Vierzigstes Kapitel .


Vierzigstes Kapitel .

Häusliche Verhältnisse

Es lag nicht in der Natur der Dinge, daß bei einem Mann von Mr. Dombeys Gemütsart durch den Widerspruch eines Geistes, wie er ihn selbst sich gegenübergestellt hatte, die gebieterische Strenge gemildert oder die kalte, harte Rüstung des Stolzes, in die er eingehüllt war, durch den steten Gegensatz von hochmütigem Trotz und Hohn nachgiebiger gemacht werden konnte. Es ist der Fluch einer solchen Natur und ein Hauptteil der schweren Wiedervergeltung, die sie in sich selbst trägt, daß sie aus dem Widerspruch und einer Zurückweisung ihrer gewalttätigen Ansprüche ebenso gut Nahrung findet, als aus der Ehrerbietung und den gemachten Zugeständnissen, durch die ihre schlimmen Eigenschaften anschwellen und großgezogen werden. Das Böse darin findet selbst in den Gegensätzen die Mittel des Wachstums und der Fortpflanzung. Es zieht Kräftigung und Leben aus dem Süßen wie aus dem Bitteren: Mißachtung sowohl, wie Kriecherei bilden ein Vollwerk um die Brust, wo es seinen Thron aufgeschlagen hat, und mag es verehrt oder zurückgewiesen werden, stets ist es ein so despotischer Gebieter wie der Teufel im Märchen. Gegen seine erste Gattin hatte sich Mr. Dombey in seiner kalten, stolzen Anmaßung benommen als das hoch über ihr stehende Wesen, das er fast zu sein meinte. Er war für sie »Mr. Dombey« gewesen, als sie ihn zum ersten Male sah, und trat als »Mr. Dombey« an ihr Sterbebette. Während ihres ganzen ehelichen Lebens hatte er seine Größe behauptet, und sie hatte diese schüchtern anerkannt. Er saß hoch oben auf der Spitze seines Throns, sie bescheiden nur auf der untersten Treppe desselben, und es bereitete ihm einen Genuß, einsam als Sklave seiner einzigen Idee zu leben. Seiner Ansicht nach sollte der stolze Charakter seiner zweiten Gattin eine Zugabe sein zu dem seinigen – sollte sich mit demselben vermengen und seine Größe erhöhen. Er hatte geglaubt, höher auftreten zu können, als je, wenn Ediths Stolz dem seinigen dienstbar sei, dabei aber nie an die Möglichkeit gedacht, daß derselbe gegen ihn auftreten könne. Jetzt mußte er übrigens finden, daß die Eigenschaft, von der er sich so viel versprochen, bei jedem Tritt, bei jeder Wendung auf dem Pfade seines täglichen Lebens ihr kaltes, trotziges, Verachtung ausdrückendes Antlitz ihm entgegenhielt. Gleichwohl übte das keine demütigende, niederschlagende Wirkung auf seinen Hochmut aus, der im Gegenteil nur neue Sprossen trieb, sich mehr und mehr befestigte, und finsterer, widerwärtiger und unbeugsamer wurde, als er je zuvor gewesen.

Wer eine solche Rüstung führt, trägt auch stets eine andere schwere Wiedervergeltung in seinem Innern. Der Harnisch ist fest gegen Versöhnlichkeit, Liebe und Vertrauen, gegen jede Teilnahme von außen und gegen jede sanftere Regung, während er dagegen bloßliegt den tiefen Dolchstößen der Eigenliebe, wie die unbeschützte Brust der blanken Waffe. Und solche Wunden eitern quälender, als jede andere, namentlich wenn sie die gepanzerte Hand des Stolzes selbst dem machtloseren Stolze, den sie entwaffnet und niedergeworfen, geschlagen hat.

Derartige Wunden waren die seinigen. Er fühlte sie aufs empfindlichste in der Einsamkeit seiner alten Gemächer, wohin er sich nun oft wieder zurückzuziehen begann, uni stundenlang allein zu sein. Das Geschick, stolz und gewaltig, schien es über ihn verhängt zu haben, daß er stets gedemütigt und machtlos werden sollte, wo er gerne am kräftigsten gewesen wäre. Wer mochte wohl bestimmt sein, dieses Gericht an ihm zu erfüllen?

Wer? Wer war es, der seine Gattin gewinnen konnte, wie sie seinen Sohn genommen hatte! Wer war es, der ihm diesen neuen Sieg gezeigt hatte, als er in der dunkeln Ecke saß! Wer war es, der mit dem kleinsten Wort auszurichten vermochte, was allen seinen Mitteln nicht gelang! Wer war es, der ohne den Beistand seiner Liebe und seiner Beachtung zur Schönheit heranwuchs, während jene, denen dieser Beistand zugute gekommen war, starben! Wer konnte es anders sein, als dasselbe Kind, auf das er in seiner Verwaisung so oft unruhig und mit einer Art Furcht hingeblickt hatte, es möchte noch so weit kommen, daß er sie hassen müsse! Seine Ahnung war jetzt erfüllt, denn er haßte sie aus dem Grunde seines Herzens.

Ja, und er klammerte sich fest an diesen Haß, wenn auch einzelne Funken des Lichts, in dem sie an dem denkwürdigen Abend seiner Heimkehr erschienen war, gelegentlich um ihn her aufblitzten. Er wußte jetzt, daß sie schön war, stellte ihre gewinnende Anmut nicht in Abrede und konnte sich die Überraschung nicht verhehlen, in die ihn das schöne Morgenrot ihrer Jungfräulichkeit versetzt hatte. Aber auch das diente nur als Waffe gegen sie. Der unglückliche Mann fühlte wohl, wie alle Herzen sich ihm entfremdet hatten, und konnte sich einer unbestimmten Sehnsucht nach dem, was er sein ganzes Leben über zurückgewiesen, nicht entschlagen. Aber in seinem düstern, krankhaften Sinnen schuf er sich ein verzerrtes Bild von seinen Rechten, die er gekränkt wähnte, und waffnete sich in solcher Weise mit Scheingründen gegen Florence. Je würdiger sie seiner zu werden in Aussicht stellte, desto mehr Anlaß nahm er daraus, Rückblicke zu tun auf ihre frühere Pflichtmäßigkeit und Unterwerfung. Wann hatte sie ihm je Gehorsam und Unterwürfigkeit erwiesen? War sie ein Schmuck seines Lebens – oder nicht vielmehr Ediths? Hatte ihr Willkommen zuerst ihm gegolten – oder Edith? Waren sie von Florence Geburt an je wie Vater und Kind gegeneinander gewesen? Nein, es hatte stets eine Entfremdung stattgefunden. Überall und in jeder Weise war sie ihm in den Weg getreten, und auch jetzt stand sie gegen ihn im Bunde. Ihre Schönheit erweichte Charaktere, die sich ihm gegenüber stahlhart anließen, und beleidigte ihn durch ihren unnatürlichen Triumph.

Möglich, daß in all diesen Beschwerden das Erwachen eines freilich nur selbstsüchtigen und durch seine unvorteilhafte Stellung veranlaßten Bewußtseins lag, wozu sie sein Leben hätte machen können. Aber er brachte diesen fernen Donner durch den tobenden Wellenschlag seines Stolzes zum Schweigen. Nur auf die Stimme des letzteren wollte er hören, und in seinem Stolze warf er, ein Gemeng von Unbeständigkeit, Elend und Selbstpeinigung, seinen Haß auf sie.

Dem finstern, launenvollen, störrischen Dämon, von dem er besessen war, setzte seine Gattin einen Stolz von ganz anderer Art mit voller Macht entgegen. Sie hätten nie miteinander ein glückliches Leben führen können. Nichts indessen war geeigneter, es so ganz elend zu machen, als der eigensinnige, entschlossene Krieg solcher Elemente. Sein Hochmut sah sich darauf hingewiesen, seine vornehme Überlegenheit zu behaupten und ihr die Anerkennung derselben abzuringen, während sie ihrerseits selbst auf der todbringenden Folter bis zum letzten Augenblicke ihres Lebens den Blick ruhiger, unwandelbarer Verachtung auf ihn gerichtet haben würde. Solch ein Dank von Edith! Er wußte wenig, durch welche Stürme, welchen Kampf sie vorwärts getrieben wurde, bis sie die Ehre seiner Hand annahm – ja, er hatte nicht die mindeste Ahnung davon, wieviel sie ihm eingeräumt zu haben glaubte, wenn s i e ihm gestattete, sie seine Gattin zu nennen.

Mr. Dombey war entschlossen, ihr sein Übergewicht zu zeigen. Er verlangte zwar, daß sie stolz sei; aber sie sollte es für ihn, nicht gegen ihn sein. Wann er in seinen finsteren Gedanken allein dasaß, hörte er sie oft ausgehen und zurückkommen. Sie betrat die Runde des Londoner Lebens, ohne auf seine Zustimmung oder seine Unzufriedenheit mehr zu achten, als wäre er ihr Stallknecht gewesen. Ihre kalte, rücksichtslose Gleichgültigkeit – er glaubte allein zu dieser Eigenschaft berechtigt zu sein – verletzte ihn tiefer, als dies durch jede andere Behandlung hätte geschehen können, und er beschloß, sie unter seinen großartigen stattlichen Willen zu beugen.

Er war längst mit solchen Gedanken umgegangen, bis er endlich eines Abends, als er sie spät nach Hause zurückkommen hörte, sie auf ihrem Zimmer aufsuchte. Sie saß in ihrer prächtigen Toilette allein da und hatte unmittelbar zuvor ihrer Mutter einen kurzen Besuch gemacht. Auf ihrem Gesicht lag bei seinem Eintritt ein wehmütiger, gedankenvoller Ausdruck; ein Blick nach dem Spiegel aber, aus dem ihm dieser entgegenkam, zeigte ihm plötzlich, wie in einem Bilderrahmen, wieder die furchige Stirne und die düstere Schönheit, die er so gut kannte.

»Mrs. Dombey«, begann er, »ich muß mir die Freiheit nehmen, einige Worte mit Euch zu sprechen.«

»Morgen«, lautete ihre Erwiderung.

»Keine Zeit ist dazu passender, als die augenblickliche, Madame«, versetzte er. »Ihr verkennt Eure Stellung. Ich bin daran gewöhnt, mir meine Zeit zu wählen, nicht aber sie mir vorschreiben zu lassen. Es scheint mir, Ihr begreift kaum, wer und was ich bin, Mrs. Dombey.«

»Ich denke, ich weiß dies vollkommen«, antwortete sie.

Mit diesen Worten blickte sie zu ihm auf, legte ihre weißen, von Gold und Edelsteinen funkelnden Arme über der schwellenden Brust zusammen und wandte ihre Augen wieder ab.

Wäre sie weniger schön und in ihrer ruhigen Haltung weniger stattlich gewesen, so würde es ihr schwerlich gelungen sein, ihn zu dem Bewußtsein seiner unvorteilhaften Stellung zu bringen, dessen er sich sogar in seinem Stolze nicht erwehren konnte. Doch sie besaß diese Gewalt, und er fühlte es tief – fühlte es noch mehr, als er im Zimmer umherschaute und sah, wie der kostbare Schmuck und die reichen Kleider achtlos umhergestreut waren, nicht in bloßer Laune oder Nachlässigkeit, sondern in entschlossener, stolzer Mißachtung der wertvollen Gegenstände. Häubchen mit Blumen, Hutfedern, Juwelen, Spitzen, Samt und Seide – wohin er auch blickte, überall lag der Reichtum umher, als wäre er eitler Tand, Sogar die Diamanten – ein Hochzeitsgeschenk – die sich ungeduldig auf ihrem Busen hoben und senkten, schienen begierig zu sein, die Kette, an der sie um ihren Hals geschlungen waren, zu zerbrechen und auf dem Boden hinzurollen, damit ihre Gebieterin sie mit Füßen treten könne.

Er fühlte seinen Nachteil und zeigte es in der linkischen Verlegenheit, mit der er der stolzen Frau gegenüberstand, deren unbeugsame Schönheit sich in dem Reichtum von Farben und in dem üppigen Gefunkel wie in ebenso vielen Teilen eines Spiegels brach. Natürlich mußte alles, was ihrer Verachtung ausdrückenden Ruhe dienstbar war, seinen Unmut noch mehr aufregen. Mit sich selbst zürnend, setzte er sich nieder und fuhr in keineswegs gebesserter Stimmung fort:

»Mrs. Dombey, es ist sehr nötig, daß es zwischen uns zu einem Verständnis komme. Euer Benehmen gefällt mir nicht, Madame.«

Sie sah bloß nach ihm hin, wandte aber sogleich ihren Blick wieder ab. Der Ausdruck, mit welchem sie dies tat, war sprechender, als die Rede einer ganzen Stunde.

»Ich wiederhole, Mrs. Dombey, es gefällt mir nicht. Ich habe schon einmal die Gelegenheit ersehen, Euch zu bitten, daß Ihr es verbessern möget. Jetzt bestehe ich darauf.«

»Ihr wähltet einen passenden Anlaß für Eure erste Vorstellung, Sir, und bringt Eure zweite in einer sehr geeigneten Weise und in sehr zweckmäßigen Worten vor. Ihr besteht darauf gegen mich

»Madame«, entgegnete Mr. Dombey, in der verletzendsten Weise all seinen Stolz aufbietend, »ich habe Euch zu meiner Gattin gemacht. Ihr führt meinen Namen und seid Teilhaberin meiner Stellung, meines Rufs. Ich will nicht sagen, daß die Welt im allgemeinen zu glauben geneigt sein dürfte, Ihr seiet durch diese Verbindung geehrt; aber so viel erkläre ich Euch, daß ich gewöhnt bin, meinen Angehörigen und Untergebenen gegenüber auf meinem Willen zu bestehen

»Welche von diesen Eigenschaften beliebt Ihr mir zuzuweisen?« fragte sie.

»Vielleicht denke ich, meine Gattin werde – oder müsse beide in sich vereinigen, Mrs. Dombey.«

Sie warf ihm einen festen Blick zu und preßte ihre bebenden Lippen zusammen. Er sah das Klopfen ihrer Brust – sah, wie ihr Gesicht erglühte und dann blaß wurde. Alles das konnte er bemerken, und er bemerkte es auch. Dagegen war ihm nicht bekannt, daß in dem tiefsten Innern ihres Herzens ein einziges Wort ihr zuflüsterte, sich ruhig zu verhalten. Dieses Wort war Florence.

Blinder Tor, der du einem Abgrunde zustürzest! Er wähnte sie eingeschüchtert – durch ihn!

»Ihr macht zu viel Aufwand, Madame«, sagte Mr. Dombey – »einen übermäßigen Aufwand. Ihr verbraucht große Summen – oder Summen, die in den Taschen der meisten Gentlemen große genannt werden könnten – um Euch in einer Gesellschaft umzutreiben, die mir nutzlos – ja, die mir geradezu widerwärtig ist. In allen diesen Punkten muß ich auf einer durchgreifenden Änderung bestehen. Ich weiß zwar, daß die Frauen in der Neuheit des Besitzes gern zu einem plötzlichen Extrem übergehen, selbst wenn ihnen das Glück nur den zehnten Teil der Mittel zugewiesen hat, der Euch zur Verfügung steht, aber diesem Extrem ist jetzt mehr als Genüge geschehen, und ich muß bitten, daß Mrs. Dombey sich die ganz anderen Erfahrungen der Mrs. Granger zur Lehre dienen lasse.«

Noch immer der unverwandte Blick, die bebenden Lippen, die klopfende Brust und das Gesicht, das bald glühend rot, bald wieder leichenblaß wurde; aber auch das tiefe Flüstern: »Florence, Florence, das in dem Klopfen ihres Herzens zu ihr sprach.

Seine dünkelvolle Anmaßung bewirkte, wie er sah, diese Veränderung in ihr. Ebenso kochend über die ihm erwiesene Verachtung und das kürzliche Gefühl seiner unvorteilhaften Stellung, als durch ihre gegenwärtige vermeintliche Unterwürfigkeit aufgebläht, wurde das, was in seinem Innern gärte, zu übermächtig für seine Brust und sprengte alle Bande. Wer hätte auch seinem stolzen Willen und Befehle auf die Dauer widerstehen können! Er hatte beschlossen, sie zu beugen – und siehe da!

»Ihr werdet ferner die Güte haben, Madame«, fuhr Mr. Dombey im Ton herrscherischen Befehls fort, »Euch zu merken, daß ich Ehrerbietung und Gehorsam verlange – daß mir auf die entschiedenste Weise Ehrerbietung von der Welt erzeigt werde, Madame. Ich bin daran gewöhnt, – verlange es als mein Recht – und will es, mit einem Wort, haben. Ich sehe darin nur ein billiges Entgelt für die derzeitigen Vorteile, die Euch dafür zugefallen sind, und glaube, niemand wird sich darüber wundern, wenn ich es von Euch verlange oder Ihr es leistet – gegen mich – gegen mich!« fügte er mit Nachdruck bei.

Kein Wort von ihrer Lippe. Keine Veränderung in ihr. Der Blick unverwandt auf ihm haftend.

»Ich habe von Eurer Mutter gehört, Mrs. Dombey«, sagte Mr. Dombey mit schulmeisterischer Wichtigkeit, »was Ihr ohne Zweifel selbst wißt – daß ihr nämlich um ihrer Gesundheit willen Brighton empfohlen worden ist. Mr. Carker hat die Güte gehabt – –«

Ein plötzlicher Wechsel bei Edith. Ihr Gesicht und ihr Hals erglühten, als breche sich daran das rote Licht eines zornigen Sonnenuntergangs. Ohne hierauf zu achten, und den Wechsel nach seiner eigenen Art deutend, fuhr Mr. Dombey fort:

»Mr. Carker hat die Güte gehabt, hinzugehen und eine Wohnung zu bestellen. Wenn der Haushalt wieder nach London verlegt wird, werde ich zu dessen besserer Besorgung die Schritte tun, die ich für nötig halte. Einer davon wird, wenn es angeht, darin bestehen, daß ich in Brighton einer sehr achtbaren, in ihren Vermögensverhältnissen heruntergekommenen Person, einer Mrs. Pipchin, die früher in meiner Familie mit einem Dienste betraut war, die Stelle einer Haushälterin übertrage. Ein solches Hauswesen, über dem nur dem Namen nach eine Leitung steht, Mrs. Dombey, fordert einen fähigen Kopf.«

Sie hatte, ehe er bei diesen Worten anlangte, ihre Haltung verändert und saß jetzt da, den Blick noch immer ihm zugekehrt und eine Spange auf ihrem Arme hin und her drehend, nicht in leichter weiblicher Berührung, sondern sie über die glatte Haut hinzerrend, bis das Weiß einen breiten, roten Reif zeigte.

»Ich bemerkte«, sagte Mr. Dombey, »und das soll der Schlußstein zu dem sein, was ich Euch vorderhand mitzuteilen für nötig halte, Mrs. Dombey – ich bemerkte vor einem Augenblick, Madame, daß meine Erwähnung des Mr. Carker in einer eigentümlichen Weise aufgenommen wurde. Als ich Euch in der Gegenwart dieses meines vertrauten Beistandes über die Art, wie Ihr meine Gäste aufnahmt, meine Meinung eröffnete, hat es Euch beliebt, gegen seine Anwesenheit Einwendungen zu erheben. Ihr werdet Euch nunmehr eines Besseren besonnen haben, Madame, denn es ist wahrscheinlich, daß etwas Ähnliches noch oft vorkommen wird, wenn Ihr nicht zu dem Euch freistehenden Abhilfsmittel greift, mir keinen Anlaß zur Beschwerde zu geben. Mr. Carker«, fügte Mr. Dombey bei; denn nach der vorhin bemerkten Aufregung legte er ein großes Gewicht auf diese Art, sein stolzes Weib in die Enge zu hetzen, während er vielleicht auch gute Lust hatte, diesem Gentleman seine Macht in einem neuen triumphierenden Licht zu zeigen, »Mr. Carker besitzt mein Vertrauen, und es wird deshalb gut sein, Mrs. Dombey, wenn er insoweit auch das Eure teilt. Ich hoffe, Mrs. Dombey«, fuhr er nach einer kurzen Pause fort, während der ihm in seinem sich steigernden Hochmut der Kamm geschwollen war, »ich werde es nicht nötig finden, Mr. Carker mit Vorstellungen oder Verweisen an Euch zu beauftragen. Da es aber meiner Stellung und meinem Ruf Abtrag tun würde, mich oft in ärmliche Streitigkeiten mit einer Dame einzulassen, der ich die höchste mir zu Gebot stehende Auszeichnung erwiesen habe, so werde ich kein Bedenken tragen, seine Dienste in Anspruch zu nehmen für den Fall, daß es mir passend erscheint.«

»Und nun«, dachte er, in seiner moralischen Größe sich steifer und unnahbarer als je erhebend, »kennt sie mich und meinen Entschluß.«

Die Hand, die so ungestüm an der Armspange gezerrt hatte, legte sich jetzt schwer auf ihre Brust. Aber sie sah noch immer mit unverändertem Gesicht nach ihm hin und sagte mit gedämpfter Stimme:

»Halt! um Gotteswillen! Ich muß mit Euch sprechen.«

Warum hatte sie das nicht schon einige Minuten früher getan, und durch welchen innern Kampf war sie dazu unfähig geworden? In dem starren Zwang, den sie ihren Zügen auflegte, erschien ihr Gesicht so unbeweglich, wie das einer Statue – und sie schaute nach ihm hin, weder Nachgebung noch Unbeugsamkeit, weder Liebe noch Haß, weder Stolz noch Demut, nichts als einen spähenden Ausdruck in ihren Blick legend.

»Habe ich Euch je verlockt, meine Hand zu suchen? Habe ich irgendeinen Kunstgriff aufgeboten, um Euch zu gewinnen? War ich zur Zeit, als Ihr mich verfolgtet, einladender gegen Euch, als ich während unserer Ehe gewesen bin? Habe ich mich Euch je anders gezeigt, als wie ich bin?«

»Es ist völlig unnötig, Madame«, sagte Mr. Dombey, »auf solche Erörterungen einzugehen.«

»Glaubtet Ihr, ich liebe Euch? Wußtet Ihr das Gegenteil? Mensch, habt Ihr Euch je gekümmert um mein Herz oder die Absicht gehabt, dieses wertlose Ding zu gewinnen? Kam es überhaupt bei unserm Handel nur zur Sprache – auf Eurer Seite oder auf der meinen?«

»Diese Fragen führen ganz und gar von der Sache ab, Madame«, entgegnete Mr. Dombey.

Sie trat zwischen ihn und die Tür, um sein Fortgehen zu hindern, richtete ihre majestätische Gestalt in voller Höhe auf und blickte ihn noch immer fest an.

»Ihr beantwortet jede derselben. Ich sehe, Ihr beantwortet sie, noch ehe ich gesprochen habe. Wie sollte ich auch etwas anderes von Euch erwarten, der Ihr die unglückliche Wahrheit so gut kennt wie ich? Aber redet. Wenn ich Euch aus der Tiefe meiner Seele liebte, könnte ich mehr tun, als mein ganzes Sein und Wollen an Euch hingeben, wie Ihr eben verlangt habt? Wenn mein Herz in reiner Unerfahrenheit in Euch seinen Abgott sehen würde, könntet Ihr mehr fordern – könntet Ihr überhaupt mehr besitzen?«

»Vielleicht nicht, Madame«, versetzte er mit Kälte.

»Ihr wißt, wie ganz anders es bei mir steht. Ihr seht jetzt meinen Blick auf Euch haften und könnt in meinem Gesicht die Wärme der Leidenschaft lesen, die in mir für Euch atmet.« Kein Aufwerfen der stolzen Lippe, kein Blitzen des dunkeln Auges, nichts als derselbe spähende Blick begleitete diese Worte. »Ihr kennt im allgemeinen meine Geschichte. Ihr habt von meiner Mutter gesprochen. Glaubt Ihr, Ihr könnet mich zu Unterwerfung und Gehorsam herabwürdigen – mich beugen oder brechen?«

Mr. Dombey lächelte, wie er vielleicht auf die Frage gelächelt haben würde, ob er glaube, daß er zehntausend Pfund beschaffen könne.

»Wenn hierin etwas Ungewöhnliches liegt«, sagte sie, indem sie mit der Hand über die Stirn fuhr, ohne jedoch auch nur einen Augenblick ihren unbeweglichen und im übrigen ausdruckslosen Blick zu ändern, – »ich weiß, daß es hier ungewöhnliche Gefühle gibt«, – sie drückte die Hand auf ihre Brust und ließ sie dann wieder sinken, »so vergeßt nicht, daß in der Aussprache, die ich an Euch richten will, keine gewöhnliche Bedeutung liegt. Ja, ich habe wirklich im Sinn«, fügte sie wie in schneller Antwort auf etwas in seinem Gesicht bei, »eine Aussprache an Euch ergehen zu lassen.«

Mit einem leichten, herablassenden Senken seines Kinns, so daß die steife Halsbinde rauschte und krachte, setzte sich Mr. Dombey auf ein nahestehendes Sofa nieder, um ihren Worten Gehör zu schenken.

»Wenn Ihr glauben könnt, mein Wesen sei von der Art« – er meinte in ihren Augen Tränen glänzen zu sehen und wähnte selbstgefällig, er habe sie ihr entrungen, obschon keine auf ihre Wange niederfiel und sie ihn so fest wie je im Auge behielt – »daß meine nunmehrigen Worte, zu jedem Wann gesprochen, der mein Gatte geworden wäre, vor allem aber zu Euch gesprochen, mir selbst fast unglaublich erscheinen, so werdet Ihr vielleicht ein desto größeres Gewicht darauf legen. In das dunkle Ende, auf das wir lossteuern und dem wir wahrscheinlich nicht entrinnen, werden wir nicht bloß uns – denn dies wäre nicht viel –, sondern auch andere verstricken.«

Andere! Er wußte, was sie damit sagen wollte, und runzelte finster die Stirn.

»Ich spreche zu Euch um anderer willen. Auch Euret- und meinetwegen. Seit unserer Verheiratung seid Ihr anmaßend gegen mich gewesen, und ich habe Euch mit gleicher Münze bezahlt. Jeden Tag, jede Stunde zeigtet Ihr mir und unserer ganzen Umgebung, Ihr dächtet, daß ich durch den Bund mit Euch geehrt und ausgezeichnet sei. Ich bin nicht dieser Ansicht und habe es Euch auch gezeigt. Es scheint, Ihr begreifet nicht, oder es liege, soweit Eure Macht reicht, nicht in Eurer Absicht, daß jeder von uns einen gesonderten Weg gehen müsse, und erwartet statt dessen von mir eine Huldigung, zu der ich mich nie herablassen werde.«

Obschon ihr Gesicht wandellos dasselbe blieb, lag doch eine nachdrückliche Bekräftigung dieses »Nie« sogar in ihren Atemzügen.

»Ich fühle keine Liebe zu Euch: dies wißt Ihr. Wäre es der Fall, oder könnte ich es, so würdet Ihr Euch nicht darum kümmern. Ich weiß ebensogut, daß auch Ihr keine Liebe zu mir hegt. Doch wir sind aneinander gefesselt, und in den Knoten, der uns bindet, sind, wie gesagt, auch andere eingeschlossen. Wir beide müssen sterben; wir beide stehen bereits mit dem Jod in Verbindung, jedes von uns durch ein kleines Kind. Laßt uns gegenseitig nachsichtig sein!«

Mr. Dombey atmete tief auf, als wollte er sagen: »O, ist das alles?«

»Es gibt keinen Reichtum«, fuhr sie fort, und ihr Antlitz wurde blasser, während ihre auf ihm haftenden Augen einen erhöhten Glanz zeigten, »der mir diese Worte und den Sinn, der darin liegt, abkaufen könnte. Einmal weggeworfen als eitler Hauch, ist kein Reichtum und keine Macht mehr imstande, sie zurückzubringen. Es ist mir feierlich ernst damit: ich habe sie abgewogen und werde treulich an dem halten, was ich mir vornehme. Wenn Ihr mir Eurerseits Nachsicht versprechen wollt, so gebe ich Euch für mich dieselbe Zusage. Wir sind ein höchst unglückliches Paar, in dem aus verschiedenen Ursachen jedes Gefühl ausgerottet ist, das die Ehe rechtfertigt oder zu einem Segen macht. Gleichwohl könnte im Lauf der Zeit einige Freundschaft oder ein wenig gegenseitiges Anbequemen zu erzielen sein. Ich will versuchen, dies zu hoffen, wenn Ihr Euch gleichfalls Mühe geben wollt. Vielleicht mache ich von den Jahren meiner Reife einen besseren und glücklicheren Gebrauch, als das mit der Zeit meiner Jugend und meiner Blüte der Fall war.«

Sie hatte stets mit gedämpfter, einfacher Stimme gesprochen, die sich weder hob noch fiel. Nachdem sie zu Ende war, ließ sie die Hand sinken, auf die sie sich in ihrer leidenschaftslosen, bestimmten Gegenrede gestützt hatte, obschon ihr Auge sich nicht von ihm wandte.

»Madame«, versetzte Mr. Dombey mit seiner geschraubtesten Würde, »ich kann nicht auf einen so außerordentlichen Vorschlag eingehen.«

Sie sah ihn noch immer an ohne den mindesten Wechsel.

»Ich will in unserer Angelegenheit«, fuhr Mr. Dombey fort, indem er sich von seinem Sitz erhob, »über die Ihr meine Ansichten und Erwartungen vernommen habt, Mrs. Dombey, nicht zaudern oder mit Euch unterhandeln. Ihr habt mein Ultimatum vernommen, Madame, und ich muß Euch nur ersuchen, ihm Eure ernstlichste Aufmerksamkeit zuzuwenden.«

Wie ihr Gesicht den alten Ausdruck wieder annahm, nur vertieft in seiner Stärke! Wie ihre Augen sich senkten, als wollten sie den Anblick eines gemeinen, häßlichen Gegenstandes vermeiden! Welch ein Wetterleuchten auf der stolzen Stirn! Welche unwillige Verachtung, welcher entrüstete Abscheu, als der blasse, gleichförmige Ernst gleich einem Nebel verschwand! Er konnte alledem nicht ausweichen, obschon der Anblick unheimlich auf ihn wirkte.

»Geht, Sir!« sagte sie, mit gebieterischer Hand nach der Tür weisend. »Das erste und das letzte Vertrauen, das zwischen uns stattgefunden hat, ist zu Ende. Nichts kann uns fortan fremder gegeneinander machen, als wir es sind.«

»Madame«, versetzte Mr. Dombey, »verlaßt Euch darauf, daß ich, uneingeschüchtert durch allgemeine Deklamationen, den Weg gehen werde, zu dem ich berechtigt bin.«

Sie wandte ihm den Rücken zu und setzte sich, ohne ihm eine Antwort zu geben, vor ihrem Spiegel nieder.

»Ich hoffe, Ihr werdet Euch eines Besseren besinnen und mehr Eure Pflicht ins Auge fassen, Madame«, sagte Mr. Dombey.

Keine Silbe von ihren Lippen. Der Ausdruck, den ihr vom Spiegel zurückgeworfenes Gesicht ihm zeigte, gab so wenig Rücksicht auf ihn kund, als wäre er eine unbemerkte Spinne an der Wand oder ein Käfer auf dem Boden gewesen. Ja, als sie sich endlich von ihm abwandte, sah sie sogar aus, als hätte sie ihn wie das erwähnte ekelhafte Ungeziefer zertreten und für immer vergessen können.

Während er zur Tür hinausging, schaute er noch einmal auf das hell erleuchtete, reiche Zimmer, die überall umherliegenden schönen, funkelnden Gegenstände, die in ihrem kostbaren Gewand vor dem Spiegel sitzende Gestalt Ediths und das Gesicht zurück, das sich ihm im Spiegel zeigte. Dann begab er sich nach seinem alten Gedankenstübchen, von allen diesen Dingen im Geiste ein lebhaftes Bild mit fortnehmend und sich in unsteten Grübeleien ergehend, wie sie wohl aussehen dürften, wann er das nächste Mal ihrer ansichtig würde.

Im übrigen verhielt sich Mr. Dombey sehr schweigend und würdevoll, zuversichtlich darauf bauend, daß er sein Vorhaben durchsetzen könne. In dieser Stimmung beharrte er.

Er hatte nicht im Sinn, die Familie nach Brighton zu begleiten, sondern teilte am Morgen der Abreise, die ein paar Tage nach dem vorerwähnten Auftritt stattfinden sollte, Kleopatra beim Frühstück in Gnaden mit, daß man ihn bald erwarten dürfe. Es war hohe Zeit, Kleopatra nach einem Ort zu bringen, der als gesund empfohlen wurde, denn sie schien wahrhaft im letzten Viertel der Erdenlaufbahn zu stehen.

Ohne gerade einen entschiedenen zweiten Anfall erlitten zu haben, war es doch von ihrer ersten Genesung an mehr und mehr rückwärts mit ihr gegangen. Sie wurde sichtlich noch magerer und welker, ihre Geistesschwäche nahm zu, und ihr Gedächtnis verwirrte sich in der befremdlichsten Weise. Unter andern Anzeichen dieses letzteren Leidens verfiel sie in die Gewohnheit, die Namen ihrer beiden Schwiegersöhne, des lebenden und des toten, wirr durcheinander zu bringen, so daß sie in der Regel Mr. Dombey entweder »Grangeby« oder »Domber« nannte, bei Gelegenheit wohl auch beide Namen ohne Unterschied auf ihn anwendete.

Aber sie war jugendlich, noch sehr jugendlich, und so erschien sie auch vor ihrer Abreise in einem ausdrücklich bestellten Hut und in einem Reisekleid, das wie das eines alten Wickelkindes verbrämt und gestickt war, beim Frühstück. Es war nicht leicht, ihr das flugfertige Hütchen aufzusetzen oder es an der Hinterseite ihres armen, nickenden Kopfes festzuhalten, wenn es einmal angebracht war. Im gegenwärtigen Fall übte es nur die nicht sachgemäße Wirkung, daß es immer auf die eine Seite hing und stets von Flowers, der Zofe, die zu Verrichtung dieses Dienstes während des Frühstücks im Hintergrunde stand, an den Kopf zurückgedrückt werden mußte. »Mein teuerster Grangeby«, sagte Mrs. Skewton, »Ihr müßt uns versp–« sie schnitt manche ihrer Worte kurz ab und ließ andere gar aus – »recht bald hinunterzukommen.«

»Ich habe Euch bereits gesagt, Madame«, versetzte Mr. Dombey laut und mühsam, »daß ich mich nach einem oder zwei Tagen einfinden werde.«

»Gott segne Euch, Dombey!«

Jetzt ergriff der Major, der gekommen war, um sich von den Damen zu verabschieden, und mit der uneigennützigen Ruhe eines unsterblichen Wesens durch seine schlagflüssigen Augen Mrs. Skewtons Gesicht musterte, das Wort:

»Alle Welt, Ma’am, Ihr ladet den alten Joe nicht ein, Euch zu besuchen?«

»Scheußlicher Wicht, von wem spricht er denn?« lispelte Kleopatra. Ein Klopfen auf dem Hut von seiten Flowers schien jedoch ihr Gedächtnis anzuspornen, und sie fügte bei: »O, Ihr meint Euch, Ihr garstiges Geschöpf!«

»Verteufelt seltsam, Sir«, flüsterte der Major Mr. Dombey zu. »Schlimmer Fall. Nie warm genug gekleidet.« Der Major war bis an das Kinn zugeknöpft. »Ei, wen sollte J. B. unter Joe anders meinen, als den alten Joe Bagstock – Joseph – Euern Sklaven – Joe, Ma’am? Hier! hier ist der Mann! hier sind Bagstocks Blasebälge, Ma’am!« rief der Major, sich einen dröhnenden Schlag auf die Brust versetzend.

»Meine liebe Edith – Grangeby – es ist ganz’erordentlich«, sagte Kleopatra verdrießlich, »daß Major –«

»Bagstock! J. B.« rief der Major, als er bemerkte, daß sie um seinen Namen verlegen war.

»Nun, es liegt nichts daran«, sagte Kleopatra, »Edith, meine Liebe, du weißt, daß ich mir die Namen nie merken konnte. Was wollte ich doch sagen? O! ganz ‚erordentlich, daß so viele Leute mich da drunten zu besuchen wünschen. Ich gehe nicht auf lange. Ich komme wieder zurück. Sicherlich können sie warten, bis ich wieder hier bin!«

Kleopatra sah sich bei diesen Worten am ganzen Tisch um und schien sehr unruhig zu sein.

»Ich wünsche keine Besuche – brauche in der Tat keine Besuche«, sagte sie: »ein wenig Ruhe – und dergleichen – ist alles, was ich nötig habe. Keine garstige Bären dürfen mir kommen, bis ich diese Taubheit ’schüttelt habe.«

Und in greulicher Wiederaufnahme ihres koketten Wesens führte sie mit ihrem Fächer einen Stoß nach dem Major, traf aber statt dessen die in ganz anderer Richtung stehende Kaffeetasse des Mr. Dombey, die unter diesem Angriff überstürzte.

Dann beschied sie Withers vor und trug ihm auf, ja nicht zu vergessen, daß einige kleine Veränderungen in ihrem Zimmer vorgenommen werden sollten, die fertig sein müßten, ehe sie wieder zurückkomme. Er habe dies augenblicklich zu besorgen, da man nicht wissen könne, wie bald sie wieder hier sei; denn sie habe bei allerlei Personen so gar viele Besuche zu machen. Withers nahm diese Weisungen mit geziemender Ehrerbietung entgegen und verbürgte sich für ihre pünktliche Besorgung. Als er aber um einen oder zwei Schritte hinter ihr zurücktrat, schien es, als müsse er noch einen eigentümlichen Blick dem Major zuwerfen, der seinerseits gleichfalls mit einem eigentümlichen Ausdruck nach Mr. Dombey hinsah. Von diesem Beispiel angesteckt, betrachtete letzterer Kleopatra auch in eigentümlicher Weise, während dieser guten Dame das Hütchen über das eine Auge niederfiel und das von ihr gebrauchte Besteck auf dem Teller klapperte, als ob sie mit Kastagnetten spiele.

Nur Edith erhob ihr Auge nie zu irgendeinem Gesicht an dem Tisch und schien auch durch nichts ängstlich gemacht zu werden, was ihre Mutter sagte oder tat. Sie hörte ihrem unzusammenhängenden Gerede zu oder wandte wenigstens den Kopf gegen sie, wenn die Worte ihr galten, gab im Notfall eine leise einsilbige Erwiderung, unterbrach sie bisweilen, wenn die alte Dame allzusehr faselte, oder führte ihre Gedanken durch eine kurze Bemerkung nach dem Punkt zurück, von dem aus sie abgeschweift waren. So unsicher die Mutter übrigens auch in andern Dingen geworden war, blieb sie doch darin beständig, daß sie fast kein Auge von ihr verwandte. Sie schaute in das schöne Gesicht mit seiner strengen marmornen Ruhe bald in einer Art furchtsamer Bewunderung, bald in einem kichernden, törichten Versuch, es zu einem Lächeln zu bewegen, bald mit launenhaften Tränen und eifersüchtigem Kopfschütteln, als halte sie sich für vernachlässigt, stets aber mit einem bestimmten Bezug auf Edith, und der wechselte nicht, wie ihre andern Gedanken, sondern wirkte beharrlich fort. Von Edith konnte sie bisweilen in einer Weise, die sich wild genug ausnahm, nach Florence hin und dann wieder nach Edith zurückblicken. Mitunter versuchte sie auch, anderswohin zu schauen, als wolle sie dem Antlitz ihrer Tochter ausweichen. Aber ihr Auge schien nach diesem zurückgedrängt zu werden, obschon Ediths Blick den ihren nie unaufgefordert suchte.

Das Frühstück war zu Ende. Mrs. Skewton tat in gezierter Mädchenhaftigkeit, als wolle sie sich auf den Arm des Majors lehnen, mußte aber auf der andern Seite von Flowers, der Zofe, und von hinten durch Withers, den Pagen, kräftig unterstützt werden. So geleitet, gelangte sie nach dem Wagen, der sie, Florence und Edith nach Brighton bringen sollte.

»Und ist Joseph unbedingt verbannt?« sagte der Major, sein Purpurgesicht zum Kutschenschlag hineinsteckend. »Beim Henker, Ma’am, ist Kleopatra so hartnäckig, ihrem treuen Antonius Bagstock zu verbieten, daß er in ihre Nähe komme?«

»Fort mit Euch!« versetzte Kleopatra. »Ich kann Euch nicht ausstehen. Wenn Ihr Euch recht wacker aufführt, könnt Ihr mich besuchen, wann ich wieder zurückkomme.«

»Sagt Joseph, er dürfe in Hoffnung leben, Ma’am«, erwiderte der Major; »oder er wird in Verzweiflung sterben.«

Kleopatra schauderte und lehnte sich zurück.

»Edith, meine Liebe«, rief sie, »sage ihm –«

»Was?«

»So schreckliche Worte«, sagte Kleopatra. »Er braucht so schreckliche Worte!«

Edith bedeutete ihm mit einem Wink, er möchte zurücktreten, gab das Zeichen zur Abfahrt und überließ den anstößigen Major Mr. Dombey, zu dem dieser pfeifend zurückkehrte.

»Ich will Euch was sagen, Sir«, begann der Major, der, die Hände auf den Rücken gelegt, seine Beine weit spreizte, »eine schöne Freundin von uns hat ihr Quartier in einer wunderlichen Straße aufgeschlagen.«

»Was meint Ihr damit, Major?« fragte Mr. Dombey.

»Nichts anders, Dombey«, erwiderte der Major, »als daß Ihr bald eine Schwiegerwaise sein werdet.«

Mr. Dombey schien diese scherzhafte Bezeichnung seiner Person so wenig zu gefallen, daß der Major mit dem Pferdehusten schloß.

»Gott verdamm mich, Sir«, sagte der Major, »es hilft nicht«, eine Tatsache zu bemänteln. Joe ist derb, Sir. Das liegt in seiner Natur. Wollt Ihr den alten Josh überhaupt haben, so müßt Ihr ihn nehmen, wie Ihr ihn findet; und Ihr werdet ein verteufelt rostiges altes Kratzeisen, eine scharfzahnige J.B.-Feile an ihm finden. Dombey«, fügte der Major bei, »die Mutter Eurer Gattin ist auf der Reise, Sir.«

»Ich fürchte«, versetzte Mr. Dombey mit philosophischer Ruhe, »daß Mrs. Skewton sehr leidend ist.«

»Leidend, Dombey?« entgegnete der Major. »Sie ist so gut wie hin.«

»Eine Luftveränderung übrigens«, fuhr Mr. Dombey fort, »und sorgfältige Pflege können noch viel tun.«

»Glaubt das nicht, Sir«, erwiderte der Major. »Hole mich der Kuckuck, sie hat sich nie warm genug gekleidet. Wenn man sich nicht ordentlich einhüllt«, fügte er hinzu, indem er einen weitern Knopf seiner hellgelben Weste zumachte, »so hat man nichts, auf was man sich verlassen könnte. Aber die Leute wollen sterben. Sie wollen es. Gott verdamm mich, sie wollen. Sie sind starrsinnig. Laßt Euch was sagen, Dombey. Vielleicht ist’s nicht gerade zierlich und fein ausgedrückt; vielleicht sogar rauh und zäh, aber ein bißchen von dem echten altenglischen Bagstock-Urstoff, Sir, würde in der ganzen Welt der menschlichen Zucht trefflich zustatten kommen.«

Nachdem der Major, der jedenfalls echt blau war, was für andere Eigenschaften er auch haben mochte, um in die echt altenglische Klassifikation eingereiht werden zu können – diesen großartigen Witz gemacht hatte, trug er seine Hummernaugen und seine Gicht nach dem Klub, wo er den ganzen Tag über hustete.

Kleopatra, die das eine Mal ärgerlich, dann wieder selbstgefällig, bisweilen wach und dann wieder schläfrig, zu allen Zeiten aber sehr jugendlich war, langte noch am nämlichen Abend in Brighton an, fiel wie gewöhnlich in Stücke und wurde zu Bett gebracht. Eine düstere Phantasie hätte sich wohl ein gewaltiges Gerippe vorstellen können, das den Dienst der Jungfer versah, wie es ja auch im Geiste dort lauerte unter den rosenfarbigen Vorhängen, die man mitgenommen hatte, damit sie ihren Abglanz auf Mrs. Skewton ergössen. In dem hohen Rate medizinischer Autoritäten war beschlossen worden, daß sie jeden Tag eine Spazierfahrt ins Freie machen sollte. Auch sei es sehr wichtig, daß sie täglich ein wenig gehe, wenn sie es könne. Edith war bereit, sie zu begleiten – stets dazu bereit mit derselben mechanischen Sorgfalt und unbeweglichen Schönheit – und sie fuhren allein aus; denn nun es mit ihrer Mutter schlechter wurde, fühlte sich Edith unruhig in Florences Nähe, weshalb sie derselben mit einem Kusse sagte, es wäre ihr lieber, wenn sie beide allein blieben.

Eines Tages befand sich Mrs. Skewton ganz besonders in jener unschlüssigen, gewalttätigen, eifersüchtigen Stimmung, die nach ihrer Genesung von dem ersten Anfall sich ausgebildet hatte. Als sie eine Weile schweigend in dem Wagen gesessen und Edith angesehen hatte, ergriff sie deren Hand und küßte sie leidenschaftlich. Die Hand wurde weder gegeben noch zurückgezogen, sondern verhielt sich leidend und sank, sobald sie frei gelassen war, gleichsam empfindungslos wieder nieder. Hierauf begann Mrs. Skewton zu wimmern und zu stöhnen; sie klagte, was sie für eine Mutter gewesen und wie sie jetzt so ganz und gar vergessen sei. Dies währte in launenhaften Zwischenräumen lange fort, als sie ausgestiegen waren und Mrs. Skewton, von Withers und einem Stocke unterstützt, neben Edith herging, während der Wagen langsam in einiger Entfernung nachfolgte.

Es war ein düsterer, kalter, windiger Tag, und sie befanden sich auf den Dünen, wo nur ein kahler Streifen Landes zwischen ihnen und dem Himmel lag. Die Mutter, die sich in der Eintönigkeit ihrer Klagen gefiel und diese von Zeit zu Zeit mit gedämpfter Stimme wiederholte, ging langsam neben der stolzen Gestalt ihrer Tochter her, bis sie über einen dunkeln Hügelrücken weggekommen waren, wo sie in einiger Entfernung ein paar Gestalten erblickten, in denen Edith eine so treffende karikierte Nachbildung ihrer selbst erkannte, daß sie stehen blieb.

In demselben Augenblick machten auch die zwei Personen halt. Die eine, die Edith wie ein verzerrter Schatten ihrer Mutter vorkam, sprach angelegentlich mit der andern und deutete nach ihnen herüber. Sie schienen geneigt zu sein, umzukehren. Aber die andere, in der Edith eine so große Ähnlichkeit mit sich selbst bemerkte, daß sie von einem ungewöhnlichen, mit Furcht untermengten Gefühl überwältigt wurde, kam heran, während ihre Begleiterin sich an sie anschloß.

Edith hatte das meist während des Gehens bemerkt, da sie nur für einen Augenblick stehengeblieben war. Eine nähere Betrachtung zeigte ihr, daß die beiden Personen nach Weise herumziehenden Landvolkes sehr ärmlich gekleidet waren. Die jüngere Frau trug Strickwaren und ähnliche Gegenstände zum Verkauf bei sich, die Alte aber mühte sich mit leeren Händen weiter.

Welcher Abstand auch in Kleidung, Würde und Schönheit vorhanden war, Edith konnte doch nicht anders, als noch immer die jüngere Frau mit sich selbst zu vergleichen. Möglich, daß sie auf ihrem Gesicht auch einige Züge sah, die, wie sie wußte, in ihrer eigenen Seele harrten, wenn sie sich auch nicht äußerlich kund gaben. Als aber die Fremde herankam, in Erwiderung von Ediths Blick ihre leuchtenden Augen auf sie heftete und, in Haltung und Statur ihr so ganz ähnlich, sogar mit ihren Gedanken in eine Wechselbeziehung zu treten schien, – da überflog das schönere Gegenbild der Unbekannten ein Frösteln, als ob der Tag sich in Nacht hülle und der Wind kälter werde.

Die Fremden waren nun ganz herangekommen. Die Alte streckte zudringlich ihre Hand aus und blieb stehen, um bei Mrs. Skewton zu betteln. Auch die jüngere machte halt. Sie und Edith sahen sich gegenseitig in die Augen.

»Was habt Ihr zu verkaufen?« fragte Edith.

»Nur dies«, versetzte die Angeredete, indem sie ihre Waren feilbot, ohne danach hinzusehen. »Mich selbst habe ich längst verkauft.«

»Meine Lady, glaubt ihr nicht«, krächzte die Alte Mrs. Skewton zu: »glaubt nicht, was sie sagt. Es macht ihr Freude, so zu sprechen. Sie ist meine schöne, undankbare Tochter und überhäuft mich nur mit Vorwürfen, meine Lady, für alles, was ich an ihr getan habe. Schaut sie nur an, meine Lady, welche Blicke sie ihrer armen alten Mutter zuwirft.«

Als Mrs. Skewton mit zitternder Hand ihre Börse herauszog, um daraus hastig etwas Geld zu nehmen, dem die andere Alte mit Gier entgegensah, – in ihrer Hast und Gebrechlichkeit berührten sich beinahe die beiden Köpfe – nahm Edith wieder das Wort.

»Ich habe Euch schon früher gesehen«, sagte sie zu der Alten.

»Ja, meine Lady«, entgegnete die Alte mit einem Knix. »In Warwickshire drunten. An jenem Morgen unter den Bäumen. Als Ihr mir nichts geben wolltet. Aber der Gentleman – er gab mir etwas. O, vergelt ihm, vergelt es ihm Gott!« murmelte die Alte, indem sie ihre runzelige Hand hinhielt und fürchterlich nach ihrer Tochter hingrinste. »Versuch‘ nicht, mich zurückzuhalten, Edith!« sagte Mrs. Skewton, verdrießlich einer Einwendung ihrer Tochter vorgreifend. »Du verstehst nichts davon, und ich lasse mir nicht abraten. Das ist bestimmt eine treffliche Frau und eine gute Mutter.«

»Ja, meine Lady, ja«, plapperte die Alte, ihre habgierige Hand ausstreckend. »Danke, meine Lady. Gott vergelte es Euch, meine Lady. Wieder sechs Pence, meine hübsche Lady. O, Ihr seid zuverlässig selbst eine gute Mutter.«

»Und ich versichere Euch, mein gutes altes Geschöpf, eine Mutter, die bisweilen gleichfalls undankbar genug behandelt wird«, versetzte Mrs. Skewton wimmernd. »Da! gebt mir Eure Hand. Ihr seid ein sehr gutes Geschöpf – voll, von wie nennt man’s doch – und dergleichen. Ihr seid ganz Liebe et cetera – ist es nicht so?«

»O ja, meine Lady!«

»Ich wußte es, und so ist auch jener kavalierhafte Mensch, Grangeby. Ich muß Euch in der Tat noch einmal die Hand drücken. So, jetzt könnt Ihr gehen; und ich hoffe«, sie wandte sich dabei an die Tochter, »Ihr werdet fortan mehr Dankbarkeit, natürliches wie nennt man’s doch und all dergleichen mehr – ach, ich kann mir die Namen nie merken – zeigen, denn es hat nie eine bessere Mutter gegeben, als das gute alte Geschöpf da gegen Euch gewesen ist. Komm, Edith!«

Während die Ruine der Kleopatra wimmernd weiter wankte und sich sentimental und vorsichtig wegen des aufgelegten Rots die Augen wischte, humpelte die Alte, die ihr Geld zählte, mit wackelndem Kinn nach der entgegengesetzten Richtung weiter. Kein Wort, keine Gebärde weiter war zwischen Edith und der jüngeren Frau ausgetauscht worden. Aber sie hatten keinen Augenblick die Augen von einander verwandt. So blieben sie sich gegenüber stehen, bis Edith, wie aus einem Traum erwachend, langsam weiter ging.

»Ihr seid eine schöne Frau«, murmelte ihr Schatten, der ihr nachblickte; »aber das gute Aussehen wird Euch nicht retten. Und Ihr seid eine stolze Frau; aber auch der Stolz wird Euch nicht retten. Wir werden einander wohl kennen, wenn wir uns wiedersehen!«

Einundvierzigstes Kapitel.


Einundvierzigstes Kapitel.

