Neunundvierzigstes Kapitel.

Der Midshipman macht eine Entdeckung.

Es dauerte lange, bis Florence erwachte. Der Tag erreichte seine Mittagshöhe und nahm wieder ab. Aber noch immer schlief sie unruhig fort, des fremden Bettes, des Lärms und Getümmels auf der Straße und des Lichtes vergessend, das außerhalb des verhüllten Fensters schien. Indessen konnte sogar der tiefe Schlummer der Erschöpfung die Erinnerung an das, was in der nicht mehr bestehenden Heimat vorgefallen war, nicht ganz verdrängen. Einige unbestimmte, schmerzliche Bilder davon, die unruhig schlummerten, aber nie wirklich schliefen, wühlten während der ganzen Zeit ihrer Rast fort. Ein dumpfes Weh, gleich einem halbbeschwichtigten Schmerzgefühl, war ihr immer gegenwärtig, und ihre blassen Wangen befeuchteten sich öfter mit Tränen, als dem ehrlichen Kapitän, der von Zeit zu Zeit seinen Kopf leise durch die angelehnte Tür hereinsteckte, zu sehen lieb war.

Die Sonne sank im Westen und durchdrang, aus einem roten Nebel hervorblickend, mit ihren Strahlen, als wären sie durchdringende goldene Pfeile, die Öffnungen und die durchbrochene Arbeit an den Türmen der Stadtkirchen. Weithin über den Fluß und seine flachen Ufer breitete sie einen Glanz, ähnlich einem Feuerpfad; auf dem Meere draußen brach sich ihr Licht an den Segeln der Schiffe, und von ruhigen Kirchhöfen oder den Hügelspitzen des Landes aus gesehen, übergoß sie die fernen Landschaften mit einer rötlichen Glut, in der Erde und Himmel herrlich zusammenzuschmelzen schienen. Jetzt erst öffnete Florence die schweren Augen, ohne jedoch anfangs die fremden Wände um sie her zu erkennen, blickte teilnahmslos auf ihre Umgebung und hörte mit ebensowenig Achtsamkeit den Lärm auf der Straße. Bald aber fuhr sie von ihrem Lager auf, und nach einem erstaunten Umherschauen kam ihr wieder alles ins Gedächtnis.

»Mein Herzchen«, sagte der Kapitän, an die Tür klopfend, »wie geht es?«

»Lieber Freund«, rief Florence, auf ihn zueilend, »seid Ihr da?«

Der Kapitän war so stolz auf diese Bezeichnung und fühlte sich so glücklich bei der frohen Glut, die sich bei seinem Anblick in ihrem Gesichte ausdrückte, daß er als Antwort in sprachloser Selbstzufriedenheit seinen Haken küßte.

»Wie geht es, mein funkelnder Diamant?« sagte der Kapitän.

»Ich habe gewiß sehr lange geschlafen«, entgegnete Florence. »Wann kam ich hierher? Gestern?«

»Nein, heute ist der gesegnete Tag, mein kleines Fräulein«, antwortete der Kapitän.

»Es ist also keine Nacht dazwischen – noch immer Tag?« fragte Florence.

»Es geht jetzt stark auf Abend, mein Herzchen«, sagte der Kapitän, den Fenstervorhang zurückziehend. »Seht!«

Florence, ihre Hand so schüchtern und bekümmert auf den Arm des Kapitäns gelegt, und der Kapitän, mit seinem rauhen Gesicht und seiner stämmigen Gestalt so ruhig als Schützer ihr zur Seite, standen in dem rosigen Lichte des schönen Abendhimmels da, ohne ein Wort zu sprechen. In was für eigentümliche Worte der Kapitän auch seine Gefühle gebracht haben würde, wenn er sie hätte laut werden lassen, so sagte ihm doch sein Inneres, wie es nur der beredteste Mensch tun konnte, es liege etwas in der Ruhe der Zeit und in ihrer sanften Schönheit, das Florences verwundetes Herz zum Überströmen bringen würde, und es sei besser, daß solche Tränen ihren Lauf nähmen. Er sprach daher kein Wort. Aber als er seinen Arm inniger umfaßt fühlte, das Köpfchen ihm näher kam und sich endlich an seinen groben, blauen Ärmel anschmiegte, drückte er es sanft mit seiner rauhen Hand; er verstand sie und wurde verstanden.

»Jetzt besser, mein Herzchen!« sagte der Kapitän. »Hellauf! hellauf! Ich will jetzt hinuntergehen und Essen bereit halten. Wollt Ihr dann selbst kommen, mein Herz, oder soll Ed’ard Cuttle kommen und Euch holen?«

Florence versicherte ihm, daß sie jetzt völlig imstande sei, die Treppe hinunterzugehen, und wenngleich der Kapitän im Zweifel zu sein schien, ob es sich mit seinen Pflichten als Wirt und Beschützer vertrage, dies zu gestatten, entfernte er sich doch, um sogleich über dem Feuer im kleinen Stübchen ein Huhn zu braten. Damit er seine Kochkunst mit größerer Geschicklichkeit entfalten konnte, zog er seinen Rock aus, schlug die Hemdärmel zurück und setzte seinen Glanzhut auf, ohne dessen Beistand er nie an ein verfängliches oder schwieriges Unternehmen ging.

Nachdem Florence den schmerzenden Kopf und das brennende Gesicht mit dem frischen Wasser gekühlt hatte, das während ihres Schlafes von dem sorgfältigen Kapitän in das Zimmer geschafft worden war, trat sie an den kleinen Spiegel, um ihr wirres Haar in Ordnung zu bringen. Da bemerkte sie nun allsogleich – denn sie bebte erschrocken davor zurück –, daß sich auf ihrer Brust das dunkle Malzeichen einer zürnenden Hand befand.

Bei diesem Anblick strömten ihre Tränen aufs neue. Scham und Schrecken erfüllten sie, obschon sie dabei keinem Unwillen gegen ihn Raum gab. Der Heimat und des Vaters beraubt, vergab sie ihm alles, oder dachte kaum daran, daß sie ihm etwas zu vergeben habe. Aber sie floh jetzt vor dem Bilde von ihm, das sie in ihrem Herzen getragen, wie sie vor der Wirklichkeit geflüchtet, und er war jetzt ganz dahin und verloren. Es gab kein solches Geschöpf mehr in der Welt.

Die arme unerfahrene Florence konnte sich noch nicht denken, was sie tun oder wo sie sich aufhalten sollte. Es schwebte ihr wie in einem unbestimmten Traum vor, sie könnte in weiter Entfernung von London ein Haus finden, wo es einige kleine Schwestern zu unterrichten gäbe, die freundlich gegen sie wären, und denen sie sich unter einem andern Namen anschließen könnte. Sie wuchsen dann auf in ihrer glücklichen Heimat, heirateten, blieben gütig gegen ihre alte Gouvernante und vertrauten ihr vielleicht mit der Zeit die Erziehung ihrer eigenen Töchter an. Und sie dachte, wie seltsam und bekümmernd es sein würde, in solcher Weise grau zu werden und ihr Geheimnis ins Grab mitzunehmen, nachdem Florence Dombey längst vergessen war. Alles erschien ihr jetzt trüb und umwölkt. Sie wußte nur, daß sie auf Erden keinen Vater hatte, und sagte sich das oft selbst, wenn sie in stiller Einsamkeit ihr betendes Haupt vor dem himmlischen Vater beugte.

