sich.

In der hastigen Unsicherheit der Überraschung wankte er und glitt in den Weg hinunter. Er raffte sich jedoch schnell wieder auf, trat ein paar Schritte zurück, um einen größeren Raum zwischen sich und seinen Feind zu bringen, und faßte mit beengten Atemzügen den Verfolger ins Auge.

Er hörte einen Schrei – noch einen – sah das Gesicht, in dem rachsüchtige Leidenschaft sich ausdrückte, wie im Schrecken erblassen – fühlte die Erde zittern – wußte im Augenblick, daß das Rauschen herankam, stieß einen Schrei aus – blickte umher – sah die roten Augen, die im Licht des Tages sich trüb und blind ausnahmen, dicht in der Nähe – wurde niedergeschlagen, aufgefangen und auf die Flügel eines sausenden Rades geworfen, das ihn im Kreise drehte, ihm Glied für Glied zerschlug, den Strom seines Lebens mit seiner wilden Glut aufleckte und die verstümmelten Trümmer in die Luft schleuderte.

Nachdem der Reisende, der von ihm erkannt worden war, sich von einer Ohnmacht erholt hatte, sah er, daß man aus der Entfernung etwas Bedecktes herbrachte, das schwer und still zwischen vier Männern auf einem Brette lag. Andere jagten einige Hunde zurück, die auf dem Wege schnupperten, und streuten Asche auf das Blut.

Sechsundfünfzigstes Kapitel.


Sechsundfünfzigstes Kapitel.

Mehrere Personen entzückt und der Preishahn entrüstet.

Der Midshipman war voll Leben. Mr. Toots und Susanna hatten sich endlich eingestellt. Susanna war sogleich wie eine Verrückte die Treppe hinaufgeeilt, während Mr. Toots und der Preishahn in dem Hinterstübchen zurückblieben.

»O meine herzige, liebe, süße Miß Floy!« rief die Nipper, in Florences Zimmer stürzend, »zu denken, daß es so weit kommen sollte und ich Euch hier finden muß, mein Herz, ohne daß Ihr jemanden habt, Euch zu bedienen, und keine Heimat, die Ihr die Eure nennen könnt. Aber nie will ich wieder fortgehen, Miß Floy; denn wenn ich auch vielleicht kein Moos ansetze, bin ich doch kein rollender Stein, und auch mein Herz ist nicht von Stein, sonst würde e« nicht brechen, wie es mir jetzt bricht, ach, ach!«

Diese Worte sprudelten ohne Pause unaufhörlich heraus, während Miß Nipper neben ihrer Gebieterin auf den Knien lag und sie mit ihren Armen umschlungen hielt.

»O meine Liebe!« rief Susanna, »ich weiß alles, was vorgegangen ist, ich weiß alles, mein Herz, und es hat mich aufs tiefste erschüttert.«

»Susanna, meine liebe, gute Susanna!« sagte Florence.

»O Gott behüte sie! Ich bin ihre junge Wärterin gewesen, als sie ein ganz kleines Kind war, und nun will sie wirklich und wahrhaftig heiraten!« rief Susanna in einem Ausbruch von Schmerz und Freude, von Stolz und Kummer, und der Himmel weiß, von wie vielen andern widerstreitenden Gefühlen.

»Wer hat dir das gesagt?« fragte Florence.

»O du lieber Himmel, jenes unschuldigste von allen Geschöpfen, der Toots«, entgegnete Susanna schluchzend. »Ich habe sogleich gewußt, daß er recht haben müsse, meine Liebe, weil er es sich so zu Herzen nahm; er ist das aufopferndste und unschuldigste Kind! Und es ist wirklich und wahrhaftig so, mein Herz«, fuhr Susanna mit einer abermaligen Umarmung und einem neuen Tränenguß fort, »daß Ihr heiraten wollt?«

Die Mischung von Teilnahme, Freude, Zärtlichkeit, Hineinreden und Bedauern, womit die Nipper stets wieder auf diesen Gegenstand zurückkam und dabei jedesmal ihren Kopf erhob, um ihre junge Gebieterin anzusehen und zu küssen, dann aber ihn unter schluchzenden Liebkosungen wieder auf ihre Schulter sinken ließ – war so weiblich und in seiner Art so innig, wie man nur je etwas Ähnliches auf der Welt sehen kann.

»So, so«, sagte darauf Florence mit beschwichtigender Stimme. »Jetzt bist du wieder ganz die Alte, meine liebe Susanna.«

Miß Nipper, die sich zu den Füßen ihrer Gebieterin auf den Boden gesetzt hatte, lachte, schluchzte, hielt mit der einen Hand ihr Tuch vor die Augen, während sie mit der andern Diogenes streichelte, der ihr Gesicht leckte, erklärte, daß sie gefaßter sei, und lieferte den Beweis dafür, indem sie noch ein bißchen mehr lachte und weinte.

»Ich – ich – ich habe nie einen solchen Menschen gesehen wie diesen Toots«, sagte Susanna, »nie in allen meinen Lebenstagen.«

»Er ist so freundlich«, bemerkte Florence.

»Und so unterhaltsam«, schluchzte Susanna. »Die Art, wie er im Wagen mit mir fortschwatzte, während dieser respektswidrige Preishahn auf dem Bock saß.«

»Wovon, Susanna?« fragte Florence schüchtern.

»O, von Leutnant Walter und Kapitän Gills und von Euch, liebe Miß Floy, und dem stillen Grab«, sagte Susanna.

»Vom stillen Grab!« wiederholte Florence.

»Er sagt« – Susanna brach jetzt in ungestümes hysterisches Lachen aus – »er wolle jetzt gleich und ganz gemächlich hineinsteigen. Aber Gott behüte Euer Herz, meine liebe Miß Floy, er läßt es wohl bleiben: denn er ist viel zu glücklich, andere Leute glücklich zu sehen; er ist zwar vielleicht kein Salomo«, fuhr die Nipper mit ihrer gewöhnlichen Zungengeläufigkeit fort, »und ich will ihm dieses auch nicht nachsagen; aber so viel behaupte ich von ihm, daß ich nie ein weniger selbstsüchtiges menschliches Wesen kennengelernt habe.«

Miß Nipper lachte nach dieser kräftigen Erklärung über die Maßen und teilte Florence dann mit, besagter junger Mann warte unten, um sie zu sehen. Das werde ihm ein reicher Lohn für die Mühe sein, die er bei dem letzten Ausflug gehabt habe.

Florence trug Susanna auf, Mr. Toots zu bitten, er möchte ihr das Vergnügen gönnen, ihm für sein Wohlwollen danken zu dürfen. Einige Augenblicke später führte Susanna den jungen Menschen herein, der noch immer sehr zerzaust war und mehr als je stotterte.

»Miß Dombey«, sagte Mr. Toots, »daß es mir wieder gestattet ist, Euch – Euch – zu sehen – nein, nicht zu sehen, sondern – ich weiß wahrhaftig nicht, was ich sagen wollte, aber es ist von keinem Belang.«

»Ich muß Euch so oft danken«, entgegnete Florence, ihm ihre beiden Hände reichend, während ihr Gesicht von dem Gefühl der Anerkennung leuchtete, »daß ich keine Worte dafür finde und nicht weiß, wie ich es tun soll.«

»Miß Dombey«, sagte Mr. Toots mit schauerlicher Stimme, »wenn es möglich wäre, wenn es sich mit Eurem engelgleichen Wesen vertrüge, daß Ihr mich verwünschtet, so würdet Ihr mich unendlich weniger – wenn ich mich so ausdrücken darf – bedrücken, als durch diese unverdienten Freundlichkeitsäußerungen. Ihre Wirkung auf mich – ist – aber«, setzte Mr. Toots abgebrochen bei, »ich schweife ab, und es ist von durchaus keinem Belang.«

Da hierauf nicht wohl etwas zu entgegnen war, so dankte ihm Florence wieder und wieder.

»Wenn es mir erlaubt wäre, Miß Dombey«, sagte Mr. Toots, »so möchte ich wohl diese Gelegenheit ergreifen, um ein Wort der Erklärung anzubringen. Es wäre mir wohl lieb gewesen, wenn ich hätte das Vergnügen haben können, mit – mit Susanna früher zurückzukehren. Aber erstens kannten wir den Namen des Verwandten nicht, nach dessen Haus sie sich begeben hatte, und da sie zweitens sich nicht mehr bei diesem Verwandten aufhielt, sondern zu einem andern in größerer Entfernung gezogen war, so glaube ich, daß kaum etwas anderes, als der Scharfsinn des Preishahn sie in dieser Zeit aufzufinden vermocht haben würde.«

Florence war davon überzeugt.

»Das ist es jedoch nicht, was ich meine«, sagte Mr. Toots. »Ich versichere Euch, Miß Dombey, in meinem Gemütszustand ist mir die Gesellschaft Susannas ein Trost und eine Beruhigung gewesen, die sich leichter denken als beschreiben lassen. Die Reise trug ihren Lohn in sich. Doch dies ist es auch nicht, was ich sagen wollte. Miß Dombey, ich habe schon früher bemerkt, daß ich wisse, ich sei durchaus nicht, was man einen schnell fassenden Menschen zu nennen pflegt. Ich weiß dies vollkommen. Ich glaube nicht, daß jemand besser – wenn es nicht etwa ein allzu starker Ausdruck ist – die Dicke seines Kopfes kennt als ich. Gleichwohl aber, Miß Dombey, begreife ich den Stand – der Dinge – mit Leutnant Walter. Wie peinlich mir dieser Stand der Dinge auch sein mag (es ist natürlich von durchaus keinem Belang), so halte ich es doch für meine Pflicht zu sagen, daß Leutnant Walter ein Mensch ist, der würdig zu sein scheint des Segens, der auf sein – seine Stirne heruntergefallen ist. Möge er sich lang seines Glückes erfreuen und es so schätzen, wie ein ganz anderes – ein sehr unwürdiges Individuum, dessen Name von keinem Belang ist, es geschätzt haben würde! Aber das ist übrigens noch immer nicht, was ich meine. Miß Dombey, Kapitän Gills ist mein Freund, und während der Zeit, die nun abläuft, würde es, glaube ich, Kapitän Gills Freude machen, wenn ich hin und wieder hier vorkomme. Auch mich würde es freuen, zu erscheinen. Aber ich kann nicht vergessen, daß ich mir einmal an der Ecke des Squares zu Brighton eine schändliche Blöße gegeben habe, und wenn meine Gegenwart Euch nur im mindesten unangenehm sein sollte, so möchte ich Euch bitten, dies mir jetzt einfach zu sagen. Ich versichere Euch, daß ich Euch vollkommen verstehen und es durchaus nicht für Unfreundlichkeit ansehen werde; denn ich finde stets nur ein Glück und eine Freude darin, wenn ich mit Eurem Vertrauen beehrt werde.«

»Mr. Toots«, entgegnete Florence, »wenn Ihr, der Ihr ein so alter und treuer Freund seid, jetzt von diesem Hause wegbleiben wolltet, so würdet Ihr mich sehr unglücklich machen. Es kann mir stets nur ein frohes Gefühl bereiten, wenn ich Euch sehe.«

»Miß Dombey«, sagte Mr. Toots, sein Taschentuch herausziehend, »wenn ich eine Träne vergieße, so ist es eine Träne der Freude. Es ist übrigens von keinem Belang, und ich bin Euch sehr verbunden. Nach Eurer so freundlichen Versicherung möge mir die Bemerkung erlaubt sein, daß es nicht in meiner Absicht liegt, meine Person länger zu vernachlässigen.«

Florence nahm diese Andeutung mit einem allerliebsten Ausdruck von Verwirrung auf.

»Ich meine damit«, fuhr Mr. Toots fort, »daß ich es als Nebenmensch im allgemeinen für meine Pflicht halten werde, das Beste aus mir zu machen, bis mich das stille Grab abruft, und daß – daß ich meine Stiefel so schön gewichst tragen will, wie – wie es die Umstände gestatten. Dies ist das letztemal, Miß Dombey, daß ich mich mit irgendeiner Privat- und persönlichen Bemerkung aufdränge. Ich danke Euch in der Tat recht sehr. Wenn ich im allgemeinen nicht so gescheit bin, wie meine Freunde mich wünschen könnten oder wie ich auch mich selbst wünschen möchte, so kann ich Euch doch bei meinem Ehrenwort die Versicherung geben, daß ich recht wohl weiß, was die Rücksicht und die Nächstenliebe fordert. Es ist mir«, fügte er in leidenschaftlichem Ton hinzu, »als könnte ich gerade im gegenwärtigen Augenblick in höchst merkwürdiger Weise meine Gefühle ausdrücken, wenn – wenn – ich nur imstande wäre, einen Anfang zu finden.«

Damit wollte es nun freilich nicht gehen, und nachdem Mr. Toots einige Minuten gewartet hatte, ob es nicht doch noch kommen wolle, verabschiedete er sich rasch und begab sich die Treppe hinunter, um den Kapitän aufzusuchen, den er in dem Laden fand.

»Kapitän Gills«, sagte Mr. Toots, »was jetzt zwischen uns stattfinden wird, soll unter dem heiligen Siegel des Vertrauens geschehen. Es ist eine Folge von dem, Kapitän Gills, was eben droben zwischen mir und Miß Dombey vorgegangen ist.«

»Unten und oben, he, mein Junge?« murmelte der Kapitän.

»Jawohl, Kapitän Gills«, versetzte Mr. Toots, dessen Bejahungseifer sehr durch den Umstand erhöht wurde, weil er des Kapitäns Meinung nicht verstand. »Ich glaube, Kapitän Gills, Miß Dombey wird in Bälde mit Leutnant Walter vereinigt werden?«

»Nun ja, mein Junge. Wir sind alle hier Schiffskameraden. Wal’r und das Schätzchen werden sich im Hause des Bundes zusammentun, sobald das Aufgebot vorüber ist«, flüsterte ihm Kapitän Cuttle ins Ohr.

»Das Aufgebot, Kapitän Gills?« wiederholte Mr. Toots. »In der Kirche da unten«, sagte der Kapitän, mit dem Daumen über die Schulter deutend.

»O! ja!« entgegnete Mr. Toots.

»Und dann«, fuhr der Kapitän in heiserem Flüstern fort, während er Mr. Toots mit dem Rücken seiner Hand auf die Brust klopfte und dann mit einem Blicke ungemeiner Bewunderung zurücktrat, »was folgt darauf? Daß das hübsche Geschöpf, das so zart aufgezogen wurde, wie ein ausländischer Vogel, auf die brausende See geht, um mit Wal’r eine Reise nach China zu machen.«

»O Gott, Kapitän Gills!« rief Mr. Toots.

»Ja!« nickte der Kapitän. »Das Schiff, das ihn aufnahm, als er in dem Orkan verunglückte und so weit von seinem Kurs abgetrieben wurde, war ein Chinafahrer, und Wal’r machte die Reise mit. Da er ein so schmucker und guter Junge ist, wie nur je einer an Bord gesetzt wurde, so kam er bald am Land sowohl als bei seinen Kameraden in Gunst, und als der Oberaufseher zu Kanton starb, trat er, nachdem er zuvor den Dienst des Schreibers versehen hatte, in dessen Stelle ein. Jetzt ist er Oberaufseher am Bord eines andern Schiffes, das den nämlichen Reedern gehört. Und so, seht Ihr«, wiederholte der Kapitän gedankenvoll, »geht jetzt das hübsche Geschöpf mit Wal’r auf die wogende See, um eine Reise nach China zu machen.«

Mr. Toots und Kapitän Cuttle stießen im Einklang einen tiefen Seufzer aus.

»Nun, was liegt daran?« sagte der Kapitän. »Sie liebt ihn treu und er sie gleichfalls. Diejenigen, die sie hätten lieben und für sie sorgen sollen, behandelten sie wie Tiere und gaben sie dem Untergang preis. Als sie, von der Heimat verstoßen, zu mir herkam und auf diese Planken trat, wollte ihr das verwundete Herz brechen. Ich weiß es! Ich, Ed’ard Cuttle, habe es gesehen. Nichts als treue, innige, beständige Liebe konnte es wiederherstellen. Wenn ich dies nicht wüßte, und wenn ich nicht wüßte, daß Wal’r sie aus tiefster Seele liebt, Bruder, und sie ihn in gleicher Weise, so würde ich mir lieber diese blauen Arme und Beine da abhacken lassen, ehe ich sie ziehen ließe. Aber ich weiß es, und was weiter? Je nun, ich sage eben, der Himmel sei mit ihnen beiden, und so wird es auch der Fall sein, Amen!«

»Kapitän Gills«, versetzte Mr. Toots, »erlaubt mir das Vergnügen, Euch die Hand zu drücken. Ihr habt eine Art an Euch, Dinge zu sagen, so daß mir eine angenehme Wärme über den ganzen Rücken hinaufkriecht. Auch ich sage Amen. Es ist Euch bekannt, Kapitän Gills, daß ich gleichfalls Miß Dombey angebetet habe.«

»Hellauf!« entgegnete der Kapitän, Mr. Toots seine Hand auf die Schulter legend. »Halt bei. Junge!«

»Es ist meine Absicht, Kapitän Gills«, erwiderte der begeisterte Mr. Toots, »beizuhalten, so gut es mir möglich ist. Wenn das stille Grab seinen Mund auftut, Kapitän Gills, so werde ich bereit sein für die Beerdigung: früher nicht. Da ich aber im Augenblick meiner Macht über mich selbst nicht ganz sicher bin, so besteht das, was ich Euch zu sagen wünsche und was Ihr vielleicht gegen Leutnant Walter zu erwähnen die Güte haben werdet, in folgendem –«

»In folgendem«, echote der Kapitän. »Losgelegt!«

»Miß Dombey war so unaussprechlich freundlich«, fuhr Mr. Toots mit tränenfeuchten Augen fort, »mich zu versichern, daß ihr meine Gegenwart nichts weniger als unangenehm sei. Da Ihr nun wie jedermann hier nicht weniger nachsichtig und duldsam gegen einen Menschen seid, –der freilich«, fügte er mit augenblicklicher Niedergeschlagenheit bei, »wie es den Anschein hat, durch einen Irrtum auf die Welt gekommen ist, so will ich während der kurzen Zeit, in der wir noch beisammen sein können, abends zu Besuch kommen. Meine Bitte besteht aber darin: wenn ich je vorübergehend finde, daß ich das Glück des Leutnants Walter nicht mehr mit ansehen kann und deshalb hinausstürze, so hoffe ich, Kapitän Gills, daß Ihr und er, ihr beide, nicht eine Schuld von meiner Seite oder einen Mangel an innerem Kampf, sondern nur mein Unglück darin sehen werdet. Sicherlich seid Ihr überzeugt, daß ich gegen kein lebendes Wesen einen Groll trage – am allerwenigsten aber gegen Leutnant Walter –, und Ihr könntet ja dann gelegentlich bemerken, ich sei hinausgegangen, um einen Spaziergang zu machen, oder sehe wahrscheinlich nach, wieviel Uhr es auf der königlichen Börse sei. Kapitän Gills, wenn Ihr Euch auf diese Übereinkunft einlassen und auch für Leutnant Walter Gewähr leisten könntet, so wäre das eine Erleichterung für meine Gefühle, die ich mit Aufopferung eines beträchtlichen Teils meines Eigentums für wohlfeil erkauft halten würde.«

»Mein Junge, sprecht nicht mehr davon«, erwiderte der Kapitän. »Jede Farbe, die Ihr aufziehen werdet, soll von Wal’r und mir Anerkennung und Beantwortung finden.«

»Kapitän Gills«, sagte Mr. Toots, »das Herz ist mir sehr erleichtert. Ich möchte mir die gute Meinung von allen hier bewahren. Ich – ich – meine es gut, auf Ehre, wie ungeschickt ich es auch herausbringen mag. Ihr wißt«, fügte er hinzu, »es ist geradeso wie wenn Burgeß und Co. einen Kunden mit einem ganz außerordentlichen Paar Beinkleidern zu erfreuen wünschten und nicht imstande wären, einen Zuschnitt zu machen, wie sie ihn im Sinne haben.«

Mit dieser sehr passenden Beleuchtung, auf die er ein wenig stolz zu sein schien, sagte er Kapitän Cuttle gute Nacht und entfernte sich.

Der ehrliche Kapitän war jetzt ein von Glück strahlender Mann, da er für die Herzensfreude in Susanna die geeignete Bedienung gefunden hatte. Während nun die Zeit entschwand, wurde sein Gesicht immer leuchtender und glücklicher. Nach einigen Besprechungen mit Susanna, vor deren Weisheit er eine tiefe Achtung hegte und deren tapferes Benehmen gegen Mrs. Mac Stinger er nie hatte vergessen können, machte er Florence den Vorschlag, daß die Tochter der älteren Dame, die gewöhnlich unter dem blauen Schirm auf dem Leadenhall Markt stand, aus Rücksichten der Klugheit und des Unentdecktbleibens ihrer jeweiligen häuslichen Verrichtungen durch eine Person enthoben werden solle, die ihnen nicht unbekannt wäre und der sie ohne Gefahr sich vertrauen könnten. Susanna, die dabei zugegen war, schlug auf einen Wink hin, den sie überdies zum voraus dem Kapitän zugeworfen, Mrs. Richards vor. Florences Antlitz heiterte sich auf bei Nennung dieses Namens, und Susanna, die noch am selben Nachmittag nach der Behausung der Toodle-Familie aufbrach, um Mrs. Richards zu holen, kehrte abends triumphierend mit derselben rosenwangigen, apfelgesichtigen Polly zurück, deren Freudenausbrüche, als sie Florence vorgeführt wurde, kaum weniger innig waren, als die der Susanne Nipper selbst.

Nachdem dieser Feldherrnzug ausgeführt war, von dem der Kapitän, wie überhaupt aus allem, was geschah, eine ungemeine Selbstbefriedigung ableitete, lag es Florence ob, Susanna auf die bevorstehende Trennung vorzubereiten. Dieses erschien eine viel schwierigere Aufgabe, da Miß Nipper ein entschlossener Charakter war und nicht anders glaubte, als sie sei zurückgekommen, um sich nie mehr von ihrer Gebieterin zu trennen.

»Was den Lohn betrifft, liebe Miß Florence, sagte sie, »so tut mir nur nicht weh damit, daß Ihr darauf hindeutet! denn ich habe Geld übrig und möchte in einer Zeit wie diese meine Liebe und meine Dienste nicht verkaufen, selbst wenn die Sparbank und ich nichts miteinander zu schaffen hätten und die Kasse heute noch bankerott würde. Ihr seid ja nie ohne mich gewesen, mein Herz, von der Zeit an, als Eure arme, liebe Mama abgerufen wurde, und obgleich ich mich mit nichts rühmen kann, so seid Ihr doch an mich gewöhnt und meine liebe Gebieterin durch so viele Jahre, Deshalb denkt ja nicht daran, irgendwohin zu gehen ohne mich. Denn das darf und kann nicht sein.«

»Liebe Susanna, ich habe eine lange, lange Reise vor.«

»Nun, Miß Floy, und was dann? Desto mehr werdet Ihr mich brauchen. Gott sei Dank, gegen lange Reisen habe ich durchaus nichts einzuwenden!« versetzte die hartnäckige Susanna Nipper.

»Aber, Susanna, ich gehe mit Walter – und würde mit ihm überall hingehen – überall hin! Walter ist arm, und ich bin sehr arm. Ich muß daher jetzt lernen, mir selbst und ihm zu helfen.«

»Teure Miß Floy!« rief Susanna, aufs neue losbrechend und heftig ihren Kopf schüttelnd, »es ist Euch nichts Neues, Euch zu helfen und andern dazu und dabei doch das geduldigste und treueste von allen edlen Herzen zu sein. Aber laßt mich mit Mr. Walter Gay reden und die Sache mit ihm ins reine bringen. Ich will und kann nämlich nicht zugeben, daß Ihr allein in der Welt herumfahrt.«

»Allein, Susanna?« erwiderte Floren«. »Allein, wenn Walter mich mitnimmt!« Ach, und was für ein strahlendes, entzücktes Lächeln lag nicht auf ihrem Antlitz! – wenn er es nur hätte sehen können! »Ich bin überzeugt, du wirst Walter nicht damit behelligen, wenn ich dich darum bitte«, fügte sie mit Innigkeit bei. »Nicht wahr, meine Liebe?«

Susanna schluchzte ein »Warum nicht, Miß Floy?«

»Weil ich im Begriff bin«, sagte Floren«, »seine Gattin zu werden, ihm mein ganzes Herz zu widmen und mit ihm zu leben und zu sterben. Wenn du ihm sagst, was du eben zu mir sagtest, so könnte er glauben, ich fürchte mich vor dem, was mir bevorsteht, oder du habest irgendeine Ursache, um mich besorgt zu sein. Susanne, ich liebe ihn.«

Miß Nipper war von der ruhigen Wärme dieser Worte, wie auch von dem einfachen, tiefgefühlten Ernst, der das Antlitz der Sprecherin schöner und reiner als je erscheinen ließ, so ergriffen, daß sie sich nur aufs neue an sie anklammern und rufen konnte, ob denn wirklich und wahrhaftig ihre kleine Gebieterin heiraten wolle. Dabei liebkoste sie diese mit mitleidiger, schutzversprechender Miene, wie sie es schon früher getan hatte.

Aber die Nipper war, obgleich weiblichen Schwächen zugänglich, fast ebenso fähig, sich selbst Zwang aufzulegen, wie die furchtbare Mrs. Mac Stinger anzugreifen. Von Stunde an kam sie nie wieder auf den angeregten Gegenstand zurück, sondern benahm sich immer heiter, behend, geschäftig und hoffnungsvoll. In der Tat aber teilte sie Mr. Toots insgeheim mit, daß sie sich nur vorderhand so »aufrecht« halte, denn wenn alles vorüber und Miß Dombey fort sei, so werde sie wahrscheinlich einen erbärmlichen Anblick bieten. Mr. Toots erwiderte darauf, bei ihm sei es der gleiche Fall, und sie wollten dann ihre Tränen gemeinschaftlich strömen lassen. Indessen hing sie ihren geheimen Gefühlen nie in Florences Anwesenheit oder überhaupt unter dem Banne des Midshipman nach.

So einfach und beschränkt auch Florences Garderobe war – welch ein Gegensatz zu den Vorbereitungen für die letzte Hochzeit, an der sie teilgenommen hatte! – gab es doch allerlei zu tun, um sie in gehörigen Stand zu setzen. Susanna arbeitete an ihrer Seite den ganzen Tag darauf los, als ob der Eifer von fünfzig Näherinnen sich in ihr vereinigt hätte. Die Aufzählung der wundervollen Beiträge, die Kapitän Cuttle zu diesem Zweig der Ausstattung geliefert haben würde, wenn man es ihm gestattet hätte, – z.B. der rosenroten Sonnenschirme, der farbigen Seidenstrümpfe, der blauen Schuhe und anderer ebensowenig an Bord nötiger Artikel – könnte schon einen ziemlichen Raum einnehmen. Er ließ sich jedoch durch unterschiedliche betrügerische Vorstellungen bewegen, seine Lieferungen auf ein Arbeitskästchen und ein Toiletten-Etui zu beschränken, die er in so großem Maßstabe, wie sie für Geld zu haben waren, beschaffte. Beinahe zwei Wochen lang saß er während des größeren Teils des Tages vor diesen Geschenken und betrachtete sie mit einer Mischung von Bewunderung und der kleinmütigen Besorgnis, sie möchten nicht prächtig genug sein. Auch huschte er häufig in die Straßen hinaus, um irgendeinen ungereimten Gegenstand, der ihm zu ihrer Vervollständigung nötig schien, anzukaufen. Der Meisterzug aber bestand darin, daß er beide Kästchen eines Morgens plötzlich forttrug, um auf jedem Deckel ein Messingherz anbringen und die zwei Worte »FLORENCE GAY« eingravieren zu lassen. Nachdem dieses geschehen, rauchte er in dem kleinen Stübchen vier Pfeifen hintereinander, und man traf ihn nach Ablauf ebenso vieler Stunden, wie er noch immer vor sich hinkicherte.

Walter war den ganzen Tag über fort und beschäftigt, kam aber jeden Morgen, um nach Florence zu sehen, und brachte stets die Abende in ihrer Gesellschaft zu. Florence verließ ihr Dachstübchen nur, wenn seine Zeit kam. Dann ging sie herab, ihn unten zu erwarten oder ihn, von seinem umschlingenden Arm geschirmt, wieder nach der Tür zu begleiten und bisweilen in die Straße hinauszusehen, Um die Zeit des Zwielichts waren sie stets beisammen. O gesegnete Zeit! O irres Herz, da« jetzt Ruhe gefunden! O tiefer, unerschöpflicher, mächtiger Born der Liebe, in dem so viel versenkt lag!