Neue Stimmen auf den Wellen

Alles geht seinen gewohnten Gang. Die Wellen sind heiser von der Wiederholung ihres Geheimnisses; der Sand häuft sich am Ufer auf. Die Seevögel streichen durch die Luft; Winde und Wolken jagen dahin, ohne eine Spur zurückzulassen, und die weißen Wogenarme winken in dem Mondlicht nach dem weit entlegenen unsichtbaren Lande.

Mit wehmütiger Freude ist Florence wieder an der alten, früher mit Trauer betretenen Stätte. Sie fühlt sich glücklich, wenn ihre Gedanken den Bruder nach dem ruhigen Plätzchen zurückrufen, wo er und sie so oft miteinander gesprochen hatten, während die Wellen um sein Lager her spielten. Auch jetzt, wie sie so gedankenvoll dasitzt, hört sie in dem wilden, dumpfen Gemurmel des Meeres eine Wiederholung seiner kleinen Geschichte, ja sogar seiner Worte. Sie findet, daß all ihr seitheriges Leben, Hoffen und Grämen – in dem einsamen Hause sowohl, wie in dem Palast, in den es sich verwandelt hat – zu dem Schlußreim jenes wunderbaren Liedes gehört.

Und der schüchterne Mr. Toots, der in der Ferne wandert, sehnsüchtig nach der von ihm angebeteten Gestalt hinblickt und ihr hierher gefolgt ist, obschon er es in seinem Zartgefühl nicht über sich gewinnen kann, sie zu einer solchen Zeit zu stören – vernimmt gleichfalls das Requiem des kleinen Dombey auf den Wellen, die mit den Pausen in ihrem ewigen Loblied auf Florence steigen und fallen. Ja, und der arme Mr. Toots begreift einigermaßen, daß sie etwas sagen von einer Zeit, in der sein Kopf noch lichter und nicht so umnebelt war, und die Tränen, die sich in seinen Augen heben, wenn er fürchtet, er sei jetzt blöde, dumm und zu nichts gut, als um verlacht zu werden, mindern in ihrem beschwichtigenden Mahnen seine Zufriedenheit darüber, daß er für den Augenblick aller Verantwortlichkeit gegen den Preishahn enthoben ist, weil besagter Ehrenmann eben auf Toots‘ Kosten eine Landpartie gemacht hat, um mit dem Larkeyjungen anzubinden.

Aber Mr. Toots faßt Mut; denn die Wellen flüstern ihm einen freundlichen Gedanken zu, und mit langsamen Schritten, wobei er oft unschlüssig haltmacht, nähert er sich Florence. Er ist zwar ihrem Reisewagen auf dem ganzen Wege von London Meile für Meile gefolgt, da ihm sogar der erstickende Staub seiner Räder teuer ist. Trotzdem drückt er, sobald er ihr nahe gekommen, unter Erröten stammelnd, sein Erstaunen aus, daß er sie sieht, und sagt, er sei in seinem ganzen Leben nie so überrascht gewesen.

»Und Ihr habt auch Diogenes mitgebracht. Miß Dombey?« sagt Mr. Toots, und ein Prickeln durchfliegt seinen ganzen Körper bei der Berührung der kleinen Hand, die ihm so lieblich und unverhohlen dargeboten wird.

Ohne Zweifel ist Diogenes da und ohne Zweifel hat Mr. Toots allen Grund, ihn zu bemerken, denn er fährt geradewegs auf die Beine des jungen Gentleman los und überpurzelt sich in der Verzweiflung, mit der er seinen Angriff macht. Aber seine holde Gebieterin hält ihn zurück.

»Nieder Di, nieder. Erinnerst du dich nicht mehr, wer uns zuerst miteinander bekannt gemacht hat, Di? Pfui, schäme dich!«

Ach, wohl hat Di Ursache, schmeichelnd seine Nase unter ihre Hand zu schieben, fort, wieder zurück und um sie her zu laufen, zu bellen und köpflings auf jeden Herankommenden loszustürzen, damit er seine Ergebenheit zeige. Mr. Toots würde gleichfalls köpflings auf jeden Menschen losgerannt sein. Ein Offizier geht vorbei, und Mr. Toots wäre nichts lieber gewesen, als wenn er hätte voll gegen ihn anrennen können.

»Diogenes fühlt sich wieder in seiner heimischen Luft – meint Ihr nicht, Miß Dombey?« fragte Mr. Toots.

Florence gibt mit einem anmutigen Lächeln ihre Zustimmung.

»Miß Dombey«, sagt Mr. Toots, »ich bitte um Verzeihung; aber wenn Ihr einen Besuch bei Blimbers machen möchtet, ich – ich gehe hin.«

Ohne ein Wort zu sprechen, legt Florence ihren Arm in den seinigen und sie gehen miteinander weiter, Diogenes voraus. Mr. Toots zittern die Knie, und obgleich er prächtig gekleidet ist, fühlt er sich doch unbehaglich und sieht Runzeln auf den Meisterwerken von Burgeß und Co. Er wünscht, daß er sein glänzendstes Paar Stiefel angezogen hätte.

Das Äußere von Mr. Blimbers Hause erscheint noch ebenso schulmeisterlich und akademisch, wie nur je; und dort oben ist das Fenster, wo sie nach dem blassen Gesicht hinaufzuschauen pflegte, wo das blasse Gesicht sich erheiterte, wenn es sie gewahrte, und wo die abgezehrte kleine Hand ihr Küsse zuwarf, wenn sie vorüberging. Die Tür wird durch denselben kurzsichtigen Mann geöffnet, in dessen ausdruckslosem Grinsen beim Anblick von Mr. Toots sich die verkörperte Geistesschwäche kundgibt. Sie werden nach dem Studierzimmer des Doktors gewiesen, wo ihnen der blinde Homer und Minerva wie ehedem zu dem nüchternen Ticken der großen Wanduhr in der Halle Audienz erteilt und wo die Erd- und Himmelskugeln noch immer an ihren gewohnten Plätzen stehen, als sei auch die Welt stillgestanden und nie etwas darin nach dem allgemeinen Gesetz, daß auf dem rollenden Erdball alles zur Erde abruft, zugrunde gegangen.

Doktor Blimber ist da mit seinen gelehrten Beinen. Mrs. Blimber ist da mit ihrer himmelblauen Haube. Und Cornelia ist da mit ihrer gelben kleinen Lockenreihe und ihrer glänzenden Brille, noch immer wie ein Totengräber in den Gräbern der Sprachen arbeitend. Dort steht der Tisch, auf dem fremd und verlassen der »neue Knabe« der Schule saß, und man hört das ferne Getümmel der alten Knaben, wie sie sich nach dem alten Grundsatz in der alten Stube umtreiben.

»Toots«, sagt Doktor Blimber. »Es freut mich sehr, Euch zu sehen, Toots.«

Mr. Toots kichert zur Erwiderung.

»Und Euch noch dazu in so guter Gesellschaft zu sehen, Toots«, sagt Doktor Blimber.

Mr. Toots setzt mit einem puterroten Gesicht auseinander, daß er zufällig mit Miß Dombey zusammengetroffen sei, und daß Miß Dombey gleich ihm gewünscht habe, die alte Stätte zu sehen. Dies der Grund, warum sie miteinander kämen.

»Ohne Zweifel möchtet Ihr, Miß Dombey«, sagt Doktor Blimber, »unter unsere jungen Freunde treten. Lauter vormalige Studiengenossen von Euch, Toots. Ich glaube, meine Liebe«, fügt er gegen Cornelia bei, »es sind in unserer kleinen Akademie keine neuen Schüler, seit Mr. Toots uns verlassen hat.«

»Bitherstone ausgenommen«, entgegnete Cornelia.

»Ja, richtig«, sagte der Doktor. »Bitherstone ist für Mr. Toots neu.«

Auch für Florence ist er es beinahe; denn der Bitherstone in der Schulstube – nicht länger Master Bitherstone bei Mistreß Pipchin – zeigt sich in Vatermördern und Halsbinde und trägt eine Uhr. Aber der unter einem schlimmen bengalischen Stern geborene Bitherstone ist ungemein tintig und sein Wörterbuch hat von dem beharrlichen Gebrauch ein so wassersüchtiges Aussehen, daß es nicht mehr schließen will und in einer Weise gähnt, als könne es die langweilige Behandlung nicht länger aushalten. Seinem Herrn, Bitherstone selbst, auf dem Doktor Blimbers Hochdruck lastet, ergeht es ebenso. Aber in seinem Gähnen liegt ein boshaftes Kläffen, und man hat ihn sagen hören, er wünsche nur, daß er den »alten Blimber« einmal in Indien erwische. Er wolle ihn dann bald durch einige von seinen (Bitherstones) Kulis landaufwärts geschafft und den Thugs2 überantwortet haben – das sage er ihm zum voraus.

Briggs mahlt noch immer in der Mühle der Wissenschaft; auch Tozer, Johnson und alle übrigen. Die älteren Zöglinge sind eifrig damit bemüht, wieder zu vergessen, was sie in jüngeren Jahren gelernt haben. Alle sind so geschniegelt und blaß, wie nur je, und unter ihnen ist Mr. Feeder, B.A., mit seiner knöchernen Hand und dem stoppeligen Haarwuchs der alte Treiber. Der Herodot ruht für den Augenblick, und seine übrigen Waffen liegen auf dem Sims hinter ihm.

Selbst unter diesen ernsten jungen Leuten erregt ein Besuch des emanzipierten Toots gewaltiges Aufsehen. Man betrachtet ihn mit einer Art Ehrfurcht als einen Menschen, der den Rubikon überschritten und geschworen hat, nie wieder zurückzukommen. Was aber den Schnitt seiner Kleider und seinen Schmuck betrifft, so flüstert man sich gegenseitig hinter den Händen erstaunte Bemerkungen zu. Der gallsüchtige Bitherstone, der nicht aus der Zeit des Mr. Toots stammt, tut gegen die kleineren Knaben, als verachte er einen derartigen Schmuck, und sagt, er wisse das besser; man solle ihn nur einmal in Bengalen besuchen, wo seine Mutter einen ihm gehörigen Smaragd habe, der aus dem Fußschemel eines Raja genommen sei.

Auch der Anblick Florencens weckt berückende Gefühle, und jeder junge Gentleman verliebt sich augenblicklich wieder in sie, den vorerwähnten gallsüchtigen Bitherstone ausgenommen, der aus hellem Widerspruchsgeist nichts davon wissen will. Gegen Mr. Toots erhebt sich bittere Eifersucht, und Briggs ist der Meinung, daß Toots im Grunde nicht mal alt genug sei. Aber diese beschimpfende Andeutung wird schleunigst durch Mr. Toots zunichte gemacht, der laut zu Mr. Feeder B.A. sagt: »Wie geht’s Euch, Feeder?« und ihn auf heute abend zu einem Diner nach dem Bedford einlädt. Kraft dieser Großtat hätte er sich anstandslos für den alten Parr ausgeben können, wenn es ihm darum zu tun gewesen wäre.

Es gibt viele Händedrücke, viele Verbeugungen, und bei jedem jungen Gentleman macht sich der sehnliche Wunsch bemerklich, Toots in Miß Dombeys Gunst auszustechen. Nachdem Mr. Toots sein altes Pult mit Kichern begrüßt hat, zieht er sich mit Florence, Mistreß Blimber und Cornelia wieder zurück. Er ist der letzte, der herauskommt, und hört noch, während er die Tür schließt, Doktor Blimber sagen: »Meine Herren, wir wollen jetzt unsere Studien wieder aufnehmen.« Denn dieses und nicht viel mehr ist es, was der Doktor die Wellen sagen hört oder sein ganzes Leben über aus ihrem Sprechen verstand.

Florence schleicht sich dann fort und geht mit Mrs. Blimber und Cornelia nach dem alten Schlafstübchen hinauf. Mr. Toots, der fühlt, daß weder er, noch sonst jemand dort nötig ist, steht unter der Tür des Studierzimmers und spricht mit dem Doktor, oder hört vielmehr dem Sprechen des Doktors zu. Dabei wundert er sich, wie er besagtes Studierzimmer je für ein großes Heiligtum und den Doktor mit seinen krummen Beinen, als wäre dieser eine geistliche Orgel, für einen furchtbaren Mann hatte halten können. Florence kommt bald wieder herunter und verabschiedet sich. Auch Mr. Toots nimmt Abschied, und Diogenes, der die ganze Zeit über dem kurzsichtigen jungen Mann aufs erbarmungsloseste zugesetzt hatte, schießt zur Tür hinaus, um in frohem Trotz über die Klippe hinunter zu bellen. Melia und eine andere von des Doktors weiblichen Dienstboten sehen zu einem oberen Fenster heraus, lachen ›über den Toots da‹ und sagen von Miß Dombey: ›Wahrhaftig, gleicht sie nicht ihrem Bruder, nur daß sie hübscher ist?‹

Mr. Toots, der nach Florences Wiedereintreten Tränen auf ihrem Gesicht bemerkt hat, ist verzweifelt ängstlich und unruhig und fürchtet anfangs sogar, er habe unrecht getan, indem er ihr den Besuch vorschlug. Aber er fühlt sich bald erleichtert, weil sie sagt, es freue sie sehr, wieder hier gewesen zu sein, und ganz heiter über alles spricht, während sie an dem Ufer weiter gehen. Er hört die Stimmen auf den Wellen, hört ihre süße Stimme. Solange bis sie in die Nähe von Mr. Dombeys Haus kommen, wo er sie verlassen muß, ist er so verstrickt, daß er über keine Spur freien Willens mehr gebieten kann. Sie reicht ihm die Hand zum Abschied, aber es ist ihm unmöglich, sie wieder loszulassen.

»Miß Dombey, ich bitte um Verzeihung«, sagt Mr. Toots in traurigem Flüsterton: »aber wenn Ihr mir erlauben wolltet, zu – zu –«

Florences lächelnder, nichts ahnender Blick bewirkt, daß er nicht weiter fortfahren kann.

»Wenn Ihr mir erlauben wolltet, zu – wenn Ihr es nicht als eine Dreistigkeit ansehen wolltet, Miß Dombey, wenn ich – ohne irgend eine Ermutigung, wenn ich hoffen dürfte« – sagt Mr. Toots.

Florence sieht ihn fragend an.

»Miß Dombey«, sagt Mr. Toots, der fühlt, daß er jetzt einmal im Zuge ist, »ich bin in der Tat in jenem Zustand von Anbetung gegen Euch, daß ich nicht weiß, was ich mit mir selbst anfangen soll. Ich bin der beklagenswerteste Unglückliche. Wenn es nicht gerade an der Ecke des Square wäre, so würde ich auf meine Knie niederfallen und Euch bitten und anflehen, ohne eine Ermutigung, mich nur hoffen zu lassen, daß ich – daß ich es für möglich halten dürfe, Ihr –«

»O, ich bitte, haltet inne!« ruft Florence in einem augenblicklichen Schrecken. »O, ich bitte, haltet inne, Mr. Toots. Sprecht nicht weiter. Wenn Ihr mir eine Liebe, eine Gunst erweisen wollt, so fahrt nicht fort.«

Mr. Toots ist schrecklich beschämt und sperrt den Mund weit auf.

»Ihr seid so gütig gegen mich gewesen«, sagt Florence, »und ich erkenne es dankbar an. Ich habe allen Grund, in Euch einen wohlwollenden Freund zu lieben, und habe Euch wirklich so gern«, – ihr offenes Gesicht lächelt ihm dabei mit dem lieblichsten, ehrlichsten Blick von der Welt zu – »daß ich von Euch überzeugt bin, Ihr wolltet weiter nichts, als mir Lebewohl sagen.«

»Jawohl, Miß Dombey«, versetzt Mr. Toots. »Ich – ich – das ist es gerade, was ich meine. Es ist von keinem Belang.«

»Gott befohlen!« ruft Florence.

»Gott befohlen. Miß Dombey!« stammelt Mr. Toots. »Ich hoffe, Ihr werdet nichts Schlimmes davon denken. Es ist – es ist von keinem Belang, danke Euch – von durchaus keinem Belang.«

Der arme Mr. Toots geht in einem Zustand von Verzweiflung nach seinem Hotel zurück, schließt sich in sein Schlafgemach ein, wirft sich auf sein Bett und bleibt daselbst geraume Zeit liegen, als ob es dennoch vom größten Belang sei. Glücklicherweise stellt sich aber Mr. Feeder B.A. zum Diner ein, da man sonst kaum sagen könnte, wann er wieder aufgestanden wäre. Mr. Toots sieht sich genötigt, ihn zu bewillkommnen und gastlich zu bewirten.

Und der allgemeine Einfluß jener sozialen Tugend, der Gastfreundschaft (des Weins und des guten Mahls nicht zu gedenken), öffnet Mr. Toots das Herz und erwärmt ihn zur Redseligkeit. Er sagt Mr. Feeder B.A. nicht, was an der Ecke des Square vorgegangen ist. Aber als Mr. Feder ihn fragt, »wann es losgehen werde«, versetzte Mr. Toots, »es gebe gewisse Dinge –«, eine Bemerkung, die Mr. Feeder um einige Grade wieder herunterstimmt. Mr. Toots fügt bei, er wisse nicht, was Blimber berechtige, über sein Erscheinen in Miß Dombeys Gesellschaft sich Bemerkungen zu erlauben, und wenn er glauben könnte, der Doktor habe damit eine Unverschämtheit beabsichtigt, so wolle er es ihm geben, Doktor hin, Doktor her. Er meint übrigens, es sei nur die Unwissenheit des Mannes schuld daran, und Mr. Feeder sagt, daß er nicht daran zweifle.

Mr. Feeder jedoch wird als ein vertrauter Freund von der Angelegenheit nicht ausgeschlossen, und Mr. Toots hat nur den Wunsch, daß diese Angelegenheit geheimnisvoll und mit Gefühl angedeutet werde. Nach einigen Gläsern Wein bringt er Miß Dombeys Gesundheit aus und bemerkt:

»Feeder, Ihr habt gar keine Vorstellung von den Gefühlen, mit denen ich diesen Toast begleite.«

»O ja, die habe ich wohl, mein teurer Toots«, versetzt Mr. Feeder, »und sie gereichen Euch sehr zu Ehre, alter Knabe.«

Mr. Feeder ist vor Freundschaft sehr aufgeregt, drückt seinem Wirt die Hände und sagt, wenn Toots je einen Bruder brauchte, so wisse er, wo er ihn finden könne, entweder direkt durch Post oder durch Boten. Auch meint er, wenn er Mr. Toots einen Rat erteilen dürfe, so würde er ihm empfehlen, die Gitarre oder wenigstens die Flöte spielen zu lernen; denn Frauenzimmer lieben an denen, die ihnen ihre Huldigung darbringen, musikalische Fertigkeit, und er hat selbst schon gefunden, welchen Vorteil man daraus ziehe.

Das bringt Mr. Feeder B.A. zu dem Geständnis, daß er sein Auge auf Cornelia Blimber geworfen hat. Er teilt Mr. Toots mit, daß er nichts gegen Brillen einzuwenden habe, und wenn der Doktor sich so wacker anläßt, ihm das Geschäft zu übergeben, ei, so sind sie – versorgt. Seiner Meinung nach ist jeder Mensch, der sich durch sein Geschäft eine schöne Summe erworben hat, verpflichtet, dasselbe aufzugeben, und Cornelia wäre dabei eine Gehilfin, auf die man stolz sein könnte. Mr. Toots antwortet mit einem wilden Übergang auf Miß Dombeys Lob und mit Hindeutungen, daß es ihm bisweilen sei, als möchte er sich eine Kugel durchs Hirn jagen. Mr. Feeder stellt ihm sehr nachdrücklich vor, daß dies ein übereilter Versuch sein würde, und zeigt ihm, um ihn wieder mit dem Dasein zu versöhnen, Cornelias Porträt mit Brille und Zubehör.

So verbringen diese ruhigen Geister den Abend, und sobald der Abend der Nacht gewichen ist, begleitet Mr. Toots seinen Gast nach Hause und verabschiedet sich von ihm an Doktor Blimbers Tür. Mr. Feeder geht aber nur die Treppe hinauf und kommt, sobald Mr. Toots fort ist, wieder herunter, um einsam an dem Gestade zu wandeln und über seine Aussichten nachzudenken. Er vernimmt in der Stimme der Wellen deutlich die Mitteilung, Doktor Blimber wolle das Geschäft aufgeben, fühlt eine sanfte romantische Lust, wenn er das Äußere des Hauses ansieht und sich dabei denkt, der Doktor werde es anstreichen und gründlich ausbessern lassen.

Mr. Toots geht gleichfalls außerhalb der Mauern, die sein Kleinod bergen, hin und her, und schaut in einer kläglichen Gemütsstimmung – die Polizei hat ein mißtrauisches Auge auf ihn geworfen – nach einem Fenster hinauf, wo noch Licht ist. Er zweifelt nicht daran, daß es aus Florences Zimmer komme, irrt aber hierin; denn es ist das Nachtlicht der Mrs. Skewton. Während Florence unter den alten Schauplätzen schläft und in ihren Träumen frühere Erinnerungen wieder aufleben, liegt in grimmiger Wirklichkeit, wachend und wimmernd, die Gestalt des alten Weibes da, die dem nämlichen Zimmer den geduldigen Knaben ersetzt, um es – aber wie ganz anders – abermals mit Hinfälligkeit und Tod in Verbindung zu bringen. Hager und häßlich liegt sie auf dem unruhigen Bett, und daneben sitzt Edith in ihrer erschreckenden, leidenschaftslosen Lieblichkeit – denn auf das erblindete Auge der Leidenden wirkt sie in der Tat erschreckend. Was rufen ihnen die Wellen zu in der Stille der Nacht?

»Edith, was soll dieser steinerne Arm da, der aufgehoben ist, mich zu schlagen? Siehst du ihn nicht?«

»Es ist nichts, Mutter, als Eure Phantasie.«

»Als meine Phantasie? Alles ist meine Phantasie. Schau nur! Ist es möglich, daß du ihn nicht siehst?«

»In der Tat, Mutter, es ist nichts da. Könnte ich auch so ruhig hier sitzen, wenn Ihr von etwas Derartigem bedroht würdet?«

»Ruhig?« entgegnete die Kranke, wild nach ihr hinschauend. »Er ist jetzt fort – und warum bist du so ruhig? Das ist nicht meine Phantasie, Edith. Eiskalt geht es mir durch die Glieder, wenn ich dich so an meiner Seite sitzen sehe.«

»Ich bin traurig, Mutter.«

»Traurig? Du scheinst immer traurig zu sein. Aber du bist es nicht um meinetwillen.«

Sie fängt zu wimmern an, wirft auf ihrem Kissen ruhelos den Kopf von Seite zu Seite, klagt über Vernachlässigung, nachdem sie eine solche Mutter gewesen, und spricht von der Mutter, die ihnen begegnet, dem guten alten Geschöpf und dem schlechten Dank, den solche Mütter von ihren Töchtern erhalten. Mitten in ihrem Irrereden hält sie an, blickt nach ihrer Tochter hin, ruft, daß sie ihren Verstand verliere, und verbirgt ihr Gesicht in dem Kissen.

Teilnahmsvoll beugt sich Edith über sie hin und redet sie an. Die kranke Alte umklammert ihren Hals und sagt mit einer Miene des Entsetzens:

»Edith, wir gehen bald wieder nach Hause – kehren zurück. Du meinst doch auch, daß ich wieder nach Hause soll?«

»Ja, Mutter, ja.«

»Und was sagte der, wie heißt er doch – ich kann mir nie die Namen merken – der Major – jenes schreckliche Wort, als wir weggingen – ist es nicht wahr? Edith!« ruft sie kreischend und ihre Augen werden starr, »ist’s nicht eben dies, was jetzt mich überfällt?« –

Nacht für Nacht blinkt das Licht durch die Fenster. Die Gestalt liegt auf dem Bett, Edith sitzt an ihrer Seite, und die ruhelosen Wellen singen ihnen die ganze Nacht hindurch zu. Nacht für Nacht wiederholen die Wellen heiser ihr Geheimnis; der Sand liegt an dem Ufer aufgehäuft; die Seevögel schweben durch die Luft; die Winde und Wolken eilen hin, ohne eine Spur zurückzulassen, und die weißen Arme winken im Mondlicht nach dem fernen, unsichtbaren Lande.

Und noch schaut die kranke Alte in die Ecke, wo der steinerne Arm – ein Stück von einem Grabmonument, sagt sie – erhoben ist, um sie zu schlagen. Endlich fällt er nieder; ein stummes altes Weib liegt auf dem Bett und krümmt sich zusammen. Die Hälfte von ihr ist tot.

So sieht die Gestalt aus, die Tag für Tag – geschminkt und bemalt, um die Sonne zu verhöhnen – langsam durch das Gedränge gefahren wird; sie sieht sich nach dem guten alten Geschöpf um, das eine solche Mutter war, und verzieht den Mund, wenn sie vergeblich nach ihr späht. So sieht die Gestalt aus, die man in einem Räderbett an den Meeresstrand bringt und dort ruhen läßt. Aber kein Wind kann ihr Frische zuwehen, und das Gemurmel des Ozeans hat kein beruhigendes Wort für sie. Sie liegt da und hört es stundenlang; aber die Sprache ist ihr unbekannt und dunkel. Auf ihrem Gesicht ist Furcht zu lesen, und wenn ihre Augen über die Fläche hinwandern, sehen sie nur einen breiten Strich Öde zwischen Erde und Himmel.

Florence wird nur selten zu ihr gelassen, und wenn es geschieht, so ist sie ärgerlich und zankt. Edith ist immer an ihrer Seite und hält Florence fern. Florence aber, wenn sie nachts in ihrem Bett liegt, zittert bei dem Gedanken an den Tod in einer solchen Gestalt, kann oft lange nicht schlafen und lauscht in der Meinung, er sei gekommen. Niemand verpflegt die Kranke als Edith; denn es ist besser, daß nur wenige Augen sie sehen. Die Tochter wacht allein an ihrem Lager.

Es fällt ein weiterer Schatten auf das umschattete Gesicht; die spitzigen Züge werden noch spitziger, und der Schleier vor den Augen verdichtet sich zu einem schwarzen Tuch, das die trübe Welt ausschließt. Ihre unsicheren Hände liegen über der Decke matt Fläche an Fläche, bewegen sie nach der Tochter hin, und eine Stimme – ungleich der ihrigen und ungleich jeder Stimme, die in unserer sterblichen Sprache redet – sagt:

»Denn ich habe dich erzogen!«

Tränenlos kniet Edith neben dem Bett nieder, um dem ersterbenden Haupt ihre Stimme näher zu bringen und erwidert:

»Mutter, könnt Ihr mich hören?«

Die Augen weit aufsperrend, versucht sie mit Nicken zu antworten.

»Erinnert Ihr Euch der Nacht vor meiner Hochzeit?«

Der Kopf ist regungslos, drückt aber einigermaßen eine Bejahung aus.

»Ich sagte Euch damals, daß ich Euch Eure Beteiligung dabei verzeihe, und flehte zu Gott, daß er mir auch die meinige vergebe. Ich erklärte Euch, daß die Vergangenheit jetzt zwischen uns abgeschlossen sei. Ich sage das wieder. Küßt mich, Mutter.«

Edith berührt die weißen Lippen, und für einen Moment ist alles still. Einen Augenblick nachher richtet sich ihre Mutter mit ihrem mädchenhaften Lachen und dem Skelett der Kleopatra-Manier in ihrem Bette auf.

Laßt diese rosenfarbigen Vorhänge nieder. Außer dem Wind und den Wolken ist auch etwas anderes auf der Flucht! Laßt die rosenfarbigen Vorhänge nieder!

Die Nachricht von dem Ereignis ergeht an Mr. Dombey in London, der dem Vetter Feenix, der sich noch nicht zur Abreise nach Baden-Baden hat entschließen können und gleichfalls schon von dem Vorgang unterrichtet ist, einen Besuch macht. Ein so gefälliges Wesen, wie Vetter Feenix, ist gerade der rechte Mann für Trauungen sowohl wie für Leichenbegängnisse, und seine Stellung in der Familie gibt ihm ein Recht, zu Rat gezogen zu werden.

»Dombey«, sagte Vetter Feenix, »bei meiner Seele, ich bin erschüttert, Euch um eines so traurigen Anlasses willen bei mir zu sehen. Meine arme Tante! Sie war eine fabelhaft lebhafte Frau.«

»Jawohl«, versetzte Mr. Dombey.

»Und Ihr wißt, sie hat sich beziehungsweise ganz jung gemacht«, sagte Vetter Feenix. »Am Tage Eurer Trauung meinte ich wahrhaftig, sie könne wohl noch zwanzig Jahre aushalten. Ich sagte dies auch bei Brooks zu dem kleinen Billy Joper – Ihr kennt ihn ohne Zweifel – dem Mann mit einem Glas in seinem Auge?«

Mr. Dombey macht eine verneinende Gebärde.

»Ich möchte wegen ihrer Beisetzung hören, ob Ihr – – –«

»Ah, bei meinem Leben«, sagt Vetter Feenix und streichelt mit dem bißchen Hand, das unter seinen Manschetten hervorsteht, das Kinn, »ich weiß in der Tat nicht. In dem Park bei meinem Haus ist ein Mausoleum. Aber ich fürchte, es bedarf sehr der Ausbesserung, da es sich wahrhaftig in einem miserablen Zustand befindet. Wenn ich mich nicht meist auswärtig aufhielte, so würde ich schon Sorge getragen haben; aber ich glaube, die Leute kommen und machen dorthin Picknick-Ausflüge innerhalb der eisernen Geländer.«

Mr. Dombey sieht ein, daß dies nicht angehen würde.

»Es ist eine ungemein schöne Kirche im Dorf«, sagt Vetter Feenix nachdenkend, »rein im ersten anglonormannischen Stil gehalten, und man hat einen bewundernswürdigen Kupferstich von ihr – Zeichnung von Lady Jane Finchbury – sehr geschnürte Dame. Ich hörte übrigens, die Kirche sei durch den Maler sehr verdorben worden.«

»Vielleicht Brighton selbst«, deutete Mr. Dombey an.

»Auf meine Ehre, Dombey, ich glaube nicht, daß wir etwas Besseres tun könnten«, sagt Vetter Feenix. »Ihr seht, man ist schon am Platz, und der Ort wäre recht angenehm.«

»Und wann ist es Euch gelegen?« fragt Mr. Dombey.

»Es ist eine Ehrensache für mich, auf jeden Tag zuzusagen, der Euch passend dünkt«, antwortete Vetter Feenix. »Mit dem größten Vergnügen – natürlich mit wehmütigem Vergnügen – werde ich meine arme Tante begleiten zu den Schranken des – – ja, zum Grabe«, fügt Vetter Feenix bei, da ihm der Schwung der andern Phrase nicht gelingen will.

»Könnt Ihr am Montag von London abkommen?« fragt Mr. Dombey.

»Der Montag ist mir vollkommen gelegen«, erwidert Vetter Feenix.

Demgemäß verspricht Mr. Dombey, an dem besagten Tag Vetter Feenix abzuholen, und verabschiedet sich. Vetter Feenix begleitet ihn bis zur Treppe und bemerkt noch: »Es tut mir in der Tat außerordentlich leid, Dombey, daß Ihr in der Sache so viele Mühe habt«, worauf Mr. Dombey antwortet: »Durchaus nicht.«

Zu der bestimmten Zeit treffen Vetter Feenix und Mr. Dombey zusammen, fahren nach Brighton und begleiten, in ihren zwei Personen alle übrigen Leidtragenden vertretend, die Überreste der hingeschiedenen Dame nach ihrer Ruhestätte. Vetter Feenix, der in dem Trauerwagen sitzt, bemerkt auf der Straße zahllose Bekannte, nimmt aber anstandshalber keine andere Rücksicht auf sie, als daß er sie Mr. Dombey laut nennt; zum Beispiel: »Tom Johnson. Mann mit Korkbein – kenne ihn von White. Wie, Ihr auch da, Tommy? Vernarrt in eine Vollblutstute. Die Smalder-Mädchen«, und so weiter. Bei der Feierlichkeit ist Vetter Feenix traurig; denn er weiß, bei solchen Gelegenheiten müsse man die Leute glauben machen, daß man wirklich erschüttert sei. Zudem sind seine Augen, nachdem die Sache vorüber ist, in der Tat feucht. Er sammelt sich jedoch bald wieder, und das Gleiche ist der Fall bei dem Rest der Freunde und Verwandten von Mrs. Skewton, über die der Major in seinem Klub unaufhörlich zu erzählen weiß, daß sie sich nie warm genug gekleidet habe. Die junge Dame mit dem Rücken dagegen, die so viel mit ihren Augenlidern zu schaffen hatte, sagt mit einem Seufzer, sie müsse ungeheuer alt gewesen sein und habe einen entsetzlichen Tod erlitten; man dürfe nur nicht davon reden.

So liegt Ediths Mutter in ihrem Grabe, und nichts bleibt von ihr zurück in der Erinnerung ihrer lieben Freundinnen, die taub sind gegen die Wellen, die heiser ihr Geheimnis wiederholen, nichts von dem am Ufer aufgehäuften Sand sehen und keine Augen haben für die weißen Arme, die im Mondlicht nach dem fernen, unsichtbaren Lande winken. Aber an dem Saume des unbekannten Meeres geht alles in der gewohnten Weise fort, und Edith, die allein dasteht und auf die Stimme der Wellen lauscht, sieht das moderige Schilf zu ihren Füßen, das ihren ganzen Lebenspfad bestreuen soll.

  1. Berüchtigte indische Sekte, die Raubmörderei als eine Art religiöses System betreiben. (Vgl. Richard Garbe, Beiträge zur indischen Kulturgeschichte, S. 183 ff.)

Sechsunddreißigstes Kapitel.


Sechsunddreißigstes Kapitel.

Der offizielle Einzugsschmaus.

Viele der folgenden Tage verliefen in der gleichen Weise, nur mit der Ausnahme, daß allerlei Besuche gemacht und angenommen wurden, daß Mrs. Skewton in ihrem Zimmer kleine Morgenempfänge hielt, bei denen sich Major Bagstock sehr fleißig einstellte, und daß Florence dem Blicke ihres Vaters nicht wieder begegnete, obschon sie ihn jeden Tag sah. Florence hatte auch nicht viel mündlichen Verkehr mit ihrer neuen Mama, die – wie ihr nicht entgehen konnte – sich gegen jeden im Hause stolz und herrisch benahm, nur nicht gegen unsere Freundin, da Edith, sooft sie ausging oder von Besuchen zurückkehrte, sie entweder rufen ließ oder selbst aufsuchte. Auch versäumte die neue Mutter nicht, jede Gelegenheit zu benützen, um in Florences Gesellschaft zu sein, wie sie denn auch bis in die späte Nacht hinein gern in ihrem Zimmer verweilte, obschon sie oft stundenlang schweigend und gedankenvoll nebeneinander saßen.

Florence, die sich so viel von dieser Heirat versprochen hatte, konnte nicht umhin, da« prunkvolle Haus zuweilen mit dem düsteren, traurigen Platz zu vergleichen, aus dem es sich erhoben hatte. Sie fragte sich verwundert, wann es denn irgend endlich einmal anfangen werde, eine Heimat zu sein. Denn es war stets für sie ein Gegenstand geheimer Besorgnis, daß es jetzt, obschon alles regelmäßig und üppig herging, nicht so genannt werden könne. Die so kräftig abgegebene Versicherung ihrer neuen Mama, daß niemand auf Erden unfähiger sei, sie zu lehren, wie sie das Herz ihres Vaters gewinnen solle, bereitete ihr, sowohl bei Tag wie bei Nacht, manche Stunde kummervollen Nachdenkens, und ihre Tränen strömten ob der vernichteten Hoffnung. Und sobald Florence zu erwägen begann – zu erwägen sich vornahm, würde wohl der passendere Ausdruck sein – daß niemand so gut wissen könne als sie, wie hoffnungslos es sei, die Kälte des Vaters zu mildern oder umzuwandeln, – so mußte sie wohl auch zu dem Schlüsse kommen, Edith habe ihr nur aus Mitleid untersagt, über diesen Gegenstand mit ihr zu sprechen. Wie in allem ihr Tun und Denken frei von aller Selbstsucht war, zog sie es vor, lieber den Schmerz dieser neuen Wunde zu ertragen, als ihrem Vater auch nur im mindesten diesen Kummer zu offenbaren, und sie bewahrte ihm ihre ganze Zärtlichkeit selbst in ihrem rastlosen Grübeln. Was seine Heimat betraf, so hoffte sie, es werde damit besser werden, wenn er sich einmal an die Neuheit gewöhnt habe; für sich selbst aber dachte sie nicht viel darüber nach und klagte noch weniger.

Wenn es auch in der neuen Familie nicht sehr heimisch zuging, so beschloß doch Mrs. Dombey energisch, daß es wenigstens nach außen einen andern Anschein gewinne. Zur Feier der kürzlich begangenen Vermählung und zur Erweiterung des gesellschaftlichen Kreises wurde eine Reihe von Festmahlen angeordnet, die der Übereinkunft gemäß damit beginnen sollten, daß Mrs. Dombey an einem gewissen Abend zu Hause blieb, und Mr. und Mrs. Dombey für solchen Tag sich die Ehre vieler, sehr wenig zusammenstimmender Personen zu einem Diner erbaten.

Demgemäß fertigte Mr. Dombey eine Liste von allerlei Größen des östlichen Stadtteils an, die um seinetwillen zu dem Feste eingeladen wurden. Dagegen fügte entsprechend Mrs. Skewton im Namen ihres lieben Kindes, das sich in seinem Stolz um dergleichen Dinge nicht bekümmerte, eine Liste für den Westen bei. Auf dieser stand nun auch Vetter Feenix, der zum großen Nachteil für sein persönliches Besitztum noch immer nicht nach Baden-Baden zurückgekehrt war. Daneben viele Motten von verschiedenem Rang und Alter, die vordem um das Licht ihrer schönen Tochter oder um ihr eigenes hergeflattert waren, ohne dabei für ihre Flügel einen bedeutenden Schaden zu nehmen. Auf Ediths Befehl, der Folge eines augenblicklichen Zweifelns und Zauderns von seiten Mrs. Skewton, mußte auch Florence unter die Teilnehmer eingereiht werden, und das arme Mädchen leistete mit stummer Verwunderung Folge, da ihr instinktartiges Gefühl sie schnell über das belehrte, was ihren Vater auch nur im mindesten unangenehm berühren konnte.

Die Feierlichkeit nahm damit ihren Anfang, daß Mr. Dombey in einer ungemein hohen und steifen Halsbinde bis zu der für das Diner anberaumten Stunde in dem Besuchszimmer unablässig hin und her ging. Pünktlich wie die Uhr erschien zuerst ein Direktor der ostindischen Kompanie von unermeßlichem Reichtum in einer fast brettartigen Nankingweste und wurde von Mr. Dombey empfangen. Zunächst ließ Mr. Dombey ebenso pünktlich Mrs. Dombey seine Empfehlungen ausrichten und sie ersuchen, zum Empfang der Gäste zu erscheinen. Da jetzt der Direktor nicht wußte, was er sagen sollte, und Mr. Dombey auch nicht in der Lage war, ein Gespräch zu unterhalten, so starrte dieser große Mann nach dem Feuer hin, bis in der Person von Mrs. Skewton Hilfe nahte. Als erfreulicher Anlauf für den Abend hielt der Direktor diese Dame irrtümlicherweise für Mrs. Dombey und begrüßte sie mit Begeisterung.

Der weiterhin Erscheinende war ein Bankdirektor, der im Rufe stand, alles aufkaufen zu können – sogar die ganze menschliche Natur, wenn er es sich je in den Kopf setzen sollte, seinen Einfluß nach dieser Richtung des Geldmarktes auszudehnen. Zwar tat er fast großsprecherisch bescheiden von seinem »kleinen Häuslein« zu Kingston über der Themse in einer Weise, als sei es kaum imstande, Mr. Dombey ein Bett und ein Hammelrippchen zu bieten, wenn dieser einmal auf Besuch hinkäme. Für einen Mann von seiner ruhigen Lebensweise, sagte er, passe es zwar nicht, Damen einzuladen. Falls aber Mrs. Skewton und ihre Tochter, Mrs. Dombey, je in die Gegend kämen und ihm die Ehre erweisen wollten, das bißchen Gesträuch, das sie daselbst finden würden, ein armes, kleines Blumenbeet und dergleichen, einen dürftigen Anflug von Fichtengehölz und zwei oder drei ähnliche anspruchslose Versuche zu beaugenscheinigen, so würde er dieses als große Auszeichnung betrachten. Im Einklang mit seinem Charakter war dieser Herr sehr einfach gekleidet; denn er trug nur eine dünne Halsbinde, große Schuhe, einen viel zu weiten Rock und ein Paar knappe Beinkleider. Auch erklärte er, als Mrs. Skewton auf die Oper anspielte, daß er sie nur sehr selten besuche, weil er es nicht erschwingen könne. Derartige Äußerungen schienen ihm große Freude zu machen; denn während er mit den Händen in der Tasche dastand, strahlte sein Gesicht dem Hörerkreis zu, und in dem Blinzeln seiner Augen gab sich ungemeine Selbstzufriedenheit kund.

Nun erschien Mrs. Dombey, schön, stolz, und dabei den bereits Anwesenden einen Blick trotziger Verachtung zuwerfend, als sei der bräutliche Kranz auf ihrem Haupt eine Krone von Lanzenspitzen, ihr aufgesetzt, um ihr ein Zugeständnis abzuringen, dem sie nicht nachzugeben beschlossen hatte, und wenn es ihr das Leben kostete. Sie führte Florence an ihrer Hand. Als sie miteinander eintraten, verdunkelte der Schatten aus der Nacht nach der Rückkehr wieder Mr. Dombeys Gesicht, obschon unbemerkt. Florence wagte es nämlich nicht, ihre Augen zu den seinen zu erheben, und Edith zeigte sich zu gleichgültig, um auch nur im mindesten auf ihren Gatten zu achten.

Die Gäste stellten sich jetzt rasch nacheinander in großer Anzahl ein. Noch mehr Direktoren, Präsidenten öffentlicher Kompanien, ältere Damen, die ganze Lasten von Putz auf ihren Köpfen trugen, Vetter Feenix, Major Bagstock und unterschiedliche Freundinnen von Mrs. Skewton mit demselben jugendlichen Anstrich und sehr kostbaren Kolliers um ihren welken Hals. Unter diesen befand sich eine junge Dame von Fünfundsechzig, die, was Rücken und Schultern betraf, merkwürdig leicht gekleidet war. Sie sprach stets mit einem gewinnenden Lispeln, konnte ihre Augenlider nicht ohne große Mühe offen erhalten und zeigte in ihrem ganzen Wesen jenen unbeschreiblichen Zauber, der so häufig in dem Schwinden der Jugend liegt. Da der größere Teil von Mr. Dombeys Liste sehr schweigsam und der größere Teil von Mrs. Dombeys Liste sehr zum Reden geneigt war, so konnte natürlich keine sonderliche Sympathie zwischen den beiden Partien herrschen. Deshalb schloß Mrs. Dombeys Liste, wie infolge eines gemeinsamen heimlichen Einverständnisses, einen Bund gegen Mr. Dombeys Liste, die auf den einsamen Wanderungen durch die Zimmer oder in ihren Zufluchtswinkeln von der hereinkommenden Gesellschaft verstrickt, hinter Sofas verbarrikadiert, durch rasch von außen geöffnete Türen mit derben Kopfnüssen heimgesucht und jeder Art von Ungemach ausgesetzt wurde.

Das Aufgebot zum Diner erfolgte. Mr. Dombey reichte einer alten Dame, die wie ein mit Banknoten bestecktes, rotsamtenes Nadelkissen aussah und um ihres Reichtums und ihrer unverträglichen Miene willen wohl die alte Lady von Threadneedle-Street (die englische Bank) hätte vorstellen können, den Arm. Vetter Feenix gesellte sich zu Mrs. Dombey. Major Bagstock geleitete Mrs. Skewton. Das junge Ding mit den nackten Schultern wurde als Ordensschmuck dem Direktor der ostindischen Kompanie verliehen, und die übrigen Damen mußten vor den im Besuchzimmer zurückgebliebenen Herren Parade machen, bis je eine verlorene Hoffnung sich erbot, sie nach dem Speisezimmer hinunterzuführen, wo diese Wackeren mit ihren schönen Gefangenen die Tür versperrten, so daß sich sieben weniger kühne Männer in die hartherzige Halle hinausgeschlossen sahen. Nachdem alle übrigen Gäste noch eingetreten waren und Platz gefunden hatten, tauchte einer von ihnen lächerlich verwirrt auf und mußte von dem Oberkellner zweimal um die Tafel herumgeführt werden, ehe sich sein Stuhl auffinden ließ. Zuletzt entdeckte man diesen links von Mrs. Dombey, und der linkische Mann fühlte sich durch besagte Einführung dermaßen eingeschüchtert, daß er die ganze Zeit über seinen Kopf nicht wieder erhob.

Der geräumige Speisesaal mit der um die glänzende Tafel herumsitzenden Gesellschaft, die sich emsig mit den blanken Löffeln, Messern, Gabeln und Tellern beschäftigte, hätte für eine groß gewordene Schaustellung von Tom-Tittler-Reliefs angesehen werden können, wo Kinder auf Gold und Silber sich gütlich tun. Mr. Dombey als Tittler nahm sich in dieser Rolle bewunderungswürdig aus, und der lange Tafelaufsatz zwischen ihm und Mrs. Dombey, auf dem plastisch dargestellte herzlose Liebesgötter ihnen geruchlose Blumen darboten, ward hier zu einem recht passenden Symbol.

Vetter Feenix zeigte sich in voller Kraft und erstaunlich jugendlich. Trotzdem wurde er in seiner guten Stimmung bisweilen gedankenlos: denn sein Gedächtnis war hin und wieder so unstet, wie seine Beine, und bei einer dieser Gelegenheiten flößte er der Gesellschaft einen wahren Schauder ein. Das geschah folgendermaßen. Die junge Lady mit dem entblößten Rücken, die mit Vetter Feenix zärtliche Gefühle unterhielt, hatte den Direktor der ostindischen Kompanie dazu verleitet, sie nach dem Stuhl neben ihm zu führen. Zum Dank für diesen Dienst gab sie augenblicklich ihren Geleitsmann auf, so daß dieser, der nun auf der andern Seite von einem düsteren, schwarzen Samthut über einem knöchernen, schweigsamen Frauenzimmer mit einem Fächer beschattet wurde, trostlos sich in sich selbst zurückzog. Vetter Feenix und die junge Dame waren sehr lebhaft und launig; dabei lachte letztere über etwas, was ihr Vetter Feenix erzählt hatte, so sehr, daß Major Bagstock im Auftrag der Mrs. Skewton (diese saß etwas weiter unten dem Paare gegenüber) sich die Frage erlaubte, ob der erheiternde Gegenstand nicht Gemeingut werden könne.

»Ei, bei meinem Leben«, sagte Vetter Feenix, »es ist nichts daran – nicht der Mühe wert, es zu wiederholen – in Wahrheit nur eine Anekdote von Jack Adams. Ohne Zweifel erinnert sich mein Freund Dombey« – denn die allgemeine Aufmerksamkeit war jetzt Vetter Feenix zugewendet – »des Jack Adams, des Jack Adams, nicht des Joe; denn dieser war sein Bruder. Jack – der kleine Jack – Mann mit schielendem Auge und einem leichten Hindernis in seiner Sprache – Mann, der für den Flecken eines andern im Parlament saß. Vielleicht hat mein Freund Dombey den Mann gekannt?«

Mr. Dombey hätte wohl ebensogut sich der Bekanntschaft des Guy Fawkes1 rühmen können und antwortete daher mit Nein. Aber einer von den anwesenden Kavalieren konnte sich rühmen, er habe ihn gekannt, und dazu bemerken: »Er trug immer hessische Stiefel!«

»Ganz richtig«, entgegnete Vetter Feenix und sah sich den Kavalier ermunternd genauer an. »Dies war Jack. Joe trug –«

»Stulpen!« rief der Kavalier, der mit jedem Augenblick mehr in der öffentlichen Achtung stieg.

»Natürlich«, versetzte Vetter Feenix. »Ihr wart mit ihnen bekannt?«

»Jawohl; mit beiden«, sagte der Kavalier, dem jetzt Mr. Dombey zuprostete.

»Verdammt guter Kerl, der Jack?« fuhr Vetter Feenix fort, indem er sich abermals vorbeugte und lächelte.

»Ausgezeichnet«, entgegnete der Kavalier. »Einer der besten Burschen, die ich je kennenlernte.«

»Ohne Zweifel habt Ihr die Geschichte gehört?« fragte Vetter Feenix.

»Ich werde sie erfahren, wenn Eure Herrlichkeit zur Mitteilung geneigt ist«, erwiderte der Kavalier, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und lächelte nach der Decke hinauf, als wisse er sie bereits auswendig und freue sich schon von vornherein darauf.

»In Wahrheit. Es ist eigentlich nichts an der Sache«, sagte Vetter Feenix, lächelnd und mit lebhaftem Kopfschütteln sich an die Tischgesellschaft wendend, »und es bedarf daher keines Vorworts. Aber es ist bezeichnend für Jacks artige Einfälle. Die Sache verhält sich so, daß Jack zu einer Hochzeit eingeladen wurde, die, glaube ich – in Barkshire stattfinden sollte?«

»Shropshire«, warf der Kavalier ein.

»Wirklich? – gut! In der Tat, es könnte auch in was immer für einem Shire geschehen sein«, fuhr Vetter Feenix fort. »Mein Freund also, der zu dieser Hochzeit in jenem Shire eingeladen ist, geht – geradeso wie jeder von uns, der mit einer Einladung zu der Hochzeit meiner lieblichen und begabten Verwandten mit meinem Freund Dombey beehrt wurde, nicht zweimal sich hätte nötigen lassen. Er war verdammt froh, an einer so interessanten Angelegenheit teilzunehmen, und geht – Jack geht. Diese Hochzeit war in der Tat die Verbindung eines ungemein schönen Mädchens mit einem Herrn, um den sie sich keinen Strohhalm kümmerte und den sie nur wegen seines unermeßlichen Vermögens genommen hatte. Als Jack nach den Trauungsfeierlichkeiten wieder in London anlangte, begegnete ihm in der Vorhalle des Unterhauses ein Bekannter und sagte zu ihm: ›Jack, das ist in der Tat eine schlimme Geschichte, ein schlimmes Geschäft‹. ›Ein schlimmes Geschäft?‹ versetzte Jack. ›Durchaus nicht. Mir erscheint es vollkommen ehrlich und einwandfrei. Sie ist regelmäßig gekauft, und Ihr könnt darauf schwören, daß er ebenso regelmäßig verkauft ist!‹«

Vetter Feenix freute sich noch über diesen Glanzpunkt in seiner Geschichte, als ihm mit einemmal der Schauder, der wie ein elektrischer Funke am Tisch umhersprang, auffiel. Er hielt inne. Auf keinem Gesicht lockte dieser einzige allgemeine Unterhaltungsgegenstand, der soeben zur Sprache kam, ein Lächeln hervor. Es folgte ein tiefes Schweigen, und der vernichtete Kavalier, der von der bevorstehenden Geschichte so wenig eine Ahnung gehabt hatte wie ein neugeborenes Kind, mußte den Jammer erfahren, daß ein jedes Auge ihn als den Urheber dieser Unbesonnenheit anzusehen schien.

Mr. Dombeys Gesicht war nicht wandlungsfähig und beharrte in seiner gußeisernen Stattlichkeit. Die Erzählung schien auf ihn durchaus keinen Eindruck zu machen und ihn zu nichts Weiterem anzuregen, als daß er mitten in dem Schweigen feierlich sagte: »Sehr gut.«

Edith entsandte einen hastigen Blick nach Florence hin, bewahrte aber in ihrem Äußeren eine ruhige, gleichgültige Miene.

Durch die verschiedenen Stadien von köstlichen Speisen und Weinen, ewigem Gold und Silber, Leckereien aus Erde, Feuer, Luft und Wasser, aufgehäuften Früchten und jenem bei Mr. Dombeys Banketten so unnötigen Artikel, dem Eis, nahm das Diner langsam seinen Fortgang und wurde namentlich während seiner späteren Abschnitte durch die volltönige Musik von unablässigen Türschlägen begleitet – die Ankündigung von weiteren Gästen, deren Anteil an dem Mahl sich auf den Geruch davon beschränkte. Als Mrs. Dombey aufstand, war es in der Tat ein merkwürdiges Schauspiel, mit anzusehen, wie ihr Herr mit steifem Hals und aufrechtem Kopf für den Abzug der Damen die Tür offenhielt, während sie, dessen Tochter an ihrem Arme, an ihm vorbeirauschte.