Ihr kleiner Geldvorrat belief sich nur auf einige Guineen. Einen Teil davon mußte sie auf Anschaffung einiger Kleidungsstücke verwenden, da sie nichts hatte, als was sie auf dem Leibe trug. In ihrem Leid konnte sie nicht daran denken, wie bald ihr Geld aufgebraucht sein würde – ja, sie war auch in weltlichen Dingen noch zu sehr Kind, um sich deshalb sehr zu grämen, selbst wenn ihr anderer Kummer geringer gewesen wäre. Sie versuchte, ihre Gedanken zu beruhigen und ihren Tränen Einhalt zu tun – den Sturm in ihrem klopfenden Kopf zu beschwichtigen und sich zu dem Glauben zu zwingen, was vorgefallen war, habe sich nur vor wenigen Stunden, nicht aber vor Wochen und Monaten zugetragen, wie es ihr vorkam. Dann ging sie hinunter zu ihrem freundlichen Beschützer. Der Kapitän hatte mit großer Sorgfalt das Tischtuch ausgebreitet und war eben damit beschäftigt, in einem kleinen Pfännchen eine Eierbrühe anzufertigen. Auch bestrich er gelegentlich das vor dem Feuer sich bräunende Huhn mit großer Aufmerksamkeit. Das Sofa war um der größeren Behaglichkeit willen in eine warme Ecke gerückt und für Florence bequem aufgepolstert worden, so daß der Kapitän seine Küche ungehindert weiter ordnen konnte. Er tat dies mit außerordentlicher Fertigkeit, machte in einem zweiten Pfännchen Fleischbrühe heiß, kochte in einem dritten eine Handvoll Kartoffeln, vergaß aber nie die Eierbrühe in dem ersten und machte unparteiisch seine Runde bei allen, indem er mit dem brauchbarsten Löffel bald den Braten beträufelte, bald die Brühen umrührte. Außer diesen Obliegenheiten mußte der Kapitän ein weiteres Augenmerk der winzigen Bratkachel zuwenden, in der einige Würste in sehr musikalischer Weise zischten und prutzelten, und in dem Eifer seines Geschäfts nahm er sich so strahlend aus, daß man unmöglich sagen konnte, ob sein Gesicht oder sein Hut am meisten glänzte.

Endlich war das Mahl fertig, und Kapitän Cuttle trug es mit nicht geringerer Gewandtheit auf, als er es gekocht hatte. Dann kleidete er sich für das Diner an, indem er seinen Glanzhut abnahm und den Rock anlegte. Sobald dies geschehen war, rückte er den Tisch vor das Sofa, sprach ein Gebet, schraubte seinen Haken ab, ersetzte diesen durch seine Gabel und machte die Honneurs der Tafel.

»Mein Frauenzimmerchen«, sagte der Kapitän, »hellauf, und versucht ordentlich zu essen. Halt bei, mein Schätzchen. Hier ein Hühnerflügel. Sauce. Würste. Und Kartoffel!«

Alles das ordnete der Kapitän symmetrisch auf einem Teller, goß mit dem brauchbaren Löffel heiße Fleischbrühe über das Ganze und setzte es seinem geehrten Gast vor.

»Die ganze Fensterreihe im Vorderschiff ist zu, Frauenzimmerchen«, bemerkte der Kapitän ermutigend, »und alles sicher. Versucht ein bißchen zu picken, mein Schatz. Wenn Wal’r hier wäre –«

»Ach, daß ich ihn jetzt zum Bruder hätte!« rief Florence.

»Laßt es Euch nicht so angreifen, mein Schatz!« sagte der Kapitän; »tut mir den Gefallen! Er war Euch wie ein natürlich geborner Verwandter – war es nicht so, mein Herz?«

Florence hatte keine Worte zur Erwiderung und sagte nur:

»O lieber, lieber Paul, o Walter!«

»Sogar die Planken, auf denen sie ging«, murmelte der Kapitän, nach ihrem gesenkten Antlitz hinblickend, »hat Walter so hochgeschätzt, wie die Wasserbäche, nach denen er in Dombeys Bücher eingetragen wurde, und als er beim Diner von ihr sprach, glänzte sein Gesicht wie eine neu aufgeblühte Rose im Tau, obschon es nur in der größten Bescheidenheit geschah. Ja, ja, wenn unser armer Walter hier wäre, mein Fräuleinchen – oder wenn er hier sein könnte – denn er ist ertrunken, nicht wahr?«

Florence schüttelte den Kopf.

»Ja, ja, ertrunken«, fuhr der Kapitän beschwichtigend fort, »wie ich sagen wollte, wenn er hier sein könnte, mein Kleinod, so würde er bei Euch bitten und betteln, daß Ihr ein bißchen mehr zulanget und für Eure eigene süße Gesundheit sorgtet. Nehmt doch Bedacht darauf, mein Kindchen, als wäre es um Walters willen, und legt Euren hübschen Schnabel vor den Wind.«

Florence versuchte, dem Kapitän zu Gefallen einen Bissen zu essen. Dieser aber schien sein eigenes Diner ganz vergessen zu haben; denn er legte Messer und Gabel nieder und rückte seinen Stuhl an das Sofa.

»Wal’r war doch ein prächtiger Junge, meint Ihr nicht, mein Kleinod?« sagte der Kapitän, die Augen auf sie geheftet, nachdem er eine Weile stumm dagesessen und das Kinn gerieben hatte, »und ein braver Junge, und ein guter Junge.« Unter Tränen pflichtete Florence bei.

»Und er ist ertrunken, mein schönes Kind, ist er es nicht?« sagte der Kapitän in beschwichtigender Stimme.

Florence konnte abermals nichts anderes tun, als zustimmen.

»Er war älter als Ihr, mein kleines Fräulein«, fuhr der Kapitän fort; »aber Ihr wart von Anfang an wie zwei Kinder gegeneinander – nicht wahr, so war es?«

»Ja«, lautete Florences Antwort.

»Und Wal’r ist ertrunken«, sagte der Kapitän. »Nicht wahr?«

Die Wiederholung dieser Frage war eine eigentümliche Art Trost, schien aber jedenfalls für Kapitän Cuttle diese Eigenschaft zu besitzen, da er immer wieder auf sie zurückkam.

Florence, die gerne ihr Mahl unberührt beiseite geschoben und sich auf das Sofa zurückgelehnt hätte, gab ihm ihre Hand in dem Gefühl, daß sie seine Erwartungen getäuscht hätte, obschon sie nichts sehnlicher wünschte, als ihm nach aller seiner Mühe gefällig zu sein. Er behielt sie in der seinen, drückte sie und murmelte, des Diners und ihres Appetitmangels ganz vergessend, bisweilen im Tone brütender Teilnahme für sich hin: »Der arme Wal’r. Ja, ja! ertrunken. Ist es nicht so?« Dabei wartete er stets auf ihre Antwort, die augenscheinlich bei diesen seltsamen Betrachtungen ihm das wichtigste war.