Das grausame Mal war noch immer auf ihrer Brust sichtbar. Es legte Zeugnis ab gegen ihren Vater mit jedem Atemzug und lag zwischen ihr und ihrem Geliebten, wenn er sie an sein Herz drückte. Doch sie hatte es vergessen, dachte nicht mehr daran. In dem Klopfen seines Herzens für sie und in dem Klopfen ihres eigenen für ihn blieben alle rauheren Töne ungehört, alle finsteren, lieblosen Herzen vergessen. Ungeachtet ihrer zarten Gestalt wohnte eine Macht der Liebe in ihr, die aus einem einzigen Bild eine Welt zu schaffen vermochte und auch wirklich schuf – eine Welt, nach der sie flüchten und darin Ruhe finden konnte.

Wie oft traten zur Zeit der Dämmerung, wann sein Arm sie so stolz und so zärtlich umschlang und sie bei der Erinnerung sich dichter an ihn anschmiegte, das große Haus und die alten Tage vor ihre Seele! Wie oft, wann sie des Abends gedachte, als sie nach jenem Zimmer hinunterging und dem unvergeßlichen Blick begegnete, richtete sie nicht ihre Augen zu denen auf, die mit so liebevoller Innigkeit für sie gewacht hatten: und sie weinte dann in dem glücklichen Bewußtsein, einen solchen Zufluchtsort gefunden zu haben. Unter diese Bilder mischte sich auch stets das des lieben toten Kindes. Wenn sie aber ihres Vaters gedachte, so kam sie nie über die Stunde hinaus, in der sie ihn schlafend gesehen und sein Gesicht geküßt hatte.

»Lieber Walter«, sagte Florence eines Tages, als es fast dunkel war, »weißt du auch, an was ich heute gedacht habe?«

»Wohl an den schnellen Flug der Zeit und wie bald wir auf der See sein werden, meine süße Florence?«

»Das meine ich nicht, Walter, obschon ich oft daran denke. Ich machte mir Gedanken, wie teuer ich für dich werde.«

»O, wie überschwenglich teuer, mein Herz! Auch ich denke bisweilen daran.«

»Du spottest, Walter. Ich weiß, daß du öfter daran denkst, als ich: aber ich meine die Kosten.«

»Die Kosten, meine Liebe?«

»In Geld. Alle die Vorbereitungen, die Susanna und mir so viel zu tun machen – ich habe nur sehr wenig selbst anschaffen können. Du warst zuvor schon arm – um wie viel ärmer mußt du nicht durch mich werden, Walter!«

»Und um wie viel reicher, Florence!«

Florence lachte und schüttelte den Kopf.

»Außerdem«, fuhr Walter fort, »wurde mir vor langer Zeit, – ehe ich auf die See ging – eine Börse zum Geschenk gemacht, meine Liebe, in der sich Geld befand.«

»Ach!« entgegnete Floren« mit einem wehmütigen Lächeln, »nur wenig – sehr wenig, Walter! Aber du mußt nicht glauben«, und sie legte ihre leichte Hand auf seine Schulter, während sie ihm ins Gesicht sah, »daß es mir leid tut, für dich eine solche Last zu sein. Nein, Liebster, ich freue mich darüber und bin glücklich. Ich wünsche nicht um eine ganze Welt, daß es anders wäre.«

»Und wahrlich auch ich nicht, Florence.«

»Ich glaube dir, Walter, aber du kannst es nie so fühlen, wie ich. Ich bin so stolz auf dich! Das Herz schwillt mir vor Entzücken bei dem Bewußtsein, daß die, die von dir sprechen, sagen müssen, du heiratest ein armes, verstoßenes Mädchen, das hier Schutz suchte, das keine andere Heimat, keine andern Freunde – mit einem Worte nichts, gar nichts hatte! O Walter, wäre ich in der Lage gewesen, die Millionen mitzubringen, so hätte ich um deinetwillen nicht so glücklich sein können, wie ich es bin!«

»Und du, teure Florence – bist du nichts?« entgegnete er.

»Nein, nichts, Walter. Nichts als dein Weib.« Die leichte Hand stahl sich um seinen Nacken und die Stimme kam näher – näher. »In mir ist gar nichts mehr, was nicht dein wäre. Ich habe keine Erdenhoffnung, die nicht dir gehörte – nichts Teures mehr, als dich.«

O, wohl hatte Mr. Toots an jenem Abend Ursache, die kleine Gesellschaft zu verlassen, zweimal hinauszugehen, um seine Uhr nach der auf der königlichen Börse zu richten, einmal sich plötzlich der Bestellung eines Bankiers zu erinnern, und einmal einen kleinen Spaziergang nach dem Aldgate-Brunnen und zurück zu machen.

Aber ehe er diese Ausflüge antrat, ja, sogar noch ehe er kam und bevor die Lichter hereingebracht wurden, sagte Walter:

»Liebe Florence, unser Schiff ist nahezu geladen und wird wahrscheinlich an dem Tage unserer Hochzeit den Strom hinabfahren. Wollen wir nicht an jenem Morgen nach Kent gehen und dort bleiben, bis wir uns im Laufe der Woche zu Gravesend an Bord begeben können?«

»Wie du willst, Walter. Ich werde mich überall glücklich fühlen, aber – –«

»Ja, mein Leben.«

»Du weißt«, sagte Florence, »wir werden keine Hochzeitsgesellschaft haben, und an unserem Anzug wird uns niemand von andern Leuten unterscheiden können. Da wir am nämlichen Tag aufbrechen, willst du nicht – willst du nicht mich an jenem Morgen irgendwohin bringen, Walter – ich meine früh, ehe wir zur Kirche gehen?«

Walter schien sie zu verstehen, wie dieses von einem so innig geliebten treuen Liebhaber zu erwarten war, und bekräftigte seine Zusage mit einem Kuß – mit mehr als einem vielleicht, ja sogar mit mehr als zweien, dreien, fünfen oder sechsen; und an jenem ernsten, ruhigen, friedlichen Abend fühlte sich Florence sehr glücklich.

Dann brachte Susanna Nipper die Lichter herein. Bald nachdem kam der Tee, der Kapitän und der unstete Mr. Toots, der, wie bereits erwähnt wurde, sehr häufig auf dem Zuge war und einen recht unruhigen Abend verbrachte. Das war jedoch nicht immer so; denn in der Regel lief es ganz gut ab, indem er unter Miß Nippers Beihilfe mit dem Kapitän ein Spiel zu machen pflegte und sich den Kopf mit Berechnung der Möglichkeiten dieses Spiels zerbrach – wie er fand, ein sehr wirksames Mittel, um sich gänzlich zu verwirren.

Bei solchen Gelegenheiten gab das Gesicht des Kapitäns ein Pröbchen des schönsten Ausdrucks von Berechnung und Erfolg, den man nur sehen konnte. Sein instinktartiges Zartgefühl und seine Galanterie gegen Florence belehrte ihn, daß es nicht Zeit sei für eine geräuschvolle Heiterkeit oder eine ungestüme Kundgebung von Freude. Gewisse flüchtige Erinnerungen an die liebliche Peg rangen andererseits beharrlich nach Luft und drängten den Kapitän, sich durch irgendeine nicht wieder gutzumachende Demonstration bloßzustellen. Ja, er wurde von dem Anblick Florences und Walters – wie lieblich nahmen sie sich nicht aus, wenn sie in der vollen Anmut ihrer Jugend, Schönheit und Liebe beiseite saßen – oft so hingerissen, daß er seine Karten niederlegte, ihnen leuchtende Blicke zuwarf und dabei seinen ganzen Kopf mit dem Taschentuch betupfte, bis ihn vielleicht ein plötzliches Fortstürzen des Mr. Toots daran erinnerte, daß er unbewußt ein Werkzeug geworden sei, um diesen jungen Mann elend zu machen. Diese Betrachtung versetzte ihn dann in eine melancholische Stimmung, bis der Flüchtling wieder zurückkehrte, worauf der Kapitän mit vielen Seitwärtswinken und höflichen Schwenkungen des Hakens gegen Miß Nipper, als wolle er ihr andeuten, daß er sich in Zukunft in acht nehmen werde, abermals nach den Karten griff. Der Zustand, der auf solche Vorgänge folgte, war vielleicht sein bester; denn er konnte dann, wenn er sich Mühe gab, sein Gesicht allen Ausdrucks zu entladen, in den Raum starren und alle seine Gefühle, die unter sich um den Vorrang kämpften, in einen einzigen Zug zusammendrängen. Stets aber behielt entzückte Bewunderung bei dem Anblick Florences und Walters die Oberhand und zeigte sich siegreich ohne Maske, wenn nicht etwa Mr. Toots abermals ins Freie hinausstürmte. Dann pflegte der Kapitän wie ein von seinem Gewissen geschlagener Schuldiger dazusitzen, bis der Verscheuchte wieder zurückkam. Dabei ermunterte er sich gelegentlich mit gedämpfter, vorwurfsvoller Stimme zum »Beihalten« oder brummte dem »Ed’ard Cuttle, mein Junge« einen Verweis über den Mangel an Vorsicht zu, der sich in seinem Betragen bemerkbar mache.

Eine der schwersten Prüfungen des Mr. Toots wurde übrigens von ihm selbst herbeigeführt. Beim Herannahen des Sonntags, an dem das letzte Aufgebot in der Kirche stattfinden sollte, drückte er gegen Susanna Nipper seine Gefühle folgendermaßen aus.

»Susanna«, sagte Mr. Tool«, »ich werde mit Gewalt nach dem Gebäude hingezogen, Ihr wißt, die Worte, die mich für immer von Miß Dombey trennen, werden in meinem Ohr wie Grabgeläute tönen, aber auf Ehre, ich fühle, daß ich sie hören muß. Wollt Ihr mich deshalb morgen nach dem heiligen Haus begleiten?«

Miß Nipper drückte ihre Bereitwilligkeit aus, wenn Mr. Toots einen Trost darin finde, redete ihm aber zu, er solle den Gedanken daran aufgeben.

»Susanna«, entgegnete Mr. Toots mit großer Feierlichkeit, »noch ehe mein Backenbart von irgend jemandem außer mir bemerkt wurde, betete ich Miß Dombey an. Ich betete sie an, als ich noch ein Opfer der Blimberschen Knechtschaft war. Ich betete sie an, als mir, vom gesetzlichen Standpunkt aus betrachtet, mein Eigentum nicht länger vorenthalten werden konnte und ich demgemäß in den Besitz desselben kam. Das Aufgebot, das sie dem Leutnant Walter und mich der – der ewigen Finsternis überantwortet«, sagte Mr. Toots nach einigem Stocken, bis er einen gehörig kräftigen Ausdruck gefunden hatte, »mag wohl schrecklich – ja, wird sogar schrecklich sein; aber ich fühle, daß ich es mit anhören muß. Mein Inneres drängt mich zu dem Wunsch, die feste Überzeugung einzuholen, daß der Grund unabänderlich unter mir gesprengt ist und daß mir keine Hoffnung, keine Stütze mehr bleibt, an der ich mich halten kann.«

Susanna Nipper konnte nur die unglückliche Lage des armen jungen Menschen bedauern und sagte ihm zu, daß sie unter solchen Umständen ihn auf seinem Kirchgang begleiten wolle, was auch am andern Morgen geschah.

Das Gotteshaus, das Walter für diesen Zweck gewählt hatte, war eine moderige, von einem Begräbnisplatz umgebene alte Kirche, die inmitten eines Labyrinths von Hintergassen und Höfen selbst in einer Art Gewölbe, von den benachbarten Häusern gebildet und mit hallenden Steinen gepflastert, begraben zu sein schien – eine große, düstere, ärmlich aussehende Gebäudemasse mit hohen, alten Eichenstühlen, unter denen sich jeden Sonntag ein paar Dutzend Menschen verloren, während die Stimme des Geistlichen schläfrig durch die Leere schallte und die Orgel rumpelte und rollte, als ob die Kirche bei dem Anblick einer so kleinen Gemeinde die Kolik gekriegt habe. Aber dafür war diese Stadtkirche so weit entfernt, die Gesellschaft anderer Kirchen zu vermissen, daß sich vielmehr Türmchen darum her gruppierten, wie die Masten einer Anzahl von Schiffen auf dem Flusse. Es waren ihrer so viele, daß man sie von der Spitze des Hauptturms aus kaum zu zählen vermochte. Fast in jedem Hof, in jeder nahe gelegenen Sackgasse befand sich eine Kirche, weshalb denn auch, als Susanna und Mr. Toots am Sonntagmorgen ihren Gang antraten, die Glocken einen geradezu betäubenden Lärm machten. Wohl zwanzig dicht beieinander stehende Kirchen forderten das Volk auf, hereinzukommen.

Die zwei in Frage stehenden verirrten Schäflein wurden von einem Kirchendiener in einen bequemen Stuhl eingepfercht. Da es noch früh war, so blieben sie eine Weile sitzen, zählten die Gemeinde ab, hörten auf die getäuschten Glocken hoch oben im Turm oder blickten nach einem schäbigen alten Männlein hin, das seitwärts vom Portale hinter einem Schirm, den Fuß in einem Bügel, das Seil in Tätigkeit setzte. Nachdem Mr. Toots die großen Bücher auf dem Lesepult gemustert hatte, flüsterte er Miß Nipper zu, er sei doch neugierig, wo das Aufgebot gehalten werde. Aber die junge Dame schüttelte bloß mit Stirnrunzeln den Kopf und wollte sich vorderhand aller zeitlichen Gedanken entschlagen.

Mr. Toots dagegen konnte die seinen nicht von dem Aufgebot abwenden und hatte augenscheinlich wahrend des ganzen einleitenden Teils des Gottesdienstes für nichts anderes einen Sinn. Als die Zeit der Verlesung herankam, begann der arme junge Mann zu zittern, und die Beängstigung seine« Herzens ward nicht gemindert durch das unerwartete Erscheinen des Kapitäns in der Vorderreihe der Emporkirche. Der Küster übergab dem Geistlichen eine Liste. Mr. Toots, der Platz genommen hatte, vermochte sich nicht von seinem Sitze zu erheben. Als aber die Namen Walter Gay und Florence Dombey zum dritten und letzten Male verkündigt wurden, fühlte er sich so angegriffen, daß er ohne Hut aus der Kirche stürzte, hintendrein der Kirchendiener, die Stuhlöffnerin und zwei Herren ärztlichen Standes, die zufälligerweise anwesend waren. Der Kirchendiener kam bald wieder zurück, um das im Stich gelassene Eigentum zu holen, und machte Miß Nipper flüsternd die Mitteilung, sie brauche sich wegen des Gentleman nicht zu beunruhigen, da derselbe gesagt habe, sein Übelbefinden sei von keinem Belang.

Miß Nipper, die fühlte, daß die Augen jenes wesentlichen Bestandteils von Europa, der sich wöchentlich unter den hohen Kirchenstühlen verlor, auf ihr hafteten, würde schon durch diesen Vorfall, obwohl er bereits sein Ende erreicht hatte, hinreichend in Verlegenheit gesetzt worden sein. Das war aber um so mehr der Fall, als der Kapitän in der vorderen Reihe der Emporkirche so deutlich sein Schuldbewußtsein an den Tag legte, daß die Gemeinde notwendig irgendeinen geheimnisvollen Zusammenhang mit dem Ganzen argwöhnen mußte. Jedoch die außerordentliche Unruhe des Mr. Toots erhöhte und verlängerte noch das Verfängliche ihrer Lage. Dieser junge Herr nämlich, der bei seiner Gemütsverfassung nicht imstande war, als Raub seiner trostlosen Betrachtungen allein auf dem Kirchhof zu bleiben und ohne Zweifel auch seine Achtung vor dem Gottesdienst, den er einigermaßen unterbrochen hatte, kundgeben wollte, kehrte plötzlich wieder zurück, trat aber nicht wieder in den Kirchenstuhl ein, sondern nahm seinen Posten auf einem Freisitz des Ganges zwischen zwei älteren Frauen ein. Diese pflegten eine wöchentliche Brotration, die auf einem Sims des Portals ausgestellt war, in Empfang zu nehmen. In dieser Nachbarschaft verblieb Mr. Toots zur großen Störung der Gemeinde, die kein Auge von ihm ver- Zeile/n fehlen im Buch. Re werden konnte, bis seine Gefühle aufs neue übermächtig wurden und ihn zwangen, still und plötzlich wieder zu verschwinden. Da er sich jetzt nicht mehr in die Kirche hineinwagte, obschon er einigen geselligen Anteil an dem, was darin vorging, zu nehmen wünschte, so sah man ihn von Zeit zu Zeit mit betrübter Miene durch eines der Fenster hereinschauen. Von außen waren mehrere Fenster für ihn zugänglich, und bei der großen Unruhe des jungen Herrn wurde es nicht nur schwer, sich eine Vorstellung zu machen, wo er nun zunächst erscheinen würde, sondern die ganze Gemeinde sah sich in gleicher Weise genötigt, während der verhältnismäßigen Muße, die ihr durch die Predigt geboten wurde, über die Wahrscheinlichkeiten der verschiedenen Fenster Spekulationen anzustellen. Mr. Toots‘ Bewegungen in dem Kirchhof waren so exzentrisch, daß er in der Regel aller Berechnung Trotz zu bieten schien und wie die Gestalt des Beschwörers meist da auftauchte, wo man ihn am wenigsten erwartete. Die Wirkung dieser geheimnisvollen Erscheinungen war noch schlagender, weil er nicht gut ins Kirchenschiff hinunter-, jedermann aber recht gut ihn draußen sehen konnte. Dies hatte zur Folge, daß er jedesmal viel länger, als man wohl vermuten mochte, seine Nase dicht ans Fenster drückte, bis er, wenn er endlich die vielen auf ihm haftenden Augen bemerkte, mit einem Male verschwand.

Dieses Treiben des Mr. Toots und die sich so sichtlich kundgebenden Gewissensbisse des Kapitäns machten Miß Nippers Lage sehr peinlich, so daß sie erst beim Schlusse des Gottesdienstes wieder freier aufatmete. Auch war sie auf dem Rückwege gegen Mr. Toots kaum so freundlich wie sonst, als dieser ihr und dem Kapitän mitteilte, er wisse jetzt, daß er keine Hoffnung mehr habe, und fühle sich getrösteter – oder wenn auch nicht gerade getrösteter, so doch ruhiger in dem Übermaß seines Elends.

Die Zeit entschwand schnell, und der Abend vor dem Tag der Trauung kam heran. Alle waren im oberen Stübchen des Midshipman versammelt, ohne eine Störung zu besorgen; denn es gab für den Augenblick keine Mietleute im Hause, und der Midshipman konnte also allein wirtschaften. Der Hinblick auf den morgigen Tag stimmte sie ernst und ruhig, obschon auch die Heiterkeit ihrem Kreise nicht ferne blieb. Florence, an deren Seite sich Walter befand, vollendete eine kleine Arbeit, die sie dem Kapitän als Abschiedsgabe zurückzulassen gedachte. Der Kapitän machte mit Mr. Toots ein Spiel, und dieser ließ sich von Susanna beraten, die mit gebührender Umsicht bei dem Spiel mithalf. Diogenes hörte zu und brach gelegentlich in ein halb ersticktes Knurren aus, dessen er sich nachher halb zu schämen schien, als zweifle er, ob er irgendeinen Grund dafür gehabt habe.

»Ruhig, ruhig!« sagte der Kapitän zu Diogenes. »Was siehst du für Mäuse? Es scheint, als sei es diesen Abend nicht ganz richtig in deinem Kopf, Bürschlein.«

Diogenes wedelte mit dem Schwanze, spitzte aber unmittelbar darauf seine Ohren und stieß wieder ein kurzes Knurren aus, wofür er sich bei dem Kapitän mit einem abermaligen Wedeln entschuldigte.

»Ich bin der Meinung, Di«, sagte der Kapitän, während er gedankenvoll seine Karten ansah und mit dem Haken sich das Kinn streichelte – »es kommt mir vor, Di, als setzest du Mißtrauen in Mrs. Richards. Aber wenn du das Tier bist, für das ich dich halte, so wirst du dich eines Besseren besinnen, denn ihr Gesicht ist ihr Empfehlungsbrief. Na, Bruder«, fügte er gegen Mr. Toots bei, »wenn Ihr fertig seid, so schiebt los.«

Der Kapitän sprach mit aller Fassung und voller Aufmerksamkeit auf sein Spiel. Aber plötzlich entsanken seiner Hand die Karten, sein Mund und seine Augen taten sich weit auf, die Beine spreizten sich in die Luft, und in größtem Erstaunen starrte er nach der Tür hin. Dann sah er sich nach der Gesellschaft um, und als er wahrnahm, daß niemand auf ihn oder die Ursache seiner Überraschung achtete, so keuchte er tief auf, schlug mit Macht seinen Haken auf den Tisch, rief er mit Stentorstimme: »Sol Gills, ahoi!« und purzelte in die Ärmel eines vom Wetter schwer mitgenommenen Lotsenrockes, der mit Polly ins Zimmer gekommen war.

Im nächsten Augenblick war auch Walter von den Ärmeln des verwitterten Rocks umschlungen, und unmittelbar darauf ging ein Gleiches mit Florence vor. Kapitän Cuttle umarmte Mrs. Richards und Miß Nipper, drückte Mr. Toots ungestüm die Hand, schwenkte seinen Haken über dem Kopf und rief: »Hurra, mein Junge, hurra!« worauf Mr. Toots, der sich dieses Benehmen durchaus nicht zu erklären vermochte, mit größter Höflichkeit erwiderte: »Jawohl, Kapitän Gills, wenn Ihr es für passend haltet.«

Der verwitterte Lotsenrock und eine nicht weniger verwitterte Mütze samt dem dazu gehörigen Schal wandte sich von dem Kapitän und Florence wieder Walter zu. Aus dem Rock aber, der Mütze und dem Schal drangen Töne hervor, als ob ein alter Mann darunter schluchzte, während die rauhhaarigen Ärmel Walter dicht umfaßt hielten. Während dieser Pause herrschte ein tiefes Schweigen, und der Kapitän polierte mit großem Eifer seine Nase. Aber als der Lotsenrock, die Mütze und der Schal sich wieder erhoben, ging Florence auf sie zu, faßte sie unter Walters Beihilfe an und schälte so den alten Instrumentenmacher heraus, der jetzt ein wenig schmächtiger und sorgenschwerer aussah, als ehemals, aber immer noch die alte welsche Perücke und den alten kaffeefarbigen Rock mit den übersponnenen Knöpfen trug, wahrend die untrügliche Uhr laut in seiner Tasche tickte.

»Randvoll von Wissenschaft«, sagte der strahlende Kapitän, »wie er immer war! Sol Gills, Sol Gills, wo seid Ihr die lange, lange Zeit gewesen, alter Knabe?«

»Ich bin halb blind, Ned«, versetzte der alte Mann, »und fast taub und stumm vor Freude.«

»Auch seine Stimme«, sagte der Kapitän, mit einem Jubel umherschauend, dem sogar sein Gesicht kaum Gerechtigkeit widerfahren lassen konnte – »seine leibhaftige Stimme so randvoll von Wissenschaft, wie sie nur je war! Sol Gills, legt bei, mein Junge, auf Euren alten Rebstöcken und Feigenbäumen, Ihr zäher alter Patriarch, und überholt Eure Abenteuer mit Eurer väterlichen Stimme. Ja, es ist wahrhaftig die Stimme« – fügte der Kapitän nachdrücklich bei, indem er mit seinem Haken andeutete, daß ein Zitat folge– »des Siebenschläfers. Ich hörte ihn klagen: »Ihr habt mich zu bald geweckt, ich muß wieder schlummern.« Zerstreut seine Feinde und schlagt sie zurück!«

Der Kapitän setzte sich mit der Miene eines Mannes nieder, der glücklich die Gefühle jedes Anwesenden ausgedrückt hat, und erhob sich sogleich wieder, um Mr. Toots vorzustellen, der augenscheinlich sehr verwirrt über die Ankunft eines Mannes war, der den Namen Gills für sich in Anspruch nahm.

»Obgleich ich«, stammelte Mr. Toots, »nicht die Ehre Eurer Bekanntschaft habe, Sir, ehe Ihr – ehe Ihr –«

»Dem Gesicht entschwandet, aber doch der Erinnerung teuer«, ergänzte der Kapitän mit gedämpfter Stimme.

»Ganz richtig, Kapitän Gills!« pflichtete Mr. Toots bei. »Obschon ich nicht das Vergnügen Eurer Bekanntschaft hatte, Mr. – Mr. Sols«, sagte Toots, der in der Begeisterung einer glücklichen Idee auf diesen Namen traf, »ehe sich das alles zutrug, macht es mir doch die größte Freude, Euch kennenzulernen. Ich hoffe. Ihr seid so wohlauf, wie man es erwarten kann.«

Mit diesen höflichen Worten setzte sich Mr. Toots errötend nieder und kicherte.

Der alte Instrumentenmacher, der in einer Ecke zwischen Walter und Florence Platz gefunden hatte, nickte der vor Entzücken lächelnden Polly zu und antwortete dem Kapitän folgendermaßen:

»Ned Cuttle, mein lieber Junge, obgleich ich etwas über die Veränderungen hier von meiner angenehmen Freundin da erfahren habe, – es ist wahrhaftig ein so liebes Gesicht, wie nur je eines einen Wanderer willkommen heißen kann!« sagte der alte Mann plötzlich abbrechend und die Hände in seiner alten träumerischen Weise reibend.

»Hört ihr!« rief der Kapitän ernst, »Es ist das Weib, welches das ganze menschliche Geschlecht verführt. Überholt deshalb«, bemerkte er beiseite gegen Mr. Toots, »Eueren Adam und Eva, Bruder.«

»Ich werde es nicht versäumen, Kapitän Gills«, entgegnete Mr. Toots.

»Obgleich ich von ihr etwas über die Wechsel hier erfahren habe«, wiederholte der Instrumentenmacher, indem er seine Brille aus der Tasche langte und sie in der alten Weise auf die Stirne setzte, – »sie sind so groß und unerwartet, und ich bin so überwältigt von dem Anblick meines lieben Jungen und von dem –« da er Florences niedergeschlagene Augen erblickte, so versuchte er es nicht, den Satz zu beendigen – »daß ich heute nicht mehr viel sagen kann. Aber mein lieber Ned Cuttle, warum habt Ihr nicht geschrieben?«

Das Erstaunen, das sich in des Kapitäns Gesicht abmalte, erschreckte Mr. Toots dermaßen, daß er seine Blicke nicht mehr davon verwenden konnte.

»Geschrieben!« wiederholte der Kapitän. »Geschrieben, Sol Gills?«

»Ja«, sagte der alte Mann. »Entweder nach Barbados oder nach Jamaica oder nach Demerara. Dies war es, um was ich Euch bat.«

»Um was Ihr mich batet, Sol Gills?« entgegnete der Kapitän.

»Ja.«, versetzte der alte Mann. »Wißt Ihr es nicht, Ned? Sicherlich habt Ihr’s doch nicht vergessen? Ich schrieb Euch das jedesmal.«

Der Kapitän nahm seinen Glanzhut ab, hängte ihn an seinen Haken und strich sich von hinten mit der Hand das Haar zurecht. Dabei starrte er die Gruppe um ihn her wie ein vollkommenes Bild ergebungsvollen Staunens an.

»Ihr scheint mich nicht zu verstehen, Ned!« bemerkte der alte Sol.

»Sol Gills«, erwiderte der Kapitän, nachdem er den alten Mann und die übrigen eine Weile lautlos gemustert hatte, »ich glaube, ich bin völlig triftig gekappt. Laßt ein paar Worte in betreff jener Abenteuer hören, wollt Ihr so gut sein? Kann ich denn nirgends aufkommen? Nirgends?« fügte der Kapitän grübelnd hinzu, während seine großen Augen noch immer umherrollten.

»Ihr wißt, Ned, warum ich von hier wegging«, sagte Sol Gills. »Habt Ihr mein Paket geöffnet?«

»Aber ja, ja«, antwortete der Kapitän. »Natürlich öffnete ich da« Paket.«

»Und habt es gelesen?« fragte der alte Mann.

»Ja, auch gelesen«, versetzte der Kapitän, ihn aufmerksam betrachtend und aus dem Gedächtnis zitierend: »›Mein lieber Ned Cuttle. Als ich London verließ, um nach Westindien zu reisen und Kunde über meinen lieben Jungen einzuholen‹ – da sitzt er! hier ist Walter!« rief der Kapitän, als fühle er sich erleichtert, daß er doch an etwas Wirkliches und Unbestreitbares Hand legen konnte.

