Dreiunddreißigstes Kapitel.

Gegensätze

Wenden wir unsere Blicke auf zwei Wohnungen. Sie liegen nicht Seite an Seite, sondern weit voneinander, obschon beide dem Bann der großen Stadt London angehören.

Die erste müssen wir auf dem grünen, waldigen Strich in der Nähe von Nordwood aufsuchen. Sie ist kein Landhaus und sehr anspruchslos, was ihren Umfang angeht, aber hübsch eingerichtet und in guter Ordnung erhalten. Der Hof, der weiche glatte Rasen, der Blumengarten, die Baumgruppen, unter denen die zierlichen Eschen und Weiden nicht fehlen, die Diele, die ländliche Veranda mit süßduftenden Schlingpflanzen, die sich um die Strebepfeiler winden, die einfache Außenseite, die wohlgeordneten Arbeitsräume, obschon ihr Umfang nur dem eines bloßen Bauernhauses entspricht – alles dies deutet auf eine behagliche Eleganz im Innern, die einem Palast nicht übel anstehen würde. Auch zeigt wirklich die innere Einrichtung seinen Geschmack und Luxus. Reiche Farben in schöner Verbindung treten in jedem Gemach dem Auge entgegen. In dem Möbelwerk, das durch Form sowohl wie Größe bewundernswürdig den kleinen Gemächern angepaßt ist, zeigt sich derselbe Geschmack. An den Wänden und auf den Fußböden wird das Licht, das da und dort durch die hübschen Glastüren und Fenster einfällt, in eigentümlicher Weise gedämpft und gebrochen. Auch einige auserlesene Kupferstiche und Gemälde sind vorhanden. In den Nischen stehen gefüllte Bücherschränke, und auf den Tischen sieht man die Gerätschaften zu allerlei Hazard- und Geschicklichkeitsspielen, zum Beispiel phantastische Schachfiguren, Würfel, Brettspiele, Karten und Billardkugeln.

Dennoch drückt sich in dem Allgemeincharakter dieser gemächlichen Wohlhabenheit ein Zug aus, der etwas erkältend wirkt. Liegt er in der Weichheit der Teppiche und Polster, so daß die, die sich darauf bewegen, nur verstohlen zu handeln scheinen? Rührt es daher, daß die Gemälde und Kupferstiche nicht Kunde geben von großen Gedanken und Taten oder von der Poesie der Natur in schönen Landschaftsbildern, sondern daß sie insgesamt einer wollüstigen Phantasie entstammen, die weiter nichts bietet als Farben und Formen? Hat er seinen Grund in den Bücherreihen, die all ihr Gold nur auf der Außenseite tragen und deren Titel großenteils darauf hindeuten, daß sie passende Gefährten der Gemälde und Kupferstiche sind? Liegt er darin, daß die Pracht des Ganzen mitunter in unwesentlichen bedeutungslosen Dingen durch eine erkünstelte Bescheidenheit ebenso falsch ist, wie das Gesicht des an der Wand hängenden, nur allzu treu aufgefaßten Porträts oder wie das des Originals, das darunter in seinem Lehnstuhl beim Frühstück sitzt – der Lüge geziehen wird? Oder rührt er davon her, daß mit dem täglichen Atem des besagten Originals und Gebieters im Hause ein feiner Teil seines Ichs ausströmt, der der gesamten Umgebung einen unbestimmten Ausdruck der Verwandtschaft mit diesem Ich verleiht?

Der in dem Lehnstuhl Sitzende ist Mr. Carker, der Geschäftsführer. Ein bunter Papagei in einem auf dem Tisch stehenden, blanken Käfig hackt mit seinem Schnabel in die Drähte, spaziert nach der Kuppel hinauf, rüttelt sein Haus und kreischt. Aber Mr. Carker ist gleichgültig gegen den Vogel und blickt mit gedankenvollem Lächeln nach einem Bild an der gegenüberstehenden Wand.

»In der Tat eine höchst merkwürdige Zufallsähnlichkeit«, sagte er.

Vielleicht ists eine Juno, vielleicht Potiphars Weib, vielleicht auch eine stolze Nymphe – je nachdem der Gemäldehändler den Markt fand, auf dem er es kaufte. Das Bild stellt ein ungemein schönes Weib vor, das sich abwendet, aber doch dem Betrachter das Gesicht zukehrt und das stolze Auge nach ihm hinblitzen läßt.

Es gleicht Edith.

Mit einer flüchtigen Gebärde seiner Hand nach dem Gemälde – wie, ist sie eine Drohung? nein; aber doch etwas dergleichen – ein Zeichen des Triumphs? nein; aber etwas Ähnliche« – ein dreist ihr zugeworfenes Kußhändchen? nein; aber doch dem nahekommend – nimmt er sein Frühstück wieder auf und ruft dem ungeduldigen Vogel zu. Dieser kommt nach dem vergoldeten Reif herunter, der wie ein großer Trauring in dem Käfig hängt, und unterhält seinen Gebieter damit, daß er darin Purzelbäume macht.