Wie denkmalmäßig nahm sich nicht Mr. Dombey hinter den Flaschen aus! Der Direktor der ostindischen Kompanie saß wie in einer Einöde verloren an dem jetzt fast unbesetzten Tisch. Der Major war ganz Militär und erzählte den übrigen Kavalieren (der ehrgeizige war nämlich ganz ausgetilgt) Geschichten von dem Herzog von York. Der Bankdirektor, der sich gar gering ausnahm, entwarf für eine Gruppe von Bewunderern mit Dessertmessern einen Riß von seinem dürftigen Fichtenanflug, und Vetter Feenix, in Gedanken vertieft, glättete seine langen Manschetten und rückte verstohlen seine Perücke zurecht. Welchen Anblick übrigens alle diese Gentlemen bieten mochten – er war nur von kurzer Dauer, da er bald durch den Kaffee unterbrochen wurde, nach dem sie insgesamt das Speisezimmer verließen.

Das Gewühl in den Staatsgemächern oben vermehrte sich mit jeder Minute. Aber noch immer schien sich Mr. Dombeys Gästeliste unmöglich mit der von Mrs. Dombey harmonisch bilden zu können, so daß es bei keiner der anwesenden Personen zweifelhaft blieb, zu welcher von beiden sie gehörte. Die einzige Ausnahme von dieser Regel machte vielleicht Mr. Carker, der in der Gesellschaft umherlächelte. Er beobachtete in dem Kreise, der sich um Mrs. Dombey gesammelt hatte, diese selbst, ihre Umgebung, seinen Chef, Kleopatra und den Major, Florence und alle im Saal aufs genaueste. Augenscheinlich überwand er die gesellschaftliche Spaltung mit großer Leichtigkeit, und es war ihm nicht anzumerken, daß er es ausschließlich mit der einen oder der andern hielt.

Florence fürchtete sich vor ihm, und seine Anwesenheit lastete wie ein Alp auf ihr. Sie konnte sich dieses Gefühls nicht erwehren; denn ihre Augen wurden durch die Abneigung und das Mißtrauen, die zu überwinden sie außerstande war, stets nach ihm hingezogen. Gleichwohl waren ihre Gedanken mit andern Dingen beschäftigt. Sie saß nämlich, obschon nicht unbewundert und unaufgesucht, beiseite und fühlte in der Zartheit ihrer stillen Seele wohl, wie wenig Anteil ihr Vater an allem nahm, was vorging. Mit Schmerz bemerkte sie, wie unbehaglich ihm dieses Treiben zu sein schien und wie wenig er, während er sich in der Nähe der Tür aufhielt, wegen jener Gäste bewundert wurde, die er dadurch besonders auszuzeichnen wünschte, daß er sie seiner Gattin vorstellte. Diese begrüßte dieselben mit stolzer Kälte, ohne dabei eine Spur von Teilnahme oder Liebenswürdigkeit zu zeigen. Nachdem die kahle Zeremonie des Empfangs vorüber war, blieben ihre Lippen verschlossen und fanden kein weiteres Wort des Willkommens für seine Freunde oder des Eingehens auf seine Wünsche. Nicht weniger verwirrend und peinlich wurde für Florence die Beobachtung, daß die Frau, die sich so benahm, sie stets liebevoll und mit der größten Rücksicht behandelte. Es kam ihr fast vor, als danke sie ihr schlecht, wenn sie für diese Vorgänge überhaupt nur Augen hatte.

Wie glücklich wäre Florence gewesen, wenn sie es hätte wagen dürfen, ihrem Vater auch nur durch Blicke Gesellschaft zu leisten. Ein noch größeres Glück aber war es für sie, daß sie von dem Hauptgrund seiner Unruhe keine Ahnung hatte. Gleichwohl scheute sie sich, merken zu lassen, daß sie seine unvorteilhafte Stellung durchschaute. Sie wollte ihm nicht dadurch irgendein Ärgernis verursachen. Im Kampfe zwischen ihren Gefühlen für ihn und ihrer dankbaren Zuneigung zu Edith wagte sie es kaum, zu beiden die Augen zu erheben. In ihrer Bekümmernis drängte sich ihr unter dem Gewühl von andern Gedanken auch der auf, es dürfte wohl besser für sie gewesen sein, wenn dieser Lärm von Zungen und Fußtritten nie hieher gekommen wäre – wenn statt des neuen Prunkes noch die alte Öde herrschte – wenn das vernachlässigte Kind in Edith keine Freundin gefunden hätte, sondern noch immer unbemitleidet und vergessen in der Einsamkeit fortlebte.

Mrs. Chick hatte auch einigermaßen derartige Gedanken, obschon sie nicht so ruhig in ihrem Herzen verschlossen blieben. Diese gute Frau war schon dadurch in die höchste Wut versetzt worden, daß sie keine Einladung zu dem Diner unmittelbar nach der Ankunft des Paars erhalten hatte. Nachdem dieser Schlag teilweise verschmerzt war, bot sie alle Mittel auf und scheute keine Kosten, um vor Mrs. Dombey sich aufzuspielen, so daß dieser Dame die Augen vergehen und Mrs. Skewton sich zu Tod ärgern sollte.

»Aber es ist so weit gekommen«, sagte Mrs. Chick zu ihrem Gatten, »daß ich nicht mehr gelte, als Florence. Wer nimmt nur die mindeste Rücksicht auf mich? Niemand!«

»Niemand, meine Liebe«, pflichtete Mr. Chick bei, der neben ihr an der Wand saß und sich auch jetzt nur durch leises Pfeifen trösten konnte.

»Sieht es nicht aus, als ob ich hier ganz und gar überflüssig sei?« rief Mrs. Chick mit blinzelnden Augen.

»Jawohl, meine Liebe – das glaube ich auch«, sagte Mr. Chick.

»Paul ist verrückt!« rief Mrs. Chick.

Mr. Chick pfiff.

»Wenn du nicht ein ganzes Ungeheuer bist – und es kommt mir oft vor, als sei dies der Fall«, fuhr Mrs. Chick unverhohlen fort, »so sitz nicht hier herum, um ein Liedchen zu summen. Wie kann jemand, der nur im entferntesten das Gefühl eines Mannes in sich trägt, mit ansehen, wie Pauls Schwiegermutter sich kleidet und wie sie es mit dem Major Bagstock treibt, für den wir unter anderen kostbaren Dingen auch deiner Lukretia Tox verpflichtet sind.«

»Meiner Lukretia Tox meine Liebe?« versetzte Mr. Chick erstaunt.

»Ja«, entgegnete Mrs. Chick mit großer Strenge, »deiner Lukretia Tox. In der Tat, wie jemand jene Schwiegermutter Pauls, das hochmütige Weib Pauls, die unanständigen, alten Vogelscheuchen mit ihren nackten Rücken und Schultern, kurz all dieses Treiben mit ansehen und pfeifen kann –« Mrs. Chick legte auf die letzteren Worte einen so verächtlichen Nachdruck, daß Mr. Chick darüber zusammenfuhr – »das ist, dem Himmel sei Dank, ein Geheimnis für mich.«

Mr. Chick verzog seinen Mund in einer Weise, die ein Summen oder Pfeifen unmöglich machte, und schaute betrachtungsvoll vor sich hin.

»Hoffentlich weiß ich aber, was sich für mich gehört«, fuhr Mrs. Chick in steigender Entrüstung fort, »obschon es Paul vergessen hat. Ich, ein Glied dieser Familie, bin nicht hergekommen, um ohne alle Beachtung dazusitzen. Ich bin nicht der Staub unter Mrs. Dombeys Füßen, nein – noch nicht ganz«, sagte Mrs. Chick, als sehe sie voraus, daß es etwa übermorgen doch so weit kommen könnte – »und ich werde gehen. Was ich auch darüber denken mag, so will ich doch kein Wort darüber verlieren, daß diese ganze Geschichte bloß eingeleitet wurde, um mich herabzuwürdigen und zu kränken. Ich werde einfach gehen. Man wird mich nicht vermissen.«

Mrs. Chick richtete sich bei diesen Worten kerzengerade auf und nahm den Arm ihres Gatten, der sie aus dem Zimmer führte, wo sie eine halbe Stunde im Schatten gesessen hatte. Wir müssen bemerken, daß sie bei ihrer Prophezeiung viel Scharfsinn bekundete, denn sie wurde in der Tat durchaus nicht vermißt.

Sie war übrigens nicht der einzige entrüstete Gast. Mr. Dombeys Liste, die noch immer in Nöten stand, nahm es in Masse sehr übel, daß Mrs. Dombeys Liste durch Lorgnetten nach ihr hinsah und laut ihre Neugierde äußerte, was das doch alles für Leute seien. Mrs. Dombeys Liste dagegen beklagte sich über Langeweile, und das junge Ding mit den Schultern, das jetzt die Aufmerksamkeiten jenes lebhaften Jünglings, des Vetter Feenix, entbehren mußte, da dieser nach der Tafel sich entfernt hatte, teilte dreißig oder vierzig Bekannten im Vertrauen mit, die Sache sei ihr bis in den Tod verleidet. Sämtliche alte Damen mit überladenen Frisuren hatten mehr oder weniger Ursache, sich über Mrs. Dombey zu beschweren, und die Direktoren und Präsidenten vereinigten sich in dem Gedanken, wenn Dombey einmal habe heiraten müssen, so wäre es besser gewesen, seine Wahl hätte eine Person getroffen, die ihm dem Alter nach näher stand und nicht ganz so schön, dabei aber manierlicher war. Die allgemeine Ansicht dieser Klasse von Gentlemen lief darauf hinaus, daß es von Dombey eine Schwäche gewesen sei, und daß er es wohl noch bereuen werde. Mit Ausnahme der wenigen Kavaliere blieb oder entfernte sich kaum jemand, ohne über Vernachlässigung oder Kränkung durch Mr. oder Mrs. Dombey zu klagen. Auch hatte das stumme Frauenzimmer in dem schwarzen Samthut nur deshalb ihre Sprache verloren, weil der Lady in dem roten Samthut vor ihr der Arm geboten worden war. Sogar die Stimmung der Kavaliere erlitt, entweder weil zuviel Limonade in ihr zirkulierte, oder infolge der allgemeinen Ansteckung eine böse Wandlung; denn sie machten gegeneinander sarkastische Späße oder schalten in Flüstertönen auf den Treppen und Nebenplätzen. Das Mißvergnügen und die Unbehaglichkeit verbreitete sich von der Gesellschaft oben sogar bis zu der Dienerschaft in der Halle und von dieser auf die Fackelträger in der Straße draußen, die die Gäste mit einem Leichenzug verglichen, in dem keiner der Leidtragenden mit einem Legat bedacht worden wäre.

Endlich hatten sich sämtliche Gäste entfernt – auch die Fackelträger, und die Straße, die so lange mit Equipagen überfüllt gewesen, war frei. Die ersterbenden Lichter ließen in den Zimmern niemanden mehr erblicken, als Mr. Dombey, der mit Mr. Carker sich abseits besprach, und Mrs. Dombey mit ihrer Mutter. Erstere saß auf einer Ottomane, und letztere erwartete in der Kleopatra-Haltung die Ankunft ihres Mädchens. Nachdem Mr. Dombey sich mit Carker zu Ende besprochen hatte, trat dieser mit einem Katzenrücken heran, um sich zu verabschieden.

»Ich hoffe«, sagte er, »daß die Anstrengungen dieses köstlichen Abends Mrs. Dombey morgen keine Unbequemlichkeit bereiten werden.«

»Mrs. Dombey hat sich der Anstrengung reichlich enthoben«, bemerkte Mr. Dombey, der jetzt herantrat, »als daß Ihr deshalb besorgt sein dürftet. Es tut mir leid. Euch sagen zu müssen, Mrs. Dombey, daß es mir lieb gewesen wäre, wenn Ihr bei dieser Gelegenheit etwas mehr getan hättet.«

Sie warf ihm einen stolzen Blick zu, als halte sie es nicht der Mühe wert, bei diesem Gegenstand überhaupt zu verweilen, und wandte dann ihre Augen wieder ab, ohne zu sprechen.

»Ich bedaure, Madame«, fuhr Mr. Dombey fort, »daß Ihr es nicht für Eure Pflicht halten mochtet –«

Sie sah wieder nach ihm hin.

»Für Eure Pflicht, Madame«, fuhr Mr. Dombey fort, »meine Freunde mit etwas mehr Achtung zu empfangen. Einige von denen, die Ihr heute abend in so auffallender Weise zu vernachlässigen beliebtet, Mrs. Dombey, erweisen Euch, muß ich Euch sagen, mit jedem Besuche eine große Ehre.«

»Wißt Ihr, daß noch jemand hier ist?« versetzte sie, ihn jetzt mit Festigkeit ins Auge fassend.

»Nein, Carker – ich bitte, laßt dies. Ich bestehe darauf, daß Ihr bleibt«, rief Mr. Dombey, diesen Gentleman zurückhaltend, der sich daraufhin mit lautlosen Schritten entfernen wollte. »Ihr wißt, Madame, daß Mr. Carker mein Vertrauen besitzt, und er kennt die Sache, von der ich spreche, so gut wie ich selbst. Ich erlaube mir daher, Euch zu belehren, Mrs. Dombey, daß ich in den Besuchen dieser reichen und bedeutenden Personen eine Auszeichnung für mich sehe.«

Mr. Dombey warf sich dabei in die Brust, als habe er besagten Personen jetzt die höchst mögliche Bedeutsamkeit gegeben.

»Ich muß wiederholt fragen«, entgegnete sie, wieder den festen Blick stolzer Verachtung auf ihn heftend, »ob Ihr wißt, daß jemand hier ist, Sir.«

»Ich muß bitten«, sagte Mr. Carker vortretend, »ich muß bitten, ich muß fordern, daß ich entlassen werde. So gering und belanglos auch diese Meinungsverschiedenheit ist –«

Mrs. Skewton, die inzwischen kein Auge von dem Gesicht ihrer Tochter verwandt hatte, ergriff jetzt das Wort:

»Meine süßeste Edith«, sagte sie, »und mein teuerster Dombey – unser vortrefflicher Freund Mr. Carker, denn so muß ich ihn ohne Zweifel nennen –«

»Allzuviel Ehre«, murmelte Mr. Carker.

»– hat sich derselben Worte bedient, die mir auf dem Herzen lagen, und ich brannte schon seit einer Ewigkeit vor Begier, sie anzubringen. Gering und belanglos! Meine süßeste Edith und mein teuerster Dombey, wissen wir nicht, daß jede Meinungsverschiedenheit zwischen euch beiden – nein, Flowers; jetzt nicht.«

Flowers war die Kammerjungfer, die, als sie bemerkte, daß Gentlemen anwesend waren, sich eiligst wieder zurückzog.

»Daß jede Meinungsverschiedenheit zwischen euch beiden«, nahm Mrs. Skewton wieder auf, »mit dem Herzen, das ihr gemeinschaftlich besitzt, und bei dem bezaubernden Einklang der Gefühle, der zwischen euch stattfindet, notwendig gering und belanglos sein muß? Mit welchen Worten könnte diese Tatsache besser bezeichnet werden? Mit keinen. Darum benutze ich mit Freuden diesen unbedeutenden Anlaß – diesen geringfügigen Anlaß, der bei eurer Natürlichkeit, eurem individuellen Charakter und dergleichen so wahrhaft geeignet ist, Tränen in ein Mutterauge zu bringen – um die Versicherung abzugeben, daß ich der Sache nicht die mindeste Wichtigkeit beilege, es sei denn als einer Entwicklung jener feineren Elemente der Seele. Ich will daher nicht nach Art der meisten Schwiegermütter – welch ein garstiger Ausdruck, mein lieber Dombey! – wie sie dem Vernehmen nach in dieser leider nur zu erkünstelten Welt bestehen, den Versuch machen, zu einer solchen Zeit je mich einzumengen. Auch kann ich im ganzen solch ein kleines Aufzucken der Fackel des, wie heißt er doch – nicht Cupido, sondern das andere liebenswürdige Wesen – nicht beklagen.«

In dem Blick der guten Mutter, den sie bei diesen Worten nach ihren beiden Kindern entsandte, lag eine Schärfe, die vielleicht auf einen unmittelbaren und wohlüberlegten Zweck hindeutete, der sich hinter den zusammenhanglosen Worten barg. Er bestand wohl in nichts anderem, als in der Vorsorge, schon im Anfang bei dem Klirren der gemeinsam drückenden Kette, das notwendig folgen mußte, sich beiseite zu machen und hinter dem Trugbilde ihres unschuldigen Glaubens an ihre wechselseitige Liebe und an ihr Zusammenpassen Schutz zu suchen.

»Ich habe Mrs. Dombey auf das aufmerksam gemacht«, sagte Mr. Dombey in seiner stattlichsten Weise, »was mir in ihrem Benehmen schon in so früher Zeit unseres Ehestandes mißfällt und was ich deshalb zu verbessern bitte. Carker«, mit einem Nicken der Entlassung, »ich wünsche Euch gute Nacht.«

Mr. Carker verbeugte sich gegen die gebieterische Gestalt der jungen Frau, deren funkelndes Auge auf ihren Gatten geheftet war, und machte dann beim Hinausgehen vor Kleopatras Ruhebett halt, um die gnädig ihm hingebotene Hand in tiefer, bewundernder Huldigung an seine Lippen zu führen.

Hätte Edith auf den Vorwurf eine Erwiderung gegeben, ihr Gesicht verändert, oder das Schweigen, in dem sie beharrte, auch nur durch ein Wort unterbrochen, so würde Mr. Dombey, nun sie allein waren – denn Kleopatra hatte sich eiligst aus dem Staube gemacht – wohl imstande gewesen sein, seine Ansicht gegen sie zu behaupten. Aber gegen den tiefen, unaussprechlichen, vernichtenden Hohn, mit dem sie, nachdem sie ihm einen Blick zugeworfen, die Augen senkte, als sei er ihr zu gleichgültig und unbedeutend, um sich von ihm aufbringen zu lassen – gegen den Verachtung ausdrückenden Stolz, mit dem sie vor ihm saß, und gegen die kalte, unbeugsame Entschlossenheit, mit der jeder ihrer Züge ihn in den Staub zu schleudern schien, hatte er kein Hilfsmittel. Er entfernte sich daher, während sie in ihrer ganzen hochmütigen Schönheit zurückblieb, ohne seiner weiter zu achten.

War er niedrig genug, eine Stunde später ihr auf der alten, wohlbekannten Treppe aufzulauern, wo er einmal Florence im Mondlicht den kleinen Paul hatte hinantragen sehen – oder befand er sich nur zufälligerweise im Dunkeln, als er aufblickend die Wahrnehmung machte, daß sie mit einem Licht aus Florences Schlafgemach kam und wieder das auffallend veränderte Antlitz zeigte, dem er so gar nichts anhaben konnte.

Freilich konnte es sich nie so verändern, wie sein eigenes. Selbst im höchsten Stolz und in der größten Leidenschaft zeigte Ediths Gesicht nichts von dem Schatten, der an dem Abend der Rückkehr in der dunkeln Ecke das seine umnachtet hatte. Etwas Ähnliches war seitdem oft wiedergekehrt, und als er jetzt aufblickte, war das nämliche Düster darauf zu schauen.

  1. Guy Fawkes (1570–1606), als Haupt der sogenannten Pulververschwörung hingerichtet.

Siebenunddreißigstes Kapitel.


Siebenunddreißigstes Kapitel.

Mehr als eine Warnung.

Florence, Edith und Mrs. Skewton waren am andern Tage beisammen, und der angespannte Wagen harrte an der Tür. Denn Kleopatra hatte jetzt wieder ihre Galeere, und Withers, nicht länger der Spindeldürre, stand in taubengrauer Jacke und militärischen Beinkleidern zur Zeit der Tafel hinter ihrem räderlosen Stuhl, ohne fortan die Dienste eines Sturmbocks verrichten zu müssen. In jenen Tagen des Flaums glänzte Withers‘ Haar von Pomade; auch trug er Glacéhandschuhe und duftete von weitem nach Kölnischem Wasser.

Sie waren in Kleopatras Zimmer versammelt. Die Schlange des alten Nil (wir wollen sie nicht aus Achtungswidrigkeit so nennen) ruhte auf ihrem Sofa, schlürfte um drei Uhr nachmittags ihre Morgenschokolade, und Flowers, die Zofe, legte ihr die jugendlichen Manschetten und Krausen an. Dann verrichtete Flowers an ihrer Gebieterin noch eine Art Privatkrönung vermittels eines pfirsichblütenfarbenen Samthuts, in dem die künstlichen Rosen ungemein vorteilhaft nickten, je nachdem das Zittern des Kopfs gleich einem Lüftchen damit spielte.

»Ich denke, ich bin heute morgen ein wenig angegriffen, Flowers«, sagte Mrs. Skewton. »In der Tat, meine Hand zittert.«

»Ihr wißt, Ma’am«, versetzte Flowers, »daß Ihr gestern abend das Leben der ganzen Gesellschaft ausmachtet, und nun müßt Ihr es eben büßen.«

Edith, die Florence nach dem Fenster gewinkt hatte und eben hinaussah, den Rücken der Toilette ihrer hochachtbaren Mutter zugekehrt, wich jetzt plötzlich zurück, als ob es geblitzt hätte.

»Mein Herzchen«, rief Kleopatra im Tone der Erschöpfung, »du fühlst dich nicht angegriffen. Sage mir nicht, meine liebe Edith, daß du bei deiner beneidenswerten Ruhe gleichfalls anfängst, eine Märtyrerin zu werden, wie deine Mutter mit ihrer unglücklichen Konstitution. Withers, jemand an der Tür!«

»Karte, Ma’am«, sagte Withers, sie Mrs. Dombey überbringend.

»Ich gehe aus«, versetzte sie, ohne danach hinzusehen.

»Meine Liebe«, sprach Mrs. Skewton gedehnt, »wie gar wunderlich von dir, absagen zu lassen, ohne auch nur nach dem Namen zu sehen! Bring die Karte mir, Withers. Himmel, meine Liebe – noch dazu Mr. Carker! Dieser ungemein verständige Mann!«

»Ich gehe aus«, wiederholte Edith in so gebieterischem Ton, daß Withers zur Tür ging, dem Diener, der draußen wartete, die Worte »Mrs. Dombey geht aus. Also fort mit Euch!« zurief und ihm vor der Nase die Klinke zuschnappen ließ.

Nach langer Abwesenheit kam jedoch der Diener wieder zurück und flüsterte Withers abermals etwas zu, der darauf, obschon nur ungerne, aufs neue sich vor Mrs. Dombey präsentierte.

»Mit Erlaubnis, Ma’am, Mr. Carker läßt seine achtungsvollen Empfehlungen melden und bittet, wenn es Euch möglich sei, nur um eine einzige Minute – Geschäfte halber, Ma’am.«

»Wahrhaftig, meine Liebe«, sagte Mrs. Skewton in ihrer mildesten Weise, da das Gesicht ihrer Tochter einen drohenden Ausdruck angenommen hatte, »wenn du mir ein Wort gestatten willst, so möchte ich dir raten –«

»So führ‘ ihn hierher«, unterbrach sie Edith.

Sobald Withers verschwunden war, um diesen Befehl auszuführen, fügte sie finster gegen ihre Mutter hinzu: »Da es auf Euren Rat geschieht, so soll er auch auf Euer Zimmer kommen.«

»Darf ich – soll ich fortgehen?« fragte Florence hastig.

Edith nickte; aber schon auf dem Weg zur Tür begegnete Florence dem eintretenden Besuch. Mit derselben widerlichen Mischung von Vertraulichkeit und Schonung, mit dem er sie früher angeredet hatte, wandte er sich jetzt in seiner sanftesten Art an sie – hoffte, daß sie sich wohl befinde– brauchte nicht zu fragen, da er schon in dem Aussehen die Antwort las – hatte gestern abend kaum die Ehre gehabt, sie zu kennen, da sie sich so sehr verändert – und hielt ihr die Tür offen, daß sie hinausgehen konnte. Indes vermochte alle Ehrerbietung und Höflichkeit seines Benehmens nicht ganz das geheime Bewußtsein der Gewalt zu verbergen, die er über sie besaß und die sich in ihrem schüchternen Zurückweichen vor ihm ausdrückte.

Dann beugte er sich einen Augenblick über Mrs. Skewtons herablassende Hand und machte endlich Edith seine Verbeugung. Letztere erwiderte seinen Gruß mit Kälte, ohne ihn eines Blickes zu würdigen oder ihm einen Sitz anzubieten, und erwartete stehend seine Anrede.

Bei all ihrem Stolz und der ganzen Verstockung ihres Geistes fühlte sie doch den lähmenden Eindruck der alten Überzeugung, daß dieser Mann von Anfang an sie und ihre Mutter in ihren schlimmsten Farben erkannt habe – daß jede Herabwürdigung, die sie erduldet, vor ihm so offen daliege, wie vor ihr selbst– daß er in ihrem Leben zu lesen verstand, wie in einem schlechten Buch, und daß er in den geringschätzigen Blicken und Tönen, die keiner anders aufdecken konnte, die Blätter vor ihr umschlug. Zwar trat sie ihm stolz entgegen, ihr gebieterisches Gesicht zwang ihn zur Demut, ihre Verachtung ausdrückende Lippe wies ihn zurück, ihre Brust wogte zornig über seine Aufdringlichkeit, und die dunkeln Wimpern ihrer Augen verschleierten düster das darunter weilende Licht, um ihm ja keinen Strahl davon zukommen zu lassen, während er mit der Miene eines Gekränkten, bittend, aber mit vollkommener Unterwerfung unter ihren Willen, vor ihr stand. Trotzdem aber fühlte sie in ihrer tiefsten Seele, wie ganz anders die Sache sich verhielt, als es den Anschein hatte. Eine innere Stimme sagte ihr, der Triumph und die Überlegenheit seien auf seiner Seite und er wisse das recht wohl.

»Ich habe mich unterfangen«, sagte Mr. Carker, »Euch um Gehör zu bitten, und es zugleich gewagt, den Gegenstand meines Besuches als Geschäftssache zu bezeichnen, weil –«

»Vielleicht seid Ihr von Mr. Dombey mit einem Verweise beauftragt«, unterbrach ihn Edith. »Ihr besitzt Mr. Dombeys Vertrauen in einem so ungewöhnlichen Grade, Sir, daß es mich kaum überraschen würde, wenn dies Euer Geschäft wäre.«

»Ich überbringe keinen Auftrag an eine Dame, die einen Glanz auf seinen Namen wirft«, sagte Mr. Carter. »Aber ich bitte diese Dame, einem unbedeutenden, von Mr. Dombey abhängigen Mann, der schon durch seine Stellung zur Demut angewiesen ist, Gerechtigkeit widerfahren zu lassen und zu bedenken, daß es gestern abend nicht in seine Macht gegeben war, der Beteiligung auszuweichen, die ihm bei einem sehr peinlichen Anlaß aufgedrungen wurde.«

»Meine teuerste Edith«, bemerkte Kleopatra in gedämpfter Stimme, indem sie ihr Augenglas senkte, »in der Tat ganz bezaubernd von Mr., wie heißt er doch. Und voll Herz!«

»Denn ich erlaube mir«, sagte Mr. Carter, sich mit einem Blick dankbarer Ehrerbietung auf Mrs. Skewton berufend, »ich erlaube mir, ihn einen peinlichen Anlaß zu nennen, obschon er es nur für mich war, da ich das Unglück hatte, bei ihm zugegen sein zu müssen. Eine solche kleine Irrung zwischen Personen, die sich gegenseitig mit uneigennütziger Hingebung lieben und in einer derartigen Sache gern jedes Opfer bringen würden, ist eigentlich für nichtig anzuschlagen, und ich stimme Mrs. Skewton vollkommen bei, die gestern abend mit so viel Wahrheit und Gefühl das alles auch für nichtig erklärte.«

Edith konnte nicht nach ihm hinsehen, sagte aber nach einer kurzen Pause:

»Und Euer Anliegen, Sir? –«

»Edith, mein Herz«, bemerkte Mrs. Skewton, »Mr. Carter steht diese ganze Zeit über! Mein lieber Mr. Carter, ich bitte, nehmt einen Sitz.«

Er gab der Mutter keine Antwort, sondern heftete seine Augen auf die stolze Tochter, als sei er entschlossen, nur ihrem Geheiß Folge zu geben. Wider Willen setzte sich Edith nieder und winkte ihm leicht mit der Hand, daß er gleichfalls Platz nehme. Sie tat das mit dem kalten Stolz anmaßender Überlegenheit. Aber wie sehr sie auch sogar gegen ein solches Zugeständnis angekämpft hatte, war es ihr doch entrungen worden. Genug für Mr. Carter. Er nahm Platz. »Habe ich Eure Erlaubnis, Madame«, sagte Carter, seine weißen Zähne gleich einem Lichte gegen Mrs. Skewton hinwendend – »eine Dame von Eurem trefflichen Verstand und Eurem tiefen Gefühl wird mir zuversichtlich Glauben schenken, daß ich gute Gründe dafür habe – das, was mir mitzuteilen obliegt, an Mrs. Dombey zu richten, damit sie sodann Euch darüber Auskunft gebe, die Ihr, außer Dombey, ihrem Herzen am nächsten steht?«

Mrs. Skewton wollte sich entfernen, aber Edith hielt sie zurück. Sie würde auch dem Sprecher Einhalt getan und ihm entrüstet die Weisung gegeben haben, er solle entweder offen oder gar nicht reden. Da er jedoch mit gedämpfter Stimme die Worte – »Miß Florence – die junge Lady, die eben das Zimmer verlassen hat« – hinwarf, unterbrach sie ihn nicht weiter, und sah jetzt sogar nach ihm hin. Aber als er sich, um ihr näher zu sein, mit der Miene des größten Zartgefühls und der Achtung, die Zähne überredend zu einem abbittenden Lächeln geordnet, vorwärts beugte, war es ihr, als hätte sie ihn mit Einem Streiche totschlagen mögen.

»Miß Florence«, begann er, »hat sich in einer unglücklichen Lage befunden. Es fällt mir schwer, das gegen Euch zu berühren, da Eure Zuneigung zu dem Vater natürlich jedes Wort auf die Wagschale legen wird, das sich auf ihn bezieht.« Stets bestimmt und weich in seiner Sprache – keine Zunge vermöchte die Ausdehnung dieser Bestimmtheit und Weichheit zu schildern, als er obige Worte oder andere ähnlichen Inhalts vorbrachte. »Als ein Mann übrigens, der in seiner untergeordneten Stellung Mr. Dombey anhängt und der fast sein ganzes Leben in Bewunderung von Mr. Dombeys Charakter verbrachte, darf ich wohl sagen, ohne Eure Zärtlichkeit als Gattin zu verletzen, daß Miß Florence unglücklicherweise vernachlässigt wurde – von ihrem Vater. Darf ich sagen, von ihrem Vater?«

»Ich weiß es«, versetzte Edith.

»Ihr wißt es?« entgegnete Mr. Carker, der tat, als fühle er sich ungemein erleichtert. »Dies wälzt mir eine Bergeslast von der Brust. Und hoffentlich ist Euch auch bekannt, worin diese Vernachlässigung ihren Ursprung nahm, in was für einer liebenswürdigen Phase von Dombeys Stolz – Charakter, wollte ich sagen –«

»Ihr könnt das übergehen, Sir«, erwiderte sie, »um desto früher mit dem zu Ende zu kommen, was Ihr mir mitzuteilen habt.«

»Ich fühle in der Tat, Madame«, versetzte Carter – »glaubt mir, ich fühle aus tiefster Seele, daß Mr. Dombey Euch gegenüber in nichts einer Rechtfertigung bedarf. Wofern Ihr übrigens mein Herz freundlich nach dem Euren beurteilen wollt, so werdet Ihr mir meine Teilnahme für ihn verzeihen, wenn sie auch vielleicht in ihrem Übermaß irre geht.«

Welch ein Dolchstoß für ihr stolzes Herz, Angesicht in Angesicht mit diesem Mann dasitzen zu müssen, der ihr den Meineid, den sie an dem Altare geschworen, wieder und wieder vorhielt, ihn ihr aufdrängend gleich dem Bodensatz in einer garstigen Tasse, den sie nicht zurückweisen konnte, wie sehr ihr auch davor ekelte. Beschämung, Leidenschaft und Gewissensbisse tobten in ihrem Innern, denn sie mußte sich gestehen, daß sie trotz der aufrechten und majestätischen Haltung, die sie ihm gegenüber bewahrte, im Geiste zu seinen Füßen saß.

»Miß Florence«, sagte Carter, »blieb der Sorge – wenn man anders hier von Sorge reden kann – der Dienstboten und bezahlten Personen überlassen, die in jeder Weise unter ihr standen, während ihr doch ein Führer und Kompaß für ihre Jugend nötig gewesen wäre. In Ermangelung dessen ist sie natürlich unbesonnen gewesen und hat einigermaßen ihre Stellung vergessen. Es begab sich eine törichte Geschichte mit einem gewissen Walter, einem gemeinen Jungen, der jetzt glücklicherweise tot ist. Außerdem unterhielt sie, wie ich mit Bedauern sagen muß, einen sehr unwünschenswerten Verkehr mit einigen Küstenschiff-Matrosen von nichts weniger als gutem Ruf und einem entlaufenen alten Bankerottmacher.«

»Ich habe von diesen Umständen gehört, Sir«, entgegnete Edith, einen Blick der Verachtung nach ihm hinblitzen lassend, »und weiß, daß Ihr sie verdreht. Möglich, daß Ihr selbst nicht gehörig unterrichtet seid. Ich hoffe das wenigstens.«

»Verzeiht mir«, sagte Mr. Carter. »Ich glaube, niemand kann besser davon unterrichtet sein als ich. Eure hohe, warme Seele, Madame, dieselbe Seele, die so edel, so gebieterisch ist in Verteidigung Eures geliebten und geehrten Gatten und denselben völlig nach Würden behandelt, verdient sicherlich alle Achtung, und ich beuge mich in Ehrerbietung davor. Doch was die Umstände betrifft, auf die ich Euch aufmerksam zu machen für meine Pflicht halte, so kann ich keinem Zweifel Raum geben, daß ich nicht in Erfüllung meiner Aufgabe als Mr. Dombeys vertrauter Freund – ich erdreiste mich, ihn so zu nennen – alles vollkommen erkundet habe. Ich bemühe mich, diesem Vertrauen Ehre zu machen, und sorge für alles, was in Beziehung dazu steht. Jedenfalls habe ich mich jetzt beeilt, von dieser treuen Sorge Euch einen Beweis zu bringen; und so habe ich in Person sowohl als durch zuverlässige Werkzeuge geraume Zeit den Tatsachen nachgeforscht, so daß ich mit zahlreichen und ins einzelne gehenden Belegen versehen bin.«

Sie erhob ihre Augen nicht höher als bis zu seinem Mund, sah aber die Mittel zum Unheilstiften prahlerisch in jedem Zahn, den er enthielt, sich zur Schau stellen.

»Verzeiht mir, Madame«, fuhr er fort, »wenn ich mir in meiner Verwirrung herausnehme, Euch um Euren Rat anzugehen und mir Eure Weisungen zu erbitten. Ich glaube, bemerkt zu haben, daß Ihr für Miß Florence große Teilnahme fühlt.«

Was gab es auch in ihr, das er nicht bemerkt hätte, und das ihm nicht bekannt gewesen wäre? Gedemütigt und zugleich bis zum Wahnsinn gehetzt bei dem Gedanken in jeder neuen, auch noch so unbedeutenden Ahnung davon, preßte sie ihre Zähne auf die bebende Lippe, um sie zur Ruhe zu bringen, und verbeugte als Erwiderung abgemessen den Kopf.

»Diese Teilnahme, Madame – ein so rührender Beweis davon, daß Euch alles teuer ist, was mit Mr. Dombey zusammenhängt – veranlaßt mich, zu zögern, ehe ich ihn mit den gedachten Umständen bekannt mache, von denen er bis jetzt noch nichts weiß. Wenn ich es gestehen darf, so erschüttert sie mich insoweit in meiner Dienstpflicht, daß ich sie unterdrücken würde, wenn Ihr mir auch nur im mindesten andeutet, daß Ihr dies wünschen könntet.«

Edith erhob rasch ihren Kopf, fuhr zurück und heftete ihren dunkeln Blick auf ihn. Er begegnete ihm mit seinem mildesten, ehrerbietigsten Lächeln und fuhr fort:

»Ihr sagt, meine Darstellung sei eine verkehrte. Ich fürchte leider das Gegenteil; doch laßt uns annehmen, daß Ihr recht hättet. Die Unruhe, die ich bisweilen in der Sache fühlte, hat ihren Grund darin, daß die bloß öftere Wiederholung eines solchen Verkehrs der Miß Florence, wie unschuldig und vertrauensvoll er auch gewesen sein mag, für Mr. Dombey, der vornweg gegen sie eingenommen ist, maßgebend sein und ihn – ich weiß, daß er schon öfters daran gedacht hat – bewegen würde, sie ganz aus dem Hause fortzuschaffen. Madame, ich kenne und verehre Mr. Dombey fast von Kindheit auf. Habt daher Nachsicht mit mir, wenn ich sage, daß, falls er einen Fehler hat, dieser in einem gewissen Starrsinn besteht, dem wir alle uns unterwerfen müssen. Ich will ihm damit durchaus keinen Vorwurf machen; denn er ist in seinem edlen Stolz und in dem Gefühl der ihm zuständigen Macht begründet; aber eben deshalb kann man ihm nicht so beikommen, wie andern Charakteren, und die erwähnte Eigenschaft steigert sich von Tag zu Tag, von Jahr zu Jahr.«

Ihr Blick haftete noch immer auf ihm; aber mochte sie ihn so fest ansehen, wie sie wollte, ihre stolze Nase erweiterte sich, ihr Atem wurde etwas tiefer, und ihre Lippe warf sich leicht auf, als er in seinem Dienstherrn das schilderte, wovor sie alle sich beugen mußten. Er sah es, und obschon sich der Ausdruck seines Gesichtes nicht änderte, so wußte sie doch sehr gut, daß er es sah.

»Selbst ein so geringfügiger Vorfall, wie der von gestern abend«, sagte er, »wenn es mir gestattet ist, noch einmal darauf zurückzukommen, kann dazu dienen, meine Meinung besser zu belegen, als ein wichtigerer. Dombey und Sohn nimmt keine Rücksicht auf Zeit oder Ort, sondern wirft alles vor sich nieder. Indes ist es mir lieb, daß es so kam, denn ich wurde dadurch ermutigt, mich um des erwähnten Gegenstandes willen Mrs. Dombey zu nahen, selbst auf die Gefahr hin, mir zur Zeit ihr Mißfallen zuzuziehen. Madame, als ich um eben jener Geschichte willen voll Unruhe und Besorgnisse war, wurde ich von Mr. Dombey nach Leamington beschieden. Ich sah Euch dort und erkannte sogleich, welches Verhältnis bald zwischen ihm und Euch stattfinden werde – zu seinem und Eurem dauernden Glück. Damals faßte ich den Entschluß, die Zeit Eures Einzuges hier im Hause abzuwarten und zu handeln, wie ich jetzt gehandelt habe. Ich fürchte in der Tat nicht, daß ich es in meiner Pflicht gegen Mr. Dombey fehlen lasse, wenn ich das, was ich weiß, in Eurer Brust begrabe; denn wo – wie in einer solchen Ehe – zwischen zwei Personen nur ein Geist und ein Sinn herrscht, ist die eine fast für die andere zu nehmen. Mein Gewissen kann mich daher vollkommen freisprechen, mag ich mich nun in diesem Gegenstande Euch oder ihm vertrauen. Aus den erwähnten Gründen habe ich mich an Euch gewendet. Darf ich der mich so auszeichnenden Hoffnung Raum geben, daß mein Vertrauen nicht zurückgewiesen wird und ich meiner Verantwortlichkeit entbunden bin?«

Er erinnerte sich noch lange des Blickes, den sie ihm jetzt zuwarf – wer hätte ihn sehen und vergessen können? – und des inneren Kampfes, der darauf folgte. Endlich sagte sie:

»Ich nehme es an, Sir. Ihr werdet aber die Gefälligkeit haben, diese Sache damit als beendigt zu betrachten und eingedenk zu sein, daß unsere Beziehung nicht weiter geht.«

Er verbeugte sich tief und erhob sich. Auch sie stand auf, und er verabschiedete sich mit aller Unterwürfigkeit. Withers aber, der ihm auf der Treppe begegnete, blieb stehen, um die Schönheit seiner Zähne und sein strahlendes Lächeln zu bewundern. Als Carker sodann auf seinem weißbeinigen Pferd fortritt, hielten ihn die Leute um des blendenden Schauspiels willen, das er bot, für einen Zahnarzt. S i e dagegen hielten die Leute, als sie unmittelbar nachher in ihrer Equipage ausfuhr, für eine vornehme Dame, die ebenso glücklich wie reich war. Freilich – wer sie einen Augenblick zuvor gesehen hätte, als sie in ihrem Zimmer allein war – wer Zeuge gewesen wäre, als sie nur die drei Worte ausstieß: »O Florence, Florence« würde anders gedacht haben.

Mrs. Skewton, die auf ihrem Sofa ruhte und Schokolade schlürfte, hatte nichts gehört, als das gemeine Wort »Geschäft«, das ihr einen tödlichen Widerwillen einflößte. Das Wort war nämlich längst aus ihrem Wörterbuch verbannt und hätte beinahe in bezaubernder Weise und einem ungemeinen Aufwand von Herz, der Seele gar nicht zu gedenken, unterschiedliche Putzmacherinnen und infolge davon auch andere Personen zugrunde gerichtet. Sie stellte daher keine Fragen und zeigte durchaus keine Neugier. Überhaupt gab ihr im Freien der pfirsichblütenfarbige Samthut hinreichend zu schaffen. Da er nämlich nur auf dem hinteren Teil ihres Kopfes festsaß und der Tag ziemlich windig war, so schien er wie wahnsinnig darauf auszugehen, Mrs. Skewtons Gesellschaft zu entlaufen, und wollte sich durchaus nicht zu einem gütlichen Vergleich heranlassen. Der Wagen wurde zugemacht und der Wind ausgeschlossen. Der zitternde Kopf spielte unter den künstlichen Rosen wie ein ganzes Armenhaus voll altersschwacher Zephire, Mrs. Skewton hatte auch so noch genug zu tun, so daß in dem Wagen ein gleichgültiges Schweigen herrschte.

Gegen Abend ging es noch schlimmer; denn Mrs. Dombey wartete, nachdem sie sich angekleidet hatte, schon eine halbe Stunde auf ihre Mutter, und Mr. Dombey stieg mit einem feierlichen Ärger – alle drei sollten nämlich an einem auswärtigen Diner teilnehmen – in dem Besuchszimmer auf und ab, als Flowers, die Zofe, mit bleichem Gesicht in Mrs. Dombeys Toilettezimmer stürzte.

»Ach, Ma’am«, rief sie; »ich bitte um Verzeihung, aber ich kann nichts mit Missiß anfangen.«

»Was meinst du damit?« fragte Edith.

»Ich weiß es selber kaum, Ma’am«, versetzte das erschreckte Mädchen. »Sie macht solche Gesichter.«

Edith eilte mit ihr nach dem Gemach ihrer Mutter. Kleopatra war in ihrem vollen Putze; aber trotz der Diamanten, der kurzen Ärmel, des Rots, der falschen Locken, der Zähne und anderer jugendlichen Zeichen hatte sich der Schlaganfall nicht täuschen lassen, sondern in ihr den Gegenstand seines Suchens erkannt und sie nach dem Spiegel hingeworfen, wo sie zusammengebrochen gleich einer schrecklichen Puppe lag.

Sie beraubten sie des falschen Prunkes und brachten das wenige, was an ihr echt war, auf ein Bett. Man schickte nach Ärzten, die auch bald erschienen. Kräftige Belebungsmittel wurden in Anwendung gebracht und Ansichten darüber abgegeben, daß sie sich wahrscheinlich von dieser Erschütterung erholen, aber einen zweiten Schlag nicht überleben werde. Und so lag sie tagelang da, sprachlos und die Decke anstarrend, bisweilen, wenn sie wußte, wer da war, auf die gestellten Fragen in unartikulierten Lauten Antwort gebend, zu andern Zeiten aber weder durch Zeichen noch Gebärden oder überhaupt eine Bewegung ihres Auges antwortend. Endlich kehrte allmählich das Bewußtsein und einigermaßen auch die Bewegungsfähigkeit, nicht aber die Sprache zurück. Eines Tages, als sie die rechte Hand wieder benützen konnte, zeigte sie diese ihrem Mädchen, das sie verpflegte. Sie schien sehr unruhig zu sein und deutete durch Gebärden an, daß sie einen Bleistift und etwas Papier wünsche. Die Dienerin schaffte das Geforderte augenblicklich herbei, in der Meinung, Mrs. Skewton wolle ein Testament machen oder einen letzten Wunsch aufzeichnen, und da Mrs. Dombey abwesend war, so sah sie dem Ergebnis mit feierlichen Empfindungen entgegen.

Nach vielem peinlichen Gekritzel und Wiederauslöschen, wobei unrechte Buchstaben willkürlich aus dem Bleistift herauszufallen schienen, kam das alte Weib endlich mit nachstehendem Schriftstück zustande:

»Rosenfarbige Vorhänge.«

Das Mädchen hatte allen Grund, kaum ihren Augen zu trauen, und Kleopatra, die ihr Erstaunen bemerkte, verbesserte das Manuskript, indem sie zwei weitere Worte beifügte, so daß es so lautete:

»Rosenfarbige Vorhänge für die Ärzte.«

Der Dienerin dämmerte jetzt der Gedanke auf, daß sie die Vorhänge wünsche, um vor der Fakultät in einem rosigeren Licht zu erscheinen, und da diejenigen im Hause, die Mrs. Skewton am besten kannten, die Richtigkeit dieser Ansicht nicht in Zweifel zogen, so wurde ihr Bett mit dem gewünschten Stoff, der leicht beizuschaffen war, behängt. Von Stunde an ging es mit der Kranken schnell besser. Sie war bald imstande, im Bett aufzusitzen, weshalb denn auch die Locken, eine Spitzenhaube und ein mit Spitzen besetztes Nachtgewand in Anspruch genommen wurden; auch mußte ein wenig künstliches Rot die tiefen Höhlen ihrer Wangen ausfüllen.

Es war ein erschreckender Anblick, wie dieses alte Weib mit dem Tod noch so jugendlich kokettierte, als habe sie es nur mit dem Major zu tun; aber der Schlaganfall hatte auch eine Veränderung in ihrem Geist zur Folge, die ernsten Stoff zu unheimlichen Betrachtungen abgab. Ob sie durch die Schwächung ihres Verstandes schlauer und falscher geworden war, als zuvor, ob eine Verwirrung zwischen dem erkünstelten und natürlichen Ich stattfand, ob dadurch ein Anflug von Gewissensbissen geweckt wurde, der sich nicht recht ins Licht kämpfen konnte, aber doch auch nicht ganz in die Dunkelheit zu drängen war, oder ob – vielleicht die wahrscheinlichste Annahme – das Zusammenbrechen ihrer intellektuellen Fähigkeiten ein Gemisch aller dieser Wirkungen aufgewühlt hatte, das Ergebnis war folgendes: Edith konnte ihr nicht genug Liebe, Dankbarkeit und Aufmerksamkeit erweisen. Ihrem stetigen Eigenlob nach hätte sie die beste und unschätzbarste aller Mütter sein müssen, und namentlich war sie sehr eifersüchtig darauf, in Ediths Zuneigung keine Nebenbuhlerin zu haben. Statt sich an den Vertrag zu erinnern, der zwischen ihnen geschlossen worden war, diesen Gegenstand zu vermeiden, spielte sie beständig auf die Heirat ihrer Tochter als auf den Beweis an, daß sie eine unvergleichliche Mutter sei; und dieses noch obendrein mit der Schwäche und Reizbarkeit eines solchen Zustandes, der stets einen ironischen Kommentar zu ihrer erkünstelten Jugendlichkeit abgab.

»Wo ist Mrs. Dombey?« konnte sie ihre Zofe fragen.

»Ausgegangen, Ma’am.«

»Ausgegangen? Geht sie aus, um ihrer Mutter aus dem Weg zu gehen, Flowers?«

»Aber, Gott behüte, nein, Ma’am. Mrs. Dombey hat nur mit Miß Florence eine Spazierfahrt gemacht.«

»Mit Miß Florence. Wer ist Miß Florence? Sage mir nichts von Miß Florence. Was kann ihr Miß Florence sein in Vergleich mit mir?«

Das Blitzen der Diamanten, der pfirsichblütenfarbene Samthut – sie empfing schon wochenlang in diesem Hut Besuche, noch ehe sie über die Stubentür hinaus konnte – oder irgendein anderer bunter Putz tat gewöhnlich den Tränen Einhalt, die bei solchen Betrachtungen zu fließen begannen, und sie verblieb dann in einem Zustand von Selbstgefälligkeit, bis Edith erschien, um nach ihr zu sehen. Sobald sie die stolze Gestalt ihrer Tochter gewahr wurde, kam wieder ein Rückfall.

»Endlich doch einmal, Edith!« konnte sie mit schüttelndem Kopfe rufen.

»Was gibt es, Mutter?«

»Was es gibt? Ich weiß es wirklich nicht. Die Welt ist so erkünstelt und undankbar geworden, daß ich entschieden glaube, es ist kein Herz – oder irgend etwas der Art – in ihr zurückgeblieben. Withers ist kindlicher gegen mich, als du. Er pflegt mich mehr, als meine eigene Tochter. Es wäre mir fast lieb, wenn ich nicht so jung aussähe – und all dergleichen – dann würde ich vielleicht mehr berücksichtigt werden.«

»Was wünscht Ihr, Mutter?«

»O, sehr viel, Edith«, entgegnete sie ungeduldig.

»Fehlt es Euch an irgend etwas? Wenn das der Fall, so ist es nur Eure eigene Schuld.«

»Meine eigene Schuld«, begann sie zu wimmern. »Was für eine Mutter bin ich dir gewesen, Edith – eine treue Gefährtin von deiner Wiege an! lind dafür vernachlässigst du mich und hast nicht mehr natürliche Zuneigung zu mir, als ob ich eine Fremde wäre – nicht den zwanzigsten Teil der Liebe, die du an Florence verschwendest. Aber ich bin ja nur deine Mutter und könnte sie in einem Tage verderben! – Du machst mir Vorwürfe, daß es meine eigene Schuld sei.«

»Mutter, Mutter, ich mache Euch mit nichts einen Vorwurf. Warum immer und ewig diese Geschichten?«

»Ist es nicht natürlich, daß ich immer wieder darauf zurückkommen muß, wenn ich lauter Liebe und Empfindung bin, dafür aber in der grausamsten Weise verwundet werde, so oft du mich nur ansiehst.«

»Ich beabsichtige durchaus nicht, Euch zu verletzen, Mutter. Erinnert Ihr Euch denn gar nicht mehr, was zwischen uns abgemacht wurde? Laßt die Vergangenheit ruhen.«

»Ja, laß sie ruhen! Laß auch die Dankbarkeit gegen mich ruhen – laß die Liebe gegen mich ruhen – laß mich in meinem von der ganzen Welt abgelegenen Stübchen, ohne Gesellschaft und Aufmerksamkeit, während du neue Bekanntschaften anknüpfst, die auf Erden nicht den mindesten Anspruch an dich haben! Ach, du mein Himmel, Edith, weißt du auch, wie elegant das Hauswesen ist, an dessen Spitze du stehst?«

»Ja.«

»Und jener ritterliche Mann, Dombey? Weißt du, daß du mit ihm verheiratet bist, Edith – daß du eine Versorgung, eine Stellung, eine Ausstattung, und was weiß ich alles, hast?«

»In der Tat, ich weiß dies recht wohl, Mutter.«

»Wie du es gehabt haben würdest bei jener entzückenden, guten Seele – wie hieß er doch? – Granger – wenn er nicht gestorben wäre. Und wem hast du das alles zu danken, Edith?«

»Euch, Mutter; Euch.«

»Dann schlinge deine Arme um meinen Nacken und küsse mich. Zeige mir, Edith, daß du weißt, es habe nie eine bessere Mutter gegeben, als ich dir gewesen bin. Und laß mich nicht dadurch, daß du mich mit deinem Undank quälst, zu einer wahren Vogelscheuche werden, da mich sonst, wenn ich wieder in Gesellschaft gehe, keine Seele kennen wird, nicht einmal jenes abscheuliche Tier, der Major.«

Bisweilen aber, wenn Edith ihr näher trat, das stattliche Haupt zu ihr niederbeugte und ihre kalten Wangen an die ihrigen legte, konnte die Mutter zurückfahren, als fürchte sie sich vor ihr, und unter einem Anfall von Zittern in den Ruf ausbrechen, daß es in ihrem Kopf irre sei. Zu andern Zeiten flehte sie die Tochter demütig an, auf dem Stuhl neben ihrem Bett Platz zu nehmen, und blickte dabei mit einem Gesicht, das sich selbst unter den rosenfarbigen Vorhängen nur scheu und verwirrt ausnahm, nach der düster sinnenden Gestalt hin. Im Lauf der Zeit erröteten die rosenfarbigen Vorhänge über Kleopatras leibliche Wiedergenesung, über ihren Aufzug, der, jugendlicher als je, die Verheerungen der Krankheit gutmachen sollte, über das Rot, die Zähne, die Locken, die Diamanten, die kurzen Ärmel und die ganze Garderobe der Puppe, die vor dem Spiegel zusammengebrochen war. Sie erröteten auch hin und wieder über eine Unbestimmtheit in ihrer Sprache, über das mädchenhafte Kichern, mit dem sie redete, und über ein gelegentliches Nachlassen ihres Gedächtnisses, das sich an keine Regel band, sondern phantastisch kam und ging, wie im Hohn über ihr eigenes phantastisches Ich.