»Gut, Ned. Hört mich jetzt einen Augenblick an«, sagte der alte Mann. »Als ich Euch das erstemal schrieb – es war von Barbados – sagte ich, obschon Ihr den Brief lange vor Ablauf des Jahres erhalten würdet, sei es mir doch lieb, wenn Ihr das Paket öffnetet, weil es Euch den Grund meiner Entfernung erkläre. Sehr gut, Ned. In meinem zweiten, dritten und vierten Schreiben – sie liefen von Jamaica aus – teilte ich Euch mit, ich sei noch immer in dem nämlichen Zustand, könne keine Ruhe finden und wolle diesen Teil der Welt nicht verlassen, ehe ich die Überzeugung gewonnen habe, daß mein Junge verloren oder gerettet sei. Als ich das nächste Mal schrieb – ich glaube, e« war von Demerara aus – ist es nicht so?«

»Er glaubt, er sei von Demerara aus gewesen!« entgegnete der Kapitän, mit trostloser Miene umherschauend.

»– sagte ich«, fuhr der alte Sol fort, »daß ich noch immer ohne bestimmte Auskunft sei. Ich habe in diesem Teil der Welt viele Kapitäne und andere Personen getroffen, die mir, weil sie mich von früher her kannten, hier und da mit einer Fahrt aushalfen, während ich mit Gegendiensten, wie sie mir mein Handwerk möglich machte, mich dankbar dafür erweisen konnte. Jedermann hat mich bedauert und einigermaßen an meinen Wanderungen Anteil genommen. Auch glaube ich, es werde wohl mein Schicksal sein, nach meinem Jungen in der Welt umherzukreuzen, bis ich sterbe.«

»Glaubt, es sei sein Schicksal, als wäre er ein wissenschaftlicher fliegender Holländer!« sprach der Kapitän mit der früheren Miene und großem Ernst.

»Aber als eines Tags die Kunde einlief, Ned – das war zu Barbados, wohin ich wieder zurückgekehrt war – daß ein heimwärts ziehender Chinafahrer angesprochen worden sei, der meinen Jungen an Nord hatte, Ned, so machte ich im nächsten Schiff eine Überfahrt und bin nun, Gott sei Dank, heute abend hier angekommen, um zu finden, daß die Nachricht keine Lüge war.«

Nachdem der Kapitän mit großer Ehrerbietung sein Haupt verbeugt hatte, starrte er alle Anwesenden, mit Mr. Toots anfangend und dem Instrumentenmacher endigend, der Reihe nach an und sagte dann ernst:

»Sol Gills, die Bemerkung, die ich zu machen im Begriff bin, ist darauf berechnet, jeden Stich Segel, den Ihr führen könnt, rein aus den Bolztauen zu blasen und Euch mit einem einzigen Stoß auf die Balkenenden zu bringen. Nicht ein einziger von Euren Briefen wurde Ed’ard Cuttle überliefert. Nicht ein einziger von Euren Briefen«, wiederholte der Kapitän, um seine Erklärung noch feierlicher und eindrucksvoller zu machen, »gelangte je an Ed’ard Cuttle, englischen Seemann, der da ruhig zu Hause lebt und nur bei schönem Wetter auszugehen pflegt.«

»Und doch habe ich sie selbst auf die Post besorgt und eigenhändig nach Brig-PIace Nummer g überschrieben!« rief der alte Sol.

Aus dem Gesicht des Kapitäns wich alle Farbe, um im nächsten Augenblick in voller Glut wieder zurückzukehren.

»Sol Gill«, mein Freund, was meint Ihr mit Brig-Place Nummer g?« fragte der Kapitän.

»Was ich damit meine? Eure Wohnung, Ned«, antwortete der alte Mann. »Mistreß, wie heißt sie doch – ich werde bald meinen eigenen Namen vergessen. Aber ich bin hinter meiner Zeit zurück – Ihr wißt, ich war es stets – und es ist so wirr in meinem Kopf. Mistreß –«

»Sol Gills!« sagte der Kapitän, als lege er den unwahrscheinlichsten Fall von der Welt vor, »der Name, auf den Ihr Euch besinnt, ist doch nicht Mac Stinger?«

»Natürlich!« rief der Instrumentenmacher. »Welcher sonst? Mistreß Mac Stinger!«

Kapitän Cuttle, dessen Augen nun so weit wie möglich offen standen und dessen Gesichtsausbuchtungen eigentlich glühten, stieß ein schrilles, melancholisches Pfeifen aus und betrachtete seine Umgebung in sprachlosem Erstaunen.

»Wiederholt das noch einmal, Sol Gills, wollt Ihr so gut sein?« sagte er endlich.

»Alle diese Briefe«, entgegnete Onkel Sol, indem der Zeigefinger seiner rechten Hand auf der Fläche der linken mit einer Stetigkeit und Bestimmtheit den Takt schlug, die sogar der untrüglichen Uhr in seiner Tasche Ehre gemacht haben würden, »trug ich selbst auf die Post und überschrieb sie eigenhändig an Kapitän Cuttle bei Mistreß Mac Stinger. Brig-Place, Nummer g.«

Der Kapitän nahm den Glanzhut von seinem Haken, guckte hinein, setzte ihn auf und ließ sich auf einen Stuhl nieder.

»Ach, meine Freunde«, sagte der Kapitän, im Zustand größter Niedergeschlagenheit umherstarrend, »ich bin von dort ausgerissen und davongelaufen.«

»Und niemand wußte, wohin Ihr gegangen waret, Kapitän Cuttle?« rief Walter hastig.

»Gott segne Euer Herz, Wal’r«, sagte der Kapitän, den Kopf schüttelnd, »sie würde mir nie gestattet haben, hierher zu kommen und dieses Eigentum da in meine Obhut zu nehmen. Es blieb mir keine andere Wahl, als auszureißen und davonzulaufen. Ja, Wal’r«, fügte er bei, »Ihr habt sie nur in ihrer Ruhe gesehen; aber betrachtet sie einmal, wenn ihre zornigen Leidenschaften sich erheben – und biegt ein Ohr ein!«

»Ich wollte ihr’s geben!« bemerkte die Nipper gelassen.

»Glaubt Ihr, daß Ihr es könntet, meine Liebe?« entgegnete der Kapitän mit einem Anflug von Bewunderung. »Na, das macht Euch Ehre, mein Schatz. Aber was mich betrifft, so wollte ich mich lieber mit dem wildesten Tier einlassen. Es gelang mir nur durch Vermittlung eines Freundes, der nicht seinesgleichen hat, meine Truhe hierher zu bekommen. Ein schlimmer Einfall, Briefe dorthin zu senden: denn unter den obwaltenden Umständen hat sie gewiß keinen angenommen. Ihr habt es da in einer Weise gehalten, daß es nicht der Mühe wert war, ein Briefträger zu sein.«

»Es ist also klar, Kapitän Cuttle«, sagte Walter, »daß wir alle, namentlich aber Ihr und Onkel Sol, dieser Mistreß Mac Stinger viele Sorge zu danken haben.«

Das Gefühl einer derartigen Verpflichtung gegen die entschiedene Hinterbliebene des seligen Mac Stinger drückte sich so allgemein aus, daß der Kapitän keinen Widerspruch dagegen einzulegen geneigt war. Obschon übrigens niemand bei dem Gegenstand verweilte und namentlich Walter, der sich des Gesprächs darüber noch erinnerte, ihn absichtlich umging, so blieb doch der Kapitän beinahe fünf Minuten – für ihn eine außerordentliche Zeit – unter einer Wolke. Dann aber brach die Sonne wieder auf seinem Gesicht hervor und leuchtete allen Anwesenden mit außerordentlichem Glänze zu. Auch geriet er jetzt in eine eigentliche Wut, männiglich wieder und wieder die Hand zu schütteln.

In einer frühen Stunde, aber nicht ehe Onkel Sol und Walter sich gegenseitig über die Dauer und die Gefahren ihrer Reise ausgefragt hatten, räumten, mit Ausnahme Walters, alle Florences Zimmer und gingen nach dem Hinterstübchen hinunter. Dort schloß sich auch bald nachher Walter ihnen an, weil, wie er sagte, Florence sich ein wenig schwermütig fühle und zu Bette gegangen sei. Obschon sie die Ruhende von unten aus mit ihren Stimmen nicht stören konnten, sprachen sie jetzt doch insgesamt in Flüstertönen und drückten in so zarter Weise ihre Gefühle gegen Walters schöne junge Braut aus. Es folgte nun zur Belehrung des Onkel Sol ein ausführlicher Bericht über ihre Geschichte, und Mr. Toots hatte alle Ursache, die Zartheit anzuerkennen, mit der Walter seinem Namen und der Wichtigkeit seiner Dienstleistungen, desgleichen der Notwendigkeit, daß dieser junge Gentleman ihren Beratungen beiwohnte, Gerechtigkeit widerfahren ließ.

»Mr. Toots«, sagte Walter, als er sich von ihm an der Haustür verabschiedete, »wir werden doch morgen früh einander sehen?«

»Leutnant Walter«, versetzte Mr. Toots, seine Hand mit Wärme ergreifend, »ich werde bestimmt da sein.«

»Das ist für lange Zeit der letzte Abend, an dem wir beisammen saßen – vielleicht der letzte für immer«, sagte Walter. »Ein so edles Herz, wie das Eure, muß es wohl fühlen, wenn ihm ein anderes entgegenschlägt. Ich hoffe, Ihr wißt, daß ich Euch aus tiefster Seele dankbar bin?«

»Walter«, versetzte Mr. Toots gerührt, »es würde mich freuen, wenn ich glauben dürfte, ich habe Euch Anlaß dazu gegeben.«

»Florence«, fuhr Walter fort, »nahm mir an diesem letzten Abend, an dem sie ihren eigenen Namen trägt, das Versprechen ab – es geschah erst vor kurzem, als ihr uns gemeinschaftlich verließet – ich solle Euch herzlich von ihr grüßen –«

Mr. Toots legte seine Hand auf den Türpfosten und sein Gesicht auf die Hand.

»– Euch herzlich von ihr grüßen«, fuhr Walter fort, »und Euch sagen, daß sie nie einen Freund haben könne, den sie mehr schätzen werde als Euch. Die Erinnerung an Euer rücksichtsvolles Benehmen gegen sie werde nie aus ihrer Seele weichen. Sie wolle Eurer eingedenk sein in ihren heutigen Gebeten und hoffe, daß Ihr sie nicht vergessen werdet, wenn sie in der Ferne weilt. Kann ich ihr etwas von Euch mitteilen?«

»Sagt ihr, Walter«, versetzte Mr. Toots in ersticktem Tone, »ich werde jeden Tag an sie denken, aber nie ohne die beglückende Überzeugung, daß sie mit dem Mann verbunden sei, den sie liebt und der sie zu schätzen weiß. Habt die Güte, ihr zu sagen, ich sei überzeugt, ihr Gatte verdiene sie – sogar sie – und ich freue mich über ihre Wahl.«

Diese letzten Worte sprach er mit größerer Bestimmtheit, indem er zugleich die Augen von dem Türpfosten aufrichtete. Er drückte dann abermals Walter mit Wärme die Hand – eine Begrüßung, die dieser in gleicher Weise erwiderte – und trat den Heimweg an.

Mr. Toots war von dem Preishahn begleitet, den er in letzter Zeit jeden Abend mitgebracht und in dem Laden gelassen hatte, weil er dachte, es könnten von außen her unvorhergesehene Umstände eintreten, in denen die Tapferkeit dieses ausgezeichneten Mannes dem Midshipman von Nutzen sein dürfte. Der Preishahn schien übrigens an jenem Abend nicht in der besten Stimmung zu sein. Wenn die Gaslampen nicht sehr trügerisch waren, so blinzelte und verdrehte er in gar häßlicher Weise die Nase, als Mr. Toots über die Straße hinüberging und noch einmal nach dem Fenster hinaufsah, wo Florence schlief. Auf dem Heimweg zeigte er gegen die andern Vorübergehenden eine größere Angriffslust, als sich mit seinem Beruf, die friedliche Kunst der Selbstverteidigung zu lehren, vertrug, und nachdem er Mr. Toots nach seiner Wohnung begleitet hatte, entfernte er sich nicht wie gewöhnlich, sondern blieb, mit beiden Händen seinen weißen Hut am Rand haltend, stehen, während er zu gleicher Zeit Kopf und Nase, die ihm oftmal zerschlagen und nur schlecht wieder geheilt worden waren, in der respektwidrigsten Weise aufwarf.

Sein Beschützer, der mit andern Gedanken beschäftigt war, achtete lange nicht darauf, bis der Preishahn, der nicht übersehen werden wollte, mit Zunge und Zähnen verschiedene schnalzende Töne hervorbrachte, um die Aufmerksamkeit des jungen Gentleman auf sich zu ziehen.

»Na, Master«, sagte der Preishahn trotzig, als endlich Mr. Toots‘ Auge auf ihm haften blieb, »ich möchte einmal wissen, ob die Komödie damit endigen soll oder ob Ihr darauf loszugehen und zu gewinnen gedenkt?«

»Preishahn«, versetzte Mr. Toots, »erklärt Euch.«

»Ei ja, es ist alles beieinander, Master«, sagte der Preishahn. »Ich bin nicht der Mann, der seine Worte wegwirft. Nur soviel – soll einer von ihnen geknickt werden?«

Bei dieser Frage ließ der Preishahn seinen Hut fallen, machte mit seiner linken Hand eine Finte und versetzte mit der rechten einem vermeintlichen Feind einen tüchtigen Schlag. Dann schüttelte er den Kopf und nahm seine frühere Stellung wieder ein.

»Na, Master«, sagte der Preishahn, »soll’s Lappalie oder Ernst sein, was von beiden?«

»Preishahn«, entgegnete Mr. Toots, »Eure Ausdrucksweise ist roh und der Sinn Eurer Worte dunkel.«

»Wohlan, so will ich Euch was sagen, Master«, erwiderte der Preishahn. »Rundweg – es ist gemein.«

»Was ist gemein, Preishahn?« fragte Mr. Toots.

»Dies«, versetzte der Preishahn mit einem schrecklichen Runzeln seiner zerbrochenen Nase. »Wie, jetzt, während Ihr hingehen und den Handel abschließen könnt mit dem Steifen«, mit dieser anrüchigen Benennung pflegte der Preishahn Mr. Dombey zu bezeichnen, »und während es Euch frei steht, den Gewinner und seine ganze Sippschaft tot aus Wind und Zeit zu schlagen, wollt Ihr nachgeben? Nachgeben!« fügte er mit verächtlichem Nachdruck bei. »Ja, es ist gemein.«

»Preishahn«, sagte Mr. Toots strenge, »Ihr seid ein wahrhaftiger Geier und habt eine abscheuliche Sinnesart.«

»Meine Sinnesart ist kampf- und regelrecht, Master«, entgegnete der Preishahn. »Ja, so ist meine Sinnesart. Ich kann keine Gemeinheit ertragen. Ich stehe vor dem Publikum, ich führe das Wort in der Schenkstube des kleinen Elefanten, und keiner meiner Prinzipale darf mir durch gemeines Benehmen Schande machen. Ja, ’s ist gemein«, fügte er mit erhöhtem Nachdruck bei. »Ich nehme kein Wort davon zurück. Es ist gemein.«

»Preishahn«, sagte Mr. Toots, »jetzt habe ich genug von Euch.«

»Master«, entgegnete der Preishahn, seinen Hut aufsetzend, »wir sind unserer zwei. So hört! Ihr habt ein paarmal mit mir von einem Wirtsgeschäft gesprochen. Gleichviel! Gebt mir morgen eine Fünfzigpfundnote und laßt mich gehen.«

»Preishahn«, erwiderte Mr. Tools, »bei der abscheulichen Gesinnungsweise, die ich an Euch kennenlernen mußte, ist es mir lieb, unter solchen Bedingungen Euch loszuwerden.«

»Top!« rief der Preishahn. »Es gilt. Ein Benehmen, wie das Eure, paßt nicht zu meinem Buch, Master. Es ist gemein«, fügte er hinzu, da er augenscheinlich nicht über diesen Punkt wegkommen konnte. »Ja, dies ist es – gemein!«

So kamen Mr. Toots und der Preishahn miteinander überein, ihre Verbindung auf die Grundlage der Unverträglichkeit ihrer gegenseitigen moralischen Auffassungsweise hin abzubrechen. Mr. Toots legte sich schlafen und träumte glücklich von Florence, die am letzten Abend ihres jungfräulichen Lebens seiner als ihres Freundes gedacht und ihm herzliche Grüße gesagt hatte.

Siebenundfünfzigstes Kapitel.


Siebenundfünfzigstes Kapitel.

Wieder ein Hochzeit.

Mr. Sownds, der Kirchendiener, und Mrs. Miff, die Kirchenstuhlöffnerin, sind in der Kirche, wo Mr. Dombey getraut wurde, früh auf ihrem Posten. Ein gelbgesichtiger alter Gentleman aus Indien will sich heute morgen mit einem jungen Weibe verbinden, und es werden sechs Wagen voll Gesellschaft erwartet: auch weiß Mrs. Miff, daß der gelbgesichtige alte Gentleman den Weg nach der Kirche mit Diamanten pflastern lassen könnte, ohne es zu spüren. Die Feierlichkeit soll sehr vornehm gehalten werden, da ein sehr ehrwürdiger Dekan für die Einsegnung bestellt ist und die Dame als ein außerordentliches Geschenk von jemand vergeben wird, der zu diesem Zweck ausdrücklich von den Horse Guards herkommt.

Mrs. Miff ist heute morgen gegen das gemeine Volk noch intoleranter als sonst, obschon sie in dieser Beziehung, da sie mit Freisitzen in Verbindung steht, zu allen Zeiten sehr entschiedene Ansichten hegt. Sie hat sich mit dem Studium der Staatswirtschaft nicht abgegeben – sie meint, diese Wissenschaft beziehe sich auf »Dissenters, Baptisten, Wesleyaner oder dergleichen Volk«, sagt sie – kann aber nicht begreifen, wie gemeine Leute auch heiraten wollen. »Zum Henker mit ihnen«, sagt Mrs. Miff, »man muß das nämliche mit ihnen vornehmen und kriegt statt Goldstücke Sixpence.«

Mr. Sownds, der Kirchendiener, ist liberaler als Mrs. Miff – freilich aber auch kein Stuhlöffner. »Es muß geschehen, Ma’am«, sagt er. »Wir müssen sie zusammengeben. Wir brauchen Nationalschulen, denen wir vorangehen müssen, und brauchen stehende Heere. Wir müssen sie zusammengeben, Ma’am«, fährt Mr. Sownds fort, »und das Land im Gang halten.«

Mr. Sownds sitzt auf der Portaltreppe, und Mrs. Miff fegt eben die Kirche aus, als ein einfach gekleidetes junges Paar eintritt. Mrs. Miffs zerbeulter Hut wendet sich rasch zu ihnen hin, denn sie erkennt in diesem frühen Besuch Anzeichen einer Entführungshochzeit. Das Paar will übrigens nicht heiraten – »nur sich in der Kirche umsehen«, sagt der Gentleman. Und da er ein höfliches Kompliment in Mrs. Miffs Handfläche gleiten läßt, so wird ihr Essiggesicht milder, während der zerbeulte Hut und ihre schmächtige, dürre Gestalt rasselnd sich ducken.

Mrs. Miff nimmt ihr Abstäuben wieder auf und klopft auf die Polster los – denn der gelbgesichtige alte Gentleman soll sehr empfindliche Knie haben – folgt aber mit ihrem stuhlöffnenden Auge ohne Unterlaß dem jungen Paare, das in der Kirche umhergeht. »Ahem«, hustet Mrs. Miff, deren Husten noch trockener ist als die Binsen in den ihrer Obhut vertrauten Matten, »wenn ich mich nicht sehr täusche, meine Lieben, so werdet ihr eines schönen Morgens auch herkommen!«

Sie betrachteten eine Wandtafel, die zum Andenken eines Toten eingefügt wurde. Ihre Entfernung von Mrs. Miff ist groß, aber letztere kann mit einem halben Auge sehen, wie sie sich auf seinen Arm lehnt und wie er den Kopf zu ihr niederbeugt. »Na, na«, sagt Mrs. Miff, »ihr könnt etwas Schlimmeres tun, denn ihr seid ein nettes Pärchen!«

Es liegt nichts Persönliches in Mistreß Miffs Bemerkung, da sie nur von ihrem Gewerbsvorrat spricht. Paare haben für sie ebensoviel Interesse wie Särge. Sie ist eine so schmächtige, stracke, ausgetrocknete alte Dame – ein solcher Kirchenstuhl von einer Weibsperson, daß man ebensoviele individuelle Sympathien in einem Zimmerspan finden könnte. Mr. Sownds dagegen, der fleischig ist und Scharlach an seinem Rocke trägt, besitzt ein ganz anderes Temperament. Während er auf der Kirchentreppe dem sich entfernenden jungen Paare nachsieht, bemerkt er, sie habe eine recht hübsche Figur und, so viel er sehen kann (denn sie trug beim Herauskommen den Kopf gesenkt), ein ungewöhnlich nettes Gesicht. »Sie ist im ganzen Mrs. Miff«, sagt Mr. Sownds mit Wohlbehagen, »was ich eine Rosenknospe nennen möchte.«

Mrs. Miff stimmt mit einem dürren Nicken ihres zerbeulten Huts zu, ist aber von der Bemerkung so wenig erbaut, daß sie in ihrem Innern sich vornimmt, sie möchte um kein Gold, das er ihr geben könne, das Weib des Mr. Sownds werden, Kirchendiener hin, Kirchendiener her.

Und was sagt das junge Paar, als es die Kirche verläßt und zum Gittertor des Hofs hinausgeht?

»Ich danke dir, lieber Walter, ich kann jetzt glücklich von hier scheiden.«

»Und nach unserer Zurückkunft besuchen wir sein Grab wieder, Florence.«

Florence erhebt ihre von Tränen glänzenden Augen zu seinem freundlichen Gesicht und schlingt die freie Hand in die andere, die bescheiden in seinem Arm ruht.

»Es ist noch sehr früh, Walter, und die Straßen sind fast noch leer. Laß uns einen Spaziergang machen.«

»Aber du wirst müde werden, meine Liebe.«

»O nein! das erstemal, als wir zusammen gingen, war ich allerdings müde, aber heute wird es nicht der Fall sein.«

Und so gingen Florence und Walter – nicht viel verändert – sie so unschuldig und warmherzig, er aber so offen und hoffnungsvoll, nur noch stolzer auf sie – an ihrem Brautmorgen miteinander durch die Straßen.

Nicht einmal bei jenem kindlichen Gang vorzeiten waren sie so weit entfernt von der ganzen sie umgebenden Welt wie heute. Die kindlichen Füße betraten damals keinen so bezauberten Boden wie jetzt. Die vertrauensvolle Liebe von Kindern mag oftmals verschenkt werden und an vielen Orten aufsprießen: aber ein so weibliches Herz wie das von Florence mit seinem ungeteilten Schatz kann sich nur einmal geben und unter Geringschätzung oder Wechsel bloß hinwelken und sterben.

Sie wählten nur die ruhigsten Straßen und vermieden die Gegend, wo Florences alte Heimat steht. Es ist ein schöner, warmer Sommermorgen, und die Sonne trifft sie mit ihren Strahlen, während sie in den Dünsten, die sich über der Stadt herbreiten, weiter wandeln. Reichtümer enthüllen sich in den Läden: Gold, Silber und Edelsteine blitzen in den sonnigen Fenstern der Goldarbeiter, und große Häuser werfen einen vornehmen Schatten auf sie, während sie vorübergehen. Aber durch Licht und Schatten wandeln sie liebevoll miteinander, ohne auf ihre Umgebung zu achten: sie denken an keine stolzere Heimat, an keine andern Reichtümer, als die sie sich selbst gegenseitig bieten.

Allmählich kommen sie in die dunkleren, schmaleren Straßen, wo die Sonne, bald gelb, bald rot, nur an den Straßenecken und an kleinen offenen Plätzen durch den Nebel zu sehen ist: sie erhellt daselbst einen verkümmerten Baum, eine von den zahlreichen Kirchen, einen gepflasterten Weg und eine Treppenflucht, ein wunderliches Streiflein Garten oder einen Friedhof, wo die wenigen Gräber und Grabsteine fast schwarz aussehen. Liebend und vertrauensvoll geht Florence, sich an seinem Arme festhaltend, durch alle die engen Höfe, Gäßchen und schattigen Straßen, um seine Gattin zu werden.

Ihr Herz beginnt schneller zu schlagen, denn Walter sagt ihr, daß sie jetzt in der Nähe ihrer Kirche seien. Sie kommen an einigen großen Magazinen vorbei, wo Wagen vor den Türen stehen und geschäftige Fuhrleute den Weg versperren; aber Florence sieht und hört nichts von ihnen. Die Luft ist ruhig und das Licht des Tages gedämpft, als sie zitternd in eine Kirche tritt, die den dumpfigen Geruch eines Kellers verbreitet.

Das schäbige alte Männchen, das die hoffnungslose Glocke zu läuten pflegt, steht vor dem Portal. Sein Hut liegt in dem Taufstein, denn er ist der Totengräber, folglich hier ganz zu Hause. Er führt das Paar in eine von Alter gebräunte, getäfelte, staubige Sakristei, die wie ein Eckschrank mit herausgenommenen Simsbrettern aussieht. Die von Würmern zerfressenen Register riechen scharf nach altem Schnupftabak, so daß die tränenvolle Nipper niesen muß.

Wie schön und jugendlich sieht an dem staubigen alten Platz die junge Braut aus, der außer ihrem Gatten kein verwandtes Wesen zur Seite steht. Ein staubiger alter Küster ist da, der in einem gegenüberliegenden Bogengang hinter einem eigentlichen Bollwerk von Pfählen einen Laden unterhält und damit hinreichend beschäftigt zu sein glaubt. Ein staubiger alter Kirchendiener ist da (Kirchendiener und Stuhlöffnerin dieselben, denen am letzten Sonntag Mr. Toots zu schaffen machte), ein Mann im Dienste einer frommen Gesellschaft, die im nächsten Hof eine Halle mit einem farbigen Glasfenster hat, das noch nie einem Sterblichen zu Gesicht gekommen ist. Ferner sieht man hier ein- und ausspringende staubige Karniese, Holzleisten und Kränze über dem Altar, über der Schirmwand an der Empore herum, und über der Inschrift von dem, was der Gründer und die Direktoren der frommen Gesellschaft im Jahr tausendsechshundertvierundneunzig getan haben; desgleichen staubige alte Schalbretter über der Kanzel und dem Lesepult, die aussehen, als seien sie Deckel, um auf die funktionierenden Kirchendiener niedergelassen weiden zu können, im Falle sie ihrer Zuhörerschaft Anstoß geben. Kurz, einer bequemen Ablagerung von Staub ist überall die beste Gelegenheit geboten, nur im Kirchhofe nicht, der in dieser Beziehung nur sehr beschränkten Raum darbietet.

Der Kapitän, Onkel Sol und Mr. Toots sind angelangt. Der Geistliche zieht in der Sakristei seinen Kirchenrock an, während der Küster um ihn hergeht und den Staub abbläst; Braut und Bräutigam stehen vor dem Altare. Eine Brautjungfer fehlt, wenn man nicht etwa Susanna Nipper dafür gelten läßt, und in Ermangelung eines Besseren muß Kapitän Cuttle die Stelle des Vaters vertreten. Ein Mann mit einem hölzernen Beine, der an einem faulen Apfel nagt und einen blauen Sack in der Hand trägt, schaut herein, um zu sehen, was es gibt; da er aber nichts Unterhaltliches findet, so stelzt er wieder weiter und weckt draußen das Echo mit seinem Auftretens Man steht keinen freundlichen Lichtstrahl auf Florence fallen, die mit schüchtern gebeugtem Haupte vor dem Altare kniet. Der helle Morgen ist verbaut und scheint nicht herein. Draußen steht ein magerer Baum, auf dem die Sperlinge zirpen, und dem Fenster gegenüber sieht man in einem nadelöhrgroßen Sonnenblick an der Dachwohnung eines Färbers eine Amsel, die während des Gottesdienstes mit Macht ihre Kehle in Tätigkeit setzt; auch hört man das Holzbein weiterstelzen. Die Amen scheinen dem staubigen Küster wie dem Macbeth ein wenig in der Kehle stecken zu bleiben; aber Kapitän Cuttle leistet Aushilfe und tut dies mit so gutem Willen, daß er das Wort an drei ganz neuen Stellen anbringt, an denen man es nie zuvor während einer Trauung gehört hat.

Sie sind sich zur Ehe gegeben und haben ihre Namen in eines der alten Schnupftabak-Register eingezeichnet. Der Kirchenrock des Geistlichen ist wieder dem Staub überantwortet und der Geistliche nach Hause gegangen. In einer dunkeln Ecke der dunkeln Kirche hat Florence Susanna Nipper gefunden, und sie weint in ihren Armen. Die Augen des Mr. Toots sind rot. Der Kapitän poliert seine Nase. Onkel So! hat seine Brille von der Stirne nach den Augen niedergelassen und ist zur Tür hinausgegangen.