Die zweite Wohnung liegt auf der andern Seite von London, unfern der vormaligen großen Nordstraße, die jetzt so still und verlassen geworden ist, daß man auf ihr nur noch zu Fuß gehende Wanderer weiterziehen sieht. Es ist ein armes, kleines Häuschen mit spärlichem Möbelwerk, aber sehr reinlich gehalten und sogar mit Schmuckversuchen, wie sich in den einheimischen Blumen, die um die Türe her und in dem kleinen Garten blühen, zu erkennen gibt. Die Umgebung kann sich ebensowenig eines ländlichen wie eines städtischen Aussehens rühmen, da sie weder dem Lande noch der Stadt angehört. Erstere ist wie der Riese mit den Siebenmeilenstiefeln darüber hinausgeschritten und hat ihre Ziegel- und Mörtelferse weit vorgeschoben. Aber der Raum zwischen den Füßen des Recken zeigt sich bis jetzt nur als ein verkümmerter Strich, ohne Stadt zu sein. Hier nun, unter einigen hohen Schornsteinen, die Tag und Nacht ihren Qualm ausfauchen, unter den Ziegelfeldern und Torfstichen, wo die Zäune zusammenbrechen, staubige Nesseln wachsen, ein paar Überreste einer Hecke noch zu sehen sind und nur hin und wieder der Vogelfänger sich blicken läßt, obschon er es jedesmal verschwört, nie wieder nach diesem Platz zu kommen – hier müssen wir die zweite Wohnung aufsuchen.

Die Bewohnerin ist die, die den einen Bruder verließ, um sich dem verstoßenen zu widmen. Mit ihr zog aus jenem Hause der versöhnende Geist und aus der Brust seines Gebieters der einzige Engel. Aber obgleich nach diesem undankbaren Benehmen, wie er es nennt, seine Liebe gegen sie erloschen ist, obschon zur Erwiderung auch er sie vollkommen aufgegeben hat, kann er sich doch des Gedankens an sie nicht völlig entschlagen. Ihr kleiner Blumengarten ist ein sprechendes Zeugnis dafür; denn neben allen den kostspieligen Veränderungen wird er noch ebenso erhalten, als wäre sie erst gestern abgezogen – trotzdem er nie seinen Fuß hineinsetzt.

Harriet Carker hat sich seit damals verändert, und über ihrer Schönheit liegt ein Schatten, schwerer als ihn die sonst doch so allmächtige Zeit ohne Beihilfe zu werfen vermag – der Schatten des Kummers und der Sorge in dem täglichen Kampf um ein dürftiges Dasein. Gleichwohl ist sie noch immer schön – eine sanfte, ruhige, zurückgezogene Schönheit, die man suchen muß, weil sie sich nicht vordrängen kann. Wäre sie hierzu fähig, so würde sie nicht mehr das sein, was sie ist.

Ja, die schmächtige, kleine, geduldige, hübsch in einfache Stoffe gekleidete Gestalt, an der sich nichts bekundet als die Langweiligkeit häuslicher Tugenden, die so wenig gemein haben mit der beliebten Idee von Heldengröße, wenn nicht etwa ein Strahl davon durch das Leben der Großen auf Erden leuchtet und dann zu einer Konstellation wird, die geradeswegs zum Himmel fährt – jene schmächtige, kleine, geduldige Gestalt, angeschmiegt an den Mann, dessen Haare ergraut sind in seiner Jugend, ist die Schwester, die allein in der ganzen Welt zu ihm überging in seiner Schmach, ihre Hand in die seine legte und mit edler Fassung und Entschlossenheit hoffnungsvoll ihn weiterführte auf seinem einsamen Pfade.

»Es ist noch früh, John«, sagte sie. »Warum gehst du heute so zeitig?«

»Nicht viele Minuten früher als gewöhnlich, Harriet. Wenn mir noch Zeit dazu bleibt, so möchte ich, glaub‘ ich, wohl – es ist nur eine Grille – einmal an dem Hause vorbeigehen, wo ich von ihm Abschied nahm.«

»Ich wünschte, ich hätte ihn gesehen oder gekannt, John.«

»Wenn wir an sein Schicksal denken, ist es besser so, wie es ist, Liebe.«

»Dennoch könnte ich ihn nicht mehr bedauern, auch wenn ich ihn gekannt hätte. Ist nicht dein Kummer auch der meine? Und hätte ich ihn gekannt, so würdest du mich vielleicht für geeigneter halten, mit dir von ihm zu sprechen, als das jetzt der Fall ist.«

»Meine teure Schwester, gibt es wohl ein Leid oder eine Freude, worin ich nicht deiner warmen Teilnahme sicher sein kann?«

»Ich hoffe, du bist hiervon überzeugt, John.«

»Wie könntest du mir also dann eine bessere Gefährtin oder mir näher sein, als jetzt oder überhaupt?« entgegnete der Bruder. »Es ist mir, Harriet, als hättest du ihn gekannt und als teiltest du meine Gefühle für ihn.«

Sie schlang den Arm, den sie auf seiner Schulter liegen hatte, um seinen Hals und antwortete mit einigem Zögern:

»Nein, nicht ganz.«

»Ich verstehe«, versetzte er. »Du meinst, es würde ihm keinen Schaden gebracht haben, wenn ich zugelassen hätte, daß er mich näher kennenlernte?«

»Ob ich dies meine? Ich weiß es gewiß!«

»Der Himmel ist mein Zeuge, mit Absicht wäre es nicht geschehen«, erwiderte er mit einem wehmütigen Kopfschütteln: »aber sein Ruf war mir zu kostbar, als daß ich ihn durch einen Verkehr mit mir hätte gefährden dürfen. Ob du nun dieses Bewußtsein teilst oder nicht, meine Liebe –«

»Ich teile es nicht«, versetzte sie mit Ruhe.