Das Huhn und die Würste waren kalt, die Fleischbrühe und die Eiersauce aber fest geworden, ehe sich der Kapitän erinnerte, daß sie noch bei Tisch saßen. Dann aber fiel er unter dem Beistand von Diogenes über das Mahl her, und es gelang ihren vereinigten Kräften, rasch damit fertig zu werden. Das frohe Erstaunen des Kapitäns über die ruhige Emsigkeit, womit Florence ihm beim Abräumen des Tisches, beim Ordnen des Stübchens und beim Reinigen des Herds sich betätigte – man hätte nur den Eifer, womit er ihren Beistand ablehnen wollte, damit vergleichen können – steigerte sich allmählich so sehr, daß er zuletzt selbst nichts mehr tat und ihr bloß zusah, als wäre sie irgendeine Fee, die derlei Gefälligkeiten so zierlich für ihn verrichtete. Dabei begann in seiner unaussprechlichen Bewunderung der rote Streifen auf seiner Stirne wieder zu glühen.

Aber als Florence vom Kaminsims seine Pfeife herunterlangte und sie ihm mit der Bitte in die Hand gab, daß er jetzt rauchen möchte, wurde der Kapitän durch ihre Aufmerksamkeit so verwirrt, daß er das Rauchinstrument auf eine Art in der Hand hielt, als habe er sich sein ganzes Leben über nie mit dergleichen Dingen abgegeben. Und als nun Florence gar in den kleinen Schrank hineinsah, die Korbflasche herausnahm und unaufgefordert ein Glas trefflichen Grogs für ihn mischte, das sie vor ihm niedersetzte, da wurde seine rötliche Nase eigentlich blaß ob der Ehre, die ihm widerfuhr. Nachdem er in einer wahren Verzückung seine Pfeife gefüllt hatte, zündete Florence ihm diese an, ohne daß er imstande gewesen wäre, eine Einwendung dagegen zu erheben oder sie daran zu hindern. Dann nahm sie ihren Platz auf dem Sofa wieder ein und blickte mit einem so liebevollen und dankbaren Lächeln nach ihm hin, – einem Lächeln, das ihm zeigte, ihr kummervolles Herz sei ihm in gleicher Weise zugewendet, wie ihr Gesicht – daß sich der Rauch seiner Pfeife in seiner Kehle verfing und ihn zum Husten zwang, während er zugleich seine Augen so sehr belästigte, daß sie ihm überliefen.

Es war in der Tat ergötzlich anzusehen, wie der Kapitän sich glauben zu machen versuchte, der Grund dieser Wirkungen liege in der Pfeife selbst; denn er suchte in dem Kopf darnach, und als er ihn da nicht fand, tat er, als wolle er ihn zum Rohr hinausblasen. Die Pfeife geriet jedoch bald in ein besseres Stadium, und er kam in jenen Zustand von Ruhe, der es ihm möglich machte, ordentlich fortzurauchen. Gleichwohl verwandte er kein Auge von Florence, und mit einer strahlenden Selbstgefälligkeit, die sich nicht beschreiben läßt, hielt er hin und wieder inne, um von seinen Lippen langsam eine kleine Wolke zu entsenden, als wäre sie ein langer Streifen Papier mit der Inschrift: »Ja, ja, der arme Wal’r. Ertrunken, ist es nicht so?« Dann fuhr er mit unendlicher Zartheit wieder in seinem Rauchgeschäft fort.

So ungleich sie auch im Äußeren waren – es konnte kaum einen schrofferen Gegensatz geben, als den, der Florence in ihrer zarten Jugend und Schönheit dem knaufigen Gesicht, der breiten, verwitterten Gestalt und der rauhen Stimme des Kapitäns gegenüber darbot – standen sie sich doch, was einfache Unschuld und Arglosigkeit betraf, sehr nahe. Der Kapitän verstand sich auf gar nichts, als auf Wind und Wetter, und sein einfacher Charakter, seine Leichtgläubigkeit und Vertrauensfülle glichen denen eines Kindes. Sein ganzes Wesen war in die drei Haupttugenden, Glaube, Hoffnung und Liebe geteilt, so, daß für nichts anderes mehr Raum vorhanden war, als für eine gewisse romanhafte Weltanschauung, ohne denkbare wirkliche Grundlage, indem sie alle Rücksichten auf die zeitliche Klugheit oder die Wirklichkeit außer acht ließ. Während der Kapitän rauchend dasaß und Florence ansah, trug er sich mit weiß Gott wie viel unmöglichen Bildern, in denen sie ihm stets als Hauptgestalt vor die Seele trat. Ebenso haltlos und unsicher, obschon nicht so hoffnungsreich waren ihre eigenen Gedanken über das vor ihr liegende Leben, und wie ihre Tränen das Licht in prismatischen Farben sich brechen ließen, so sah sie auch in ihrem neuen schweren Gram bereits am fernen Horizont den matten Abglanz eines Regenbogens. Eine wandernde Prinzessin und ein treu gesinntes Ungeheuer, wie sie in den Märchenbüchern dargestellt werden, hätten ebenso neben dem Kamin sitzen und sprechen können, wie Kapitän Cuttle und die arme Florence dachten. Auch würde ein solcher Vergleich, was ihr Äußeres angeht, nicht ganz unpassend gewesen sein.

Der Kapitän ließ es sich nicht entfernt einfallen, er könnte sich eine Last oder Verantwortlichkeit aufbürden, wenn er Florence bei sich behalte, und er glaubte in dieser Beziehung alles getan zu haben, wenn er Läden und Türe schloß. Ja, hätte sie sich sogar unter dem besonderen Schutz des Lord-Kanzlers befunden, so würde er sich nicht im mindesten daran gekehrt haben, denn von allen Menschen auf Erden war er gewiß derjenige, der sich zuletzt durch derartige Rücksichten anfechten ließ.

So rauchte der Kapitän ganz behaglich seine Pfeife, während Florence ihren eigenen Gedanken nachhing. Nachdem die Pfeife ausgegangen war, genossen sie etwas Tee, und Florence bat ihn nun, er möchte sie nach einem benachbarten Laden begleiten, wo sie einige zunächst nötige Bedürfnisse einkaufen wollte. Es war schon ganz dunkel, und der Kapitän willigte ein, schaute aber sorgfältig vorher hinaus, wie er es in den Zeiten seines Verstecks vor Mrs. Mac Stinger getan hatte, und bewaffnete sich mit einem großen Stock, für den Fall, daß durch eine unerwartete Wendung der Gebrauch von Waffen nötig würde.

