Dritter Teil


Dritter Teil

Sechs Jahre war die Welt seit dieser Nacht älter geworden. Es war ein warmer Herbstnachmittag, und ein starker Regen war gefallen. Die Sonne brach plötzlich aus den Wolken hervor, die alte Walstatt strahlte ihr ein Willkommen entgegen, das sich über das ganze Land verbreitete, als sei ein Freudenfeuer angezündet, das von tausend Orten Antwort winkte. Schön lag die Landschaft glitzernd im Lichtschein da, ein reicher, üppiger Hauch glitt dahin wie himmlische, alles erhellende Gegenwart. Der Wald, eben noch eine dunkle, schwarze Masse, spielte in bunten Farben von gelb, grün, braun und rot. Regentropfen sanken zitternd und funkelnd von den Blättern seiner Bäume nieder. Das grünende Wiesenland im Sonnenglanz, eben noch blind gewesen, hatte seine Augen wieder aufgeschlagen und blickte empor in den leuchtenden Himmelsraum. Die Kornfelder, Hecken und Zäune, die Hütten, die dicht gedrängten Dächer, Kirchturm, Bach und Mühle, alles trat lächelnd aus nebelgrauem Dunkel hervor. Lieblich sangen die Vögel, Blumen erhoben das Haupt, und frischer Geruch stieg aus dem feuchten Boden empor. Die blauen Streifen, hoch oben, wurden größer und weiter, und die schrägen Strahlen der Sonne trafen mit tödlichem Pfeil die Wolkenwand, die noch zu fliehen zögerte. Ein Regenbogen, der Inbegriff aller Farben, die Erde und Himmel schmücken, wölbte sich triumphierend über den ganzen Horizont.

Um diese Stunde zeigte eine kleine Schenke an der Straße, lauschig versteckt hinter einer großen Ulme mit einer köstlichen Ruhebank um den dicken Stamm, ihr freundliches Gesicht dem Wanderer, wie es sich für ein Wirtshaus geziemt, und winkte mit stummer, aber bedeutungsvoller Versicherung eines freundlichen Willkommens. Das rötliche Schild mit seinen goldenen, in der Sonne glänzenden Buchstaben lugte aus dem dunklen Laube des Baumes hervor wie ein fröhliches Gesicht und verhieß gute Bewirtung. Die Tränke voll reinen Wassers und auf dem Erdboden drunter Halme wohlriechenden Heus machten jedes Pferd, das vorbeiging, die Ohren spitzen. Die roten Vorhänge in den Zimmern zur ebenen Erde und die saubern weißen Gardinen in den kleinen Schlafzimmern oben winkten bei jedem Luftzug ein freundliches: Tritt ein! Auf den glänzend grünen Läden war in goldenen Buchstaben zu lesen von Bier und Ale, von guten Weinen und netten Betten, und darüber hing das beredte Bild einer schäumenden Trinkkanne. Auf den Fenstersimsen standen blühende Blumen in roten Töpfen, die sich lebendig von der weißen Front des Hauses abhoben, und in dem dunklen Torweg glänzten Streifen von Licht auf Flaschen und Zinnkrügen.

In der Türe erschien jetzt die saubere Gestalt eines Wirtes. Klein, aber rund und breit, stand der Mann da, die Hände in den Taschen und die Beine gerade weit genug gespreizt, um Zuversicht zu seinem Keller auszudrücken und sorgloses Vertrauen auf die Unterkunft, die die Schenke bieten könne, einzuflößen.

Die reichliche Nässe, die nach dem starken Regen von jedem Gegenstand herabtröpfelte, paßte recht gut zu dem Mann. Nichts war um ihn herum, das nach Durst aussah. Einige Dahlien mit schwerem Kopf, die über das Staket des nett gehaltenen Gartens guckten, hatten offenbar mehr getrunken, als sie vertragen konnten – vielleicht ein wenig zu viel – und schienen jetzt genug zu haben. Aber die Hagebutten, die Levkojen, die Zierpflanzen an den Fenstern und die Blätter des alten Baumes waren in der gehobenen Stimmung von mäßigen Leuten, die nie mehr zu sich nehmen, als ihnen gesund ist, und doch Sorge tragen, ihre besten Eigenschaften zur Entfaltung zu bringen. Wie sie klare Tropfen auf dem Boden verstreuten, schienen sie harmlose sprühende Fröhlichkeit reichlich zu spenden und Gutes zu wirken, wo sie sie hinwerfen, vernachlässigte Winkel betauend, die den Regen nur selten sahen.

Diese Dorfschenke hatte bei ihrem Entstehen ein ungewöhnliches Zeichen gewählt. Sie führte den Namen »Zum Muskatnußreiber«. Und unter diesem Wort stand auf demselben rotflammenden Schild im dunkeln Laub und ebenfalls in goldenen Buchstaben: Benjamin Britain.

Ein zweiter Blick auf die Gesichtszüge und eine genauere Betrachtung verriet, daß Benjamin Britain in eigener Person in der Türe stand – ein wenig verändert zwar gegen früher, aber nur zu seinem Vorteil; ein recht gemütlicher, stattlicher Gastwirt.

»Mrs. B.«, sagte Mr. Britein und sah die Straße hinab, »bleibt etwas lange. Es ist Teezeit.«

Da noch immer keine Mrs. Britain zu entdecken war, schlenderte er langsam bis in die Mitte der Straße und warf einen Blick voll Zufriedenheit auf das Haus. »Sieht ganz so aus wie eine Wirtschaft, in die ich selbst einkehren möchte, wenn es nicht meine eigene wäre.« Dann schlenderte er an das Gartenstaket und betrachtete die Dahlien. Sie blickten über ihn hinweg mit hilflos und schläfrig hängenden Köpfen und nickten jedesmal, wenn die schweren Regentropfen von ihnen auf den Boden fielen.

»Für euch muß Sorge getragen werden«, sagte Benjamin. »Darf nicht vergessen, es ihr zu sagen. Wo sie nur so lange bleibt.«

Mr. Britains Ehehälfte schien in so hohem Maße seine bessere Hälfte zu sein, daß er ohne sie ratlos und verloren war.

»Sie hat doch nicht so viel zu besorgen, glaube ich«, sagte Ben, »ein paar Geschäfte nach dem Markt abzumachen, aber nicht viel. Aha, da kommen wir endlich.«

Ein Sesselwägelchen, kutschiert von einem Burschen, kam die Straße dahergerasselt, und darin, einen großen durchnäßten Regenschirm hinter sich zum Trocknen aufgespannt, saß die behäbige Gestalt einer Frau gesetztem Alters, die bloßen Arme über einem Korb, den sie auf dem Schoße trug, verschränkt und verschiedene andere Körbe und Pakete um sich herum. Ein gewisser freundlicher, gutmütiger Ausdruck in ihrem Gesicht und eine zufriedene Art von Unbehilflichkeit, wie sie von den Stößen des Wagens auf ihrem Sitze hin und her schwankte, erinnerten schon aus der Ferne an alte Zeiten. Bei ihrem Näherkommen trat dies noch deutlicher hervor, und als das Fuhrwerk an der Schenke »Zum Muskatnußreiber« hielt und ein Paar Schuhe schnell an Mr. Briteins offenen Armen vorbeischlüpften und aus dem Wagen stiegen und gewichtig auf den Boden trafen, da war kein Zweifel mehr: diese Schuhe gehörten niemand anders als Clemency Newcome.

Und sie gehörten ihr auch. Und Clemency stand in ihnen, die frische, rote, behäbige Person, die sie war, mit so rein gescheuertem Gesicht wie jemals, nur mit heilen Ellbogen, die jetzt sogar Grübchen zeigten.

»Du bleibst lange, Clemy«, sagte Mr. Britain.

»Du weißt, Ben, ich hatte eine Menge zu tun«, antwortete sie und beaufsichtigte rührig das Hineinschaffen ihrer Körbe und Pakete: »Acht, neun, zehn – wo ist elf? Ach, meine elf Körbe. Es ist alles in Ordnung. Schirre das Pferd ab, Harry, und wenn es wieder hustet, so gib ihm heute abend warme Streu. Acht, neun, zehn, wo ist nur elf? Ach ja, ich vergaß, es ist schon richtig. Was machen die Kinder, Ben?«

»Frisch und munter, Clemy.«

»Gott segne ihre lieben Gesichter!« sagte Mrs. Britain – mit ihrem Manne jetzt im Schenkzimmer –, band sich den Hut ab und strich sich das Haar mit der flachen Hand glatt.

»Gib mir einen Kuß, Alter!«

Mr. Britain beeilte sich, es zu tun.

»Ich glaube«, sagte Mrs. Britain, widmete sich ihren Taschen und zog einen riesigen Ballen dünner Bücher und zerknitterter Papiere, ein wahres Eselsohrendurcheinander, hervor, »ich habe alles erledigt. Alle Rechnungen bezahlt – die Rüben verkauft – die Brauerrechnung abgemacht – Tabakpfeifen bestellt – siebzig Pfund vier Shillinge in die Bank gezahlt – Dr. Heathfields Guthaben wegen der kleinen Clemy erledigt – du kannst dir schon denken, wie’s ausgefallen ist – Dr. Heathfield will wieder nichts nehmen, Ben.«

»Hab mir’s gleich gedacht«, bemerkte Britain.

»Ja. Er sagt, wie groß unsere Familie auch würde, er möchte dir nie einen halben Penny abnehmen dafür – nicht, wenn du zwanzig Kinder kriegen solltest.«

Mr. Britains Gesicht nahm einen sehr ernsten Ausdruck an, und er sah starr an die Wand.

»Ist das nicht hübsch von ihm?« sagte Clemency.

»Außerordentlich«, entgegnete Mr. Britain. »Aber ich möchte seine Freundlichkeit um keinen Preis mehr in Anspruch nehmen.«

»Nein«, stimmte Clemency bei. »Natürlich nicht. Dann ist das Pony – es hat acht Pfund zwei Shillinge abgeworfen – nicht schlecht, was?«

»Sehr gut«, sagte Ben.

»Es freut mich, daß du zufrieden bist. Ich dachte es mir gleich; so, das ist, glaub‘ ich, alles! Und jetzt nichts mehr von Geschäften und cetrera, Britain. Hahaha, da nimm die Papiere und schau sie durch. Halt, wart einen Augenblick. Hier ist ein neues Plakat. Frisch aus der Druckerei. Wie gut es riecht.«

»Was ist’s?« fragte Ben und sah das Blatt durch.

»Weiß ich nicht«, antwortete seine Frau. »Ich habe keine Silbe davon gelesen.«

»Öffentliche Feilbietung«, las der Wirt »Zum Muskatreiber«. »Vorbehaltlich früherer Erledigung durch Privatvertrag.«

»Ja, das schreiben sie immer drauf«, sagte Clemency.

»Ja, aber nicht, was jetzt kommt«, erwiderte er. »Schau mal her: Wohnhaus usw., Wirtschaftsgebäude usw., Wald und Garten usw., Hof und Zaun usw., Messrs. Snitchey & Craggs usw., Beigabe und Zubehör zu der unbelasteten und schuldenfreien Gutsherrschaft Michael Wardens Wohlgeboren wegen Übersiedlung ins Ausland.«

»Wegen Übersiedlung ins Ausland«, wiederholte Clemency.

»Hier steht’s«, sagte Mr. Britain. »Schau her.«

»Und erst heute noch habe ich im alten Hause drüben wispern hören, daß sie bald bessere und genauere Nachrichten schicken wolle«, sagte Clemency, den Kopf sorgenvoll schüttelnd und wieder nach ihrem Ellbogen greifend, als ob die Erinnerung an frühere Zeiten auch alte Gewohnheiten wachrufe. »O mein, o mein, o mein, das wird wieder schweres Herzleid drüben geben, Ben.«

Mr. Britain stieß einen Seufzer aus und schüttelte auch den Kopf und sagte, er könne die Sache nicht begreifen und habe den Versuch schon längst aufgegeben. Mit diesen Worten machte er sich daran, das Plakat beim Schenkfenster aufzukleben. Clemency, die mittlerweile sinnend dagestanden, raffte sich auf und eilte hinaus, nach ihren Kindern zu sehen.