»Es bleibt trotzdem eine Wahrheit, Harriet, und ich fühle mich beruhigter, wenn ich mit der Erinnerung an ihn zugleich an das denke, was mir damals das Herz so, schwer machte,« Er bekämpfte jetzt seine wehmütige Stimmung, lächelte ihr zu und sagte: »Gott sei mit dir!«

»Und mit dir, lieber John! Heute abend werde ich um die gewöhnliche Zeit bis an den alten Platz dir entgegenkommen. Gott behüte dich!«

Das herzliche Gesicht, das sie zu ihm erhob, um ihn zu küssen, war seine Heimat, sein Leben, seine Welt, und doch zugleich ein Teil seiner Strafe und seines Kummers. Denn in der Wolke, die er darauf liegen sah – zwar eine heitere, ruhige, lichte Wolke, wie nur irgendeine um Sonnenuntergang – in der treuen Hingebung ihres Lebens und in der Tatsache, daß sie ihm alle Freuden und Hoffnungen zum Opfer gebracht hatte, mußte er stets die bitteren Früchte seines einstigen Vergehens erkennen, die ihm im Geist mit immer gleicher Beständigkeit und Reife vorschwebten.

Sie blieb mit leicht ineinandergeschlungenen Händen unter der Tür stehen und schaute ihm nach, als er über den feuchten, unebenen Grund hinging. Der Platz, auf dem das Häuschen stand, war vor noch nicht langer Zeit eine Wiese gewesen, jetzt aber ein öder Boden, auf dem eine ordnungslose Ernte von schlechten Häusern aus dem Schutt aufzusteigen schien, als seien die Samen dazu von einer ungeschickten Hand hingestreut worden. So oft John zurückschaute – er tat dies einige Male –, leuchtete ihr herzliches Gesicht gleich einem freundlichen Stern in sein Herz: aber wenn er auf seinem Wege weiterwandelte, ohne sie zu sehen, füllten sich seine Augen mit Tränen, während sie ihm nachschaute.

Sie hielt sich nicht lange unter der Tür auf. Es gab tägliche Obliegenheit zu erfüllen und tägliche Arbeiten zu verrichten. So gewöhnliche, nicht heroische Seelen müssen sich oft schwer abmühen, und darum war auch Harriet bald in ihre Haushaltungsgeschäfte vertieft. Nachdem sie diese zu Ende und das arme Häuschen in nette Ordnung gebracht hatte, überzählte sie mit ängstlichem Gesicht ihren geringen Geldvorrat und ging aus, um einige Einkäufe für die Küche zu besorgen, wobei sie unterwegs sich fortwährend überlegte, wie sie wohl am besten sparen könne. So trist ist das Leben derartiger alltäglicher Naturen, die nicht nur nicht heroisch sind gegen ihre Bedienten und Kammermädchen, sondern nicht einmal Bedienten und Kammermädchen haben, gegen die sie überhaupt heroisch sein könnten.

Während ihrer Abwesenheit näherte sich auf einem andern Weg, als es der war, den ihr Bruder eingeschlagen hatte, dem leer dastehenden Hause ein Gentleman von gesunder, blühender Gesichtsfarbe, aufrechter Haltung und offener, heiterer, gutmütiger Miene, obschon er ein wenig über die Blütezeit des Lebens hinaus zu sein schien. Seine Augenbrauen und Haare waren noch schwarz; aber darein mengten sich bereits da und dort graue Sprenkeln, so daß die ersteren um so anmutiger dagegen abstachen und der breiten, freien Stirn, wie auch den biederen Augen einen sehr vorteilhaften Ausdruck verliehen.

Nachdem er an die Tür geklopft hatte, ohne Antwort zu erhalten, setzte er sich in der Laube vor der Pforte auf eine Bank, um zu warten. Eine gewisse geschickte Bewegung der Finger, während er einige Arien vor sich hinsummte und auf dem Sitz an seiner Seite den Takt schlug, schien auf einen Musiker, und zwar auf einen wissenschaftlichen Musiker zu deuten. Aus der Zufriedenheit, mit der er einige Läufe der nicht recht erkennbaren Melodie sehr langsam und gedehnt behandelte, durfte man solches schließen.

Der Gentleman gab sich noch immer mit seinem Thema ab, das sich um und um zu drehen und gleich einem auf dem Tisch in kreisende Bewegung gesetzten Korkzieher zu verwickeln schien, als ob es gar nicht zu Ende gelangen wolle, bis Harriet sich wieder dem Häuschen näherte. Er erhob sich von seinem Sitz und blieb vor ihr, den Hut in der Hand, stehen.

»Ihr seid wieder hier, Sir?« begann sie zögernd.