Mit ungemeinem Stolz reichte Kapitän Cuttle Florencen seinen Arm und geleitete sie einige hundert Schritte weit, durch seine große Wachsamkeit und die zahllosen Vorsichtsmaßregeln die Blicke aller Vorübergehenden auf sich ziehend. In dem Laden angelangt, glaubte der Kapitän, das Zartgefühl fordere von ihm, sich für die Dauer des Einkaufs, der aus Kleidungsartikeln bestehen sollte, zurückzuziehen. Zuvor aber stellte er seine Zinnbüchse auf den Tisch und erklärte dem Ladenmädchen, daß sie vierzehn Pfund zwei Schillinge enthalte. Wenn übrigens dieser Betrag nicht zureiche, um den Aufwand für die kleine Ausstattung seiner Nichte zu bestreiten – bei dem Wort »Nichte« warf er Florence einen sehr bedeutsamen Blick zu und begleitete denselben mit einer Gebärde, die Schlauheit und Geheimnisfülle ausdrückte – so solle sie nur die Güte haben, Signal zur Tür hinaus zu geben, da er dann den Mehrbetrag aus seiner Tasche entrichten wolle. Gelegentlich zog er auch seine große Uhr hervor, als ein schlaues Mittel, das Ladenpersonal durch den Anschein von großem Vermögen zu blenden, küßte sodann gegen die neue Nichte seinen Haken und ging zur Tür hinaus, nach der Außenseite des Fensters, wo man von Zeit zu Zeit unter den Seidenstoffen und Bändern sein großes Gesicht in augenscheinlichem Argwohn hereingucken sah, Florence könnte durch eine Hintertür geistartig verschwinden.

»Mein lieber Kapitän«, sagte Florence, als sie mit einem Päckchen herauskam, dessen Umfang die Erwartungen des Kapitäns sehr enttäuschte, da dieser geglaubt hatte, es werde ihr ein Lastträger mit einem Warenballen folgen, »ich brauche in der Tat dieses Geld nicht und habe auch nichts davon ausgegeben. Ich bin selbst mit Geld versehen.«

»Mein kleines Fräulein«, entgegnete der betroffene Kapitän und ließ seinen Blick die Straße hinuntergleiten, »wollt Ihr so gut sein, es für mich aufzuheben, bis ich es einmal fordere?«

»Darf ich es an den gewöhnlichen Platz zurückstellen und es dort aufbewahren?« fragte Florence.

Der Kapitän war mit diesem Vorschlag nicht ganz zufrieden, antwortete aber:

»Nun ja, mein Kindchen, stellt es hin, wohin Ihr wollt, wofern Ihr nur wißt, daß Ihr es wieder finden könnt. Für mich ist es unnütz«, fügte er hinzu, »und es wundert mich nur, daß ich es nicht schon längst beim Würfeln verspielt habe.«

Der Kapitän war für den Augenblick völlig entmutigt, lebte aber bei der ersten Berührung von Florences Arm wieder auf, und sie kehrten mit derselben Vorsicht wie auf dem Herweg nach Hause zurück. Der Kapitän öffnete die Tür zum Bord des kleinen Midshipman und huschte mit einer Schnelle hinein, wie nur viele Übung es ihn gelehrt haben konnte. Während Florences Morgenschlummer hatte er die Tochter einer älteren Frau gemietet, die gewöhnlich auf dem Leaden Hall-Markt unter einem blauen Sonnenschirm Geflügel verkaufte, daß sie ins Haus komme, Florences Zimmer in Ordnung bringe und ihr andere kleine Dienste leiste. Während ihrer Abwesenheit war diese Jungfer erschienen, und Florence fand jetzt alles um sich her so bequem und ordentlich, wenn auch nicht so schön, wie in dem schrecklichen Traum, den sie früher ihre Heimat nannte.

Sobald sie wieder allein waren, bestand der Kapitän darauf, daß sie eine Röstschnitte essen und ein Glas Würzgrog, den er vortrefflich anzufertigen wußte, trinken müsse. Nachdem er ihr außerdem mit freundlichen Worten und allen nur erdenklichen ungereimten Redewendungen zugesprochen hatte, führte er sie zu ihrem Schlafgemach hinauf. Aber auch er trug etwas auf seinem Herzen, und seinem ganzen Wesen war eine gewisse Unruhe anzumerken.

»Gute Nacht, mein liebes Herz«, sagte er zu ihr, als er sich an der Tür von ihr verabschiedete.

Florence erhob ihre Lippen zu seinem Gesicht und küßte ihn.

Zu jeder andern Zeit würde der Kapitän durch einen solchen Beweis von Zuneigung und Dankbarkeit ganz und gar das Gleichgewicht verloren haben. Aber obschon er auch jetzt nicht unempfindlich dafür war, blickte er ihr sogar mit größerer Unruhe, als er früher kundgegeben, ins Gesicht und schien nicht Lust zu haben, sie zu verlassen.

»Der arme Wal’r!« sagte der Kapitän.

»Der arme, arme Walter!« seufzte Florence.

»Ertrunken, nicht wahr?« sagte der Kapitän.

Florence schüttelte den Kopf und seufzte.

»Gute Nacht, mein kleines Fräulein!« sagte Kapitän Cuttle, seine Hand ausstreckend.

»Gott behüte Euch, mein lieber, wohlwollender Freund!«

Aber der Kapitän zögerte noch immer.

»Ist etwas vorgefallen, lieber Kapitän Cuttle?« fragte Florence, die in ihrem gegenwärtigen Gemütszustand leicht in Schrecken geriet. »Habt Ihr mir etwas zu sagen?«

»Euch etwas zu sagen, Frauenzimmerchen?« versetzte der Kapitän, sie in großer Verwirrung ansehend. »Nein, nein; was sollte ich Euch auch zu sagen haben, mein Herz? Ihr erwartet doch nicht, daß ich Euch etwas Gutes mitteilen könne?«

»Nein«, versetzte Florence kopfschüttelnd.

Der Kapitän blickte gedankenvoll nach ihr hin, wiederholte das »Nein« und zögerte noch immer in großer Verlegenheit.

»Armer Wal’r«, sagte er. »Mein Wal’r, wie ich dich zu nennen pflegte! Neffe des alten Sol Gills. Allen, die dich gekannt haben, so willkommen wie die Blumen im Mai! Wo bist du hingekommen, wackerer Junge – ertrunken, nicht wahr?«

Sein Selbstgespräch mit diesem plötzlichen Grübeln und dieser Wendung an Florencen schließend, wünschte er ihr gute Nacht und stieg die Treppe hinunter, während sie oben das Licht hinaushielt, um ihm zu leuchten. Er war schon in der Dunkelheit verschwunden und, wenn man aus dem Schall seiner sich entfernenden Tritte einen Schluß ziehen durfte, eben im Begriff, nach dem kleinen Stübchen sich zu wenden, als sein Kopf und seine Schultern unerwartet wieder aus der Tiefe auftauchten, augenscheinlich in keiner anderen Absicht, als um die Worte zu wiederholen: »Ertrunken, nicht wahr, meine Liebe?« Wenigstens verschwand er sogleich wieder, nachdem er diese Frage im Tone zarten Mitleids gestellt hatte.