Obgleich der Wirt der Schenke »Zum Muskatnußreiber« große Achtung vor seiner Frau hegte, so geschah das doch ganz nach der alten Gönnerweise, und alles, was seine Gattin tat, ergötzte ihn höchlichst. Nichts hätte ihn mehr in Erstaunen gesetzt, als wenn ihm jemand bewiesen hätte, daß nur sie allein es war, die die ganze Wirtschaft führte und durch verständige Sparsamkeit, gute Laune, Ehrlichkeit und Fleiß ihn zum wohlhabenden Manne machte.

Es tat Mr. Britain sehr wohl, daran zu denken, daß er sich herabgelassen, als er Clemency geheiratet. Sie war ihm ein ständiges Zeugnis seines guten Herzens, und er hielt dafür, daß ihre Vortrefflichkeit als Hausfrau nur eine Bestätigung des alten Spruchs sei, »jede gute Tat trägt in sich selbst den Lohn«.

Er hatte das Plakat aufgeklebt und die Quittungen in den Schenkschrank geschlossen, wobei er immerwährend über ihre Geschäftsgewandtheit vor sich hin lachte, als sie mit der Nachricht hereinkam, daß die beiden jungen Herren Britain unter der Aufsicht einer gewissen Betsy im Wagenschuppen spielten, die kleine Clemy aber schlafe ›wie ein Bild‹. Dann setzte sich Clemency zum Tee, der ihrer auf einem kleinen Tische harrte. Es war eine kleine, hübsche Schankstube mit dem üblichen Schmuck an Gläsern und Flaschen, dazu eine einfache Uhr, die auf die Minute ging – es war genau halb sechs –, und jedes Ding stand an seinem Platz peinlichst blank gescheuert und poliert.

»Das erste Mal, daß ich heut zum Sitzen komme«, sagte Mrs. Britain und holte so tief Atem, als ob sie nun für den ganzen Abend festsäße. Gleich darauf stand sie aber doch wieder auf, um ihrem Mann Tee einzuschenken und Butterbrot zu schneiden.

»Wie mich dieses Plakat an alte Zeiten erinnert!«

»Hm«, sagte Mr. Britain, indem er seine Untertasse handhabte wie eine Auster und sie dementsprechend ausschlürfte.

»Dieser selbe Mr. Michael Warden«, sagte Clemency mit einem Blick auf die Versteigerungsanzeige, »hat mich um meine alte Stelle gebracht.«

»Aber dir deinen Gatten verschafft«, sagte Mr. Britain.

»Ja, das hat er«, erwiderte Clemency, »das verdanke ich ihm.«

»Der Mensch ist ein Sklave der Gewohnheit«, sagte Mr. Britain und betrachtete sie über seine Untertasse hinweg. »Ich hatte mich einigermaßen an dich gewöhnt, Clemy, und sah ein, daß ich ohne dich nicht gut würde leben können. Hahaha, wer hätte gedacht, daß wir einander heiraten würden.«

»Ja, wer hätte das gedacht«, rief Clemency, »es war sehr gut von dir, Ben.«

»Nein, nein, nein!« antwortete Ben mit einer Miene von Selbstverleugnung, »nicht der Rede wert.«

»O doch, Ben«, sagte seine Gattin mit großer Herzenseinfalt. »Ich denke doch, und ich bin dir sehr dankbar dafür.« Sie blickte wieder nach dem Plakat. »Ach, als das liebe Kind fort und in Sicherheit war, da konnte ich mich nicht enthalten, um ihretwillen und der andern wegen zu erzählen, was ich wußte. Hätte ich das nicht sollen?«

»Jedenfalls hast du es erzählt«, bemerkte ihr Gatte.

»Und Dr. Jeddler«, fuhr Clemency fort, setzte ihre Tasse nieder und betrachtete gedankenvoll das Plakat, »jagte mich in seinem Gram und seinem Zorn von Haus und Hof. Ich bin nie in meinem ganzen Leben über etwas so froh gewesen wie darüber, daß ich kein böses Wort gesagt und daß ich ihm nichts nachgetragen habe, selbst damals nicht. Es hat ihm später aufrichtig leid getan. Wie oft hat er hier gesessen und wieder und wieder davon gesprochen, wie leid es ihm täte. Zum letzten Mal gestern noch, als du aus warst. Wie oft hat er hier in der Stube gesessen und stundenlang von diesem und jenem geredet, als ob es ihn interessiere – aber eigentlich nur der alten Zeit zuliebe und weil er weiß, daß sie mich so gern gehabt hat, Ben.«

»Wie hast du das alles damals nur herausgebracht, Clemy?« fragte Britain, erstaunt, daß seine Gattin eine Wahrheit deutlich erfassen konnte, die er trotz seines spekulativen Geistes nur in dämmernden Umrissen begriffen hatte.

»Das weiß ich selber nicht«, sagte Clemency und blies in ihren Tee, um ihn abzukühlen. »Gott, ich könnte es nicht sagen, und wenn hundert Pfund Belohnung draufstünden.«

Er würde seine metaphysischen Grübeleien wohl noch weiter fortgesponnen haben, wenn nicht Clemy hinter ihm an der Tür des Schenkzimmers ein sehr greifbares Etwas in Gestalt eines in Trauer gekleideten Gentlemans im Reitanzug erspäht hätte. Der Herr schien ihrem Gespräch zuzuhören und es gar nicht eilig zu haben.

Clemency stand rasch auf. Auch Mr. Britain tat desgleichen und begrüßte den Gast.

»Wollen Sie sich vielleicht hinaufbemühen, Sir. Es ist ein sehr hübsches Zimmer oben, Sir.«

»Ich danke«, sagte der Fremde und betrachtete Mrs. Britain aufmerksam. »Kann man hier eintreten?«

»O gewiß, wenn es Ihnen beliebt, Sir«, antwortete Clemency und lud den Herrn ein. »Womit kann ich Ihnen dienen, Sir?«

Das Plakat fiel dem Fremden ins Auge, und er las es.

»Ein vorzüglicher Besitz das, Sir«, bemerkte Mr. Britain.

Der Gast gab keine Antwort, sondern drehte sich um, als er zu Ende gelesen, und betrachtete Clemency mit derselben forschenden Neugier wie früher, ohne den Blick von ihr zu wenden: »Sie fragten mich eben?«

»Was Sie wünschten, Sir«, antwortete Clemency und musterte ihn ebenfalls verstohlen.

»Wenn Sie mir einen Schluck Ale geben«, sagte er und trat zu einem Tisch am Fenster, »und es mir hierherbringen wollen, werde ich Ihnen sehr verbunden sein. Aber lassen Sie sich nicht beim Essen stören.«

Ohne weitere Umstände setzte sich der Fremde dann nieder und sah auf die Landschaft hinaus. Er war ein Mann in der Blüte des Lebens und sehr gut gewachsen. Sein sonnengebräuntes Gesicht beschatteten dunkle Haare, und er trug einen Schnurrbart. Nachdem er sein Bier bekommen, schenkte er sich ein Glas ein, trank freundlich auf das Wohl des Hauses und fügte hinzu, als er das Glas wieder niedersetzte: »Ist wohl ein neues Haus, das hier, nicht wahr?«

»Nicht ganz neu«, antwortete Mr. Britain.

»So zwischen fünf und sechs Jahre alt«, sagte Clemency mit deutlicher Betonung.

»Vorhin, als ich eintrat, glaubte ich Dr. Jeddlers Namen vernommen zu haben«, erkundigte sich der Gast. »Auch dieses Plakat erinnert mich an ihn, denn ich weiß zufällig etwas von der Geschichte durch Hörensagen und durch Verbindungen, die ich habe. Lebt der alte Herr noch?«

»Ja, Sir, er lebt noch«, antwortete Clemency

»Hat er sich sehr verändert?«

»Seit wann, Sir?« fragte Clemency mit besondrem Nachdruck.

»Seit seine Tochter – aus dem Hause ging?«

»Ja. Seit damals hat er sich wohl sehr verändert. Er ist alt und grau geworden und hat nichts mehr von seiner alten Weise an sich. Aber ich glaube, er ist jetzt getröstet. Er hat sich seitdem mit seiner alten Schwester versöhnt und besucht sie oft. Das hat ihm gleich sehr wohl getan. Anfangs war er sehr niedergebeugt, und es zerriß einem fast das Herz, wenn man ihn herumwandern sah und auf die Welt schimpfen hörte, aber nach einem oder zwei Jahren wurde es wieder besser mit ihm. Er fing wieder an, von seiner verlorenen Tochter zu sprechen und sie zu loben und die Welt sogar auch. Er wurde nie müde, mit Tränen im Auge zu erzählen, wie schön und wie gut sie gewesen. Er hat ihr verziehen. Das war um die Zeit herum, als Miss Grace heiratete. Britain, du erinnerst dich doch?«

Mr. Britain erinnerte sich sehr gut.

»Die Schwester ist also verheiratet«, bemerkte der Fremde. Er schwieg eine Weile, ehe er fragte: »Mit wem?«

Clemency hätte fast das Teebrett fallen lassen, so sehr überrascht war sie über diese Frage.

»Haben Sie denn nie davon gehört?«

»Ich möchte gerne Genaueres darüber wissen.« Er schenkte sich ein neues Glas ein und setzte es an die Lippen.

»Oh, das wär‘ eine lange Geschichte, wenn man sie genau erzählen wollte«, meinte Clemency und stützte ihr Kinn auf die linke Hand und ihren Ellbogen auf die andere und blickte kopfschüttelnd im Geiste auf die verflossenen Jahre zurück, wie jemand, der ins Feuer sieht. »Das würde eine lange Geschichte werden.«

»Aber wenn man es in Kürze erzählt?« fragte der Fremde.

»In Kürze erzählt«, wiederholte Clemency in demselben nachdenklichen Ton und scheinbar ganz geistesabwesend, »was wäre da zu erzählen? Daß sie sich zusammen abhärmten, ihrer gedachten wie einer Verstorbenen, daß sie sie in liebem Angedenken hielten und ihr mit keinem Worte Vorwürfe machten und Entschuldigungen aller Art für sie fanden, weiß jeder. Ich wenigstens weiß es. Niemand besser«, fügte sie hinzu und wischte sich mit der Hand die Augen.

»Und so –«, half der Fremde weiter.

»Und so«, sagte Clemency, mechanisch die Worte wiederholend und ohne ihre Stellung zu verändern, »so heirateten sie endlich. Sie wurden getraut an Marions Geburtstag – er kehrt morgen wieder. In aller Stille, aber sehr glücklich. Mr. Alfred sagte eines Abends, als sie im Obstgarten spazierengingen: ›Soll unsere Hochzeit nicht an Marions Geburtstag sein?‹, und so geschah es dann auch.«

»Und leben sie glücklich miteinander?« fragte der Fremde.

»Ja. Nie lebten zwei Menschen glücklicher, und nichts drückt sie als nur der alte Gram.«

Clemency erhob den Kopf, als ob sie plötzlich sich darüber klar werde, unter welchen Umständen sie diese Ereignisse sich ins Gedächtnis zurückrufe, und warf einen raschen Blick auf den Fremden. Da sie bemerkte, daß sein Gesicht dem Fenster zugewandt war, als sei er in Betrachtung der Aussicht versunken, machte sie ihrem Gatten allerhand erregte Zeichen und wies auf das Plakat und bewegte den Mund, als ob sie immer dasselbe Wort oder denselben Satz angestrengt wiederhole. Sie ließ dabei keinen Laut vernehmen, und ihre stummen Gebärden waren so außergewöhnlicher Art, daß dies unerklärliche Benehmen Mr. Britain an den Rand der Verzweiflung brachte. Er starrte den Tisch an, den Fremden, die Löffel, seine Frau, folgte ihrer Pantomime mit Blicken tiefsten Staunens und gänzlicher Ratlosigkeit, fragte sie in derselben stummen Sprache, ob vielleicht das Besitztum in Gefahr schwebe, ob er selbst in Gefahr schwebe oder sie; beantwortete ihre Signale mit andern, die die tiefste Verwirrung ausdrückten und riet halblaut aus den Bewegungen ihrer Lippen auf die merkwürdigsten Dinge, auf: »Milch und Wasser? – Monatswechsel – Maus und Walnuß« – und konnte doch nicht herausbekommen, was sie eigentlich wollte.