Nie aber erröteten sie über einen Wechsel in der neuen Denk- und Sprechweise, die sich der Tochter gegenüber bei ihr bekundete. Und obgleich diese Tochter oft in den Bereich ihres Widerscheins kam, so erröteten sie nie ob ihrer durch ein Lächeln beleuchteten Liebenswürdigkeit oder ob der durch das Licht kindlicher Liebe gemilderten Strenge in ihrem schönen Antlitz.

Achtunddreißigstes Kapitel .


Achtunddreißigstes Kapitel .

Miß Tox nimmt eine alte Bekanntschaft wieder auf

Aufgegeben von ihrer Freundin Louisa Chick und des Anblicks von Mr. Dombeys Gesicht beraubt – denn kein seines Paar durch Silberdraht verbundener Verlobungskarten schmückte den Spiegel über dem Kamin auf dem Prinzessinnenplatz, das Klavier oder irgendeinen von jenen kleinen Prunkgegenständen, die Lukretia sich für ihre Festtagsbeschäftigung vorbehielt – wurde Miß Tox sehr niedergeschlagen und schwermütig. Eine Zeitlang hörte man auf dem Prinzessinnenplatz nichts mehr von dem Vogelwalzer. Die Pflanzen wurden vernachlässigt, und auf dem Miniaturbild des Vaters von Miß Tox mit seinem gepuderten Kopf und Haarbeutel sammelte sich der Staub.

Miß Tox war jedoch dank ihres Alters oder ihres Charakters nicht geeignet, sich lange nutzlosen Klagen hinzugeben. Nur zwei Saiten des Klaviers waren infolge des Nichtgebrauchs verstummt, als der Vogelwalzer schon wieder in dem winkligen Besuchszimmer trillerte und wirbelte. Ein einziger Geranium-Ableger wurde ein Opfer der unvollkommenen Pflege, als sie schon wieder ihren Garten in den grünen Töpfen jeden Morgen regelmäßig begoß; und der puderköpfige Vater hatte kaum mehr als sechs Wochen unter der Wolke gehangen, als Miß Tox sein wohlwollendes Gesicht anhauchte und es mit einem Stück Waschleder polierte.

Dennoch fühlte sie sich einsam und verlassen. Wenn sie jemandem ihre Zuneigung geschenkt hatte, war ihr ganzes Herz und ihre Seele dabei, wie lächerlich sie dies auch kundgeben mochte, und die unverdiente Kränkung, die sie von Louisa erfahren, verletzte sie tief. Der Charakter von Miß Tor ließ keinen nachhaltigen Groll aufkommen. Wenn sie während ihres Lebens in ihrer sanften Art jeden nach seiner Fasson hatte selig werden lassen und keine eigenen Ansichten gehabt hatte, so war sie wenigstens ohne heftige Leidenschaften durchgekommen. Eines Tages erblickte sie auf beträchtliche Entfernung hin ihre ehemalige Freundin auf der Straße, und dies überwältigte ihr weiches Herz so sehr, daß sie augenblicklich ihre Zuflucht zu einem Pastetenbäcker nehmen mußte, um daselbst in einem dumpfen kleinen Hinterstübchen, das gewöhnlich zur Verzehrung von Kraftbrühen besucht wurde und von einer Ochsenschwanz-Atmosphäre qualmte, ihre Gefühle durch einen reichlichen Tränenerguß zu beruhigen.

Gegen Mr. Dombey fühlte Miß Tor kaum einen Grund zur Beschwerde; denn die Großartigkeit dieses Gentleman war in ihren Augen so eindrucksvoll, daß es ihr nach seiner Entfremdung vorkam, als sei der Abstand stets unermeßlich und er sehr herablassend gewesen, daß er sie überhaupt nur in seiner Nähe geduldet hatte. Nach ihrer aufrichtigen Ansicht konnte für ihn keine Frau zu schön oder zu vornehm sein, und es lag vollkommen in der Natur der Sache, daß er bei der Wahl einer Gattin nach oben schaute. Unter Tränen stellte sie sich diese Wahrheit wohl zwanzigmal des Tages vor und fand sie vollauf berechtigt. Sie dachte nie an die stolze Weise, mit der Mr. Dombey sie seiner Bequemlichkeit und seinen Launen dienstbar gemacht hatte, indem er gnädigst gestattete, daß sie eine von den Wärterinnen seines kleinen Sohnes wurde. Wie sie selbst sagte, hatte sie in jenem Hause viele glückliche Stunden verbracht, deren sie sich stets mit Dank erinnern mußte. Auch konnte sie nie aufhören, Mr. Dombey als einen der würdevollsten Männer zu betrachten.

Von der unversöhnlichen Louisa aber verstoßen und mit einiger Scheu vor dem Major, den sie jetzt mit Mißtrauen betrachtete, war es gleichwohl für Miß Tor sehr ärgerlich, daß sie nicht erfuhr, was in Mr. Dombeys Hause vorging. Sie hatte sich in der Tat daran gewöhnt, in Dombey und Sohn die Angel zu sehen, um die sich die Welt im allgemeinen drehte. So beschloß sie, ehe sie auf alle Kunde von dem verzichte, was von so großem Interesse für sie war, lieber ihre alte Bekanntschaft mit Mrs. Richards wieder aufzunehmen. Sie wußte seit ihrem letzten denkwürdigen Erscheinen vor Mr. Dombey, daß sie hin und wieder einen Verkehr mit den Dienstboten unterhielt. Vielleicht wurde Miß Tor beim Aufsuchen der Toodle-Familie im geheimen noch durch den zarteren Beweggrund geleitet, daß sie dann jemand habe, mit dem sie über Mr. Dombey sprechen konnte, gleichviel, wie gering dieser Jemand auch war.

Wie dem nun sein mochte, Miß Tor richtete eines Abends ihre Schritte nach Toodles Wohnung – eine Zeit, um die Mr. Toodle schwarz und rußig im Kreise seiner Familie sich mit Tee erfrischte. Mr. Toodle kannte nur drei Stadien seines Daseins: er nahm entweder Erfrischungen in dem eben erwähnten Kreise ein, oder stürmte mit einer Geschwindigkeit von fünf bis zehn Meilen in der Stunde durchs Land, oder gab sich nach des Tages Mühe dem Schlafe hin. Er befand sich immer in einem Sturm oder in einer Windstille – in jedem dieser Zustände ein friedlicher, zufriedener, bequemer Mann, der alles Aufbrausende in seiner Natur an die keuchenden, pustenden und sich in der schonungslosesten Weise aufreibenden Dampfmaschinen abgetreten zu haben schien, während er selbst ein stilles, gleichförmiges Leben führte.

»Polly, mein Mädel«, sagte Mr. Toodle, dem auf jedem Knie ein junger Toodle saß, während zwei andere den Tee für ihn anfertigten und eine hübsche weitere Anzahl sich in der Stube umhertummelte – er war nämlich nie ohne Kinder, sondern hielt stets einen guten Vorrat bereit – »hast du in der letzten Zeit unsern Sieder nicht gesehen?«

»Nein«, versetzte Polly! »aber ich rechne fast mit Sicherheit darauf, daß er heute noch kommen wird. Es ist sein Abend, und er hält ihn sehr regelmäßig ein.«

»Ich meine«, sagte Mr. Toodle, der es sich einmal ungemein gut schmecken ließ, »unser Sieder entwickelt sich jetzt so gut fort, wie dies einem solchen Jungen möglich ist. Bist du nicht auch der Ansicht, Polly?«

»O, es geht ihm recht gut«, antwortete Polly.

»Bemerkst du nichts Heimliches an ihm – tut er nicht duckmäuserisch, Polly?« fragte Mr. Toodle.

»Nein!« erwiderte Mrs. Toodle nachdrücklich.

»Es freut mich, daß er sich nicht duckmäuserisch anläßt, Polly«, bemerkte Mr. Toodle in seiner langsamen, abgemessenen Weise und schaufelte sein Butterbrot mit einem Schnappmesser ein, als müsse er seine eigene Maschine mit Material versehen, »denn das wäre kein gutes Zeichen. Meinst du nicht, Polly?«

»Aber natürlich, Vater. Wie kannst du nur fragen!«

»Seht, meine Jungen und Mädels«, sagte Mr. Toodle, in seiner Familie umherschauend, »wo ihr je ein ehrliches Unterkommen finden mögt, so kommt euch gewiß nichts besser zustatten als die Offenheit. Geratet ihr in Bergdurchschnitte oder Tunnels, so gebt euch nicht mit geheimem Spiel ab. Haltet eure Pfeifen im Gang und laßt wissen, wo ihr seid.«

Die aufstehenden Toodles vereinigten sich zu einem wirren Lärm, um damit ihre Entschlossenheit anzudeuten, daß sie von dem väterlichen Rat Nutzen ziehen wollten.

»Aber wie kannst du nur wegen Rob mit solchen Fragen kommen, Vater?« ergriff jetzt die Mutter ängstlich da« Wort.

»Polly, meine Alte«, versetzte Mr. Toodle, »ich wüßte nicht, daß ich wegen Rob gerade etwas Besonderes gesagt hätte. Es ist mir nur so eingefallen. Ich komme vor ein Stationshaus; man nimmt mit, was sich da vorfindet, und ein ganzer Zug von Ideen wird angekoppelt, ehe ich weiß, wo ich bin, oder woher sie kommen. Was doch Menschengedanken für eine Verkettung sind!« fügte Mr. Toodle bei.

Mr. Toodle spülte diese tiefe Betrachtung mit einem großen Topf Tee hinunter und setzte darauf eine ansehnliche Menge Butterbrot. Dabei erteilte er seinen jungen Töchtern den Auftrag, einen gehörigen Vorrat Wasser im Topf heiß zu erhalten, da er ganz ausgetrocknet und deshalb ein »Anblick von vielen Tassen« erforderlich sei, ehe sein Durst sich zufrieden geben könne.

In der Befriedigung seines Appetits vergaß übrigens Mr. Toodle die jüngeren Zweige um ihn her durchaus nicht, denn obschon letztere bereits ihre Abendmahlzeit erhalten hatten, lugten sie doch nach den ungewöhnlichen Bissen aus, als ob solche von besonderem Wohlgeschmack wären. Diese verteilte er hin und wieder an den erwartungsvollen Kreis, indem er große Keile Butterbrot ausstreckte, von welchen die Familie in gesetzlicher Reihenfolge herunterbiß. Außerdem spendete er in gleicher Weise mit einem Löffel kleine Dosen Tee. Diese Extraportionen mundeten den jungen Toodles so köstlich, daß das junge Volk nach dem Genuß dann in seinem Entzücken kleine Tänze aufführte, auf einem Bein umherhüpfte und sich in andern sprunggerechten Merkzeichen der Freude erging. Nachdem es in solcher Weise seiner Aufregung Luft gemacht hatte, schloß es sich allmählich wieder an Mr. Toodle an und verwandte kein Auge von dem Tee und Butterbrot des Vaters, obschon es tat, als erwarte es für sich selbst nichts von diesen Nährmitteln, sondern wolle sich nur mit dem Familienhaupt in vertraulichem Flüstern über allerlei sonstige Gegenstände unterhalten.

Mr. Toodle, der inmitten seiner Kinder ein schauerliches Beispiel von Appetit gab, führte eben zwei junge Toodles auf seinen Knien, die einen besonderen Eisenbahnzug vorstellten, nach Birmingham und sah nach den andern über eine Barriere von Butterbrot hin, als Rob, der Schleifer, in seinem Südwesterhut und den Trauerkleidern eintrat – eine Erscheinung, die unter Brüdern und Schwestern ein stürmisches Willkommen hervorrief.

»Ah, Mutter!« sagte Rob, indem er ihr einen pflichtmäßigen Kuß aufdrückte. »Wie geht es Euch, Mutter?«

»Bist du da, mein Junge?« rief Polly, ihn umarmend und dann seinen Rücken klopfend. »Er und heimlich tun – aber Vater, wo denkst du hin?«

Dies war auf Mr. Toodles Privaterbauung berechnet; aber Rob, der Schleifer, der sich schon in seinem knappen Anzug unbehaglich fühlte, fing die Worte augenblicklich auf.

»Wie, hat der Vater wieder etwas über mich gesagt?« rief der gekränkte Unschuldige. »O, wie hart ist´s doch, daß es einem der eigene Vater hinterrücks immer ins Gesicht wirft, wenn man einmal ein wenig auf Abwege gekommen ist! Das könnte einen wohl dazu treiben«, rief Rob, in seinem Schmerz zu den Ärmelaufschlägen seine Zuflucht nehmend, »daß man hinginge und wider Willen etwas täte.«

»Mein guter Junge«, rief Polly, »der Vater meinte nichts damit.«

»Wenn der Vater nichts damit meinte«, heulte der beleidigte Schleifer, »warum geht er hin und sagt etwas? Niemand denkt nur halb so schlimm von mir, wie mein eigener Vater. Zu unnatürlich! Ich wollte, es nähme jemand ein Beil und hackte mir den Kopf ab. Ich glaube, der Vater würde sich nicht viel daraus machen, und es wäre mir lieber, er täte es, als ein anderer.«

Bei diesen verzweifelten Worten schrien alle die jungen Toodles laut hinaus – eine pathetische Wirkung, die der Schleifer noch erhöhte, indem er sie ironisch beschwor, nicht um ihn zu weinen, denn sie müßten ihn hassen – müßten es, wenn sie gute Knaben und Mädchen seien. Das ergriff den zweitjüngsten Toodle, der überhaupt leicht zu rühren war, so sehr, daß die Aufregung sich auch in seiner Stimmritze verfing und ihn ganz purpurrot machte. Das veranlaßte den bestürzten Mr. Toodle, ihn nach dem Wasserfaß hinauszunehmen und unter den Zapfen zu bringen, obschon diese medizinische Maßregel unnötig war; denn der Patient genas bei dem bloßen Anblick dieses Werkzeuges wieder.

Nachdem es soweit gekommen war, gab Mr. Toodle seine Erklärung ab. Hierüber beruhigten sich die tugendhaften Gefühle seines Sohnes. Sie gaben sich gegenseitig die Hand, und es herrschte wieder Eintracht.

»Willst du auch mitmachen, Sieder, mein Junge?« fragte der Vater, der mit erneuerter Kraft zu seinem Tee zurückkehrte.

»Nein, ich danke, Vater. Der Herr und ich, wir beide haben schon den Tee getrunken.«

»Und was macht dein Herr, Rob?« fragte Polly.

»Ich weiß selbst nicht, Mutter – es ist da nicht viel zu rühmen. Mit dem Geschäft ist es gar nichts, seht Ihr. Er versteht nichts davon – nicht das mindeste. So kommt erst heute ein Mann in den Laden und sagt: ›Ich möchte gern ein So und So haben‹, sagt er – es ist ein ganz schwerer Name. ›Was?‹ sagt der Kapt’n. ›Ein So und So‹, sagt der Mann. ›Bruder‹, sagt der Kapt’n, ›wollt Ihr Euch nicht im Laden umsehen?‹ ›Gut‹, sagt der Mann; ›ich habe es getan.‹ ›Seht Ihr, was Ihr braucht?‹ sagt der Kapt’n. ›Nein‹, sagt der Mann. ›Kennt Ihr es, wenn Ihr es zu Gesicht bekommt?‹ sagt der Kapt’n. ›Nein‹, sagt der Mann. ›Ei, dann will ich Euch was sagen, mein Junge‹, sagt der Kapt’n: ›geht lieber wieder zurück und fragt, wie es aussieht, denn ich weiß es auch nicht.‹«

»Das ist doch nicht die Art, wie man Geld verdient – oder?« fragte Polly.

»Geld, Mutter? Er wird nie Geld verdienen. Er hat eine Art an sich, wie ich nie etwas Ähnliches gesehen habe. Trotzdem möchte ich ihm nicht nachsagen, daß er ein schlimmer Herr ist. Mir kann es übrigens gleichgültig sein; denn ich glaube nicht, daß ich lange bei ihm bleiben werde.«

»Wie, nicht an deinem Platz bleiben, Rob?« rief die Mutter, während Mr. Toodle die Augen weit aufsperrte.

»Nicht an diesem Platz vielleicht«, entgegnete der Schleifer mit einem Blinzeln. »Es sollte mich nicht wundern – Ihr wißt, Freunde bei Hof – doch kümmert Euch vorderhand nicht darum, Mutter. Es ist schon in der Ordnung – mehr kann ich Euch nicht sagen.«

Der unanfechtbare Beweis, der in diesen Andeutungen und in dem geheimnisvollen Wesen des Schleifers lag, daß er nicht dem Fehler ausgesetzt sei, den Mr. Toodle bei ihm befürchtet hatte, würde vielleicht zu einer Erneuerung der früheren Unbill und zu einer weiteren Aufregung in der Familie geführt haben, wenn nicht im gelegenen Augenblick ein anderer Besuch angelangt wäre, der sich zu Pollys großer Überraschung unter der Tür zeigte und den Anwesenden mit freundschaftlicher Gönnermiene zulächelte.

»Wie geht es Euch, Mrs. Richards?« sagte Miß Tox. »Ich wollte nach Euch sehen. Darf ich eintreten?«

Auf dem heiteren Gesichte der Mrs. Richards leuchtete eine gastfreundliche Antwort, und Miß Tox, die den dargebotenen Stuhl annahm und dabei Mr. Toodle huldreich begrüßte, knüpfte ihr Hutband los und erklärte, sie müsse zuerst die lieben Kinder bitten, daß eines ums andere herkomme und sie küsse.

Der arme zweitjüngste Toodle, der um der oft durch ihn veranlaßten häuslichen Unruhen willen unter einem unglücklichen Planeten geboren zu sein schien, konnte sich an dieser allgemeinen Begrüßung nicht beteiligen, weil er unter dem Südwesterhut steckte. Er hatte vorher mit ihm gespielt und ihn sich jetzt verkehrt so tief auf seinen Kopf gesetzt, daß er unmöglich wieder herauskommen konnte. Dieser Zufall bot seiner erschreckten Phantasie das unheimliche Bild dar, als müsse er den Rest seiner Tage in Finsternis und hoffnungsloser Abgeschiedenheit von seiner Familie verbringen, weshalb er mit Macht zu kämpfen und ein ersticktes Geschrei auszustoßen anhub. Nach Befreiung von dieser Plage zeigte sich sein Gesicht sehr heiß, rot und feucht, weshalb Miß Tox das erschöpfte Büblein auf ihren Schoß nahm.

»Ich kann mir denken, Sir, daß Ihr mich fast vergessen habt«, sagte Miß Tox zu Mr. Toodle.

»Nein, Ma’am, nein«, sagte Toodle. »Aber wir alle sind seitdem ein bißchen älter geworden.«

»Und wie geht es Euch, Sir?« fragte Miß Tox freundlich.

»Ganz gut, Ma’am, danke«, versetzte Toodle. »Aber wie befindet Ihr Euch, Ma’am? Halten sich die Rheumatismen hübsch ferne, Ma’am? Wir müssen alle erwarten, in sie hineinzugeraten, je weiter wir vorrücken.«

»Danke«, sagte Miß Tox. »Ich habe von dieser Seite aus noch keine Unbequemlichkeit zu erfahren gehabt.«

»Da könnt Ihr von Glück sagen, Ma’am«, entgegnete Mr. Toodle. »Viele Personen von Eurem Alter, Ma’am, werden schwer davon heimgesucht. Da ist zum Beispiel meine Mutter – –« Er begegnete jetzt dem Auge seines Weibes und begrub weislich den Schluß seines Satzes in einer weiteren Tasse Tee.

»Ihr werdet mir doch nicht sagen wollen, Mrs. Richards«, rief Miß Tox, nach Rob hinsehend, »daß dies Euer –«

»Ja, mein Ältester, Ma’am«, ergänzte Polly. »Das ist der kleine Bursch, Ma’am, der die unschuldige Ursache von so vielem wurde.«

»Freilich, Ma’am«, pflichtete Toodle bei, »es ist der mit den kurzen Beinen – und sie waren«, fuhr er mit einem Anflug von Poesie in seinem Tone fort, »ungewöhnlich kurz für Lederhosen, als Mr. Dombey einen Schleifer aus ihm machte.«

Die Erinnerung überwältigte Miß Tox beinahe; denn der Gegenstand derselben hatte für sie unmittelbar ein besonderes Interesse. Sie forderte Rob auf, ihr die Hand zu geben, und wünschte seiner Mutter Glück zu seinem offenen feinen Gesicht. Rob, der dies mitanhörte, versuchte nun, eine entsprechende Miene aufzusetzen, um das Lob zu rechtfertigen, obschon es kaum die rechte war.

»Und nun, Mrs. Richards«, sagte Miß Tox – »und auch Ihr, Sir«, sich an Toodle wendend – »will ich euch unverhohlen und der Wahrheit gemäß sagen, weshalb ich hierher gekommen bin. Ohne Zweifel wißt Ihr, Mrs. Richards – und möglicherweise ist es auch Euch bekannt, Sir – daß zwischen mir und einigen meiner Freunde, die ich sonst häufig besuchte, eine kleine Entfremdung stattgefunden hat.«

Polly, die mit weiblichem Takt wohl verstand, was ihr Besuch meinte, drückte dies in einem leichten Blick aus, während Mr. Toodle, der nicht die mindeste Vorstellung von dem hatte, auf was Miß Tox anspielte, seine Unwissenheit mit einem weiten Aufsperren seiner Augen zu erkennen gab.

»Natürlich ist es von keinem Belang«, fuhr Miß Tox fort, »wie diese Kälte herbeigeführt wurde, und die Sache bedarf deshalb keiner Erörterung. Genug, daß ich die größtmögliche Achtung und Teilnahme habe für Mr. Dombey« – ihre Stimme stockte – »und alles, was zu ihm in Beziehung steht.«

Der so belehrte Mr. Toodle schüttelte den Kopf und entgegnete, er habe sagen hören und glaubte es auch für seinen Teil, daß mit Mr. Dombey nicht gut umzugehen sei.

»Ich bitte, habt die Güte, nicht so zu sprechen, Sir«, erwiderte Miß Tox. »Ich muß Euch flehentlich ersuchen, Sir, weder jetzt oder in Zukunft solche Äußerungen fallen zu lassen. Sie sind sehr schmerzlich für mich und können gewiß bei einem Gentleman von so geordnetem Geist, wie es zuverlässig der Eure ist, keine nachhaltige Überzeugung bleiben.«

Mr. Toodle geriet in große Verwirrung; denn er hatte nicht im mindesten daran gezweifelt, daß seine Bemerkung mit Beifall aufgenommen werden würde.

»Alles, was ich Euch zu sagen wünsche, Mrs. Richards«, nahm Miß Tox wieder auf – »ich wende mich dabei auch an Euch, Sir– besteht darin, daß mir jede Euch etwa zugehende Kunde von dem Tun und Treiben der Familie, von der Wohlfahrt der Familie, von der Gesundheit der Familie stets von größtem Interesse sein wird. Wie angenehm ist es mir, mit Mrs. Richards über die Familie und von alten Zeiten plaudern zu können. Denn zwischen Mrs. Richards und mir gab es nie die mindeste Mißhelligkeit; zwar könnte ich wünschen, daß wir besser bekannt geworden wären, ob schon ich dafür nur mir selbst Vorwürfe zu machen habe. Aber ich hoffe doch, sie wird nichts dagegen haben, wenn wir jetzt uns freundschaftlich aneinander anschließen, und mir erlauben, daß ich, wenn ich Lust dazu habe, hier nicht als Fremde vorspreche. In der Tat, Mrs. Richards«, fügte Miß Tox angelegentlich bei, »Ihr werdet als das gutmütige Wesen, das ich stets in Euch kannte, diese Bitte aufnehmen, wie sie gemeint ist.«

Polly war erfreut darüber und bestätigte das auch. Mr. Toodle aber, der nicht wußte, ob er sich freuen sollte oder nicht, beharrte in einer stöckischen Ruhe.

»Ihr seht, Mrs. Richards«, sagte Miß Tox – »und ich hoffe, auch Ihr seht es, Sir, – daß es mancherlei gibt, wodurch ich Euch einigermaßen nützlich werden kann, wenn Ihr mich nicht als Fremde betrachten wollt. Es wird mich stets freuen, wenn ich in der Lage bin, Euch einen Dienst zu erweisen. So kann ich zum Beispiel Eure Kinder etwas lehren. Wenn Ihr es erlaubt, so will ich ein paar Büchlein und einige Arbeit mitbringen; sie können dann hin und wieder etwas lernen – ach, lieber Himmel, und wieviel sie hoffentlich lernen werden, um ihrer Lehrerin Ehre zu machen!«

Mr. Toodle, der großen Respekt vor dem Lernen hatte, duckte den Kopf beifällig nach seiner Frau hin und feuchtete mit aufdämmernder Zufriedenheit seine Hände an.

»Wenn ich nicht als Fremde gelte, werde ich niemandem im Wege stehen«, sagte Miß Tox, »und alles wird fortgehen, gerade so wie wenn ich nicht hier wäre. Mrs. Richards kann bei ihrer Näherei, beim Bügeln oder bei der Wartung ihrer Kinder bleiben, ohne auf mich Rücksicht zu nehmen; und Ihr raucht Eure Pfeife, wenn Ihr Lust dazu habt, Sir – nicht wahr?«

»Danke, Ma’am«, sagte Mr. Toodle. »Ja; ich will mein Röllchen zusammenschneiden.«

»Sehr schön von Euch, Sir«, versetzte Miß Tox, »und ich gebe Euch von ganzer Seele die Versicherung, daß es mir ein großer Trost sein wird und ich für alles, was ich vielleicht für die Kinder zu tun so glücklich bin, eine reiche Belohnung darin sehe, wenn Ihr mit aller Behaglichkeit auf diesen Vertrag eingeht, ohne ein weiteres Wort darüber zu verlieren.«

Der Vertrag wurde auf der Stelle ratifiziert, und Miß Tox tat ohne Verzug so ganz heimisch, daß sie sofort der Reihe nach ein einleitendes Verhör mit den Kindern vornahm und – zu Mr. Toodles großer Verwunderung – Alter, Namen und Fortschritte derselben auf ein Blatt Papier niederschrieb. Diese Zeremonie, die durch allerlei kleines Geplauder unterbrochen wurde, währte bis nach der gewöhnlichen Schlafenszeit der Familie. Miß Tox hielt sich so lange an Toodles Herd auf, bis es für sie zu spät war, allein nach Hause zu gehen. Der galante Schleifer aber, der gleichfalls dageblieben war, erbot sich höflich, sie bis vor ihre Tür zu begleiten, und da für Miß Tox etwas darin lag, wenn sie sich im Geleit eines jungen Menschen sehen lassen konnte, der Mr. Dombey seine erste Beinbekleidung verdankte, so ging sie sehr bereitwillig auf den Vorschlag ein.

Nachdem sie Mr. Toodle und Polly die Hand gereicht, sodann alle Kinder geküßt hatte, verließ sie das Haus unter unbegrenzter Popularität und mit so leichtem Herzen, daß Mrs. Chick sicherlich großen Anstoß daran genommen haben würde, wenn sie den Grad dieser Leichtigkeit hätte ermessen können.

Rob, der Schleifer, wollte in seiner Bescheidenheit hinter ihr dreingehen. Miß Tox aber forderte ihn auf, an ihrer Seite zu bleiben, damit sie sich mit ihm unterhalten könne, und »fragte ihn unterwegs aus«, wie sie nachher seiner Mutter berichtete.

Rob bestand sein Examen so glanzvoll, daß Miß Tox ganz bezaubert von ihm war. Je mehr sie herausholte, desto feiner machte er sich – gerade wie der Draht auf der Ziehbank. Wie er sich an jenem Abend ausnahm, hätte man glauben sollen, es habe nie einen besseren, klügeren, nüchterneren, ehrlicheren, bescheideneren und aufrichtigeren Menschen gegeben.

»Es freut mich in der Tat, daß ich Euch kenne«, sagte Miß Tox, als sie an ihrer Tür anlangte. »Ich hoffe, Ihr werdet mich als Eure Freundin betrachten und mich so oft besuchen, wie es Euch beliebt. Habt Ihr eine Sparbüchse?«

»Ja, Ma’am«, versetzte Rob. »Ich spare alles auf, bis ich genug habe, um es in die Bank zu legen, Ma’am.«

»In der Tat sehr löblich«, sagte Miß Tox. »Das höre ich gerne. Seid so gut, auch diese halbe Krone hineinzulegen.«

»O, ich danke Euch, Ma’am«, entgegnete Rob; »aber ich darf doch wirklich nicht daran denken, Euch zu berauben.«

»Euer unabhängiger Geist gefällt mir«, sagte Miß Tox; »aber ich versichere Euch, daß hier von keiner Beraubung die Rede ist. Ihr werdet mich kränken, wenn Ihr das Geldstück nicht als einen Beweis meiner guten Meinung annehmt. Gute Nacht, Robin.«

»Gute Nacht, Ma’am«, erwiderte Rob. »Und schönen Dank!«

Der Schleifer lachte sich ins Fäustchen, ließ sich die halbe Krone wechseln und verspielte sie mit Aufwerfen an einen Pastetenmann. Aber freilich hatte man in der Schleiferschule nichts von Ehrgefühl gelernt, denn das daselbst herrschende System war besonders geeignet, die Heuchelei einzuimpfen – in einem Grad sogar, daß viele von den Verwandten und Herren vormaliger Schleifer erklärten, wenn aus der Erziehung einfacher Menschen nichts weiter herauskomme, so unterbleibe sie besser ganz und gar. Einige Verständigere sagten, man solle bei der Leitung besseren Grundsätzen folgen; aber die Vorstände der Schleiferzunft traten stets solchen Einwürfen damit entgegen, daß sie einige Knaben heraussuchten, die trotz des Systems gut ausgefallen wären, und dann rundweg behaupteten, sie hätten dies nur ihrer Erziehung zu danken. Damit war den Tadlern das Handwerk gelegt und der Ruhm der Schleiferschule hergestellt.

Neununddreißigstes Kapitel.

Neununddreißigstes Kapitel.

Weitere Abenteuer des Schiffskapitäns Edward Cuttle.

Sicheren Fußes und kräftigen Willens hatte die Zeit so sehr vorwärts gedrängt, daß das Jahr, das der alte Instrumentenmacher seinem Freund als Termin für Eröffnung des den Brief begleitenden, versiegelten Pakets anberaumt hatte, nahezu abgelaufen war. Demzufolge begann Kapitän Cuttle Abend für Abend mit den Gefühlen unruhiger Neugierde danach zu sehen.

Wir müssen ihm zur Ehre nachrühmen, daß ihm ebensowenig der Gedanke kam, das Päckchen auch nur eine Stunde vor Ablauf der Frist zu erbrechen, wie es ihm eingefallen sein würde, sich selbst zu öffnen, um die Anatomie seines eigenen Leibes zu studieren. Er holte es nur bei einem gewissen Stadium seiner ersten Abendpfeife heraus, legte es auf den Tisch und blickte in stummem Ernst zwei oder drei Stunden durch den Rauch danach hin, als ob es einen Zauber enthielte. Bisweilen rückte der Kapitän, nachdem es ziemlich lange in solcher Weise vor ihm gelegen hatte, seinen Stuhl allmählich weiter und weiter ab, als wolle er sich der unheimlichen Atmosphäre entziehen, obschon ihm dieses, wenn es auch wirklich seine Absicht war, nie gelang. Denn selbst an der Stubenwand übte das Paket noch immer seine bannende Kraft. Ja das Bild davon folgte sogar seinen Augen, wenn sie gedankenvoll an der Decke hinschweiften, legte sich vor ihm in die Kohlen, wenn sein Blick dem Feuer zugekehrt war, oder nahm das auffallendste Plätzchen in dem Schrank mit weißer Wäsche ein.

Was die »Herzensfreude« betraf, so erlitt die väterliche Zuneigung und Bewunderung des Kapitäns keinen Wechsel, wiewohl es bei der letzten Besprechung mit Mr. Carker zweifelhaft geworden war, ob seine frühere Einmengung zugunsten dieser jungen Dame und seines Knaben Wal’r ganz so günstig ausgefallen sei, wie er damals wirklich glaubte. Mit einem Wort: der Kapitän trug sich mit ernsten Bedenken, ob er durch jenen Schritt nicht mehr Schaden als Nutzen gestiftet habe. Deshalb leistete er denn auch in seiner Reue und Bescheidenheit die beste ihm erdenkliche Sühne dadurch, daß er sich in einer Weise beseitigte, die es ihm unmöglich machte, irgend jemandem nachteilig zu werden, und daß er sich sozusagen selbst als eine gefährliche Person über Bord warf.

Er begrub sich unter den Instrumenten, wagte sich nie in die Nähe von Mr. Dombeys Haus und brach jeglichen Verkehr mit Florence oder Miß Nipper ab. Sogar von Mr. Perch hatte er sich bei erster Gelegenheit losgesagt, indem er diesem Gentleman trocken erklärte, er danke ihm für seine Gesellschaft, habe sich aber von allen solchen Bekannten losgelöst, da er nicht wisse, ob nicht durch ihn, ohne daß er es beabsichtige, ein Pulvermagazin in die Luft gesprengt werde. In dieser freiwilligen Einsamkeit verbrachte der Kapitän ganze Tage und Wochen, ohne mit jemandem anders ein Wort zu wechseln, als mit Rob, dem Schleifer, den er als ein Muster uneigennütziger Anhänglichkeit und Treue betrachtete. Die einzige Unterhaltung in seiner Abgeschiedenheit bestand darin, daß er abends mit seiner Pfeife im Mund das Päckchen anschaute und dabei an Florence und den armen Walter dachte, bis beide seiner nicht sehr reichen Phantasie als tot erschienen – hingegangen in ewiger Jugend als die schönen, unschuldigen Kinder seiner ersten Erinnerung.

In seinem Grübeln versäumte übrigens der Kapitän die eigene Ausbildung oder die des Schleifers durchaus nicht. Rob mußte ihm in der Regel jeden Abend eine Stunde lang aus einem Buche vorlesen, und da der Kapitän des unbedingten Glaubens lebte, daß alle Bücher wahr seien, so gelangte er auf diese Weise in den Besitz vieler merkwürdiger Kenntnisse. An Sonntagabenden las er vor Schlafengehen stets selbst eine gewisse göttliche Predigt, die vordem auf einem Berge gehalten wurde, und obgleich er gewohnt war, den Teil ohne Buch nach seiner eigenen Art zu zitieren, so las er sie doch augenscheinlich mit einem so ehrerbietigen Eingehen auf ihren himmlischen Geist, als könne er das griechische Original auswendig und als sei er imstande, über jeden Vers eine beliebige Anzahl scharfer theologischer Abhandlungen zu schreiben.

Rob, der Schleifer, dessen Ehrfurcht für die Heilige Schrift unter dem bewundernswürdigen System der Schleiferschule durch beharrliches Zerbeulen seiner intellektuellen Schienbeine an allen Eigennamen sämtlicher Judastämme, durch das eintönige Hersagen von schweren Versen, das ihm meist zur Strafe auferlegt worden, und durch die Sonntags je dreimal vorkommende Schaustellung seiner sechs Jahre alten Person in Lederhosen auf einer sehr hohen und sehr heißen Emporkirche, wo eine große Orgel gleich einer ungemein geschäftigen Biene gegen seinen schläfrigen Kopf summte, zur Entwicklung gekommen war – Rob, der Schleifer, tat, sobald der Kapitän zu lesen aufgehört hatte, als sei er ungemein erbaut, obschon er während der Vorlesung selbst in der Regel gähnte und döste – eine Tatsache, die der gute Kapitän freilich nie bei ihm argwöhnte.

Als Geschäftsmann hielt Kapitän Cuttle auch darauf, daß regelmäßig Buch geführt wurde. Er trug in dasselbe seine Beobachtungen über das Wetter und über den Zug der Frachtwagen und anderer Fuhrwerke ein, die in diesem Stadtteil morgens, und im Laufe des Tages nach Westen, abends aber nach Osten ihre Richtung zu nehmen pflegten. Als einmal in einer Woche zwei oder drei Personen ihn wegen Brillen »angingen« – so lautete nämlich der Eintrag – und, ohne gerade zu kaufen, wieder herzukommen versprachen, so folgerte der Kapitän daraus mit Zuversicht, daß das Geschäft im Zunehmen begriffen sei, und zeichnete auch diese Bemerkung in seinem Tagebuch auf, nachdem er zuerst notiert hatte, der Wind blase ziemlich frisch West bei Nord und habe im Lauf der Nacht umgeschlagen.

Eine der Hauptnöte des Kapitäns war Mr. Toots, der sehr häufig auf Besuch kam und, ohne viel Worte darüber zu verlieren, sich die Idee in den Kopf gesetzt zu haben schien, das kleine Hinterstübchen sei ein ganz herrliches Zimmer, um darin zu kichern. Er saß nämlich oft halbe Stunden da, ohne etwas anderes zu tun und ohne dem Kapitän auch nur im mindesten etwas mehr Vertrauen abzugewinnen. Der Kapitän, der durch seinen letzten Versuch vorsichtig gemacht worden war, konnte nicht mit sich ins reine kommen, ob Mr. Toots wohl in Wirklichkeit das gutmütige Subjekt, das er zu sein schien, oder nicht vielmehr ein durchtriebener, arglistiger und in der Verstellungskunst ausgelernter Heuchler sei. Seine häufigen Anspielungen auf Miß Dombey waren verdächtig; aber der Kapitän fühlte sich doch im geheimen durch Mr. Toots‘ Zutraulichkeit angezogen und unterließ es daher vorderhand, ein Urteil zu fällen. Dagegen faßte er ihn mit einer Schlauheit, die sich nicht beschreiben läßt, ins Auge, so oft Mr. Toots den Gegenstand, der seinem Herzen so nahe lag, zur Sprache brachte.

»Kapitän Gills«, platzte Mr. Toots seiner Gewohnheit nach eines Tages plötzlich heraus, »glaubt Ihr, daß Euch mein Vorschlag genehm sein könne, und wollt Ihr für mich Eure Beziehungen nutzbar machen?«

»Nun, mein Junge, ich will Euch sagen, wie die Sache liegt«, versetzte der Kapitän, der endlich über sein Handeln zu einem Entschluß gekommen war. »Ich habe mir die Sache überlegt.«

»Kapitän Gills, das ist sehr freundlich von Euch«, entgegnete Mr. Toots. »Ich bin Euch sehr dafür verbunden. Auf mein Ehrenwort, Kapitän Gills, es würde ein Liebesdienst sein, wenn Ihr mich die Ehre Eurer Beziehungen teilhaftig werden ließet. Gewiß und wahrhaftig.«

»Ja, seht, Bruder«, fuhr der Kapitän langsam fort, »ich kenne Euch nicht.«

»Aber Ihr könnt mich nie kennenlernen, Kapitän Gills«, erwiderte Mr. Toots in eifriger Beharrlichkeit, »wenn Ihr mir nicht das Vergnügen einer näheren Aussprache gönnen wollt.«

Der Kapitän schien ob der Originalität und dem Gewicht dieser Worte betroffen zu sein und sah Mr. Toots an, als denke er, es stecke am Ende doch weit mehr in ihm, als er erwartet hatte.

»Gut gesprochen, mein Junge«, erwiderte der Kapitän mit gedankenvollem Kopfnicken, »und vollkommen richtig. Schaut aber einmal her. Ihr habt einige Äußerungen fallen lassen, aus denen ich entnehmen muß, daß Ihr ein gewisses holdes Geschöpf bewundert – ist es nicht so?«

»Kapitän Gills«, sagte Mr. Toots, ungestüm mit der Hand ausholend, in der er seinen Hut hielt, »Bewunderung ist nicht das rechte Wort. Bei meiner Ehre, Ihr habt gar keine Vorstellung von der Art meiner Gefühle. Wenn ich schwarz gefärbt und zu Miß Dombeys Sklaven gemacht werden könnte, so würde ich es als eine Auszeichnung betrachten. Ja, ich ließe es mich mein ganzes Vermögen kosten, wenn ich damit eine Umwandlung meiner Person in Miß Dombeys Hund zu erkaufen imstande wäre. Ich – ich glaube wahrhaftig, ich würde dann nie aufhören, mit meinem Schwanz zu wedeln. Gewiß, das würde das höchste Glück für mich sein, Kapitän Gills!«

Mr. Toots sprach dies mit feuchten Augen und drückte in tiefer Erregung seinen Hut gegen die Brust.

»Mein Junge«, versetzte der zum Mitleid bewegte Kapitän, »wenn Euch dies Ernst ist –«

»Kapitän Gills«, rief Mr. Toots, »ich bin in einem solchen Gemütszustand, und es ist mir so furchtbar ernst, daß ich es auf einem heißen Stück Eisen, auf einer glühenden Kohle, auf geschmolzenem Blei, auf brennendem Siegelwachs oder auf irgend etwas der Art beschwören wollte. Ja, ich würde mich sogar freuen über die Beschädigung, da sie mir eine Erleichterung brächte für meine Gefühle.«

Und Mr. Toots schaute hastig im Zimmer umher, als suche er irgendein zureichend schmerzliches Peinigungsmittel, um seinen fürchterlichen Vorsatz auszuführen.

Der Kapitän schob seinen Glanzhut auf dem Kopf zurück, strich mit der schweren Hand sein Gesicht, so daß seine Nase noch fleckiger wurde, trat vor Mr. Toots hin, packte ihn mit seinem Haken an dem Aufschlag seines Rocks und redete ihn mit folgenden Worten an, während Mr. Toots in großer Aufmerksamkeit und einiger Verwunderung ihm ins Gesicht schaute.

»Seht Ihr, mein Junge, wenn es Euch ernst ist«, sagte der Kapitän, »so seid Ihr ein Gegenstand der Gnade, und Gnade ist das glänzendste Kleinod in der Krone eines Engländers – lest darüber nach, was im Rule Britannia niedergelegt ist, und habt Ihr’s gefunden, so erkennt darin den Freibrief, von dem schon die Engel im Paradies so oft gesungen haben. Haltet bei! Euer Vorschlag kommt mir ein wenig überraschend. Und warum? Weil ich, Ihr begreift dies, nur allein und ohne Kameradschaft in diesen Wassern segle, außerdem mir auch keine wünsche. Nimmermehr! Ihr habt mich zuerst angegangen wegen einer gewissen jungen Dame, in deren Dienst Ihr handeltet. Wenn nun Ihr und ich, wir beide überhaupt Kameradschaft halten sollen, so darf der Name jenes jungen Geschöpfs nie gesprochen oder auch nur angedeutet werden. Ich weiß nicht, was Schlimmes dabei herausgekommen sein mag, weil ich mich in diesem Punkt früher zu frei benahm, und muß deshalb abbrechen. Habe ich mich Euch gehörig klargemacht, Bruder?«

»Ihr werdet mich entschuldigen, Kapitän Gills«, versetzte Mr. Toots, »wenn ich Euch bisweilen nicht ganz folgen kann. Aber auf mein Wort, ich – es ist eine schwere Aufgabe, Kapitän Gills, nicht von Miß Dombey sprechen zu sollen. Es liegt mir so fürchterlich schwer hier« – Mr. Toots berührte jetzt pathetisch mit beiden Händen seinen Busenstreif – »daß es mir Tag und Nacht gerade so vorkommt, als ob jemand auf mir sitze.«

»Das sind die Bedingungen«, sagte der Kapitän, »auf denen ich bestehen muß. Wenn sie Euch schwer vorkommen, Bruder, wie dies vielleicht der Fall sein mag, so schüttelt sie ab, scheert weiter und laßt sie lustig allein laufen.«

»Kapitän Gills«, erwiderte Mr. Toots, »ich weiß kaum, wie es zuging. Aber nach dem, was Ihr mir bei meinem ersten Besuche sagtet, kommt es mir vor, ich – ich könne in Eurer Gesellschaft weit besser an Miß Dombey denken, als fast mit jedem andern sonst von ihr sprechen. Wenn Ihr mir daher das Vergnügen Eurer Unterhaltung gönnen wollt, Kapitän Gills, so werde ich mich sehr glücklich schätzen, sie auf Eure eigenen Bedingungen hin anzunehmen. Ich wünsche als ein Ehrenmann zu handeln, Kapitän Gills«, fuhr Mr. Toots fort, indem er seine ausgestreckte Hand für einen Augenblick zurückhielt, »und muß Euch daher sagen, daß ich es nicht vermeiden kann, an Miß Dombey zu denken. In dieser Hinsicht nur ist es mir unmöglich, mich auf eine etwaige Bedingung einzulassen.«

»Mein Junge«, sagte der Kapitän, in dessen Meinung Mr. Toots durch sein aufrichtiges Zugeständnis sehr gestiegen war, »die Gedanken eines Menschen sind wie die Winde, und niemand kann auf die Dauer mit Sicherheit für sie einstehen. Unser Vertrag gilt also dem Sprechen?«

»Ja, dem Sprechen, Kapitän Gills«, erwiderte Mr. Toots. »Ich glaube, mir insoweit Zwang auflegen zu können.«

Mr. Toots gab jetzt Kapitän Cuttle seine Hand darauf und letzterer verlieh ihm mit der Miene huldreicher Herablassung förmlich die Ehre seiner näheren Bekanntschaft. Mr. Toots schien durch diese Erwerbung sehr getröstet und erfreut zu werden; denn er kicherte während der übrigen Dauer seines Besuches mit großem Entzücken. Der Kapitän seinerseits war nicht übel zufrieden, so die Stellung eines Gönners einzunehmen, und lobte sich im geheimen selbst ob seiner Klugheit und Vorsicht.

Trotz des großen Vorrats von diesen eben genannten Eigenschaften blühte übrigens dem Kapitän am nämlichen Abend noch eine Überraschung in keiner geringeren Person, als dem ehrlichen, klugen Schleifer Rob. Dieser unschuldige Jüngling beugte sich, als er am nämlichen Tisch mit seinem Gebieter den Tee einnahm, ganz demütig über seine Tasse, schielte von der Seite nach dem Kapitän hin, der mit großer Schwierigkeit, aber viel Würde durch die Brille seine Zeitung las, und unterbrach endlich das Schweigen mit den Worten:

»O, ich bitte um Verzeihung, Kapitän, aber Ihr werdet wahrscheinlich keine Tauben brauchen, Sir?«

»Nein, mein Junge«, versetzte der Kapitän.

»Weil ich die meinigen zu verkaufen wünsche«, sagte Rob.

»So?« entgegnete der Kapitän, die buschigen Augenbrauen ein wenig erhebend.

»Ja; ich will gehen, Kapitän, wenn Ihr nichts dagegen habt«, sagte Rob.

»Gehen? und wohin willst du gehen?« fragte der Kapitän, über die Brillengläser weg nach ihm zurückschauend.

»Wie –wußtet Ihr nicht, daß ich Euch verlassen will, Kapitän?« fragte Rob mit einem besonderen Lächeln.

Der Kapitän legte die Zeitung nieder, nahm seine Brille ab und faßte den Ausreißer fest ins Auge.

»O ja, Kapitän, ich will Euch hiermit aufgesagt haben. Ich glaubte, Ihr hättet dies vielleicht schon zum voraus wissen können«, sagte Rob, die Hände reibend und von seinem Tische aufstehend. »Wenn Ihr so gut sein wolltet, Euch bald anderweitig umzusehen, Kapitän, so würde mir damit ein großer Gefallen geschehen. Ich fürchte freilich, es wird nicht morgen früh schon geschehen können, Kapitän – oder glaubt Ihr?«

»Und du willst also fahnenflüchtig werden, mein Junge?« entgegnete der Kapitän, nachdem er geraume Zeit das Gesicht des Ausreißers gemustert hatte.

»O, es ist sehr hart für einen jungen Menschen, Kapitän«, rief der weichherzige Rob, der in einem Augenblick gekränkt und unwillig werden konnte, »wenn er nicht in rechtmäßiger Weise soll kündigen dürfen, ohne in solcher Weise angeschaut und ein Fahnenflüchtiger genannt zu werden. Ihr habt kein Recht, einem armen Burschen Schimpfnamen zu geben, Kapitän, und weil Ihr der Herr seid und ich nur der Diener bin, so folgt daraus nicht, daß Ihr mich beschimpfen dürft. Was habe ich denn Unrechtes getan? Laßt mich wissen, worin mein Verbrechen besteht, wenn Ihr so gut sein wollt, Kapitän.«

Der beleidigte Schleifer weinte und brachte seinen Ärmelaufschlag vor die Augen.

»Ja, Kapitän, nennt mir mein Verbrechen«, rief der gekränkte Jüngling. »Was bin ich gewesen und was habe ich getan? Habe ich irgend jemandem etwas gestohlen? Habe ich das Haus in Brand gesteckt? Wenn mich ein solcher Vorwurf treffen kann, warum übergebt Ihr mich nicht dem Gericht? Aber wie unrecht ist es nicht und welch schlimmer Lohn für treue Dienstleistung, wenn Ihr einem jungen Menschen, der Euch rechtschaffen gedient hat, seinen guten Ruf antastet, weil er um Euretwillen seinem besseren Fortkommen nicht im Wege stehen mag. Auf diese Weise verdirbt man junge Menschen und treibt sie auf unrechte Wege, In der Tat, ich kann mich nicht genug wundern über Euch, Kapitän.«

Alles das wurde in heulendem, weinerlichem Ton vorgetragen, während der Schleifer zu gleicher Zeit sich rücklings der Tür näherte.

»Du hast also schon eine andere Heuer in Aussicht?« sagte der Kapitän, kein Auge von ihm verwendend.