Florence bedauerte sehr, daß sie durch ihre Flucht hierher – ohne es zu wissen, obschon ganz natürlich – im Innern ihres Beschützers solche Erinnerungen geweckt hatte. Sie setzte sich an den kleinen Tisch, den der Kapitän mit dem Fernrohr, dem Gesangbuch und andern Raritäten ausgestattet hatte, und dachte an Walter und alle die Dinge, die in der Vergangenheit mit ihm in Verbindung standen, bis sie zuletzt fast wünschte, sie möchte sich niederlegen und sterben können. Aber ihrer einsamen Sehnsucht nach dem Toten, den sie geliebt hatte, mengte sich kein Gedanke an die Heimat oder an die Möglichkeit der Rückkehr dahin – kein Bild von ihrem Vorhandensein bei. Sie hatte den Mord vollziehen sehen. Als der Vater, an dem sie so sehr gehangen, das letztemal vor ihr gestanden, war auch jede zögernde Spur von dem so zärtlich gehegten Bilde aus ihrem Heizen gerissen, verzerrt und erschlagen worden. Der Gedanke daran wirkte so erschütternd auf sie, daß sie die Augen bedeckte und nur mit Zittern auf die Tat oder die grausame Hand, die sie verübte, zurückblicken konnte. Wenn ihr inniges Herz imstande gewesen wäre, nach einem solchen Vorgang sein Bild noch länger zu bewahren, so hätte es brechen müssen. Aber es vermochte dies nicht, und an die Stelle der Leere trat eine wilde Furcht, die vor jedem zerstreuten Bruchstück dieses Bildes sich flüchtete – eine Furcht, die sich nur aus den Tiefen einer so innigen, einer so schwer verletzten Liebe erheben konnte.

Sie wagte es nicht, in den Spiegel zu sehen; denn bei dem Anblick des dunklen Males auf ihrer Brust erschrak sie vor sich selbst, als trage sie etwas Abscheuliches an sich herum. Sie bedeckte es im Dunkeln mit hastiger, unsteter Hand und legte weinend ihr müdes Haupt nieder.

Der Kapitän ging noch lange nicht zu Bett, sondern spazierte eine volle Stunde in dem Laden und in dem Hinterstübchen umher. Nachdem er durch diese Leibesübung wieder zu einiger Fassung gekommen war, setzte er sich mit ernstem gedankenvollen Gesicht nieder und las aus dem Gebetbuch die Gebetformeln für Seeleute. Das war nicht so leicht abgetan; denn der gute Kapitän war ein sehr langsamer, ungeschickter Leser und machte oft bei einem schweren Worte halt, um sich durch ein »na, mein Junge! nur lustig vorwärts!« oder »los, Ed’ard Cuttle, los!« zu ermuntern – Zusprüche, die ihm in der Regel aus jeder Not halfen. Dazu kam noch, daß sein Sehvermögen durch die Brille sehr beeinträchtigt wurde. Aber ungeachtet dieser Hindernisse lag der Kapitän, dem es sehr ernst damit war, mit großem Gefühl den Schiffsgottesdienst bis auf die letzte Zeile und verstaute sich dann in großer Zufriedenheit über das vollbrachte Werk mit heiterer Seele und mit von Wohlwollen strahlendem Gesicht unter dem Ladentisch, nachdem er zuvor noch die Treppe hinaufgegangen war und an Florences Tür gelauscht hatte.

Er stand auch im Laufe der Nacht mehrere Male auf, um sich zu überzeugen, daß sein Pflegling ruhig schlummere, bis er bei Tagesanbruch die Entdeckung machte, daß sie wache. Sie hörte nämlich Fußtritte in der Nähe der Tür und rief ihm zu, ob er es sei.

»Ja, mein kleines Fräulein«, versetzte der Kapitän in dumpfem Flüstern. »Steht alles recht bei Euch, mein Kleinod?«

Florence dankte ihm und sagte »Ja«.

Der Kapitän konnte eine so günstige Gelegenheit nicht versäumen und legte seinen Mund an das Schlüsselloch, durch das er wie eine heitere Brise rief:

»Der arme Wal’r! ertrunken – ist es nicht so?« Dann ging er wieder hinunter, verstaute sich abermals und schlief bis gegen sieben Uhr.

Im Laufe des ganzen Tages zeigte sich an ihm immer noch das unruhige, verlegene Wesen, obgleich sich Florence, die in dem kleinen Hinterstübchen ihre Nadel in Tätigkeit setzte, in weit gefaßterer Stimmung befand, als am vorhergehenden Tage. Indessen bemerkte sie fast immer, so oft sie die Augen von ihrer Arbeit aufschlug, daß der Kapitän nach ihr hinsah und sich gedankenvoll das Kinn strich. Auch rückte er seinen Armstuhl oft an ihre Seite, als ob er ihr eine vertrauliche Mitteilung machen wolle, schob ihn aber immer wieder zurück, da er über den Anfang nicht mit sich ins reine zu kommen schien, so daß er im Lauf des Tages mit dieser gebrechlichen Barke das ganze Stübchen nach allen Richtungen durchkreuzte und mehr als einmal in sehr trostloser Lage an dem Getäfel oder der Schranktür auf den Strand lief.

Endlich um die Zeit der Dämmerung warf Kapitän Cuttle neben Florence Anker und begann in einigem Zusammenhang zu reden. Als jedoch das Licht des Feuers die Wände und Decke des kleinen Stübchens, das Teebrett mit seinen Tassen auf dem Tisch und ihr ruhiges, der Flamme zugekehrtes Gesicht erhellte, während es zugleich sich in den Tränen spiegelte, die ihre Augen füllten, unterbrach der Kapitän ein langes Schweigen folgendermaßen:

»Ihr seid wohl noch nie zur See gewesen, meine Liebe?«

»Nein«, versetzte Florence.

»Hm«, sagte der Kapitän respektvoll; »es ist ein allmächtiges Element. Es gibt Wunder in der Tiefe, mein Schätzchen. Denkt Euch, wenn die Winde brausen und die Wellen sich auftürmen, denkt Euch eine Sturmnacht, so pechfinster«, fuhr der Kapitän fort, indem er feierlich seinen Haken in die Höhe hielt, »daß man nicht einmal die vorgehaltene Hand sehen kann, wenn nicht etwa ein Blitzstrahl sie erhellt, wo es dann fort, fort und fort geht durch Sturm und Dunkel, als gehe es schnabelvoran immer weiter in die Welt ohne Ende, Amen, und wenn Ihr es gefunden habt, so biegt ein Ohr ein. Das sind Zeiten, mein schönes Kind, wo einer wohl zu seinem Kameraden sagen kann: ›Ein steifer Nordwester, Bill; horch – hörst du ihn brausen? Gott helfe ihnen – wie dauert mich jetzt all das unglückliche Volk am Lande!‹«

Diese Rede, die in eigentümlicher Weise die Schrecken des Ozeans versinnlichte, brachte der Kapitän in sehr nachdrücklicher Weise hervor, und den Schluß bildete ein kräftiges: »Halt bei!«

»Habt Ihr schon einen schweren Sturm durchgemacht?« fragte Florence.