»Gott segne dich, Susanna, teuerste Susanna! Wenn du je Zeugnis geben kannst von der Liebe, die ich für Walter im Herzen trage, und von den Gründen, die mich zu dieser Liebe bewegen, so tue es um meinetwillen! Gott sei mit dir! Gott sei mit dir!«

Sie haben es für besser gehalten, nicht nach dem Midshipman zurückzugehen, sondern so zu scheiden. Eine Kutsche wartet auf sie in der Nähe.

Miß Nipper kann nicht sprechen, sondern nur schluchzen und würgen, und umarmt ihre Gebieterin. Mr. Toots tritt heran, bittet sie guten Muts zu sein, und nimmt sie in seine Obhut. Florence reicht ihm ihre Hand – bietet ihm in der Überfülle ihres Herzen die Lippen – küßt Onkel Sol und Kapitän Cuttle, und wird von ihrem jungen Gatten fortgezogen.

Aber Susanna kann es nicht ertragen, daß Florence mit einer traurigen Erinnerung an sie scheiden soll. Sie hat sich so ganz anders verhalten wollen, daß sie sich bittere Vorwürfe macht. In der Absicht, durch eine letzte Anstrengung die Ehre ihrer Standhaftigkeit zu retten, reißt sie sich von Mr. Toots los und eilt fort, um die Kutsche zu suchen und noch ein Abschiedslächeln zur Schau zu stellen. Der Kapitän, der ihren Zweck ahnt, setzt ihr nach, denn er hält es gleichfalls für seine Pflicht, das Brautpaar womöglich mit einem Hurra zu entlassen. Onkel Sol und Mr. Toots bleiben miteinander zurück und warten vor der Kirche, bis sie wiederkehren.

Die Kutsche ist bereits abgefahren; aber die steile, schmale Straße muß irgendwo ein Hindernis bieten. Susanna gewinnt diese Überzeugung aus einem Stillstehen der Menschen in der Ferne. Kapitän Cuttle folgt der Berganfliegenden und schwenkt als allgemeines Signal, das vielleicht von der rechten Kutsche aufgefangen wird, seinen Glanzhut.

Susanna ist dem Kapitän weit voran und erreicht den Wagen. Sie schaut zum Fenster hinein, sieht Walter mit dem sanften Gesicht an seiner Seite, schlägt ihre Hände zusammen und ruft:

»Miß Floy, mein Herz, seht heraus! Wir alle sind jetzt so glücklich, meine Liebe. Nur noch ein Lebewohl, mein Kleinod – nur noch ein einziges!«

Wie es Susanna möglich wird, weiß sie nicht, aber sie erreicht das Fenster, küßt Florence und hat im Nu die Arme um ihren Hals geschlungen.

»Wir sind alle so – so glücklich jetzt, meine liebe Miß Floy!« sagt Susanna mit einem verdächtigen Drücken in ihrer Stimme. »Ihr werdet mir jetzt nicht zürnen – nicht wahr?«

»Zürnen, Susanna?«

»Nein, nein; ich wußte es ja. Ich sagte, Ihr würdet’s nicht, mein Liebling!« ruft Susanna. »Und da ist auch der Kapitän – Ihr wißt, Euer Freund, der Kapitän – um Euch noch einmal Lebewohl zu sagen.«

»Hurra, meine Herzensfreude!« brüllte der Kapitän mit sehr aufgeregtem Gesicht. »Hurra, Wal’r, mein Junge! Hurra! Hurra!«

Der junge Mann ist an dem einen Fenster, die junge Frau an dem andern; der Kapitän hängt rechts und Susanna links an dem Kutschenschlag; aber der Wagen muß vorwärts, mag er wollen oder nicht, da alle andern Karren und Kutschen wegen seines Zögerns aufrührerisch werden. Nie hat es eine solche Verwirrung auf vier Rädern gegeben. Aber Susanna Nipper führt standhaft ihr Vorhaben aus. Sie behauptet das lächelnde Gesicht bis auf den letzten Augenblick, während ihre Gebieterin gleichfalls durch ihre Tränen lächelt. Und sogar als sie schon zurückbleibt, fährt der Kapitän fort, mit dem Rufe: »Hurra, mein Junge! Hurra meine Herzensfreude!« vor dem Schlag aufzutauchen und zu verschwinden; sein Hemdkragen kommt dabei in sehr ungestüme Aufregung, bis er zuletzt die Hoffnungslosigkeit des Versuches, länger mit der Kutsche gleichen Schritt zu halten, einsieht. Zum Schlusse, nachdem der Wagen abgefahren ist, verfällt Susanna Nipper in einen Zustand der Bewußtlosigkeit, und der Kapitän muß sie in einen Bäckerladen führen, damit sie sich daselbst wieder erhole. Onkel Sol und Mr. Toots sitzen auf dem Schlußstein des Geländers und warten geduldig im Kirchhof, bis Kapitän Cuttle und Susanna zurückkommen. Obschon es ihnen durchaus nicht ums Sprechen oder Angeredetwerden zu tun ist, leisten sie sich doch trefflich Gesellschaft und sind vollkommen zufrieden. Wieder im kleinen Midshipman angelangt, setzen sich alle vier zum Frühstück nieder, aber niemand ist imstande, auch nur einen Bissen anzurühren. Kapitän Cuttle tut, als sei er ungeheuer gierig auf einige Röstschnitte, gibt es aber bald als einen Betrug wieder auf. Nachdem der Tisch wieder abgeräumt ist, verspricht Mr. Toots, am Abend wieder zurückzukommen, und wandert den ganzen Tag mit dem unbestimmten Gefühl in der Stadt umher, als sei er vierzehn Tage lang keines Bettes ansichtig geworden.

Es liegt ein eigentümlicher Zauber auf dem Hause und auf dem Stübchen, in dem sie zusammenzusitzen pflegten und das jetzt so viel verloren hat. Er erhöht und beschwichtigt zugleich den Schmerz des Abschieds. Mr. Tools teilt, als er abends zurückkommt, Susanna Nipper mit, er habe sich den ganzen Tag über nicht so elend gefühlt, und doch könne er sich von dem Stübchen nicht trennen. Da er mit ihr allein ist, so schenkt er ihr sein Vertrauen und erzählt ihr von seinen Gefühlen, als sie ihm so offen ihre Ansicht über die Unwahrscheinlichkeit mitteilte, daß Miß Dombey je ihn lieben werde. Das Vertrauen wird durch solche gemeinschaftliche Rückblicke und durch ihre Tränen erhöht, so daß Mr. Toots zuletzt seiner Gefährtin den Vorschlag macht, sie wollen miteinander ausgehen und Nachtessen kaufen. Miß Nipper gibt ihre Zustimmung, und sie schaffen allerlei Kleinigkeiten herbei, so daß unter Mithilfe von Mrs. Richards ein stattliches Souper aufgetragen werden kann, ehe der Kapitän und der alte Sol nach Hause kommen.

Der Kapitän und der alte Sol sind am Bord des Schiffes gewesen, um Diogenes dahin zu verpflanzen und die Ladung des Gepäcks zu überwachen. Sie wissen viel davon zu erzählen, wie beliebt Walter sei; er habe es ganz gemächlich und sei mit aller Ruhe früh und spät tätig, um seine Kajüte zu einem »Bildchen«, wie es der Kapitän nennt, zu machen und seine junge Frau damit zu überraschen. »Wohlverstanden«, sagt der Kapitän, »eine Admiralskajüte könnte nicht schmucker sein.«

Eine von des Kapitäns Hauptfreuden besteht jedoch darin, daß er weiß, die große Uhr, die Zuckerzange und die Teelöffel seien wohlbehalten an Bord. Man hört ihn wieder und wieder vor sich hinmurmeln: »Ed’ard Cuttle, mein Junge, du hast in deinem Leben nie auf einen so guten Kurs angelegt, als wie du das kleine Eigentum gemeinsam überwachtest. Du hast sogleich gemerkt, wo das Land lag, Ed’ard«, sagte der Kapitän, »und es macht dir Ehre, mein Junge.«

Der alte Instrumentenmacher ist zerstreuter und düsterer als sonst; er nimmt sich die Hochzeit und den Abschied sehr zu Herzen. Zum Trost gereicht es ihm übrigens, daß er seinen alten Bundesgenossen Ned Cuttle zur Seite hat, und er setzt sich mit dankbarem und zufriedenem Gesicht zum Nachtessen nieder.

»Mein Junge ist erhalten worden und gedeiht«, sagt der alte Sol Gills, indem er sich die Hände reibt. »Habe ich ein Recht, etwas anderes zu sein als dankbar und glücklich?«

Der Kapitän, der seinen Sitz am Tisch noch nicht eingenommen, aber sich eine Zeitlang sehr unruhig umgetrieben hat, sieht jetzt Mr. Gills zaudernd an und beginnt:

»Sol, wir haben noch die letzte Flasche alten Madeira drunten. Wünscht Ihr, mein Junge, daß sie heute abend Wal’r und seiner Frau zu Ehren angebrochen werde?«

Der Instrumentenmacher sieht den Kapitän nachdenklich an, steckt die Hand in die Brusttasche seines kaffeefarbigen Rocks, holt seine Brieftafel hervor und nimmt ein Schreiben heraus.

»An Mr. Dombey«, sagt der alte Mann. »Von Walter. Es soll ihm nach drei Wochen zugesendet werden. Ich will es lesen.«

»Sir.

Ich bin mit Eurer Tochter vermählt und sie hat mit mir eine weite Reise angetreten. Obschon ihr, Gott weiß es, mein ganzes Dasein gewidmet ist und ich sie über alle Erdendinge liebe, hätte ich doch meine Ansprüche nicht bis zu ihr oder zu Euch erheben sollen; indes sind Gründe vorhanden, die mich bewogen, ohne Gewissensbisse ihr Geschick mit den Unsicherheiten und Gefahren meines Lebens zu verflechten. Ich will nichts weiter sagen. Ihr seid ihr Vater und wißt warum. Macht ihr keine Vorwürfe. Sie hat Euch nie einen Vorwurf gemacht. – Ich denke und hoffe nicht, daß Ihr mir je vergeben werdet. Ich erwarte es am allermindesten. Wenn aber eine Stunde kommen sollte, in der Euch das Bewußtsein tröstlich wird, Florence habe stets jemand in der Nähe, der sich’s zur großen Aufgabe seines Lebens macht, die Erinnerungen an den vergangenen Kummer zu verwischen, so gebe ich Euch die feierliche Versicherung, daß Ihr Euch in einer solchen Stunde dieser Überzeugung hingeben dürft.«

Solomon legt das Schreiben bedächtig wieder in seine Brieftafel und steckt sie in seine Rocktasche.

»Wir wollen die letzte Flasche des alten Madeira noch nicht trinken, Ned«, sagte der alte Mann. »Noch nicht.«

»Nein«, pflichtete der Kapitän bei. »Nein, noch nicht.« Susanna und Mr. Toots sind derselben Ansicht. Nach einer schweigsamen Pause setzen sie sich zum Nachtessen nieder und trinken die Gesundheit des jungen Ehepaars in etwas anderem. Die letzte Flasche alten Madeiras bleibt unter dem Staub und den Spinngeweben noch ungestört.

Einige Tage sind vergangen, und ein stattliches Schiff sticht in die See, seine weißen Schwingen vor dem günstigen Winde ausbreitend. Auf dem Deck – für den rauhesten Mann an Bord ein Bild der Anmut, Schönheit und Unschuld, ein Bild von etwas Gutem und Angenehmem, das die Reise glücklich machen muß – befindet sich Florence. Es ist Abend. Sie und Walter sitzen allein und betrachten den feierlichen Lichtpfad auf dem Meer zwischen ihnen und dem Mond.

Endlich kann sie nicht mehr deutlich sehen, denn Tränen füllen ihre Augen. Sie lehnt ihr Haupt an seine Brust, schlingt die Arme um seinen Nacken und sagt:

»O Walter, mein teures Leben, ich bin so glücklich!« Der junge Gatte drückt sie an seine Brust. Ein stilles Glück erfüllt ihre Herzen, und das stattliche Schiff gleitet ruhig weiter.

»Wenn ich lauschend da sitze und das Rauschen des Meeres höre«, sagte Florence, »so kommen mir viele Tage der Vergangenheit in den Sinn. Es erinnert mich stets – –«

»An Paul, meine Liebe. Ich weiß es.«

»An Paul und Walter.«

Und die Stimmen in den Wellen flüstern in ihrem unablässigen Gemurmel Florence stets zu von Liebe – von Liebe, ewig und grenzenlos, nicht abgeschieden durch die Schranken dieser Welt oder durch das Ende der Zeit, sondern weiter sich breitend über Meer und Himmel, hinaus nach dem fernen unsichtbaren Lande!

Achtundfünfzigstes Kapitel.


Achtundfünfzigstes Kapitel.

Später.

Das Meer hatte während eines ganzen Jahres geebbt und geflutet. Ein ganzes Jahr waren die Winde gekommen und gegangen; die Zeit hatte ihre rastlose Arbeit getan in Sturm und Sonnenschein. Während eines ganzen Jahres waren die Fluten menschlicher Zufälligkeiten in den ihnen angewiesenen Strömungen fortgegangen. Während eines ganzen Jahres hatte das berühmte Haus Dombey und Sohn einen Lebenskampf gekämpft gegen widrige Zufälle, zweifelhafte Gerüchte, verunglückte Wagnisse und ungünstige Zeiten, am meisten aber gegen die Betörung seines Hauptes, das seine Unternehmungen nicht um eine Haaresbreite beschränken und nie dem warnenden Winke Gehör schenken wollte, das so hart gegen den Sturm gedrängte Schiff sei schwach und vermöge ihn nicht auszuhalten. Das Jahr war um, und das große Haus fiel.

An einem Sommernachmittag, nicht völlig ein Jahr nach der Hochzeit in der Citykirche, summte und flüsterte man auf der Börse von einem großen Bankrott. Ein dort wohlbekannter, kalter, stolzer Mann war nicht zugegen und auch durch niemand vertreten. Am nächsten Tage verbreitete sich da« Gerücht, Dombey und Sohn habe seine Zahlungen eingestellt, und am Abend darauf stand dieser Name obenan auf der Liste der Bankrotten.

Die Welt war in der Tat jetzt sehr geschäftig und wußte gar viel zu sagen. Es war eine unschuldige, leichtgläubige, eine viel mißhandelte Welt – eine Welt, in der es nie Bankrotte anderer Art gegeben hatte. Man erblickte darin keine Personen, die weit und breit auf mürben Ufern von Religion, Patriotismus, Tugend und Ehre Geschäfte machen. Es gab keinen auch nur des Zeitungspapiers werten Betrag, von dem dieser und jener sich recht hübsch durchbrachte – wir meinen, einen Betrag von Tugenden, der wohl versprochen, aber nicht bezahlt wird. Es gab nirgends und in nichts eine Verkürzung, als im Gelde. Die Welt war in der Tat sehr aufgebracht, und namentlich zeigten sich diejenigen besonders entrüstet, die in einer schlechteren Welt selbst des moralischen Bankrotts verdächtig gewesen wären.

Für den armen Spielball der Umstände, Mr. Perch, den Ausläufer, gab es jetzt neue Verlockung zu einem ungeregelten Leben. Das Schicksal schien diesen Mann dazu bestimmt zu haben, daß er stets aufwachen und sich berühmt finden mußte. Man möchte sagen, kaum gestern hatte es ihm das Verklingen des Rufs, den er der Entführung und den darauffolgenden Umständen verdankte, möglich gemacht, wieder in seinem ruhigen Gang fortzuwandeln, und nun wurde er durch den Bankrott zu einem bedeutsameren Mann als je. Wenn Mr. Perch von dem Trippel im Außenkontor, von wo aus er jetzt die fremden Gesichter der Rechnungsprüfer und anderer Personen musterte, die rasch fast alle alten Buchhalter verdrängten, herunterglitt, brauchte er sich nur im Hof draußen oder höchstens in der Schenkstube des Königswappens zu zeigen, um augenblicklich mit einer Menge Fragen überschüttet zu werden, unter denen die, was er zu trinken wünsche, obenan stand. Er pflegte dann über die Stunden bitterer Unruhe zu lamentieren, die er und Mrs. Perch in Balls Pond draußen erlitten hätten, seit zum erstenmal der Argwohn in ihnen aufgetaucht sei, »daß es schief gehe«. Dann eröffnete er den gaffenden Zuhörern mit gedämpfter Stimme, als ob die Leiche des gefallenen Hauses unbeerdigt im nächsten Zimmer liege, wie Mrs. Perch zuerst auf die Mutmaßung gekommen sei, daß es wirklich nicht richtig sein müsse, weil sie ihn im Schlaf hatte stöhnen hören: »Zwölf Schilling und neun Pence am Pfund, zwölf Schilling und neun Pence am Pfund.« Diese somnambulische Prophezeiung mußte wohl, wie er meinte, von dem Eindruck herrühren, den der Wechsel von Mr, Dombeys Gesicht auf ihn gemacht habe. Sodann teilte er seinem Auditorium mit, wie er einmal gesagt habe: »Darf ich mir wohl die Freiheit nehmen zu fragen, Sir, ob Ihr Euch im Gemüt bedrückt fühlt?« und wie Mr. Dombey darauf erwiderte: »Mein treuer Perch – aber nein, es kann nicht sein!« Und mit diesen Worten sei er mit der Hand über seine Stirn gefahren und habe gesagt: »Laßt mich allein, Perch!« Mit einem Wort: Mr. Perch, ein Opfer seiner Stellung, pflegte Lügen aller Art vorzubringen, rührte sich dabei selbst bis zu Tränen und glaubte am Ende wirklich, die Erfindungen von gestern seien durch die öftere Wiederholung heute zu einer Art Wahrheit geworden.

Mr. Perch schloß solche Konferenzen stets mit der bescheidenen Bemerkung, daß es natürlich, welchen Argwohn er auch gehabt haben möge (als ob er je einen gehabt hätte!), ihm nicht zustehe, das in ihn gesetzte Vertrauen zu verraten – eine Gesinnung, die, weil nie Gläubiger anwesend waren, unter Anerkennung der Ehrenhaftigkeit seiner Gefühle aufgenommen wurde. So brachte er in der Regel ein beruhigtes Gewissen wieder fort und hinterließ einen angenehmen Eindruck, wenn er wieder nach seinem Trippel zurückkehrte, um die fremden Gesichter der Rechnungssteller und anderer zu beobachten, die so frei mit den großen Geheimnissen der Bücher umgingen. Hin und wieder schlich er dann auf den Zehen in Mr. Dombeys leeres Zimmer, um das Feuer zu schüren, oder schöpfte Luft unter der Tür und plauderte mit irgendeinem vorübergehenden Bekannten über die klägliche Geschichte. Auch ließ er es nicht daran fehlen, dem Hauptrechnungssteller unterschiedliche kleine Aufmerksamkeiten zu erweisen und sich denselben dadurch günstig zu stimmen: denn er hoffte, der besagte Gentleman werde ihm, wenn die Angelegenheiten des Hauses abgeschlossen seien, zu einem Ausläuferposten bei einer Feuerversicherungs-Gesellschaft verhelfen.

Für Major Bagstock war der Bankrott eine richtige Kalamität. Der Major war kein sympathischer Charakter, da sich seine Aufmerksamkeit ganz auf J. B. konzentrierte, und auch keinen lebhaften Erregungen ausgesetzt, wenn wir von der physischen des Keuchens und Erstickenwollens absehen. Er hatte jedoch im Klub mit seinem Freund Dombey so groß getan, ihn den Mitgliedern desselben im allgemeinen so an den Kopf geworfen und den Reichtum des großen Mannes stets so nachdrücklich behauptet, daß der Klub, der nur ein menschlicher war, ein Entzücken darin fühlte, sich an dem Major zu rächen, indem er ihn mit dem Anschein großer Teilnahme fragte, ob dieser furchtbare Schlag überhaupt erwartet worden sei und wie sein Freund Dombey ihn ertrage. Auf solche Fragen pflegte der Major, der dabei ganz purpurrot wurde, zu antworten, es sei ganz und gar eine schlechte Welt, Sir, und Joe wisse ein und das andere, aber es sei jetzt aus mit ihm, Sir, aus wie mit einem Kinde: wenn man dies J. Bagstock vorausgesagt hätte, Sir, als er mit Dombey auf Reisen ging und jenem Vagabunden durch Frankreich auf und ab nachjagte, so würde J. Bagstock einem jeden, der etwas Derartiges behauptet hätte, ins Gesicht gehustet – ja, ins Gesicht gehustet haben, Sir – so wahr Gott lebt! Joe sei getäuscht, sei angeführt und geblendet worden, Sir, habe aber jetzt seine Augen wieder weit offen, in der Tat so weit, Sir, daß, wenn Joes eigener Vater morgen aus dem Grab aufstünde, er dem alten Kunden keinen Penny anvertrauen, sondern zu ihm sagen würde, sein Sohn Josh sei ein zu alter Soldat, um sich noch einmal über den Löffel barbieren zu lassen. Er sei ein argwöhnischer, schwieriger, vorsichtiger, aufgebrauchter J. B.-Heide, Sir, und wenn es sich mit der Würde eines rauhen und zähen alten Majors von der alten Schule, der die Ehre hatte, von Ihren königlichen Hoheiten, den Herzogen von Kent und Jork, ausgezeichnet zu werden, vertrüge, so würde er sich, bei Gott, in ein Faß zurückziehen und darin leben. Er würde sich morgen in Pall Mall ein Faß anschaffen, Sir, um damit seine Verachtung vor der Menschheit auszudrücken.

Solcher Vorträge mit allerlei Variationen über das gleiche Thema entledigte sich der Major mit so vielen schlagflüssigen Symptomen, einem so einschüchternden Rollen des Kopfes und einem so ungestümen Brummen des Ärgers über seine mißbrauchte Persönlichkeit, daß die jüngeren Mitglieder des Klubs auf die Vermutung kamen, er habe bei dem Hause seines Freundes Dombey Geld angelegt und es verloren, obschon die älteren Soldaten und die schlaueren Männer, die Joe besser kannten, nichts von dergleichen hören wollten. Der unglückliche Eingeborene, der keine Ansicht ausdrückte, litt furchtbar, nicht bloß in seinen moralischen Gefühlen, die von dem Major jede Stunde des Tages mit einem regelmäßigen Feuer bearbeitet wurden, sondern auch körperlich durch Püffe und Stöße, so daß er keinen Augenblick zu einer leiblichen Ruhe kommen konnte. Sechs volle Wochen nach dem Bankrott lebte der unglückliche Ausländer in einer Regenzeit von Stiefelziehern und Bürsten.

Über den schrecklichen Umschwung der Dinge hatte Mrs. Chick drei Vorstellungen. Die erste war, daß sie ihn nicht begreifen könne, die zweite, daß ihr Bruder keine Anstrengung gemacht habe, und die dritte, daß dies, wie sie schon damals gesagt habe, nie hätte vorkommen können, wenn sie an dem bewußten ersten Tag zum Diner eingeladen worden wäre.

Die Ansicht von niemand trat auf die Seite des Unglücks, erleichterte es oder machte es schwerer. Man wußte, die Angelegenheiten des Hauses würden so gut, als es gehen wolle, zum Abschluß kommen, und Mr. Dombey habe freiwillig auf all sein Eigentum verzichtet, ohne sich von irgend jemand eine Gunst zu erbitten. Von einer Wiederaufnahme des Geschäfts könne keine Rede sein, da er von keinem gütlichen Vergleich, dessen Möglichkeit in Aussicht stehe, etwas wissen wolle; auch habe er alle Posten des Vertrauens und der Auszeichnung, die ihm als einem unter den Kaufleuten geachteten Mann übertragen worden, abgegeben. Die einen erklärten, er sei todkrank, die andern wollten wissen, die Schwermut habe ihm den Verstand verwirrt, alle aber vereinigten sich dahin, daß er ein zugrunde gerichteter Mann sei.

Die Angestellten zerstreuten sich nach einem kleinen Beileids-Diner, das durch Possenlieder belebt wurde, und fanden wunderbar guten Abgang. Einige nahmen Plätze im Ausland an, andere erhielten ein Unterkommen in englischen Häusern, wieder einige erinnerten sich plötzlich, daß sie eine besondere Vorliebe für gewisse Bekanntschaften im Land hätten, und andere boten ihre Dienste in den Zeitungen an. Nur Mr. Perch blieb in dem Hause und betrachtete sich von seinem Trippel aus die Rechnungssteller oder stürzte von seinem Posten herunter, um den Hauptrechner, der ihn bei der Feuerversicherungs-Gesellschaft unterbringen sollte, für sich zu gewinnen. Das Kontor sah bald sehr schmutzig und vernachlässigt aus. Der Hauptpantoffel- und Hundehalsband-Verkäufer an der Ecke des Hofs hatte seine Bedenken, ob er nicht eine Ungebühr begehe, wenn er bei Mr. Dombeys Heraustreten auch nur seinen Zeigefinger an den Rand seines Hutes lege, und der Zettelträger mit den Händen unter der weißen Schürze moralisierte in sehr nüchterner Weise über das Sprichwort, daß Hochmut vor dem Fall komme.

Mr. Morfin, der braunäugige Junggeselle mit dem graugesprenkelten Haar und Bart, war vielleicht in der Atmosphäre des Hauses die einzige Person – natürlich den Prinzipal ausgenommen – dem das hereingebrochene Unglück tief und schwer zu Herzen ging. Er hatte Mr. Dombey durch eine Reihe von Jahren mit der gebührenden Achtung behandelt, aber nie seinen natürlichen Charakter verheimlicht oder zu Förderung selbstsüchtiger Zwecke mit der Leidenschaft seines Herrn ein Spiel getrieben, weshalb es denn auch bei ihm keine Mißachtung zu rächen, überhaupt keine lang angespannten Federn gab, die mit einem raschen Rückprall sich losmachten. Er arbeitete früh und spät, um die verwickelten oder schwierigen Verhältnisse des Hauses zu entwirren, war stets bereit, etwa verlangte Auskunft zu erteilen, blieb bisweilen bis tief in die Nacht hinein auf dem alten Kontorstübchen, um sich so weit in die Verhältnisse hineinzuarbeiten, daß er Mr. Dombey den Schmerz einer persönlichen Vernehmung ersparen konnte, und ging dann nach seiner Wohnung in Islington, wo er vor Schlafengehen seinen Geist durch die ungeheuerlichsten Töne, die er seinem Violoncello entlockte, zu beruhigen suchte.

Er unterhielt sich eines Abends mit diesem melodischen Gekratze und holte, da er den Tag über sehr niedergeschlagen gewesen, sich Trost aus den tiefsten Baßtönen seines Instruments, als seine Hauswirtin, die zum Glück nicht gut hörte und von künstlerischen Leistungen ihres Mieters keinen andern Eindruck erhielt, als ob etwas in ihren Knochen knarre, den Besuch einer Dame ankündigte.

»In Trauer«, sagte sie.

Der Violoncellobogen hörte augenblicklich auf zu streichen, und nachdem der Musiker mit großer Sorgfalt sein Instrument auf ein Sofa gelegt hatte, deutete er durch ein Zeichen an, daß die Dame kommen könne. Zugleich ging er zur Tür hinaus, um den Besuch zu empfangen, und traf Harriet Carker auf der Treppe.

»Allein«, sagte er; »und John war heute morgen hier? Ist etwas vorgefallen, meine Liebe? Doch nein«, fügte er hinzu; »Euer Gesicht läßt mich etwas ganz anderes lesen.«

»Dann fürchte ich, Ihr findet darin nur eine selbstsüchtige Enthüllung«, antwortete sie.

»Jedenfalls eine sehr angenehme«, sagte er, »und ist sie selbstsüchtig, so wird sie noch obendrein zu einer Neuigkeit, die man nicht leicht bei Euch zu hören bekommt. Ich glaube es übrigens nicht.«

Er hatte ihr inzwischen einen Stuhl angeboten und nahm ihr gegenüber Platz, während das Violoncello behaglich zwischen ihnen auf dem Sofa lag.

»Ihr werdet Euch nicht wundern, daß ich allein komme oder daß John von meinem beabsichtigten Besuche nichts gegenüber Euch erwähnt hat«, sagte Harriet, »wenn ich Euch mitteile, weshalb ich hier bin? Darf ich?«

»Ihr könnt nichts Besseres tun.«

»Ihr waret nicht beschäftigt?«

Er deutete nach dem auf dem Sofa liegenden Violoncello und sagte:

»Ich war’s den ganzen Tag. Hier ist mein Zeuge. Ihm habe ich alle meine Sorgen vertraut. Wollte Gott, ich hätte ihm keine als meine eigenen mitzuteilen.«

»Ist’s mit dem Haus zu Ende?« fragte Harriet dringlich.