»Ich habe mir die Freiheit genommen«, lautete seine Antwort. »Darf ich Euch fünf Minuten lästig fallen?«

Nach kurzem Zögern öffnete sie die Tür und hieß ihn in das kleine Wohnstübchen eintreten. Der Gentleman nahm Platz, rückte seinen Stuhl ihr gegenüber an den Tisch und sprach mit gewinnender Einfachheit und einer Stimme, die ganz im Einklang stand mit seinem Aussehen:

»Miß Harriet, Ihr könnt nicht stolz sein. Zwar gabt Ihr mir bei meinem letzten Besuch zu verstehen, daß Ihr es seiet. Aber verzeiht mir, wenn ich sage, daß ich Euch bei jener Gelegenheit ins Gesicht sah, und dieses hat Euren Worten widersprochen. Ich betrachte es wieder«, fügte er bei, indem er seine Hand für einen Augenblick sanft auf ihren Arm legte, »und es widerspricht Eurer Versicherung mehr und mehr.«

Sie war etwas verwirrt und aufgeregt, so daß sie nicht gleich eine Antwort finden konnte.

»Es ist ein Spiegel der Wahrheit und der Sanftmut«, fuhr der Besuch fort. »Entschuldigt mich, daß ich im Vertrauen darauf wiederkehrte.«

Die Art, wie er dieses sagte, nahm seinen Worten ganz den falschen Schimmer einer bloßen Schmeichelei. Die Worte klangen so einfach, ernst, ungekünstelt und ehrlich, daß sie den Kopf senkte, als wolle sie ihm zumal danken und seine Aufrichtigkeit anerkennen.

»Unsere Altersungleichheit«, sagte der Gentleman, »und die Ehrlichkeit meiner Absicht sollten mir, wie ich gern denken möchte, erlauben, vom Herzen weg zu sprechen. Dies ist meine Meinung, und Ihr seht mich deshalb zum zweitenmal.«

»Es gibt eine Art Stolz, Sir«, versetzte sie nach einem kurzen Schweigen, »oder einen vermeintlichen Stolz, der nur Pflicht ist. Ich hoffe, daß ich keinen andern habe.«

»Wegen Eurer selbst?« versetzte er.

»Ja.«

»Oder – verzeiht mir«, entgegnete der Gentleman – »wegen Eures Bruders John?«

»Ich bin stolz auf seine Liebe«, sagte Harriet, ihm voll ins Gesicht sehend und plötzlich ihr ganzes Wesen ändernd – nicht als ob sie weniger gefaßt und ruhig gewesen wäre, aber sie zeigte jetzt eine tiefe, leidenschaftliche Innigkeit, durch die sogar das Beben ihrer Stimme zu einer Art Festigkeit wurde, »und ich bin stolz auf ihn. Sir, Ihr seid auf unerklärliche Weise zur Kunde der Geschichte seines früheren Lebens gekommen und habt mir das bei Eurem letzten Besuche mitgeteilt –«

»Bloß um mir zu Eurem Vertrauen einen Weg zu bahnen«, unterbrach sie der Gentleman. »Um’s Himmels willen, glaubt ja nicht –«

»Ich bin überzeugt«, fuhr sie fort, »daß Ihr mir in guter und wohlwollender Absicht die Vergangenheit wieder vorgeführt habt. Ich zweifle nicht im mindesten daran.«

»Ich danke Euch für diese gute Meinung«, entgegnete der Gentleman, ihr hastig die Hand drückend. »In der Tat, Ihr laßt mir nur Gerechtigkeit widerfahren. Ihr wolltet sagen, daß ich, der ich die Geschichte von John Carkers Leben kenne –«

»Es mir für Stolz auslegen werdet«, fuhr sie fort, »wenn ich sage, daß ich stolz auf ihn sei. Dies ist wirklich der Fall. Ihr wißt, daß es eine Zeit gab, in der ich es nicht war – nicht sein konnte – aber das ist längst vorbei. Die Demut vieler Jahre, sein Dulden ohne Murren, die wahre, tiefgefühlte Reue und der Schmerz, den ihm sogar meine Liebe bereitet – denn er meint, sie komme mich teuer zu stehen, obschon der Himmel weiß, daß ich vollkommen glücklich wäre, wenn ich nicht eine stete Zeugin seines Kummers sein müßte – o Sir, nach dem, was ich gesehen, möchte ich Euch beschwören, falls es in Eurer Macht liegt und Euch Unrecht zugefügt wird, nie eine Strafe zu verhängen, die nicht widerrufen werden kann; denn es ist ein Gott über uns, der die Herzen, die er schuf, auch umzuwandeln imstande ist.«

»Euer Bruder ist ein anderer Mensch«, entgegnete der Gentleman mit Teilnahme. »Ich versichere Euch, daß ich keinen Augenblick hieran zweifle.«

»Er war ein anderer Mensch, als er auf den Wegen des Unrechts ging«, sagte Harriet. »Dies liegt in der Vergangenheit, und glaubt mir, Sir, daß er seinem eigenen Ich wieder treu ist.«

»Aber wir treiben uns von Tag zu Tag in unserem Uhrwerkgange fort«, versetzte der Gentleman, sich zerstreut die Stirne reibend und dann gedankenvoll mit der Hand auf den Tisch trommelnd, »und haben keinen Blick für solche Veränderungen, denen wir nicht folgen können. Sie – sie sind mehr Erscheinungen für den Philosophen, und für – für ihre Beobachtung fehlt es uns an Muße. Ja wir – wir haben nicht einmal den Mut dazu. In Schulen oder Kollegs lernt man nichts davon, und wir wissen nicht, wie wir damit zustande kommen sollen. Mit einem Wort, es geht bei uns alles so verwünscht geschäftsmäßig zu«, fügte der Gentleman bei, indem er unmutig aufstand und nach dem Fenster ging, um bald nachher in derselben ärgerlichen Stimmung wieder nach seinem Sitz zurückzukehren.