Clemency gab es endlich auf und rückte ganz allmählich ihren Stuhl ein wenig näher, beobachtete den Fremden mit scheinbar gesenkten Augen scharf und wartete gespannt, bis er ihr wieder eine Frage stellen werde. Sie brauchte nicht lange zu warten, denn er sagte gleich darauf:

»Und was war das spätere Schicksal der jungen Dame, die das Haus verließ? Ihre Familie weiß doch davon, nehme ich an?«

Clemency schüttelte den Kopf. »Dr. Jeddler soll mehr davon wissen, als er sich merken läßt, hörte ich. Miss Grace hat Briefe von ihrer Schwester bekommen, in denen sie schreibt, daß sie sich wohl befinde und glücklich darüber sei, daß sich Grace und Alfred geheiratet hätten. Und Miss Grace hat wieder geantwortet. Aber es schwebt ein Geheimnis über Marions Leben und ihrem Schicksal, das bis zu dieser Stunde noch nicht aufgeklärt ist und das –«

Sie wurde unsicher und stockte.

»Und das –«, wiederholte der Fremde.

»Das wohl nur eine einzige Person aufklären könnte«, sagte Clemency tief aufatmend.

»Und wer wäre das?« fragte der Fremde.

»Mr. Michael Warden«, antwortete Clemency fast mit einem Schrei, der gleichzeitig ihrem Manne verständlich machte, was ihr vorher nicht hatte gelingen wollen, und Michael Warden verriet, daß er erkannt sei.

»Sie erinnern sich meiner, Sir«, sagte Clemency und zitterte vor Erregung. »Ich hab es gleich bemerkt. Sie kennen mich noch von jener Nacht im Garten her. Ich war bei ihr.«

»Ja, Sie waren es«, sagte der Gast.

»Ja, Sir, ja gewiß. Und dies hier ist mein Mann, wenn Sie gestatten. Ben, mein lieber Ben, lauf zu Miss Grace, lauf zu Mr. Alfred, lauf wohin du willst, Ben, bring irgend jemand her, Ben, auf der Stelle!«

»Halt!« sagte Michael Warden, sich ruhig zwischen die Tür und Britain stellend. »Was wollen Sie tun?«

»Sie wissen lassen, daß Sie hier sind, Sir«, antwortete Clemency, außer sich vor Erregung die Hände zusammenschlagend, »ihnen sagen, daß sie von Ihren eigenen Lippen Nachricht über sie bekommen können, daß sie ihnen nicht ganz verloren ist und wieder nach Hause kommt und ihren Vater, ihre liebe Schwester und sogar ihre alte Dienerin, sogar mich« – sie schlug sich mit beiden Händen auf die Brust – »wieder mit dem Anblick ihres süßen Gesichtchens selig machen wird. Lauf, Ben, lauf!« – Sie wollte Britain wieder zur Türe drängen, aber immer noch wehrte ihm Mr. Warden den Ausgang, nicht zürnend, aber schmerzerfüllt.

»Oder vielleicht«, sagte Clemency und faßte in ihrer Erregung Mr. Warden am Mantel, »vielleicht ist sie jetzt hier, vielleicht ganz in der Nähe. Ich sehe es Ihnen an, sie muß hier sein. Bitte, Sir, lassen Sie mich doch zu ihr. Ich wartete sie, wie sie noch ein kleines Kind war. Ich sah sie aufwachsen als den Stolz der ganzen Ortschaft. Ich kannte sie noch, als sie Mr. Alfreds Braut war, und versuchte, sie zurückzuhalten, als Sie sie weglockten. Ich weiß, wie es in ihrem Vaterhaus aussah, als sie noch die Seele darin war, und wie es anders geworden ist, seit sie entflohen ist. Lassen Sie mich doch mit ihr sprechen, Sir!«

Warden sah sie mitleidig und ein wenig verwundert an, gab aber kein Zeichen der Zustimmung von sich.

»Ich glaube nicht, daß sie wissen kann«, fuhr Clemency fort, »wie aufrichtig ihr alle vergeben haben, wie sehr sie sie lieben und welche Freude sie hätten, sie noch einmal sehen zu dürfen. Sie fürchtet sich vielleicht, nach Hause zurückzukehren. Vielleicht kann ich ihr Mut machen. Sagen Sie mir nur das eine, Mr. Warden, ist sie bei Ihnen?«

»Nein«, sagte der Gast mit einem Kopfschütteln.

Seine Antwort, sein Benehmen, seine Trauerkleider, seine stille Rückkehr, seine öffentlich angekündigte Absicht, ins Ausland zu ziehen, erklärten ihr alles.

Marion war tot!

Er widersprach ihr nicht. Ja, sie war tot.

Clemency setzte sich hin, legte das Gesicht auf den Tisch und weinte.

In diesem Augenblick kam ein alter, grauhaariger Herr ganz außer Atem hereingestürzt und keuchte so stark, daß er an seiner Stimme kaum als Mr. Snitchey zu erkennen war.

»Gott im Himmel, Mr. Warden!« sagte der Advokat und zog den Gentleman beiseite. »Welcher Wind –«, er war so erschöpft, daß er innehalten mußte und erst nach einer Pause ganz schwach hinzusetzen konnte – »hat Sie hierhergeführt.«

»Ein ungünstiger, fürchte ich«, gab Mr. Warden zur Antwort. »Wenn Sie hätten hören können, was eben hier vorging, wie man mich bat, Unmögliches zu tun und wie ich nur Verwirrung und Herzleid bringen konnte.«

»Ich kann mir schon alles denken, aber warum sind Sie gerade hierher gegangen, mein lieber Herr«, rief der Advokat.

»Ich bitte Sie! Wie konnte ich denn wissen, wem das Haus gehört. Als ich meinen Bedienten zu Ihnen schickte, stolperte ich hier herein, weil mir das Haus ganz neu war und ich ein begreifliches Interesse fühle an allem, was sich hier in dieser alten Umgebung verändert hat. Überdies wollte ich doch mit Ihnen erst außerhalb der Stadt zusammenkommen, ehe ich mich öffentlich zeigte. Ich wollte erfahren, was die Leute von mir sprächen. Ich sehe übrigens an Ihrem Benehmen, daß Sie es mir sagen können. Wäre nicht Ihre verwünschte Vorsicht gewesen, hätte ich längst alles schon wissen können.«

»Unsere Vorsicht!« rief der Advokat aus. »Wie können Sie uns einen Vorwurf machen, Mr. Warden! Ich spreche im Namen meiner Wenigkeit & Craggs‘ – selig –«, dabei blickte Mr. Snitchey den Flor auf seinem Hute an und schüttelte den Kopf. »Wir hatten doch vereinbart, daß wir den Gegenstand nicht wieder berühren sollten, da es eine Angelegenheit wäre, in die sich so ernste und gesetzte Männer wie wir – ich notierte mir Ihre damaligen Äußerungen – nicht mischen dürften. Unsere Vorsicht! Während Mr. Craggs, Sir, in sein geachtetes Grab stieg in dem vollen Glauben –«

»Ich hatte ein feierliches Versprechen gegeben, zu schweigen, falls ich zurückkehren würde, wann immer das auch geschehen möchte«, unterbrach ihn Mr. Warden, »und habe es gehalten.«

»Gewiß, Sir, und ich wiederhole es, wir waren ebenfalls zum Schweigen verpflichtet, einesteils unserer Pflicht gegen uns selbst wegen, und dann verschiedener Klienten halber, zu denen auch Sie zählten. Es kam uns nicht zu, Sie über eine derartig delikate Angelegenheit auszuforschen. Ich hatte wohl so meinen Argwohn, Sir; es sind kaum sechs Monate her, daß ich von der Wahrheit unterrichtet wurde.«

»Von wem?« fragte Mr. Warden.

»Von Dr. Jeddler selbst, Sir, der mich aus freien Stücken ins Vertrauen zog. Er und nur er allein hat die volle Wahrheit seit mehreren Jahren gewußt.«

»Und Sie wissen sie auch?« fragte Mr. Warden.

»Ich auch, Sir«, antwortete Snitchey. »Und ich habe auch Grund, anzunehmen, daß Grace sie morgen abend ebenfalls erfahren wird. Man hat es ihr versprochen. Mittlerweile werden Sie mir hoffentlich die Ehre geben, Gast meines Hauses zu sein, da man Sie in Ihrem eignen nicht erwartet. Doch um weiteren Verlegenheiten auszuweichen, falls man Sie erkennen sollte – Sie haben sich zwar sehr verändert, und ich glaube, ich selbst wäre an Ihnen, Mr. Warden, ahnungslos vorübergegangen –, wäre es vielleicht besser, wir dinierten hier und gingen erst abends in die Stadt. Man ißt hier sehr gut zu Mittag, Mr. Warden; übrigens ist hier Ihr eigener Grund und Boden. Meine Wenigkeit & Craggs – selig – nahmen hier öfter ein Kotelett und waren immer sehr zufrieden.«

»Mr. Craggs, Sir«, fuhr Snitchey fort, die Augen auf einen Moment fest schließend und dann wieder öffnend, »wurde leider allzufrüh aus dem Buche der Lebendigen gestrichen.«

»Der Himmel vergebe mir, daß ich Ihnen nicht längst kondolierte«, erwiderte Michael Warden und fuhr sich mit der Hand über die Stirn, »aber ich bin wie im Traume. Es ist mir, als sei ich nicht recht bei Vernunft. Mr. Craggs, ja richtig. Es tut mir wirklich sehr leid, daß wir Mr. Craggs verloren haben.« Er sah bei diesen Worten auf Clemency und schien viel eher mit Benjamin zu sympathisieren, der sich bemühte, seine Frau zu trösten.

»Mr. Craggs, Sir«, bemerkte Snitchey, »mußte sich, wie ich zu meinem Leidwesen konstatiere, leider überzeugen, daß es dem Menschen nicht so leicht gemacht ist, das Leben zu behalten, wie ihm seine Theorie sagte, sonst wäre er noch unter uns. Es ist ein großer Verlust für mich! Mr. Craggs war mein rechter Arm, mein rechtes Bein, mein rechtes Ohr, mein rechtes Auge; ohne ihn bin ich wie gelähmt. Er vermachte seinen Anteil am Geschäfte Mrs. Craggs, den Testamentsvollstreckern, Administratoren und Kuratoren. Sein Name steht bis zum heutigen Tag noch über der Firma. Ich versuche manchmal wie ein Kind, mir einzureden, daß er noch lebe. Ich spreche immer noch gewohnheitsmäßig: für meine Wenigkeit & Craggs – selig, – Sir, selig.« Und der weichherzige Advokat wedelte mit dem Taschentuch.

Michael Warden, der Clemency noch immer beobachtete, beugte sich zu Snitchey und flüsterte ihm etwas ins Ohr.

»Ach, die Ärmste!« sagte Snitchey und schüttelte den Kopf. »Ja, sie hing immer so sehr an Marion. Sie hatte sie immer so gern. Hübsche Marion! Arme Marion! Kopf hoch, Mistress! Sie sind doch jetzt verheiratet. Denken Sie doch daran, Clemency.«

Clemency seufzte nur und schüttelte den Kopf.

»Nun, nun, warten Sie halt bis morgen«, sagte der Advokat freundlich.

»Morgen macht die Toten nicht mehr lebendig, Mister«, sagte Clemency schluchzend.