»Ja, Kapitän – wenn Ihr mich in solcher Weise angeht, so muß ich Euch sagen, daß ich eine andere Heuer in Aussicht habe«, rief Rob, mehr und mehr sich der Türe nähernd; »eine bessere Heuer, als ich hier hatte, und noch dazu eine, wo ich nicht einmal ein gutes Wort von Euch brauche, Kapitän. Dies ist ein Glück für mich, nachdem Ihr mich so in den Staub gezogen habt, weil ich arm und nicht in der Lage bin, um Euretwillen mir selbst im Licht zu stehen, Ja, ich habe eine andere Heuer, und wenn es Euch gleichgültig wäre. Kapitän, so würde ich lieber auf der Stelle gehen, als daß ich mir von Euch Schimpfnamen geben lasse, weil ich arm und nicht in der Lage bin, Euretwegen meinem besseren Fortkommen im Wege zu stehen. Warum macht Ihr mir Vorwürfe wegen meiner Armut und wegen meines Wunsches, mich zu verbessern? Wie könnt Ihr Euch selbst so herabwürdigen?«

»Schau jetzt her, mein Junge«, versetzte der friedliebende Kapitän, »und komm mir nicht mehr mit solchen Worten.«

»Dann müßt Ihr mir auch nicht mehr mit solchen Worten kommen«, erwiderte der gereizte Unschuldige, der immer lauter winselte und sich mehr und mehr rücklings der Ladentür näherte. »Es ist mir lieber, wenn Ihr mich umbringt, als wenn Ihr mir meine Ehre nehmt.«

»Vielleicht«, fuhr der Kapitän fort, »hast du schon etwas von einem Dinge gehört, das man einen Galgenstrick nennt?«

»Ob ich davon gehört habe, Kapitän«, rief der Schleifer höhnisch. »Nein, ich habe es nicht. In meinem Leben hörte ich nie etwas von einem solchen Artikel.«

»Gut«, sagte der Kapitän; »ich bin der Meinung, daß du recht bald mehr davon erfahren wirst, wenn du nicht scharf Auslug hältst. Ich verstehe mich auf deine Signale, mein Junge. Du kannst gehen.«

»O, ich kann sogleich gehen – kann ich, Kapitän?« rief Rob hocherfreut über seinen Erfolg. »Aber wohl gemerkt, ich habe nicht sogleich zu gehen verlangt, Kapitän. Ihr werdet mir doch ein Zeugnis nicht vorenthalten, weil Ihr mich aus freien Stücken fortschickt – und werdet mir nichts von meinem Lohn abrechnen, Kapitän?«

Der Kapitän bereinigte den letzteren Punkt, indem er die Zinnbüchse hervorlangte und dem Schleifer sein Geld voll auf den Tisch hinzählte. Schnüffelnd, schluchzend und schwer verwundet in seinen Gefühlen, nahm Rob die Stücke einzeln auf und band sie abgesondert in verschiedene Knoten seines Taschentuchs. Dann stieg er nach dem Dach hinauf und füllte seinen Hut und seine Tasche mit Tauben. Sobald er wieder heruntergekommen war, machte er unter noch lauterem Schnüffeln und Schluchzen, als werde sein Herz von alten Erinnerungen zerrissen, sein Bündel zusammen, greinte ein »gute Nacht, Kapitän, Kapitän. Ich verlasse Euch ohne Groll!«, gab auf der Türtreppe draußen zum Abschied dem kleinen Midshipman einen Nasenstüber und eilte dann in grinsendem Triumph die Straße hinunter.

Der Kapitän, der jetzt sich selbst überlassen war, nahm seine Zeitung wieder auf, als sei nichts Ungewöhnliches oder Unerwartetes vorgefallen und las mit dem größten Eifer fort. Aber er verstand kein Wort von dem vielen Gelesenen, denn durch das ganze Blatt rannte Rob der Schleifer die eine Spalte hinauf und die andere wieder hinunter.

Es ist zweifelhaft, ob sich der würdige Kapitän früher je so ganz verlassen gefühlt hatte, wie jetzt. Der alte Sol Gills, Walter und die Herzensfreude waren jetzt in der Tat für ihn verloren, und Mr. Carker, der ihn getäuscht hatte, verhöhnte ihn noch außerdem aufs grausamste. Sie alle fanden eine böse Ergänzung in dem falschen Rob, dem er so oft die warmen Empfindungen seines Herzens mitgeteilt, dem er Vertrauen geschenkt und dem er so gerne geglaubt hatte. Rob war für ihn, nachdem er seine alte Schiffsgesellschaft verloren, ein Gefährte gewesen. Ihn zu seiner Rechten hatte er das Kommando des kleinen Midshipman übernommen, und auf die Anhänglichkeit des Jungen bauend, war es ihm in der Güte seines Herzens fast vorgekommen, als seien sie beide schiffbrüchig und nach einem öden Platze verschlagen worden. Jetzt aber hatte derselbe treulose Rob Mißtrauen, Verrat und Gemeinheit in das kleine Stübchen gebracht, das bisher eine Art Heiligtum gewesen, und der Kapitän würde sich nicht gewundert haben, wenn auch dieses versunken wäre oder ihm sonst große Not bereitet hätte.

Deshalb las Kapitän Cuttle die Zeitung mit so tiefer Aufmerksamkeit, ohne etwas zu begreifen. Deshalb sagte er durchaus nichts über Rob zu sich selbst; ja, er gestand sich nicht einmal zu, daß er an ihn dachte, und wollte nicht in der entferntesten Weise anerkennen, daß Rob mit seinen Gefühlen, die mit denen des einsamen Robinson Crusoe zu vergleichen waren, etwas zu schaffen haben.

In der gleichen ruhigen, geschäftsmäßigen Weise ging der Kapitän noch spät nach Leadenhall Market hinüber und traf mit einem daselbst im Dienst aufgestellten Wächter die Übereinkunft, daß er jeden Abend und Morgen komme, um die Läden zu schließen und zu öffnen. Dann begab er sich nach dem Speisehaus, um die eine Hälfte der bisher an den Midshipman gelieferten täglichen Ration, und in das Wirtshaus, um das Bier des Verräters abzubestellen. »Mein junger Mann«, bemerkte der Kapitän gegen die junge Dame in der Schenkstube, »mein junger Mann hat sich verbessert, Miß,« Schließlich nahm er sich vor, von dem Bett unter dem Ladentisch selbst Besitz zu nehmen und, statt droben, als einziger Wächter des Eigentums hier zu schlafen.

Aus diesem Bett erhob sich fortan Kapitän Cuttle täglich und klappte um sechs Uhr morgens mit der trostlosen Miene Crusoes, der seine Toilette mit der Ziegenfellmütze beendigt, seinen Glanzhut auf den Kopf. Zwar hatte sich seine Furcht vor einem Besuch des Wildenstamms Mac Stinger wie bei jenem einsamen Gestrandeten die Besorgnis vor einem Einfall der Kannibalen durch die Zeit, die keine Abzeichen von solcher feindlichen Nähe blicken ließ, abgekühlt. Trotzdem fuhr er aber aus Gewohnheit in seinen Abwehroperationen fort, und es kam nie ein Weiberhut durch die Straße, ohne daß er ihn von seinem sichern Kastell aus gemustert hätte. Inzwischen begann sogar seine eigene Stimme für seine Ohren ein fremder Ton zu werden (Mr. Toots hatte ihm nämlich die briefliche Mitteilung gemacht, daß er sich nicht in London befinde). Auch mußte er bei dem Polieren und Verstauen der Vorräte, bei dem Lesen hinter dem Ladentisch oder beim Hinausschauen zum Fenster so viel denken, daß ihn bisweilen sogar der rote Rand, den der harte Glanzhut auf seiner Stirn zurückließ, im Übermaß seiner Betrachtungen schmerzte.

Das Jahr war nun abgelaufen, und Kapitän Cuttle hielt es für passend, das Päckchen zu öffnen. Aber er hatte stets im Sinne gehabt, dies in der Gegenwart Robs, des Schleifers, der es ihm überbrachte, zu tun, weil er der Ansicht war, die Eröffnung könne nur regelmäßig und seegerecht in der Anwesenheit eines Zeugen geschehen. Daß ihm der letztere abging, versetzte ihn in große Not, und die Kunde über die Rückkehr der vorsichtigen Clara, Kapitän John Bunsby, von einer Küstenfahrt, die er in dem Schiffsanzeiger las, bereitete ihm daher die größte Freude. Der Kapitän zögerte nicht, durch die Post einen Brief an diesen Philosophen abzusenden, in dem er Mr. Bunsby seinen Wohnplatz als ein unverletzliches Geheimnis einschärfte und sich einen baldigen Abendbesuch erbat.

Bunsby, der einer von jenen Weisen war, die nur aus Überzeugung handeln, brauchte einige Tage, bis die Überzeugung in seinem Kopfe haftete, er habe einen derartigen Brief erhalten. Als er sich jedoch endlich mit der Tatsache abgefunden hatte und ihrer Herr geworden war, schickte er seinen Jungen mit der Meldung ab – »Heute abend kommt er.« Der Beauftragte, der die Weisung hatte, diese Worte vorzubringen und dann wieder zu verschwinden, erfüllte seine Sendung wie ein mit Teer besudeltes Gespenst, dem es oblag, der betreffenden Person eine geheimnisvolle Warnung zugehen zu lassen.

Der Kapitän war erfreut über diese Nachricht, sorgte für Pfeifen und Grog und erwartete seinen Gast in dem Hinterstübchen. Um acht Uhr verkündete dem Kapitän ein tiefes Brüllen, als ginge es von einer Schiffsirene aus, und das Klopfen eines Stocks an die Ladentür, daß Bunsby neben Bord lag. Der zottige, verwilderte Ehrenmann mit seinem starren Mahagonigesicht wurde sogleich eingelassen. Wie gewöhnlich schien er für nichts in seiner Nähe ein Auge zu haben, sondern irgend etwas, das in einem ganz andern Weltteil vorging, aufmerksam zu beobachten.

»Bunsby«, sagte der Kapitän, ihn bei der Hand nehmend, »wie geht es, mein Junge – wie geht es?«

»Kamerad«, versetzte die Stimme in Bunsby, ohne daß der Kommandeur dabei selbst beteiligt zu sein schien, »ganz gut – ganz gut!«

»Bunsby!« sagte der Kapitän mit ununterdrückbarer Huldigung vor dem Genius seines Gefährten, »endlich seid Ihr hier, ein Mann, der eine Ansicht abgeben kann, die glänzender ist, als Diamanten – ja, gebt mir den Boten, den Burschen mit den Teerhosen, der für mich in dem Licht der Diamanten blitzt. Seht deswegen in Stanfells Budget nach, und wenn Ihr es gefunden habt, so biegt in die betreffende Buchseite ein Ohr ein. Habt Ihr doch hier an diesem Platz ein Gutachten abgegeben, das auf den Buchstaben eingetroffen ist.« Der Kapitän glaubte dies aus dem Grunde seines Herzens.

»So?« brummte Bunsby.

»Auf den Buchstaben«, bekräftigte der Kapitän.

»Warum?« brummte Bunsby, jetzt zum erstenmal seinen Freund ansehend. »In welcher Weise? Und wenn so, warum nicht? Darum.«

Mit diesen orakelhaften Worten – sie schienen den Kapitän fast schwindlig zu machen, da sie ihn auf ein so weites Meer von Mutmaßungen setzten – ließ sich der Weise den Lotsenrock ausziehen und begleitete seinen Freund nach dem Hinterstübchen, wo er sogleich nach der Rumflasche griff und sich ein Glas Steifen anfertigte. Dann langte er nach der Pfeife, füllte Tabak ein, zündete sie an und begann zu rauchen.

Kapitän Cuttle, der in allen diesen Stücken dem Beispiel seines Gastes folgte, obschon er das in sich gekehrte unverwüstliche Wesen des Kommandeurs nicht nachzuahmen vermochte, setzte sich in die andere Ecke des Kamins und sah seinen Gefährten mit hoher Achtung an, als erwartete er von diesem eine Ermutigung oder einen Ausdruck der Neugierde, um sodann auf seine eigenen Angelegenheiten übergehen zu können. Doch der Mahagoni-Philosoph schien nur für die Wärme und den Tabak empfänglich zu sein. Erst als er seine Pfeife entfernte, um für das Glas Platz zu machen, warf er mit ungemeiner Grämlichkeit die Bemerkung hin, daß sein Name Jack Bunsby sei. Diese Erklärung bot freilich nur einen geringen Anhalt für ein Gespräch, weshalb der Kapitän seine Aufmerksamkeit durch eine kurze, schmeichelhafte Einleitung zu fesseln suchte und dann die ganze Geschichte von Onkel Sols Verschwinden nebst dem Wechsel, der infolgedessen in seinen eigenen Verhältnissen herbeigeführt wurde, zu berichten. Zum Schluß legte er das Päckchen auf den Tisch.

Nach einer langen Pause nickte Mr. Bunsby mit dem Kopf.

»Soll ich öffnen?« fragte der Kapitän.

Bunsby nickte abermals.

Demgemäß erbrach Kapitän Cuttle das Siegel und öffnete den Umschlag, der zwei zusammengelegte Blätter mit den Überschriften: »Letzter Wille und Testament von Solomon Gills« – »Brief an Ned Cuttle« – enthielt.

Bunsby schien, das Auge auf die Küste von Grönland geheftet, bereit zu sein, den Inhalt anzuhören. Der Kapitän räusperte sich daher und begann den Brief laut zu lesen.

»›Mein lieber Ned Cuttle. Als ich London verließ, um nach Amerika zu reisen – –‹«

Der Kapitän hielt inne und blickte nach Bunsby hin, der seinerseits die Küste von Grönland nicht aus dem Auge verlor.

– »›und Kunde über meinen lieben Jungen einzuholen, wußte ich wohl, Ihr würdet meine Absicht, wenn ich Euch dieselbe mitteilte, vereiteln oder mich begleiten wollen. Deshalb hielt ich sie vor Euch geheim. Wenn Ihr je diesen Brief lest, Ned, so bin ich wahrscheinlich tot. Ihr werdet dann gerne einem alten Freund seine Torheit vergeben und der Unruhe, mit der er eine so abenteuerliche Reise antrat, Eure Teilnahme nicht versagen. Also nichts mehr davon. Ich habe geringe Hoffnung, daß mein armer Junge je diese Worte lesen oder Eure Augen mit dem Anblick seines offenen Gesichts erfreuen werde.‹ Nein, nein; er tut es nicht«, fügte Kapitän Cuttle in bekümmertem Nachdenken bei: »er tut es nie mehr. Dort liegt er, schon so lange Zeit –«

Mr. Bunsby, der ein musikalisches Ohr hatte, brüllte plötzlich: »in der Bay von Biscay, o!« und dies griff als ein geeigneter Tribut für den Wert des Hingeschiedenen den guten Kapitän so an, daß er seinem Gefährten dankbar die Hand drückte und die Augen wischen mußte.

»Ach ja«, sagte der Kapitän mit einem Seufzer, nachdem Bunsbys Gebrüll an dem Hochlichtfenster verhallt war. »Er hat lange sein schweres Leid mit sich herumgetragen. Wir wollen übrigens nachsehen, was wir weiter darüber finden.«

»Die Doktores haben da wohl nicht viel geholfen«, bemerkte Bunsby.

»Freilich nicht«, sagte der Kapitän. »Was könnten auch diese nützen in zwei- oder dreihundert Faden Wassertiefe.« Dann nahm er den Brief wieder auf und las weiter: »›Wenn er aber bei Eröffnung dieses Schreibens anwesend sein‹«, der Kapitän blickte unwillkürlich umher und schüttelte den Kopf, »›oder sonst zu irgendeiner Zeit davon erfahren sollte –‹« abermaliges Kopfschütteln von seiten des Kapitäns – »›so erteile ich ihm hiermit meinen Segen! Im Fall das beiliegende Papier nicht gesetzlich abgefaßt ist, so liegt nicht viel daran, denn es ist außer Euch und ihm keine beteiligte Person vorhanden, und mein Wunsch besteht einfach darin, daß die geringe Habe, die noch vorhanden ist, wenn er noch lebt – was ich leider nicht zu hoffen wage – auf ihn, andernfalls aber auf Euch komme, Ned. Ich weiß, Ihr werdet meinen Willen achten. Gott segne Euch dafür, wie auch für die viele Freundschaft, die Ihr erwiesen habt Eurem Solomon Gills‹. Bunsby!« fügte der Kapitän mit einer feierlichen Berufung an seinen Gefährten bei, »was denkt Ihr davon? Ihr seid ein Mann, der sich von Kindheit auf stets den Kopf zerbrochen und bei jedem Schädelbruch eine neue Erfahrung hineingekriegt hat. Was denkt Ihr jetzt davon?«

»Wenn er wirklich tot ist«, entgegnete Bunsby mit erstaunlicher Schnelligkeit, »so bin ich der Meinung, daß er nicht wieder zurückkommen wird; lebt er aber noch, so kriegt Ihr ihn ohne Zweifel wieder zu sehen. Sage ich dies für gewiß? Nein. Warum nicht? Weil die Erfahrung daß erst bestätigen muß.«

»Bunsby!« sagte Kapitän Cuttle, der den Wert der Ansichten seines ausgezeichneten Freundes nach der Schwierigkeit ihres Verständnisses zu ermessen schien, in tiefster Bewunderung, »Ihr tragt mit Leichtigkeit eine Last Geist, die einen Mann von meinem Tonnengehalt versenken würde. Aber was das Testament betrifft, so bin ich nicht willens, wegen der Besitznahme des Eigentums Schritte zu tun. Gott verhüte dies! Ich werde es nur aufbewahren, bis sich rechtmäßigere Ansprüche dartun, und hoffe noch immer, daß der alte Sol Gills am Leben ist und zurückkommen wird. So seltsam es auch erscheinen mag, daß keine Nachrichten von ihm eingelaufen sind. Was haltet Ihr davon, Bunsby, wenn wir diese Papiere da wieder wegstauten und auf der Außenseite bemerkten, daß sie an dem und dem Tag in Gegenwart von John Bunsby und Ed’ard Cuttle geöffnet worden seien?«

Da Bunsby weder an der Küste von Grönland noch sonstwo irgendeinen Grund zu Einwendungen gegen diesen Vorschlag bemerkte, so wurde die Sache ausgeführt. Der große Mann wandte sein Auge für einen Moment der Gegenwart zu und brachte die Unterschrift auf den Umschlag, wobei er sich mit charakteristischer Bescheidenheit jeglichen Gebrauchs von großen Buchstaben enthielt. Nachdem Kapitän Cuttle gleichfalls mit seiner linken Hand unterzeichnet und das Paket in die eiserne Truhe eingeschlossen hatte, bat er seinen Gast, sich noch ein Glas und eine Pfeife zu füllen, ging ihm mit gutem Beispiel voran und versenkte sich dann beim Anblick des Feuers in eine Reihe von Betrachtungen über das mögliche Schicksal des armen alten Instrumentenmachers.

Aber jetzt kam eine Überraschung, die auf Kapitän Cuttle so erschreckend und überwältigend wirkte, daß ohne Bunsbys Anwesenheit notwendig eine Niederlage hätte erfolgen müssen und er von Stund‘ an ein verlorener Mann gewesen wäre.

Wie sich der Kapitän sogar in seiner Freude über einen solchen Gast die Nachlässigkeit zuschulden kommen lassen konnte, die Tür nur zuzudrücken und nicht abzusperren, das ist eine von jenen Fragen, die wir für immer der Vermutung oder den unbestimmten Anschuldigungen des Schicksals überlassen müssen. Genug, daß in jenem ruhigen Augenblick durch die unverschlossene Tür Mrs. Mac Stinger in die Stube hereinwehte. Sie trug in ihren mütterlichen Armen den jugendlichen Alexander Mac Stinger, und in ihrem Gefolge waren Verwirrung und Rache, nicht zu gedenken der Miß Juliana Mac Stinger und ihres Bruders Charles Mac Stinger, der auf den Tummelplätzen seiner jugendlichen Spiele nur unter dem Namen Kuhlen bekannt war. Ihr Eintritt war so schnell und geräuschlos wie das Rauschen des Windes in der Nähe der Ostindiendocks gewesen, und Kapitän Cuttle hatte sie kaum zu Gesicht bekommen als sein ruhiges gedankenvolles Gesicht plötzlich den Ausdruck des Schreckens und Entsetzens annahm.

Sobald er jedoch die volle Ausdehnung seines Mißgeschicks begriff, bewog ihn die Pflicht der Selbsterhaltung zu einem schleunigen Fluchtversuch. Er eilte nach der kleinen Tür hin, die von dem Stübchen aus nach der steilen Kellertreppe führte, und wollte diese kopfüber hinuntereilen, wie ein Mann, der, gleichgültig gegen Beulen und Quetschungen, es nur darauf abgesehen hat, sich in den Eingeweiden der Erde zu verbergen. Diese mutige Anstrengung wäre ihm auch wahrscheinlich gelungen, wenn ihn nicht die liebevollen Wesen Juliana und Kuhlen, von denen jedes ihn an einem Bein hielt, mit kläglichem Geschrei als ihren Freund zurückgerufen hätten. Mittlerweile verrichtete Mrs. Mac Stinger, die sich nie auf eine wichtige Handlung einließ, ohne zuvor Alexander Mac Stinger umzukehren, eine scharfe Batterie von Klopsen gegen ihn spielen zu lassen und ihn dann zur Abkühlung auf den Boden zu setzen, wie ihn der Leser zum ersten Male erblickt hat – diese feierliche Zeremonie, als ob sie ihn bei gegenwärtigem Anlaß den Furien opfern wollte. Dann wandte sie sich mit voller Entschlossenheit auf den Kapitän zu, die den sich ins Mittel legenden Bunsby mit der Schärfe der Nägel zu bedrohen schien.

Das Geschrei der beiden älteren Mac Stinger und das Gewinsel des jungen Alexander, der sozusagen eine schreckliche Kindheit verleben mußte, sintemal er während der Hälfte dieser schönen Daseinsperiode in seinem Gesicht alle Farben des Regenbogens zeigte, trug dazu bei, diese Heimsuchung um so furchtbarer zu machen. Der Schrecken hatte seinen Höhepunkt erreicht, als wieder Stillschweigen herrschte und der Kapitän mit großen Schweißtropfen auf der Stirn mit demütiger Miene Mrs. Mac Stinger gegenüber stand.

»O, Kapt’n Cuttle, Kapt’n Cuttle«, rief Mrs. Mac Stinger, ihr Kinn in eine starre Haltung bringend und im Einklang mit dieser das schüttelnd, was man, wenn die Schwäche ihres Geschlechtes nicht wäre, ihre Faust nennen könnte, »O, Kapt’n Cuttle, Kapt’n Cuttle, wagt Ihr es, mir noch ins Gesicht zu sehen, ohne in die Erde zu versinken?

Der Kapitän, der nichts weniger als waghalsig aussah, murmelte leise vor sich hin:

»Halt bei!«

»O, was war ich für eine schwache vertrauensvolle Törin, als ich Euch unter mein Dach aufnahm, Kapitän Cuttle!« fuhr Mrs. Mac Stinger fort. »Schon der Gedanke an die Wohltaten, mit welchen ich diesen Mann überhäufte, und an die Art, wie ich meine Kinder erzog, daß sie ihn liebten und ehrten, als ob er ihr Vater wäre, während es keinen Hauswirt und keinen Mieter in unserer Straße gibt, der nicht wüßte, daß ich durch diesen Mann und sein Gegurgel und Gewurgel« – das letztere Wort brauchte Mrs. Mac Stinger mehr zur Verstärkung und der Lautmalerei halber, als um irgendeine Idee damit auszudrücken – »mein Geld verlor. Sie rufen jetzt alle samt und sonders pfui über ihn aus, weil er eine fleißige Flau verlassen hat, die früh und spät tätig ist für das Beste ihrer jungen Familie und ihr bescheidenes Haus so reinlich hält, daß jeder sein Mittagessen und, wenn er Lust hätte, auch seinen Tee auf jedem Stubenboden und jeder Treppe einnehmen könnte, trotz all seines Gegurgels und Gewurgels: denn so viel Sorge und Mühe habe ich mir um seinetwillen gemacht!«

Mrs. Mac Stinger hielt inne, um wieder zu Atem zu kommen, und ihr Gesicht glühte triumphierend ob dieser zweiten glücklichen Anführung von Kapitän Cuttles Gewurgel.

»Und er geht fo–o–o–rt!« rief Mrs. Mac Stinger, die letzte Silbe in einer Weise dehnend, daß der unglückliche Kapitän sich als den gemeinsten aller Menschen betrachten mußte, »und bleibt zwölf Monate aus! Ist das ein Gewissen? Er hat nicht den Mut, mir keck entgegenzutreten, sondern schleicht sich weg, wie ein Di–i–eb« – wieder lange Silbe. »Wenn mein Bübchen da«, fügte Mrs. Mac Stinger mit plötzlicher Hast bei, »es versuchen wollte, sich so fortzustehlen, so würde ich meine Mutterpflicht an ihm erfüllen, bis es über und über mit Schwielen bedeckt wäre.«

Der junge Alexander, der diese Worte als eine bestimmte Zusage deutete, die bald in Erfüllung gehen würde, überpurzelte sich vor Furcht und Schrecken, so daß er seine Schuhsohlen in die Höhe streckte, und begleitete diese Bewegung mit einem so betäubenden Geschrei, daß es Mrs. Mac Stinger nötig fand, ihn auf ihre Arme zu nehmen, wo sie ihn, so oft er wieder losbrach, durch ein Schütteln beruhigte, das alle seine Milchzähne zum Wackeln bringen konnte.

»Ja, ein sauberer Mann, dieser Kapt’n Cuttle«, sagte Mrs. Mac Stinger mit einem scharfen Nachdruck auf der ersten Silbe seines Namens, »und es war wohl der Mühe wert, daß man sich um ihn kümmerte, um seinetwillen den Schlaf verlor, für ihn sich abzehrte, ihn sogar für tot hielt und wie toll die ganze Stadt auf- und abrannte, um nach ihm zu fragen! O, ein sauberer Mann! Ha, ha, ha, ha! Er verdient all diesen Schmerz und dieses Herzeleid, ja, noch viel mehr. Gott behüte, dies ist noch nichts! Ha, ha, ha, ha! – Kapt’n Cuttle«, fügte Mrs. Mac Stinger mit großer Strenge in Ton und Wesen bei, »ich wünsche zu wissen, ob Ihr wieder nach Hause kommen wollt.«

Der erschreckte Kapitän schaute in seinen Hut hinein, als sehe er keine andere Möglichkeit, als ihn aufzusetzen und sich gefangen zu geben.

»Kapt’n Cuttle«, wiederholte Mrs. Mac Stinger in der gleichen entschiedenen Weise, »ich wünsche zu wissen, ob Ihr nach Hause kommen wollt, Sir!«

Der Kapitän schien vollkommen bereitwillig zu sein, mitzugehen, murmelte aber einige Worte des Inhalts hin, daß sie keinen solchen Lärm darüber aufschlagen solle.

»Ja, ja«, legte sich Bunsby mit beschwichtigendem Ton ins Mittel. »Halt Frieden, mein Mädel, halt Frieden!«

»Und wer mögt Ihr sein, wenn ich fragen darf«, versetzte Mrs. Mac Stinger mit züchtigem Stolz. »Habt Ihr je in Nummer neun Brig-Place gewohnt, Sir? Mein Gedächtnis ist vielleicht schlecht, aber ich denke, bei mir wohntet Ihr nicht. Vor mir gehörte das Haus Nummer neun einer Mrs. Jollson, und vielleicht seht Ihr mich irrtümlicherweise für diese an. Nur in solcher Weise kann ich mir Eure Vertraulichkeit erklären, Sir.«

»Komm, laß das, mein Mädel – halt Frieden!« sagte Bunsby. Kapitän Cuttle konnte es sogar von diesem großen Mann kaum glauben, obschon er es mit weit offenen Augen geschehen sah; aber Bunsby trat keck auf Mrs. Mac Stinger zu, schlang seinen rauhen blauen Arm um sie und begütigte sie durch die magische Art, wie er dies tat, und durch jene paar Worte – er sagte nichts weiter – so sehr, daß sie, nachdem sie ihn einige Augenblicke angesehen hatte, in Tränen zerschmolz. Ihr Mut war dahin, und ein Kind hätte sie jetzt besiegen können.

Vor Erstaunen sprachlos, sah der Kapitän zu, wie Mr. Bunsby diese unerbittliche Frau allgemach in den Laden hinaus expedierte, dann zurückkehrte, um Grog und ein Licht zu holen, beides ihr brachte und sie in solcher Weise begütigte, ohne daß er hierzu nur ein Wort zu brauchen schien. Dann kam er wieder in seinem Lotsenrocke herein und bemerkte: »Cuttle, ich bin im Begriffe, die alte Fracht heimzulotsen.«

Der Kapitän hätte nicht überraschter sein können, wenn man ihn selbst zum sicheren Transport nach Brig-Place in Fesseln gelegt hätte, als jetzt, da er die Familie mit Mrs. Mac Stinger an der Spitze friedlich abziehen sah. Er hatte kaum Zeit, seine Zinnbüchse herunterzunehmen und verstohlenerweise Juliana Mac Stinger, seinem vormaligen Liebling, und Kuhley, der um seines seemännischen Körperbaus willen natürliche Ansprüche an ihn hatte, einige Geldstücke in die Hand zu drücken, als der Midshipman schon von allen verlassen war und Bunsby als der Nachtrab des Häufleins die Tür hinter sich zudrückte, nachdem er zuvor dem Kapitän zugeflüstert, er wolle es schon recht machen und Ned Cuttle wieder aufsuchen, ehe er an Bord gehe.

Als der Kapitän wieder nach dem kleinen Stübchen zurückkehrte und sich daselbst allein fand, gab er anfangs der unruhigen Vorstellung Raum, er müsse wohl im Schlaf gewandelt oder mit Gespenstern und nicht mit einer Familie von Fleisch und Blut verkehrt haben. Dann folgte ein grenzenloses Vertrauen zu dem Kommandeur der vorsichtigen Clara, und die Bewunderung vor diesem großen Genius versetzte den Kapitän eigentlich in ein verzücktes Träumen. Gleichwohl begannen in dem Kapitän unruhige Bedenken anderer Art aufzutauchen, als die Zeit fortschritt, ohne daß Bunsby wieder erschien. War dieser wohl arglistig nach Brig-Place verlockt und daselbst als Geisel für seinen Freund in sichere Verwahrung genommen worden? In diesem Fall wurde es für den Kapitän Ehrensache, ihn durch Aufopferung seiner eigenen Freiheit zu erlösen. Hatte Mrs. Mac Stinger einen Angriff auf ihn gemacht, ihn geschlagen, und wollte er aus Scham über seine Niederlage sich nicht zeigen? War Mrs. Mac Stinger in der Wandelbarkeit ihrer Gemütsart auf andere Gedanken gekommen und vielleicht umgekehrt, um den Midshipman abermals zu erobern, während Bunsby unter dem Vorwande, sie einen kürzeren Weg zu führen, sich alle Mühe gab, die Familie in den abenteuerlichen wilden Plätzen der City so zu verwirren, daß sie nicht mehr wußte, wohin sie sich wenden sollte? Vor allem aber, was sollte Kapitän Cuttle tun für den Fall, daß er weder von den Mac Stingers, noch von Bunsby wieder etwas hörte? Denn unter einer so wundervollen und unvorhergesehenen Verkettung der Ereignisse ließ sich eine derartige Möglichkeit wohl denken.

Er ging mit sich zu Rate, bis er müde war; aber noch immer erschien kein Bunsby. Er hielt sein Bett unter dem Ladentisch bereit, damit er sich nur hineinzubugsieren brauchte; aber noch immer kein Bunsby. Nachdem ihn endlich der Kapitän für diesen Abend wenigstens schon aufgegeben und seine Kleider abzulegen angefangen hatte, ließ sich das Rasseln eines Wagens, der an der Tür haltmachte, und unmittelbar darauf Bunsbys Ruf vernehmen.

Der Kapitän zitterte bei dem Gedanken, er könnte der Mrs. Mac Stinger nicht losgeworden und sie in der Kutsche wieder mitgebracht haben.

Aber nein. Bunsby hatte keine andere Begleitung, als einen großen Koffer, den er mit eigenen Händen in den Laden hineinschaffte, wo er ihn niedersetzte, um darauf Platz zu nehmen. Kapitän Cuttle erkannte darin sogleich sein in Mrs. Mac Stingers Haus zurückgelassenes Eigentum und betrachtete jetzt, das Licht in der Hand, seinen Freund um so aufmerksamer, da er meinte, der späte Ankömmling müsse wohl schief geladen oder mit andern Worten betrunken sein. Es war jedoch schwer, hierüber ins klare zu kommen, da das Gesicht des Kommandeurs auch im nüchternen Zustand durchaus keinen Ausdruck zeigte.

»Cuttle«, sagte der Kommandeur, von dem Koffer aufstehend und den Deckel öffnend, »ist das Euer Zeug?«

Kapitän Cuttle sah hinein und überzeugte sich, daß es seine Habe war.

»Nicht wahr, Kamerad, das ist hübsch knapp und takelfest abgelaufen?« bemerkte Bunsby.

Der von Dank erfüllte Kapitän reichte ihm in seiner Verwirrung die Hand und wollte eben seiner Bewunderung Ausdruck verleihen, als Bunsby sich durch einen Ruck seines Handgelenks wieder losriß und den Versuch machte, mit seinem beweglichen Auge zu blinzeln, obschon in seinem Zustand diese Anstrengung ihn beinahe aus dem Gleichgewicht gebracht hätte. Dann öffnete er plötzlich die Tür und schoß weiter, um mit aller Eile nach der vorsichtigen Clara zurückzukehren – wenigstens war das stets seine Gewohnheit, sooft er etwas Rechtes ausgeführt zu haben meinte. Da Bunsby kein Freund von vielem Zuspruch war, so verzichtete Kapitän Cuttle darauf, am andern Tag zu ihm zu gehen oder nach ihm zu schicken, indem er sich vornahm, eine Weile abzuwarten, ob der Kommandeur nicht selbst etwas von sich hören lassen wolle. Er begann daher am nächsten Morgen wieder seine einsame Lebensweise und machte sich Tag um Tag Gedanken über Sol Gills, über Bunsbys Gutachten und über die Hoffnungen, die er um die Rückkehr des alten Mannes hegte. Letztere steigerten sich, je mehr der Kapitän sich mit ihnen trug, und er ging darin sogar so weit, daß er – wie er jetzt in seiner unerwarteten Freiheit wohl tun durfte – vor der Tür nach dem Instrumentenmacher auslugte, den Stuhl für ihn an seinen Platz stellte und das kleine Stübchen in die alte Ordnung brachte, für den Fall sein Freund unerwarteterweise in der Heimat anlangte. In weiser Vorsorge nahm er auch ein kleines Miniaturbild, das Walter als Schulknaben vorstellte, von seinem Nagel herunter, damit es nicht auf den zurückgekehrten Greis eine allzu erschütternde Wirkung übe. Bisweilen hatte der Kapitän sogar Ahnungen, daß er an diesem und jenem Tag ankommen müsse, und namentlich an einem Sonntag glaubte er seiner Sache so gewiß zu sein, daß er eine doppelte Portion Mittagessen bringen ließ. Aber der alte Solomon erschien nicht, und die Nachbarn bemerkten, daß der Seefahrer in dem Glanzhut den ganzen Nachmittag vor der Ladentür stand, wo er ohne Unterlaß die Straße aufwärts und abwärts schaute.

Neunundfünfzigstes Kapitel.


Neunundfünfzigstes Kapitel.

Vergeltung

Abermalige Wechsel haben das große Haus in der langen öden Straße betroffen, das vordem der Schauplatz von Florences Kindheit und Verwaisung war. Es ist noch immer ein großes Haus, fest gegen Wind und Wetter, ohne Brüche im Dach, ohne zerschlagene Fenster oder eingestürzte Mauern; aber nichtsdestoweniger steht es als eine Ruine da, und die Ratten fliehen daraus.

Mr. Towlinson und Co. sind anfänglich ungläubig in betreff der ungeheuerlichen Gerüchte, die sie vernehmen. Die Köchin sagt, der Kredit unserer Leute sei gottlob nicht so leicht zu erschüttern, als daß es soweit kommen könnte, und Mr. Towlinson erwartete ebensogut mit nächstem zu vernehmen, daß die Bank von England falliert habe oder die Kronjuwelen im Tower verkauft worden seien. Aber zunächst kommt die Zeitung und Mr. Perch; und Mr. Perch bringt Mrs. Perch mit sich, um in der Küche über die Sache zu plaudern und einen angenehmen Abend zu verleben. Sobald kein Zweifel mehr darüber obwaltet, ist es Mr. Towlinsons Hauptfürsorge, den Bankerott zu einem recht guten und runden zu machen – nicht weniger als hunderttausend Pfund. Mr. Perch glaubt nicht einmal, daß hunderttausend Pfund hinreichen werden, ihn zu decken. Die Frauen wiederholten unter Mrs. Perchs und der Köchin Anführung oft die Worte »hunderttausend Pfund« mit schauerlicher Selbstbefriedigung, als ob es mit dem Gelde ebenso leicht abgetan sei, und die Hausmagd, die ein Auge auf Mr. Towlinson hat, wünscht, dem Mann ihrer Wahl nur den hundertsten Teil dieser Summe mitbringen zu können. Mr. Towlinson, der das ihm früher zugefügte Unrecht noch immer nicht vergessen hat, ist der Ansicht, ein Ausländer würde kaum wissen, was er mit so viel Geld anfangen müsse, wenn er es nicht auf seinen Bart verwende – ein bitterer Sarkasmus, der die Hausmagd bewegt, sich in Tränen zurückzuziehen.

Aber nicht um lange abwesend zu bleiben, denn die Köchin, die in dem Ruf ungemeiner Gutherzigkeit steht, macht jetzt den Vorschlag, sie wollen zusammenhalten, denn man könne nicht wissen, wie bald sie getrennt würden. »Sie hätten in diesem Hause«, sagt die Köchin – »ein Leichenbegängnis, eine Hochzeit und Entführung erlebt, und man solle ihnen nicht nachreden, daß sie in einer Zeit, wie die gegenwärtige, unter sich uneinig geworden seien.« Mrs. Perch ist von dieser beweglichen Anrede im hohem Grade gerührt und drückt offen ihre Ansicht aus, daß die Köchin ein Engel sei. Mr. Towlinson antwortet der Köchin, er sei weit entfernt, einer so wünschenswerten guten Gesinnung im Weg zu stehen, und bricht sodann auf, um die Hausmagd zu suchen, die er bald darauf am Arm zurückbringt. Er teilt den in der Küche Anwesenden mit, daß er mit den Ausländern nur gespaßt habe und daß er und Anna jetzt entschlossen seien, sich gegenseitig für gute und schlimme Tage zu nehmen und auf dem Oxford-Markte einen Gemüsehandel anzufangen, für den ihre geneigte Kundschaft erbeten werde. Diese Ankündigung wird mit großem Beifall aufgenommen, und Mrs. Perch, deren Auge in die Zukunft blickt, sagt der Köchin mit feierlichem Flüsterton ins Ohr: »Mädchen!«

Ein Familienunglück konnte in diesen unteren Regionen nicht ohne Festessen abgehen. Die Köchin tischte daher einige warme Gerichte zum Nachtessen auf, und Mr. Towlinson fertigte einen Hummersalat an, der demselben gastlichen Zwecke dienen soll. Sogar Mrs. Pipchin zieht, durch die Kunde aufgeregt, an der Klingel und läßt hinunter sagen, man solle ihr die übrig gebliebenen Pfannkuchen wärmen und ihr ein Quart Glühwein bringen, da sie sich elend fühle.

Es wird von Mr. Dombey gesprochen, aber nicht viel, und man behandelt dabei hauptsächlich die Mutmaßung, wie lange er wohl gewußt habe, daß es so kommen werde. Die Köchin wirft die schlaue Bemerkung hin: »O, Gott behüt euch, schon lange, darauf könnt Ihr schwören,« und da auch Mr. Perch darüber vernommen wird, so bestätigt er ihre Ansicht von dem Fall. Jedermann wundert sich, was er wohl anfangen und ob er sich vielleicht nach einer Stellung umsehen wird. Mr. Towlinson glaubt es nicht und deutet auf einen Zufluchtsort in einem der gentilen Armenhäuser besserer Art hin. »Ah, Ihr wißt«, sagte die Köchin kläglich, »wo er seinen kleinen Garten haben wird und im Frühjahr Zuckererbsen ziehen kann.« »Ganz richtig«, sagt Mr. Towlinson, »er geht dann vielleicht unter die Brüder.« »Wir sind alle Brüder«, sagt Mrs. Perch, während sie beim Trinken eine Pause macht. »Mit Ausnahme der Schwestern«, sagt Mr. Perch. »Wie sind doch die Mächtigen gefallen!« bemerkt die Köchin. »Hochmut kommt vor dem Fall«, meint die Hausmagd; »so war es stets und wird es immer sein!«

Es ist wunderbar, wie wohl sie sich bei Anstellung dieser Betrachtungen fühlen und wie christliche Einmütigkeit unter ihnen herrscht, wo es gilt, den gemeinschaftlichen Schlag mit Ergebung zu tragen. Diese treffliche Stimmung erleidet nur eine einzige Störung durch die junge Küchenmagd untergeordneten Ranges mit blauen Strümpfen, die, nachdem sie lange Zeit mit offenem Munde dagesessen, unerwartet sich der Worte entledigt: »Wenn aber gar der Lohn nicht ausbezahlt würde!« Die Gesellschaft ist einen Augenblick völlig sprachlos; dann aber wendet sich die Köchin, die sich zuerst wieder erholt, an die junge Weibsperson und fragt sie, wie sie sich unterstehen könne, durch einen so unehrenhaften Argwohn die Familie zu beschimpfen, deren Brot sie esse, und ob sie glaube, daß jemand nur mit einem Funken Ehrgefühl arme Dienstboten um ihren Liedlohn betrügen werde. »Wenn dies Eure religiöse Gesinnung ist, Mary Daws«, sagt die Köchin mit großem Eifer, »so weiß ich nicht, wohin es mit Euch kommen wird, nach oben oder unten.«

Mr. Towlinson weiß es auch nicht: niemand weiß es, und die junge Küchenmagd, die selbst nicht mit sich darüber im klaren zu sein scheint und jetzt hören muß, wie die allgemeine Stimmung sich gegen sie erhebt, gerät in die größte Verwirrung.

Nach einigen Tagen beginnen fremde Personen einzusprechen und sich im Salon zu gebärden, als ob sie da zu Hause seien. Namentlich macht sich ein Gentleman von mosaisch-arabischem Gesichtsschnitt mit einer schweren Uhrkette sehr bemerkbar, denn während er auf den andern Gentleman wartet, der immer Feder und Tinte in der Tasche mit sich führt, pfeift er in dem Salon und fragt Mr. Towlinson mit der vertraulichen Bezeichnung »alter Hahn«, ob er nicht wisse, was die Scharlach- und Goldbehänge gekostet haben mögen, als sie neu gekauft wurden. Die Besuche und Bestellungen in dem Speisezimmer werden mit jedem Tage zahlreicher, und die Gentlemen, die Feder und Tinte in der Tasche mitbringen, scheinen einigen Anlaß zu finden, von ihrem Schreibmaterial Gebrauch zu machen. Endlich ist von einem Ausverkauf die Rede. Dann kommen noch mehr Leute mit Feder und Tinte in den Taschen und führen eine Abteilung von Männern mit Strohmützen ein, die augenblicklich die Teppiche aufzunehmen anfangen, das Möbelwerk umherwerfen, und in der Halle und auf der Treppe Abdrücke von ihren Schuhen in Tausenden zurücklassen.

Der Küchenrat hält diese ganze Zeit über Konklave und verrichtet, da er nichts zu tun hat, wahre Heldentaten im Essen, bis endlich eines Tags das ganze Gremium nach Mrs. Pipchins Zimmer beschieden und von der schönen Peruvianerin folgendermaßen angeredet wird:

»Euer Gebieter ist in Bedrängnis«, sagt Mrs. Pipchin scharf. »Ihr wißt es vermutlich.«

Mr. Towlinson als Sprecher räumt die Kenntnis der Tatsache im allgemeinen ein.

»Und ich stehe dafür, ihr seid alle für euch selbst auf dem Lugaus«, sagt Mrs. Pipchin, den Kopf schüttelnd.

Eine schrille Stimme von hinten ruft:

»Nicht mehr als Ihr!«

»Ist dies Eure Meinung, Mrs. Unverschämt –he?« sagt die zornmütige Pipchin, mit wildem Blick über die dazwischen befindlichen Köpfe hinschauend.

»Ja, Mrs. Pipchin, sie ist’s«, versetzte die Köchin vortretend. »Und was weiter, wenn ich fragen darf?«

»Nur so viel, daß Ihr gehen könnt, sobald es Euch beliebt«, sagt Mrs. Pipchin. »Je eher, desto besser; und ich hoffe, ich werde Euer Gesicht nie wieder sehen.«

Mit diesen Worten zieht die mannhafte Pipchin einen leinenen Beutel hervor und zahlt ihr den Lohn auf einen Monat und darüber aus, hält aber das Geld fest, bis die Quittung auf den letzten Strich hin richtig unterzeichnet ist, und läßt es dann brummend los. Dieses Verfahren wiederholt sie bei jedem Mitglied des Haushalts, bis alle bezahlt sind.

»Wer will, kann jetzt an sein Geschäft gehen,« sagt Mrs. Pipchin. »Diejenigen, die Lust haben, mögen gegen Kostgeld noch eine Woche oder so hier bleiben und sich nützlich machen. Ausgenommen«, fügte die reizbare Pipchin bei, »jene Schlumpe von einer Köchin, die augenblicklich fort muß.«

»Sie wird zuverlässig nicht säumen«, sagt die Köchin. »Guten Tag, Mrs. Pipchin, und ich wünsche aus aufrichtigem Herzen, daß ich Euch über die Holdseligkeit Eures Aussehens ein Kompliment machen könnte.«

»Fort mit Euch!« ruft Mrs. Pipchin und stampft mit dem Fuße.

Die Köchin segelt mit der Miene behaglicher Würde ab; sie ist sehr aufgebracht über Mrs. Pipchin, und bald nachher sammelt sich unten der Rest der Verbindung um sie.

Mr. Towlinson sagt sodann, daß er zuvörderst eine kleine Mahlzeit beantragen möchte, bei der er eine Andeutung kundgeben wolle, die seiner Meinung nach gut auf die Lage passe, in der sie sich befänden. Die Erfrischung wird beigeschafft und findet kräftigen Zuspruch. Mr. Towlinson meint nun, die Köchin gehe und wenn sie nicht sich selbst treu blieben, so werde ihnen niemand treu sein. Sie hätten im Hause so lang gelebt und sich alle Mühe gegeben, unter sich gesellschaftlich zu sein. (Die Köchin erwiderte hierauf mit Erregung »hört, hört!«, während Mrs. Perch, die wieder dabei und bis an den Hals vollgepfropft ist, in Tränen ausbricht.) Er glaube deshalb, in einer solchen Zeit müsse das Gefühl vorherrschen: »Geht eines, so gehen alle.« Die Hausmagd ist von dieser edlen Gesinnung sehr ergriffen und spricht ihr mit Wärme das Wort. Die Köchin fühlt, daß er recht habe, und hofft, es geschehe nicht als Kompliment gegen sie, sondern aus Pflichtgefühl. Mr. Towlinson versetzt: aus Pflichtgefühl; und da er sich jetzt gedrungen sehe, seine Ansichten auszusprechen, so wolle er offen sagen, daß er es nicht für achtbar halte, in einem Hause zu bleiben, wo Ausverkäufe und dergleichen Dinge vorkommen. Die Hausmagd ist davon vollkommen überzeugt und berichtet zur Bekräftigung, daß ein fremder Mann in einer Strohmütze erst sie auf der Treppe habe küssen wollen. Mr. Towlinson springt jetzt von seinem Tisch auf, um den Verbrecher zu suchen und ›niederzulegen‹, wird aber von den Damen zurückgehalten, die ihn bitten, er möchte sich doch beruhigen und in Erwägung ziehen, daß es leichter und klüger sei, den Schauplatz solcher Unanständigkeiten unverweilt zu verlassen. Mrs. Perch, die den Fall in einem neuen Licht darstellt, weist sogar nach, das Zartgefühl gegen Mr. Dombey, der sich in seinem Zimmer einschließe, fordere gebieterisch einen schleunigen Rückzug. »Denn welcher Art«, sagte die gute Frau, »müssen seine Gefühle sein, wenn er einem von den armen Dienstboten begegnet und sich den Vorwurf machen muß, er habe sie getäuscht, indem er sie auf den Glauben brachte, daß er unermeßlich reich sei!« Der Köchin leuchtet diese moralische Rücksicht so sehr ein, daß Mrs. Perch sie mit unterschiedlichen frommen Sprüchen, originell sowohl, als gesammelt, zu belegen sucht. Der Fall stellt sich klar heraus, daß sie alle gehen müssen. Die Koffer werden gepackt, Wagen geholt, und um die Zeit der Dämmerung sieht man kein Mitglied des ganzen Häufleins mehr im Hause.

Das Haus steht da, groß und wetterfest, in der langen öden Straße, aber es ist eine Ruine, und die Ratten fliehen daraus.

Die Männer in den Strohkappen werfen die Möbel umher, und die Gentlemen mit Tinte und Feder fertigen Inventarien darüber an, setzen sich auf Gerätschaften, die nie zum Sitzen gemacht worden sind, essen Brot und Käse, die sie aus dem Wirtshaus beschaffen lassen, auf andern Möbelstücken, die ebensowenig ursprünglich zu solchem Zwecke bestimmt waren, und scheinen eine Freude daran zu haben, wertvolle Artikel in der befremdlichsten Art zu gebrauchen. Auch findet unter dem Hausrat eine eigentlich chaotische Verwirrung statt. Matratzen und Betten verlieren sich in das Speisezimmer; das Glas und das Porzellan gelangen in die Speisekammer, das große Dinerservice ist auf dem langen Diwan des Besuchszimmers aufgehäuft, und die Treppendrähte, die in Bündel zusammengebunden sind, zieren die marmornen Kaminsimse. Zuletzt wird ein wollener Teppich mit einem gedruckten Zettel darauf vor dem Balkon ausgehängt, und ähnliche Banner wehen zu beiden Seiten der Hallentür.

Den ganzen Tag über harren verschimmelte Gigs und Wägelchen in der Straße. Herden von schäbigen Vampyren jüdischer und christlicher Abkunft überlaufen das Haus, untersuchen die Dicke der Spiegeltafeln mit ihren Knöcheln, schlagen auf dem großen Piano mißtönige Oktaven an, fahren mit angefeuchtetem Zeigefinger über die Gemälde, hauchen die Klingen der besten Tischmesser an, zerklopfen die Roßhaarpolster der Sessel und Sofas mit ihren schmutzigen Fäusten, lüften die Federbetten, öffnen und schließen alle Schubladen, wägen die silbernen Löffeln und Gabeln in den Händen, sehen sogar durch die Fäden vom Bett- und Tischzeug und verachten alles. Es gibt kein geheimes Plätzchen im ganzen Haus. Schnupftabaknasige Fremde glotzen mit gleicher Neugierde in den Küchenkasten, wie in die Kleiderschränke der Dachkammern hinein. Stämmige Männer mit abgerutschten Hüten auf den Köpfen schauen zu den Schlafzimmern hinauf und rufen ihren Freunden auf der Straße drunten Späße zu. Ruhige, berechnende Geister ziehen sich mit Listen in die Ankleidegemächer zurück und machen mit Bleistiftstümpfchen Randbemerkungen. Zwei Makler dringen sogar in den Schornstein ein und nehmen vom Dachgiebel aus eine panoramische Übersicht über die Nachbarschaft. Das Schwärmen, Summen und Auf- und Niedergehen dauert Tage lang. Der moderne Hausrat usw. ist zur Schau ausgestellt.

In dem besten Salon sieht man eine Palisade von Tischen, und auf der französisch polierten Mahagoni-Auszugstafel, die ihre Füße in die Höhe reckt, steht das Pult des Auktionators. Die Herden schäbiger Vampyre jüdischer und christlicher Abkunft, die schnupftabaknasigen Fremden und die stämmigen Männer mit den abgerutschten Hüten sammeln sich darum her, sitzen auf alles in ihrem Bereich, selbst die Kaminsimse nicht ausgenommen, und fangen an zu bieten. Den ganzen Tag über geht in den heißen, staubigen Zimmern das Gesumme fort, und hoch über der Hitze, dem Staub und dem Gesumme sind Kopf, Schultern, Stimme und Hammer des Auktionators in steter Tätigkeit. Die Männer in den Strohmützen werden von dem Umherwerfen der Gegenstände verwirrt und boshaft, und doch gehen die Nummern fort, zum ersten, zum zweiten und dritten Mal. Mitunter fällt ein Witz, der einen allgemeinen Beifallsdonner hervorruft. So geht es den ganzen Tag und die drei folgenden. Der moderne Hausrat usw. wird versteigert.

Die verschimmelten Gigs und Wägelchen kommen wieder, und mit ihnen Schubkarren und andere Fuhrwerke nebst einer Armee von Lastträgern. Den ganzen Tag über machen sich die Strohmützen-Männer mit Schraubenziehern zu schaffen, stolpern zu Dutzenden unter schweren Lasten auf der Treppe, oder heben wahre Felsmassen von spanischem Mahagoni, bestem Rosenholz oder Tafelglas in die Gigs und Wägelchen. Alle Arten von Lastfuhrwerken stehen auf der Wache, von dem beplanten Frachtwagen an bis zum Schubkarren herunter. Die kleine Bettstatt des armen Paul wird in einem Eselkarren fortgeführt. Fast eine Woche lang dauert die Abführung des modernen Hausrats usw.