»Völlig zu Ende.«

»Und wird nie wieder aufgenommen werden?«

»Nie.«

Der glänzende Ausdruck ihres Gesichtes wurde nicht überschattet, als ihre Lippen leise das Wort wiederholten. Er schien dies mit einer unwillkürlichen kleinen Überraschung zu bemerken und fuhr fort:

»Nie. Ihr erinnert Euch, was ich Euch sagte. Es ist unmöglich gewesen, ihn zu überzeugen, unmöglich, ihm Vernunft beizubringen, bisweilen sogar unmöglich, ihm nur nahezukommen. Das Schlimmste ist eingetroffen und das Haus gefallen, um nicht wieder aufgerichtet zu werden.«

»Und ist Mr. Dombey persönlich zugrunde gerichtet?«

»Ja.«

»Wird denn kein Privatvermögen übrig bleiben? Nichts?«

Eine gewisse Hast in ihrer Stimme und ein Ausdruck in ihrem Gesicht, der fast freudig zu sein schien, überraschte ihn noch mehr, und zwar nicht in angenehmer Weise, da seine eigenen Gefühle dadurch widerlich berührt wurden. Er trommelte mit den Fingern der einen Hund auf den Tisch, blickte sie fragend an, schüttelte den Kopf und sagte nach einer Pause:

»Ich weiß nicht genau, wie weit sich Dombeys Hilfsquellen erstrecken, aber wenn sie auch ohne Zweifel sehr groß sind, stehen ihnen doch ungeheure Verbindlichkeiten gegenüber. Er ist ein Gentleman von Ehre und hoher Rechtschaffenheit. Mancher in seiner Lage hätte sich retten können und würde sich auch gerettet haben durch Anbieten von Bedingungen, die die Verluste der Geschäftsfreunde nur gering, fast unmerklich vergrößert und ihm doch noch einen Rest gelassen hätten, von dem er leben kann. Aber er ist entschlossen, bis auf den letzten Heller seines Vermögens Zahlung zu leisten. Seine eigenen Worte lauten, sein Haus werde dadurch zwar geleert oder nahezu geleert werden, indes könne im schlimmsten Fall niemand viel verlieren. Ach, Miß Harriet, es würde uns nicht schaden, wenn wir öfters daran dächten, daß Laster bisweilen nur übertriebene Tugenden sind. Wir sehen hierin wieder seinen Stolz.«

Sie hörte ihn mit geringem oder gar keinem Wechsel in dem Ausdruck ihres Gesichts und mit einer geteilten Aufmerksamkeit an, die zeigte, daß ihr Inneres mit etwas anderem beschäftigt war. Als er schwieg, fragte sie ihn abermals:

»Habt Ihr ihn in letzter Zeit gesehen?«

»Er läßt niemand vor. Wenn dieser Wendepunkt seiner Angelegenheiten es nötig macht, sein Haus zu verlassen, so zeigt er sich, geht wieder nach Hause und sperrt sich gegen jedermann ab. Er hat mir ein Schreiben zugehen lassen, in dem er unsere frühere gegenseitige Beziehung höher anschlägt, als sie es verdiente, und von mir Abschied nimmt. Das Zartgefühl verbietet mir, mich ihm jetzt aufzudringen, da ich in besseren Zeiten nie viel Verkehr mit ihm hatte; aber gleichwohl habe ich einen Versuch dazu gemacht. Ich schrieb ihm, ging zu ihm und bat ihn um Gehör, aber völlig vergeblich.«

Er sah sie an, in der Hoffnung, sie dürfte eine größere Teilnahme kundgeben, als sie bisher an den Tag gelegt hatte. Obschon er ernst und gefühlvoll gesprochen, als wolle er den Tatbestand ihr näher ans Herz legen, ließ sich doch kein Wechsel in ihr bemerken.

»Doch lassen wir das, Miß Harriet«, sagte er mit der Miene getäuschter Erwartung: »es führt zu nichts. Ihr seid nicht hierhergekommen, um dies zu hören. Es liegt Euch ein anderer, angenehmerer Gegenstand auf dem Herzen. Laßt mich teilnehmen daran, und wir werden unter gleicheren Verhältnissen uns besprechen können.«

»Nein, es ist derselbe Gegenstand«, entgegnete Harriet mit unverhohlenem Erstaunen. »Warum sollte dies nicht der Fall sein? Ist es nicht natürlich, daß John und ich in letzter Zeit oft und viel an die kürzlichen großen Veränderungen dachten und davon sprachen? Mr. Dombey, dem er so viele Jahre gedient hat – Ihr wißt, unter welchen Verhältnissen – so heruntergekommen, wie Ihr sagt, und wir dagegen eigentlich reich.« So gut und ehrlich auch ihr Gesicht war und so lieblich es Mr. Morfin, dem braunäugigen Junggesellen, seit der Zeit geworden sein mochte, als er es zum erstenmal erblickte, gefiel es ihm in diesem Moment, in dem ein Strahl von Freude darüber hinblitzte, weniger als je zuvor.

»Ich brauche Euch nicht daran zu erinnern«, sagte Harriet, nach ihrem schwarzen Gewand niederbückend, »durch welche Mittel unsere Umstände so verändert wurden. Ihr habt nicht vergessen, daß unser Bruder James an jenem schrecklichen Tage kein Testament und außer uns keine Verwandten hinterließ.«

Das Gesicht kam ihm jetzt wieder lieblicher vor, obschon es blaß und schwermütig aussah. Er schien freier aufzuatmen.

»Ihr kennt unsere Geschichte«, sagte sie, »die Geschichte meiner beiden Brüder in ihrer Beziehung zu dem unglücklichen Gentleman, von dem Ihr eben mit so viel Wärme gesprochen habt. Ihr wißt, wie wenig wir – John und ich – bedürfen und wie wir nach der Lebensweise, die wir so viele Jahre gemeinschaftlich geführt haben, keinen großen Aufwand nötig haben: auch verdankt er Eurer gütigen Verwendung einen Posten, dessen Ertrag für uns vollständig ausreicht. Ihr könnt Euch jetzt wohl denken, um welcher Bitte willen ich zu Euch gekommen bin?«

»Ich weiß es kaum. Vor einer Minute meinte ich, es mir denken zu können, jetzt aber glaube ich, daß ich in einem Irrtum befangen war.«

»Von meinem verstorbenen Bruder will ich nicht sprechen. Wüßte der Tote, was wir tun – aber Ihr versteht mich. Von meinem lebenden Bruder könnte ich viel sagen: doch wozu bedarf es einer weiteren Erklärung, als daß die pflichtmäßige Handlung, bei der wir Eure Mithilfe nicht entbehren können, von ihm ausgeht, und daß er weder rasten noch ruhen kann, bis sie erfüllt ist!«

Sie erhob abermals ihren Blick, und das Licht der Freude auf ihrem Gesicht erschien wunderlieblich in den Augen dessen, der es betrachtete.

»Mein teurer Sir«, fuhr sie fort, »es muß in aller Stille und Heimlichkeit geschehen. Eure Erfahrung und Sachkenntnis wird Euch ein Mittel an die Hand geben, uns dabei behilflich zu sein. Man kann vielleicht Mr. Dombey den Glauben beibringen, von den Trümmern seiner Habe sei unerwarteterweise etwas gerettet worden; es handle sich dabei um einen freiwilligen Zoll, der von einem seiner bedeutenderen früheren Geschäftsfreunde seinem ehrenhaften und aufrichtigen Charakter gebracht werde, oder um eine alte für verloren gegebene Schuld, für welche Zahlung einlief. O, es gibt viele Arten, die Sache einzuleiten, und ich weiß, Ihr werdet die beste wählen. Nur bitte ich Euch um die Gunst, in Eurer eigenen freundlichen, ehrenhaften und rücksichtsvollen Weise für uns zu handeln. Sprecht mit John nicht davon, denn er fühlt sich am glücklichsten, wenn dieser Akt der Rückerstattung im geheimen, unbekannt und ohne Lob geschieht. Nur ein sehr kleiner Teil der Erbschaft soll uns vorbehalten bleiben, Mr. Dombey aber die Nutznießung des übrigen für Lebenszeit bekommen. Aber Ihr müßt treulich unser Geheimnis bewahren – ich bin überzeugt, daß Ihr es werdet, und von Stunde an wollen auch wir beide darüber schweigen, denn ich sehe nur einen neuen Grund darin, dem Himmel zu danken und auf meinen Bruder stolz zu sein.«

Solch ein frohlocken mag sich auf den Gesichtern der Engel ausdrücken, wenn unter neunundneunzig Gerechten der einzige reuige Sünder in den Himmel eingeht. Es wurde nicht getrübt oder gemindert durch die frohen Tränen, die ihre Augen füllten, sondern erschien dadurch nur um so glänzender.

»Meine teure Harriet«, sagte Mr. Morfin nach einer Pause, »hierauf war ich nicht vorbereitet. Wenn ich Euch recht verstehe, so wünscht Ihr Euren eigenen Anteil an der Erbschaft ebensogut Einem schönen Zweck dienstbar zu machen als den Eures Bruders John?«

»Ja«, entgegnete sie. »Nachdem wir so lange Zeit alles miteinander geteilt haben und uns keine weitere Sorge oder Hoffnung vorbehalten bleibt, hatte ich mich wohl von der Beteiligung ausschließen können? Darf ich nicht verlangen, bis auf den letzten Augenblick in allem seine Gesellschafterin und Teilhaberin zu sein?«

»Verhüte der Himmel, daß ich dies bestreite!« erwiderte er.

»Wir dürfen uns also auf Eure freundliche Beihilfe verlassen?« sagte sie. »Ich wußte wohl, daß ich keine Fehlbitte tun werde.«

»Ich wäre ein schlechterer Mensch, als – ich hoffentlich bin oder zu sein glaube, wenn ich Euch nicht aus vollem Herzen und von ganzer Seele diese Versicherung gäbe. Zählt unbedingt auf mich. Bei meiner Ehre, ich will Euer Geheimnis bewahren, und stellt sich wirklich heraus, daß Mr. Dombey so weit herabgekommen ist, als ich besorge, so soll Euch bei Ausführung des Plans, zu dem Ihr Euch mit Eurem Bruder verbunden habt, mein ganzer Einfluß zur Seite stehen.«

Sie gab ihm ihre Hand und dankte ihm mit herzlichem, glücklichem Gesicht.

»Harriet«, fuhr er fort, die ihm dargebotene Rechte festhaltend, »es wäre eitel und anmaßend, mit Euch über den Wert irgendeines Opfers, das Ihr jetzt bringen könnt, namentlich aber eines bloßen Geldopfers sprechen zu wollen, und mein Inneres sagt mir, daß jede Aufforderung, Euer Vorhaben noch einmal zu überlegen oder ihm engere Grenzen zu stecken, die gleiche Bezeichnung verdiente. Ich habe kein Recht, das großartige Ende einer großen Geschichte durch eine Aufdrängung meines eigenen schwachen Ichs zu verderben, sondern muß mein Haupt beugen vor dem, was Ihr mir vertraut, in der festen Überzeugung, daß es aus einer höheren und besseren Begeisterungsquelle stammt, als mein armes weltliches Wissen zu bieten vermag. Laßt mich nur noch hinzufügen, daß ich Euer getreuer Verwalter sein werde. Da ich nicht Ihr selbst sein kann, so ziehe ich es allem in der Welt vor, von Euch zum Freund gewählt worden zu sein.«

Sie dankte ihm abermals herzlich und wünschte ihm gute Nacht.

»Geht Ihr nach Hause?« fragte er. »Erlaubt mir, Euch zu begleiten.«

»Nein, heute nicht. Ich gehe nicht nach Hause, sondern habe noch einen Besuch zu machen. Wollt Ihr morgen kommen?«

»Ja, ja, ich komme morgen«, versetzte er. »Inzwischen will ich mir die Sache überlegen und sehen, wie sie sich am besten einleiten läßt. Vielleicht denkt Ihr gleichfalls darüber nach, teure Harriet, und – und denkt dabei auch ein wenig an mich.«

Er geleitete sie nach der Kutsche hinunter, die vor der Tür wartete, und wenn seine Hauswirtin nicht halb taub gewesen wäre, so hätte sie, als er nach Abfahrt des Wagens wieder die Treppe hinaufstieg, wohl hören müssen, wie er vor sich hin murmelte, wir seien doch schlimme Gewohnheitsgeschöpfe, und am meisten ärgere ihn die Gewohnheit, daß es alte Junggesellen gebe.

Da das Violoncell zwischen den beiden Stühlen auf dem Sofa lag, so nahm er es auf, ohne den leeren Sitz beiseite zu rücken, und begann auf den Saiten zu streichen, während er zugleich lange, lange Zeit mit dem Kopf nach dem verlassenen Stuhle nickte. Der Ausdruck, den er anfänglich in die Töne seines Instrumentes legte, war zwar ungeheuerlich und pathetisch genug, aber doch nichts gegen den, den er dem leeren Sitze gegenüber seinem eigenen Gesichte mitteilte, denn es lag darin eine so große Aufrichtigkeit, daß er mehr als einmal zu Kapitän Cuttles Hilfsmittel seine Zuflucht nehmen mußte. Allmählich glitt jedoch, im Einklang mit seiner eigenen Gemütsstimmung, das Violoncell melodisch in den fröhlichen Hammerschmied über, den er wieder und wieder spielte, bis sein rötliches, heiteres Gesicht ganz wie das Metall auf dem Ambos eines wahrhaftigen Hammerschmiedes glühte. Mit einem Wort, das Violoncell und der leere Stuhl waren bis fast um Mitternacht die Gefährten seines Junggesellenstandes, und als er sein Instrument, geschwellt von der verborgenen Harmonie einer ganzen Gießerei voll lustiger Hammerschmiede, in die Sofaecke legte, um sein Nachtessen einzunehmen, schien ihn der leere Stuhl in ungemein vielsagender Weise aus seinen gekrümmten Augen anzugucken.

Nachdem Harriet das Haus verlassen hatte, schlug der Kutscher eine Richtung ein, die ihm augenscheinlich keine neue war. Es ging auf Nebenwegen durch einen Teil der Vorstädte, bis er einen offenen Grund erreichte, wo einige ruhige alte Häuschen in den Gärten standen. An einem Gartentürchen machte der Kutscher halt, und Harriet stieg aus.

Ihr leichter Zug an der Klingel rief ein kläglich aussehendes Weib mit blasser Gesichtsfarbe, hochgezogenen Augenbrauen und seitwärts gesenktem Kopfe herbei, die bei ihrem Anblick knixte und sie durch den Garten nach dem Hause fühlte.

»Wie geht es heute abend Eurer Kranken, Wärterin?« fragte Harriet.

»Ich fürchte, schlimm, Miß. O wie erinnert sie mich bisweilen cm meines Onkels Betsey Jane!« entgegnete die Frau mit der blassen Gesichtsfarbe in einer Art melancholischen Entzückens.

»In welcher Beziehung?« fragte Harriet.

»In allen Beziehungen, Miß«, versetzte die andere, »den einzigen Umstand ausgenommen, daß sie erwachsen ist, und Betsey Jane, als sie am Tor des Todes stand, nur ein Kind war.«

»Ihr habt mir aber erzählt, das Kind sei mit dem Leben davongekommen«, bemerkte Harriet mild; »es ist daher um so mehr Grund zur Hoffnung vorhanden, Mrs. Wickam.«

»Ach, Miß, die Hoffnung ist wohl etwas Schönes für solche, die heiter genug sind, um sich damit zu tragen«, sagte Mrs. Wickam, den Kopf schüttelnd. »Ich beneide diejenigen, welche so gesegnet sind, denn mein Geist kann sich nicht so weit erheben, obschon ich nicht darüber murre.«

»Ihr solltet es versuchen, ob Ihr Euch nicht aufheitern könnt«, versetzte Harriet.

»Danke schön, Miß«, entgegnete Mrs. Wickam grämlich. »Wenn ich auch Lust dazu hätte, so würde die Einsamkeit dieses Platzes – Ihr entschuldigt mich, daß ich so frei spreche – mir es in vierundzwanzig Stunden verleiden. Dies ist übrigens bei mir nicht der Fall, und ich lasse den Versuch lieber ganz und gar. Das bißchen Heiterkeit, da« ich je besaß, wurde mir vor einigen Jahren zu Brighton genommen, und ich denke, es ist mir um deswillen jetzt nur wohler.«

In der Tat war die Sprecherin dieselbe Mrs. Wickam, die Mrs. Richards in der Pflege des kleinen Paul verdrängt hatte und durch den fraglichen Verlust unter dem Dach der liebenswürdigen Pipchin gewonnen zu haben glaubte. Das ausgezeichnete und verständige, durch lange Vorschrift geheiligte alte System, das gewöhnlich die traurigsten und unleidlichsten Personen, die nur aufzutreiben sind, zu Jugend- Erziehern, Tugend-Weisern, Ermahnern, Krankenwärtern und dergleichen auswählt, hatte Mrs. Wickam auf dem Boden der Krankenpflege zu einem recht guten Geschäft verholfen und dazu Anlaß gegeben, daß ihre ernsten Eigenschaften von vielen Bewunderern ganz besonders löblich gefunden wurden.

Die Augenbrauen aufgezogen und den Kopf auf die eine Seite geneigt, leuchtete Mrs. Wickam die Treppe hinauf nach einem reinlichen Zimmer, das nach einem matt erhellten Zimmer mit einem Bette führte. In dem ersten Zimmer saß ein altes Weib, das vor dem offenen Fenster mechanisch in die Dunkelheit hinausstierte; im zweiten aber lag, auf dem Bette ausgestreckt, der Schatten einer Gestalt, die in einer bekannten Winternacht dem Wind und Regen Trotz geboten hatte, jetzt aber kaum an etwas anderem zu erkennen war, als an dem langen dunkeln Haar, das gegen das farblose Gesicht und das weiße Bettzeug auffallend abstach.

O, die großen Augen und der hinfällige Körper! die Augen, die sich so hastig und funkelnd der Tür zuwandten, als Harriet hereinkam – der schwache Kopf, der sich nicht aufrichten konnte und so langsam auf dem Kissen sich umdrehte!

»Alice«, sagte der Besuch mit milder Stimme, »komme ich heute spät?«

»Ihr scheint immer spät zu kommen, kommt aber stets früh.«

Harriet hatte sich neben dem Bett niedergelassen und die auf der Decke liegende abgezehrte Hand mit der ihrigen erfaßt.

»Geht es besser?«

Mrs. Wickam, die wie ein trostloses Gespenst unten an dem Bett stand, schüttelte entschieden und nachdrücklich den Kopf, um die Frage zu verneinen.

»Es liegt sehr wenig daran«, versetzte Alice mit einem matten Lächeln. »Heute besser oder schlimmer, es macht nur den Unterschied eines Tages aus – vielleicht nicht so viel.«

Mrs. Wickam drückte als ernster Charakter ihre Zustimmung in einem Seufzer aus. Dann befühlte sie die Füße der Patientin, die sie eiskalt zu finden erwartete, und klapperte unter den Arzneiflaschen auf dem Tisch umher, als wollte sie sagen: »Weil’s doch einmal so ist, so wollen wir die Mixtur wie bisher wiederholen.«

»Ein elendes Leben«, fuhr Alice flüsternd zu ihrem Besuch fort, »Gewissensbisse, das Umherziehen, Mangel und Unwetter, Sturm innen und Sturm von außen haben mein Leben aufgezehrt. Es wird nicht lange mehr währen.«

Sie zog bei diesen Worten Harriets Hand an sich und legte ihr Gesicht dagegen.

»Wenn ich so daliege, denke ich bisweilen, ich möchte wohl noch eine Weile am Leben bleiben, um Euch zu zeigen, wie dankbar ich sein könnte! Doch dies ist eine Schwäche, die bald vorüber geht. Für Euch ist’s besser so, wie es ist – und auch besser für mich!«

Wie ganz anders hielt sie jetzt die Hand fest, wenn man dabei an die Art denkt, wie sie dieselbe an dem kalten Winterabend neben dem Kamin ergriffen hatte! Geringschätzung, Wut, Trotz und Sorglosigkeit – schaut her! Dies ist das Ende.

Mrs. Wickam, die nun genug mit den Flaschen geklirrt hatte, brachte die Arznei. Als die Kranke sie nahm, sah sie mit aufgeworfenem Mund und in die Höhe gezogenen Augenbrauen zu, indem sie zugleich den Kopf schüttelte, als wollte sie sagen, nicht einmal die Folter sei imstande, sie zu überzeugen, daß dies ein hoffnungsloser Fall sei. Sie sprengte dann mit der Miene einer weiblichen Totengräberin, die Asche auf Asche, Staub auf Staub streut – denn sie war ein ernster Charakter – eine kühlende Feuchtigkeit im Zimmer umher und entfernte sich, um drunten gewisse leichenhaft gebackene Speisen zu sich zu nehmen.

»Wie lange ist es«, frug Alice, »seit ich zu Euch kam, um Euch zu sagen, was ich getan hatte – ich meine die Zeit, als man Euch versicherte, es sei zu spät, um einem gewissen Menschen zu folgen?«

»Es ist ein Jahr und darüber,« antwortete Harriet.

»Ein Jahr und darüber«, sagte Alice, gedankenvoll zu ihrem Gesicht aufblickend, »Und schon Monate und Monate, seit Ihr mich hierher gebracht habt!«

Harriet antwortete mit einem »Ja«.

»Mich hierher gebracht durch die Gewalt der Güte und Freundlichkeit. Mich!« sagte Alice, ihr Gesicht hinter der Hand verbergend. »Und mich durch die Blicke und Worte eines Weibes und durch die Handlungen eines Engels menschlich gemacht!«

Harriet beugte sich über sie nieder und suchte sie zu beruhigen. Alice hatte, die Hand noch immer an ihr Gesicht drückend, ihre frühere Lage wieder eingenommen und bat, man möchte ihre Mutter herbeirufen.

Harriet tat dies mehr als einmal, aber die Alte war an dem offenen Fenster so in die Nacht vertieft, daß sie nicht hörte. Erst als Harriet hinausging und sie berührte, richtete sie sich auf und kam herein.

»Mutter,« sagte Alice, die Hand wieder ergreifend und ihre glänzenden Augen mit Innigkeit auf Harriet heftend, während sie die Anwesenheit der Alten nur mit einer Bewegung des Fingers anerkannte, »sagt ihr, was Ihr wißt.«

»Heute, mein Herzchen?«

»Ja, Mutter«, antwortete Alice mit matter, aber feierlicher Stimme, »heute!«

Die Alte, deren Verstand durch Schrecken, Gewissensbisse oder Kummer irregeworden zu sein schien, schlich an der andern Seite des Bettes hin, kniete nieder, so daß ihr welkes Gesicht in gleicher Höhe mit der Decke war, streckte ihre Hand aus, um den Arm ihrer Tochter zu berühren, und begann:

»Mein schönes Mädel –«

Himmel, welch ein Schrei war das, mit dem sie innehielt, wahrend sie die klägliche Gestalt auf dem Bette ansah.

»Schon längst verändert, Mutter! schon längst hingewelkt«, sagte Alice, ohne sie anzusehen. »Grämt Euch jetzt nicht darüber.«

»Meine Tochter«, stotterte die Alte – »mein Mädel – sie wird bald besser werden und alle mit ihrem guten Aussehen beschämen.« Alice lächelte wehmütig zu Harriet hin und drückte die Hand inniger an sich, sprach aber nichts.

»Ich sage, sie wird bald besser werden«, wiederholte die Alte, mit der abgezehrten Faust in die leere Luft drohend, »und wird alle durch ihr gutes Aussehen beschämen. Ja, das wird sie – das soll sie!«

Sie rief es, als liege sie in leidenschaftlichem Kampf mit irgendeinem unsichtbaren Feind neben dem Bett, der ihr widersprach.

»Man hat sich von meiner Tochter abgewandt und sie verstoßen, aber sie könnte sich doch der Verwandtschaft mit stolzen Leuten rühmen, wenn sie wollte! Ah! diese stolzen Leute! Es gibt eine Verwandtschaft ohne eure Pfaffen und eure Trauringe – sie können sie machen, aber nicht brechen – und meine Tochter ist von gutem Blute. Zeigt mir Mrs. Dombey, und ich will Euch ein Geschwisterkind meiner Alice zeigen.«

Harriet blickte von der Alten nach den glänzenden Augen, die so angelegentlich auf ihrem Gesichte hafteten, und fand darin die Bestätigung dieser Worte.

»Was meint Ihr?« rief die Alte, den nickenden Kopf in unheimlicher Eitelkeit aufwerfend, »Obschon ich jetzt alt und häßlich bin, – viel älter durch das, was ich durchgemacht habe, als den Jahren nach – so war ich doch einmal so jung als eine. Ja, und obendrein so hübsch wie viele! Ich war meiner Zeit eine frische Landdirne, mein Schätzchen«, sie streckte über das Bett herüber ihren Arm nach Harriet aus, »und mein Aussehen war darnach. In meiner Gegend drunten waren Mrs. Dombeys Vater und sein Bruder die lebenslustigsten Gentlemen, die beliebtesten unter denen, die von London auf Besuch kamen – freilich sind sie jetzt längst tot! O Himmel, wie lange schon! Der Bruder, der der Vater meiner Ally war, am längsten von beiden.«

Sie richtete den Kopf ein wenig auf und blickte in das Gesicht ihrer Tochter, als führe sie die Erinnerung an ihre eigene Jugend auf die von der Jugend ihres Kindes. Dann drückte sie plötzlich ihr Gesicht auf das Bett nieder und verbarg ihren Kopf mit den Händen und Armen.

»Sie waren sich so ähnlich«, fuhr die Alte, ohne aufzublicken, fort, »wie Ihr nur zwei Brüder sehen könnt, auch fast gleichaltrig – soviel ich mich erinnere, nicht mehr als ein Jahr zwischen ihnen – und wenn Ihr mein Mädel hättet sehen können, wie ich sie einmal gesehen habe, Seite an Seite mit der Tochter des andern, so hättet Ihr trotz des Unterschieds in der Kleidung und Lebensweise bemerken müssen, daß sie einander glichen. O, ist diese Ähnlichkeit denn ganz dahin und mußte mein Mädel – nur mein Mädel – sich so verändern!«

»Es kommt an alle die Reihe des Anderswerdens«, sagte Alice.

»Die Reihe?« rief die Alte. »Aber warum kommt sie nicht ebenso bald an sie wie an mein Mädel? Die Mutter muß sich verändert haben – sie sah so alt aus wie ich und war ebenso runzlig, ungeachtet ihrer Schminke – aber sie war schön. Was habe ich getan, ich – was habe ich Schlimmeres getan als sie, daß nur mein Mädel so hinschwindend daliegt!«

Mit demselben Schrei wie früher eilte sie in das äußere Zimmer hinaus, kehrte aber in ihrer verwirrten Stimmung augenblicklich wieder zurück, kroch zu Harriet heran und sagte:

»Dies ist’s, was Alice mir Euch mitzuteilen auftrug, mein Schatz. Dies ist alles. Ich machte die Entdeckung, als ich eines Sommers mich in Warwickshire nach ihr und ihren Verhältnissen erkundigte. Damals waren solche Verwandte nicht gut für mich. Sie würden mich nicht anerkannt haben und hatten nichts zu verschenken. Nachher hätte ich sie vielleicht um ein bißchen Geld angehen können, wenn meine Alice nicht gewesen wäre; aber ich glaube, sie würde mich fast umgebracht haben, wenn ich’s getan hätte. Sie war in ihrer Art so stolz wie die andere«, sagte die Alte, furchtsam das Gesicht ihrer Tochter berührend und ihre Hand wieder zurückziehend, »obschon sie jetzt so ruhig ist. Aber sie wird sie noch mit ihrem guten Aussehen beschämen. Ha, ha. Meine schöne Tochter wird sie noch beschämen.«

Das Lachen, mit dem sie sich zurückzog, war noch schlimmer als ihr Schrei, schlimmer als der Ausbruch kleinmütigen Wehklagens, mit dem es endigte, schlimmer als das faselnde Gesicht, mit dem sie ihren alten Platz wieder einnahm und in die Dunkelheit hinausstierte.

Alice hatte diese ganze Zeit über kein Auge von Harriet verwandt und ihre Hand unablässig festgehalten.