»Nein, das freilich nicht, sonst würde es uns Mr. Craggs – selig wieder zurückgeben«, entgegnete Snitchey. »Aber es kann gewisse mildernde Umstände bringen. Etwas Angenehmes. Warten Sie nur bis morgen.«

Clemency schüttelte die dargebotene Hand und sagte, sie wolle es tun, und Britain, der beim Anblick seiner in Schmerz aufgelösten Gattin – es war gerade, als ob das ganze Geschäft den Kopf hängen ließe – schrecklich niedergeschlagen war, sagte, daß es recht so sei. Und Mr. Snitchey und Michael Warden gingen die Treppe hinauf und waren bald in eine so vorsichtig geführte Unterhaltung vertieft, daß keine Silbe ihres Geflüsters hörbar wurde inmitten des Geklappers von Tellern und Schüsseln, des Zischens der Bratpfannen, des Brodeins der Kasserollen und des eintönigen Schnarrens des Bratspießrades, das von Zeit zu Zeit so schrecklich schnappte, als ob ihm ein Schlaganfall zugestoßen wäre – und all der andern Maßnahmen in der Küche.

Der folgende Tag war hell und friedevoll, und nirgendwo glänzten die herbstlichen Farben schöner als in dem stillen Obstgarten vor des Doktors Haus. Der Schnee vieler Winternächte war hier geschmolzen, manchen Sommer hindurch hatten die welken Blätter hier geraschelt, seit Marion geflohen war. Die Geißblattlaube war wieder grün, die Bäume warfen reiche und wechselnde Schatten auf das Gras, die Landschaft lag so still und heiter wie je. Nur sie fehlte.

Nur sie, nur sie. Sie hätte sich seltsam ausgenommen jetzt in dem alten Hause, seltsamer vielleicht, als damals das Haus ohne sie. Eine Dame saß jetzt an ihrem alten Platz, eine Dame, aus deren Herzen sie nie entschwunden war, in deren Gedächtnis sie treu fortlebte, unverändert, in Jugendfrische strahlend. In deren Liebe – Grace war jetzt selbst Mutter, und ein reizendes, kleines Töchterchen spielte an ihrer Seite – sie keine Nebenbuhlerin, keine Nachfolgerin hatte und auf deren Lippen jetzt der Name Marion schwebte.

Der Geist der Dahingegangenen blickte aus diesen Augen, aus Graces Augen, die jetzt an ihrem Hochzeitstag, dem gemeinsamen Geburtstage Marions und Alfreds, mit ihrem Gatten im Obstgarten saß.

Er war kein berühmter Mann geworden und auch nicht reich. Er hatte die Freunde seiner Jugend und die alte Umgebung nicht vergessen und überhaupt keine von des Doktors Prophezeiungen erfüllt. Aber bei seinen häufigen, geduldigen und heimlichen Besuchen in den Häusern der Armen, bei den vielen Nachtwachen an Krankenbetten und täglich so viel Mildem und Gutem, das auf den Seitenpfaden des Lebens blüht und dennoch nicht niedergetreten wird vom schweren Fuß der Armut, vor Augen, hatte er mit jedem Jahr die Wahrheit seines alten Glaubens besser erkannt und bewiesen. Seine wenn auch stille und bescheidene Lebensweise hatte ihm gezeigt, wie oft noch immer Engel bei den Menschen einkehren, so wie vor alters. Und wie oft gerade die Unscheinbarsten – selbst solche, die dem Auge häßlich und abstoßend erscheinen und in Lumpen gekleidet sind – am Schmerzenslager der Kranken in einem neuen Lichte erscheinen und zu hilfreichen Engeln werden mit einer Strahlenkrone um das Haupt.

Er lebte auf diesem alten Schlachtfeld vielleicht einem bessern Zwecke, als wenn er ruhelos ehrgeizigen Zielen nachgejagt hätte. Und er lebte glücklich mit seiner Gattin, seiner lieben Grace.

Und Marion? Hatte er sie vergessen?

»Die Zeit ist schnell entschwunden seitdem, liebe Grace« – sie sprachen von jener Nacht – »und doch scheint es so unendlich lange her zu sein. Wir zählen nach Veränderungen und Ereignissen in uns. Nicht nach Jahren.«

»Aber es sind auch Jahre verflossen, seit Marion gegangen ist«, erwiderte Grace. »Sechsmal, mein lieber Alfred, den heutigen Tag mit eingerechnet, haben wir an ihrem Geburtstag hier gesessen und von ihrer so heißersehnten und lange verschobenen Rückkehr gesprochen. Wann wird es nur endlich sein. Wann endlich?«

Alfred betrachtete sie aufmerksam, wie ihr die Tränen in die Augen traten, und zog sie näher an sich:

»Aber Marion sagte dir doch in ihrem Abschiedsbrief, den sie auf dem Tische zurückließ und den du so oft liest, daß Jahre vergehen müßten, ehe es sein kann, nicht wahr.«

Grace zog den Brief aus dem Busen und küßte ihn und nickte.

»Und daß sie während dieser Jahre, so glücklich sie auch sein möge, die Zeit ersehnen werde, wo sie zurückkehren und alles aufklären könne, und daß sie dich bitte, hoffnungs- und vertrauensvoll desgleichen zu tun. Lautet der Brief nicht so, mein Herz?«

»Ja, Alfred.«

»Und steht es nicht immer wieder in jedem Brief, den sie seitdem geschrieben hat?«

»Nur im letzten nicht – dem letzten seit einigen Monaten –, in dem sie von dir sprach und von dem, was du damals schon gewußt haben sollst und was ich heute abend erfahren darf.«

Er blickte in das Abendrot und sagte, daß sie es erfahren dürfe, wenn die Sonne untergegangen sei.

»Alfred«, sagte Grace und legte die Hand voll Ernst auf seine Schulter. »Es steht etwas in dem alten Brief, was ich dir nie gesagt habe, aber heute abend, lieber Alfred, wo dieser Sonnenuntergang naht und unser Leben mit dem scheidenden Tag feierlicher und stiller zu werden scheint, kann ich es nicht geheimhalten.«

»Was ist es, Geliebte?«

»Als Marion von uns ging, schrieb sie in diesem ersten Brief, daß sie jetzt dich, Alfred, in meine Hände lege wie du einst sie mir, und sie bat mich und beschwor mich, daß ich, wenn ich sie und dich liebte, nicht deine Neigung zu mir – sie wisse genau, daß eine solche bestünde – zurückweisen möge, wenn einmal die noch frische Wunde geheilt sei, sondern sie ermutigen und erwidern solle.«

»– und mich wieder zu einem stolzen und glücklichen Mann machen, Grace. Schrieb sie das nicht?«

»Sie wollte mich so glücklich über deine Liebe machen, wie es der Fall ist«, war die Antwort, und sie schloß ihn in ihre Arme.

»Hör zu, Geliebte«, sagte er. – »Nein, so!« Und er legte sanft ihr Haupt an seine Schulter. »Ich weiß, warum ich von dieser Stelle im Brief nie etwas gehört habe. Ich weiß, warum du damals nie eine Spur davon in Wort oder Blick gezeigt hast. Ich weiß auch, warum meine Grace, trotzdem sie immer so freundlich zu mir gewesen ist, doch so schwer zu bewegen war, mein Weib zu werden. Und weil ich es weiß, kenne ich auch den unschätzbaren Wert des Herzens, das ich in meinen Armen halte, und danke Gott für den unendlichen Reichtum.«

Sie weinte, aber nicht aus Kummer, als er sie an sein Herz drückte. Nach einer Weile sah er auf das Kind zu seinen Füßen, das mit einem Körbchen voll Blumen spielte, und sagte zu ihm: »Schau doch, wie rot und golden die Sonne ist!«

»Alfred«, Grace blickte bei seinen letzten Worten rasch auf. »Die Sonne geht unter, vergiß nicht, daß ich es jetzt erfahren soll.«

»Du sollst die Wahrheit von Marions Geschichte jetzt erfahren, Geliebte«, antwortete er.

»Die ganze Wahrheit!« bat sie flehend. »Die unverhüllte Wahrheit. So lautet doch das Versprechen, nicht wahr?«

»Gewiß.«

»Ehe die Sonne sinkt an Marions Geburtstag. Und du siehst, Alfred, sie sinkt schnell.«

Er legte den Arm um sie und sah ihr fest in die Augen.

»Die Wahrheit, liebe Grace, soll nicht ich dir sagen. Sie soll dir von ändern Lippen kommen.«

»Von ändern Lippen?«

»Ja, ich kenne dein festes Herz. Ich weiß, wie tapfer du bist und daß ein vorbereitendes Wort bei dir genügt. Du sagtest, die Zeit ist gekommen. Ja, sie ist gekommen. Sage mir, daß du stark genug bist, eine Prüfung, eine Überraschung – eine Erschütterung zu ertragen: Und der Bote steht vor der Türe.«

»Welcher Bote? Welche Nachricht bringt er?«

»Ich darf nicht mehr sagen. Glaubst du, du verstehst mich?«

»Ich fürchte mich, daran zu denken«, sagte sie.

Trotz seinem ruhigen Blick lag eine Erregung in seinem Gesicht, die sie erschreckte. Wieder barg sie ihr Gesicht an seiner Schulter und bat ihn zitternd, noch einen Augenblick zu warten.

»Mut, Grace! Wenn du Kraft genug hast, den Boten zu empfangen, so wartet er vor dem Tore. Die Sonne sinkt an Marions Geburtstag. Also Mut, Mut, Grace!«

Sie erhob das Haupt, sah ihn an und sagte, daß sie bereit sei. Wie sie dastand und ihm nachblickte, war ihr Gesicht Marions Zügen, wie sie in den letzten Tagen im Vaterhause gewesen, wunderbar ähnlich. Er nahm das Kind mit sich. Sie rief es zurück – es trug ihrer Schwester Namen – und drückte es an ihre Brust. Wieder freigelassen, sprang das Kind Alfred nach, und Grace war allein.

Sie wußte nicht, wovor sie sich fürchtete oder was sie erhoffte. Sie blieb regungslos stehen und blickte nach der Pforte, wo die beiden verschwunden waren.

Gott, was trat da aus dem Schatten, stand dort auf der Schwelle! Diese Gestalt in den weißen, von der Abendluft bewegten Kleidern, das Haupt zärtlich ruhend an ihres Vaters Brust! O Gott, war das eine Vision, die sich aus des alten Mannes Armen loslöste und mit einem Schrei in wildem Ungestüm schrankenloser Liebe ihr in die Arme sank!

»O Marion, Marion! O meine Schwester, mein Herzensliebling! Was für ein unaussprechliches Glück, dich wiederzusehen!«

Es war kein Traum, kein von Hoffnung und Furcht heraufbeschworenes Phantasiegebilde, sondern Marion, die süße Marion selbst. So glücklich, so lieblich, so unberührt von Kummer und Prüfung, so herrlich in ihrer Anmut, daß, wie die untergehende Sonne auf ihr himmelwärts gerichtetes Gesicht schien, sie wie ein Engel aussah, der auf die Erde segenspendend herabgekommen.

Marion hielt ihre Schwester umfaßt, hatte sie zu einer Bank gezogen und beugte sich über sie und lächelte durch Tränen. Dann kniete sie vor ihr nieder und konnte keine Sekunde das Auge von ihr wenden. Endlich brach sie das Schweigen, und ihre Stimme war klar, tief und ruhig wie im Einklang mit der Abendstille.

»Als dies noch mein liebes Vaterhaus war, Grace, wie es jetzt es wieder sein soll –«

»O mein süßes Herz, nur einen Augenblick! O Marion, dich wieder sprechen zu hören!«

»Als dies noch mein Vaterhaus war, Grace, das es jetzt wieder sein soll, liebte ich Alfred von ganzem Herzen. Ich liebte ihn auf das innigste und wäre gern für ihn gestorben, obwohl ich noch so jung war. Ich verschmähte seine Liebe nie in meinem innersten Herzen. Keinen einzigen Augenblick. Sie war mir teuerer, als ich sagen kann. Es ist lange her und längst vorbei, und alles ist ganz anders geworden, und doch ertrug ich den Gedanken nicht, du könntest glauben, ich hätte ihn einst nicht treu geliebt. Ich liebte ihn nie heißer, Grace, als an jenem Tage, wo er Abschied nahm. Ich liebte ihn nie mehr als an jenem Abend, wo ich von hier verschwand.«

Ihre Schwester konnte ihr bloß ins Antlitz schauen und sie fest umschlungen halten.