»Wahrhaftig«, fuhr der Gentleman fort und rieb sich abermals die Stirne, eine Beschäftigung, die er durch das frühere Trommeln auf den Tisch unterbrach, »ich habe guten Grund zu glauben, daß der gemeine, alltägliche Trab des Lebens uns an alles gewöhnen kann. So viel ist Tatsache, daß man nicht alles sieht, nicht alles hört, nicht alles weiß. Wir nehmen die Dinge für ausgemacht an, und so geht es fort, bis unser ganzes Tun und Treiben, mag es nun gut, schlecht oder gleichgültig sein, eine Sache der Gewohnheit wird. Soll ich mich einmal auf meinem Sterbebett vor meinem Gewissen verantworten, so kann ich ihm nichts entgegenhalten, als die Gewohnheit. ›Gegen Millionen Dinge‹, muß ich sagen, ,war ich taub, stumm, blind und tot – nur Gewohnheit.‹ ›In der Tat eine sehr geschäftsmäßige Abfertigung, Mr. Soundso‹, sagt das Gewissen. ›Aber damit ist es hier nicht abgetan.‹«

Der Gentleman stand abermals auf, um nach dem Fenster zu gehen, und kehrte in ernstlicher Unruhe wieder zurück, obschon diese bei ihm einen eigentümlichen Ausdruck hatte.

»Miß Harriet«, sagte er, als er sich wieder auf seinen Stuhl niederließ, »ich muß mir bittere Vorwürfe machen, daß ich all das schon seit zwölf Jahren hätte sehen und wissen können, wenn ich mir Zeit genommen hätte, Euch kennenzulernen. Ja, ich bin so sehr ein Geschöpf nicht nur meiner eigenen, sondern auch anderer Leute Gewohnheit, daß ich es mir selbst kaum erklären kann, wie ich überhaupt hierher kam. Da es nun aber einmal so ist, so laßt mich etwas tun. Ich bitte darum in Ehren und mit aller Achtung; denn Ihr flößt mir letztere in hohem Grade ein. Laßt mich etwas tun.«

»Wir sind zufrieden, Sir.«

»Nein, nein, nicht ganz«, entgegnete der Gentleman. »Ich glaube, nicht ganz. Es gibt gewisse kleine Bequemlichkeiten, die Euch und ihm das Leben angenehmer machen können – auch ihm«, fügte er in der Meinung bei, daß er einigen Eindruck auf sie gemacht habe. »Ich hatte mich an den Gedanken gewöhnt, für ihn brauche nichts zu geschehen; aber das ist jetzt abgetan und vorüber – kurz, ich habe mir über das Ganze gar keine Gedanken gemacht. Jetzt ist es anders. Laßt mich etwas für ihn tun. Auch Ihr habt Ursache«, fügte er mit behutsamer Zartheit bei, »um seinetwillen Eure Gesundheit sehr in acht zu nehmen, da sie, wie ich fürchte, nicht die beste ist.«

»Wie Ihr auch dazu kommt, Sir«, entgegnete Harriet, zu seinem Gesicht aufblickend, »ich bin Euch zu tiefem Dank verpflichtet. Ich fühle die Überzeugung, daß alle Eure Worte die wohlwollendste Absicht haben. Aber seit wir dieses Leben begannen, sind Jahre verstrichen, und meinem Bruder nur einen Teil davon nehmen, was ihn mir so teuer gemacht und seine besseren Entschlüsse erprobt hat – die Beseitigung auch nur eines Bruchstücks von dem Verdienste seiner ununterstützten, unbeachteten und vergessenen Sühne, hieße den Trost mindern, den wir beide darin finden werden, wann die Zeit kommt, von der Ihr eben erst gesprochen habt. Ich kann Euch meinen Dank besser durch diese Tränen, als in Worten ausdrücken. Ich bitte, glaubt mir das.«

Der Gentleman war gerührt; er führte die Hand, die sie ihm darbot, an seine Lippen, etwa so, wie ein zärtlicher Vater die Hand eines liebevollen Kindes küssen würde, aber mit mehr Verehrung.

»Wenn der Tag je kommen sollte«, sagte Harriet, »der ihn teilweise wieder einsetzt in seine verlorne Stellung –«

»Einsetzt?« rief der Gentleman hastig. »Wie sollte hierauf nur zu hoffen sein? In wessen Händen liegt die Macht einer solchen Wiederherstellung? Ich täusche mich in der Tat nicht, wenn ich annehme, der Umstand, daß er mit dem unschätzbaren Segen des Lebens davonkam, sei der einzige Grund des Hasses, den sein Bruder gegen ihn hegt.«

»Ihr berührt hier einen Gegenstand, der nie zwischen uns zur Sprache kam – nicht einmal zwischen uns«, sagte Harriet.