»Wie ich so dalag«, sagte sie jetzt, »kam mir der Gedanke, es dürfte gut sein, wenn Ihr dies erfahrt. Es wird vielleicht einen Umstand erklären, der dazu mithalf, mich zu verhärten. Wenn ich unrecht tat, mußte ich so viel von Pflichtübertretung hören, daß der Glaube in mir Wurzel griff, an mir sei die Pflicht verabsäumt worden, und wie man säe, so müsse auch die Ernte ausfallen. Ich kam irgendwie auf die Ansicht, wenn vornehme Frauen schlimme Mütter und eine schlimme Heimat hätten, so gingen sie wohl auch in ihrer Art auf unrechten Pfaden, aber doch nicht auf so schlimmen, wie der meinige war, und sie hatten Ursache, Gott dafür zu danken. Doch das ist jetzt vorbei. Es kommt mir vor wie ein Traum, dessen ich mich nicht ganz erinnere, den ich nicht recht verstehen kann. Es wurde mir mit jedem Tag mehr und mehr zum Traum, seit Ihr mich zu besuchen und mir vorzulesen anfinget. Ich sage Euch dies nur, wie es eben in meiner Erinnerung ist. Wollt Ihr mir noch ein wenig vorlesen?«

Harriet wollte ihre Hand zurückziehen, um das Buch zu öffnen, aber Alice hielt sie noch einen Augenblick fest.

»Ihr werdet meine Mutter nicht vergessen? Ich vergebe ihr, wenn ich Ursache dazu habe, und weiß, daß sie mir verzeiht – daß ihr Herz traurig ist. Ihr werdet sie nicht vergessen?«

»Nein, Alice!«

»Noch einen Augenblick. Legt meinen Kopf so, daß ich, wenn Ihr lest, in Eurem lieben Gesicht die Worte sehen kann.«

Harriet entsprach ihrem Wunsch und las – las das ewige Buch für alle Müden und Schwerbeladenen, für alle Unglücklichen, Gefallenen und Verwahrlosten auf Erden, las die heilige Geschichte, in der der blinde und lahme Bettler, der Verbrecher, das mit Schande befleckte Weib und der von unserem ekeln Staub Gemiedene seinen Anteil findet, den weder menschlicher Stolz noch die Gleichgültigkeit oder Sophistik aller Jahrhunderte irdischen Bestands hinwegnehmen oder auch nur um das Gewicht eines Sonnenstäubchens verkürzen kann – las von dem Wirken dessen, der durch die ganze Runde des menschlichen Lebens mit seinen Hoffnungen und Schmerzen von der Geburt an bis zum Tode und von der Kindheit bis ins hohe Alter, für jede Szene und Abstufung desselben, für jeden Kummer und jedes Leid die innigste Teilnahme empfand.

»Ich will morgen sehr früh wiederkommen«, sagte Harriet, als sie das Buch zumachte.

Die glänzenden, noch immer auf ihr Antlitz gehefteten Augen schlossen sich für einen Moment und öffneten sich wieder. Alice küßte die Leidende und sprach einen Segenswunsch über sie.

Dieselben Augen folgten ihr bis zur Tür, die sich hinter der Abgehenden schloß; in ihrem Glanze und auf dem ruhigen Gesichte lag ein Lächeln.

Sie wandten sich nicht wieder ab. Die Kranke legte ihre Hand auf die Brust, murmelte den heiligen Namen, von dem ihr vorgelesen worden war, und das Leben wich aus ihrem Antlitz wie ein erlöschendes Licht.

Es lag nichts mehr da als die Trümmer der irdischen Hütte, auf die der Regen niedergefallen war, und das schwarze Haar, das im winterlichen Winde geflattert hatte.

Vierunddreißigstes Kapitel.


Vierunddreißigstes Kapitel.

Wieder eine Mutter und eine Tochter.

In einer häßlichen, dunklen Stube saß ein unangenehmes, braungelbes, altes Weib über ein dürftiges Feuer gekauert und hörte auf Wind und Regen draußen. Mehr auf die erstere Beschäftigung erpicht, als auf die letztgenannte, änderte sie ihre Haltung nie, wenn nicht etwa verirrte Regentropfen zischend auf die glimmende Asche niederfielen und sie bewogen, mit aufgerichtetem Kopf dem Pfeifen und Klatschen draußen mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Dann aber sank sie allmählich mehr und mehr wieder zusammen, in ein Brüten sich vertiefend, in dem das Getöse der Nacht ihr nur so unbestimmt zum Bewußtsein kam, wie das eintönige Rollen der Meereswogen dem, der gedankenvoll am Ufer sitzt.

In der Stube war kein anderes Licht, als das, welches von dem Feuer ausging. Von Zeit zu Zeit greller aufblitzend, gleich dem Auge eines halb im Schlaf liegenden wilden Tieres, enthüllte es keine Gegenstände, die eine bessere Beleuchtung hätten wünschen können. Ein Haufen Lumpen, eine Schicht Knochen, ein schlechtes Bett, zwei oder drei verstümmelte Stühle oder Schemel und die schwarzen Wände nebst einer noch schwärzeren Decke waren alles, was durch das gelegentliche Auflodern einer Flamme erhellt werden konnte. Wie die Alte so dasaß auf dem feuchten Herde des Kamins und sich über die paar losen Ziegel, aus denen er bestand, niederbeugte, ein riesiges verzerrtes Bild ihres Ichs halb auf die Wand hinter ihr, halb auf die Decke oben werfend, nahm sie sich aus, als laure sie an einem Hexen-Altar auf ein günstiges Zeichen; und wenn nicht die Bewegungen ihrer murmelnden Lippen und des zitternden Kinns für das langsame Aufflackern des Feuers allzu häufig und zu schnell gewesen wären, so hätte man sie wohl für Täuschungen des kommenden und gehenden Lichts auf einem Gesicht halten können, das ebenso regungslos war wie die Gestalt, der es angehörte.

Hätte Florence in der Stube gestanden und das Original des Schattens, der sich an Wand und Dach abmalte, so über das Feuer gekauert gesehen, so würde ein Blick ausgereicht haben, ihr die Gestalt der guten Mrs. Brown wieder zu vergegenwärtigen, obschon vielleicht die Erinnerung an jene schreckliche Alte, der kindlichen Phantasie entnommen, die Wahrheit ebenso übertrieb, wie der Schatten an der Wand. Doch Florence war nicht zugegen, und die gute Mrs. Brown konnte unerkannt und unbemerkt nach ihrem Feuer hinstarren.

Durch ein lauteres Sprühen als gewöhnlich geweckt, da der Regen in einem kleinen Strome zischend durch den Kamin herunterkam, richtete die Alte ungeduldig ihren Kopf auf, um aufs neue zu lauschen. Diesmal sank sie nicht wieder zusammen, denn sie hörte eine Hand auf der Türklinke und einen Fußtritt in der Stube.

»Wer ist da?« fragte sie sich umblickend.

»Jemand, der Euch Neuigkeiten bringt«, antwortete eine Weiberstimme.

»Neuigkeiten? Woher?«

»Vom Ausland.«

»Übers Meer her?« rief die Alte auffahrend.

»Ja, übers Meer.«

Die Alte schürte hastig das Feuer zusammen, ging dicht auf die Eingetretene zu, welche die Tür geschlossen hatte und jetzt in der Mitte der Stube stand, faßte den durchnäßten Mantel und riß die nicht Widerstrebende vorwärts, so daß sie von dem Feuer voll beleuchtet wurde. Sie mußte nicht gefunden haben, was sie erwartete, denn sie ließ den Mantel wieder los und stieß einen kläglichen Ruf schmerzlich getäuschter Erwartung aus.

»Was gibt es?« fragte der Besuch.

»Oho! oho!« rief die Alte, mit einem schrecklichen Geheul ihr Gesicht aufwärts richtend.

»Nun, was habt Ihr denn?« fragte der Besuch abermals.

»Das ist nicht mein Mädel!« rief die Alte, ihre Arme aufwerfend und die Hände über dem Kopfe zusammenschlagend. »Wo ist meine Alice? Wo ist meine schöne Tochter? Man hat sie unter die Räder gebracht.«

»Sie ist bis jetzt noch nicht unter den Rädern, wenn Ihr Marwood heißt«, sagte der Besuch.

»Ihr habt also mein Mädel gesehen?« rief die Alte. »Hat sie mir geschrieben?«

»Sie sagte, Ihr könntet nicht lesen«, entgegnete die andere.

»Ich kann’s nicht mehr!« rief die Alte, ihre Hände ringend.

»Habt Ihr Licht da?« fragte die andere, sich in der Stube umsehend.

Murmelnd, den Kopf schüttelnd und von ihrer schönen Tochter vor sich hinplappernd, brachte die Alte aus einem Eckschrank eine Kerze, hielt sie mit zitternder Hand gegen das Feuer, so daß sie kaum zünden wollte, und setzte sie dann auf den Tisch. Der schmutzige Docht brannte anfangs nur trüb, da er in seinem eigenen Fett wieder ersticken wollte, und als die blöden triefenden Augen der Alten bei seinem Licht die Gegenstände unterscheiden konnten, saß der Besuch mit verschlungenen Armen und auf den Boden gehefteten Blicken da, während auf dem Tisch neben ihr ein Tuch lag, das sie um den Kopf getragen hatte.

»Mein Mädel Alice läßt mir also mündlich etwas mitteilen?« murmelte die Alte, nachdem sie eine Weile gewartet hatte. »Was sagte sie?«

»Schaut«, erwiderte der Besuch.

Die Alte wiederholte die Worte in verstörter, unsicherer Weise; dann hielt sie die Hand über ihre Augen, sah die Sprecherin an, schaute sich in der Stube um und blickte dann wieder nach ihrem Besuch hin.

»Alice heißt Euch noch einmal hersehen, Mutter«, sagte die andere, ihre Augen fest auf sie richtend.

Die Alte sah sich wieder in der Stube um, dann nach ihrem Besuch hin und ließ endlich aufs neue ihre Augen durch das Gemach schweifen. Dann ergriff sie, von ihrem Sitze aufstehend, hastig das Licht, hielt es gegen das Gesicht ihres Gastes, setzte die Kerze mit einem lauten Schrei wieder nieder und fiel ihm um den Hals.

»Es ist mein Mädel! Es ist meine Alice! Es ist meine schöne Tochter, die lebt und zurückgekommen ist!« kreischte die Alte sich an der Brust der andern hin und her wiegend, die ihre Umarmung nur mit Kälte duldete. »Es ist mein Mädel! Es ist meine Alice! Es ist meine schöne Tochter, die lebt und zurückgekommen ist!« rief sie abermals, indem sie sich vor ihr auf den Boden warf, ihre Knie umfaßte, den Kopf an diese drückte und noch immer mit jeder wilden Kundgebung, deren ihre Lebenskraft noch fähig war, sich hin und her schaukelte.

»Ja, Mutter«, entgegnete Alice, die sich für einen Augenblick niederbeugte und die Alte küßte, aber zugleich bemüht war, sich ihrer Umarmung zu erwehren. »Ich bin endlich wieder hier. Laßt mich los, Mutter – laßt mich gehen. Steht auf und setzt Euch auf Euern Stuhl. Was hat solches Getue für einen Zweck?«

»Sie ist härter zurückgekommen, als sie ging!« rief die Mutter zu ihr aufblickend und noch immer ihre Knie umschlingend. »Sie kümmert sich nicht um mich – nach so vielen Jahren, die ich im Elend verlebte!«

»Nun, Mutter«, versetzte Alice, indem sie ihr zerlumptes Kleid schüttelte, um die Alte von sich abzuwehren, »die Sache hat zwei Seiten. Für mich so gut, wie für Euch, sind es Jahre des Elends gewesen. Steht auf – steht auf!«

Ihre Mutter erhob sich, rang weinend die Hände und blieb in einiger Entfernung von ihr stehen, um sie zu betrachten. Dann nahm sie die Kerze wieder auf, ging unter dumpfem Stöhnen um sie herum und musterte sie vom Kopf bis zu den Füßen. Nachdem sie das Licht wieder niedergestellt hatte, kehrte sie zu ihrem Stuhl zurück, schlug zu einer Art trauriger Melodie ihre Hände zusammen, wiegte sich von Seite zu Seite und fuhr fort, zu ächzen und wehzuklagen. Auch Alice stand auf, um ihren nassen Mantel abzuwerfen und ihn beiseite zu legen. Als das geschehen war, setzte sie sich wie früher mit verschlungenen Armen wieder nieder und schaute ins Feuer, stumm und mit verächtlicher Miene den unartikulierten Klagen ihrer alten Mutter zuhörend.

»Habt Ihr erwartet, ich werde so jugendlich wieder zurückkehren, wie ich ging, Mutter?« sagte sie endlich, ihre Augen der Alten zuwendend. »Glaubt Ihr, ein Leben in der Fremde, wie das meinige, könne dem guten Aussehen förderlich sein? Wenn man Euch hört, sollte man es fast denken!«

»Es ist nicht das!« rief die Mutter. »Sie weiß es!«

»Was ist es dann?« entgegnete die Tochter. »Im besten Falle etwas, das nicht bleibt, Mutter, sonst ist mein Ausgang leichter, als mein Eingang.«

»Höre man nur!« rief die Mutter. »Nach so vielen Jahren droht sie, mich schon im Augenblick ihrer Ankunft wieder zu verlassen.«

»Ich sage Euch zum zweitenmal, Mutter, es sind für mich so gut wie für Euch schwere Jahre gewesen«, erwiderte Alice. »Ich sei härter zurückgekommen? Natürlich bin ich’s. Was habt Ihr anderes erwartet?«

»Härter gegen mich – gegen deine eigene arme Mutter!« rief die Alte.

»Ich weiß nicht, wer mich zu verhärten anfing, wenn es nicht meine eigene arme Mutter war«, entgegnete sie mit verschlungenen Armen, gefurchter Stirne und zusammengepreßten Lippen, als wolle sie gewaltsam jedes weichere Gefühl aus ihrer Brust ausschließen. »Hört noch ein paar Worte, Mutter. Wenn wir uns jetzt gegenseitig verstehen, so trennen wir uns vielleicht nicht wieder. Ich kam fort als ein Mädchen und bin als Weib zurückgekehrt. Wenn ich nicht viel Liebe hatte zu der Zeit, als ich meinen Weg antrat, so könnt Ihr darauf schwören, daß es seitdem nicht besser geworden ist. Aber habt Ihr je Eure Pflicht gegen mich erfüllt?«

»Ich – gegen mein Mädel?« rief die Alte. »Eine Mutter soll Pflichten erfüllen gegen ihr eigenes Kind!«

»Nicht wahr, dies klingt unnatürlich?« versetzte die Tochter, mit ihrem strengen, harten, schönen Gesicht kalt nach ihr hinsehend. »Aber ich habe im Laufe meiner einsamen Jahre mir bisweilen Gedanken darüber gemacht und mich daran gewöhnt. Von Anfang bis zum Ende habe ich stets von Pflichten schwatzen hören, obschon man immer nur von meinen Pflichten gegen andere Leute sprach. Da dachte ich denn zum Zeitvertreib darüber nach, ob niemand je eine Pflicht gegen mich gehabt habe.«

Ihre Mutter verzog den Mund, murmelte und schüttelte den Kopf, wenn sich schon nicht unterscheiden ließ, ob dies im Zorn, aus Reue, in der Absicht des Widerspruches, oder nur infolge ihrer körperlichen Schwäche geschah.

»Es gab ein Kind, Alice Marwood genannt«, fuhr die Tochter mit einem schrecklichen Gelächter fort, indem sie dabei an sich selber hinunterschaute, »das in Armut und Vernachlässigung geboren und herangezogen wurde. Niemand unterrichtete es, keine Seele kümmerte sich darum, und niemand zeigte sich bereit, ihm zu helfen.«

»Niemand?« wiederholte die Mutter, auf sich selbst deutend und an ihre Brust schlagend.

»Die einzige Sorgfalt, die ihm zuteil wurde, bestand in Schlägen«, entgegnete die Tochter. »Man gab ihm für Hungersterben zu essen und mißhandelte es. Das hätte es wohl entbehren können. Alice Marwood lebte in Höhlen, wie diese hier, oder auf den Straßen unter einem Haufen ebenso elender kleiner Geschöpfe, wie sie selbst war, und doch trug sie nach dieser Kindheit ein gutes Aussehen davon. Um so schlimmer für sie. Es wäre besser für sie gewesen, wenn man sie wegen ihrer Häßlichkeit verfolgt und zu Tod gequält hätte.«

»Nur zu! nur zu!« rief die Mutter.

»Sogleich!« sagte die Tochter. »Es gab ein Mädchen, namens Alice Marwood. Sie war schön. Der Unterricht kam zu spät, und man lehrte sie alles unrecht. Man sorgte zu gut für sie, half ihr zu gut fort und sah zu viel nach ihr. Ihr hattet sie sehr lieb – Ihr wart damals besser daran. Was über jenes Mädchen erging, betrifft jedes Jahr Tausende. Nichts als Verderben, und sie war geboren dazu.«

»Nach allen diesen Jahren fängt mein Mädel so an«, winselte die Alte.

»Sie wird bald zu Ende sein«, versetzte die Tochter. »Es gab eine Verbrecherin, namens Alice Marwood – zwar noch ein Mädchen, aber verlassen und verstoßen. Sie wurde vor Gericht gestellt und verurteilt. Du mein Himmel, wie die Gentlemen im Gerichtshof ein Wesens davon machten und wie ernst der Richter sie an ihre Pflichten erinnerte und ihr vorstellte, welchen Mißbrauch sie gemacht habe von den Gaben der Natur – als ob er nicht besser als irgend einer dort gewußt hätte, daß sie ihr zum Fluch gemacht wurden! – Und wie er predigt von dem starken Arm des Gesetzes – so gar stark in der Zeit, als es galt sie zu retten, während sie noch eine hilflose kleine Unschuldige war! Wie feierlich und religiös nahm sich nicht alles aus, und ich habe seitdem in der Tat oft und vielmal daran gedacht!«

Sie preßte ihre Arme fest an ihre Brust und lachte in einem Ton, gegen den sogar das Geheul der Alten Musik war.

»So wurde Alice Marwood deportiert, Mutter«, fuhr sie fort, »und sollte an einem Platz ihre Pflichten lernen, wo es zwanzigmal weniger Pflichtmäßigkeit, wohl aber mehr Laster, Unrecht und Schande gab, als hier. Und Alice Marwood ist als ein Weib zurückgekommen – als ein Weib, wie sie es nach solchen Vorgängen sein muß. Zu guter Zeit wird es höchst wahrscheinlich noch feierlichere und schönere Reden vom starken Arm des Gesetzes geben, und es wird dann aus mit ihr sein. Aber die Gentlemen brauchen nicht zu fürchten, unbeschäftigt bleiben zu müssen. Es gibt noch Scharen kleiner Elenden, Knaben sowohl wie Mädchen, die in jeder Straße, wo die gestrengen Herren wohnen, aufwachsen, und das wird sie schon in Tätigkeit erhalten, bis sie sich ein Vermögen gemacht haben.«

Die Alte lehnte ihre Ellenbogen auf den Tisch und unterstützte ihr Gesicht mit beiden Händen – scheinbar oder vielleicht wirklich in großer Betrübnis.

»So! ich bin jetzt fertig, Mutter«, sagte die Tochter mit einer Kopfbewegung, als wolle sie diesen Gegenstand verlassen. »Ich habe genug gesprochen. Was immer auch zwischen uns vorgehen mag, laßt uns nur nicht von Pflichten sprechen. Eure Kindheit war vermutlich wie die meine. Um so schlimmer für uns beide. Ich will Euch keine Vorwürfe machen, oder überhaupt mich rechtfertigen – warum sollte ich auch? Dies ist alles längst vorüber. Aber ich bin jetzt ein Weib – kein Mädchen mehr – und wir brauchen unsere Geschichte nicht zur Schau zu stellen, wie die Gentlemen in dem Gerichtshof. Uns ist sie nur zu gut bekannt.«

Trotz der Herabwürdigung lag doch in ihrem Gesicht und in ihrer Gestalt noch eine Schönheit, die selbst in ihrem schlimmsten Ausdruck von jedem, der sie nur mit der mindesten Aufmerksamkeit betrachtete, anerkannt werden mußte. Sie schwieg jetzt, und ihr aufgeregtes Gesicht wurde ruhiger, während in ihren dunkeln, auf das Feuer gehefteten Augen der wilde Blick, der sie belebt hatte, den weicheren Ausdruck der Bekümmernis annahm. Es schien darin ein Strahl von dem entschwundenen Glänze des gefallenen Engels durch all das verzehrende Elend ihres Lebens zu leuchten.

Ihre Mutter, die sie eine Weile stumm beobachtet hatte, wagte es jetzt, ihre Hand über den Tisch hinüber mehr in ihre Nähe gleiten zu lassen; und als sie fand, daß die Tochter sich dies gefallen ließ, ging sie weiter, indem sie ihr Gesicht und Haar streichelte. Augenscheinlich in dem Gefühl, daß die Alte in dieser Kundgebung von Teilnahme es wenigstens aufrichtig meine, tat ihr Alice keinen Einhalt. Darum schickte sich auch die gute Mrs. Brown zuletzt an, ihr das Haar frisch aufzubinden, die durchnäßten Schuhe, wenn sie diesen Namen verdienten, wegzunehmen und etwas Trockenes über ihre Schultern zu breiten. Dabei humpelte sie scheu um sie her und sprach murmelnd mit sich selbst, je mehr sie in dem Gesicht die alten Züge wiedererkannte.

»Ich sehe, Ihr seid sehr arm, Mutter«, sagte Alice, die, nachdem sie eine Weile still gesessen, in der Stube umherschaute.

»Bitter arm, mein Herzchen«, versetzte die Alte.

Sie bewunderte ihre Tochter und fürchtete sich vor ihr. Vielleicht hatte ihre Bewunderung, so wie sie war, ihren Ursprung in längst vergangener Zeit, als sie zum erstenmal etwas Schönes in der Mitte ihres schmutzigen Ringens um das Dasein auftauchen sah, während möglicherweise ihre Furcht sich einigermaßen auf den Rückblick bezog, der ihr eben vorgehalten worden war. Wie dem übrigens sein mochte, sie stand unterwürfig und demütig vor ihrem Kind, den Kopf geneigt, als bitte sie flehentlich um Verschonung mit weiteren Vorwürfen.

»Wovon habt Ihr gelebt?«

»Vom Betteln, mein Herzchen.«

»Und Stehlen, Mutter?«

»Bisweilen, Ally – aber nur in sehr geringem Maße. Ich bin alt und furchtsam. Hin und wieder habe ich Kindern Kleinigkeiten weggenommen, mein Herzchen, aber nicht oft. Ich kam weit im Lande herum, meine Liebe, und weiß, was ich weiß. Ich habe mich auf die Lauer gelegt.«

»Auf die Lauer?« versetzte die Tochter, nach ihr hinsehend.

»Ja, bei einer Familie, mein Herzchen«, entgegnete die Mutter noch demütiger und unterwürfiger als zuvor.

»Bei welcher Familie?«

»Pst, mein Liebling. Du mußt mir nicht zürnen. Ich tat es um deinetwillen – eingedenk meines armen Mädchens über dem Meere.«

Sie streckte abbittend ihre Hand aus, zog sie wieder zurück und legte sie an ihre Lippen.

»Vor Jahren, mein Herzchen«, fuhr sie fort, schüchtern nach dem aufmerksamen finsteren Gesicht ihr gegenüber hinschauend, »kam mir zufällig sein kleines Kind in den Weg.«

»Wessen Kind?«

»Nicht das seine, liebe Alice. Sieh mich nicht in solcher Weise an. Nicht das seine. Wie wäre das auch möglich? Du weißt, er hat keins.«

»Wessen denn?« erwiderte die Tochter. »Ihr habt von dem seinen gesprochen.«

»Pst, Ally – du erschreckst mich, mein Herzchen. Mr. Dombeys – nur Mr. Dombeys. Seit jener Zeit, meine Liebe, habe ich sie oft gesehen. Auch ihn

Bei diesem letzteren Wort wich die Alte, wie in plötzlicher Furcht, daß ihre Tochter sie schlagen werde, zurück. Aber wenn auch Alice die Augen auf ihr haften ließ und in ihrem Gesicht die ungestümste Leidenschaft sich zeigte, so blieb sie doch still, obschon ihre Arme sich dichter und dichter vor ihrer Brust ineinander verklammerten, als wolle sie diese hindern, daß sie nicht in der blinden Wut des Zorns, die sich ihrer so plötzlich bemächtigte, sich selbst oder jemandem anders ein Leides zufügten.

»Er ließ sich wenig träumen, wer ich war!« sagte die Alte, ihre geballte Hand schüttelnd.

»Und kümmerte sich auch wenig darum!« murmelte die Tochter zwischen ihren Zähnen.

»Aber wir standen einander Angesicht in Angesicht«, sagte die Alte. »Ich sprach mit ihm und er mit mir. Ich sah ihm nach, als er durch eine lange Allee hinunterging, und bei jedem Schritt, den er tat, verfluchte ich ihn mit Leib und Seele.«

»Das wird ihn nicht hindern, in Hülle und Fülle zu leben«, entgegnete die Tochter verächtlich.

»Ja, er lebt in Hülle und Fülle«, sagte die Mutter.

Sie hielt inne; denn das Gesicht und die Gestalt vor ihr wurde durch die Wut völlig umgewandelt. Es schien, als ob der Busen bersten wolle unter den Bewegungen, die unter ihm kämpften. Die Anstrengung, dem Sturme Einhalt zu tun, war nicht minder furchtbar, als die Nut selbst, und ließ in gleicher Weise den ungestümen, gefährlichen Charakter des Weibes, das so mit sich selbst rang, erkennen. Endlich gelang ihr die Bemühung, und sie fragte nach einem langen Schweigen:

»Ist er verheiratet?«

»Nein, mein Herzchen«, versetzte die Mutter.

»Verlobt?«

»Meines Wissens nicht, meine Liebe. Aber sein Herr und Freund ist verheiratet. O, wir können ihm Glück wünschen – wir können allen miteinander Glück wünschen!« rief die Alte, in ihrem Jubel mit ihren dürren Armen sich selbst umfassend. »Denk‘ an mich – nichts als Freude für uns wird aus dieser Heirat hervorgehen!«

Die Tochter sah sie an, als wünsche sie weitere Aufklärung.

»Doch du bist durchnäßt und müde, hungrig und durstig«, sagte die Alte, nach dem Eckschrank humpelnd. »Es ist nicht viel da, nur wenig« – sie griff in ihre Tasche und warf ein paar Halbpence auf den Tisch – »gar wenig. Hast du Geld, Alice, mein Herzchen?«

Das gierige, hastige Gesicht, mit dem sie die Frage stellte und mit dem sie Alice ansah, als diese die kürzlich erhaltene Gabe aus ihrem Busen hervorzog, erzählte fast ebenso viel von der Geschichte der Mutter und ihres Kindes, als das Kind selbst in Worten ausgedrückt hatte.

»Ist das alles?« fragte die Mutter.

»Ja. Ich würde nicht einmal so viel haben, wenn es mir nicht eine mitleidige Person als Almosen gegeben hätte.«

»Wie, als Almosen, mein Herzchen?« versetzte die Alte, sich gierig über den Tisch beugend, um nach dem Geld zu sehen, dem sie nicht recht zu trauen schien, weil ihre Tochter es noch immer in der Hand behielt. »Hm! Sechs und sechs ist zwölf, und sechs ist achtzehn – nun – wir müssen damit auszureichen suchen, so lang es geht. Ich will jetzt etwas zu essen und zu trinken einkaufen.«

Mit größerer Behendigkeit, als man von ihrem Äußeren hätte erwarten sollen – denn Alter und Elend schienen sie ebenso gebrechlich wie häßlich gemacht zu haben – begann sie einen alten Hut auf ihrem Kopf festzuknüpfen und mit zitternden Händen ein zerlumptes Halstuch überzuwerfen. Dabei betrachtete sie das Geld in der Hand ihrer Tochter stets mit der gleichen Habgier.

»Welche Freude soll uns aus dieser Heirat erwachsen, Mutter?« fragte die Tochter. »Ihr habt mir das noch nicht gesagt.«

»Die Freude«, versetzte sie, mit unsicheren Händen ihren Anzug vollendend, »daß statt der Liebe Stolz und Haß darin herrschen wird, mein Herzchen. Die Freude der Verwirrung, des wechselseitigen Kampfs unter den stolzen Personen, und der Gefahr – der Gefahr, Alice!«

»Welcher Gefahr?«

»Ich habe gesehen, was ich sah. Ich weiß, was ich weiß!« kicherte die Mutter. »Gewisse Leute dürfen aufsehen. Mein Mädel kann noch in gute Gesellschaft kommen!«

Als die Alte bemerkte, daß Alice in dem verwunderten Ernst, mit dem sie ihre Mutter ansah, unwillkürlich ihre Hand über dem Geld geschlossen hatte, so eilte sie, sich dessen zu bemächtigen, und fügte hastig bei:

»Doch ich will etwas einkaufen. Ich will gehen, um etwas zu kaufen.«

Während sie mit ausgestreckter Hand vor ihrer Tochter stand, blickte diese wieder das Geld an und drückte es an ihre Lippen, ehe sie es hergab.