»Aber ohne es zu wissen«, sagte Marion mit sanftem Lächeln, »hatte er bereits ein anderes Herz gewonnen, ehe ich noch eins besaß, um es ihm zu schenken. Dieses Herz – deines, liebe Schwester – war so von Zärtlichkeit zu mir erfüllt, so hingebend und so edel, daß es seine Liebe verbarg und sie geheimhielt vor aller Augen, außer vor meinen – oh, welche Augen wären auch so von Zärtlichkeit und Dankbarkeit geschärft gewesen –, und sich für mich opferte. Aber ich kannte gar wohl die Tiefe dieses Herzens. Ich wußte um den Kampf, den es ausgestanden. Ich wußte, wie hoch und unschätzbar sein Wert für ihn war und wie hoch er es hielt, mochte er mich lieben, wie er wollte. Ich wußte, wieviel ich diesem Herzen schuldete, und hatte das Vorbild täglich vor Augen. Was du für mich getan, Grace, fühlte ich, würde ich auch für dich tun können. Ich legte mich nie zur Ruhe, ohne unter Tränen zu beten, daß ich die Kraft dazu haben möge. Ich legte mich nie zur Ruhe in die Kissen, ohne an Alfreds eigene Worte an seinem Abschiedstag zu denken, daß täglich im menschlichen Herzen Siege erfochten würden, gegen die die Siege auf diesem Schlachtfeld in nichts versänken. Und je mehr ich an die Entsagung dachte, die täglich und stündlich in dem großen Lebenskampf, von dem er sprach, bewiesen wird, ohne daß jemand ihrer gedächte, da fühlte auch ich meine Aufgabe täglich leichter werden. Und er, der unsere Herzen sieht in diesem Augenblick und weiß, daß kein Tropfen Gram oder Leid in dem meinen ist, nichts als ungemischte Freude – er gab mir die Kraft zum Entschluß, niemals Alfreds Weib zu werden. Mein Bruder und dein Gatte, wenn meine Handlungsweise dieses glückliche Ende herbeiführen könnte, sollte er sein, aber ich niemals sein Weib!«

»O Marion! O Marion!« –

»Ich versuchte, gleichgültig gegen ihn zu sein« – sie drückte ihrer Schwester Gesicht an ihre Wangen–, »aber das war schwer, und du warst immer seine treue Fürsprecherin. Ich wollte dir meinen Entschluß mitteilen, aber es ging nicht. Du mochtest mich nie anhören und würdest mich nicht verstanden haben. Die Zeit seiner Rückkehr kam heran. Ich fühlte, daß ich handeln mußte, ehe der tägliche Umgang mit ihm sich erneuern würde. Ich erkannte, daß ein großer Schmerz in diesem Augenblick uns allen langes Leid ersparen würde, erkannte, daß, wenn ich vor ihm entfloh, das Ende so kommen müßte, wie es gekommen ist, und daß wir beide noch glücklich werden würden, Grace. Ich schrieb an die gute Tante Martha und bat sie um Aufnahme in ihrem Hause; ich sagte ihr damals nicht die volle Wahrheit, und doch gewährte sie mir gern meine Bitte. Während ich noch mit mir selbst rang und mit meiner Liebe zu dir und dem Vaterhaus, da wurde Mr. Warden durch einen Unglücksfall eine Zeitlang unser Hausgenosse.«

»Wie oft habe ich in all den Jahren gezittert«, rief Grace aus und wurde leichenblaß, »daß du ihn niemals liebtest und ihn nur geheiratet hast, um dich für mich aufzuopfern.«

»Er war damals im Begriff, heimlich ins Ausland zu flüchten«, fuhr Marion fort und zog ihre Schwester näher zu sich. »Er schrieb an mich, setzte mir seine Verhältnisse und Absichten auseinander und bot mir seine Hand an. Er sagte mir, er habe bemerkt, daß ich Alfreds Rückkehr nicht mit Freude entgegensähe – ich glaube, er war der Meinung, mein Herz habe keinen Teil an diesem Bunde. Ich hätte Alfred vielleicht früher geliebt, aber es wäre vorbei, ich suchte meine Gleichgültigkeit zu verbergen, indem ich mich absichtlich gleichgültig stellte – kurz, ich weiß es nicht. Aber es war mein Wunsch, daß Alfred glauben solle, er habe mich ganz verloren, und daß ihm keine Hoffnung mehr bliebe. Verstehst du mich, geliebte Schwester.«

Grace sah ihr aufmerksam ins Gesicht; sie schien in Ungewißheit zu schweben.

»Ich kam mit Mr. Warden zusammen und vertraute seiner Ehrenhaftigkeit. Ich gestand ihm mein Geheimnis am Vorabend seiner und meiner Flucht. Er hat es treu bewahrt.«

Grace blickte sie verwirrt an. Sie schien kaum zu hören.

»Meine liebe, liebe Schwester!« sagte Marion. »Sammle deine Gedanken einen Augenblick und hör zu. Sieh mich nicht so seltsam an. Es gibt Stätten, wohin diejenigen, die eine rebellische Leidenschaft unterdrücken oder einen tiefen Schmerz in ihrer Brust heilen wollen, sich in Abgeschlossenheit vor der Welt und ihren Hoffnungen für immer zurückziehen wollen. Wenn Frauen dies tun, so nehmen sie den Namen an, der dir und mir so teuer ist, und nennen einander Schwestern. Aber es gibt auch Schwestern, Grace, die in der weiten Welt und mitten im Menschengewühl bemüht sind, Segen zu spenden und Gutes zu tun, und so dasselbe Ziel erreichen und mit frischem, jugendlichem Herzen und noch empfänglich für Glück auch sagen können: der Kampf ist vorbei und der Sieg gewonnen. Und so ist es mir gegangen. Verstehst du mich jetzt?«

Immer noch blickte Grace sie starr an und gab keine Antwort.

»O Grace, meine liebe Grace«, und Marion schmiegte sich noch zärtlicher an die Brust jener, die sie so lang gemieden, »wenn du nicht glücklich als Gattin und Mutter wärest – wenn ich keine kleine Namensschwester hier fände – wenn Alfred, mein lieber Bruder, nicht dein zärtlicher Gatte wäre, woher sollte ich denn dann die Glückseligkeit nehmen, die ich jetzt empfinde. Wie ich das Haus verlassen habe, so kehre ich zurück. Mein Herz hat keine andere Liebe gekannt, meine Hand ist noch immer frei, ich bin immer noch deine jungfräuliche Schwester, unverheiratet, unversprochen – deine alte Marion, in deren Herzen du allein ohne Nebenbuhler wohnst, Grace.«

Grace verstand jetzt. Die Spannung in ihren Zügen ließ nach, sie fiel Marion um den Hals und weinte und weinte und liebkoste sie wie ein Kind.

Als sie sich wieder gesammelt hatten, sahen sie den Doktor und Tante Martha, seine Schwester, und Alfred neben sich stehen. »Das ist ein schwerer Tag für mich«, sagte Tante Martha und lächelte unter Tränen, als sie ihre Nichten umarmte, »denn indem ich euch alle glücklich mache, verliere ich mein liebes Kind, und was könnt ihr mir für meine Marion geben?«

»Einen bekehrten Bruder«, sagte der Doktor.

»Das ist wenigstens etwas«, antwortete Tante Martha, »in einer Posse wie –«

»Ich bitte dich, hör auf«, sagte der Doktor bußfertig.

»Na, ich will’s gut sein lassen«, meinte Tante Martha. »Aber ich komme wahrhaftig schlecht dabei weg. Ich weiß wirklich nicht, was aus mir ohne meine Marion werden soll, wo wir fast ein halbes Dutzend Jahre zusammengelebt haben.«

»Du mußt zu uns ziehen und hier leben«, rief der Doktor, »wir zanken uns gewiß nicht mehr.«

»Oder heiraten, Tante«, riet Alfred.

»Ich glaube wirklich«, erwiderte die alte Dame, »es wäre nicht übel, wenn ich Michael Warden ins Auge faßte, der sich in jeder Hinsicht gebessert haben soll, wie ich höre. Aber da ich ihn schon als Knaben kannte und ich schon damals nicht mehr sehr jung war, könnte er mir vielleicht einen Korb geben. Nein, ich will lieber zu Marion ziehen, wenn sie heiratet – was wohl nicht mehr sehr lang dauern kann –, und bis dahin allein bleiben. Was meinst du dazu, Bruder?«

»Ich habe doch wieder große Lust, zu sagen, daß es eine lächerliche Welt ist, in der es nichts Ernsthaftes gibt«, bemerkte der Doktor.

»Du könntest zwanzig Gutachten darüber ausstellen, Anthony«, bemerkte seine Schwester, »und es würde dir’s doch niemand glauben, wenn du dabei ein solches Gesicht machst.«

»Es ist eine Welt voller Herzen«, sagte der Doktor und umarmte seine jüngere Tochter, und sich hinüberbeugend, um auch Grace an sich zu ziehen, denn er konnte die Schwestern nicht voneinander trennen: »Eine ernste Welt trotz aller ihrer Narretei, trotz aller ihrer Torheiten, die groß genug waren, die ganze Erde zu überschwemmen. Eine Welt, über der die Sonne nie aufgeht, ohne auf Tausende von unblutigen Kämpfen niederzuscheinen, die die Leiden und Verbrechen der Schlachtfelder einigermaßen wiedergutmachen, eine Welt, die wir nicht verspotten dürfen, Gott verzeih‘ mir, denn sie ist eine Welt voll heiliger Geheimnisse, und nur ihr Schöpfer allein weiß, was unter der Oberfläche seines geringsten Ebenbildes sich verbirgt.« – – –

Ich täte niemand einen Gefallen damit, wenn ich mit plumper Hand die Freude dieser langgetrennten und jetzt wieder vereinigten Familie ausmalen wollte. Ich will dem Doktor nicht durch die Erinnerungen an seinen Schmerz folgen, den er nach Marions Flucht gefühlt, und will nicht erzählen, wie ernst er die Welt empfunden, in der tief wurzelnde Liebe das Erbteil aller Menschen ist, auch nicht, wie ihn eine Kleinigkeit, ein einziger kleiner Rechenfehler in seiner großen närrischen Philosophie zu Boden gedrückt hatte, auch nicht, wie ihm seine Schwester schon längst aus Mitleid die Wahrheit allmählich enthüllt und ihm das Herz seiner Tochter, die freiwillig in die Verbannung gegangen war, entdeckt und ihn an Marions Brust zurückgeführt hatte.

Ich will auch nicht schildern, wie Alfred Heathfield im letzten Jahre die Wahrheit erfahren, wie Marion ihn gesehen und ihm als ihrem Bruder versprochen hatte, am Abend ihres Geburtstags Grace mit eigenem Munde alles zu enthüllen. – – –

»Verzeihung, Doktor«, sagte plötzlich Mr. Snitchey, in den Garten guckend. »Darf ich mir die Freiheit nehmen, näher zu treten?«

Ohne eine Antwort abzuwarten, ging er geradenwegs auf Marion zu und küßte ihr erfreut die Hand.