Endlich ist alles fort, und im Hause sieht man nichts mehr als umhergestreute Blätter von Listen, Reste von Heu und Stroh, und eine Batterie von Zinnkannen hinter der Hallentür. Die Männer mit den Strohmützen sammeln ihre Schraubenzieher und ähnliche Gerätschaften in Säcke, nehmen sie auf die Schulter und marschieren ab. Einer von den Tinten- und Feder-Gentlemen geht – die letzte Aufmerksamkeit – noch einmal durch das Haus, steckt die Zettel in die Fenster, Vermietung dieses empfehlenswerten Familiensitzes betreffend, und schließt die Läden. Endlich folgt er den Männern mit den Strohmützen. Keiner von den Eindringlingen bleibt zurück. Das Haus ist eine Ruine, und die Ratten sind daraus geflohen.

Die Zimmer der Mrs. Pipchin nebst jenen verschlossenen Gemächern im Erdgeschoß, wo die Fensterladen niedergelassen sind, haben die allgemeine Verwüstung nicht teilen müssen. Hart und streng ist Mrs. Pipchins während dieses Verfahrens in ihrem Zimmer geblieben, oder hat nur hin und wieder einen kurzen Besuch in dem Auktionslokal gemacht, um zu sehen, was für die Gerätschaften erlöst wird, und auf einen besonders gemächlichen Stuhl ein Angebot zu tun. Als höchste Bieterin hat sie den Stuhl erhalten und sitzt eben auf ihrem Eigentum, als Mrs. Chick kommt, um sie zu besuchen.

»Wie geht es meinem Bruder, Mrs. Pipchin?« fragt Mrs. Chick.

»Ich weiß von ihm verteufelt wenig«, versetzt Mrs. Pipchin. »Er erweist mir nie die Ehre, mich anzureden. Sein Essen und Trinken muß in das Vorzimmer gebracht werden, und was ihm davon paßt, holt er, wenn niemand dabei ist. Es führt zu nichts, mich zu fragen. Ich weiß von ihm so wenig als der Mann im Süden, der sich bei kaltem Pflaumenmus den Mund verbrannte.«

Die scharfe Mrs. Pipchin wirft sich in die Brust, während sie dies spricht.

»Aber du mein gütiger Himmel!« ruft Mrs. Chick milde, »wie lang kann es noch fortwähren? Was soll aus meinem Bruder werden, Mrs. Pipchin, wenn er keine Anstrengung machen will? Man sollte wahrhaftig meinen, er hätte Zeit genug gehabt, um die Folgen des Nichtsichanstrengens kennenzulernen und sich gegen diesen verhängnisvollen Irrtum warnen zu lassen.«

»Ei der Tausend«, sagt Mrs. Pipchin, ihre Nase reibend, »ich denke, man macht da allzuviel Wesens. Der Fall ist nicht so verwunderlich. Auch andere Leute haben Unglück gehabt und mußten sich von ihrem Hausgerät trennen. Mir selbst ist es so ergangen.«

»Mein Bruder«, fährt Mrs. Chick gedankenvoll fort, »ist ein so eigener – ein so sonderbarer Mann – der sonderbarste Mann, der mir je vorgekommen. Sollte man’s wohl glauben, daß er, als er die Kunde von der Verheiratung und Auswanderung jenes unnatürlichen Kindes erhielt – es ist mir jetzt ein Trost, wenn ich daran denke, daß ich immer sagte, es sei etwas Außerordentliches an jenem Kind; aber niemand achtete auf mich – ich sage, würde man’s wohl glauben, daß er damals mir Vorwürfe machte und mir entgegenhielt, aus meinem Benehmen sei er auf die Vermutung gekommen, sie befinde sich in meinem Hause. Ach, du mein Himmel! Und würde man’s wohl glauben, daß er, als ich bloß zu ihm sagte, ›Paul, es mag wohl töricht von mir sein, und ich will’s auch nicht in Zweifel ziehen, aber ich kann nicht begreifen, wie deine Angelegenheiten in einen solchen Zustand geraten konnten‹, eigentlich auf mich losfuhr und mir erklärte, ich solle nicht wieder zu ihm kommen, bis er mich bitte! Ach, barmherziger Gott!«

»Ja«, sagte Mrs. Pipchin, »’s ist schade, daß er nicht mehr mit Minen zu schaffen hatte. Sie würden sein Temperament auf die Probe gesetzt haben.«

»Und wie soll es enden?« nimmt Mrs. Chick wieder auf, ohne auf die Bemerkung der Mrs. Pipchin zu achten. »Das möchte ich wissen. Was gedenkt mein Bruder zu tun? Etwas muß geschehen. Es führt zu nichts, wenn er sich in seinen Zimmern absperrt. Das Geschäft kommt nicht zu ihm. Er muß darnach gehen. Aber warum tut er’s nicht? Ich denke, er weiß doch, wie er es anzufangen hat, da er sein ganzes Leben über Geschäftsmann gewesen ist. Gut. Aber warum sieht er sich nicht um?«

Nachdem Mrs. Chick diese gewaltige Kette von Vernunftschlüssen geschmiedet hat, bleibt sie eine Minute stumm, um ihr Machwerk zu bewundern.

»Außerdem«, fährt die verständige Dame in argumentierender Weise fort, »wer hat je von einem solchen Starrsinn gehört, sich während aller dieser Unannehmlichkeiten hier einzuschließen? Man sollte ja meinen, es habe keinen andern Platz gegeben, wohin er gehen können. Natürlich hätte er zu mir kommen können, denn weiß er nicht, daß er bei mir wie zu Hause ist? Mein Mann hat es ihm recht übel genommen, und ich sagte zu ihm: ›Da deine Angelegenheit einmal in einen solchen Zustand geraten sind, Paul, meinst du nicht, du wärest bei so nahen Verwandten, wie wir sind, besser zu Hause? Du wirst doch nicht annehmen, daß wir die übrige Welt sind?‹ Aber nein; da bleibt er die ganze Zeit, und da ist er. Du mein Himmel, wenn nun das Haus vermietet wird, was will er dann tun? Er kann doch nicht hier bleiben. Wollte er es, so liefe es auf eine Ausweisung hinaus, auf ein gerichtliches Verfahren, und dann muß er gehen. Und warum dies nicht lieber anfänglich, da sich’s doch nicht ändern läßt? Dies führt mich wieder auf meine früheren Worte zurück, und ich frage natürlich, wie soll es enden?«

»So weit ich dabei beteiligt bin, weiß ich schon, wie es enden wird«, versetzt Mrs. Pipchin, »und dies ist genug für mich. Ich werde mich selbst abführen, und zwar im Nu.«

»In was, Mrs. Pipchin?« fragt Mrs. Chick.

»Im Nu«, versetzt Mrs. Pipchin mit Schärfe.

»Ah, so! Ich kann Euch freilich nicht darum tadeln, Mrs. Pipchin«, sagt Mrs. Chick mit Offenheit.

»Es wäre mir auch ziemlich gleichgültig, wenn Ihr’s wolltet«, entgegnet die sardonische Pipchin. »Jedenfalls gehe ich. Ich kann nicht hier bleiben, denn in einer Woche hätte ich den Tod davon. Gestern mußte ich meine Schweinsrippchen selber braten, und daran bin ich nicht gewöhnt. Meine Konstitution würde bald erliegen.

Außerdem hatte ich, ehe ich hierher kam, zu Brighton eine recht hübsche Stellung – die kleinen Pankeys trugen mir allein jährlich gute achtzig Pfund ein – und ich kann eine solche Gelegenheit zum Erwerb nicht wegwerfen. Ich habe meiner Nichte geschrieben, und sie erwartet mich bereits.«

»Habt Ihr mit meinem Bruder darüber gesprochen?« fragte Mrs. Chick.

»O ja, es ist gar leicht, mit ihm zu sprechen«, erwidert Mrs. Pipchin. »Und wie ist es geschehen! Ich rief ihm gestern zu, ich sei hier nichts mehr nütze, und es dürfte wohl das geratenste sein, wenn er mich zu Mrs. Richards schicken lasse. Er grunzte irgend etwas, das ein Ja sein sollte, und ich schickte. Jawohl da, grunzen! Wenn er etwa Mr. Pipchin gewesen wäre, so hätte er vielleicht Ursache gehabt zu grunzen. Nein, mit meiner Geduld ist’s zu Ende.«

Die musterhafte Frau, die so viel Standhaftigkeit und Tugend aus den Tiefen der peruvianischen Minen gepumpt hat, erhebt sich jetzt von ihrem gepolsterten Eigentum, um Mrs. Chick an die Tür zu begleiten. Letztere, die bis auf den letzten Augenblick den eigenen Charakter ihres Bruders beklagt, entfernt sich geräuschlos und wünscht sich unterwegs Glück, daß sie selbst so weise und einsichtsvoll ist.

In der Abenddämmerung langt Mr. Toodle, der gerade keinen Dienst hat, mit Polly und einem Koffer an und setzt sie in der Halle des leeren Hauses ab, dessen Verlassenheit auf Mr. Toodles Geist einen mächtigen Eindruck macht.

»Ich will dir was sagen, liebe Polly«, er begleitet diese Worte mit einem schallenden Kuß; »da ich jetzt Maschinenführer bin und mein gutes Auskommen habe, so wäre es mir nicht eingefallen, dich hierher kommen zu lassen, wenn ich nicht der früheren Vergünstigungen gedächte. Freilich kann man hier nur trübsinnig werden; aber was man früher Gutes genossen, Polly, darf man doch nicht vergessen, und außerdem ist schon dein Gesicht für Personen in Bedrängnis eine wahre Herzstärkung. Laß dir noch einmal einen Kuß geben. Ich weiß, du willst nichts als das Rechte, und meine Ansicht ist, daß du hierin recht und pflichtmäßig handelst. Gute Nacht, Polly!«

Inzwischen erscheint, eine düstere Nachtgestalt, Mrs. Pipchin in ihrem schwarzen Bombasinkleid, schwarzem Hut und schwarzem Halstuch. Sie hat ihr persönliches Eigentum aufgepackt, ihren Stuhl (vordem der Lieblingssitz von Mr. Dombey und das letzte Möbelstück in der Versteigerung) in die Nähe der Haustür gebracht und wartet nur noch auf einen Planwagen, der in Privatdiensten am Abend noch nach Brighton gehen und infolge eines gesonderten Vertrags sie aufladen soll.

Das Fuhrwerk bleibt nicht lange aus. Mrs. Pipchins Garderobe wird hinein- und untergebracht; dann kommt ihr Stuhl, der seinen Platz unter gewissen Heubüscheln findet, denn die liebenswürdige Dame beabsichtigt, während der Reise dieses Eigentum sich dienstbar zu machen. Dann wird Mrs. Pipchin selbst hineingeschoben und nimmt grämlich ihren Sitz ein. Es ist ein schlangenartiges Leuchten in ihrem harten Auge, gleichsam ein Vorgefühl von gebutterten Röstschnitten, warmen Rippchen, Plackereien an jungen Kindern, schnippischen Reden gegen die arme Berry und all den übrigen Vergnügungen in ihrem Werwolf-Kastell. Mrs. Pipchin lacht fast, während der Planwagen abfährt, glättet ihre schwarzen Bombasin-Schöße und macht sich’s in den Kissen ihres Armstuhls bequem.

Das Haus ist eine solche Ruine, daß die Ratten geflohen sind, ohne daß auch nur eine einzige zurückblieb.

Aber Polly, obgleich allein in dem verlassenen Hause – denn die verschlossenen Zimmer, in denen ihr früherer Gebieter sein Haupt verbirgt, sind nicht als Gesellschaft zu rechnen – bleibt nicht lange allein. Es ist Nacht. Sie sitzt im Haushälterinzimmer an der Arbeit und versucht die Einsamkeit und die Geschichte des Hauses zu vergessen, als ein Klopfen sich von der Haustür her vernehmen läßt – ein Klopfen, das an dem leeren Platz nur um so lauter zu tönen scheint. Sie öffnet und kehrt mit einer weiblichen Gestalt in einem dicht anschließenden schwarzen Hut nach der dröhnenden Halle zurück. Es ist Miß Tox, die sich mit rotgeweinten Augen einstellt.

»O Polly«, sagt Miß Tox, »als ich vorhin bei Euch vorsprach, um den Kindern eine Stunde zu geben, erfuhr ich die Nachricht, die Ihr mir hinterlassen habt, und sobald ich mich zu fassen vermochte, kam ich zu Euch. Ist denn außer Euch niemand hier?«

»Ach, keine Seele«, versetzt Polly.

»Habt Ihr ihn gesehen?« flüstert Miß Tox.

»Gott behüte, nein«, entgegnet Polly. »Er hat sich schon tagelang nicht blicken lassen. Wie ich höre, kommt er nie aus seinem Zimmer.«

»Man erzählt sich, daß er krank sei?« bemerkt Miß Tox.

»Nein, Ma’am, nicht daß ich wüßte«, erwidert Polly, »es wäre denn geistig. Es muß dem armen Gentleman sehr schwer ums Herz sein!«

Die Teilnahme der Miß Tox ist so groß, daß sie kaum zu sprechen vermag. Sie gehört zwar nicht zu den heurigen Hasen, ist aber doch nicht von Alter und Zölibat zäh geworden. Sie besitzt ein gefühlvolles Herz; ihre Teilnahme ist echt und ihre Huldigung lauter. Unter dem Schloß mit dem Fischauge birgt Miß Tox bessere Eigenschaften, als manche einladendere Außenseite – Eigenschaften, die um viele Sommer länger leben werden, als die glänzendsten Hüllen, die in der Ernte des großen Schnitters fallen.

Es währt lange, bis Miß Tox sich entfernt und Polly mit einem flackernden Licht sie die Treppe hinab bis auf die Straße hinaus begleitet. Nur ungern kehrt letztere in das traurige Haus zurück, denn die schweren Riegel der Tür klirren so trostlos, ehe sie in ihr Bett schlüpft. Am andern Morgen bringt sie in das verödete Zimmer diejenigen Gegenstände, die man ihr anzufertigen aufgetragen hat, zieht sich dann zurück und betritt es nicht mehr bis zum nächsten Morgen um dieselbe Stunde. Es sind Klingeln da, die aber nie geläutet werden, und obschon sie bisweilen auf und ab gehende Fußtritte vernimmt, kommen sie doch nie heraus.

Miß Tor stellt sich am andern Tage früh wieder ein. Sie beginnt nun, kleine Leckerbissen zuzubereiten, die am andern Morgen in das erwähnte Zimmer gebracht werden. Dieses Geschäft macht ihr so viel Freude, daß sie es fortan mit aller Regelmäßigkeit betreibt, denn sie bringt täglich in ihrem Körbchen unterschiedliche Konfitüren mit, die aus den spärlichen Vorräten des abgeschiedenen Eigentümers vom gepuderten Kopf und Haarbeutel stammen. In gleicher Weise trägt sie ihr eigenes Mittagessen mit sich, aus Stückchen kalten Fleisches, Schafszungen, halben Hühnern und dergleichen bestehend, die sie in Fließpapier eingewickelt hat. Diese Erfrischungen teilt sie mit Polly und bringt ihre Zeit meist in der Ruine zu, aus der die Ratten geflohen sind. Sie erschrickt vor jedem Laut und stiehlt sich wie eine Verbrecherin ein und aus, denn sie wünscht nichts, als dem gefallenen Gegenstand ihrer Bewunderung treu zu sein, ohne daß er oder die ganze übrige Welt, ein einziges armes Weib ausgenommen, darum weiß.

Der Major weiß es zwar auch, wird aber nicht klüger daraus, obschon er es sehr belustigend findet. In einem Anfall von Neugierde hat er den Eingeborenen beauftragt, das Haus von Zeit zu Zeit zu beobachten und ausfindig zu machen, wie es mit Dombey stehe. Der Eingeborene hat über die Treue der Miß Tox Bericht erstattet und der Major vor lauter Lachen fast einen Schlaganfall erlitten. Von Stunde an wird er stets blauer und pustet sich unaufhörlich zu, während ihm die Hummeraugen fast aus dem Kopf springen: »Gott verdamm‘ mich, Sir, das Weibsbild ist eine geborene Gans!«

Und der zugrunde gerichtete Mann – wie verbringt er seine einsamen Stunden? Möge er sich des erinnern in jenem Zimmer nach vielen kommenden Jahren. Der Regen, der auf das Dach niederfällt, der Wind, der draußen trauert, drückt wohl in dem wehmütigen Ton eine Ahnung aus. Möge ihn jenes Zimmer daran mahnen nach vielen künftigen Jahren!

Er erinnerte sich daran. In der unglücklichen Nacht, dem traurigen Tag, in der trübseligen Morgendämmerung und in dem gespenstischen, von Erinnerungen umspukten Zwielicht dachte er daran! Er dachte daran mit Schmerz, voll Leid, mit Gewissensbissen und in Verzweiflung! »Papa! Papa! redet mit mir, lieber Papa!« Er hörte die Worte wieder und sah das Gesicht. Er sah, wie es auf die zitternden Hände sank, und hörte, wie sie schluchzend die Treppe hinaufstieg.

Er war gefallen, um nie wieder aufgerichtet zu werden. Für die Nacht seines zeitlichen Untergangs gab es keine Morgensonne, für den Flecken seiner häuslichen Schande keine Reinigung; dem Himmel sei Dank, nichts konnte sein totes Kind wieder ins Leben zurückrufen. Aber dasjenige, was er in der Vergangenheit so ganz anders hätte machen können und was ihm selbst eine so ganz andere Vergangenheit geschaffen haben würde, obgleich er jetzt kaum daran dachte, – das, was sein eigenes Werk war und was ihm seit Jahren zum Fluch geworden, während es so leicht in Segen umzuwandeln gewesen wäre, wurde jetzt zum herben Schmerz seiner Seele.

O, er erinnerte sich. Der Regen, der auf das Dach fiel, der Wind, der draußen trauerte – ihr wehmütiger Ton war ahnungsvoll gewesen. Er wußte, er habe alles selbst auf sein Haupt heruntergerufen, und wurde dadurch tiefer gebeugt, als durch den schwersten Schlag des Schicksals. Er wußte, was es war, verlassen und verstoßen zu sein, jetzt, da jede liebende Blüte, die in dem unschuldigen Herzen seiner Tochter verwelkt war, als Asche auf ihn niederregnete.

Er dachte an sie, wie sie gewesen war in der Nacht, als er mit seiner jungen Frau nach Hause zurückkam. Er dachte an sie, wie sie gewesen während aller der verschiedenen Ereignisse in dem verlassenen Hause. Er dachte jetzt, daß von allem um ihn her sie allein sich nie verändert hatte. Sein Sohn war zum Staub zurückgekehrt, sein stolzes Weib zu einem erbärmlichen Geschöpf geworden; sein Schmeichler und Freund hatte sich in den schlechtesten aller Schurken umgewandelt, sein Reichtum war dahin und sogar die Wände, die ihn schirmten, sahen ihn nur wie einen Fremden an. Sie allein wandte ihm stets den gleichen sanften, milden Blick zu. Ja, bis auf den letzten Augenblick. Sie hatte sich nie gegen ihn – er sich nie gegen sie verändert – und sie war für ihn verloren.

Und der Reihe nach schwanden sie hin vor seinem geistigen Blicke – die Hoffnungen, die er auf seinen Knaben gesetzt, sein Weib, sein Freund, seine Habe – sie schwanden hin wie der Nebel, der ihm das Bild seiner Tochter getrübt hatte, und nachdem derselbe weg war, sah er sie in ihrer wahren Gestalt. O wieviel besser wäre es gewesen, er hätte sie geliebt, wie er seinen Knaben liebte, und sie verloren, wie seinen Knaben – beide zusammen in einem frühen Grabe!

In seinem Stolze – denn er war noch immer stolz – kümmerte er sich nicht darum, daß die Welt sich von ihm zurückzog. Wie sie dies tat, schüttelte auch er sie ab. Mochte er sich dieselbe als mitleidsvoll oder gleichgültig gegen ihn denken, sie war ihm in gleicher Weise zuwider, und er wollte sie so wie so meiden. Er hatte keine Vorstellung von irgendeinem Gefährten in seinem Elend, aber die einzige, die bei ihm ausgehalten haben würde, war von ihm vertrieben worden. Was er zu ihr gesagt oder welchen Trost er von ihr empfangen haben würde, dies vergegenwärtigte er sich nie, obschon er stets in seinem Innern fühlte, daß sie ihm treu geblieben wäre in seinem Leiden. Er wußte, sie würde ihn jetzt mehr geliebt haben, als zu irgendeiner andern Zeit, war so fest davon überzeugt, wie von dem Vorhandensein eines Himmels über ihm, und schleppte sich unter solchen Gedanken durch die Einsamkeit seiner Stunden. Tag um Tag hallte die nämliche Stimme in seinen Ohren, Nacht um Nacht trat ihm dasselbe Bewußtsein vor die Seele.

Es begann ohne Zweifel – wie langsam es auch eine Zeitlang fortschreiten mochte – mit dem Empfang des Briefes von ihrem jungen Gatten und mit der Gewißheit, daß sie fort war. Und doch war er so stolz in seinem Untergang, fühlte er so sehr, es sei etwas, das ihm hätte gehören können, unwiederbringlich verloren, daß er nicht zu ihr hinausgegangen sein würde, selbst wenn er in dem anstoßenden Gemach ihre Stimme gehört hätte. Wäre er ihr auf der Straße begegnet und hätte sie auch nur nach ihm hingeblickt, wie sie sonst zu tun pflegte, so würde er mit dem alten, kalten, unversöhnlichen Gesicht an ihr vorbeigegangen sein, ohne sie anzureden, selbst wenn bald darauf sein Herz gebrochen wäre. Mit welcher Bitterkeit, mit welchem herben Ingrimm er auch anfänglich an ihre Heirat und an ihren Gatten gedacht hatte, war doch jetzt alles vorbei. Er vergegenwärtigte sich hauptsächlich, was hätte geschehen können und was nicht geschehen war. In dem Sein ging alles übrige auf. Sie war ihm verloren, und er beugte sich voll Schmerz und Gewissensbissen.

Er fühlte jetzt, daß ihm zwei Kinder in diesem Haus geboren worden waren und daß zwischen ihm und den kahlen, leeren Wänden ein Band lag, ein schmerzliches zwar, aber doch auch ein schwer zerreißbares, das ihn an eine doppelte Kindheit, an einen doppelten Verlust fesselte. An dem Abend des Tages, an dem dieses Gefühl zum erstenmal in seiner Brust Wurzel gefaßt, hatte er daran gedacht, das Haus zu verlassen, obschon er nicht wußte, wohin; er beschloß jedoch, noch eine Nacht zu bleiben und im Lauf derselben zum letztenmal die Gemächer zu durchwandeln.

Gegen Mitternacht verließ er seine Einsamkeit und ging, ein Licht in der Hand, leise die Treppen hinan. Unter allen den Füßen, die hier ihre Abdrücke zurückgelassen und die Treppe so gemein gemacht hatten, wie die gewöhnliche Straße, war nicht einer, der zu der Zeit, als er in seiner Abgeschlossenheit auf ihren Schall lauschte, nicht den Eindruck auf ihn geübt hätte, als zertrete er ihm das Gehirn. Er sah die zahlreichen Spuren, erkannte daraus die Hast und das Vorwärtsdrängen – ein Fuß hatte das Abzeichen des andern ausgetreten, und so ging’s gegeneinander anprallend aufwärts und abwärts. Mit einer eigentlichen Furcht machte er sich Gedanken, wieviel er während jener Zeit der Prüfung gelitten haben mußte, und welche Gründe für ihn vorhanden waren, ein anderer Mann zu werden. Außerdem vergegenwärtigte er sich, ob es nicht irgendwo in der Welt einen leichten Fußtritt gebe, der in einem Nu die Hälfte dieser Abzeichen auszutilgen vermöchte! Mit gebeugtem Haupte ging er weiter, und Tränen rannen über seine Wangen nieder.

Er sah jenen fast vor sich hergleiten, hielt inne und schaute nach dem Hochlichtfenster hinauf. Eine Gestalt, selbst noch Kind, aber noch ein Kind auf dem Arme tragend und vor sich hinsingend, schien wieder dort zu sein. Ja, es war dieselbe Gestalt, einsam und für einen Moment mit verhaltenem Atem stehen bleibend. Das schöne Haar wallte lose um ein tränenvolles Antlitz her, das nach ihm zurückschaute.

Er wandelte durch die Gemächer, die sonst so üppig gewesen waren, jetzt aber so kahl und unheimlich, ja selbst in Gestalt und Größe so verändert aussahen. Die Fußspuren häuften sich dort, und der Rückblick auf die Leiden, die sie ihm bereitet hatten, verwirrte und schreckte ihn. Er begann zu fürchten, die wilden Vorstellungen seines Gehirns könnten ihn wahnsinnig machen und seine Gedanken hätten bereits ihren Zusammenhang verloren, um wie die Fußstapfen in nicht mehr erkennbarer Verwicklung ineinander zu laufen und Abwechselungen unbestimmter Formen zu bilden.

Er wußte nicht einmal, in welchem von diesen Zimmern sie gewohnt hatte, als sie allein war, und ging deshalb gern weiter, um höher hinauf zu wandern. Hier bot sich ihm eine Menge von Anhaltspunkten dar, die ihn an sein falsches Weib, an seinen treulosen Freund und Diener, an die falschen Grundlagen seines Stolzes erinnerten; aber er schob sie insgesamt beiseite und gedachte in seinem Elend nur seiner beiden Kinder.

Überall die Fußstapfen! Sie hatten keine Achtung gehabt vor dem alten Stübchen hoch oben, wo das kleine Bett gestanden, und der arme Mann konnte dort kaum einen Raum finden, um an der Wand auf den Boden niederzuknien und seinen Tränen freien Lauf zu lassen. Er hatte vor langer Zeit hier so viele Tränen vergossen, daß er sich an diesem Platze weniger als an irgendeinem andern seiner Schwäche schämte, und vielleicht war es dieses Bewußtsein, das ihm für sein Herkommen als Entschuldigung dienen mußte. Mit gebeugten Schultern und auf die Brust gesenktem Kinne war er eingetreten, und jetzt lag er in Mitte der Nacht da, auf den kahlen Brettern, einsam und bis zu Tränen ergriffen, obschon auch jetzt noch ein stolzer Mann, der, wenn eine freundliche Hand sich nach ihm ausgestreckt oder ein liebevolles Gesicht auf ihn niedergesehen hätte, sich schnell erhoben haben würde, um fort und wieder in seine Zelle hinunterzugehen.

Mit Anbruch des Tages war er wieder in seinen Zimmern eingeschlossen. Er hatte heute ausziehen wollen, hielt aber an diesem Bande im Hause, als an dem letzten und einzigen, das ihm geblieben war, fest. Er wollte morgen gehen. Der Morgen kam. Er verschob es wieder auf den andern Tag. Ohne von irgendeinem menschlichen Wesen beobachtet zu werden, verließ er jeden Abend seine freiwillige Haft und wanderte wie ein Gespenst durch das verheerte Haus. An manchem aufdämmernden Morgen brütete sein verändertes Gesicht hinter den geschlossenen Fensterblenden, niedergebeugt und nur von unvollkommenem Licht erhellt, über den Verlust seiner beiden Kinder. Nicht einmal ein einziges mehr! Er vereinigte sie wieder in seinen Gedanken und sie wollten sich nie trennen lassen. O, hätte auch er sie einigen können in seiner früheren Liebe und im Sterben, denn der eine Verlust war viel schlimmer, als durch den Tod!

Heftige geistige Aufregung und Verstörtheit war ihm auch vor seinem letzten Leiden nichts Neues gewesen. Bei störrischen, finsteren Charakteren ist dies etwas Gewöhnliches, denn es kostet sie Anstrengung, solche Eigenschaften zu behaupten. Doch ein lang untergrabener Boden stürzt oft plötzlich zusammen, wenn auch der Zahn der Zerstörung nur so langsame allmähliche Fortschritte gemacht hat, wie der Weiser auf seiner Uhr.

Endlich begann er zu denken, daß er gar nicht zu gehen brauche. Er konnte auf das verzichten, was ihm seine Gläubiger noch gelassen hatten (daß sie ihn nicht mehr schonten, war seine eigene Schuld gewesen), und um das Band zwischen ihm und dem verfallenen Hause zu trennen, hatte er nur nötig, jenes andere Glied zu lösen – –

Damals hörte man seinen Fußtritt in dem Zimmer der früheren Haushälterin – freilich nicht in seiner wahren Bedeutung, da er sonst einen erschreckenden Ton gehabt haben würde.

Die Welt war wegen seiner sehr geschäftig und unruhig. Dies trat ihm wieder ins Bewußtsein. Sie flüsterte, plauderte und konnte keinen Augenblick aufhören. Dies und die Verwicklung der Fußtritte quälte ihn auf den Tod. Alles zeigte sich ihm jetzt in düsteren, schwarzen Farben. Dombey und Sohn waren nicht mehr – seine Kinder waren nicht mehr – dies mußte er morgen ernstlich in Erwägung ziehen.

Er zog es in Erwägung. In seinem Stuhle sitzend, sah er von Zeit zu Zeit in den Spiegel und erblickte folgendes Bild: eine gespenstische, hagere, abgezehrte Gestalt, der seinen ähnlich, die über dem leeren Feuerplatze brütete. Jetzt erhob sie den Kopf, um die Linien und Furchen in seinem Gesichte zu betrachten, jetzt senkte sie ihn wieder, um aufs neue zu brüten. Dann stand sie auf und ging umher, begab sich in das anstoßende Zimmer hinaus und kam mit etwas zurück, das sie vom Ankleidetische weggenommen und in ihre Brust gesteckt hatte. Dann sah sie nach dem Boden an der Tür hin und dachte.

Stille! Was?

Sie dachte, wenn Blut in diese Richtung rieselte und sich hinauslecken sollte nach der Halle, so brauche es wohl lange Zeit, um so weit zu kommen. Es mußte sich so verstohlen und langsam bewegen, da eine kleine Lache bilden, dort wieder weiter rinnen und dann sich wieder zu einer kleinen Lache sammeln, so daß durch seine Vermittlung ein schwer verwundeter Mensch nur tot oder sterbend aufgefunden werden konnte. Nachdem sie dies eine Weile erwogen hatte, stand sie auf und ging, die Hand in die Brust gesteckt, wieder hin und her. Sie blickte gelegentlich danach hin, um ihre Bewegungen zu beobachten, und bemerkte, wie wild und mordgierig jene Hand aussah.

Sie dachte wieder! Was dachte sie?

Ob die Leute wohl in das Blut, wenn es so weit gekrochen war, treten und es unter den vielen Fußspuren im Hause umher oder vielleicht gar in die Straße hinaustragen würden.

Sie setzte sich wieder, heftete die Augen auf den leeren Kamin, und während sie sich aufs neue in ein Brüten verlor, schoß ein Lichtstrahl ins Zimmer – ein Strahl der Sonne. Sie achtete nicht darauf und blieb gedankenvoll sitzen. Plötzlich erhob sie sich mit einem schrecklichen Gesicht, und die verbrecherische Hand griff nach dem, was in der Brust stak. Dann wurde ihr durch einen Schrei Einhalt getan – durch einen wilden, lauten, durchbohrenden, liebevollen, entzückten Schrei – er sah nur im Spiegel sein eigenes Abbild und die Knie desselben umfaßt von dem seiner Tochter.

Ja, seine Tochter! Sie ist da! Auf dem Boden liegend hat sie seine Knie umschlungen, faltet bittend die Hände und ruft ihm zu:

»Papa – teuerster Papa! Verzeiht mir! Ich bin zurückgekommen, um auf meinen Knien mir Eure Vergebung zu erflehen. Ich kann nicht mehr glücklich sein, wenn Ihr mir nicht verzeiht!«

Noch immer unverändert. Von der ganzen Welt nur sie unverändert. Dasselbe Gesicht zu ihm erhebend, wie in jener unglücklichen Nacht, und um seine Vergebung bittend.

»O teurer Papa, seht mich nicht so schrecklich an! Ich wollte Euch nicht verlassen, dachte nie daran, weder vorher noch nachher. Als ich wegging, war ich so erschrocken, daß ich nicht denken konnte. Lieber Papa, ich bin anders geworden. Reuig kehre ich zurück. Ich weiß, wie schwer ich gefehlt habe, und kenne jetzt meine Pflicht besser. Papa verstoßt mich nicht, oder ich sterbe.«

Er wankte nach seinem Stuhle, fühlte, wie sie seine Arme um ihren Nacken schlang und wie sie die ihrigen um den seinigen legte, empfand auf seinem Gesicht die Glut ihrer Küsse und das Feucht ihrer Wange, die sich an die seinige schmiegte – o, wie tief fühlte er nicht dabei alles, was er getan hatte.

Auf die Brust, die er mit seiner Faust mißhandelte, gegen das Herz, das er fast gebrochen hatte, legte sie sein Gesicht, das er mit den Händen bedeckt hielt, und sagte schluchzend:

»Teurer Papa, ich bin Mutter. Ich habe ein Kind, das Walter bald mit dem Namen nennen wird, den ich Euch jetzt zurufe. Erst nach seiner Geburt und als ich wußte, wie sehr ich es liebte, wurde mir klar, was ich getan hatte, als ich Euch verließ. Verzeiht mir, lieber Papa! O! sprecht Euren Segen über mich und mein kleines Kind!«

Er würde ihn gesprochen haben, wenn er dazu fähig gewesen wäre. Er wollte seine Hände erheben und sie um Verzeihung bitten, aber sie faßte dieselben mit den ihrigen und drückte sie hastig nieder.

»Mein Kind wurde auf dem Meere geboren, Papa. Ich betete zu Gott (und auch Walter betete mit), er möchte mich verschonen und wieder nach der Heimat zurückkommen lassen. Sobald ich ans Land getreten war, eilte ich zu Euch zurück. Wir wollen uns nie wieder trennen, Papa, wir wollen uns nie mehr trennen!«

Sein jetzt graues Haupt war von ihrem Arm umschlungen, und er stöhnte bei dem Gedanken, daß es nie, nie zuvor eine solche Ruhe gefunden hatte.

»Ihr kommt jetzt mit mir, Papa, und seht nach meinem Knaben. Sein Name ist Paul, Papa. Ich glaube – ich hoffe – er gleicht –« Sie konnte vor Tränen nicht weiter reden.

»Lieber Papa, um meines Kindes willen, um des Namens willen, den wir ihm gegeben haben, um meinetwillen bitte ich Euch, daß Ihr Walter verzeihet. Er ist so gut und liebevoll gegen mich. Ich bin so glücklich mit ihm. Er trägt keine Schuld an unserer Verheiratung – sie trifft nur mich, weil ich ihn so sehr liebte.«

Sie klammerte sich fester, inniger und liebevoller an ihn an.

»Er ist das Kleinod meines Herzens, Papa, und ich würde für ihn in den Tod gehen. Er wird Euch lieben und ehren, wie ich es tun will. Er wird unser kleines Kindchen lehren, daß es Euch liebe und ehre, und wir wollen ihm, wenn es so viel verstehen kann, sagen, daß Ihr einmal einen Sohn des gleichen Namens hattet, daß er starb und daß Ihr sehr betrübt waret; aber er sei in den Himmel gegangen, wo wir alle ihn wieder zu sehen hoffen, wenn für uns die Zeit der Ruhe kommt. Gebt mir einen Kuß, Papa, als Zusage, daß Ihr mit Walter versöhnt sein wollet – mit meinem teuren Gatten – mit dem Vater des Kindes, das mich zu Euch zurückkommen lehrte, Papa.«

Mit einem abermaligen Tränenausbruch umschlang sie ihn aufs neue, während er sie auf die Lippen küßte, die Augen gen Himmel erhob und die Worte sprach:

»O mein Gott, vergib mir, denn ich bin dessen sehr bedürftig!«

Dann senkte er das Haupt wieder und streichelte ihr Gesicht im Gefühl schmerzlicher Reue. Lange, lange Zeit ließ sich kein Laut durch das ganze Haus vernehmen. Sie hielten sich gegenseitig mit den Armen umschlungen, und noch immer fiel der glorreiche Sonnenschein auf sie nieder, der mit Florence hereingeschlichen war.

Ihrer Bitte sich bereitwillig unterwerfend, kleidete er sich zum Ausgehen an. Schwankenden Schritts und zitternd nach dem Zimmer zurückschauend, wo er so lang eingeschlossen gewesen, und wo er das Bild im Spiegel gesehen hatte, folgte er ihr in die Halle hinaus. Florence schaute sich kaum um, damit sie ihn nicht aufs neue an ihren letzten Abschied erinnere (denn sie stand auf den Steinen, wo er sie in seinem Wahnsinn niedergeschlagen hatte), hielt sich dicht an ihn, ohne ihre Blicke von seinem Antlitz zu verwenden, und führte ihn, während er sich an ihr festhielt, nach der Kutsche hinaus, die vor der Tür wartete und ihn aufnahm.

Dann kamen Miß Tox und Polly in tränenvollem Jubel aus ihrem Versteck hervor, packten seine Kleider, Bücher usw. mit großer Sorgfalt ein und überantworteten sie im Laufe des Tags an gewisse Personen, die von Florence beauftragt worden waren, diese Gegenstände abzuholen. Abends nahmen sie in dem einsamen Hause die letzte Tasse Tee ein.

»Und so ist Dombey und Sohn, wie ich bei einer gewissen traurigen Gelegenheit bemerkte«, sagte Miß Tox am Schlüsse einer Menge von Erinnerungen, »am Ende doch eine Tochter, Polly.«

»Und dazu eine recht gute!« rief Polly.

»Ihr habt recht«, sagte Miß Tox. »Und es macht Euch Ehre, Polly, daß Ihr stets als Freundin zu ihr hieltet, als sie noch ein kleines Kind war. Ihr seid ein gutes Geschöpf, Polly«, fügte sie bei, »und waret lange vor mir ihre Freundin. Robin!«

Diese letztere Anrede galt einem rundköpfigen jungen Menschen, dem Anscheine nach in sehr bedrängten Verhältnissen, der betrübt in einer Ecke saß. Als derselbe aufstand, ließ sich die Gestalt und das Gesicht des Schleifers erkennen.

»Robin«, sagte Miß Tox, »wie Ihr gehört haben werdet, habe ich soeben Eurer Mutter gesagt, daß sie ein gutes Geschöpf sei.«

»Dies ist sie auch, Miß«, versetzte der Schleifer mit einigem Gefühl.

»Gut, Robin«, sagte Miß Tox. »Es freut mich. Euch so reden zu hören. Da ich auf Euer dringliches Ersuchen eine Probe mit Euch machen und Euch in der Absicht, Eure Achtbarkeit wieder herzustellen, als Dienstboten in mein Haus aufnehmen will, so benutze ich diese eindrucksreiche Gelegenheit, um Euch zu erklären, daß ich hoffe, Ihr werdet nie vergessen, welche gute Mutter Ihr habt und stets gehabt habt. Ich setze von Euch voraus, Ihr werdet Euch Mühe geben, Euch stets so aufzuführen, daß sie Freude an Euch erlebe.«

»Bei meiner Seele, das will ich«, entgegnete der Schleifer. »Ich habe viel durchgemacht, und meine Entschlüsse sind nun so geradaus, wie die eines jungen Bursch –«

»Ich muß mir hier erlauben. Euch zu unterbrechen, Robin«, fiel ihm Miß Tox höflich ins Wort.

»Wenn Ihr lieber so wollt, wie die eines jungen Menschen –«

»Danke, Robin, nein«, erwiderte Miß Tox. »Ich würde Individuum vorziehen.«

»Wie die eines Entenvittum –« sagte der Schleifer.

»Viel besser«, bemerkte Miß Tox wohlgefällig. »Unendlich ausdrucksvoller.«

»– nur sein können«, fuhr Rob fort. »Hätte man nicht einen Schleifer aus mir gemacht, Miß und Mutter, denn dies war ein sehr unglücklicher Umstand für einen jungen Bu – Entenvittum.«

»In der Tat sehr gut«, bemerkte Miß Tox beifällig.

»– und wäre ich nicht durch die Vögel verlockt worden und dann in einen schlimmen Dienst gekommen«, sagte der Schleifer, »so würde es hoffentlich besser mit mir ausgefallen sein. Aber es ist nie zu spät für ein –«

»Indi –« deutete Miß Tox an.

»Vittum«, sagte der Schleifer, »sich zu bessern, und ich hoffe, Miß, ich werde es können, wenn Ihr den freundlichen Versuch mit mir macht. Sagt es auch dem Vater, den Brüdern und den Schwestern, Mutter, und bringt ihnen herzliche Grüße von mir.«

»Es freut mich sehr, Euch so sprechen zu hören«, bemerkte Miß Tox. »Wollt Ihr ein wenig Butterbrot und eine Tasse Tee genießen, Robin, ehe wir gehen?«

»Danke, Miß«, entgegnete der Schleifer, der augenblicklich seine Zähne auf höchst merkwürdige Weise in Tätigkeit zu setzen begann, als sei er beträchtlich lange auf gar kurze Rationen beschränkt gewesen. Nachdem endlich Miß Tox und Polly ihre Hüte und Halstücher angelegt hatten, umarmte Rob seine Mutter und folgte seiner neuen Gebieterin – so sehr zur hoffnungsvollen Bewunderung Pollys, daß, als sie ihm nachsah, etwas in ihren Augen glänzende Ringe um die Gaslampen her erscheinen ließ. Mrs. Richards löschte sodann ihr Licht, schloß die Haustür, übergab den Schlüssel einem in der Nachbarschaft wohnenden Agenten und ging, so schnell sie konnte, im Vorgenusse des Entzückens, das ihre unerwartete Ankunft verbreiten würde, nach Hause. Das große Gebäude, so taub gegen alle Leiden und Wechsel, deren Zeuge es gewesen, stand finster wie ein stummer Leichenbegleiter in der Straße, jede nähere Nachfrage mit der unverantwortlichen Ankündigung täuschend, daß dieser angenehme Familiensitz zu vermieten sei.

Sechzigstes Kapitel.


Sechzigstes Kapitel.

Handelt hauptsächlich von Hochzeiten.

Das große halbjährliche Fest des Doktors und der Mrs. Blimber, bei welcher Gelegenheit jeder junge Gentleman, der in jenem gentilen Institut seinen Studien oblag, um die Ehre seiner Teilnahme an einer auf halb acht Uhr anberaumten Quadrillen-Partie gebeten wurde, hatte getreulich um die besagte Zeit stattgefunden, und die jungen Gentlemen waren mit nicht unanständigen Kundgebungen von Leichtherzigkeit und in einem Zustande scholastischer Erschöpfung in ihre Heimat zurückgekehrt. Mr. Skettles war ins Ausland gegangen und verdankte zur bleibenden Zierde der Familie des Sir Barnet Skettles den populären Manieren seines Vaters eine diplomatische Anstellung, deren Ehren zur großen Verwunderung und Zufriedenheit ihrer Landsleute besagter Vater und Lady Skettles selbst zu vergeben hatten. Mr. Tozer, jetzt ein junger Mann von hoher Statur in Wellington-Stiefeln, war so vollgepfropft von Altertum, daß er sich in Kenntnis des Englischen nahezu mit einem alten echten Römer messen könnte – ein Triumph, der seine guten Eltern mit der innigsten Rührung erfüllte, und dem Vater und der Mutter des Mr. Briggs, dessen Gelehrsamkeit gleich schlecht geordnetem Gepäck so fest eingestallt war, daß er nie daran kommen konnte, wenn er etwas davon brauchte, Anlaß gab, beschämt ihre Häupter zu verbergen. Die Frucht, die der letztere junge Gentleman so mühsam von dem Baume des Wissens eingeheimst hatte, war so künstlich getrieben worden, daß sie mit einer intellektuellen Norfolker Ananas verglichen werden konnte, der nichts von der ursprünglichen Gestalt und Feinheit geblieben war. Master Bitherstone, auf den das Zwangssystem die nicht ungewöhnliche bessere Wirkung geübt hatte, daß nach Aufhören der Tätigkeit des Nötigungsapparats auch alle Eindrücke verschwanden, fühlte sich weit behaglicher und vergaß, da er sich zu einer Fahrt nach Bengalen an Schiffsbord begeben hatte, alles mit so bewunderungswürdiger Schnelligkeit, daß es wohl zweifelhaft erschien, ob die Deklination der Substantive bei ihm bis zum Ende der Reife aushalten würde.

Statt wie gewöhnlich am Morgen der Partie für die jungen Gentlemen zu bemerken: »Gentlemen, wir wollen am fünfundzwanzigsten des nächsten Monats unsere Studien wieder aufnehmen«, ging Doktor Blimber diesmal von der herkömmlichen Weise ab und sagte: »Gentlemen, als unser Freund Cincinnatus sich nach seinem Landgut zurückzog, stellte er dem Senat keinen Römer vor, den er sich zum Nachfolger gewünscht hätte. Aber hier ist ein Römer!« sagte Doktor Blimber, die Hand auf die Schulter des Mr. Feeder B. A. legend, »adolescens inprimis gravis et doctus, Gentlemen, den ich, ein abtretender Cincinnatus, meinem kleinen Senat als seinen künftigen Diktator vorzustellen wünsche. Gentlemen, wir wollen am fünfundzwanzigsten des nächsten Monats unter den Auspizien des Mr. Feeder B.A. unsere Studien wieder aufnehmen!« Hierauf antworteten die jungen Gentlemen (Doktor Blimber hatte sich nämlich zuvor schon mit sämtlichen Eltern beraten und ihnen höfliche Erklärungen gegeben) mit einem lauten Hurra, und Mr. Tozer überreichte dem Doktor sogleich im Namen der übrigen ein silbernes Tintenfaß, indem er dazu eine Rede vortrug, die nur sehr wenig von der Muttersprache, wohl aber fünfzehn Zitate aus dem Lateinischen und sieben aus dem Griechischen enthielt. Die jüngeren Gentlemen waren damit sehr unzufrieden und neidisch, denn sie meinten, o, o, es sei alles recht gut für den alten Tozer, aber sie seien der Ansicht, daß sie nicht deshalb Geld unterzeichnet hätten, um dem alten Tozer Gelegenheit zu geben, sich breitzumachen. Was ging es den alten Tozer mehr an, als jeden andern? Es war ja nicht sein Tintenfaß. Warum mußte er sich überhaupt mit dem Eigentum anderer befassen?

In dieser und ähnlicher Weise äußerten sie ihr Mißvergnügen und schienen in nichts einen größeren Trost zu finden, als darin, daß sie ihn den alten Tozer nannten.

Den jungen Gentlemen gegenüber fiel kein Wort, kein Wink oder irgend etwas, das auf eine beabsichtigte Verehelichung zwischen Mr. Feeder B. A. und der schönen Cornelia Blimber hingedeutet hätte. Namentlich gab sich Doktor Blimber den Anschein, wie wenn ihn nichts mehr als eine solche Kunde überraschen könnte. Gleichwohl war die Tatsache unter den jungen Gentlemen so wohl bekannt, daß sie, als sie zu ihren Verwandten und Freunden zurückkehrten, mit einer heiligen Scheu sich von Mr. Feeder verabschiedeten.

Die romantischsten Träume des Mr. Feeder waren erfüllt. Der Doktor hatte beschlossen, das Haus von außen anstreichen und im Innern vollständig ausbessern zu lassen; auch wollte er das Geschäft und Cornelia abgeben. Der Anstrich und die Ausbesserungen begannen an demselben Tage, an dem die jungen Gentlemen abgereist waren, und siehe jetzt – der Hochzeitmorgen war gekommen, und Cornelia sah in einer neuen Brille dem Augenblick entgegen, der sie an Hymens Altar führen sollte.

Der Doktor mit seinen gelehrten Beinen, Mrs. Blimber in einem Lila-Hut, Mr. Feeder B.A. mit seinen langen Knöcheln und seinem kurzgeschorenen Haarschopf, und Mr. Feeders Bruder, der ehrwürdige Alfred Feeder M.A., der die Trauungsfeierlichkeit vollziehen sollte, hatten sich im Salon versammelt, und Cornelia, die unter ihrem Orangeblütenschmuck und den Brautjungfern wie sonst auch aussah, ein bißchen zerdrückt, aber doch sehr bezaubernd, war eben eingetreten, als die Tür aufging und der blödsichtige junge Mann mit lauter Stimme die Ankündigung ausrief:

»Mr. und Mrs. Toots!«

Mr. Toots, der außerordentlich kräftig geworden war, trat jetzt ein; er hatte eine sehr hübsche und anständig gekleidete Dame mit glänzenden schwarzen Augen am Arm.

»Mrs. Blimber«, sagte Mr. Toots, »erlaubt mir, Euch meine Gattin vorzustellen.«

Mrs. Blimber war entzückt, sie kennenzulernen; sie benahm sich zwar ein wenig herablassend, aber doch sehr freundlich.

»Und da Ihr mich schon seit so langer Zeit kennt«, sagte Mr. Toots, »so muß ich Euch versichern, daß sie eines der herrlichsten Frauenzimmer ist, die je gelebt haben!«

»Mein Lieber!« stellte Mrs. Toots vor.

»Bei meinem Ehrenwort, es ist so«, sagte Mr. Toots. »Ich – ich versichere Euch, Mrs. Blimber, sie ist eine ganz außerordentliche Frau!«

Mrs. Toots lachte heiter, und Mrs. Blimber führte sie zu Cornelia. Nachdem Mr. Toots auch in dieser Richtung sein Kompliment gemacht und seinen alten Lehrer begrüßt hatte, der mit Anspielung auf seinen ehelichen Stand zu ihm sagte: »Schön, Toots, schön! Ihr seid also auch einer von den Unsrigen!« zog er sich mit Mr. Feeder B.A. in ein Fenster zurück. Mr. Feeder B.A., der sehr aufgeräumt war, machte gegen Mr. Toots eine Boxer-Schwenkung und klopfte ihn geschickt mit dem Rücken seiner Hand auf das Brustbein.

»He, alter Knabe!« sagte Mr. Feeder lachend. »Gut! da sind wir jetzt! Ein- und abgetan, he?«

»Feeder«, versetzte Mr. Toots, »ich wünsche Euch Glück. Wenn Ihr so – so – vollkommen glücklich seid im ehelichen Leben, wie ich, so bleibt Euch nichts zu wünschen übrig.«

»Ihr seht, ich vergesse meine alten Freunde nicht«, sagte Feeder. »Ich bitte sie zu meiner Hochzeit.«

»Feeder«, entgegnete Mr. Toots ernst, »die Sache verhält sich so, daß verschiedene Umstände mich hinderten, vor Vollziehung des Ehebundes Euch eine Mitteilung zu machen. Erstlich hatte ich mich vor Euch wegen Miß Dombey wie ein wahrer Esel benommen, und ich fühlte, wenn ich Euch zu meiner Hochzeit bäte, so würdet Ihr natürlich erwarten, daß ich mit Miß Dombey an den Altar träte. Die« hätte Erklärungen nötig gemacht, die mich auf Ehre bei einer solchen Wendung völlig niedergeschlagen haben würden. Zweitens fand unsere Trauung ganz im geheimen statt, und es war niemand dabei anwesend, als ein einziger Freund von mir und Mrs. Toots, der ein Kapitän ist bei – ich weiß nicht mehr genau, bei was«, sagte Mr. Toots, »aber es ist von keinem Belang. Ich hoffe, Feeder, daß ich die Pflichten der Freundschaft vollkommen erfüllt habe, indem ich Euch schriftlich mitteilte, was geschehen ist, ehe Mrs. Toots und ich unsere Hochzeitsreise ins Ausland antraten.«

»Toots, mein Junge«, versetzte Mr. Feeder, ihm die Hand drückend, »es war nur ein Scherz von mir.«

»Und nun möchte ich wohl gern wissen, Feeder«, sagte Mr. Toots, »was Ihr von meiner Verbindung haltet?«

»Sie scheint mir vortrefflich zu sein!« sagte Mr. Feeder.

»Kommt sie Euch so vor, Feeder?« erwiderte Mr. Toots feierlich. »Wie vortrefflich muß sie dann nicht für mich sein! Denn Ihr könnt nie wissen, welch eine außerordentliche Frau sie ist!«

Mr. Feeder war geneigt, dies für eine ausgemachte Sache anzusehen, aber Mr. Toots schüttelte den Kopf und wollte nicht an eine solche Möglichkeit glauben.