»Wie, Ally – du es küssen?« kicherte die Alte. »Das hat sie von mir – ich tue es oft. O, es ist uns so wertvoll« – sie drückte dabei ihre eigenen schmutzigen Halbpence an den Kropf ihres Halses – »tut uns so gut in allem, wenn es schon nicht in Haufen kommt.«

»Ich küsse es, Mutter«, versetzte die Tochter, »oder küßte es – meines Wissens ist es nie zuvor geschehen – um der Geberin willen.«

»Um der Geberin willen, mein Herzchen?« erwiderte die Alte, indem sie die Münze mit funkelnden Augen hinnahm. »Ja, auch ich will es um der Geberin willen küssen, wenn sie machen kann, daß es weiter reicht. Doch es muß jetzt ausgegeben werden, meine Liebe – ich werde sogleich wieder zurück sein.«

»Ihr gebt Euch den Anschein, als ob Ihr recht viel wißt, Mutter«, sagte die Tochter, ihr mit den Augen nach der Tür folgend. »Ihr seid ja recht klug geworden, seit wir uns trennten.«

»Ob ich viel weiß?« krächzte die Alte, die um einige Schritte wieder zurückkam. »Ich weiß mehr, als du denkst – weiß sogar mehr, als er denkt, mein Herzchen, wie ich dir gelegentlich erzählen will. Ich weiß alles von ihm.«

Die Tochter lächelte ungläubig.

»Ich weiß auch von seinem Bruder, Alice«, fuhr die Alte fort und streckte mit einem Blick voll Bosheit, der wahrhaft fürchterlich aussah, ihren Hals aus, »der wegen Diebstahls eben dort sein könnte, wo du gewesen bist – und der mit seiner Schwester dort draußen unfern der Nordstraße lebt.«

»Wo?«

»An der Nordstraße vor London draußen, mein Herzchen. Wenn es dir darum zu tun ist, sollst du das Haus sehen. Es ist freilich nicht viel daran, wie vornehm es auch in dem seinigen aussieht. Nein, nein, nein«, rief die Alte, indem sie lachend den Kopf schüttelte; denn ihre Tochter war von dem Sitze aufgesprungen, »nicht jetzt; es ist zu abgelegen – bei dem Meilenzeiger, wo die Steine aufgehäuft sind. Morgen, mein Herzchen, wenn es schön Wetter ist und du noch Lust dazu hast. Aber ich will jetzt fort.«

»Halt!« und die Tochter flog mit einer Wut, die jetzt in heller Lohe flammte, auf sie zu. »Die Schwester ist ein schöner Satan mit braunem Haar?«

Erstaunt und erschrocken nickte die Alte mit dem Kopf.

»Ich sehe den Schatten von ihm in ihrem Gesicht! Es ist ein einzeln stehendes rotes Haus mit einer kleinen grünen Laube vor der Tür?«

Die Alte nickte abermals.

»In der ich heute saß. Gebt mir das Geld zurück.«

»Alice, Herzchen!«

»Gebt mir das Geld zurück, oder es soll Euch übel bekommen.«

Mit diesen Worten entriß sie es der Hand der Alten, ohne auf deren Klagen und Bitten zu achten, warf die abgelegten Kleidungssachen wieder um und stürzte in ungestümer Hast zur Tür hinaus.

Die Mutter folgte ihr, so gut es mit ihrem hinkenden Gang gehen wollte, und machte ihr fortwährend Vorstellungen, die übrigens auf Alice ebensowenig Wirkung hervorbrachten, wie die Nacht, der Wind und der Regen draußen. In wilder Entschlossenheit und gegen alles andere gleichgültig, bot die Tochter dem Wetter und der Entfernung Trotz, als ob sie sich nie durch eine weite Wanderung erschöpft hätte, und eilte dem Hause zu, das ihr heute teilnehmenden Beistand geboten hatte. Nach einem viertelstündigen Gehen wagte es die Alte, die erschöpft und atemlos war, sich an ihrer Kleidung festzuhalten, ohne daß sie noch weitere Worte wagte, und so wanderten sie schweigend durch Regen und Dunkel. Wenn der Mutter hin und wieder ein Wort der Klage nach den Lippen drang, erstickte sie es wieder, damit Alice sich nicht von ihr losreiße und sie zurücklasse. Die Tochter aber blieb auf dem ganzen Wege stumm.

Es mochte gegen elf Uhr sein, als sie die regelmäßige Straße verließen und in das tiefere Düster des einsamen Geländes eintraten, wo das Haus stand. Die Stadt lag trüb und düster in der Ferne. Der kalte Wind heulte über den freien Platz, und die Gegend umher nahm sich schwarz, wild und öde aus.

»Dies ist ein geeigneter Platz für mich«, sagte die Tochter, indem sie haltmachte und zurückschaute. »Er kam mir heute schon einmal so vor.«

»Alice, mein Herzchen«, rief die Mutter, sie sanft an ihrem Kleid zupfend. »Alice!«

»Was wollt Ihr, Mutter?«

»Gib das Geld nicht zurück, mein Liebling – ich bitte, tu es nicht. Wir können es nicht entbehren. Es fehlt uns an einem Nachtessen, Herzchen. Geld ist Geld, woher es auch kommen mag. Sage ihr, was du willst, aber behalte das Geld.«

»Sieh an!« erwiderte die Tochter. »Dort ist das Haus, das ich meine. Ist es dieses?«

Die Alte nickte bejahend, und einige weitere Schritte brachten sie nach der Schwelle. In dem Zimmer, wo Alice ihre Kleider getrocknet hatte, brannte noch Licht und Feuer. Auf ihr Klopfen kam John Carker heraus.

Er war erstaunt, zu dieser Stunde solche Besuche zu sehen, und fragte Alice, was sie wolle.

»Zu Eurer Schwester«, versetzte sie. »Zu der Frau, die mir heute Geld gab.«

Sie hatte sehr laut gesprochen, und Harriet erschien unter der Tür.

»O!« rief Alice. »Ihr seid hier! Erinnert Ihr Euch meiner?«

»Ja«, antwortete sie verwundert.

Das Gesicht, das sich am Abend vorher vor ihr gedemütigt hatte, blickte sie jetzt mit bitterem Haß und Trotz an, und die Hand, die ihren Arm berührt, war so grimmig wie zum Erdrosseln geballt, daß sie sich dicht an ihren Bruder anschmiegte, um bei ihm Schutz zu suchen.

»Daß ich mit Euch sprechen konnte, ohne Euch zu erkennen! Daß ich in Eure Nähe kommen mußte, ohne an dem Prickeln in meinen Adern zu fühlen, welches Blut in Euern fließt!« rief Alice mit drohender Gebärde.

»Was meint Ihr damit? Was habe ich getan?«

»Was Ihr getan habt?« erwiderte die andere. »Ihr habt mich an Euer Feuer gesetzt – habt mir Nahrung und Geld gegeben – habt mir Mitleid erwiesen – Ihr mit dem Namen, den ich anspeien könnte.«

Mit einer Bosheit, durch die ihr häßliches Gesicht wahrhaft entsetzlich wurde, schüttelte die Alte ihre welke Hand nach dem Bruder und der Schwester hin, um die Worte zu bekräftigen; zugleich aber zupfte sie Alice wieder an den Rockschößen und bat sie, das Geld zu behalten.

»Wenn ich eine Träne auf Eure Hand fallen ließ, so möge sie darauf wie Feuer brennen! Wenn ich in Eurer Nähe ein sanftes Wort sprach, so möge es Euch mit ewiger Taubheit schlagen. Wenn ich Euch mit meinen Lippen berührte, so soll die Berührung Gift für Euch werden! Fluch über dieses Dach, das mir Schutz bot! Leid und Schande über Euer Haupt! Verderben allem, was Euch angehört!«

Während sie diese Worte sprach, warf sie das Geldstück auf den Boden und stieß es mit den Füßen von sich.

»Ich trete es in den Staub und möchte es nicht nehmen, wenn es mir den Weg zum Himmel pflasterte! Hätte ich mir doch lieber den blutenden Fuß, der mich heute hierherbrachte, abgehauen, ehe er mich in Euer Haus trug!«

Blaß und zitternd stützte sich Harriet auf den Arm ihres Bruders, ohne auf das Ungestüm der Sprecherin auch nur eine Silbe zu erwidern.

»Es war herrlich, daß ich Mitleid und Vergebung finden sollte von Euch oder irgend jemand Eures Namens in der eisten Stunde meiner Rückkehr! Es war herrlich, daß Ihr gegen mich die gütige Dame spielen mußtet! Ich werde es Euch danken auf meinem Totenbette – ja, verlaßt Euch darauf: ich will beten für Euch und Euer ganzes Geschlecht!«

Mit einer trotzigen Handbewegung, als streue sie Haß auf den Boden und weihe damit die, die hier standen, dem Verderben, blickte sie plötzlich nach dem schwarzen Himmel auf und schritt in die wilde Nacht hinaus.

Die Mutter, die sie wiederholt, obschon vergeblich, an den Kleidern gezupft hatte und mit verzehrender Glut nach dem auf der Schwelle liegenden Gelde hinschaute, wollte sich in der Nähe umhertreiben, bis das Haus dunkel war, um dann im Schmutz zu tasten, ob ihr vielleicht der Zufall die Münze wieder unter die Hände bringe. Aber Alice riß sie mit fort, und so ging es denn geradenwegs wieder ihrer Wohnung zu. Die Alte winselte kläglich über ihren Verlust und beschwerte sich, soweit sie es offen wagen durfte, in gereiztem Ton über das pflichtwidrige Benehmen ihrer schönen Tochter, die sie in der ersten Nacht ihrer Wiedervereinigung des Essens beraubte.

Sie mußte auch zu Bett gehen, ohne daß sie sich mit etwas anderem, als mit einigen kümmerlichen Überbleibseln erquicken konnte. Bei diesen saß sie noch murmelnd und kauend vor dem hinsterbenden Feuer, nachdem ihre pflichtwidrige Tochter längst im Schlafe lag.

Boten vielleicht diese elende Mutter und ihre gleich elende Tochter nur Bilder der tiefsten Stufe von gewissen sozialen Lastern dar, die bisweilen weiter oben vorherrschen? Machen wir auf dieser runden Welt, wo so viele Kreise ineinander kreisen, eine mühsame Wanderung von den höchsten Regionen bis zu den niedrigsten, um am Ende zu finden, daß sie ganz nahe beieinander liegen, daß die beiden äußersten Endpunkte sich berühren, und daß das Ende der Reise wieder auf die Stelle ihres Anfangs führt? Geben wir auch zu, daß in Stoff und Gewebe große Unterschiede bestehen– wiederholt sich der Schnitt nicht auch unter dem vornehmen Blute?

Sprich, Edith Dombey! Und du, Kleopatra, beste der Mütter – laß uns dein Zeugnis hören!

Zweiundfünfzigstes Kapitel.


Zweiundfünfzigstes Kapitel.

Geheime Mitteilung

Die gute Mrs. Brown und ihre Tochter Alice saßen an einem Abend des Spätlenzes stumm beieinander in ihrer Wohnung. Es waren schon einige Tage vergangen, seitdem Mr. Dombey mit Major Bagstock von einer bestimmten Nachricht gesprochen hatte: einer Nachricht eigentümlicher Art und die er auf eigentümlichem Wege erhalten hatte; die vielleicht wertlos war, vielleicht aber auch als richtig sich herausstellte. Die Welt aber sah sich noch immer nicht zufriedengestellt.

Mutter und Tochter saßen geraume Zeit fast regungslos da, ohne ein Wort miteinander zu reden. Das Gesicht der Alten zeigte den verschmitzten Ausdruck ängstlicher Erwartung; auch das ihrer Tochter war erwartungsvoll, obschon dieser Zug weniger scharf hervortrat, und umdüsterte sich zuweilen, als traue es nicht ganz der Erfüllung. Die Alte achtete nicht darauf, obschon ihre Augen sich oft ihrer Gefährtin zuwandten, und sie murmelte in zuversichtlichem Lauschen vor sich hin.

Ihre Wohnung war zwar arm und elend, aber doch nicht mehr ganz so schlecht, wie in den Tagen, als sie die gute Mrs. Brown allein beherbergte. Es zeigten sich einige Versuche von Reinlichkeit und Ordnung, zwar nur nachlässig und zigeunerartig ausgeführt, aber doch so, daß man schon beim ersten Blick die seitherige Tätigkeit Alices nicht verkennen konnte. Die Schatten des Abends wurden immer tiefer, ohne daß die beiden ihr Schweigen störten, bis endlich die dunkeln Wände fast in völlige Finsternis gehüllt waren.

Erst jetzt unterbrach Alice die lange Stille mit den Worten:

»Ihr dürft ihn aufgeben, Mutter. Er kommt nicht her.«

»Der Teufel gebe ihn auf!« entgegnete die Alte ungeduldig. »Er kommt

»Wir wollen sehen«, sagte Alice.

»Wir werden ihn sehen«, erwiderte ihre Mutter.

»Ja, beim jüngsten Gericht«, sagte die Tochter.

»Ich weiß, du meinst, ich sei kindisch geworden!« krächzte die Alte. »Solche Liebe und solchen Dank muß ich von meinem eigenen Mädel erleben. Aber ich bin klüger, als du wohl glaubst. Er wird kommen. Als ich letzthin in der Straße seinen Rock berührte, sah er sich nach mir um, wie wenn ich eine Kröte wäre. Aber mein Himmel, du hättest ihn sehen sollen, als ich ihm ihre Namen sagte und ihn fragte, ob er nicht ausfindig zu machen wünsche, wo sie seien.«

»War er zornig?« fragte die Tochter, deren Interesse im Nu geweckt war.

»Zornig? Frage, ob er nach Blut lechzte. Das ist das passendere Wort. Zornig? Ha, ha! dies nur zornig zu nennen!« sagte die Alte, nach dem Schranke humpelnd und ein Licht anzündend, das, während sie es nach dem Tische brachte, das Arbeiten ihres Mundes in seiner ganzen Häßlichkeit erkennen ließ. »Ich möchte ebensogut dein Gesicht nur zornig nennen, wenn du an sie denkst, oder von ihnen sprichst.«

Es war auch in der Tat ganz anders, als sie so dasaß, mit ihren blitzenden Augen einer sprungfertigen Tigerin ähnlich.

»Horch!« sagte die Alte triumphierend. »Ich höre einen Tritt. Es ist nicht der von jemandem, der in der Nachbarschaft wohnt oder oft hierher kommt. Wir gehen nicht so. Wir könnten stolz sein auf solche Nachbarn! Hörst du ihn?«

»Ich glaube, Ihr habt recht, Mutter«, versetzte Alice in gedämpfter Stimme. »Stille! Öffnet die Tür.«

Während sie ihr großes Halstuch um sich herzog, entsprach die Alte ihrer Aufforderung, guckte hinaus, winkte und ließ Mr. Dombey ein, der, sobald er seinen Fuß über die Schwelle gesetzt hatte, stehen blieb und sich mißtrauisch umsah.

»Es ist nur ein schlechter Platz für einen großen Herrn, wie Euer Gnaden«, bemerkte die Alte mit einem Knix. »Doch ich habe es Euch vorausgesagt, und es kann ja nichts schaden.«

»Wer ist dies?« fragte Mr. Dombey, nach Alicen hinsehend.

»Dies ist meine schöne Tochter«, antwortete die Alte. »Euer Gnaden braucht sich nicht an ihr zu stören. Sie weiß alles.«

Ein Schatten fiel über sein Gesicht, nicht weniger ausdrucksvoll, als wenn er laut gestöhnt hätte: »Wer weiß nicht alles!« Er sah jedoch fest nach ihr hin, und sie erwiderte seinen Blick ohne das mindeste Zeichen einer Begrüßung. Der Schatten auf seinem Gesicht wurde düsterer, als er die Augen von ihr abwandte, obschon er den Blick verstohlen wieder nach ihr zurückgleiten ließ, als ob ihre kühnen Blicke ihn gebannt hielten oder an etwas Bekanntes erinnerten.

»Weib«, sagte Mr. Dombey zu der alten Hexe, die kichernd und schielend an seiner Seite stand, während sie, als er sich umwandte, um sie anzureden, verstohlen nach ihrer Tochter hindeutete, die Hände rieb und wieder deutete. »Weib, ich glaube, daß mein Hierherkommen eine Schwäche ist, und daß ich dadurch meiner Stellung etwas vergebe. Aber Ihr wißt, warum ich hier bin und wozu Ihr Euch erboten habt, als Ihr mich letzthin auf der Straße anhieltet. Was habt Ihr mir über das, was ich zu wissen wünsche, zu sagen, und wie kommt es, daß ich in einem Loche, wie dieses hier«, er schaute verächtlich umher, »freiwillige Auskunft finden soll, während ich doch anderwärts alle meine Kräfte und Mittel vergeblich aufgeboten habe? Ich denke nicht«, fuhr er nach einer kurzen Pause fort, während der er sie finster betrachtet hatte, »daß Ihr so vermessen sein könnt, mit mir ein Spiel treiben oder mich betrügen zu wollen. Wäre das Eure Absicht, so tätet Ihr besser, gleich von Anfang an abzubrechen; denn ich bin nicht in der Stimmung, mich narren zu lassen, und würde es streng zu ahnden wissen.«

»O, ein stolzer, harter Herr!« kicherte die Alte, den Kopf schüttelnd und ihre runzligen Hände reibend, »O, hart, hart, hart! Aber Eure Gnaden sollen mit eigenen Augen sehen und mit eigenen Ohren hören; nicht mit den unsrigen – und wenn Euer Gnaden auf die rechte Spur gekommen ist, so wird Euch nichts daran liegen, etwas dafür zu bezahlen – nicht wahr, Euer Gnaden?«

»Ich weiß, Geld kann die unwahrscheinlichsten Dinge möglich machen«, entgegnete Mr. Dombey, augenscheinlich durch diese Frage erleichtert und beruhigt. »Es liefert mir vielleicht auch die unerwarteten und nicht sehr verheißungsvollen Mittel, die mir hier geboten werden. Ja. Für jede zuverlässige Mitteilung, die ich durch Euch erhalte, will ich zahlen. Aber ich muß sie zuerst hören, um ihren Wert beurteilen zu können.«

»Kennt Ihr nichts Mächtigeres als Geld?« fragte die Jüngere, ohne aufzustehen oder ihre Haltung zu verändern. »Hier nicht, sollte ich meinen«, sagte Mr. Dombey.

»Ich dächte, anderswo sollte Euch doch etwas Mächtigeres in den Weg getreten sein«, entgegnete sie. »Wißt Ihr nichts von dem Zorn eines Weibes?«

»Ihr habt eine vorlaute Zunge, Mädchen«, sagte Mr. Dombey.

»In der Regel nicht«, antwortete sie, ohne eine Spur von Aufregung zu zeigen. »Ich spreche jetzt mit Euch, damit Ihr uns besser verstehet und mehr auf uns baut. Der Zorn eines Weibes ist hier so ziemlich derselbe, wie in Eurem schönen Hause. Ich zürne – zürne seit vielen Jahren, und habe einen so guten Grund dafür, wie Ihr. Mein Zorn hat den nämlichen Mann zum Gegenstand.«

Er trat unwillkürlich zurück und blickte sie erstaunt an.

»Ja«, sagte sie mit einer Art Lachen. »So groß auch der Abstand zwischen uns scheinen mag, es ist dennoch so. Es liegt nichts daran, wie das kam; es ist ein Geheimnis, das ich für mich behalten will. Ich möchte Euch und ihn zusammenbringen, weil ich gegen ihn wüte. Meine Mutter ist geizig und arm; sie würde jede Nachricht, die sie auftreiben kann, kurz alles und jedes für Geld verkaufen. Es ist vielleicht nur billig, daß Ihr sie bezahlt, wenn sie Euch zu etwas verhilft, was Ihr zu wissen wünscht. Aber das ist nicht mein Beweggrund. Ich habe Euch diesen genannt, und er würde bei mir ebenso stark und mächtig fortwirken, wenn Ihr auch mit ihr um sechs Pence handeltet und feilschtet. Ich bin fertig. Meine vorlaute Zunge sagt nichts mehr, und wenn Ihr bis zum morgigen Sonnenuntergang hier wartetet.«

Die Alte, die während dieser Rede große Unruhe gezeigt hatte, weil sie davon eine Schmälerung ihres Gewinns fürchtete, zupfte Mr. Dombey sanft am Ärmel und flüsterte ihm zu, er solle nicht auf sie achten. Er schaute dann abwechselnd beide mit einem hohlen Blick an und sagte mit einer Stimme, die tiefer klang, als gewöhnlich:

»Fahrt fort – was wißt Ihr?«

»O, nicht so schnell, Euer Gnaden! Wir müssen zuvor noch jemand erwarten«, antwortete die Alte. »Die Kunde muß von einer dritten Person herausgeholt und ihr mit List entrungen werden.«

»Was meint Ihr damit?« fragte Mr. Dombey.

»Geduld«, krächzte sie, indem sie ihre Hand wie eine Klaue auf seinen Arm legte. »Geduld. Ich kriege es heraus. Ich weiß, es gelingt mir! Wollte er es mir vorenthalten«, sagte die gute Mrs. Brown, und die zehn Finger zuckten ihr, »so würde ich es ihm aus der Seele reißen!«

Mr. Dombey folgte ihr mit den Augen, während sie nach der Tür hinhumpelte und wieder hinausschaute. Dann suchte sein Blick die Tochter, die teilnahmslos, still und ohne seiner zu achten, dasaß.

»Ich muß Euch wohl so verstehen, Frau«, sagte er, als die gebeugte Gestalt der Mrs. Brown mit wackelndem Kopf und Kinn wieder zurückkehrte, »daß Ihr hier noch eine andere Person erwartet?«

»Ja!« sagte die Alte, zu seinem Gesicht aufschauend und nickend.

»Aus der Ihr die Kunde herausholen wollt, die mir nützlich sein soll?«

»Ja«, entgegnete die Alte mit einem abermaligen Nicken.

»Eine fremde Person?«

»Hoho!« sagte die Alte mit einem schrillen Lachen. »Was liegt daran? Doch nein, nicht fremd für Euer Gnaden. Aber er darf Euch nicht sehen. Er fürchtet sich vor Euch und würde nicht reden. Ihr müßt hinter jene Tür treten, damit Ihr Euch selbst ein Urteil bilden könnt. Wir verlangen nicht, daß Ihr eine Katze im Sack kauft. Wie – Euer Gnaden ist mißtrauisch gegen den Raum hinter der Tür? Ach, was für ein Argwohn von euch reichen vornehmen Leuten! So seht selbst nach.«

Ihr scharfes Auge hatte bei ihm eine unwillkürliche Äußerung dieses Gefühls entdeckt, das ihm unter den obwaltenden Umständen niemand verargen konnte. Um ihn übrigens zu beruhigen, nahm sie jetzt die Kerze nach der besprochenen Tür hin. Mr. Dombey schaute hinein und überzeugte sich, daß hier eine leere, elende Kammer war, und winkte dann der Alten, das Licht wieder auf den Tisch zu stellen.

»Wie lange kann es dauern, bis die von Euch erwartete Person kommt?« fragte er.

»Nicht lange«, lautete die Antwort. »Will Euer Gnaden nicht für ein paar Minuten Platz nehmen?«

Er erwiderte nichts, sondern begann in der Stube hin und her zu gehen, als sei er unschlüssig, ob er bleiben oder sich entfernen solle. Ja es schien sogar, als mache er sich im geheimen Vorwürfe, daß er überhaupt hier sei. Aber bald wurde sein Tritt langsamer und schwerer, sein Gesicht gedankenvoller, je mehr er sich den Zweck, weswegen er gekommen war, vergegenwärtigte.

Während er so mit zu Boden gesenkten Augen auf und ab schritt, setzte sich Mrs. Brown, die aufgestanden war, um ihn zu empfangen, wieder auf ihren Stuhl und lauschte abermals. Die Eintönigkeit seiner Tritte oder die Schwäche ihres Alters ließ sie einen Schritt von außen überhören, der dem scharfen Ohr ihrer Tochter nicht entgangen war, und diese schaute rasch auf, um ihre Mutter aufmerksam zu machen, obschon es einige Augenblicke dauerte, bis ihr das gelang. Dann aber sprang die Alte von ihrem Sitz auf, flüsterte ein »da ist er!«, drängte ihren Besuch nach seinem Beobachtungsposten und stellte mit größter Hast eine Flasche und ein Glas auf den Tisch, um Rob dem Schleifer schon auf der Schwelle um den Hals fallen zu können.

»Und da ist mein hübscher Junge«, rief Mrs. Brown. »Endlich! Oho, oho! Ihr seid mir wie mein eigener Sohn, Robby!«

»O! Misses Brown«, stellte der Schleifer vor, »laßt mich los! Könnt Ihr nicht einen jungen Bursch liebhaben, ohne ihm blaue Male zu drücken und ihn zu erdrosseln? Nehmt doch den Vogelkäfig in acht, den ich in meiner Hand habe – wollt Ihr so gut sein?«

»Er denkt vor mir an seinen Vogelkäfig!« rief die Alte, als rede sie die Decke an. »Vor mir, die mehr Liebe zu ihm hat, als eine Mutter!« »Gewiß, ich bin Euch ja recht dankbar dafür, Misses Brown«, sagte der unglückliche Jüngling mit einer Jammermiene; »aber was braucht Ihr so eifersüchtig zu sein? Ich habe Euch natürlich auch gern; aber folgt daraus, daß ich Euch würgen und ersticken muß?«

Er sprach das mit einem Gesicht, als hätte er gegen ein solches Verfahren nicht allzuviel einzuwenden, wenn sich eine günstige Gelegenheit dazu darböte.

»Und noch dazu von Vogelkäfigen reden!« wimmerte der Schleifer. »Als ob das ein Verbrechen sei. Nun, so schaut selbst her! Wißt Ihr, wem dieses gehört?«

»Eurem Herrn, mein Schatz?« versetzte die Alte mit einem Grinsen.

»Ja«, antwortete der Schleifer und machte einen großen, mit einem Tuch umwickelten Käfig auf dem Tisch frei, indem er die Knoten der Umhüllung mit Händen und Zähnen löste. »Es ist unser Papagei.«

»Mr. Carkers Papagei, Rob?«

»Wollt Ihr’s Maul halten, Misses Brown?« entgegnete der gereizte Schleifer. »Was braucht Ihr hier Namen zu nennen? Hole mich der Kuckuck«, fügte er hinzu und raufte in der Aufregung seiner Gefühle mit beiden Händen sein Haar, »wenn sie nicht imstande ist, einen jungen Burschen toll zu machen.«

»Wie, Ihr wollt mir mit Schelten kommen, undankbarer Junge!« rief die Alte mit rasch bereiter Heftigkeit.

»Ach du mein Himmel, Misses Brown«, entgegnete der Schleifer mit Tränen in den Augen. »Hat’s da je so ein – –! Wißt Ihr denn nicht, daß ich eigentlich in Euch vernarrt bin, Misses Brown!«

»Ist es wahr, mein lieber Rob? Ist es wahr, mein Schätzchen?«

Mit diesen Worten beglückte ihn Mrs. Brown abermals mit einer zärtlichen Umarmung und ließ ihn nicht los, bis er mehrere ungestüme, obschon vergebliche Anstrengungen mit seinen Beinen gemacht hatte und ihm alle Haare zu Berg standen.

»O!« entgegnete der Schleifer, »es ist was Schreckliches, wenn man so von der Liebe mißhandelt wird. Ich wollte, sie wäre – –. Nun, wie ist es Euch ergangen, Misses Brown?«

»Ach, schon volle acht Tage nicht hier gewesen!« sagte die Alte, ihn mit vorwurfsvollen Blicken musternd.

»Du mein Himmel, Misses Brown«, versetzte der Schleifer, »habe ich nicht das letztemal gesagt, ich wollte in acht Tagen wiederkommen? Und da bin ich. Wie könnt Ihr nur so reden? Nehmt doch ein bißchen Vernunft an, Misses Brown. Ich bin ganz heiser, weil ich so viel zu meiner Verteidigung sagen muß, und das Gesicht brennt mir von Eurer Umarmung.«

Er rieb sich die Backen mit dem Ärmel, als wolle er das Übermaß des fraglichen zarten Feuers ersticken.

»Erquickt Euch mit einem Tröpflein, mein Robin«, sagte die Alte, füllte aus der Flasche das Glas und schob es ihm hin.