»Wenn Mr. Craggs noch am Leben wäre, meine teure Miss Marion«, begann er, »würde er am heutigen Ereignis lebhaftestes Interesse nehmen. Er würde sicher zur Ansicht kommen, daß Ihnen das Leben nicht allzu leicht gemacht wurde, und vielleicht, daß es recht angebracht ist, kleine Erleichterungen zu spenden, wann immer wir können. Denn Mr. Craggs war ein Mann, der sich überzeugen ließ. Er war Belehrungen stets zugänglich. Wenn er jetzt einer solchen Belehrung ein offenes Ohr leihen könnte – doch hier liegt der schwache Punkt der Sache. Mrs. Snitchey, teure Gattin« – auf diesen Ruf erschien die Dame in der Türe – »wir sind unter alten Freunden.«

Nachdem Mrs. Snitchey ihren Glückwunsch dargebracht, nahm sie ihren Gatten beiseite. »Nur einen Augenblick, Mr. Snitchey«, sagte die würdige Dame. »Es liegt nicht in meiner Natur, die Asche der Toten aufzuwirbeln.«

»Nein, meine Teure«, antwortete der Advokat.

»Mr. Craggs ist –«

»Ja, meine Liebe. Er ist gestorben«, sagte Mr. Snitchey.

»Nichtsdestoweniger bitte ich dich«, fuhr seine Gattin fort, »dir jenen Ballabend ins Gedächtnis zurückzurufen. Nur darum bitte ich dich. Wenn dich dein Erinnerungsvermögen nicht ganz verläßt und du nicht ganz und gar geistesschwach bist, so ersuche ich dich, den heutigen Abend mit jenem zu verknüpfen und daran zu denken, wie ich dich auf meinen Knien anflehte und bat–«

»Auf den Knien?« fragte Mr. Snitchey

»Ja«, sagte Mrs. Snitchey mit Festigkeit. »Du weißt es noch ganz gut – – – anflehte, dich vor diesem Mann zu hüten – sein Auge zu beobachten. Jetzt sage mir, ob ich damals nicht recht hatte und ob er an jenem Tage nicht um Geheimnisse wußte, die zu verschweigen er für gut fand.«

»Mrs. Snitchey«, flüsterte ihr der Advokat ins Ohr, »Madame, bemerkten Sie auch etwas in meinem Auge?«

»Nein«, sagte Mrs. Snitchey mit Schärfe. »Bilden Sie sich das nicht ein!«

»Ich sage das bloß, weil wir an jenem Abend zufällig«, fuhr Snitchey fort und hielt seine Gattin am Ärmel fest, »alle beide im Besitz eines Geheimnisses waren, das wir nicht verraten durften, und beide firmagemäß ein und dasselbe wußten. Je weniger Sie, Madame, von dieser Sache sprechen, desto besser. Nehmen Sie es als eine Lehre hin und sehen Sie in Zukunft die Dinge mit weiserem und barmherzigerem Auge an. Miss Marion, ich habe Ihnen eine alte Freundin mitgebracht. Hier, Mistress.«

Die alte Clemency trat, die Schürze vor den Augen, von ihrem Gatten geführt, langsam herein; Britain wie in einer bösen Vorahnung, daß es mit dem Wirtshaus »Zum Muskatreiber« vorbei sei, falls seine Gattin den Mut verlöre.

»Nun, Mistress«, sagte der Advokat und hielt Marion zurück, die der alten Dienerin entgegeneilen wollte, »was ist denn mit Ihnen los?«

»Los?« schrie die arme Clemency.

Aber wie sie jetzt, verwundert und verletzt durch die Frage und erschrocken über ein lautes Gebrüll Mr. Britains, aufblickte und das wohlbekannte liebe Gesicht so dicht vor sich sah, da machte sie große Augen, schluchzte, lachte, weinte und schrie, umarmte Marion, hielt sie fest, ließ sie wieder los, fiel über Mr. Snitchey her und umarmte ihn – zur größten Empörung Mrs. Snitcheys –, fiel über den Doktor her und umarmte ihn, dann über Mr. Britain, und umarmte schließlich sich selbst, warf die Schürze über den Kopf und lachte und weinte durcheinander.

Ein Fremder war hinter Mr. Snitchey in den Obstgarten gekommen und an der Türe stehengeblieben, ohne von den ändern bemerkt zu werden, die sehr wenig Aufmerksamkeit übrig hatten und durch Clemencys Ekstasen vollständig in Anspruch genommen waren. Er wollte offenbar nicht auffallen, sondern blieb abseits stehen mit niedergeschlagenen Augen.

Sein Gesicht machte den Eindruck von Betrübnis, der in der allgemeinen Fröhlichkeit nur noch auffälliger wurde. Es war ein Herr von sehr vornehmer Erscheinung. Nur Tante Marthas scharfen Augen schien er nicht entgangen zu sein. Kaum hatte sie ihn erspäht, war sie schon in die lebhafteste Konversation mit ihm verwickelt. Gleich darauf trat sie wieder zu Marion, die neben Grace und ihrer kleinen Namensschwester stand, und flüsterte ihr etwas ins Ohr, das sie sehr zu überraschen schien. Aber schnell sich wieder fassend, näherte sich Marion mit der Tante dem Fremden und ließ sich mit ihm in eine Unterhaltung ein.

»Mr. Britain«, sagte der Advokat und zog ein nach einem Aktenstück aussehendes Dokument aus der Tasche. »Ich beglückwünsche Sie. Sie sind jetzt der einzige und alleinige Eigentümer jenes Grundstückes, das Sie bisher in Pacht hatten und auf dem Sie eine konzessionierte Schenke oder Gastwirtschaft betreiben, die gemeinhin nach ihrem Schilde als das Wirtshaus »Zum Muskatreiber« bezeichnet wird und bekannt ist. Ihre Frau ging durch Verschulden meines Klienten, Mr. Michael Warden, eines Hauses verlustig und gewinnt nun durch ihn ein anderes. Ich werde mir das Vergnügen machen, Ihnen an einem der nächsten Vormittage meine Aufwartung zu machen, um mich um Ihre Stimme bei den nächsten Wahlen zu bewerben.«

»Würde es einen Unterschied in der Stimmenabgabe machen, wenn das Schild geändert würde, Sir?« fragte Britain.

»Durchaus nicht«, antwortete der Advokat.

»Dann«, sagte Mr. Britain und gab Snitchey die Urkunde zurück, »flicken Sie noch die Worte ein: ›und Fingerhut‹, und ich werde die beiden Sprüche im Wohnzimmer aufhängen lassen anstelle des Porträts meiner Gattin.«

»Und mir?« sagte eine Stimme hinter ihnen, es war Michael Wardens, des Fremden Stimme. »Lassen Sie mir den Segen dieser Inschriften zukommen! Mr. Heathfield und Dr. Jeddler, ich hätte Ihnen großes Unrecht zufügen können! Daß es nicht dazu kam, ist nicht mein Verdienst. Ich will nicht sagen, daß ich um sechs Jahre weiser oder besser bin, als ich war, aber jedenfalls habe ich so lange bereut. Ich habe keinen Anspruch auf schonende Behandlung von Ihrer Seite. Ich mißbrauchte die Gastfreundschaft dieses Hauses, lernte aber meine Fehler einsehen mit einer Beschämung, die ich nie vergessen habe, und nicht ohne Nutzen, durch eine Dame« – er blickte Marion an – »die ich demütig um Verzeihung bat, als ich ihren innern Wert und meine eigne Unwürdigkeit erkannte. In wenigen Tagen werde ich diesen Ort für immer verlassen, und ich bitte Sie alle um Verzeihung: – Was du nicht willst, das man dir tu‘, das füg auch keinem ändern zu! Vergiß und vergib!«

*   *   *

Der Geist der Zeit, der mir den letzten Teil dieser Geschichte mitteilte und den seit fünfunddreißig Jahren persönlich zu kennen ich das Vergnügen habe, teilte mir gelegentlich mit, nachlässig auf seine Sense gelehnt, daß Michael Warden England nie verließ und auch sein Haus nicht verkaufte, sondern es zu einer goldnen Stätte der Gastlichkeit machte und sich eine Gattin gewann, den Stolz und die Ehre der ganzen Gegend, die den Namen Marion führt. Allerdings ist mir bekannt, daß der Geist der Zeit zuweilen die Tatsachen arg untereinandermengt, und daher weiß ich nicht, wieviel Gewicht auf seine Aussagen zu legen ist.

Zweites Kapitel


Zweites Kapitel

Die Verbreitung

Ein kleiner Mann saß in einer kleinen Stube, die von einem kleinen Laden durch eine kleine spanische Wand abgeteilt war.

Die kleine spanische Wand war über und über mit kleinen Ausschnitten aus Zeitungen beklebt. In Gesellschaft des kleinen Mannes befand sich eine Menge kleiner Kinder. Unendlich viele waren es. Wenigstens wirkte auf diesem engen Schauplatz, was ihre Zahl betrifft, ihre Schar geradezu überwältigend. Von dieser kleinen Sippschaft waren zwei vermutlich mittels irgendeiner starken Maschinerie in ein Bett in einem Winkel gebracht worden, wo sie ruhig den Schlummer der Unschuld hätten schlafen können, wenn sie nicht von der Neigung besessen gewesen wären, wach zu bleiben und aus einem Bett heraus ins andere Bett wieder hineinzukrabbeln. Der unmittelbare Anlaß zu diesen Überfällen auf die wachende Welt war eine Mauer aus Austernschalen, die zwei andere Jünglinge zarten Alters in einer Ecke errichteten. Gegen diese Befestigung machten die beiden im Bett grimmige Ausfälle (gleich den verwünschten Pikten und Skoten, die die ersten Geschichtsstudien der meisten jungen Engländer verdüstern). Dann zogen sie sich wieder auf eigenes Gebiet zurück.

Außer dem Lärm, der diesen Angriffen und der haßerfüllten Verteidigung der Bedrohten folgte – denn diese setzten ihren Feinden heiß nach und führten Stöße gegen die Bettücher, unter die sich die Marodeure flüchteten –, spendete noch ein anderer kleiner Junge in einem andern kleinen Bett sein Scherflein Spektakel zu dem allgemeinen Familienvorrat, indem er seine Stiefel und andere an und für sich harmlose kleine Gegenstände, wenn sie nur derb und hart waren und sich zu Wurfgeschossen eigneten, nach den Störern seiner Ruhe schleuderte, die natürlich ihrerseits nicht faul waren, solche Liebenswürdigkeiten prompt zu erwidern.

Außerdem wankte noch ein anderer kleiner Junge, der Größte hier, aber immer noch klein, hin und her, ganz auf eine Seite gebeugt und beträchtlich eingeknickt in den Knien vom Gewicht eines großen Säuglings, den er gemäß des in sanguinischen Familien oft üblichen Vorurteils in Schlaf wiegen sollte. Aber ach, in welch unerschöpfliche Regionen der Wachsamkeit und des Beobachtungstriebes machten sich die Augen des Wickelkindes über seine nichts Arges ahnende Schulter jetzt erst recht zu starren bereit.

Es war ein wahrer Moloch von einem Wickelkind, auf dessen unersättlichem Altar das ganze Dasein dieses jungen Bruders als tägliches Opfer dargebracht wurde. Sein Hauptcharakterzug bestand darin, daß es niemals fünf Minuten lang ruhig war und niemals schlafen ging, wenn es sollte. »Tetterbys Baby« war in der Nachbarschaft so wohl bekannt wie der Postbote oder der Bierjunge. Von Montag morgen bis Samstag abend streifte es in den Armen des kleinen John Tetterby von Türschwelle zu Türschwelle und schloß als schwerfälliger Nachzügler den Zug der Straßenjugend – wenn diese einem Taschenspieler oder Affen nachlief – und kam, immer auf einer Seite überhängend, immer ein klein wenig zu spät, um noch etwas zu sehen. – Wenn sich die Jugend zum Spiele sammelte, wurde der kleine Moloch widerspenstig und wollte fort. Wenn Johnny ausgehen wollte, schlief der Moloch und – mußte bewacht werden. Wollte Johnny zu Hause bleiben, wachte der Moloch auf und mußte ausgeführt werden. Und doch war Johnny davon durchdrungen, daß der Moloch ein tadelloses Wickelkind sei und im Königreich England nicht seinesgleichen habe, und war ganz zufrieden, hinter den Röcken hervor oder über den großen flappigen Hut der Kleinen hinweg mangelhafte Ansichten von der Welt zu erhaschen und mit seinem Quälgeist herumzuwanken wie ein winziger Dienstmann mit einem ungeheuren Paket, das keine Adresse hat und niemals abgegeben werden kann.