»Ich bitte um Verzeihung«, versetzte der Besuch. »Es hätte mir bekannt sein können, und ich bitte Euch, dies zu vergessen, daß es unabsichtlich durch mich angerührt worden ist. Und jetzt, da ich nicht weiter in Euch zu dringen wage und auch vielleicht kein Recht dazu habe – obschon, weiß der Himmel, am Ende auch dieses Bedenken nur Sache der Gewohnheit ist –«, fügte der Gentleman bei, während er so kleinmütig, wie zuvor, wieder seine Stirne rieb – »möchte ich als ein Mann, der Euch zwar fremd, aber doch nicht fremd ist, um eine doppelte Gunst ersuchen.«

»Die bestünde?« lautete Harriets Frage.

»Erstlich, daß Ihr mir erlauben möchtet, Euch zu dienen, im Falle Ihr Ursache findet, Euern Entschluß zu ändern. Ihr sollt dann auch meinen Namen erfahren, der Euch jetzt nutzlos und jederzeit nur unbedeutend ist.«

»Wir haben unter unsern Freunden keine solche Auswahl«, versetzte sie mit einem matten Lächeln, »daß hierfür eine Bedenkzeit nötig wäre. Ich kann Euch das versprechen.«

»Zweitens, daß Ihr mir gestattet, hin und wieder – ich will sagen, am Montag morgen um neun Uhr – wieder Gewohnheit, die mich alles geschäftsmäßig betreiben läßt –«, sagte der Gentleman, als habe er Lust, deshalb mit sich selbst Händel anzufangen, »Euch im Vorbeigehen unter der Tür oder am Fenster zu sehen. Ich verlange nicht einzutreten, da um diese Stunde Euer Bruder anwesend ist. Auch will ich Euch nicht einmal anreden. Ich wünsche Euch bloß zu sehen und daraus die Beruhigung zu gewinnen, daß Ihr wohlauf seid; dabei möchte ich Euch ohne alle Aufdringlichkeit durch meinen Anblick erinnern, daß Ihr einen Freund habt – einen älteren Freund, der mit jedem Tage grauer wird und Euch immer zur Verfügung steht.«

Ihr herzliches Gesicht blickte vertrauensvoll zu dem seinigen auf und gab die gewünschte Zusage.

»Es versteht sich«, fuhr der Gentleman fort, indem er sich von seinem Sitze erhob, »daß Ihr wie früher meinen Besuch vor Eurem Bruder nicht erwähnt, weil ihn mein Mitwissen um seine frühere Geschichte betrüben könnte. Dies wird mir lieb sein; denn es liegt außer dem gewöhnlichen Lauf der Dinge – da haben wir wieder die leidige Gewohnheit«, unterbrach er sich unmutig –, »als ob es nichts Besseres gebe, als den alltäglichen Gang der Welt.«

Mit diesen Worten schickte er sich zum Gehen an. Er behielt, bis er vor der Haustür draußen war, den Hut in der Hand und verabschiedete sich von ihr mit einer so glücklichen Mischung von zwangloser Achtung und ungekünstelter Teilnahme, wie diese nicht in der Schule der feinen Bildung gewonnen wird und wie sie es nur eine Vertrauen weckende, reine Einfachheit des Herzens einflößen kann.

Dieser Besuch rief in der Seele der Schwester manche halbvergessenen Gefühle wieder hervor. Es war gar so lang her, seit überhaupt eine teilnehmende Person über ihre Schwelle gekommen, seit ihr Ohr die Stimme des Mitgefühls vernommen hatte; und vor dem Auge ihres Geistes stand noch immer, als sie Stunden nachher mit ihrer Näherei am Fenster saß, die Gestalt des Fremden, der wieder und wieder seine wohlgemeinten Bitten vorzubringen schien. Er hatte das Schloß berührt, das ihr ganzes Leben öffnete; und wenn sein Bild auf kurze Zeit verwischt wurde, lag der Grund nur in den vielen Formen der einen großen Erinnerung, aus denen die Kette dieses Lebens gebildet war.

Abwechselnd nachsinnend und arbeitend, indem sie bald für eine geraume Weile die Nadel angestrengt in Tätigkeit setzte, bald diese unbeachtet ruhen ließ, um dem Strom ihrer Gedanken zu folgen, fand Harriet, daß die Stunden an ihr vorüberglitten und der Tag zur Neige ging. Der Morgen war schön und heiter gewesen; jetzt aber überwölkte sich allmählich der Himmel. Ein scharfer Wind begann zu wehen, der Regen fiel mit Macht nieder, und ein dichter Nebel verhüllte die ferne Stadt vor ihren Blicken.

Zu solchen Zeiten blickte sie oft mit Mitleid auf die einzelnen Wanderer, die auf der nahegelegenen Landstraße mit müden, wunden Füßen London zuschritten und furchtsamen Blicks die ungeheure, vor ihnen liegende Stadt betrachteten, als ahnten sie, daß ihr Elend dort nur ein Tropfen im Meer oder ein Sandkorn am Gestade sei, gleichwohl aber zusammenschaudernd weiterzogen, wie sehr auch in dem Ungestüm des Wetters sogar die Elemente sie zurückzuweisen schienen. Tag um Tag schlichen solche Reisende vorbei; aber immer, wie es ihr vorkam, derselben Richtung zu – stets nach der Stadt. Aufgesogen von einem oder dem andern Teil der Unermeßlichkeit, nach der sie durch einen verzweifelten Zauber hingedrängt zu werden schienen, kehlten sie nie wieder zurück. Nahrung für die Hospitäler, die Kirchhöfe, die Gefängnisse, den Fluß, das Fieber, den Wahnsinn, das Laster und den Tod – so eilten sie dem in der Ferne brüllenden Ungeheuer zu und waren verloren.