»Danke, Misses Brown«, erwiderte der Schleifer. »Eure Gesundheit. Und möget Ihr lang – et cetera!« dem Ausdruck seines Gesichtes nach zu schließen, enthielt dies eben nicht den besten Glückwunsch. »Und auch ihre Gesundheit«, fügte der Schleifer mit einem Blick auf Alice hinzu, die, wie es ihm vorkam, ihre Augen auf die Wand hinter ihm heftete, obschon in Wirklichkeit die Richtung derselben dem Gesicht des hinter der Tür stehenden Mr. Dombey galt. »Ich wünsche ihr das gleiche und noch viel dazu!«

Mit diesen beiden Trinksprüchen leerte er das Glas und setzte es wieder nieder.

»Also, Misses Brown«, fuhr er fort, »um jetzt auf etwas Vernünftiges zu kommen. Ihr seid eine Vogelkennerin, wie ich auf eigne Kosten erfahren habe.«

»Kosten?« wiederholte Mrs. Brown.

»Zu meiner Freude, wollte ich sagen«, versetzte der Schleifer. »Wie Ihr doch gleich einem jungen Burschen jedes Wort auf die Wage legt. Misses Brown. Ihr habt mir alles wieder aus dem Kopf gejagt.«

»Eine Vogelkennerin, Robby?« bemerkte die Alte.

»Ja«, sagte der Schleifer. »Da soll ich nun für diesen Papagei sorgen. Gewisse Dinge kommen zum Verkauf, ein gewisses Hauswesen wird aufgelöst, und da ich vorderhand nicht wünsche, daß man von mir Notiz nehme, so wäre es mir lieb, wenn Ihr den Vogel für eine Woche oder so in Kost und Pflege nähmet. Wenn ich doch einmal ab- und zulaufen muß«, sprach der Schleifer mit niedergeschlagenem Gesicht vor sich hin, »so kann ich ebensogut etwas hier lassen, wegen dessen ich komme.«

»Wegen dessen Ihr kommt?« fragte schrill die Alte.

»Außer Euch, meine ich, Misses Brown«, erwiderte der verschüchterte Rob. »Natürlich nicht, daß ich außer Euch noch eines andern Anlasses bedürfte, Misses Brown. Um Gottes willen, fangt nur nicht wieder so an!«

»Er kümmert sich nicht um mich! Er macht sich nichts aus mir, obschon ich stets um ihn so sehr bekümmert bin!« rief Mrs. Brown, ihre häutigen Hände erhebend. »Aber ich will für seinen Vogel Sorge tragen.«

»Ja, sorgt nur recht gut für ihn, Mrs. Brown«, sagte Rob, den Kopf schüttelnd. »Ich glaube, man würde dahinter kommen, wenn Ihr ihm nur ein einziges Mal die Federn in falscher Richtung strichet.«

»Ah, so scharf also, Rob?« fragte Mrs. Brown hastig.

»Jawohl scharf, Misses Brown!« wiederholte Rob. »Aber nur mäuschenstill darüber.«

Er brach plötzlich ab und füllte, nicht ohne einen furchtsamen Blick durch das Zimmer gleiten zu lassen, das Glas von neuem, trank es langsam aus, schüttelte den Kopf und begann mit den Fingern langsam über die Drähte des Papageikäfigs hin und her zu fahren, um von dem gefährlichen Gegenstand, den er eben in Anregung gebracht hatte, abzulenken.

Die Alte faßte ihn schlau ins Auge, rückte ihren Stuhl näher an den seinen heran, lockte den Papagei herunter und sagte:

»Ohne Stelle jetzt, Robby?«

»Was kümmert das Euch, Misses Brown?« entgegnete der Schleifer kurz abgebrochen.

»Kostgeld vielleicht, Rob?« fragte Mrs. Brown.

»Hübsche Polly!« sagte der Schleifer.

Die Alte warf ihm einen Blick zu, der ihm hätte sagen können, daß seine Ohren in Gefahr seien. Aber jetzt war die Reihe an ihm, den Papagei zu locken, und wie ausdrucksvoll sich auch seine Einbildungskraft ihr Zürnen vergegenwärtigen mochte, blieb es doch seinen Augen verborgen.

»Es wundert mich, daß Euch Euer Herr nicht mitgenommen hat«, sagte die Alte mit einschmeichelnder Stimme, obschon sich in ihrem Gesicht erhöhte Bosheit ausdrückte.

Rob war in Betrachtung des Papageis und in sein Zupfen an den Drähten so vertieft, daß er keine Antwort gab.

Die Alte hatte ihre Kralle fast in seinem Haarschopf, hielt aber wieder inne und sagte im Tone erkünstelten Schmeichelns: »Robby, mein Kind.«

»Was wollt Ihr, Misses Brown?« versetzte der Schleifer.

»Ich sage, es wundert mich, warum Euch Euer Herr nicht mitgenommen hat, mein Schatz.«

»Geht Euch nichts an, Misses Brown«, erwiderte der Schleifer.

Im Augenblick hatte sich ihre rechte Hand in seinem Haar eingekrallt, während ihre linke an seiner Kehle saß; sie hielt den Gegenstand ihrer zärtlichen Liebe mit so außerordentlicher Wut fest, daß sein Gesicht sofort dunkel anlief.

»Misses Brown!« rief der Schleifer, »so laßt mich nur gehen! Was fällt Euch denn ein? Hilfe, Fräulein! Misses Brow – Brow –«

Das Fräulein jedoch, das sich weder durch Robs unmittelbaren Hilferuf, der ihr galt, noch durch den erstickten Ton seiner Stimme rühren ließ, blieb völlig neutral, bis endlich Rob nach einem langen Kampf in der Ecke sich von seiner Angreiferin losmachte. So stand er, von seinen vorgeschobenen Ellbogen geschützt, keuchend da, während die Alte gleichfalls keuchend und vor Wut mit den Füßen stampfend, ihre Kräfte zu einem abermaligen Sturm zu sammeln schien. In dieser Krisis ließ Alice ihre Stimme ertönen und sprach, freilich nicht zugunsten des Schleifers, die Worte:

»Recht so, Mutter. Reißt ihn in Stücke.«

»Wie, mein Fräulein«, heulte Rob, »seid auch Ihr gegen mich? Was habe ich denn getan und weswegen soll ich in Stücke zerrissen werden? Das möchte ich doch wissen. Warum packt und würgt Ihr einen jungen Burschen, der keinem von euch beiden je etwas zuleide getan hat? Und ihr wollt Damen sein!« fügte der erschrockene und bedrängte Schleifer bei, während er mit dem Rockärmel seine Augen bearbeitete. »Ich wundere mich über euch! Wo ist euer frauliches Zartgefühl?«

»Du undankbarer Hund!« keuchte Mrs. Brown. »Du unverschämter, höhnischer Schlingel!«

»Was hab‘ ich denn getan und wodurch habe ich Euch beleidigt, Misses Brown?« entgegnete Rob unter Tränen. »Vor einer Minute habe ich ja noch ganz in Eurer Gunst gestanden.«

»Mich so mit kurzen Antworten und trotzigen Reden abzufertigen!« sagte die Alte. »Ein solches Spiel mit mir zu treiben, weil ich ein bißchen über den Herrn und die Lady mit ihm plaudern möchte! Aber ich will nichts mehr von dir, Bursche. Geh‘ jetzt!«

»Gewiß, Misses Brown«, entgegnete der kriechende Schleifer, »ich habe in keiner Weise angedeutet, daß ich zu gehen wünsche. Redet doch bitte nicht so, Misses Brown!«

»Ich will gar nichts mehr mit ihm reden«, sagte Mrs. Brown, mit ihren gekrümmten Fingern in einer Weise ausholend, daß er sich in der Ecke auf die Hälfte seines natürlichen Umfangs zusammendrückte. »Kein Wort mit ihm soll mir je wieder über die Lippen kommen. Er ist ein undankbarer Hund, und ich sage mich los von ihm. Er kann jetzt gehen! Und ich will diejenigen nachschicken, die nur zu viel reden werden, die sich nicht abschütteln lassen, die wie Blutegel an ihm hängen und wie Füchse hinter ihm dreinjagen. Ja, er weiß wohl, wen ich meine. Er kennt seine alten Kameradenschaften und seine alten Spitzbübereien. Wenn er sie vergessen hat, werden sie ihn schon daran erinnern. Er soll jetzt nur fortgehen und sehen, ob er, wenn ihm eine solche Gesellschaft auf und nieder folgt, das Geschäft seines Herrn besorgen und seine Geheimnisse bewahren kann. Ha, ha, ha, er wird einen ganz andern Schlag in ihnen finden als in dir und mir, Ally, gegen die er so verschlossen ist. Fort jetzt – fort.«

Die Alte umlief den Schleifer zu dessen unaussprechlichem Entsetzen in einem Ring von ungefähr vier Fuß im Durchmesser, wiederholte unaufhörlich diese Worte, wackelte dabei mit dem Kinn und schüttelte ihre Faust über seinem Kopf.

»Misses Brown«, flehte Rob, der ein wenig aus seiner Ecke hervorkam, »besinnt Euch doch; gewiß, Ihr könnt einem armen Burschen nicht mit kaltem Blute etwas zuleide tun.«

»Nichts da«, sagte Mrs. Brown, zornig ihre Kreise fortsetzend, »Fort jetzt – fort mit ihm!«

»Misses Brown«, drängte der unglückliche Schleifer, »ich hatte ja nicht die Absicht, zu – o, was ist es nicht Schreckliches, wenn ein junger Bursche in eine solche Klemme kommt! – Ich habe mich nur deshalb vor dem Reden gehütet, Misses Brown, weil ich es stets tue, da er gleich hinter alles kommt; bei Euch aber hätte ich wissen können, daß es sich nicht weiter verbreitet. Gewiß, es macht mir Freude« – sein klägliches Gesicht drückte das Gegenteil aus – »ein bißchen mit Euch plaudern zu können, Misses Brown. Nur seid so gut, es nicht in dieser Art weiterzutreiben. Wollt Ihr nicht die Barmherzigkeit haben, für einen armen jungen Burschen ein gutes Wort einzulegen?« fügte der Schleifer in verzweifelndem Ton, zur Tochter gewandt, hinzu.

»Hört Ihr, was er sagt, Mutter?« legte sich Alice mit strenger Stimme und einer ungeduldigen Kopfbewegung ins Mittel. »Versucht es noch einmal mit ihm, und kommt er Euch wieder so, so mögt Ihr ihn meinetwegen zugrunde richten, damit man ihn für immer vom Halse hat.«

Mrs. Brown, die durch diese sehr zärtliche Ermahnung gerührt zu sein schien, begann sogleich zu heulen, wurde aber allmählich milder und schlang den sich rechtfertigenden Schleifer in ihre Arme. Letzterer erwiderte die Liebkosung mit einer Jammermiene und nahm als leibhaftiges Opfer den früheren Sitz an der Seite seiner ehrwürdigen Freundin wieder ein. Er gestattete ihr, nicht ohne viel erzwungene Süßigkeit, womit ganz andere sehr ausdrucksvolle Gesichtszüge in seinem Antlitz kämpften, seinen Arm in den ihren zu legen und ihn so festzuhalten.

»Und was macht Euer Herr, mein Schatz?« fragte Mrs. Brown, die nach der Aussöhnung in der erwähnten freundschaftlichen Haltung neben ihm saß.

»Pst! seid doch so gut, ein bißchen leiser zu reden, Misses Brown«, flehte Rob. »Danke Euch, ich glaube, es geht ihm ziemlich gut.«

»Ihr seid also nicht ohne Stelle?« fragte Mrs. Brown in einschmeichelndem Tone.

»Ei, nicht gerade ohne Stelle, obschon ich auch nicht sagen kann, daß ich eine habe«, stotterte Rob. »Ich – ich werde noch immer bezahlt, Misses Brown.«

»Und nichts zu tun, Rob?«

»Vorderhand nichts Besonderes, Misses Brown, als etwa mei – meine Augen offenzuhalten«, versetzte der Schleifer, der die erwähnten Organe verzweifelt umherrollen ließ.

»Der Herr ist verreist, Rob?«

»O, um des Himmels willen, Misses Brown, könnt Ihr nicht mit einem jungen Burschen über etwas anderes plaudern?« rief der Schleifer verzweifelt.

Da jetzt die ungestüme Mrs. Brown aufstehen wollte, hielt sie der gefolterte Rob stammelnd zurück.

»J – ja, Misses Brown«, sagte er. »Ich glaube, er ist verreist. Nach was schaut sie so hin?« sagte er mit Bezug auf die Tochter, deren Augen auf dem Gesicht hafteten, das jetzt hinter seinem Rücken wieder hereinschaute.

»Kehrt Euch nicht an sie, Junge«, entgegnete die Alte, die ihn festhielt, damit er sich nicht umwenden konnte, »Es ist so ihre Art – ihre Art. Erzählt mir, Rob. Habt Ihr nie die Lady gesehen, mein Schätzchen?«

»O, Misses Brown, welche Lady?« rief der Schleifer im Ton der de- und wehmütigsten Bitte.

»Welche Lady?« erwiderte sie. »Die Lady – Mrs. Dombey.«

»Ja, ich glaube, ich habe sie einmal gesehen«, versetzte Rob.

»In der Nacht ihrer Abreise, he, Robby?« rief ihm die Alte ins Ohr, während sie zugleich jede Veränderung in seinem Gesicht aufmerksam beobachtete. »Aha! ich sehe, es war in jener Nacht.«

»Wenn Ihr es schon wißt, Misses Brown«, entgegnete Rob, »wozu nützt es dann, einem armen Burschen die Daumschrauben anzulegen, bis er es sagt?«

»Wohin gingen sie in jener Nacht, Rob? Gerad heraus? Wie reisten sie? Wo habt Ihr sie gesehen? Lachte oder weinte sie? Erzählt mir alles«, rief die alte Hexe, indem sie ihn noch fester hielt, die Hand, die sie in seinen Arm gelegt hatte, mit der andern streichelte und mit ihren Triefaugen jeden Zug seines Gesichts forschend prüfte. »Na, fangt an! Ich möchte die ganze Geschichte hören. Ei, Rob, mein Junge – Ihr und ich, wir beide können doch wohl ein Geheimnis bewahren? Es ist ja nicht das erstemal. Wohin gingen sie, Rob?«

Der unglückliche Schleifer keuchte und blieb stumm.

»Seid Ihr taub?« fragte die Alte zornig.

»Gott behüte, Misses Brown! Aber verlangt Ihr denn, ein junger Bursche solle ein Blitzstrahl sein? Ich wollte, ich wäre selbst Elektrizität«, murmelte der verwirrte Schleifer. »Wie wollt‘ ich auf gewisse Personen losfahren und ihnen das Handwerk legen.«

»Was sagt Ihr?« fragte die Alte mit einem Grinsen.

»Ich wünsche Euch alles Gute, Misses Brown«, entgegnete der falsche Rob, sich aus dem Glase Trost holend. »Wo sie zuerst hingingen, fragt Ihr? Ihr meint doch ihn und sie?«

»Ja, sie beide«, sagte die Alte hastig.

»Nun, sie gingen nirgends hin – d.h. miteinander«, antwortete Rob.

Die Alte sah ihn an, als habe sie gute Lust, mit ihren Krallen ihm abermals in die Haare und an die Kehle zu fahren, hielt aber inne, da sie ein gewisses störrisches Heimlichtun in seinem Gesicht merkte.

»Das war eben der Kniff dabei«, sagte der widerstrebende Schleifer, »daß sie niemand gehen sah, folglich auch niemand sagen kann, wie sie fortkamen. Sie schlugen verschiedene Wege ein, Misses Brown.«

»Ach so, um an einem zum voraus bezeichneten Ort zusammenzutreffen«, kicherte die Alte nach einem kurzen Schweigen und einer scharfen Musterung seines Gesichtes.

»Nun, wenn sie nicht irgendwo zusammentreffen wollten, so denke ich, hätten sie ebensogut zu Hause bleiben können – meint Ihr nicht. Misses Brown?« entgegnete der Schleifer ungeduldig.

»Was weiter, Rob? was weiter?« sagte die Alte, seinen Arm noch dichter an sich ziehend, als fürchte sie in ihrer Begier, er könnte ihr entschlüpfen.

»Haben wir denn noch nicht genug geschwatzt, Misses Brown?« entgegnete der Schleifer, der im Gefühl der erlittenen Kränkung, der Folter, auf der er lag, und unter dem Einflüsse des Branntweins so tränenreich geworden war, daß er bei fast jeder Antwort mit dem Rockärmel entweder das eine oder das andere seiner Augen auswischte, während zugleich ein vergebliches Winseln als Gegenbitte dienen mußte. »Ob sie in jener Nacht gelacht habe, wolltet Ihr wissen? Habt Ihr nicht gefragt, ob sie lachte, Misses Brown?«

»Oder weinte«, setzte die Alte mit bejahendem Kopfnicken hinzu.

»Keines von beiden«, sagte der Schleifer. »Sie benahm sich so ruhig, als sie und ich – o, ich sehe, Ihr habt’s darauf abgesehen, alles aus mir herauszukriegen, Misses Brown! Aber Ihr müßt mir zuvor einen feierlichen Eid schwören, daß Ihr es niemandem mitteilen wollt.«

Mrs. Brown ging sehr bereitwillig darauf ein, natürlich mit einem jesuitischen Vorbehalt; denn sie hatte in der ganzen Sache keine andere Absicht, als daß der verborgene Gast selbst Zeuge sei.

»Gut also, sie verhielt sich so ruhig wie eine Bildsäule, als sie und ich nach Southampton hinuntergingen. Am Morgen war es genau so wieder das gleiche, Misses Brown, und ebenso zeigte sie sich, als sie vor Tagesanbruch ohne Begleitung in dem Dampfschiff abreiste. Ich mußte ihren Diener vorstellen und sie sicher an Bord begleiten. Jetzt könntet Ihr doch zufrieden sein, Mrs. Brown?«

»Nein, Rob, noch nicht«, antwortete Mrs. Brown entschieden.

»O, was Ihr doch für eine Frau seid!« rief der unglückliche Rob in einem schwachen Ausbruch von Wehklagen über seine eigene Hilflosigkeit. »Und was wünscht Ihr weiter zu wissen, Misses Brown?«

»Was aus dem Herrn geworden ist – wo er hinging«, entgegnete sie, ihn noch immer festhaltend und das spähende Auge nicht von seinem Gesicht abwendend.

»Bei meiner Seele, ich weiß es nicht, Misses Brown«, antwortete Rob. »Bei meiner Seele, ich weiß nicht, was er tat oder wohin er ging – überhaupt nichts von ihm. Aber noch immer klingt mir in den Ohren, was er mir beim Abschied als Warnung sagte, und ich will Euch als Freund mitteilen, Mrs. Brown, ehe Ihr eine Silbe von dem, was hier gesprochen wurde, über die Lippen gleiten lasset, würdet Ihr besser tun, Euch zu erschießen oder Euch in diesem Haus einzusperren und es anzuzünden. Es gibt nämlich nichts, was er nicht tun würde, um sich an Euch zu rächen. Ihr kennt ihn nicht halb so gut wie ich, Misses Brown, und seid keinen Augenblick vor ihm sicher, kann ich Euch sagen.«

»Habe ich nicht einen Eid geschworen«, erwiderte die Alte, »und werde ich ihn nicht halten?«

»Ich will das freilich von Euch hoffen, Misses Brown«, versetzte Rob etwas zweifelnd und nicht ohne eine geheime Drohung in seinem Benehmen, »um Euretwillen selbst so gut, als um meinetwillen.«

Er sah sie bei dieser freundlichen Warnung an und gab seinen Worten durch ein Nicken mit dem Kopf noch mehr Nachdruck. Da es ihm aber unbehaglich wurde, dem gelben Gesicht mit dem wackelnden Kinn und den ihm so nahen Triefaugen mit ihrem scharfen winterlichen Blick zu begegnen, so schaute er unruhig auf den Boden und rückte mit dem Stuhl hin und her, als versuche er, sich zu der Erklärung zu ermutigen, daß er keine weiteren Fragen mehr beantworten könne. Die Alte, die ihn noch immer festhielt, benützte diese Gelegenheit, um den Zeigefinger ihrer rechten Hand zu erheben, – ein geheimes Zeichen für den versteckten Zeugen, daß er dem, was jetzt folgen werde, besondere Aufmerksamkeit zuwenden solle.

»Rob«, sagte sie in ihrem einschmeichelndsten Tone.

»Ach, lieber Himmel, Misses Brown, was soll es denn jetzt wieder?« erwiderte der aufgebrachte Schleifer.

»Rob, wohin haben sich die Lady und dein Herr bestellt?«

Rob rückte noch mehr hin und her, sah aufwärts und abwärts, nagte an seinem Daumen, zupfte an seiner Weste und sagte endlich, während er einen schielenden Blick nach seinem Quälgeist hinschießen ließ: »Wie sollte ich das wissen, Misses Brown?«

Die Alte erhob wieder wie zuvor ihren Finger und versetzte:

»Unsinn, Junge, wozu auch mich so weit führen und dann plötzlich stille stehen? Ich will es wissen.«

Sie wartete auf Antwort, bis endlich Rob nach einer Pause der Trostlosigkeit plötzlich losbrach:

»Wie kann ich die Namen fremder Orte aussprechen, Misses Brown! Was Ihr doch für eine unvernünftige Frau seid!«

»Aber Ihr habt ihn nennen hören, Robby«, entgegnete sie beharrlich, »und wißt also, wie er klang. Nur heraus damit!«

»Ich habe ihn nicht nennen hören, Misses Brown«, versetzte der Schleifer.

»Dann habt Ihr ihn geschrieben gelesen und könnt ihn buchstabieren«, erwiderte die Alte hastig.

Mit einem ärgerlichen Ausruf, der zwischen Lachen und Weinen mitten innen schwebte – denn Mrs. Browns Schlauheit erfüllte ihn einigermaßen mit Bewunderung, obschon ihn ihre Zudringlichkeit im höchsten Grade reizte – brachte er nach einigem verdrießlichen Suchen in seiner Westentasche ein kleines Stück Kreide zum Vorschein. Die Augen der Alten funkelten, als sie dieses Schreibmaterial zwischen seinem Daumen und Zeigefinger sah, und während sie hastig den tannenen Tisch abräumte, damit er das Wort hinzeichnen könne, gab sie abermals mit ihrer zitternden Hand ein Zeichen.

»Ich will Euch jetzt zum voraus sagen, wie es ist, Misses Brown«, erwiderte Rob. »Es nützt nichts, weitere Fragen an mich zu stellen. Ich werde auf keine mehr antworten, da ich es nicht kann. Wie lang es dauern sollte, bis sie zusammentrafen, oder von wem der Plan der getrennten Reise ausging, weiß ich ebensowenig als Ihr. Ja, ich weiß nichts davon. Wenn ich Euch sagte, wie ich jenes Wort aufgefunden, so würdet Ihr mir das aber schon glauben. Soll ich es Euch sagen, Misses Brown?«

»Ja, Rob.«

»Nun schön, Misses Brown. Die Art – aber wohl gemerkt, Ihr dürft mich jetzt nichts mehr fragen«, sagte Rob, seine Augen, die jetzt schläfrig und dumm wurden, ihr zuwendend.

»Kein Wort weiter«, versetzte Mrs. Brown.

»Also denn, die Art war folgende. Als ein gewisser Jemand die Lady mir überantwortete, drückte er dieser ein Stück Papier mit einer Adresse in die Hand für den Fall, daß sie dieselbe vergessen sollte. Die Lady schien das nicht für nötig zu halten; denn sie zerriß, sobald er fort war, das Blättchen in Fetzen, und als ich den Wagentritt aufschlug, fiel einer der Fetzen herunter; die übrigen streute sie vermutlich zum Fenster hinaus. Es lag nämlich nachher keiner mehr da, obschon ich mich danach umsah. Es stand nur ein einziges Wort darauf, und es war so geschrieben – wenn Ihr es doch einmal wissen wollt und müßt. Aber wohl gemerkt, Ihr habt einen Eid geschworen, Misses Brown!«

Das wisse sie, entgegnete Mrs. Brown, und Rob, der nun nichts mehr zu sagen hatte, begann langsam und mit Mühe Buchstaben auf den Tisch zu zeichnen.

»› D‹«, las die Alte laut, sobald Rob mit dem ersten fertig war.

»Wollt Ihr das Maul halten, Misses Brown?« rief der Schleifer, das Geschriebene mit der Hand zudeckend und sich ungeduldig gegen sie umwendend, »Ich will nicht haben, daß es laut gelesen wird. Seid stille!«

»So schreibt groß, Rob«, versetzte sie, indem sie ihr geheimes Signal wiederholte, »denn meine Augen sind nicht gut, sogar bei dem Gedruckten.« Vor sich hinmurmelnd und ärgerlich sein Geschäft wieder aufnehmend, fuhr Rob in dem Schreiben des Wortes fort. Während sein Kopf niedergebeugt war, trat der Herr, für dessen Belehrung er, ohne daß er es wußte, arbeitete, durch die Tür heraus bis auf einen kurzen Schritt an seine Schulter heran und blickte hastig auf die Linien, die seine Hand langsam auf den Tisch hinmalte. Zu gleicher Zeit gab Alice von dem gegenüberstehenden Stuhle aus sorgfältig acht, wie er die Buchstaben bildete, und wiederholte jeden, sobald er dastand, mit den Lippen, ohne ihn übrigens laut auszusprechen. Nach jedem Buchstaben begegneten ihre Augen denen von Mr. Dombey, als suchten sie eine wechselseitige Bestätigung, und so buchstabierten beide D.I.J.O.N.

»So!« sagte der Schleifer, hastig seine Handfläche anfeuchtend, um das Wort wieder auszulöschen. Und nicht zufrieden mit dem Zusammenschmieren, zerrieb und vertilgte er jede Spur mit seinem Rockärmel, bis sogar alles Weiß der Kreide vom Tisch verschwunden war. »Ich hoffe, Ihr seid jetzt zufriedengestellt, Misses Brown!«

Zum Zeichen der Bejahung ließ die Alte jetzt seinen Arm los und klopfte ihm auf den Nacken. Der Schleifer aber, von dem Ärger, dem Verhör und dem Branntwein ganz überwältigt, kreuzte auf dem Tisch seine Arme, legte den Kopf darauf und schlief ein.

Erst nachdem er eine Weile laut geschnarcht hatte, wandte sich die Alte nach der Tür, hinter der Mr. Dombey verborgen stand, und winkte ihm, daß er jetzt herauskommen und gehen könne. Doch selbst dann noch beugte sie sich über Rob nieder, als wolle sie ihm die Augen zuhalten oder den Kopf niederstoßen, falls er diesen erhob, während der leise Tritt sich nach der Tür hinbewegte. Aber obgleich sie den Schläfer scharf bewachte, verwandte sie keinen Blick von dem Wachenden, und als er ihre Hand mit der seinen berührte, bei welcher Gelegenheit trotz aller Vorsicht ein Klimpern wie von Gold hörbar wurde, funkelten ihre Augen so gierig, wie die eines Raben.

Der dunkle Blick der Tochter folgte ihm nach der Tür, und es entging ihr nicht, wie blaß er aussah, und wie sein hastiger Schritt darauf deutete, daß das mindeste Zögern ihm ein unerträglicher Zwang sei, und daß er vor Verlangen brenne, rasch zu handeln. Nachdem er die Klinke hinter sich zugedrückt hatte, sah sie sich nach ihrer Mutter um. Die Alte kam auf sie zu, öffnete ihre Hand, um zu zeigen, was darin sei, schloß sie aber sogleich wieder in geiziger Eifersucht und flüsterte:

»Was wird er anfangen, Ally?«

»Unheil«, sagte die Tochter.

»Mord?« fragte die Alte.

»Er ist in seinem verwundeten Stolz ein Wahnsinniger, und wer weiß, es kann wohl so weit kommen.«

Ihr Blick war noch funkelnder als der ihrer Mutter, und das Feuer ihrer Augen leuchtete lebhafter. Aber ihr Gesicht zeigte eine Leichenblässe, die sich selbst über die Lippen breitete.

Sie sprach nicht weiter, sondern blieb beiseite sitzen. Die Mutter machte sich mit ihrem Geld zu schaffen, die Tochter aber gab sich ihren Gedanken hin, und beider Blicke leuchteten in dem Düster der schwach erhellten Stube. Rob schlief und schnarchte weiter. Nur der unbeachtete Papagei war in Tätigkeit. Er zupfte und zerrte mit seinem krummen Schnabel an den Drähten des Käfigs, kletterte nach der Wölbung hinauf und an dem Dache hin wie eine Fliege, warf sich wieder köpflings herunter und rüttelte, biß und rasselte an jedem dünnen Stabe, als kenne er die Gefahr, die seinem Herrn drohte, als wolle er sich mit Gewalt befreien, um fortzufliegen und ihn zu warnen.