»Ei ja, Kindchen, ich habe meinen Teil schlecht Wetter gesehen«, sagte der Kapitän, mit bebender Hand seinen Kopf trocknend, »ich bin tüchtig umhergeworfen worden; aber – aber ich wollte nicht von mir selbst sprechen. Unser lieber Junge«, – er rückte ihr näher – »Wal’r, meine Liebe, der ertrunken ist.«

Der Kapitän sprach mit so unsicherer Stimme und blickte Florence mit einem so blassen aufgeregten Gesicht an, daß sie sich erschreckt an seinen Arm schmiegte.

»Euer Gesicht ist verändert«, sagte Florence. »Ihr seht mit einem Male so ganz anders aus. Was gibt es? Lieber Kapitän Cuttle, es überläuft mich eiskalt, wenn ich Euch so sehe.«

»Ach, Kindchen«, entgegnete der Kapitän, sie mit seiner Hand unterstützend, »Ihr müßt Euch nicht so an den Mast zurückwerfen lassen. Nein, nein, es steht alles recht, alles recht, meine Liebe. Was ich sagen wollte – Wal’r – er ist – er ist ertrunken. Ist es nicht so?«

Florence verwandte keinen Blick von ihm und legte, bald errötend, bald erblassend, ihre Hand auf die Brust.

»Es gibt Mühseligkeiten und Gefahren auf der Tiefe, meine Schönheit«, sagte der Kapitän, »und über manchem wackeren Schiff, über manchem und manchem kühnen Herzen hat sich das verschwiegene Wasser geschlossen, ohne etwas von seiner Geschichte zu erzählen. Aber man entkommt auch aus der Tiefe, und bisweilen wird ein einziger Mann von einem halb Hundert – ja, von einem Hundert vielleicht, mein Herzchen – durch die Gnade Gottes gerettet, so daß er wieder nach Hause kommt, nachdem man ihn für tot gehalten und alles ihn für verloren gegeben hat. Ich – ich kenne eine derartige Geschichte, Herzensfreude«, stotterte der Kapitän, »die mir einmal erzählt wurde, und da wir jetzt auf diesem Gang sind und wir beide, Ihr und ich, allein beim Feuer sitzen, so ist es Euch vielleicht nicht unangenehm, wenn ich sie Euch erzähle. Ist es Euch recht, meine Liebe?«

Zitternd vor Aufregung, die sie nicht beherrschen oder sich erklären konnte, folgte Florence unwillkürlich seinem Blick nach einer Stelle hinter ihr im Laden, wo eine Lampe brannte. Aber ebenso schnell, als sie den Kopf umwandte, sprang der Kapitän von seinem Stuhl auf und hielt sie mit der Hand zurück.

»Es ist nichts da, mein schönes Kind«, sagte er. »Ihr müßt nicht dorthin sehen.«

»Warum nicht?« fragte Florence.

Der Kapitän murmelte vor sich hin, es sei dort so finster, um das Feuer herum aber so behaglich. Dann lehnte er die Tür, die bis jetzt offen gestanden hatte, an und nahm seinen Sitz wieder ein. Florence folgte ihm mit den Augen und verwandte keinen Blick von seinem Gesicht.

»Die Geschichte betrifft ein Schiff, mein Herzenskind«, begann der Kapitän, »das mit günstigem Wind und Wetter aus dem Hafen von London aussegelte und nach – erschreckt nicht, mein Kindchen – es war nur nach auswärts bestimmt, mein Herz, nur nach auswärts.«

Der Ausdruck in Florences Gesicht beunruhigte den Kapitän, der selbst sehr erhitzt war und kaum weniger Aufregung zeigte als sie.

»Soll ich fortfahren, mein schönes Kind?« sagte der Kapitän.

»Ja, ja, bitte!« rief Florence.

Der Kapitän schluckte, als müsse etwas hinunter, was ihm in der Kehle stecken geblieben war, und fuhr mit unsicherer Stimme fort:

»Jenes unglückliche Schiff wurde in der See draußen von so schlechtem Wetter betroffen, wie man es in zwanzig Jahren kaum einmal trifft, meine Liebe. Es gibt Orkane am Land, die ganze Wälder und Städte niederreißen, und es gibt in jenen Breiten zur See Stürme, die das stärkste Schiff, das je vom Stapel gelassen wurde, nicht aushalten kann. Wie mir erzählt wurde, benahm sich jenes unglückliche Schiff Tag um Tag wacker und hat seine Schuldigkeit getan, meine Liebe. Aber mit einem einzigen Stoß waren fast alle seine Bollwerke eingestoßen, Masten und Steuer weggerissen und die besten Matrosen über Bord gefegt, so daß der Rumpf ganz der Gnade eines Sturmes preisgegeben war, der nicht gnädig verfuhr, sondern immer schwerer und schwerer blies, während die Wellen über ihn hinschlugen und ihn jedesmal mit ihrem donnernden Anprall wie eine Eierschale zerknickten. Jeder schwarze Punkt auf den Wasserbergen, die weiterrollten, war ein Stückchen von dem Leben des Schiffs oder ein lebender Mensch, und so ging es in Trümmer, mein liebes Mädchen, ohne daß je Gras wachsen wird über den Gräbern derer, die das Fahrzeug bemannt hatten.«

»Sie gingen nicht alle zugrunde!« rief Florence. »Einige wurden gerettet! – war es vielleicht nur ein Einziger?«

»An Bord jenes unglücklichen Schiffes«, sagte der Kapitän, indem er von seinem Stuhl aufstand und mit außerordentlichem Nachdruck jubelnd seine Hand ballte, »befand sich ein Junge, ein wackerer Junge – wie ich mir erzählen ließ – der als Knabe gerne von wackeren Handlungen bei Schiffbrüchen las und sprach – ich habe ihn gehört! ich habe ihn gehört! – und er erinnerte sich derselben in der Stunde seiner Not; denn während die mutigsten Herzen und die erfahrensten Matrosen niedergeholt wurden, blieb er fest und wohlgemut. Es war nicht der Mangel an Gegenständen der Liebe und Zuneigung auf dem Lande, was ihm solchen Mut gab, sondern es war sein natürlicher Sinn. Ich habe das in seinem Gesicht gelesen, als er noch ein bloßes Kind war – ja, oft und vielmal – obschon ich damals dachte, es sei nichts, als sein gutes Aussehen, Gott segne ihn!«

»Und er wurde gerettet!« rief Florence. »Wurde er gerettet?«

»Jener brave Junge«, sagte der Kapitän – »schaut mich an, mein Herzchen! Ihr müßt Euch nicht umsehen.«

Florence vermochte kaum zu wiederholen: »Warum nicht?«

»Weil nichts da ist, meine Liebe«, antwortete der Kapitän. »Laßt Euch nicht an den Mast zurückwerfen, mein hübsches Kind! Tut es nicht um Wal’rs willen, der uns allen lieb war! Jener Junge«, fuhr er fort, »nachdem er mit den Besten um die Wette gearbeitet und den Mutlosesten beigestanden hatte, ohne sich je zu beklagen oder ein Zeichen von Furcht blicken zu lassen, so daß er allen Matrosen einen Mut einflößte, der ihm Ehre machte, als wäre er ein Admiral gewesen – jener Junge blieb mit dem zweiten Maat und einem einzigen Matrosen von all den klopfenden Herzen, die an Bord jenes Schiffes gingen, allein am Leben – sie hatten sich an ein Stück des Wracks festgebunden und schweiften weiter auf dem stürmischen Meere.«

»Wurden sie gerettet?« rief Florence.