Der kleine Mann, der in der kleinen Stube saß und vergebliche Versuche machte, mitten in diesem Lärm seine Zeitung in Gemütsruhe zu lesen, war der Familienvater und Chef der Firma über dem kleinen Laden draußen, auf dem mit großen Buchstaben geschrieben stand:

A. Tetterby and Comp., Zeitungsagenten.

Genau genommen war er die einzige Person, der diese Bezeichnung galt, denn »Comp.« war lediglich ein poetischer Begriff, der jeglicher wirklichen Grundlage entbehrte und sich auf keine greifbare Person bezog.

Tetterbys Laden war der Eckladen im Jerusalemstift. Im Fenster lag ein reicher Schatz an Literatur, der sich aus alten illustrierten Zeitungen und Lebensbeschreibungen von See- und Straßenräubern zusammensetzte. Spazierstöcke und Murmeln waren gleichfalls im Warenlager enthalten. Einstmals hatte sich das Geschäft sogar auch auf die Zuckerbäckerei kleinen Maßstabes erstreckt. Offenbar aber schien für diese Luxusartikel kein Bedarf in der Gegend des Jerusalemstifts gewesen zu sein, denn nichts zu diesem Handelszweig Gehöriges stand mehr im Fenster außer einer kleinen Gaslaterne voll Zuckerzelten, die so lange im Sommer geschmolzen und im Winter gefroren waren, bis jede Hoffnung verschwunden war, sie jemals herauskratzen und essen zu können, ohne die Laterne mitzuverzehren.

Tetterby hatte sich in verschiedenen Dingen versucht. Er hatte einmal einen kleinen schwächlichen Abstecher gemacht ins Spielwarengeschäft, denn in einer andern Laterne lag ein Haufen winziger Wachspuppen, die alle hoffnungslos mit dem Kopf nach unten zusammenstaken und sich mit den Füßen in die Gesichter traten, während sich auf dem Grunde ein Bodensatz von gebrochenen Armen und Beinen niedergeschlagen hatte.

Er mußte auch einmal einen Anlauf in der Putzmacherrichtung gemacht haben, wie ein paar dürre Drahtgestelle für Hüte in einer Ecke des Fensters verrieten. Er hatte gewähnt, es lasse sich aus dem Tabakhandel ein Lebensunterhalt herausschlagen, und hatte ein Bild aufgehängt, auf dem aus jedem der drei Weltteile des britischen Reichs ein Eingeborener, das duftende Kraut genießend, abgebildet war; darunter besagte eine poetische Legende, daß der erste schnupfe, der zweite kaue, der dritte rauche. Es schien sich aber nichts daraus entwickelt zu haben – außer Fliegen. Es war auch einmal eine Zeit gewesen, wo er seine letzte Hoffnung auf falschen Schmuck gesetzt, denn hinter einem Glasviereck lagen eine Karte mit blechernen Siegelringen und eine andere mit Bleistifthülsen und ein geheimnisvolles schwarzes Amulett von rätselhafter Bestimmung, auf dem der Preis, neun Pence, stand.

Bis auf die Stunde hatte das Jerusalemstift von all dem nichts gekauft.

Kurz, Tetterby hatte so fleißig versucht, seinen Lebensunterhalt auf diese oder jene Weise aus dem Jerusalemstift herauszuschlagen, und hatte doch bei alldem so wenig Erfolg gehabt, daß sich in der Firma der Kompagnon offenbar am besten stand. Der Kompagnon als körperlose Erfindung hatte nicht unter gemeinem Hunger und Durst zu leiden, hatte weder Armensteuer noch andere Abgaben zu bezahlen und für keine Familie zu sorgen.

Tetterby indessen bekam in seiner kleinen Stube das Vorhandensein einer kinderreichen Familie in so lärmender Weise zu verspüren, daß es ihm unmöglich war, nicht darauf zu achten oder in Ruhe die Zeitung zu lesen. Er legte daher sein Blatt nieder, kreiste in seiner Verwirrung ein paarmal im Zimmer umher wie eine unschlüssige Brieftaube; machte einen fruchtlosen Vorstoß gegen ein paar fliegende kleine Gestalten in Nachthemden, die an ihm vorbeifegten, und stieß dann plötzlich geiergleich auf das einzige friedfertige Mitglied der Familie, den Molochhüter, los und gab ihm ein paar hinter die Ohren.

»Du böser Bube«, rief Mr. Tetterby, »hast du denn gar kein Erbarmen mit deinem armen Vater, der sich an diesem harten Wintertag seit fünf Uhr morgens geplackt und gesorgt hat, mußt du ihm seine Ruhe stören und die Neuesten Nachrichten verbittern mit deiner teuflischen Bosheit; ist es nicht genug, Sir, daß dein Bruder Dolphus in Nebel und Kälte sich abplackt und abschuftet, während du hier im Luxus schwimmst und ein – Wickelkind hast, kurz alles, wonach dein Herz begehrt«, sagte Mr. Tetterby, all dies wie die Wonnen des Paradieses zusammenzählend. »Mußt du trotzdem eine Wildnis aus deinem Elternhause und Tollhäusler aus Vater und Mutter machen? Mußt du das, Johnny? He?« Bei jeder Frage tat Mr. Tetterby so, als wolle er ihm wieder eins hinter die Ohren geben, aber er besann sich eines Bessern und hielt seine Hand zurück.

»O Vater«, wimmerte Johnny, »ich habe doch gar nichts getan, ganz gewiß nicht, und hab mir soviel Mühe gegeben mit Sally und sie in den Schlaf gewiegt, o Vater.«

»Ich wollte, mein kleines Frauchen käme nach Hause«, sagte Mr. Tetterby gerührt und ging in sich, »ich wünschte bloß, mein kleines Frauchen käme nach Hause, ich bin nicht imstande, mit dem Volk fertig zu werden. Es macht mir die Sinne wirbeln und wächst mir über den Kopf. O Johnny! Ist es nicht genug, daß deine liebe Mutter dir diese süße Schwester geschenkt hat?« Und er deutete auf den Moloch. »Ist es nicht genug, daß ihr zuerst sieben Jungen wart und keine Spur von einem Mädel dabei, und daß die Mutter all das durchgemacht, was sie, ach Gott ja, durchgemacht hat, bloß zu dem Zweck, damit ihr alle eine kleine Schwester haben möget? Und mußt du dich trotzdem jetzt so benehmen, daß mir’s im Kopf wie ein Mühlrad herumgeht?«

Mr. Tetterby wurde immer gerührter, je mehr sich seine und Johnnys gekränkten Gefühle Luft machten, und umarmte schließlich den Molochhüter, um sich gleich darauf auf die Jagd nach einem der wirklichen Missetäter zu begeben. Nach verhältnismäßig gutem Start und einer kurzen, aber heißen Jagd über beschwerliches Gelände unter und über Bettstellen hinweg und durch das Netzwerk der Stühle hindurch, erwischte er schließlich ein Kind, das er gebührend bestrafte und ins Bett schleppte. Dieses Beispiel übte eine gewaltige und, wie es schien, mesmerische Wirkung auf den Stiefelhelden aus, der augenblicklich in tiefen Schlaf verfiel, obwohl er einen Augenblick vorher vollkommen munter und im tollsten Übermut gewesen. Auch an den beiden Architekten ließ sich die Wirkung verspüren, denn sie verfügten sich in dem anstoßenden Kämmerchen ganz still und geschwind zu Bett. Der Kamerad des Erwischten versank ebenfalls geräuschlos in seinem Nest, und so befand sich Mr. Tetterby, als er innehielt, um Atem zu schöpfen, ganz unerwartet plötzlich auf einem Gefilde vollkommenen Friedens.

»Mein kleines Frauchen selbst«, sagte Mr. Tetterby und wischte sich das erhitzte Gesicht, »hätte es nicht besser machen können. Ich wünschte bloß, mein kleines Frauchen hätte es zu besorgen gehabt, wahrhaftig!«

Mr. Tetterby suchte auf der spanischen Wand nach einer Sentenz, die sich eignen würde, den Kindern bei dieser Gelegenheit eingeprägt zu werden, und las folgendes laut ab:

»Es ist eine unanfechtbare Tatsache, daß alle merkwürdigen Männer merkwürdige Mütter gehabt haben und sie im spätern Leben wie ihre besten Freunde geachtet haben. Denkt an eure eigene merkwürdige Mutter, meine Jungen«, fügte Mr. Tetterby hinzu, »und erkennet ihren Wert, solange sie noch unter euch weilt.«

Er setzte sich in seinen Stuhl am Kamin, schlug die Beine übereinander und widmete sich wieder seiner Zeitung.

»Es soll mir nur einer, ganz gleich, wer’s sein mag, noch einmal aus dem Bette herauskommen«, gab Mr. Tetterby wie eine allgemeine Proklamation in mildem Tone bekannt, »und grenzenloses Erstaunen, was dann geschieht, soll das Los dieses geachteten Zeitgenossen sein!« Ein Ausdruck, den Mr. Tetterby wieder von der spanischen Wand ablas. »Johnny, mein Sohn, nimm deine einzige Schwester Sally in acht, denn sie ist das schönste Juwel, das jemals auf deiner jugendlichen Stirn geglänzt hat.« Johnny setzte sich demütig auf einen kleinen Stuhl und verschwand fast unter der Last des Molochs.

»Ach, was für ein Geschenk dieses Kind für dich bedeutet, Johnny«, sagte sein Vater, »und wie dankbar du dafür sein solltest! Es ist nicht allgemein bekannt, Johnny« – er las jetzt wieder von seiner spanischen Wand ab –, »aber es ist eine durch genaue Berechnungen offenbar gewordene Tatsache, daß folgender ungeheurer Prozentsatz von Kindern nie das zweite Lebensjahr erreicht, nämlich – – –«

»O Vater, halt‘ ein, ich bitte dich«, rief Johnny, »ich kann’s nicht ertragen, wenn ich an Sally denke.«

Mr. Tetterby ließ ab, und Johnny, von der tiefen Verantwortung, die er trug, ergriffen, wischte sich die Augen und lullte seine Schwester ein.

»Dein Bruder Dolphus«, sagte sein Vater und schürte das Feuer, »bleibt heut‘ lange, Johnny, und wird nach Hause kommen wie ein Eisklumpen. Wo bleibt nur deine treffliche Mutter?«

»Da kommt die Mutter, und Dolphus auch, Vater!« rief Johnny »Ich glaube wenigstens.«

»Du hast recht«, entgegnete der Vater und lauschte. »Ja, ja, das ist der Tritt meines kleinen Frauchens.«

Der Ideengang, mittels dessen Mr. Tetterby zu dem Schlusse gekommen war, sein Ehegespons sei ein kleines Frauchen, war ein tiefes Geheimnis. Aus der Frau hätte man mit Leichtigkeit zwei Ausgaben ihres Mannes anfertigen können. Schon als Individuum für sich fiel sie auf, so stark und stattlich war sie, aber mit ihrem Manne verglichen, wuchsen ihre Dimensionen geradezu ins Gigantische. Dasselbe war der Fall gegenüber ihren sieben Söhnen, die im Vergleich mit ihr die reinsten Elzevierausgaben waren. Bei Sally indessen hatte sich Mrs. Tetterby endlich Geltung verschafft. Das wußte niemand besser als Johnny, das Opfer, der den schweren Abgott zu jeder Stunde des Tages maß und wog.