Der kalte Wind heulte, der Regen klatschte, und der Tag hatte sich in ein tiefes Düster gehüllt, als Harriet von ihrer Arbeit, der sie schon geraume Zeit mit beharrlichem Eifer sich hingegeben hatte, ihre Augen erhob und einen solchen Wanderer herankommen sah.

Eine Frau. Eine einzelne Frau von etlichen dreißig Jahren, groß, gut gebaut und schön, aber in erbärmlicher Kleidung. An ihrem von Nässe triefenden grauen Mantel waren die Spuren verschiedener Bodenarten, Merkmale des auf vielen Landstraßen durchgemachten schlechten Wetters – Staub, Kalk, Lehm und Kies – zu unterscheiden. Kein Hut, keine andere Kopfbedeckung als ein umgebundenes, zerrissenes Taschentuch schützte ihr reiches Haar gegen den Regen, und der Wind blies ihr unaufhörlich dessen Zipfel oder einzelne Haarstränge ins Gesicht, so daß sie oft haltmachen mußte, um die blendenden Hindernisse zurückzustreifen, damit sie den Weg sehen konnte, den sie ging.

Sie war eben in diesem Geschäft begriffen, als Harriet ihrer ansichtig wurde. Als die Fremde, mit der Hand über das sonnverbrannte Gesicht fahrend, ihr Haar beiseite strich, enthüllte sich eine fast verwegene, rücksichtslose Schönheit, eine furchtlose, wilde Gleichgültigkeit auch gegen andere Dinge, als das Wetter, eine Unbekümmertheit gegen alles, was Himmel oder Erde über ihr unbedecktes Haupt senden mochte. Dieser Anblick, in Verbindung mit dem Elend und der Verlassenheit des Weibes, rührte das Herz Harriets. Sie dachte an alles, was nicht nur im Äußern, sondern auch im Innern dieser Unglücklichen verkehrt und verderbt sein mochte – an die anspruchslosen Reize der Seele, die wahrscheinlich ebenso verhärtet und gestählt waren, wie die schönen Linien des Gesichts; an die vielen Gaben des Schöpfers, gleich dem wirren Haar in die Winde gestreut, und an alle die Trümmer von Lieblichkeit, die vom Sturm durchwühlt und von der einbrechenden Nacht umdüstert wurden.

Während sie diesen Gedanken nachsann, wandte sie sich nicht ab mit empfindsamem Unwillen, wie es nur zu viele Angehörige des mitleidigen zarteren Geschlechtes getan haben würden, sondern ließ das Gefühl inniger Teilnahme walten.

Die gefallene Schwester kam näher. Sie blickte weit vor sich hin, als wollten ihre blitzenden Augen durch den Nebel dringen, der die Stadt vor ihr verhüllte, und schaute hin und wieder mit der wirren, unsicheren Miene einer Fremden seitwärts. Obschon ihr Tritt kühn und mutig war, konnte sie ihre Ermüdung doch nicht verbergen, und nach kurzer Unschlüssigkeit setzte sie sich auf einen Steinhaufen, ohne Schutz gegen den Regen zu suchen, den sie unbekümmert auf sich niederströmen ließ.

Sie saß dem Haus gegenüber. Nachdem sie ihren Kopf für einen Augenblick mit beiden Händen gestützt hatte, erhob sie ihn wieder, und ihr Auge begegnete jetzt dem Blicke Harriets. Im Nu war diese an der Tür. Auf ihr Winken stand die Fremde auf und kam mit finsterer Miene langsam heran.

»Warum setzt Ihr Euch im Regen nieder?« fragte Harriet mit sanfter Stimme.

»Weil ich keinen andern Ruheplatz habe«, lautete die Antwort.

»Aber es sind in der Nähe viele Plätze, die Euch ein Obdach geben können. Diese Laube da ist doch weit besser als der Steinhaufen dort, und der Schutz, den Ihr hier findet, ist Euch von Herzen gegönnt.«

Die Fremde sah sie erstaunt und zweifelnd an, ohne aber irgend zu danken. Dann setzte sie sich nieder und nahm einen ihrer schlechten Schuhe ab, um den Staub und die Steinchen, die dort eingedrungen waren, herauszuklopfen. Dabei zeigte sich, daß ihr Fuß verletzt und blutig war.

Harriet stieß einen Ruf des Mitleids aus. Die Fremde aber schaute sie mit einem verächtlichen, ungläubigen Lächeln an.

»Ha, was ist auch ein wunder Fuß für eine Person, wie ich es bin«, sagte sie. »Und was kann Euch ein wunder Fuß an einem armen Frauenzimmer kümmern?«

»Kommt herein und wascht ihn aus«, antwortete Harriet in mildem Ton. »Ich will Euch etwas geben, damit Ihr ihn verbinden könnt.«

Die Fremde ergriff ihren Arm, verbarg die Augen dahinter und weinte – nicht wie ein Weib, sondern wie ein finsterer Mann, der sich von einer solchen Schwäche überraschen läßt – mit einem ungestümen Wogen der Brust und einem inneren Kampf, der zeigte, wie ungewöhnlich eine derartige Erregung bei ihr war.