»Tage und Nächte schweiften sie fort auf dem endlosen Wasser«, sagte der Kapitän, »bis endlich – nein. Ihr müßt nicht dorthin sehen, mein Herzchen – ein Segel auf sie zukam, und sie wurden mit Gottes Erbarmen an Bord genommen, zwei noch am Leben und einer tot.«

»Welcher von ihnen war tot?« rief Florence.

»Nicht der Junge, von dem ich spreche«, sagte der Kapitän.

»Gott sei Dank! o, Gott sei Dank!«

»Amen!« fiel der Kapitän ein. »Laßt Euch nicht an den Mast zurückwerfen! Nur noch eine Minute standhalten, mein kleines Fräulein. An Bord jenes Schiffes nun machten sie eine lange Reise geradenwegs über die Karte hin; denn sie hielten nirgends an, und während dieser Fahrt starb der Matrose, der mit ihm aufgelesen wurde. Aber er blieb verschont und –«

Ohne zu wissen, was er tat, hatte der Kapitän eine Scheibe Brot von dem Laib abgeschnitten, sie an seinen Haken, der seine gewöhnliche Röstgabel war, gesteckt und über das Feuer gehalten; er sah dabei mit großer Aufregung in seinem Gesicht nach einer Stelle hinter Florence hin und ließ das Brot zu Kohle zusammenbrennen. »Blieb verschont«, wiederholte Florence, »und – –?«

»Und machte in jenem Schiff die Heimreise«, sagte der Kapitän, noch immer in dieselbe Richtung schauend, »und – erschreckt nur nicht, mein Schätzchen – wurde ans Land gebracht. Da kam er nun eines Morgens vorsichtig nach seiner eigenen Türe, um eine Beobachtung anzustellen, weil er wußte, daß seine Freunde ihn für ertrunken hielten, fuhr aber wieder ab bei dem unerwarteten – –«

»Bei dem unerwarteten Bellen eines Hundes?« rief Florence rasch.

»Ja«, rief der Kapitän. »Ausgehalten, mein Schatz! Mut! Ihr müßt noch nicht umschauen. Seht, dort – an der Wand!«

An der Wand in ihrer Nähe war der Schatten eines Mannes sichtbar. Sie sprang auf, schaute um und stieß einen jähen Schrei aus, als sie Walter Gay hinter sich erblickte.

Sie sah in ihm nichts anderes als einen Bruder, einen Bruder, der aus dem Grab erstanden war, einen schiffbrüchigen Bruder, der sich gerettet hatte und jetzt an ihrer Seite stand. Im Augenblick lag sie in seinen Armen; denn er schien ihr jetzt ihr Trost, ihre Hoffnung, ihre Zuflucht und ihr natürlicher Beschützer zu sein. »Vergeßt Walter nicht; Walter ist mir lieb gewesen!« Das teure Andenken an die ersterbende Stimme, die so gesprochen, erfüllte ihre Seele wie nächtliche Musik. »O, willkommen in der Heimat, liebster Walter! Willkommen diesem schwer geprüften Herzen!« Sie fühlte die Worte, obschon sie diese nicht aussprechen konnte, und hielt ihn in reiner Umarmung umfangen.

In einem Anfall von Irrsinn versuchte der Kapitän Cuttle sich den Kopf mit der zu Kohle verbrannten Brotscheibe an seinem Haken zu wischen, und da er diese Substanz unpassend fand, so warf er sie in die Krone seines Glanzhutes, den er mit einiger Schwierigkeit auf seinem Kopf zurechtbrachte. Dann fing er einen Vers von der lieblichen Peg an, brach aber schon mit dem ersten Wort wieder ab und zog sich nach dem Laden zurück, von wo aus er schnell mit glutrotem, beschmiertem Gesicht und ganz schlaffem Hemdkragen wieder zurückkam, um die Worte zu sprechen:

»Wal’r, mein Junge, hier ist ein bißchen Eigentum, das ich euch beiden gemeinschaftlich ausfolgen möchte!«

Der Kapitän langte hastig die große Uhr, die Teelöffel, die Zuckerzange und die Zinnbüchse hervor, legte sie auf den Tisch und fegte sie mit seiner großen Hand in Walters Hut. Als er jedoch diesen wunderlichen Sparhafen Walter vermachte, fühlte er sich abermals so angegriffen, daß er aufs neue in den Laden flüchten mußte, um dieses Mal länger auszubleiben, als bei seinem ersten Rückzuge.

Walter ging ihm jedoch nach, um ihn zu holen, und nun drückte der Kapitän seine große Besorgnis aus, die Erschütterung könnte Florence nachteilig werden. Er fühlte dies so angelegentlich, daß er wieder ganz vernünftig wurde und Waltern für die nächsten paar Tage jede weitere Berührung seiner Abenteuer aufs entschiedenste untersagte. Er hatte jetzt hinreichend Fassung gewonnen, um sich der verkohlten Brotscheibe in seinem Hut zu entledigen und seinen Platz am Teetisch einzunehmen. Als er aber zu seiner Rechten auf der Schulter Walters Hand fühlte und zur Linken Florence ihre tränenvollen Glückwünsche flüstern hörte, stürzte er plötzlich wieder hinaus und ließ gute zehn Minuten nichts von sich sehen.

In seinem ganzen Leben nie hatte das Gesicht des Kapitäns so geglänzt und gestrahlt, wie um die Zeit, als er endlich am Teetisch festsaß und bald Walter, bald Florence ansah. Auch wurde diese Wirkung weder hervorgebracht noch erhöht durch das Reiben mit dem Rockärmel, das während der letzten halben Stunde fast unablässig stattfand. Der Glanz war ausschließlich der Abdruck seiner inneren Erregtheit. In dem Kapitän selbst herrschte eine Wonne und Herrlichkeit, die sich über sein ganzes Gesicht verbreitete und es wahrhaft illuminierte.

Einen Beitrag dazu lieferte wohl der Stolz, mit dem der Kapitän die gebräunten Wangen und das mutige Auge seines wiedergewonnenen Knaben betrachtete – der Stolz, mit dem er die edle Glut des Jünglings in aller ihrer Offenheit und Hoffnungsfülle wieder in dem frischen, festen Wesen und in dem glühenden Gesicht leuchten sah. Einen gleichen Eindruck übte die Bewunderung und Teilnahme, mit der er seine Blicke auf Florence wandte, deren Schönheit, Anmut und Unschuld keinen treueren und eifrigeren Kämpen hätte gewinnen können, als ihn selbst. Aber die Hauptglorie, die sich um ihn ergoß, konnte bloß durch die Betrachtung der beiden zugleich und durch die schönen Bilder hervorgerufen werden, die in Verbindung mit diesem Anblick in seinem Kopf funkelnd und strahlend umhertanzten.