»Ihr seht«, sagte Mr. Toots, »was ich bei einem Weibe brauchte, war – mit einem Wort, war Verstand. Geld hatte ich, Feeder. Verstand hatte ich – hatte ich nicht besonders viel.«

»O ja. Ihr hattet´s wohl, Toots«, murmelte Mr. Feeder, aber Mr. Toots entgegnete:

»Nein, Feeder, ich hatte nicht. Warum sollte ich es bemänteln? Ich hatte nicht. Ich wußte, daß Verstand da war«, fügte er hinzu, die Hand nach seiner Gattin ausstreckend, »eigentlich in Haufen. Verwandte sind keine vorhanden, die an der Stellung einen Anstoß hätten nehmen können, denn ich stehe allein. Ich hatte nie einen Angehörigen als meinen Vormund, und diesen, Feeder, habe ich stets für einen Piraten und Korsaren gehalten. Ihr seht daher ein, daß es mir nicht darum zu tun sein konnte, seine Ansicht einzuholen.«

»Nein«, pflichtete Mr. Feeder bei.

»Demgemäß handelte ich ganz für mich«, nahm Mr. Toots wieder auf. »Gesegnet sei der Tag, an dem ich es tat. Feeder, niemand als ich kann sagen, welch einen Geist ich in dieser Frau gewonnen habe. Wenn je die Rechte der Frauen, und was dergleichen mehr ist, gehörig ins Licht gestellt werden sollen, so wird es durch ihren gewaltigen Verstand geschehen. – Susanna, meine Liebe!« sagte Mr. Toots, plötzlich zwischen den Fenstervorhängen hervorsehend, »ich bitte, strenge dich nicht zu sehr an!«

»Ich plaudere bloß«, versetzte Mrs. Toots.

»Laß dir raten, meine Liebe«, entgegnete Mr. Toots. »Du mußt in der Tat vorsichtig sein und dich ja nicht zu sehr anstrengen, meine teure Susanne. Sie ist so leicht aufzuregen«, sagte er beiseite zu Mrs. Blimber, »und dann denkt sie gar nicht mehr an ärztliche Vorschriften.«

Mrs. Blimber legte noch Mrs. Toots die Notwendigkeit der Vorsicht ans Herz, als Mr. Feeder B. A. herankam, um ihr seinen Arm zu bieten und sie nach dem Wagen zu führen, der für den Kirchgang unten wartete. Doktor Blimber geleitete Mrs. Toots, und Mr. Toots führte die schöne Braut, um deren funkelnde Brillen zwei prächtig herausgeputzte kleine Brautjungfern wie Motten herumflatterten. Mr. Feeders Bruder, Mr. Alfred M. A., war bereits vorausgegangen, um sich auf seine amtlichen Verrichtungen vorzubereiten.

Die Feierlichkeit verlief in bewunderungswürdiger Weise. Cornelia mit ihren krausen kleinen Locken »ging ein« – wie der Preishahn sich ausgedrückt haben würde – in großer Fassung, und Doktor Blimber vergab sie wie ein Mann, der eine solche Handlung gehörig erwogen hatte. Die prächtig herausgeputzten kleinen Brautjungfern schienen am meisten zu leiden. Mrs. Blimber gab sich einer sanften Rührung hin und erklärte dem ehrwürdigen Mr. Alfred Feeder M. A. auf dem Heimweg, wenn sie Cicero in seiner Abgeschiedenheit zu Tusculum hätte sehen können, so wären jetzt alle ihre Wünsche erfüllt.

Es gab dann ein Frühstück, das auf dieselbe kleine Gesellschaft beschränkt blieb. Mr. Feeder B. A. entwickelte dabei ungeheure Heiterkeit, die sich auch Mrs. Toots mitteilte, so daß man Mr. Toots mehrere Male über den Tisch hinüber bemerken hörte: »Meine teure Susanna, strenge dich ja nicht zu sehr an!« Das Beste aber war, daß Mr. Toots es für seine Pflicht hielt, eine Rede zu halten – sein erstes Auftreten im Leben, von dem ihn der ganze Kodex telegraphischer Winke, die von Mrs. Toots ausgingen, nicht abzumahnen imstande war.

»Ich muß wahrhaftig erklären«, sagte Mr. Toots, »daß ich in diesem Hause, was auch darin zu – zu geistiger Verwirrung bisweilen geschehen mochte – ’s ist von keinem Belang, und ich mache deshalb niemand einen Vorwurf – stets behandelt wurde wie einer, der zu Doktor Blimbers Familie gehört, und daß ich beträchtliche Zeit ein Pult für mich hatte. Deshalb kann – ich – nicht – zugeben – daß mein Freund Feeder – hem –«

»Verheiratet ist«, ergänzte Mrs. Toots.

»Es wird nicht unpassend oder überhaupt uninteressant sein«, sagte Mr. Toots mit entzücktem Gesicht, »bei dieser Gelegenheit zu bemerken, daß meine Frau eine ganz außerordentliche Frau ist und sich weit besser dazu eignete als ich – mein Freund Feeder verheiratet ist – namentlich mit –«

»Mit Miß Blimber«, half Mrs. Toots nach.

»Mit Mrs. Feeder, meine Liebe!« sagte Mr. Toots im gedämpften Ton des Privatgesprächs, »›welche Gott zusammengefügt hat,‹ Ihr wißt, ›damit kein Mensch‹ – wißt Ihr’s nicht? Ich kann nicht gestatten, daß mein Freund Feeder verheiratet ist, namentlich mit Mrs. Feeder, ohne ihre – ihre Gesundheit – auszubringen; und möge«, fügte er bei, wie in hohem Fluge der Begeisterung die Blicke auf seine eigene Frau heftend, »möge die Fackel Hymens der Leuchtturm der Freude sein, und mögen die Blumen, die heute auf ihren Pfad gestreut wurden, die – Vertreiber sein – von – von allem Düster!«

Doktor Blimber, der ein Freund von Metaphern war, drückte seinen Beifall in den Worten aus: »Sehr gut, Tools! in der Tat, sehr schön gesagt!« und nickte mit dem Kopf, während er zugleich in die Hände klopfte. Mr. Feeder antwortete in einer komischen Rede, in die er sentimentale Brocken mischte. Mr. Alfred Feeder M. A. fühlte sich später sehr glücklich in der Gesellschaft des Doktors und der Miß Blimber, während die stattlich herausgeputzten kleinen Jungfrauen auf Mr. Feeder B. A. einen kaum weniger günstigen Eindruck machten. Doktor Blimber gab dann mit kräftiger Stimme einige Gedanken in idyllischem Stil zum besten, indem er auf das Binsendach hindeutete, unter dem er mit Mrs. Blimber fortan zu wohnen beabsichtigte, und der Bienen erwähnte, die ihre Hütte umsummen würden. Bald nachher zeigte sich in den Augen des Doktors ein merkwürdiges Blinzeln. Sein Schwiegersohn hatte schon zuvor bemerkt, daß die Zeit nur für Sklaven vorhanden sei, und die Frage gestellt, ob Mrs. Toots singe, weshalb die verständige Mrs. Blimber die Sitzung aufhob und mit aller Ruhe und Gemächlichkeit Cornelia samt dem Mann ihres Herzens in eine Postchaise packte.

Mr. und Mrs. Toots kehrten nach Bedford zurück (Mrs. Toots hatte in alten Zeiten unter dem jungfräulichen Namen Nipper dort gewohnt) und fanden daselbst einen Brief, dessen Durchlesen Mr. Toots so ungemein lange in Anspruch nahm, daß Mrs. Toots darüber eigentlich in Schrecken geriet.

»Meine teure Susanna«, sagte Mr. Toots, »Schrecken ist schlimmer als Anstrengung. Ich bitte, beruhige dich!«

»Von wem ist er?« fragte Mrs. Toots.

»Von Kapitän Gills, meine Liebe«, sagte Mr. Toots. »Laß dich’s nicht angreifen. Walter und Miß Dombey werden in der Heimat erwartet.«

»Mein Lieber«, versetzte Mrs. Toots, die bei dieser Ankündigung erblaßte und sich hastig von dem Sofa erhob, »versuche nicht, mich zu täuschen, denn es ist doch unnütz. Sie sind nach Hause gekommen – ich lese es deutlich in deinem Gesicht.«

»Sie ist eine ganz außerordentliche Frau!« rief Mr. Toots in entzückter Bewunderung. »Du hast vollkommen recht, meine Liebe; sie sind nach Hause gekommen. Miß Dombey hat ihren Vater besucht, und sie sind versöhnt!«

»Versöhnt!« rief Mrs. Toots, die Hände zusammenschlagend.

»Ich bitte, laß dich’s nicht angreifen, meine Liebe«, sagte Mr. Toots. »Denk doch an den Arzt! Kapitän Gills sagt – nein, er sagt es nicht gerade, aber so viel ich aus dem Schreiben entnehmen kann, will er sagen, Miß Dombey habe ihren unglücklichen Vater aus dem alten Hause geholt und nach demjenigen gebracht, wo sie mit Walter lebt; er liegt dort sehr krank – vermutlich auf den Tod, und sie komme Tag und Nacht nicht von seiner Seite.«

Mrs. Toots begann bitterlich zu weinen.

»Meine teuerste Susanna«, stellte ihr Mr. Toots vor, »denke doch, wenn du anders kannst, an den Arzt! Bist du aber außerstande, – nun, ’s ist von keinem Belang – aber gib dir doch Mühe.«

Seine Gattin, die nach ihrer alten Weise schnell wieder hergestellt war, bat ihn so flehentlich, er möchte sie unverweilt zu ihrem Herzchen, zu ihrer kleinen Gebieterin, zu ihrem Liebling und dergleichen bringen, daß Mr. Toots, dessen Teilnahme und Bewunderung von der kräftigsten Art waren, bereitwillig zusagte. Sie kamen miteinander überein, unverweilt aufzubrechen und dem Kapitän die Antwort auf seinen Brief in Person zu bringen.

Die geheime Sympathie der Dinge oder der Zufall hatte den Kapitän, zu dem Mr. und Mrs. Toots eben reisten, an jenem Tage in die blumige Schleppe einer Hochzeit gebracht – allerdings nicht als Hauptperson, sondern nur als Anhängsel. Dies war folgendermaßen zugegangen.

Nachdem der Kapitän bei einem kurzen Besuch bei Florence und ihrem Knaben sich Herzstärkung geholt und geraume Zeit mit Walter geplaudert hatte, machte er einen Spaziergang, weil er die Notwendigkeit fühlte, einsam über die Wechsel in menschlichen Angelegenheiten nachzudenken und mit tiefsinniger Miene den Glanzhut über den Fall des Mr. Dombey zu schütteln, an dem er in dem Edelmut und in der Einfachheit seines Herzens lebhaften Anteil nahm. Das Unglück des armen Gentleman würde in der Tat sehr verdüsternd auf ihn gewirkt haben, wenn ihm nicht stets der Knabe vor Augen geschwebt hätte, der einen so erfreulichen Eindruck auf ihn übte, daß er, während er durch die Straße ging, oft laut lachte und in der Tat mehr als einmal in einer plötzlichen Lustanwandlung zum Erstaunen aller Zuschauer den Glanzhut in die Luft warf und ihn wieder auffing. Der schnelle Wechsel von Licht und Schatten, dem diese beiden widerstreitenden Betrachtungsgegenstände den Kapitän aussetzten, setzte seinem Geist in einer Weise zu, daß er weit gehen mußte, um wieder Fassung zu gewinnen, und da in dem Einflusse harmonischer Ideenverknüpfungen so viel liegt, so wählte er für seinen Spaziergang die alte Gegend unter den Masten, Rudern, Zimmerleuten, Zwiebackbäckern, Kohlenträgern, Teerkesseln, Matrosen, Docks, Aufzugbrücken und andern beschwichtigenden Dingen.

Diese friedlichen Schauplätze und namentlich die Gegend um die Lehmgrube her wirkten so beruhigend auf den Kapitän, daß er in stiller Heiterkeit weiterging und in der Tat eben halblaut mit dem Lied von der lieblichen Peg sich unterhielt, als er bei einer Ecke plötzlich durch einen triumphierenden Zug festgebannt und sprachlos gemacht wurde.

Die erschreckende Prozession wurde von jenem entschlossenen Weibe, der Mrs. Mac Stinger, angeführt, die in ihrem Gesicht die Unerbittlichkeit ihres Willens ausdrückte und an ihrem ehernen Busen sehr augenfällig eine ungeheure Uhr samt Anhängseln trug, die der Kapitän sogleich als Bunsbys Eigentum erkannte, unter ihrem Arm keine geringere Person führte als jenen weisen Seemann selbst. Mit der zerstreuten, melancholischen Miene eines Gefangenen, der in ein fremdes Land gebracht werden soll, ließ sich Bunsby demütig fortschleppen und ergab sich ohnmächtig in ihren Willen. Hinter ihnen kam die jubelnde Gesamtzahl der jungen Mac Stingers, und dieser folgten zwei Damen von schrecklich gesetztem Aussehen, die ebenfalls jubelnd einen kleinen Gentleman mit einem hohen Hut zwischen sich führten. Im Kielwasser folgte Bunsbys Schiffsjunge, der Sonnenschirme trug. Der ganze Zug befand sich in guter Marschordnung, und der schreckliche Aufputz, der sich an der ganzen Gesellschaft bemerklich machte, würde, wenn dies auch nicht in den unerschütterlichen Gesichtern der Damen zu lesen gewesen wäre, hinreichend an den Tag gelegt haben, daß es sich hier um eine Opferprozession handelte, und daß Bunsby das Opfer war.

Des Kapitäns erster Gedanke war, Reißaus zu nehmen, und bei Bunsby schien es der gleiche Fall zu sein, so hoffnungslos auch jeder Versuch dazu ausgefallen sein dürfte. Von der Gesellschaft ging jedoch ein Schrei des Erkennens aus, und Alexander Mac Stinger lief mit offenen Armen auf den Kapitän zu, so daß letzterer seine Flagge strich.

»Ah, Kap’tn Cuttle!« sagte Mrs. Mac Stinger. »Dies ist in der Tat eine seltene Begegnung! Ich trage Euch keinen Groll mehr nach, Kap’tn Cuttle – Ihr braucht nicht zu fürchten, daß ich Euch wieder Vorwürfe machen will. Ich hoffe, daß ich mit einem andern Geiste vor den Altar trete.« Mrs. Mac Stinger hielt jetzt inne, warf den Kopf auf, erweiterte sich die Brust mit einem langen Atemzug und fügte mit Hindeutung auf das Opfer hinzu:

»Mein Mann, Kap’tn Cuttle.«

Der unglückliche Bunsby schaute weder nach rechts noch nach links, weder auf seine Braut noch auf seinen Freund, sondern gerade vor sich hin ins Leere. Der Kapitän streckte seine Hand aus und Bunsby tat das gleiche, obschon er auf den Gruß des Kapitäns kein Wort der Erwiderung fand.

»Kap’tn Cuttle«, sagte Mrs. Mac Stinger, »falls Ihr alte Feindschaft zum Heilen bringen und Euren Freund, meinen Gatten, zum letztenmal als ledige Person sehen wollt, so werden wir uns glücklich schätzen, wenn Ihr uns nach der Kapelle begleitet. Hier ist eine Dame«, fügte sie hinzu, sich gegen die Unerschrockenste von den beiden umwendend, »meine Brautführerin, die gern Euren Schutz annehmen wird, Kap’tn Cuttle.«

Der kleine Gentleman in dem hohen Hut, der dem Anschein nach der Gatte der andern Dame war und augenscheinlich über die Versetzung eines Nebenmenschen in eine der seinigen ähnliche Lage jubelte, trat jetzt zurück und überließ die erwähnte Unerschrockene dem Kapitän. Diese faßte sogleich ihren Mann, bemerkte, daß keine Zeit zu verlieren sei, und erteilte in kräftiger Stimme die Weisung, man solle nicht länger säumen.

Die Sorge um den Freund, in die sich anfangs auch einige Sorge um das eigene Ich mischte, – denn ein unbestimmter Schrecken bemächtigte sich des Kapitäns, man könnte ihn mit Gewalt heiraten wollen, bis er sich endlich im Hinblick auf das Ritual erinnerte, daß er persönlich sicher sei, solange er nur auf dem Entschluß bleibe, auf eine jede Frage des Geistlichen mit »Nein« zu antworten – preßte dem guten Mann den Schweiß auf die Stirne und versetzte ihn in eine Stimmung, so daß er geraume Zeit nicht wußte, wie die Prozession, zu der er nun auch selbst gehörte, vorwärts kam oder was seine schöne Begleiterin mit ihm sprach. Nachdem sich seine Aufregung einigermaßen gelegt hatte, erfuhr er von dieser Dame, daß sie die Witwe eines Mr. Bokum, eines vormaligen Zollbeamten, und die wärmste Freundin der Mrs. Mac Stinger sei, die sie für ein Muster ihres Geschlechts halte; sie habe oft von dem Kapitän gehört und hoffe nur, er werde sein vergangenes Leben bereut haben, wie sie der Überzeugung lebe, daß Mr. Bunsby den ihm zugegangenen Segen zu schätzen wisse, obschon sie fürchte, daß die Männer ihr Glück selten früher erkennen, bis sie es verloren haben – und was dergleichen mehr war.

Diese ganze Zeit über entging dem Kapitän nicht, daß Mrs. Bokum kein Auge von dem Bräutigam verwandte, und daß sie, so oft sie in die Nähe eines Hofes oder einer andern schmalen Straßenwendung kamen, die eine Flucht zu begünstigen schien, sorgfältig auf der Hut war, um bei einem versuchten Ausreißen ihn schnell wieder abzufangen. Die andere Dame, wie auch ihr Gatte, der kleine Gentleman mit dem hohen Hut, war infolge eines früher besprochenen Plans gleichfalls auf der Lauer, während Mrs. Mac Stinger den unglücklichen Mann so fest hielt, daß jede Bemühung, sich durch die Flucht zu retten, vergeblich wurde. Sogar der Straßenpöbel schien dies zu bemerken und drückte seine Ansicht durch Geschrei und Spottreden aus, gegen die sich übrigens die furchtbare Mac Stinger mit unwandelbarer Gleichgültigkeit benahm, während Bunsby selbst in einem Zustand von Bewußtlosigkeit sich weiter schleppen ließ.

Der Kapitän versuchte etliche Male, sich mit dem Philosophen, wenn auch nur durch eine einzige Silbe oder durch ein Signal in Rapport zu setzen, verfehlte aber stets seinen Zweck – einesteils infolge der Aufmerksamkeit der Wachen, und dann, weil es Bunsbys eigentümliche Konstitution zu allen Zeiten schwierig machte, seinen Geist durch irgendein äußeres sichtbares Zeichen zu fesseln. So näherten sie sich der Kapelle, einem hübschen, weiß getünchten Gebäude, letzter Zeit unter der Leitung des ehrwürdigen Melchisedek Heuler stehend, der sich auf sehr dringendes Bitten herabgelassen hatte, die Welt noch zwei Jahre bestehen zu lassen – eine Frist, nach der sie übrigens, wie er seine Jünger belehrte, notwendig untergehen mußte.

Während der ehrwürdige Melchisedek aus dem Stegreife einige Gebete sprach, fand der Kapitän Gelegenheit, dem Bräutigam ins Ohr zu brummen:

»Wie geht’s, mein Junge – wie geht’s?« Bunsby antwortete darauf mit einer Rücksichtslosigkeit gegen den ehrwürdigen Melchisedek, die durch nichts, als durch seine verzweifelten Umstände entschuldigt werden konnte:

»Verteufelt schlecht.«

»Jack Bunsby«, flüsterte der Kapitän, »tut Ihr dies hier aus eigenem freien Willen?«

»Nein«, antwortete Mr. Bunsby.

»Warum laßt Ihr’s dann nicht lieber bleiben, mein Junge?« lautete die nicht unnatürliche Frage des Kapitäns.

Bunsby, der noch immer mit unbeweglichem Gesicht in die Welt hinausschaute, gab keine Antwort.

»Warum schert Ihr nicht ab?« fragte der Kapitän.

»He?« flüsterte Bunsby mit einem vorübergehenden Hoffnungsstrahle.

»Schert ab«, sagte der Kapitän.

»Wozu nützt’s«, entgegnete der verkaufte Weise. »Sie würde mich wieder kapern.«

»Probiert’s!« versetzte der Kapitän. »Hellauf! Kommt! Noch ist’s Zeit. Schert ab, Jack Bunsby!«

Statt übrigens von diesem Rat Gebrauch zu machen, erwiderte Jack Bunsby in kläglichem Flüstern:

»Die ganze Geschichte hat mit jener Truhe von Euch angefangen. Warum mußte ich sie auch an jenem Abend in den Hafen geleiten?«

»Mein Junge«, stotterte der Kapitän, »ich meinte, Ihr wäret über sie, nicht sie über Euch gekommen. Ein Mann, der solche Ansichten hat, wie Ihr!«

Mr. Bunsby stieß bloß ein ersticktes Ächzen aus.

»Kommt!« sagte der Kapitän, ihn mit dem Ellbogen anstoßend, »noch ist’s Zeit! Schert ab! Ich will Euren Rückzug decken. Die Stunde drängt. Bunsby, es gilt die Freiheit. Wollt Ihr – zum ersten Mal?«

Bunsby blieb unbeweglich.

»Bunsby«, flüsterte der Kapitän, »wollt Ihr – zum zweiten Mal?« Bunsby wollte auch zum zweiten Mal nicht.

»Bunsby«, drängte der Kapitän, »es gilt die Freiheit! Wollt Ihr – zum dritten Mal? Jetzt oder nie!«

Bunsby wollte nicht und wollte nie, denn er wurde unmittelbar darauf mit Mrs. Mac Stinger zusammengegeben.

Eine der schrecklichsten Beigaben zu dieser Feierlichkeit war für den Kapitän die todbringende Teilnahme, die Juliane Mac Stinger dafür an den Tag legte, und die verhängnisvolle Spannung aller Geisteskräfte, womit dieses vielversprechende Kind – jetzt schon das treue Abbild ihrer Mutter – dem ganzen Verfahren zusah. Der Kapitän bemerkte darin eine endlose Reihenfolge von Männerfallen und halbe Jahrhunderte von Zwang und Bedrückung, die den armen Seefahrern in Aussicht standen. Dies war ein denkwürdigerer Anblick als die wandellose Festigkeit der Mrs. Bokum und der andern Dame, als der Jubel des kleinen Gentlemans in dem hohen Hut, oder sogar als die schnöde Unbeugsamkeit der Mrs. Mac Stinger. Die männlichen jungen Mac Stinger verstanden wenig von dem, was vorging, und kümmerten sich noch weniger darum, da sie während der Zeremonie hauptsächlich damit beschäftigt waren, einander auf die Halbstiefel zu treten, aber der Gegensatz, den diese unglücklichen Kleinen darboten, stach nur um so vorteilhafter gegen das frühreife Weib in Juliane ab. Noch ein Jährchen oder zwei, dachte der Kapitän, und wer mit diesem Kinde in einem Hause wohnt, ist dem Untergang verfallen.

Die Zeremonie schloß mit einem allgemeinen Hinaufspringen der jungen Familie an Mr. Bunsby, den das junge Volk jetzt mit dem zärtlichen Vaternamen begrüßte und um Halbpence anbettelte. Nachdem diese Liebesergüsse vorüber waren, wollte der Zug wieder aufbrechen, wurde aber noch eine Weile länger durch einen unerwarteten Jammererguß von seiten des Alexander Mac Stinger zurückgehalten. Dieses liebe Kind schien sich bei einer Kapelle, die mit Grabsteinen in Verbindung stand, nicht denken zu können, daß sie außer den gewöhnlichen gottesdienstlichen Verrichtungen und den Beerdigungen auch noch andere Zwecke habe, und war der festen Überzeugung, man werde jetzt seine Mutter mit allem Anstand begraben und sie sei für ihn auf immer verloren. In seiner Angst schrie er mit erstaunlicher Gewalt, bis er ganz schwarz im Gesicht wurde. Wie rührend übrigens solche Zeichen zärtlicher Anhänglichkeit für die Mutter sein mochten, lag es doch nicht in dem Charakter dieses merkwürdigen Weibes, ihre Anerkennung derselben in Schwäche ausarten zu lassen. Nachdem sie vergeblich versucht hatte, ihn durch Rütteln, Rippenstöße und Anschreien zur Vernunft zu bringen, führte sie ihn ins Freie hinaus und versuchte ein anderes Mittel, das sich der Hochzeitsgesellschaft durch eine rasche Reihenfolge scharfer Töne, wie wenn jemand Beifall klatschte, und unmittelbar darauf durch den Umstand kundgab, daß Alexander sehr erhitzt und laut wehklagend in Berührung mit dem kühlsten Pflasterstein des Hofes dasaß.

Die Prozession, die sich nun wieder bilden und nach Brig-Place begeben konnte, wo ein Hochzeitsmahl bereit stand, kehrte zurück, wie sie gekommen war, bei welcher Gelegenheit der Straßenpöbel Mr. Bunsby manchen humoristischen Glückwunsch zu seinem neu erlangten Segen zurief. Der Kapitän ging bis zur Haustür mit, wo er sich unter dem Vorwand einer Bestellung und mit der Zusage, sogleich wieder zurückzukommen, von dem Zug und von dem Gefangenen verabschiedete, da ihn das zärtlichere Benehmen der Mrs, Bokum, die ihrer früheren Pflicht der Wachsamkeit nach der glücklichen Verheiratung des Bräutigams entbunden war und jetzt Muße hatte, selbst die Angenehme zu spielen, sehr beunruhigt hatte. Es war auch ein anderer Anlaß der Sorge für ihn vorhanden, denn er mußte sich den Vorwurf machen, daß er, freilich ohne es zu beabsichtigen, durch sein unbegrenztes Vertrauen in den hohen Geist des weisen Bunsby das erste Mittel zu dessen Verstrickung gewesen war.

Es lag nicht in der Absicht des Kapitäns, jetzt zu dem alten Sol Gills im hölzernen Midshipman zurückzukehren, ohne zuvor einen Umweg zu machen und zu fragen, wie es Mr. Dombey gehe, obschon das Haus, in dem sich derselbe befand, außerhalb Londons und am Saume einer frischen Heide stand. Er fuhr daher, wenn er müde wurde, eine Strecke weit und kam in solcher Weise wohlgemut an seinem Bestimmungsort an.

Die Laden waren niedergelassen und das Haus so ruhig, daß der Kapitän sich fast fürchtete, zu klopfen; als er aber an der Tür lauschte, vernahm er drinnen ganz in der Nähe gedämpfte Stimmen, weshalb er leise pochte und von Mr. Toots eingelassen wurde. Letzterer war eben mit seiner Frau angelangt und hatte den Kapitän in dem Midshipman aufgesucht, wo man ihm übrigens nur sagen konnte, wo er zu finden sein dürfte.

Sie waren kaum ins Haus getreten, als Mrs. Toots bereits das Bübchen irgend jemand abgejagt, es in ihre Arme genommen und damit auf der Treppe Platz gefunden hatte, wo sie es küßte und streichelte. Florence stand niedergebeugt an ihrer Seite, und man hätte nicht wohl sagen können, wen Mrs. Toots mit mehr Innigkeit herzte und umarmte, die Mutter oder das Kind; oder wer am eifrigsten seine Zärtlichkeit kundgab – Florence für Mrs. Toots, Mrs. Toots für Florence, oder beide für den Knaben. Mit einem Worte, es war eine kleine Gruppe von Liebe und Aufregung.

»Und ist Euer Papa sehr krank, meine liebe, herzige Miß Floy?« fragte Susanna.

»Er ist sehr leidend«, versetzte Florence. »Aber liebe Susanna, du darfst jetzt nicht mehr mit mir sprechen, wie du sonst tatest. Und was ist das?« fügte sie hinzu, erstaunt Susannas Kleider befühlend. »Dein alter Anzug, meine Liebe? Dein altes Häubchen, die Locken und alles ganz so wie früher?«

Susanna brach in Tränen aus und drückte viele Küsse auf die kleine Hand, von der sie so verwundert berührt worden war.

»Meine teure Miß Dombey«, sagte Mr. Toots, der jetzt vortrat, »ich will alles aufklären. Sie ist ein ganz außerordentliches Frauenzimmer und hat nicht viele ihresgleichen! Sie sagte stets – sagte so vor unserer Verheiratung, bis auf den heutigen Tag – wenn Ihr nach Hause kämet, wolle sie in keinem andern Anzug vor Euch erscheinen, als in dem, in welchem sie Euch zu dienen pflegte, denn sie fürchtete, sie möchte Euch fremd vorkommen und Ihr könntet sie weniger lieben. Diese Kleidung gefällt auch mir vor allen andern«, fügte er hinzu. »Ich bete sie darin an! Meine teure Miß Dombey, sie will wieder Euer Mädchen, Eure Wärterin, kurz alles sein, was sie je war, und noch mehr. In ihr ist keine Veränderung vorgegangen. Aber liebe Susanna«, sagte Mr. Toots, der mit viel Empfindsamkeit und hoher Bewunderung gesprochen hatte, »vergiß mir ja nicht den Doktor und laß dich nicht allzusehr aufregen!«

Einundsechzigstes Kapitel.


Einundsechzigstes Kapitel.

Erlösung

Florence bedurfte des Beistandes, und der leidende Zustand ihres Vaters machte ihr die Unterstützung ihrer alten Freundin sehr wertvoll. Mr. Dombey stand am Rande des Grabes. Schon hatte ein Schatten dessen, was er gewesen, seinen Geist erschüttert, und da er auch körperlich gefährlich erkrankt war, so legte er sein müdes Haupt auf das Bett nieder, das ihm die Hände seiner Tochter bereitet hatten, um es fortan nie wieder stolz aufzurichten.

Sie war stets um ihn. Er kannte sie in der Regel, obschon er in seinen Delirien oft die Umstände verwirrte, unter denen er mit ihr sprach. So konnte er sie bisweilen anreden, als ob sein Knabe erst kürzlich gestorben sei, und dabei bemerken: wenn er gleich nichts gesagt habe, als sie an dem kleinen Bett wartete, habe er es doch gesehen – er habe es gesehen; und dann verbarg er schluchzend sein Gesicht und streckte die abgezehrte Hand aus. Bisweilen fragte er sie nach ihr selbst. »Wo ist Florence?« – »Hier, Papa; ich bin hier.« – »Ich kenne sie nicht!« konnte er entgegnen. »Wir sind so lange getrennt gewesen, daß ich sie nicht kenne!« Und dann bemächtigte sich seiner ein Gefühl des Schreckens, das nur mit Not ihrem beschwichtigenden Zureden wich, und sie freute sich in solchen Augenblicken, wenn die Tränen wiederkehrten, die sie in andern Zeiten so eifrig zu trocknen bemüht war.

Er beschäftigte sich fast ohne Unterlaß mit den Szenen der Vergangenheit, und während solcher Träume verlor er die zuhörende Florence bisweilen stundenlang aus dem Gesicht. So wiederholte er oft die Frage seines kleinen Sohnes: »Was ist Geld?« brütete darüber, machte sich mehr oder weniger zusammenhängende Vorstellungen und forschte nach einer passenden Antwort, als werde ihm die Frage in diesem Augenblick zum ersten Male vorgelegt. Dann sprach er viele tausendmal den Titel seiner alten Firma vor sich hin und drehte bei jeder Wiederholung unruhig den Kopf auf seinem Pfühl. Auch pflegte er seine Kinder zu zählen! Eins – zwei – dann machte er halt, ging wieder zurück und fing von vorne an.

So ging es übrigens nur, als sein Geist in seinem verwirrten Zustande war. In allen andern Phasen seiner Krankheit, namentlich in den Perioden der Klarheit, waren seine Gedanken stets Florence zugekehrt. Am häufigsten rief er sich jene Nacht ins Gedächtnis, deren er sich so kürzlich erinnert hatte – der Nacht, an der sie zu ihm ins Zimmer kam; es war ihm dann, als wolle ihm das Herz brechen, und als gehe er ihr die Treppe hinauf nach, um sie zu suchen. Dann verwechselte er die Zeit mit den späteren Tagen der vielen Fußstapfen; er war erstaunt über ihre Zahl und fing an, sie zu zählen, während er zugleich stets nach der Tochter forschte. Plötzlich sah er eine blutige Fußspur unter den andern durchlaufen, und dann taten sich in Zwischenräumen die Türen auf, durch die er in Spiegeln gewisse schreckliche Bilder von hageren Männern sah, die etwas in der Brust verbargen. Unter den vielen Fußstapfen und den Blutspuren zeigte sich jedoch ohne Unterlaß Florences Tritt. Sie ging immer vor ihm her. Der unruhige Geist folgte ihr unter Zählen immer weiter, höher hinauf bis zu dem Gipfel eines gewaltigen Turms, so daß Jahre nötig waren, ihn zu erklettern.

Eines Tages fragte er, ob er nicht vor einer geraumen Weile Susanna habe sprechen hören.

Florence antwortete mit Ja und fragte ihn, ob er sie zu sehen wünsche.

Auf seine Zustimmung erschien Susanna nicht ohne Zittern an seinem Bett.

Er schien eine große Erleichterung darin zu finden und bat sie, daß sie doch nicht gehen solle, als wolle er damit andeuten, er verzeihe ihr, was sie gesprochen, und wünsche nicht, daß sie ihren Dienst verlasse. Florence und er seien jetzt ganz anders und leben glücklich miteinander, sagte er. Man solle es nur sehen! Er machte dabei eine Gebärde, als ziehe er Florences Kopf zu sich aufs Kissen nieder und legte ihn an seine Seite.

So blieb er Tage und Wochen lang, bis er – bloß noch der Schatten von einem Mann und so leise sprechend, daß man ihn nur verstehen konnte, wenn man das Ohr fast an seine Lippen hielt – endlich ruhiger wurde. Es war ihm jetzt angenehm, bei offenem Fenster dazuliegen und nach dem Sommerhimmel und den Bäumen, abends aber nach der untergehenden Sonne hinauszuschauen. Dabei achtete er auf die Schatten der Wolken und Blätter, und es war natürlich, daß er dafür eine Teilnahme empfand, da Leben und Welt für ihn nichts anderes mehr war als ein Schatten.

Er begann jetzt zu zeigen, daß er einen Sinn für Florences Anstrengungen hatte, denn wenn er ihre Schwäche bemerkte, flüsterte er ihr oft zu: »Mach‘ einen Spaziergang in der frischen Luft, meine Liebe. Geh‘ zu deinem guten Gatten!« Einmal, als Walter im Zimmer war, winkte er ihn heran und zu sich nieder; dann drückte er ihm die Hand und flüsterte ihm die Versicherung zu, er wisse, daß sein Kind bei ihm geborgen sei, wenn er einmal im Grabe ruhe.

Eines Abends gegen Sonnenuntergang, als Florence und Walter beisammen in seinem Zimmer saßen, wie er es so gern hatte, begann Florence, die ihren Knaben in den Armen hatte, dem kleinen Knirps mit gedämpfter Stimme etwas vorzusingen. Es war die alte Weise, die sie oft dem sterbenden Bruder gesungen. Er konnte es nicht ertragen und streckte seine zitternde Hand aus, indem er sie bat, innezuhalten; aber am nächsten Tag forderte er sie auf, das Lied wieder zu singen und es jeden Abend zu wiederholen. Sie tat es, und er hörte mit abgewandtem Gesichte zu.

Einmal saß Florence an seinem Fenster. Sie hatte ihr Arbeitskörbchen vor sich, und neben ihr befand sich die alte Dienerin, die ihr noch immer treulich Gesellschaft leistete. Er lag im Schlummer da. Der Abend war schön, und man hatte noch zwei Stunden bis zum Sonnenuntergang. Die Ruhe und Stille machte Florence gedankenvoll, und sie vertiefte sich in die Vergegenwärtigung des Augenblicks, als die so veränderte Gestalt auf dem Bett ihr zum erstenmal die schöne Mama vorgestellt hatte. Eine Berührung Walters, der über die Lehne des Stuhles sich niederbeugte, weckte sie rasch aus ihren Träumen.

»Meine Liebe«, sagte Walter, »es ist jemand unten, der dich zu sprechen wünscht.«

Walter kam ihr so ernst vor, daß sie ihn fragte, ob etwas vorgefallen sei.

»Nein, nein, meine Liebe!« versetzte Walter. »Ich habe den Gentleman selbst gesehen und mit ihm gesprochen. Es ist nichts vorgefallen. Willst du kommen?«

Florence legte ihren Arm in den seinen, vertraute ihren Vater der schwarzäugigen Mrs. Toots, die so emsig an ihrer Arbeit saß, wie es einem schwarzäugigen Frauenzimmer nur möglich war, und begleitete ihren Gatten die Treppe hinunter. In dem hübschen Wohnstübchen, das in den Garten hinausging, saß ein Gentleman, der bei ihrem Eintritt sich erhob, um ihr entgegenzugehen, aber infolge der Eigentümlichkeit seiner Beine seitab kam, bis ihm der Tisch Halt gebot.

Florence erinnerte sich nun des Vetters Feenix, da sie ihn anfänglich im Schatten der Blätter nicht erkannt hatte. Vetter Feenix reichte ihr die Hand und wünschte ihr Glück zu ihrer ehelichen Verbindung.

»Natürlich wäre es mir lieb gewesen«, sagte Vetter Feenix, der wieder Platz nahm, sobald Florence sich niedergelassen hatte, »wenn ich früher Gelegenheit gefunden hätte, meinen Glückwunsch darzubringen; aber es sind in der Tat so viele schmerzliche Vorfälle eingetreten – Vorfälle, die sich sozusagen auf der Ferse folgten –, daß ich mich selbst in einem ganz verteufelten Zustand befand und somit durchaus in keine Gesellschaft paßte. Die einzige Gesellschaft, mit der ich mich umgab, war meine eigene, und es ist gewiß nichts weniger als schmeichelhaft für die Meinung, die jemand von seinen Hilfsquellen hat, wenn man sich sagen muß, man besitze die Eigenschaft, sich bis in alle Ewigkeit zu langweilen.«

Aus einer gewissen Befangenheit in dem Benehmen des Gentleman – das stets das eines Gentleman war, ungeachtet der harmlosen kleinen Exzentrizitäten, die sich daran hefteten – wie auch aus Walters Haltung zog Florence den Schluß, daß Vetter Feenix nicht bloß um des erwähnten Glückwunsches willen hergekommen war.

»Ich bemerkte bereits meinem Freund Mr. Gay, wenn er mir die Ehre gestattet, ihn so zu nennen«, sagte Vetter Feenix, »wie erfreut ich bin, daß es mit meinem Freund Dombey entschieden der Besserung zugeht. Ich hoffe, mein Freund Dombey wird sich einen bloßen Verlust von zeitlichen Gütern nicht allzusehr zu Herzen nehmen. Ich kann nicht sagen, daß ich je selbst einen besonders großen Vermögensverlust erlitten hätte, da ich in der Tat nie viel zu verlieren hatte. Aber so viel da war, habe ich wirklich verloren, und ich finde nicht, daß ich mich besonders darum kümmerte. Ich kenne meinen Freund Dombey als einen verteufelt ehrenhaften Mann, und es dürfte wohl meinem Freund Dombey sehr tröstlich werden, wenn er erfährt, daß dies die allgemeine Ansicht ist. Sogar Tommy Screw – ein sehr gallsüchtiger Mann, mit dem mein Freund Gay wahrscheinlich bekannt ist – kann diese Tatsache mit keiner Silbe in Abrede stellen.«

Florence fühlte mehr als je, daß noch etwas im Hinterhalt war, und sah demselben ernst entgegen – so ernst, daß Vetter Feenix antwortete, als habe sie offen die Frage gestellt.

»Die Sache verhält sich so,« sagte Feenix, »daß ich mich mit meinem Freund Gay besprach, ob es wohl angehe, Euch um eine Gunst zu bitten. Da ich nun die Zustimmung meines Freundes Gay habe – er kam mir dabei in einer ungemein freundlichen und offenen Weise entgegen, wofür ich ihm sehr zu Danke verpflichtet bin – so erlaube ich mir, mich auszusprechen. Ich fühle, eine so liebenswürdige Dame, wie die liebliche und begabte Tochter meines Freundes Dombey ist, wird nicht viel des Zuredens brauchen; gleichwohl freue ich mich der Überzeugung, daß ich durch den Einfluß und die Zustimmung meines Freundes Gay unterstützt werde. In den Tagen meiner parlamentarischen Wirksamkeit, wenn einer irgendeinen Antrag zu stellen hatte – es kam damals freilich selten vor, denn wir wurden sehr scharf im Zügel gehalten, und die Führer auf beiden Seiten waren eigentliche Tyrannen, ein verteufelt guter Umstand für einen in Reih und Glied stehenden Mann, wie ich, da wir dadurch verhindert wurden, uns jeden Augenblick bloßzustellen, wie so viele unter uns gewaltig Lust hatten –, ich wollte sagen, wenn in der Zeit meiner parlamentarischen Wirksamkeit einer einen kleinen Privat-Sackpuffer loslassen wollte, hielt er stets große Stücke darauf, zu versichern, er habe das Glück, zu glauben, daß seine Gefühle nicht ohne Echo seien in der Brust des Mr. Pitt, dieses Lotsen, der in Wahrheit den Sturm umluvt habe. Es rief ihm dann eine verteufelt große Anzahl von Mitgliedern augenblicklich Beifall zu, so daß sein Mut gekräftigt wurde. Diese Mitglieder hatten die Weisung, stets Bravo zu rufen, so oft Mr. Pitts Name erwähnt wurde, und dieser Name war das Schlagwort, das sie jedesmal weckte. In anderer Art waren sie bei allen Vorgängen so unschuldig, daß der Konversations-Brown – Vier-Flaschenmann bei der Schatzkammer, mit dem der Vater meines Freundes Gay vermutlich bekannt war, da er vor der Zeit meines Freundes Gay lebte – zu sagen pflegte, wenn einer sich von seinem Platze erhebe und sein Bedauern ausdrückte, dem Hause mitteilen zu müssen, daß in der Vorhalle ein ehrenwertes Mitglied im Stadium der letzten Zuckungen liege, und daß der Name dieses ehrenwerten Mitglieds Pitt sei, so würde der Beifallssturm ebenso laut sein.«

Dieses Hinausschieben des eigentlichen Punktes brachte Florence in Verwirrung, und sie blickte mit steigender Aufregung von Vetter Feenix auf Walter. »Meine Liebe«, sagte Walter, »es ist nichts vorgefallen.«

»Nein, auf Ehre, es ist nichts vorgefallen,« fuhr Vetter Feenix fort. »Es tut mir ungemein leid, Veranlassung gewesen zu sein, daß Ihr Euch nur einen Augenblick beunruhigtet. Nehmt die Versicherung, daß nichts vorgefallen ist. Die Gunst, um die ich bitten möchte, besteht einfach darin – doch sie scheint in der Tat so ungewöhnlich zu sein, daß ich meinem Freund Gay im höchsten Grad verbunden wäre, wenn er die Güte haben wollte – mit einem Worte, das Eis zu brechen.«

Der so aufgeforderte Walter, an den jetzt auch Florences Blicke appellierten, ergriff folgendermaßen das Wort:

»Meine Liebe, es handelt sich einfach darum, daß du diesen Gentleman, der dir bekannt ist, nach London begleiten möchtest.«

»Ich bitte um Verzeihung, und auch meinen Freund Gay«, unterbrach ihn Vetter Feenix.

»Er wünscht, daß du mit mir irgendwo einen Besuch machst.«

»Bei wem?« fragte Florence, bald den einen, bald den andern ansehend.

»Wenn ich bitten dürfte«, versetzte Vetter Feenix, »daß Ihr nicht auf einer Beantwortung dieser Frage besteht, so würde ich mir die Freiheit nehmen, dieses Ansinnen zu stellen.«

»Bist du davon unterrichtet, Walter?« fragte Florence.

»Ja.«

»Und hältst du es für recht?«

»Ja. Nur weil ich überzeugt bin, daß du es auch für recht halten würdest. Allerdings dürften, wie ich recht wohl begreife, Gründe vorhanden sein, die es besser erscheinen lassen, wenn vorderhand nicht mehr darüber gesprochen wird.«

»Wenn Papa noch schläft, oder im Falle er wach ist, mich entbehren kann, so will ich sogleich gehen«, sagte Florence.

Sie stand gelassen auf, warf den beiden einen etwas beunruhigten, aber vollkommen vertrauenden Blick zu und verließ das Zimmer.

Als sie wieder zurückkam, um mit ihnen aufzubrechen, besprachen sie sich ernst miteinander im Fenster, und Florence war natürlich neugierig auf einen Gegenstand, der die beiden in kurzer Frist so gut miteinander bekannt gemacht hatte. Weniger verwundert war sie über den Blick voll Stolz und Liebe, mit dem ihr Gatte bei ihrem Eintritt abbrach, denn sie sah denselben nie anders.

»Ich will für meinen Freund Dombey eine Karte zurücklassen«, sagte Vetter Feenix, »und hoffe aufrichtig, daß jede kommende Stunde ihm Kraft und Gesundheit geben wird. Mein Freund Dombey ist vielleicht so gütig, mich für einen Mann anzusehen, der eine verteufelt warme Bewunderung vor seinem Charakter als britischer Kaufmann und als ein verteufelt ehrenhafter Gentleman hegt. Mein Landsitz ist zwar in einem verwünscht baufälligen Zustand; aber wenn mein Freund Dombey einer Luftveränderung benötigt wäre und dort sein Quartier aufschlagen wollte, so würde er einen merkwürdig gesunden Platz finden – natürlich da es dort erstaunlich langweilig ist. Leidet mein Freund Dombey an körperlicher Schwäche und wollte er mir erlauben, ihm zu empfehlen, was mir selbst als einem Mann, dem es zuzeiten außerordentlich schlecht war, da er in den Tagen eines freien Lebens ziemlich frei lebte, treffliche Dienste geleistet hat, so würde ich ihm ein Eigelb anraten, das mit Zucker und Muskatnuß geklopft, mit einem Glas Xeres gemischt und morgens mit einer Röstschnitte genossen wird. Jackson, der die Vorzimmer in Bondstreet hielt – Mann von sehr überlegenen Eigenschaften, dessen Ruf meinem Freund Gay ohne Zweifel bekannt ist, bemerkte zu sagen, daß diejenigen, die sich für den Wahlplatz ausbildeten, statt des Xeres Rum nehmen. Im gegenwärtigen Fall möchte ich aber Xeres empfehlen, weil sich mein Freund Dombey in einem geschwächten Zustand befindet. Der Rum könnte ihm in der Tat zu Kopf steigen und ihn in eine verteufelte Lage versetzen.«

Dieses medizinischen Rats entledigte sich Vetter Feenix augenscheinlich mit sehr verwirrter Miene. Er reichte sodann Florence seinen Arm, tat seinen eigensinnigen Beinen, die mit Gewalt in den Garten hinaus zu wollen schienen, allen möglichen Zwang an, führte sie zur Tür und half ihr in den bereitstehenden Wagen.

Walter stieg nach ihm ein, und sie fuhren ab.

Der Weg mochte wohl ein paar Stunden betragen. Es war bereits dunkel, als sie durch gewisse düstere, vornehme Straßen im westlichen Teile von London fuhren. Florence hatte Walters Hand gefaßt, und ihre Aufregung steigerte sich, so oft sie in irgendeine neue Straße einbogen.

Als der Wagen endlich vor dem Hause in Brook-Street, wo ihr Vater seine unglückliche Hochzeit gefeiert hatte, haltmachte, sagte Florence:

»Walter, was soll das? Wer ist hier?«

Während ihr Walter Mut zusprach, ohne sich auf eine weitere Erwiderung einzulassen, blickte sie an der Vorderseite des Hauses hinauf und bemerkte, daß alle Fenster geschlossen waren, als sei das Gebäude unbewohnt. Vetter Feenix war inzwischen ausgestiegen und reichte ihr seine Hand.

»Kommst du nicht, Walter?« fragte sie.

»Nein, ich will hier bleiben. Du brauchst nicht zu zittern. Es ist nichts zu fürchten, teuerste Florence.«

»Ich weiß das wohl, Walter, da du mir so nahe bist. Wenn ich aber auch davon überzeugt bin, so – –«

Die Tür ging, ohne daß gepocht wurde, leise auf, und Vetter Feenix führte sie aus der Sommerabendluft in das dumpfe, düstere Haus. Brauner als je schien es von dem Hochzeitstage an verschlossen geblieben zu sein; es sah aus, als habe es seitdem Trauer und Düster zusammengespart.

Florence stieg zitternd die dunklen Treppen hinan und machte mit ihrem Führer an der Tür des Besuchszimmers halt. Er öffnete, ohne zu sprechen, und deutete durch ein Zeichen die Bitte an, sie möchte in das innere Zimmer treten, während er hier zurückbleibe. Nach einem kurzen Zögern entsprach Florence der Aufforderung.

Neben dem Fenster an einem Tisch saß eine Dame, die geschrieben oder gezeichnet hatte. Ihr Kopf war dem hinsterbenden Licht zugekehrt und ruhte auf der Hand. Florence trat zweifelnd näher, blieb aber mit einem Male stehen, als habe sie alle Kraft der Bewegung verloren. Die Dame hatte den Kopf umgewandt.

»Gütiger Himmel!« sagte sie. »Was ist dies?«

»Nein, nein!« rief Florence, die, als die Dame sich erhob, einige Schritte zurückwich und ihre Hände ausstreckte, um sie abzuhalten. »Mama!«

Sie blieben stehen und sahen sich an. Stolz und Leidenschaft hatten ihre verheerenden Spuren in Ediths Gesicht zurückgelassen, aber noch immer war es schön und stattlich, während in Florences Antlitz trotz des Schreckens, in dem sie die andere zu vermeiden suchte, Mitleid, Kummer und dankbare Rückerinnerung ausgedrückt waren. Auf jedem Gesicht war Erstaunen und Furcht deutlich zu lesen – jedes so still und stumm, während sie sich gegenseitig über der schwarzen Kluft einer unwiderruflichen Vergangenheit ansahen.

Bei Florence ging zuerst eine Veränderung vor. Sie brach in Tränen aus und rief aus der Fülle ihres Herzens:

»O Mama, Mama, warum müssen wir uns so wiedersehen! Ihr wart sonst so freundlich gegen mich, als ich niemand anders hatte. Warum müssen wir uns so wieder finden!«

Edith stand stumm und regungslos vor ihr. Ihre Augen hafteten auf ihrem Gesicht.

»Ich wage nicht daran zu denken«, sagte Florence. »Ich komme von Papas Krankenbett. Wir sind jetzt stets beisammen und werden uns nie mehr trennen. Wenn Ihr wünscht, daß ich für Euch seine Verzeihung erbitte, so will ich es tun, Mama. Ich bin fest überzeugt, daß er sie erteilen wird, wenn ich ihn darum angehe. Möge auch der Himmel Euch verzeihen und Euch trösten.«

Sie antwortete mit keiner Silbe.

»Walter – ich bin mit ihm verheiratet, und wir haben einen Sohn«, sagte Florence schüchtern, »ist unten an der Tür und hat mich hergebracht. Ich will ihm mitteilen, daß Ihr reuig, daß Ihr verändert seid,« fügte sie mit einem Blick der Wehmut hinzu. »Ich weiß, er wird mit mir dem Papa zusprechen. Kann ich außerdem noch etwas für Euch tun?«

Edith unterbrach ihr Schweigen, ohne ein Auge und ein Glied zu bewegen, und erwiderte langsam:

»Der Flecken auf Eurem Namen, auf dem Eures Gatten und Eures Kindes – kann er je vergeben werden, Florence?«

»Ob er’s kann, Mama? Er ist vergeben! Offen und unverhohlen von Walter und von mir. Wenn Euch dies Trost bereiten kann, so mögt Ihr mit Sicherheit darauf bauen. Ihr sprecht – Ihr sprecht –« stotterte Florence – »nicht von Papa; aber zuverlässig wünscht Ihr, daß ich ihn in Eurem Namen um Verzeihung bitte.«

Sie antwortete mit keiner Silbe.