Sie ließ sich in das Haus führen, wo sie die wunde Stelle wusch und verband, aber augenscheinlich mehr aus Dankbarkeit als aus Sorge für sich selbst. Harriet setzte ihr dann die Überreste ihres eigenen spärlichen Mahls vor und forderte sie, nachdem sie ein wenig davon genossen hatte, auf, sie solle doch ihre Kleider vor dem Feuer trocknen, ehe sie ihre Wanderung, bei der sie es sehr eilig zu haben schien, wieder aufnehme. Abermals mehr aus Dankbarkeit als mit irgendeiner Kundgebung von Sorge für sich selbst, setzte sich die Fremde vor dem Kamin nieder, knüpfte das um den Kopf geschlungene Taschentuch los, so daß das dichte, feuchte Haar bis auf die Hüfte niederfiel, trocknete es mit ihren Handflächen und schaute in die Flamme.

»Ihr werdet wahrscheinlich denken«, sagte sie, plötzlich ihren Kopf aufrichtend, »daß ich einmal schön gewesen sein müsse. Ich glaube, daß es der Fall war – ja, ich weiß es. Schaut her!« sie hielt ihr Haar mit beiden Händen in die Höhe, umfaßte sie dann, als wolle sie sich dieselben ausreißen, und warf sie wieder zurück, als ob sie ein Haufen Schlangen wären.

»Seid Ihr fremd hier?« fragte Harriet.

»Fremd?« entgegnete sie, zwischen jeder kurzen Antwort innehaltend und ins Feuer blickend. »Ja. Fremd seit zehn oder zwölf Jahren. Wo ich war, hatte ich keinen Kalender. Zehn oder zwölf Jahre. Diesen Teil kenne ich nicht. Während meiner Abwesenheit hat sich viel verändert.«

»Seid Ihr weit fortgewesen?«

»Sehr weit. Monate um Monate auf dem Meer, und auch dann noch weit weg. Ich war an dem Platz, wo man die Missetäter hinschickt«, fügte sie bei, ihrer Wirtin voll ins Gesicht sehend. »Ich bin selbst eine Verbrecherin gewesen.«

»Der Himmel stehe Euch bei und verzeihe Euch!« lautete die sanfte Erwiderung.

»Ach, der Himmel mir beistehen und mir verzeihen!« versetzte sie, mit dem Kopf nach dem Feuer nickend. »Wenn die Menschen einigen von uns ein bißchen mehr beistehen wollten, würde Gott vielleicht uns allen desto bälder verzeihen.«

Aber das ernste Benehmen Harriets und das herzliche Gesicht, das mit so viel Milde und nicht mit der Miene der Verwerfung auf ihr ruhte, stimmte sie sanfter, so daß sie mit weniger Härte beifügte:

»Wir werden wohl im gleichen Alter sein, Ihr und ich. Wenn ich älter bin, so kann es kaum um ein Jahr oder um zwei sein. O denkt daran!«

Sie breitete ihre Arme aus, als ob sie durch Enthüllung ihrer äußeren Gestalt zeigen wolle, wie elend sie auch in ihrem Inneren sei; dann ließ sie die Arme wieder fallen und senkte den Kopf.

»Es gibt nichts, was wir nicht wieder gutmachen zu können hoffen dürfen. Zur Besserung ist es nie zu spät«, sagte Harriet. »Ihr seid reuig –«

»Nein«, entgegnete sie. »Ich bin es nicht – kann es nicht sein. Warum sollte auch ich bereuen – und die ganze übrige Welt frei ausgehen? Man schwatzt mir immer von Reue vor – wer bereut das Unrecht, das an mir geübt worden ist?«

Sie stand auf, knüpfte das Tuch wieder um den Kopf und schickte sich an, zu gehen.

»Wohin wollt Ihr?« fragte Harriet.

»Dorthin«, antwortete sie, mit der Hand deutend. »Nach London.«

»Habt Ihr dort eine Heimat?«

»Ich glaube, ich habe eine Mutter. Sie ist ebensowohl eine Mutter, wie ihre Wohnung eine Heimat genannt werden kann«, erwiderte sie mit einem bittern Lachen.

»Nehmt das«, rief Harriet, ihr ein Geldstück in die Hand drückend. »Gebt Euch Mühe, ein ordentliches Auskommen zu finden. Es ist nur sehr wenig, aber für einen Tag kann es Euch vielleicht forthelfen.«

»Seid Ihr verheiratet?« fragte die Fremde in ersticktem Ton, als sie das Almosen annahm.

»Nein. Ich lebe hier mit meinem Bruder. Wir haben nicht viel übrig, sonst würde ich Euch mehr gegeben haben.«

»Wollt Ihr mir erlauben, Euch zu küssen?«

Da sie in Harriets Gesicht kein Zeichen von Widerwillen oder Verachtung bemerkte, so beugte sie sich zu ihr nieder und drückte ihre Lippen gegen die Wangen ihrer Wirtin. Dann ergriff sie abermals Harriets Arm, bedeckte ihre Augen damit und war verschwunden.

Verschwunden in der dunkler werdenden Nacht, in dem heulenden Wind und dem schüttenden Regen. Das schwarze Haar und die Zipfel des Tuches flatterten um ihr wildes Gesicht, als sie weiter ging nach der in Nebel gehüllten Stadt mit ihrem matten Lichtergeflimmer.