Wie sie von dem armen Onkel Sol sprachen und bei jedem kleinen Umstand verweilten, der sich auf sein Verschwinden bezog; wie ihre Freude gedämpft wurde durch die Abwesenheit des alten Mannes und durch Florences Unglück; wie sie Diogenes in Freiheit setzten, den der Kapitän vor einiger Zeit die Treppe hinaufgelockt hatte, damit er nicht wieder belle; alles das begriff der Kapitän vollkommen, obschon er sich in einer dauernden Aufregung befand und noch oft wieder für ein Weilchen in den Laden hinausstürzte. Wenn aber Walters Augen so oft das liebende Gesicht suchten und selten dem offenen Blick schwesterlicher Liebe begegneten, ohne sich zur Erde zu senken, ließ er es sich ebensowenig träumen, daß sein Junge Florence so ferne stehen könne, wie er glaubte, daß die ihm zur Seite sitzende Gestalt Walters Geist sei. Er sah sie da, beisammen in ihrer Jugend und Schönheit, kannte die Geschichte ihrer jüngeren Tage und hatte unter seiner großen blauen Weste keinen Zoll Raum für etwas anderes, als für die Bewunderung gegen ein solches Paar und für den Dank, den er dem Allmächtigen spendete, der sie wieder vereinigt hatte.

Sie blieben beieinander sitzen, bis es spät geworden war. Der Kapitän hätte eine Woche so bleiben können. Aber Walter erhob sich, um für die Nacht Abschied zu nehmen.

»Ihr geht, Walter!« sagte Florence. »Wohin?«

»Er hat seine Hängematte vorderhand bei Brogley drüben aufgeschlungen, kleines Fräulein«, sagte Kapitän Cuttle. »Es ist in Rufweite, Herzensfreude.«

»Ich bin die Ursache, daß Ihr wieder fort müßt, Walter«, sagte Florence. »Eure Stelle hat eine heimatlose Schwester eingenommen.«

»Liebste Miß Dombey«, versetzte Walter stockend – »wenn es nicht zu dreist ist, Euch so zu nennen –«

»Walter!« lief sie erstaunt.

»Wenn mich irgend etwas glücklicher machen könnte, als die Erlaubnis, Euch zu sehen und zu sprechen, würde das nicht die Entdeckung sein, daß ich auch nur einigermaßen Euch nützlich geworden bin? Wohin wollte ich nicht gehen, was würde ich nicht tun um Euretwillen?«

Sie lächelte und nannte ihn Bruder.

»Ihr seid so verändert«, sagte Walter –

»Ich verändert?« unterbrach sie ihn.

»Gegen mich«, sagte Walter, als ob er nur laut vor sich hindenke. »Verändert gegen mich. Ich verließ Euch als ein Kind und finde Euch – o, so ganz anders –«

»Doch als Eure Schwester, Walter. Ihr habt nicht vergessen, was wir beim Abschied einander versprachen?«

»Vergessen!«

Nur dieses, nicht weiter.

»Und wenn Leiden und Gefahr es aus Euren Gedanken verdrängt haben sollten – ich glaube es übrigens nicht –, so würdet Ihr Euch dessen jetzt entsinnen, Walter, da Ihr mich arm und verlassen findet, mit keiner andern Heimat, als dieser hier, und keinen Freunden, als den beiden, die mich sprechen hören.«

»Jawohl! der Himmel weiß es!« sagte Walter.

»O Walter!« rief Florence unter Schluchzen und Tränen. »Teurer Bruder! zeigt mir einen Weg durch die Welt – einen bescheidenen Pfad, den ich allein gehen kann und auf dem mich meine Arbeit weiterbringt. Ich will dann an Euch denken als an den, der mich als Schwester schützen und für mich sorgen wird! O, steht mir bei, Walter, denn ich bin der Hilfe so sehr bedürftig!«

»Miß Dombey! Florence! Ich würde für Euch in den Tod gehen, wenn ich Euch damit dienen könnte. Aber Eure Verwandten sind stolz und reich – Euer Vater – –«

»Nein, nein, Walter!« rief sie laut hinaus und hielt in einer Haltung des Entsetzens, die ihn sofort innehalten ließ, ihre Hände an den Kopf. »Sprecht dieses Wort nicht.«

Er vergaß von Stunde an nie die Stimme und den Blick, womit sie ihm bei Nennung dieses Namens Einhalt getan hatte. Es war ihm, als könne er das nie vergessen, und wenn er Jahrhunderte lebte. Irgendwo – überall – nur nicht in der Heimat! Alles dahin, alles vergangen, verloren und zertrümmert. Die ganze Geschichte ihres stillen, verachteten Lebens lag in dem Ruf und in dem Blick; er fühlte, daß er sie nie vergessen konnte, und bewahrte beides in seinem Gedächtnis.

Sie legte ihr holdes Gesicht auf die Schulter des Kapitäns und erzählte, wie und warum sie geflohen war. Wenn jede schmerzliche Träne, die sie dabei vergoß, als Fluch auf das Haupt dessen gefallen wäre, den sie nie nannte oder tadelte, so würde das noch immerhin besser für ihn gewesen sein, dachte Walter erschüttert, als von einer solchen Kraft und Macht der Liebe aufgegeben zu werden.

»So, mein Kleinod!« sagte der Kapitän, als sie zum Schlusse gekommen war; er hatte ihren Worten die tiefste Aufmerksamkeit geschenkt und, den Glanzhut ganz schräg auf dem Kopf, mit weit aufgesperrtem Mund zugehört. »Gott behüte meine Augen! Wal’r, lieber Junge, segle jetzt für heut nacht ab und überlaß den Diamanten mir!«

Walter ergriff ihre Hand mit den seinen, drückte sie an die Lippen und küßte sie. Er wußte nun, daß sie ein heimatloser, unsteter Flüchtling war; in diesem Zustande aber ihm gegenüber reicher, als in dem ganzen Reichtum und Stolz der ihr gebührenden Stellung, so daß es ihm vorkam, sie stehe sogar auf einer viel höheren Stufe, als es die gewesen, nach der er in seinen knabenhaften Träumen schwindelnd hinaufgeblickt hatte.

Kapitän Cuttle, der sich nicht mit solchen Betrachtungen belästigte, geleitete Florence nach ihrem Gemach und hielt in Zwischenräumen auf dem gefeiten Grund vor ihrer Türe – denn das war er für ihn in Wirklichkeit – Wache, bis er sich im Geist hinreichend beruhigt fühlte, um sich unter dem Ladentisch verstauen zu können. Ehe er in dieser Absicht seinen Posten verließ, konnte er es sich in seinem Freudentaumel nicht versagen, noch einmal durch das Schlüsselloch zu rufen: »Ertrunken. Ist es nicht so, mein Schätzchen?« – und als er unten anlangte, machte er einen abermaligen Versuch mit jenem Vers von der lieblichen Peg. Aber es saß ihm etwas in der Kehle, und er konnte damit nicht fertig werden. Deshalb ging er zu Bett und träumte von dem alten Sol Gills, der mit Mrs. Mac Stinger verheiratet war und von dieser Dame bei schmaler Kost in einem verborgenen Stübchen gefangen gehalten wurde.