»Ich will es tun«, fuhr Florence fort. »Ich will Euch seine Vergebung bringen, wenn Ihr mir’s gestattet; und dann können wir uns wieder so Lebewohl sagen, wie in alten Zeiten. Ich bin«, fügte sie in sanftem Tone hinzu, während sie näher herantrat – »ich bin nicht vor Euch zurückgewichen, Mama, weil ich Euch fürchte oder weil ich durch Euch beschimpft zu werden glaube. Ich wünsche nur gegen Papa meine Pflicht zu erfüllen. Ich bin ihm sehr teuer und liebe ihn aus ganzer Seele. Gleichwohl kann ich nie vergessen, wie gütig Ihr gegen mich wart. O, betet zum Himmel«, rief Florence, indem sie an ihre Brust sank, »betet zum Himmel, Mama, er möge Euch die Sünde und Schande vergeben – er möge, falls es unrecht ist, auch mir verzeihen, daß ich so handeln muß, wenn ich denke, was Ihr sonst wart.«

Edith sank, als bräche sie unter Florences Berührung zusammen, auf ihre Knie nieder und umschlang ihren Nacken.

»Florence!« rief sie. – »Mein besserer Engel! Ehe ich wieder wahnsinnig werde – ehe mein Starrsinn zurückkehrt und meine Zunge bindet, glaube mir, – bei meiner Seele, ich bin unschuldig!«

»Mama!«

»Schuldig in vielem, schuldig in dem, was für immer eine Öde zwischen uns wirft. Schuldig in dem, was mich für den ganzen Rest meines Lebens trennen muß von Reinheit und Unschuld – vor allem auf Erden von dir; schuldig einer blinden, leidenschaftlichen Rachsucht, die ich selbst jetzt nicht bereuen kann oder will; aber nicht schuldig mit jenem toten Manne. Gott ist mein Zeuge!«

Sie tat diesen Schwur mit erhobenen beiden Händen und auf ihren Knien liegend.

»Florence!« sagte sie, »reinstes und bestes Wesen – das ich liebe – das mich längst hätte umwandeln können und eine Zeitlang sogar in dem Weibe, das ich bin, einen Wechsel hervorbrachte – glaube mir, hierin bin ich unschuldig. Laß mich noch einmal dein teures Haupt an mein verödetes Herz drücken – zum letztenmal!«

Sie weinte in tiefer Ergriffenheit. Wäre sie in früherer Zeit öfter so gewesen, so hätte sie jetzt glücklicher sein können.

»In der ganzen Welt gibt es nichts anderes«, sagte sie, »was mir diese Verneinung hätte entringen können. Weder Liebe noch Haß, weder Hoffnung noch Drohung. Ich erklärte, daß ich sterben wollte, ohne es durch ein Zeichen anzudeuten. Ich hätte Wort halten können, würde Wort gehalten haben, wenn wir uns nicht wiedergesehen hätten, Florence.«

»Ich hoffe«, sagte Vetter Feenix, der zur Tür hereinkam und halb im Zimmer, halb draußen zu sprechen anfing, »daß meine liebliche und begabte Verwandte mich entschuldigen wird, wenn ich durch eine kleine Kriegslist diese Begegnung herbeiführte. Ich kann nicht sagen, daß ich anfänglich ganz ungläubig war in betreff der Möglichkeit, meine liebliche und begabte Verwandte könnte sich unglücklicherweise in Beziehung auf den verstorbenen Mann mit den weißen Zähnen eine Blöße gegeben haben; denn in der Tat, man sieht in dieser Welt, die sich durch seltsame Verkettungen auszeichnet und Dinge erleben läßt, die man völlig unbegreiflich findet – gar sonderbare Konjunktionen solcher Art. Aber wie ich meinem Freund Dombey erklärte, ich konnte die Schuld meiner lieblichen und begabten Verwandten nicht zugestehen, bis sie vollkommen bewiesen wäre. Als nun der verstorbene Mann in einer so verteufelt schrecklichen Weise zugrunde ging, dachte ich mir, ihre Lage müsse sehr peinlich sein, und da ich außerdem fühlte, unsere Familie habe sich einiges vorzuwerfen, weil wir ihr nicht mehr Aufmerksamkeit schenkten und überhaupt eine unbekümmerte Familie sind – ferner, weil meine Tante, obschon eine verteufelt lebhafte Frau, doch vielleicht nicht unter die besten Mütter gehörte – so nahm ich mir die Freiheit, sie in Frankreich aufzusuchen und ihr den Schutz anzubieten, den ein Mann von ziemlich beschränkten Mitteln gewähren kann. Bei dieser Gelegenheit erwies mir meine liebliche und begabte Verwandte die Ehre, mir zu erklären, daß sie mich in meiner Art für einen verteufelt guten Burschen halte und deshalb von meinem Schutz Gebrauch machen wolle. Es war dies in der Tat sehr freundlich von meiner lieblichen und begabten Verwandten, da ich nachgerade ungemein unbeholfen werde und ihrer häuslichen Sorgfalt viel Bequemlichkeit verdanke.«

Edith, die Florence auf das Sofa zu sich niedergezogen hatte, winkte ihm mit der Hand, als bitte sie ihn, nicht weiterzusprechen.

»Meine liebliche und begabte Verwandte wird mich entschuldigen«, nahm Vetter Feenix wieder auf, während er noch immer an der Tür umherschwankte, »wenn ich zu ihrer und meiner eigenen Befriedigung, wie auch zur Befriedigung meines Freundes Dombey, dessen liebliche und begabte Tochter wir so sehr bewundern, den Faden meiner Bemerkungen vollends abwickle. Sie wird sich erinnern, daß von Anfang an nie eine Hindeutung auf ihre Entführung zwischen uns stattfand. Ich habe allerdings immer unter dem Eindruck gelebt, daß in der Sache ein Geheimnis liege, das sie erklären könne, wenn sie dazu geneigt sei; da aber meine liebliche und begabte Verwandte eine verteufelt entschlossene Frau ist, so wußte ich in der Tat wohl, daß sie nicht mit sich spielen läßt, und ich enthielt mich daher jeder Erörterung. In letzter Zeit nun bemerkte ich, daß ihre zugänglichste Seite eine sehr lebhafte Zärtlichkeit für die Tochter meines Freundes Dombey sei, und da fiel mir ein, wenn ich, beiderseits unerwartet, eine Zusammenkunft zusammenbringen könnte, so dürfte dies wohltätige Folgen nach sich ziehen. Wir sind noch in unserer Abgeschiedenheit in London, ehe wir nach dem südlichen Italien ziehen, um uns dort niederzulassen, bis wir in die lange Heimat eingehen (eine verteufelt unangenehme Betrachtung), und ich schickte mich deshalb an, den Aufenthalt meines Freundes Gay – schöner Mann von ungemein offenem Charakter, der wahrscheinlich meiner lieben und begabten Verwandten bekannt ist – zu entdecken, und hatte das Glück, seine liebenswürdige Gattin hierherzubringen. Und nun«, fügte Vetter Feenix mit einem wahren und echten Ernste hinzu, der durch die Leichtigkeit seines Wesens und seine geschraubte Sprache durchblickte, »beschwöre ich meine Verwandte, nicht auf halbem Wege stehenzubleiben, sondern, soweit es ihr möglich ist, das begangene Unrecht wieder gutzumachen – nicht im Interesse der Ehre ihrer Familie, ihres Rufs oder sonstiger Rücksichten, die sie infolge unglücklicher Verkettungen für hohl und abgeschmackt anzusehen gelernt hat– sondern weil es Unrecht ist und vor dem Rechte nicht bestehen kann.«

Die Beine des Vetters Feenix willigten nun ein, ihn abzuführen. Er ließ die beiden allein und schloß die Tür.

Edith blieb einige Minuten stumm, während Florence dicht an ihrer Seite stand. Dann nahm sie ein versiegeltes Papier aus ihrem Busen.

»Ich ging lange mit mir zu Rat«, sagte sie mit gedämpfter Stimme, »ob ich für den Fall eines plötzlichen oder zufälligen Todes dies überhaupt schreiben sollte, bis ich mich endlich dazu gedrungen fühlte. Seitdem erwog ich immer, wann und wie ich es wieder vernichten sollte. Nimm es, Florence. Die Wahrheit ist darin aufgezeichnet.«

»Ist es für den Papa?« fragte Florence.

»Für wen du willst«, antwortete sie. »Es ist dir übergeben und muß durch deine Hand gehen. Anders hätte er es nie erhalten können.«

Wieder eine stumme Pause, während die Nacht hereinbrach.

»Mama«, sagte Florence, »er hat sein Vermögen verloren, stand am Rande des Grabes und erholt sich vielleicht nie wieder. Habt Ihr kein Wort, das ich ihm in Eurem Namen sagen soll?«

»Hast du mir nicht gesagt«, fragte Edith, »daß du ihn sehr liebst?«

»Ja«, entgegnete Florence mit bebender Stimme.

»So sage ihm, es tue mir leid, daß wir uns je gesehen hätten.«

»Weiter nichts?« entgegnete Florence nach einer Pause.

»Wenn er fragt, so sage ihm, daß ich nicht bereue, was ich getan habe – auch jetzt noch nicht –, denn falls es morgen wieder geschehen müßte, so würde ich nicht zögern. Aber wenn er ein veränderter Mann ist –«

Sie hielt inne. Es lag etwas in der stummen Berührung von Florences Hand, das ihr Einhalt gebot.

»Er weiß wohl jetzt, wäre er anders gewesen, so würde es nie vorgefallen sein. Sage ihm, ich wünsche, es hätte nie stattgefunden.«

»Darf ich ihm mitteilen«, entgegnete Florence, »daß Ihr mit Bedauern vernommen habt, welches Unglück ihn betroffen?«

»Wenn es ihn gelehrt hat, seine Tochter zu lieben – nein«, erwiderte sie. »Er wird es mit der Zeit selbst nicht beklagen, daß eine solche Lehre über ihn kommen mußte, Florence.«

»Ihr wünscht ihm aber nichts Schlimmes – Ihr wünscht, daß er glücklich sei? O, gewiß wünscht Ihr dies!« sagte Florence. »Setzt mich in die Lage, ihm bei irgendeiner künftigen Gelegenheit dies mitteilen zu können.«

Edith heftete ihre dunkeln Augen fest vor sich auf den Boden und antwortete nicht, bis Florence ihre Bitte wiederholt hatte. Dann zog sie die Hand ihrer Gefährtin durch ihren Arm, richtete denselben gedankenvollen Blick in die Nacht hinaus und sprach:

»Sage ihm, wenn er in seiner gegenwärtigen Gemütsstimmung einen Grund finden könne, meiner Vergangenheit Mitleid zu schenken, so bitte ich ihn, es zu tun. Sage ihm, wenn er in seiner gegenwärtigen Gemütsstimmung einen Grund finden könne, mit weniger Bitterkeit meiner zu gedenken, so bitte ich ihn, es zu tun. Sage ihm, obschon wir tot seien für einander und uns nie mehr auf dieser Seite der Ewigkeit treffen werden, so wisse er, es gebe jetzt ein einziges gemeinsames Gefühl zwischen uns, das früher nie bestanden.«

Ihre Strenge schien sich zu mildern, und Tränen traten in ihre dunkeln Augen.

»Diesem Gefühl vertraue ich«, fuhr sie fort, »daß es in ihm bessere Gedanken von mir und in mir bessere von ihm wecke. Wenn er seine Florence am meisten liebt, wird er mich am wenigsten hassen. Wenn er am stolzesten und glücklichsten ist in ihr und ihren Kindern, wird er am meisten seine Beteiligung an dem düsteren Traum unseres ehelichen Lebens bereuen. Dann will auch ich bereuen – laß ihn dies dann wissen. Ich will dann darüber nachdenken, daß mir, wenn ich alle diese Ursachen erwogen hätte, die mich zu dem machten, was ich war, vielleicht Anlaß gegeben worden wäre, mit den Ursachen, die ihn zu dem machten, was er war, mehr Nachsicht zu haben. Ich will dann versuchen, ihm seine Beteiligung an der Schmach zu verzeihen. Versuche er, mir die meinige zu vergeben!«

»O Mama!« rief Florence. »Wie erleichtert es mir das Herz, auch bei einem solchen Zusammentreffen und Scheiden dies zu hören!«

»Seltsame Worte in meinen Ohren«, sagte Edith, »und befremdlich für den Ton meiner eigenen Stimme! Aber selbst wenn ich das elende Geschöpf gewesen wäre, für das mich zu halten ich ihm Anlaß gab, so glaube ich, daß ich sie hätte sprechen können, nachdem ich hörte, daß du und er, ihr beide euch gegenseitig teuer seid. Möge er, wenn er dich am meisten liebt, stets fühlen, daß er auch mir in seinen Gedanken die meiste Nachsicht zuteil werden lassen muß – daß ich dann in meinen Gedanken die meiste Nachsicht mit ihm trage! Dies sind die letzten Worte, die ich ihm zugehen lasse! Jetzt, Gott mit dir, mein Leben!«

Sie schlang sie in ihre Arme und schien ihre ganze Seele voll Liebe und Innigkeit mit einemmal auszugießen.

»Diesen Kuß deinem Kinde! Diese Küsse, Segenswünsche über dein Haupt! Meine teure Florence, mein süßes Mädchen, lebe wohl!«

»Um uns wiederzusehen!« rief Florence unter Tränen.

»Nie – nie wieder! Wenn du dieses düstere Gemach verläßt, so denke, du habest mich im Grabe gelassen. Erinnere dich meiner als eines Wesens, das war und das dich liebte!«

Und Florence entfernte sich, von ihren Umarmungen und Liebkosungen bis auf den letzten Augenblick begleitet, ohne jedoch ihr Gesicht wiederzusehen.

Vetter Feenix trat ihr an der Tür entgegen und führte sie nach dem trüb aussehenden Speisesaal zu Walter hinunter, auf dessen Schulter sie ihr weinendes Haupt legte.

»Es tut mir verteufelt leid«, sagte Vetter Feenix, in der möglichst einfachen Weise und ohne die mindeste Verhehlung seine Manschetten zu den Augen erhebend, »daß die liebliche und begabte Tochter meines Freundes Dombey, die liebenswürdige Gattin meines Freundes Gay, bei ihrem empfindsamen Wesen durch das Zusammentreffen, das eben zum Schluß gekommen ist, so traurig gestimmt wurde. Aber ich hoffe und vertraue, daß ich aufs beste gehandelt habe und daß mein ehrenwerter Freund Dombey sich durch die stattgefundenen Enthüllungen erleichtert fühlen wird. Ich beklage ungemein, daß mein Freund Dombey sich durch eine Verbindung mit unserer Familie in eine so verteufelte Verwicklung eingelassen hat, obschon ich lebhaft der Ansicht bin, wäre jener höllische Schurke, Carker – Mann mit weißen Zähnen – nicht gewesen, so hätte alles noch ziemlich ordentlich ablaufen können. Was meine Verwandte betrifft, die mir die Ehre erweist, eine ungewöhnlich gute Meinung von mir zu haben, so kann ich der liebenswürdigen Gattin meines Freundes Gay die Versicherung geben, daß ich in der Tat wie ein Vater an ihr handeln werde, und in Anbetracht der Wechsel im menschlichen Leben und der außerordentlichen Weise, in der wir uns stets benehmen, kann ich nur mit meinem Freund Shakespeare – Mann, der nicht für ein Menschenalter, sondern für alle Zeit lebte, und den mein Freund Gay ohne Zweifel kennt – sagen, daß sie dem Schatten eines Traumes zu vergleichen sind.«

Fünfunddreißigstes Kapitel.


Fünfunddreißigstes Kapitel.

Das glückliche Paar.

Der schwarze Klecks in der Straße ist fort. Wenn sich Mr. Dombeys Haus noch immer wie eine Lücke unter den benachbarten ausnimmt, so liegt der Grund nur darin, weil es in der Pracht und in dem Stolz, womit es die anderen zurückweist, nicht zu beneiden ist. Das Sprichwort sagt: Heimat sei Heimat, wie ärmlich sie auch sein möge. Wenn nun auch das Gegenteil wahr ist und sie Heimat bleibt, wie stattlich sie sei, welch ein Altar war dann nicht hier den heimischen Hausgöttern errichtet!

Es ist Abend. Lichter funkeln durch die Fenster, die rötliche Glut der Kaminfeuer übergießt warm und hell die Vorhänge und die weichen Teppiche; das Diner ist bereitet, der Serviertisch mit Silbergeschirr beladen und die Speisetafel großartig gerüstet, obschon nur vier Gedecke aufgelegt sind. Das erstemal seit den jüngsten Veränderungen soll das Haus wirkliche Dienste leisten, und man sieht der Ankunft des glücklichen Paares mit jeder Minute entgegen.

Dieser Abend, der die Rückkehrenden begrüßen soll, steht an Interesse, das es der erwartungsvollen Dienerschaft bietet, nur dem Morgen der Trauung nach. Mrs. Perch, die die Runde durch das Haus gemacht, die Seiden- und Damaststoffe der Elle nach abgeschätzt und für den Ausdruck ihrer Bewunderung und ihres Staunens alle nur erdenklichen Ausrufwörter erschöpft hat, sitzt jetzt in der Küche und trinkt Tee. Der erste Gehilfe des Tapezierers hat seinen stark nach Firniß riechenden Hut mit dem Schnupftuch darin unter einem Stuhl in der Halle gelassen, schleicht im Hause umher, blickt nach den Gesimsen empor, beaugenscheinigt die Teppiche auf dem Boden, zieht gelegentlich in stummem Entzücken ein Metermaß aus der Tasche und mißt hurtig mit unaussprechlichen Gefühlen einzelne kostbare Gegenstände. Die Köchin ist ungemein heiter und erklärt, es gefalle ihr nur an einem Platz, wo es viel Gesellschaft gebe (sie wette sechs Pence, daß dies fortan im Hause der Fall sein werde), denn sie habe von Kindheit auf ein lebhaftes Temperament gehabt und es sei ihr gleich, was die Welt zu diesem Temperament sage. Diese Gesinnung wird von Mrs. Perch mit einem entsprechenden Gemurmel des Beifalls aufgenommen. Die Hausmagd hofft, es werde dem Paare glücklich ergehen – aber das Heiraten sei eine Lotterie, und je mehr sie darüber nachdenkt, desto mehr gewinnt sie die Überzeugung, daß sie im ledigen Stande am sichersten und unabhängigsten lebe. Mr. Towlinson ist ernst und grämlich, sagt, das sei auch seine Meinung, und erklärt nebenbei allen Ausländern den Krieg, indem er ruft: »Nieder mit den Franzosen!« Der junge Mann gibt sich nämlich dem allgemeinen Eindrucke hin, jeder Ausländer sei ein Franzose und könne der Natur der Sache nach unmöglich etwas anderes sein.

Sooft sich draußen Rädergerassel vernehmen läßt, halten alle in ihren Reden inne und horchen. Ja, es kommt sogar mehr als einmal zu einem allgemeinen Aufbruch, als sich der Ruf verbreitet: »Sie sind es!« Aber sie sind es noch nicht, und die Köchin fängt bereits an, über das Essen zu klagen, das schon zweimal hat zurückgestellt werden müssen, während der Tapeziergehilfe, ungestört in seinen glücklichen Träumen, noch immer in den Zimmern umherwandelt.

Florence ist bereit, ihren Vater und ihre neue Mama zu empfangen. Ob die Regungen, die in ihrer Brust pochen, im Schmerz oder Freude ihren Grund haben? – sie weiß es kaum. Aber das klopfende Herz rötet ihre Wangen und erhöht das Feuer ihrer Augen. Unten stecken sie die Köpfe zusammen und flüstern sich zu – denn sie sprechen stets leise, wenn von ihr die Rede ist – wie schön Miß Florence heute abend aussehe und was für eine liebliche Lady sie geworden sei, das liebe Herz! Es folgt eine Pause, und dann erklärt die Köchin in dem Gefühl, daß man von ihr, als der Präsidentin, ihre Ansicht erwarte, sie möchte nur wissen, ob – aber der Vortrag geht nicht weiter. Auch die Hausmagd möchte wissen – desgleichen Mrs. Perch, die die glückliche soziale Eigenschaft hat, stets neugierig zu sein, wenn es andere sind, ohne es gerade mit dem Gegenstand besonders genau zu nehmen. Mr. Towlinson, dem die Gelegenheit günstig scheint, die Stimmung der Damen zu seiner eigenen Skepsis herabzudrücken, meint, sie sollten nur abwarten und sehen; ihm für seine Person wäre es lieb, wenn gewisse Personen gut wegkämen. Die Köchin wirft mit einem Seufzer die Bemerkung hin: »Ach, es ist eine seltsame Welt – jawohl!« geht um den Tisch herum und fügt im Ton der Überzeugung bei, »aber Miß Florence kann es bei keinem Wechsel noch schlimmer ergehen, Tom.« Mr. Towlinson antwortet mit schrecklicher Bedeutsamkeit: »O, es kann noch ganz anders kommen!« und verstummt sodann in dem Gefühl, daß man kaum prophetischer sprechen oder etwas Weiteres hinzufügen könne.

Mrs. Skewton, die ihre liebe Tochter und den teuren Schwiegersohn mit offenen Armen empfangen will, ist für diesen Zweck ungemein passend in ein sehr jugendliches Kostüm mit kurzen Ärmeln gehüllt. Zur Zeit blühen übrigens ihre reifen Reize noch in dem Schatten ihrer eigenen Zimmer, die sie vor einigen Stunden bezogen und nicht verlassen hat. Sie ist sehr ärgerlich wegen der Verspätung des Diners. Ihr Mädchen aber, das die Stelle des Gerippes mit der Sense so gut vertreten könnte, obschon sie im übrigen als eine hübsche Jungfer erscheint, ist überfroh, weil sie meint, daß ihr Vierteljahrlohn jetzt sicherer sei und auch, was Kost und Wohnung angehe, eine Änderung zum Besseren bevorstehe.

Wo ist das glückliche Paar, auf das eine so wackere Heimat wartet? Lassen Dampf, Flut, Wind und Pferde in ihrer Eile nach, um länger Zeugen eines solchen Glückes zu bleiben? Werden sie auf ihrem Weg durch die Scharen von Liebesgöttinnen und Grazien zurückgehalten, die sie umschwärmen? Blühen so viele Blumen auf ihrem glücklichen Pfad, daß sie kaum vorwärts kommen können, ohne sich in dornenlosen Rosen und süßduftendem Gesträuch zu verstricken?

Sie sind endlich da! Rädergerassel wird hörbar und kommt immer näher, bis der Wagen vor der Tür haltmacht. Ein donnerndes Klopfen kommt Mr. Towlinson und dem übrigen Hausgesinde, das zum Öffnen nach der Tür eilt, zuvor. Mr. Dombey steigt aus mit seiner Gattin, bietet ihr den Arm und tritt ein.

»Meine süßeste Edith«, ruft aus dem ersten Stock eine Stimme. »Mein teuerster Dombey!«

Und die kurzen Ärmel sind in voller Tätigkeit, um abwechselnd ihn oder sie zu umarmen.

Florence war auch nach der Halle heruntergekommen, ohne jedoch näher zu treten, da sie ihren schüchternen Willkomm aufsparen wollte, bis sich das mehr berechtigte, wertvollere Entzücken etwas gelegt hätte. Aber Ediths Augen suchten sie schon von der Schwelle aus, und nachdem die neue Mrs. Dombey ihre Mutter mit einem Kusse auf die Wange abgefertigt hatte, eilte sie auf das Mädchen zu, um es zu umarmen.

»Wie geht es dir, Florence?« sagte Dombey, seine Hand ausstreckend.

Als Florence dieselbe zitternd zu ihren Lippen erhob, begegnete sie seinem Blick. Er war kalt und abgemessen genug. Aber ihr Herz glaubte etwas mehr Teilnahme darin zu entdecken, als je zuvor. Er drückte sogar eine Art leichter Überraschung – nicht unangenehmer Überraschung bei ihrem Anblick aus. Sie wagte es nicht, ihr Auge abermals zu dem seinigen zu erheben, fühlte aber, daß er sie wieder anschaute und daß der Eindruck nicht weniger günstig war. O, welch ein freudiges Beben durchschauerte sie sogar bei dieser unhaltbaren und grundlosen Bestätigung ihrer Hoffnung, daß es ihr durch ihre neue, schöne Mama gelingen werde, seine Liebe zu gewinnen!

»Ihr werdet vermutlich nicht lange zum Umkleiden brauchen, Mrs. Dombey?« sagte Mr. Dombey.

»Es ist bald geschehen«, versetzte Edith.

»Das Diner muß in einer Viertelstunde bereitstehen.«

Mit diesen Worten verfügte sich Mr. Dombey stattlichen Schritts nach seinem Ankleidezimmer, während Mrs. Dombey zu gleicher Zeit nach dem ihren hinaufging. Mrs. Skewton begab sich mit Florence in das Besuchszimmer, wo diese trefflichste der Mütter es für ihre Pflicht hielt, über das vermeintliche Glück ihrer Tochter einige ununterdrückbare Tränen zu vergießen. Sie war noch recht sorgfältig im Abtrocknen derselben begriffen – ein Geschäft, das sie mit dem Ende ihres spitzengesäumten Tuches verrichtete, als ihr Schwiegersohn erschien.

»Und wie hat mein teuerster Dombey jene lieblichste von allen Städten – Paris – gefunden?« fragte sie, ihre Erregtheit niederkämpfend.

»Es war kalt«, entgegnete Mr. Dombey.

»Aber natürlich so lebhaft, wie immer«, sagte Mrs. Skewton.

»Nicht besonders. Es kam mir langweilig vor«, versetzte Mr, Dombey.

»Pfui, mein teuerster Dombey«, erwiderte sie schalkhaft. »Langweilig!«

»Es machte diesen Eindruck auf mich, Madame«, sagte Mr. Dombey mit ernster Höflichkeit. »Ich glaube, Mrs. Dombey hat es auch langweilig gefunden. Wenigstens äußerte sie sich ein- oder zweimal gegen mich auf diese Weise.«

»Ach, du garstiges Mädchen!« rief Mrs. Skewton ihrem lieben Kinde zu, das in diesem Augenblick eintrat – »was für schrecklich ketzerische Äußerungen hast du dir über Paris erlaubt!«

Edith erhob matt die Augenbrauen, ging, ohne einen Blick danach zu werfen, an der Flügeltür, die geöffnet war, um die Zimmerreihe mit ihrer neuen schönen Ausstattung zu zeigen, vorbei und setzte sich an Florences Seite nieder.

»Mein teurer Dombey«, sagte Mrs. Skewton, »wie entzückend diese Leute jede von uns angedeutete Idee ausgeführt haben! Das Haus ist unter ihren Händen zu einem wahren Palast geworden.«

»Es ist schön«, sagte Mr. Dombey, umherschauend. »Ich habe die Weisung erteilt, daß man keine Kosten sparen solle, und glaube, es ist alles geschehen, was durch Geld erzielt werden kann.«

»Und was wäre nicht damit zu erzielen, lieber Dombey?« bemerkte Cleopatra.

»Geld ist Macht, Madame«, sagte Mr. Dombey.

Er schaute in der gewohnten feierlichen Weise nach seiner Gattin hin, die übrigens keine Silbe darauf erwiderte.

»Ich hoffe, Mrs. Dombey«, fuhr Mr. Dombey nach einer kurzen Pause mit besonderer Bestimmtheit gegen sie fort, »daß diese Veränderungen Euren Beifall finden?«

»Sie sind so schön, wie sie sein können«, versetzte sie mit stolzer Gleichgültigkeit. »Sie müssen es natürlich sein, und deshalb vermute ich auch, daß es der Fall ist.«

Ein Ausdruck von Verachtung lag gewöhnlich auf dem stolzen Gesicht und schien sich davon nicht trennen zu lassen. Aber die Geringschätzung, mit der sie jedes, auch das unbedeutendste Merkmal von Bewunderung oder Achtung seines Reichtums aufnahm, bildete in ihrem Antlitz einen neuen, ganz eigenartigen Zug von so kräftigem Gepräge, daß er mit keinem früheren einen Vergleich aushielt. Ob Mr. Dombey, in den Mantel seiner Größe gehüllt, dies wußte oder nicht? Jedenfalls hatte es ihm nicht an Gelegenheit zu Belehrung gefehlt, und in jenem Augenblick konnte ihm der einzige Blick des dunkeln Auges, der auf ihn niederfiel, nachdem sie rasch und gleichgültig die Gegenstände des erwähnten Selbstlobes gemustert hatte, allen wünschenswerten Aufschluß geben. Dieser Blick sagte ihm: nichts, was durch seinen Reichtum selbst in zehntausendfacher Steigerung erzielt werden konnte, vermochte dieser trotzigen Frau, die an ihn gefesselt war, obschon ihre ganze Seele sich gegen ihn empörte, eine Äußerung oder Miene der Anerkennung zu entringen. Er hätte in diesem Blick lesen können, daß sie seine Schätze schon wegen des schmutzigen, zur Sinnbegierde führenden Einflusses, den sie auf sie selbst geübt hatten, verachte. Zwar nahm sie diese Schätze kraft des geschlossenen Handels für sich in Anspruch – als schnöden, wertlosen Ersatz dafür, daß sie sein Weib geworden war. Er hätte darin lesen können, daß, wenn sie ohnehin schon stets ihr Haupt dem Blitz ihres Stolzes und ihrer Selbstverachtung preisgab, die geringste Anspielung auf seinen Reichtum sie aufs neue herabwürdigte, das verzehrende Gefühl ihres Innern erhöhte und die vom Fluch getroffene Wüste in ihrem Herzen noch öder machte.

Das Diner wurde angekündigt. Mr. Dombey bot Cleopatra seinen Arm, und Edith folgte mit Florence. An der Schaustellung von Gold und Silber auf dem Seitentisch vorbeirauschend, als ob es aufgehäufter Straßenstaub wäre, und die elegante Umgebung keines Blickes würdigend, nahm sie zum erstenmal an dem Tisch Platz und blieb während des ganzen Mahles wie eine Statue sitzen.

Mr. Dombey, der sich gleichfalls ziemlich wie eine Statue ausnahm, war nicht unzufrieden mit der Kälte, dem Stolz und der Unbeweglichkeit seiner Gattin. Da ihre Haltung stets Eleganz und Anmut zeigte, so stand ihr Benehmen im allgemeinen mit seinen eigenen Empfindungen vollkommen im Einklang. Deshalb führte er jetzt mit seiner gewohnten Würde den Vorsitz. Ohne von sich selbst Wärme und Heiterkeit auf Edith überstrahlen zu lassen, trug er mit kalter Selbstgefälligkeit seinen Anteil zu den Honneurs der Tafel bei. So verlief das erste Mahl in dem neuen Heim von oben her gesehen in höflicher, zeremonieller, frostiger Weise, wenn man gleich in der Küche unten diesen Anfang nicht für sehr verheißungsvoll zu halten geneigt war.

Bald nach dem Tee begab sich Mrs. Skewton zu Bett; denn sie war, wie sie sagte, völlig erschöpft von den Aufwallungen des Entzückens, weil sie nun ihre Tochter mit dem Mann ihres Herzens vereint sah. Zwar mochte ihr dieses Familienleben an sich ziemlich langweilig vorkommen, wenn man aus ihrem hinter dem Fächer verborgenen, fast unablässigen Gähnen einen maßgebenden Schluß ziehen durfte. Auch Edith zog sich schweigend zurück, um nicht wieder zu erscheinen. So fügte es sich, daß Florence, die droben gewesen war, um sich mit Diogenes zu unterhalten, als sie mit ihrem Arbeitskörbchen wieder nach dem Speisezimmer kam, nur noch ihren Vater antraf, der in traurig anzusehender Großartigkeit auf und nieder ging.

»Ich bitte um Verzeihung, soll ich wieder fortgehen, Papa?« fragte Florence schüchtern, während sie unter der Tür stehenblieb.

»Nein«, versetzte Mr. Dombey, über die Schultern nach ihr hinblickend. »Du kannst hier nach Belieben ein- und ausgehen, Florence. Das ist nicht mein Privatzimmer.«

Florence trat ein und setzte sich mit ihrer Arbeit an einen kleinen Seitentisch. Es war – seit sie sich von ihrer frühesten Kindheit auf entsinnen konnte – das erstemal, daß sie sich bei ihrem Vater allein befand. Sie, seine natürliche Gefährtin, sein einziges Kind, das in seinem einsamen Leben den vollen Gram eines brechenden Herzens erlitten – das in seiner zurückgewiesenen Liebe während seiner nächtlichen Gebete den Namen des Vaters nie anders gehaucht als mit einem tränenreichen Segenswunsch, einem Segen, noch schwerer auf ihm lastend als ein Fluch – das zum Himmel gefleht, er möge es doch jung abrufen, damit es nur in seinen Armen sterben könne – das den Schmerz kalter Vernachlässigung und Abneigung stets nur mit anspruchsloser Liebe getragen, ja sogar ihn entschuldigt und für ihn gebetet hatte, wie sein besserer Engel!

Sie zitterte, und ihre Augen wurden trübe. Seine Gestalt schien, während er im Zimmer auf und ab ging, sich nach allen Richtungen auszudehnen; jetzt erschien ihr alles wirr und unbestimmt durcheinander, dann wieder klar und deutlich. Ja, es kam ihr bisweilen vor, als habe sie nicht die Gegenwart vor sich, sondern ihre ganze Umgebung sei ein Bild aus vielen, vielen vergangenen Jahren. Ihr Herz fühlte sich zu ihm hingezogen; und doch wagte sie es nicht, sich ihm zu nähern. Eine unnatürliche Erregung in einem Kind, das sich keiner Schuld bewußt war – eine unnatürliche Hand, die den scharfen Pflug gefühlt und in einem edlen Wesen solche Furchen aufgeworfen hatte, um ihre Saat hineinzustreuen!

Um ihm durch ihren Kummer keinen Anstoß zu geben, tat sich Florence Gewalt an und blieb ruhig bei ihrer Arbeit sitzen. Nachdem er noch einige Male durch das Zimmer gegangen war, zog er sich in eine schattige Ecke zurück, wo ein Lehnstuhl stand, bedeckte den Kopf mit seinem Taschentuch und schickte sich zum Schlafen an.

Es war für Florence genug, dasitzen und ihn ansehen zu können. Von Zeit zu Zeit warf sie ihre Blicke nach dem Stuhl hin und beschäftigte sich unablässig, selbst wenn ihre Augen emsig auf ihrer Arbeit hafteten, mit seinem Bild. Der Gedanke, daß er schlafen konnte, während sie da war, und daß ihm ihre befremdliche, langversagte Nähe nicht die Ruhe raubte, bereitete ihr eine wehmütige Freude.

Was würde sie wohl gedacht haben, wenn sie gewußt hätte, daß er nicht schlief, daß der Schleier über seinem Gesicht – sei es absichtlich oder aus Zufall – die Augen frei ließ und daß er keinen Blick von ihrem Antlitz verwandte – daß, wenn sie in die dunkle Ecke nach ihm hinsah, ihre sprechenden Augen den seinen begegneten, ernster und ergreifender in ihrer stummen Klage, als alle Redner der Welt – daß er leichter aufatmete, sooft sie das Haupt wieder gegen ihre Arbeit senkte, obgleich er dann mit derselben Aufmerksamkeit ihre weiße Stirne, ihr wallendes Haar und ihre geschäftigen Hände betrachtete, als wirke das Bild vor ihm wie ein bannender Zauber?

Sogar in dem Leben der härtesten Männer gibt es weichere Augenblicke, obschon das meist als ein Geheimnis verwahrt bleibt. Der Anblick der Tochter in ihrer Schönheit, der Tochter, die sich ohne sein Vorwissen fast zur Jungfrau entwickelt hatte, mochte auch in seiner stolzen Existenz solch einen Augenblick wachgerufen haben. Vielleicht tauchte der flüchtige Gedanke in ihm auf, daß in seiner Nähe eine glückliche Heimat lag, die er in seiner anmaßenden Starrheit übersah und der er auswich, bis er völlig in der Irre war.

Eine einfache Beredsamkeit, nicht in Worten auszudrücken, lag in ihren Blicken, obschon er selbst nicht wußte, daß er sie schon einmal vernommen hatte: »Bei den Sterbebetten, an denen ich stand, bei meiner kummervollen Kindheit, bei unserm mitternächtlichen Zusammentreffen in diesem traurigen Hause, bei dem Schrei, der sich mir in der Beklommenheit meines Herzens entrang, beschwöre ich dich, o Vater, kehre dich zu mir und suche eine Zuflucht in meiner Liebe, ehe es zu spät ist.« Das ahnte er vielleicht in diesen Augenblicken, die möglicherweise auch aus gemeineren Gedanken stammten, nämlich daß etwa sein toter Knabe jetzt durch neue Bande ersetzt sei und er nunmehr vergeben könne, wenn er durch sie aus dessen Liebe verdrängt wurde. Denkbar, daß auch schon der Gedanke, daß sie unter dem vielen Pomp, der ihn umgab, eine weitere Zierde sein könne, ausschlaggebend war. Kurz, je mehr er sie betrachtete, desto milder wurde er gegen sie gestimmt. Sie verschmolz vor seinen Blicken mit dem Kinde, das er geliebt hatte, und er konnte die beiden kaum mehr trennen. Vorübergehend erschien sie ihm in einem klareren, helleren Lichte, nicht als seine Nebenbuhlerin – o des ungeheuerlichen Gedankens – über den Pfühl jenes Kindes gebeugt, sondern als der Schutzgeist seiner Heimat, der sich nicht weniger zärtlich an ihn anzuschmiegen wünschte, als er ein anderes Mal mit aufgestütztem Haupt zu den Füßen des kleinen Bettes saß. Er fühlte einen Antrieb, mit ihr zu sprechen und sie zu sich zu rufen. Die Worte: »Florence, komm her!« drängten sich – freilich nur langsam und mit Schwierigkeit, da sie ihm so gar fremd waren – schon zu seinen Lippen, als sie durch einen Fußtritt auf der Treppe wieder zurückgehalten und erstickt wurden.

Es war der seiner Gattin. Sie hatte den Anzug für die Tafel gegen ein leichtes Nachtgewand vertauscht, und das aufgelöste Haar wallte frei um ihren Nacken. Doch dies war nicht die Veränderung an ihr, die ihn betroffen machte. »Meine liebe Florence«, sagte sie, »ich habe dich überall gesucht.«

Sie setzte sich neben Florence nieder, neigte das Haupt und küßte ihre kleine Hand. Seine Gattin war so sehr verändert, daß er sie kaum mehr kannte. Nicht bloß, daß ihm ihr Lächeln neu war, obschon er es nie zuvor gesehen, sondern ihr Wesen, der Ton ihrer Stimme, das Licht ihrer Augen, die Teilnahme, das Vertrauen und der Wunsch, der sich in allem ausdrückte, einen gewinnenden Eindruck zu machen – nein, dies war nicht Edith.

»Leise, liebe Mama. Papa schläft.«

Jetzt war es wieder Edith.

Sie schaute nach der Ecke hin, wo er saß – ja dieses Gesicht und diese Haltung kannte er sehr gut.

»Ich hätte nicht gedacht, dich hier zu finden, Florence.«

Wieder, wie verändert, wie sanft – und das in einem Augenblick.

»Ich bin früh aufgebrochen«, fuhr Edith fort, »um noch eine Weile mit dir zusammenzusitzen und zu sprechen. Aber als ich auf dein Zimmer kam, war mein Vögelchen ausgeflogen, und ich wartete seitdem dort auf seine Rückkehr.«

Wenn Florence wirklich ein Vögelchen gewesen wäre, so hätte sie es nicht zärtlicher und sanfter an ihre Brust drücken können.

»Komm, meine Liebe!«

»Ich denke, Papa wird mich nicht mehr erwarten, wenn er erwacht«, versetzte Florence zögernd.

»Glaubst du, er werde Florence?« sagte Edith, sie voll ansehend.

Florence senkte den Kopf, erhob sich und nahm ihr Arbeitskörbchen auf. Edith legte die kleine Hand in ihren Arm, und sie verließen das Gemach wie zwei Schwestern. Sogar ihr Fußtritt kam Mr. Dombey anders und so ganz neu vor, als seine Augen ihr nach der Tür folgten.

Er blieb in seinem schattigen Winkel so lange sitzen, daß die Kirchturmuhren noch dreimal die Stunde ausriefen, ehe er sich in jener Nacht von der Stelle bewegte. Diese ganze Zeit über blieb sein Gesicht angelegentlich dem Platz zugekehrt, wo Florence gesessen hatte. Die Lichter brannten herab und erloschen; das Zimmer wurde dunkel, aber um sein Gesicht breitete sich ein Düster, das das der Nacht noch übertraf.

In dem abgelegenen Gemache, wo der kleine Paul gestorben war, saßen Florence und Edith vor dem Feuer und sprachen noch lange miteinander. Diogenes, der auch dabei war, erhob anfangs Einwürfe dagegen, daß Edith zugelassen war. Dann fügte er sich aus gewohnter Unterwürfigkeit dem Wunsch seiner Gebieterin, nur mit knurrendem Protestieren. Hin und wieder aus dem Vorzimmer hereinguckend, wohin er zur Strafe verwiesen worden, schien er übrigens bald zu begreifen, daß er in der anerkennenswertesten Absicht einen von jenen Mißgriffen begangen habe, deren sich bisweilen die beste Hundeseele schuldig macht. Deshalb pflanzte er sich in freundlicher Abbitte an einem sehr heißen Platz vor dem Feuer zwischen den beiden auf. Da blieb er denn mit heraushängender Zunge und einem sehr schüchternen Gesichtsausdruck keuchend sitzen, um der Unterhaltung zuzuhören.

Sie drehte sich anfänglich um Florences Bücher, ihre Lieblingsbeschäftigungen und um die Art, wie sie seit dem Hochzeitstag ihre Zeit verbracht hatte. Dies führte auf einen Gegenstand, der dem Mädchen sehr nahe am Herzen lag, und sie sagte unter hervorquellenden Tränen:

»O, Mama, ich bin seit jener Zeit in große Trauer versetzt worden.«

»Du, in große Trauer, Florence?«

»Ja. Der arme Walter ist ertrunken.«

Florence breitete ihre Hände vor das Gesicht und weinte aus tiefstem Herzen. Wie viele Tränen hatte ihr nicht Walters Tod im geheimen bereitet; und sie flossen noch immer, wenn sie an ihn dachte oder von ihm sprach.

»Aber sage mir, meine Liebe«, entgegnete Edith, sie beschwichtigend, »wer war Walter, und was war er dir?«

»Er war mir ein Bruder, Mama. Als der liebe Paul starb, sagten wir uns, wir wollten Bruder und Schwester sein. Ich habe ihn lange vorher gekannt – von Kindheit an. Er kannte Paul, der ihn sehr liebte, und fast mit seinem letzten Atem sagte Paul noch: ›Vergeßt Walter nicht, lieber Papa! er ist mir lieb gewesen!‹ Walter wurde herbeigeholt, damit er ihn noch einmal sehe, und er war damals hier – in diesem Zimmer.«

»Und hat er Walter nicht vergessen?« fragte Edith ernst.

»Papa? Er bestimmte ihn für eine Reise übers Meer. Das Schiff ging unter, und er ertrank«, sagte Florence schluchzend.

»Ist ihm bekannt, daß er tot ist?« fragte Edith.

»Ich weiß es nicht, Mama. Wie sollte ich auch? Liebe Mama«, rief Florence, gleichsam Hilfe suchend, sich an sie anklammernd und ihr Antlitz an ihrem Busen verbergend, »ich weiß, Ihr habt gesehen –«

»Halt – halt, Florence!« Edith wurde so blaß und sprach so angelegentlich, daß sie nicht nötig gehabt hätte, ihre Hand auf Florences Lippen zu legen, »Erzähle mir zuerst alles von Walter, damit ich klar sehe in dieser Geschichte.«

Florence erstattete ihren Bericht bis zu der Freundschaft des Mr. Toots herunter, von dem sie sogar in ihrem Kummer kaum ohne ein tränenvolles Lächeln sprechen konnte, obschon sie sich ihm zu tiefem Dank verpflichtet fühlte. Edith hielt während der ganzen Mitteilung die Hand der Sprecherin in der ihren und hörte mit großer Aufmerksamkeit zu. Als Florence geendet, folgte ein Schweigen, das sie mit den Worten unterbrach:

»Was meinst du, das ich gesehen haben soll, Florence?«

»Daß ich«, entgegnete Florence mit derselben stummen Berufung und dem nämlichen raschen Verbergen ihres Gesichts, wie früher – »daß ich kein begünstigtes Kind bin, Mama. Ich war es nie und wußte es nie recht anzufangen, um es zu werden. Ich habe den Weg verfehlt, und es stand mir niemand zur Seite, der mir ihn wies. O laßt mich von Euch lernen, was ich tun muß, um meinem Papa lieber zu werden. Lehrt mich es – Ihr, die Ihr Euch so gut darauf versteht.«

Florence, die sich nun ihres traurigen Geheimnisses entladen sah, schmiegte sich mit einigen gebrochenen Worten glühenden liebevollen Dankes an ihre neue Mutter und weinte lange, obschon nicht so schmerzlich, wie früher, in deren Armen.

Blaß bis in die Lippen und mit einem Antlitz, das um Fassung rang, bis die stolze Schönheit desselben so starr wurde, wie der Tod, blickte Edith auf das weinende Mädchen nieder und küßte es abermals. Dann machte sie sich allmählich los und drängte Florence zurück. Ihre Haltung gewann die stolze Ruhe eines Marmorbildes, und sie erwiderte mit einer Stimme, die während des Sprechens wohl tiefer wurde, aber kein anderes Zeichen von Erregung kundgab:

»Florence, du kennst mich nicht! Verhüte der Himmel, daß du von mir lernen solltest.«

»Nicht von Euch lernen?« erwiderte Florence überrascht.

»Gott sei vor, daß ich dich lehre, wie man lieben oder geliebt werden muß!« sagte Edith. »Wenn du es mich lehren könntest, so wäre es wohl besser; aber es ist zu spät. Du bist mir so lieb, Florence. Ich hätte nicht geglaubt, daß mir irgend etwas je so lieb werden könnte, wie du mir es schon nach so kurzer Zeit bist.«

Sie bemerkte, daß Florence sprechen wollte, weshalb sie ihr mit der Hand Einhalt tat und fortfuhr:

»Ich will dir stets eine treue Freundin sein – will dich ebenso sehr, wenn auch nicht so gut pflegen, wie nur irgend jemand in dieser Welt es könnte. Du darfst mir vertrauen – ich weiß es, und sage es deshalb, mein liebes Kind – mit der ganzen Zuversicht deines reinen Herzens. Es gibt eine Menge von Frauen, die er hätte heiraten können und die in jeder andern Beziehung besser und zuverlässiger gewesen wären, als ich, Florence. Aber gewiß ist nicht eine vorhanden, deren Herz, wenn sie als seine Gattin hierhergekommen wäre, mit innigerer Treue für dich geschlagen haben würde, als das meine.«

»Ich weiß es, liebe Mama!« rief Floren«. »Von jenem ersten überglücklichen Tage an habe ich es gewußt.«

»Überglücklichen Tag?« Edith schien die Worte unwillkürlich zu wiederholen und fuhr dann fort: »Obschon mir dabei kein Verdienst zukommt, da ich nur wenig an dich dachte, bis ich dich sah, so laß mich doch den unverdienten Lohn in deinem Vertrauen und in deiner Liebe finden. Ich bitte dich darum, Florence, in der ersten Nacht, die ich hier zubringe. Ich habe meine guten Gründe, dir das zum ersten- und zum letztenmal zu sagen.«

Ohne zu wissen, warum, fürchtete sich Florence fast, ihren weiteren Worten zu folgen; sie verwandte jedoch kein Auge von dem schönen Gesicht, das stets dem ihrigen zugekehrt war.

»Suche nicht, in mir zu finden«, sagte Edith, die Hand auf ihre Brust legend, »was nicht hier ist. Wenn du anders kannst, Florence, so falle nicht von mir ab, weil es nicht hier ist. Du wirst mich allmählich besser kennenlernen, und die Zeit ist wohl nicht fern, in der du mich erkennen wirst, wie ich mich selbst erkenne. Sei dann so mild gegen mich, wie es dir möglich ist, und verwandle nicht die einzige süße Erinnerung, die mir bleiben wird, in Bitterkeit.«

Die Tränen, die in den sich nicht von Florence abwendenden Augen sichtbar wurden, zeigten, daß das ruhige Gesicht nur eine schöne Maske war. Sie behielt diese jedoch bei und fuhr fort:

»Ich habe in der Tat gesehen, was du andeutest, und weiß, wie wahr es ist. Aber glaube mir – du wirst es bald lernen, wenn du es nicht jetzt schon weißt –, auf der ganzen Erde ist niemand weniger geeignet, die Rolle einer Vermittlerin zu übernehmen, oder dir zu helfen, Florence, als ich. Frage mich nicht um den Grund – sprich nie mehr mit mir hiervon oder über meinen Mann. Wir können hier nie einen Sinnes werden, und es muß darüber zwischen uns beiden ein Schweigen herrschen, wie das des Grabes.«

Sie blieb eine Weile stumm, und Florence wagte kaum zu atmen, da trübe, unvollkommene Schatten der Wahrheit mit ihren alltäglichen Folgen in ihrer erschreckten, aber noch immer ungläubigen Einbildungskraft Schlag auf Schlag vorbeihuschten. Kaum aber hatte Edith zu sprechen aufgehört, als ihr Gesicht wieder den ruhigeren, sanften Ausdruck gewann, den es gewöhnlich zeigte, wenn sie und Florence allein waren. Sie verhüllte jetzt ihr Antlitz mit den Händen, stand auf, sagte Florence mit einer liebevollen Umarmung gute Nacht und entfernte sich rasch, ohne sich noch einmal umzuschauen. Als jedoch Florence im Bette lag und im Zimmer nur noch die Glut des fast erloschenen Feuers einiges Licht verbreitete, kehrte Edith zurück. Sie könne nicht schlafen, sagte sie, und in ihrem Ankleidezimmer sei es so einsam. Sie rückte deshalb einen Stuhl vor den Kamin und sah den ersterbenden Fünkchen zu. Florence tat das gleiche von ihrem Bett aus, bis der letzte Schimmer davon und die edle Gestalt davor mit ihrem herabfließenden Haar und den gedankenvollen Augen, die das Licht widerstrahlten, wirr und unbestimmt wurden, um sich endlich in ihrem Schlummer ganz zu verlieren.

Aber auch im Schlafe haftete an Florence ein unbestimmter Eindruck dessen, was kürzlich vorgegangen war. Er bildete den Gegenstand ihrer Träume und umspukte sie bald in einer, bald in einer andern Gestalt, aber stets beklemmend und Furcht einflößend. Es träumte ihr, sie suche ihren Vater in Wildnissen; sie folge seiner Spur nach Entsetzen erregenden Höhen hinauf, und in tiefe Gruben und Höhlen hinunter. Es liege ihr etwas Unbestimmtes auf dem Herzen, womit sie ihm ein außerordentliches Leiden abnehmen könne, obschon sie – der Grund davon wurde ihr nicht klar – nie das Ziel zu erreichen und ihn zu befreien vermochte. Dann sah sie ihn tot auf demselben Bett, in demselben Zimmer, mit dem Bewußtsein, daß er sie bis zum letzten Augenblick nie geliebt habe, und unter leidenschaftlichen Tränen sank sie an seine kalte Brust. Eine Aussicht tat sich vor ihr auf mit einem strömenden Fluß, und sie hörte eine ihr bekannte, klägliche Stimme rufen: »Er läuft fort, Floy! Er hat nie haltgemacht! Du schwimmst mit ihm!« Und sie sah ihn in der Ferne, wie er seine Arme nach ihr ausstreckte, während eine Gestalt, der Walters ähnlich, lautlos und in schauerlicher Ruhe an seiner Seite stand. Jedem dieser Gesichte gesellte sich Edith hinzu – das eine Mal ihr zur Freude, das andere Mal ihr zum Schmerz, bis sie allein nebeneinander standen an dem Rand eines schwarzen Grabes. Edith deutete darauf nieder. Sie sah hinab und erblickte – was? – eine andere Edith auf dessen Grund!

In ihrem Schrecken über diesen Traum schrie sie laut hinaus und erwachte – so glaubte sie wenigstens. Eine sanfte Stimme schien ihr ins Ohr zu flüstern: »Florence, liebe Florence, es ist nur ein Traum!« Ihre Arme ausstreckend, erwiderte sie die Liebkosungen ihrer Mama, die sodann zur Tür hinausging in das Licht des grauen Morgens. Florence richtete sich für einen Augenblick auf und machte sich Gedanken, ob das Wirklichkeit gewesen war oder nicht. Sie konnte nur ermitteln, daß der Morgen in der Tat dämmerte, daß in dem Kamin schwarze Asche lag, und daß sie allein war.

So entschwand die Nacht nach der Ankunft des glücklichen Paares in der Heimat.