Mrs. Tetterby, die Einkäufe gemacht hatte und einen Korb trug, schob Hut und Tuch zurück, setzte sich erschöpft nieder und befahl Johnny, auf der Stelle seine süße Last zu ihr zu tragen. Sie wolle ihr einen Kuß geben. Als Johnny diesem Befehl Folge geleistet hatte und wieder zu seinem Stuhl zurückgekehrt und wieder in Demut versunken war, da erbat sich Mr. Adolphus Tetterby jun., der inzwischen seine obere Hälfte aus einem endlosen regenbogenfarbigen Schal herausgewickelt hatte, dieselbe Gunst. Johnny gehorchte abermals und war wieder zu seinem Stuhl zurückgekehrt, als Mr. Tetterby sen., von einem plötzlichen Gedanken erfaßt, als Vater denselben Anspruch erhob. Die Befriedigung dieses dritten Verlangens erschöpfte das Opfer derart, daß es kaum Atem genug fand, um wieder zu seinem Stuhl zurückzukehren und seine Verwandten anzukeuchen.

»Mach, was du willst, Johnny«, sagte Mrs. Tetterby mit Kopfschütteln, »aber nimm sie in acht oder komm deiner Mutter nie wieder unter die Augen.«

»Deinem Bruder auch nicht«, sagte Adolphus, »und auch deinem Vater nicht, Johnny«, ergänzte Mr. Tetterby.

Johnny tief erschüttert durch diese bedingungsweise angedrohte Lossagung, blickte tief in Molochs Augen, um nachzusehen, ob alles in Ordnung sei, klopfte dem Kind auf den Rücken und ließ es auf seinem Bein reiten.

»Bist du naß, Dolphus, mein Junge?« fragte der Vater. »Komm, setz dich in meinen Stuhl und trockne dich.«

»O danke, Vater«, sagte Adolphus und wischte sich das Gesicht mit dem abgetragenen Ärmel, »ich bin nicht sehr naß, scheint mir. Glänzt mein Gesicht sehr, Vater?«

»Ja, es sieht ein bißchen wächsern aus, mein Junge«, bestätigte Mr. Tetterby.

»Das macht das Wetter«, sagte Adolphus und wischte sich die Backen ab. »Wenn’s so recht regnet und graupelt und bläst und schneit und nebelt, dann wird mein Gesicht manchmal ganz feuerrot und glänzt dann – – –«

Master Adolphus gehörte auch zur Zeitungsbranche und war von einer blühenderen Firma als der seines Vaters & Comp. angestellt, Zeitungen auf einer Eisenbahnstation zu verkaufen, wo seine dickbäckige kleine Gestalt, die einem Amor in schäbiger Ausführung nicht unähnlich sah, und seine hohe, schrille Stimme (er war noch nicht viel mehr als zehn Jahre alt) ebensowohl bekannt waren wie das heisere Keuchen der ein- und auslaufenden Lokomotiven. Sein jugendlicher Frohsinn bei diesem frühzeitigen Eintritt ins Geschäftsleben hätte kein rechtes Ventil gehabt, wenn Adolphus nicht eine glückliche Entdeckung gemacht hätte, mit der er sich Unterhaltung verschaffte und den langen Tag in verschiedene Grade des Interesses einteilen konnte, ohne dabei das Geschäft zu vernachlässigen. Diese geistvolle Erfindung, gleich allen großen Entdeckungen durch Einfachheit auffallend, bestand in der Abänderung des ersten Vokals in dem Worte »Blatt«, an dessen Stelle, je nach den verschiedenen Tagesabschnitten, all die andern Vokale in alphabetischer Reihenfolge gesetzt wurden. So lief er vor Tagesanbruch in der Winterszeit in seinem kleinen Käppchen und Mäntelchen aus Ölzeug und seinem ungeheuren Umschlagtuch hin und her und durchgellte die dicke Luft mit dem Rufe: »Mor-gen-blatt«. Wenn noch ungefähr eine Stunde bis Mittag fehlte, wurde daraus: »Mor-gen-blätt« und daraus wurde ungefähr um zwei Uhr: »Mor-gen-blitt!« und dies verwandelte sich nach wieder ein paar Stunden in »Mor-gen-blott!« Und so stieg es abwärts mitsamt der Sonne bis hinunter zu »Abendblutt«.

Darin bestand der Lebenstrost und das Hauptvergnügen für den jungen Gentleman.

Mrs. Tetterby, seine hochwohlgeborene Mutter, die mit nach rückwärts gesunkenem Hut und Tuch dagesessen und nachdenklich ihren Trauring um den Finger gedreht hatte, erhob sich jetzt, legte ihre Überkleider ab und begann den Tisch für das Abendbrot zu decken.

»O mein, o mein, o mein«, sagte Mrs. Tetterby »wie’s in der Welt zugeht!«

»Wie geht’s denn in der Welt zu, mein Kind?« fragte Mr. Tetterby.

»Ach nichts«, sagte Mrs. Tetterby.

Mr. Tetterby zog die Brauen in die Höhe, blätterte seine Zeitung um und ließ seine Augen auf ihr umherschweifen, nach oben und unten und nach der Seite, aber seine Aufmerksamkeit weilte woanders, und er konnte nicht lesen.

Mrs. Tetterby deckte unterdessen den Tisch, aber mehr, um ihn zu bestrafen, als um das Familienessen fertig zu machen, denn sie schlug ihn unnötig hart mit Messer und Gabel, prügelte ihn mit den Tellern, stieß ihn mit dem Salzfaß und traf ihn schwer mit dem Brot.

»O mein, o mein, o mein«, sagte Mrs. Tetterby wieder, »wie es doch in der Welt zugeht.«

»Mein Schatz«, entgegnete ihr Mann und blickte wieder auf, »du sagtest das schon vorhin. Wie geht es denn in der Welt zu?«

»Ach nichts«, sagte Mrs. Tetterby.

»Sophie«, hielt ihr ihr Mann vor, »auch das sagtest du schon vorhin.«

»Nun, ich will es noch einmal sagen, wenn es dir gefällt«, entgegnete Mrs. Tetterby. »Ach nichts! – und noch einmal, wenn’s dir gefällt: Ach nichts! – und noch einmal, wenn dir’s gefällt: Ach nichts! – So!!«

Mr. Tetterby sah sein Ehegespons an und sagte mit mildem Erstaunen:

»Mein kleines Frauchen, was hat dich so außer Rand und Band gebracht?«

»Das kann ich doch nicht wissen«, versetzte sie, »frag mich nicht. Wer sagt denn, daß ich außer Rand und Band bin. Ich doch nicht!«

Mr. Tetterby gab die Lektüre seiner Zeitung auf wie ein unersprießliches Geschäft, schritt langsam durch die Stube, die Hände auf dem Rücken, die Schultern in die Höhe gezogen, wobei sein Gang vollständig mit der Dulderart seines Wesens harmonierte. Dann richtete er das Wort an seine beiden ältesten Sprößlinge:

»Dein Abendessen wird in einer Minute fertig sein, Dolphus«, sagte er. »Deine Mutter ist in der Nässe draußen gewesen und hat es in der Garküche gekauft. Das war sehr schön von deiner Mutter. Du wirst auch bald was zum Abendessen bekommen, Johnny. Deine Mutter findet Wohlgefallen an dir, junger Mann, weil du so schön auf deine kostbare Schwester achtgibst.«

Mrs. Tetterby sagte nichts, aber ihr Zorn gegen den Tisch ließ sichtlich nach. Als sie mit ihren Zubereitungen fertig war, nahm sie aus ihrem geräumigen Korb ein tüchtiges Stück heißen Erbsenpuddings, das in Papier gewickelt war, und eine mit einem Deckel zugedeckte Schüssel, die einen so angenehmen Duft ausströmte, daß die drei Paar Augen in den zwei Betten sich weit aufrissen und das festliche Mahl anstarrten.

Mr. Tetterby beachtete diese Art stillschweigender Einladung, Platz zu nehmen, nicht weiter, sondern blieb stehen und wiederholte langsam: »Ja, ja, dein Abendbrot wird im Augenblick fertig sein, Dolphus. Deine Mutter ist in der Nässe draußen gewesen bei der Garküche und hat es geholt. Das war sehr schön von deiner Mutter –«, bis Mrs. Tetterby, die hinter seinem Rücken verschiedene Zeichen der Zerknirschung an den Tag gelegt hatte, ihm plötzlich um den Hals fiel und weinte.

»O Dolphus«, rief Mrs. Tetterby, »wie hab‘ ich nur so sein können!«

Diese Aussöhnung rührte Adolphus jun. und Johnny dermaßen, daß beide wie auf Verabredung einen kläglichen Schrei ausstießen, der auf der Stelle bewirkte, daß die runden Augen in den Betten sich schlossen und die beiden noch übrigen kleinen Tetterbys, die eben aus dem anstoßenden Kämmerchen hervorgeschlichen kamen, um zu sehen, was es zu essen gäbe, schleunigst den Rückzug antraten.

»Ich kann dir versichern, Dolphus«, schluchzte Mrs. Tetterby, »als ich heimkam, dachte ich ebensowenig daran wie ein ungeborenes Kind – – –«

Mr. Tetterby schien dieses Gleichnis sichtlich zu mißfallen, und er bemerkte: »Sage vielleicht lieber, wie unser Kleinstes, mein Schatz.«

»– – – – ich dachte ebensowenig daran wie unser Kleinstes!« verbesserte Mrs. Tetterby. »Johnny, sieh mich nicht an! Sieh auf Sally, sonst fällt sie dir aus dem Schoß und schlägt sich tot, und dann müßtest du an den Qualen eines gebrochenen Herzens sterben, und das geschähe dir recht. – Ebensowenig wie dieses Herzblatt dort dachte ich beim Nachhausegehen daran, mißgestimmt zu sein, aber ich wußte nicht, Dolphus – – – –« Mrs. Tetterby hielt inne und drehte wieder ihren Trauring um den Finger.

»Ich verstehe«, sagte Mr. Tetterby, »ich verstehe. Meinem Frauchen ist etwas in die Quere gekommen. Harte Zeiten und hartes Wetter und harte Arbeit machen manchmal das Leben schwer. Ich verstehe. Kein Wunder! Dolphus, mein Junge«, fuhr Mr. Tetterby fort und forschte mit der Gabel in der Schüssel, »da hat deine Mutter in der Garküche außer dem Erbsenpudding ein ganzes prächtiges Schinkenbein gekauft, mit schöner brauner Kruste drauf und Sauce und Senf dazu in unerschöpflicher Menge. Gib deinen Teller her, Junge, und iß, solange es noch warm ist.«

Adolphus jun. ließ sich das nicht zweimal sagen, nahm seinen Teil mit vor Eßlust wässerigen Augen in Empfang, zog sich nach einem abseits stehenden Stuhl zurück und fiel über sein Abendbrot her. Johnny wurde auch nicht vergessen, bekam aber seine Ration auf Brot, damit nichts auf das Wickelkind tropfe. Aus dem gleichen Grunde wurde von ihm verlangt, daß er seinen Pudding nach dem Abbeißen immer in die Tasche stecken solle.

Es hätte mehr Fleisch an dem Schinkenbein sein können, denn der Vorschneider in der Garküche hatte schon viel daran herumgeschnitten für frühere Kunden, aber es mangelte nicht an Würze, und das ist ein Zubehör, das halb und halb die Vorstellung von Schweinefleisch wachruft und angenehm den Geschmackssinn täuscht. Auch der Erbsenpudding und die Sauce und der Senf hatten, wenn sie auch nicht gerade Schweinefleisch waren, doch in seiner Nähe gestanden – wie die Rose des Orients neben der Nachtigall –, so daß im Ganzen Duft und Geschmack eines gebratenen Schweins mittlerer Größe vorhanden war. Die jungen Tetterbys im Bett konnten nicht widerstehen, und obgleich sie sich gestellt hatten, als schlummerten sie friedlich, kamen sie, wenn die Eltern es nicht sahen, hervorgekrochen und baten stumm die Brüder um einen gastronomischen Beweis brüderlicher Liebe. Diese waren nicht hartherzig und gaben ihnen einige Bissen, und die Folge davon war, daß die Kleinen in Nachtjäckchen während des ganzen Essens lebhaft umherschwärmten, aus dem Bett zu den Stühlen und zurück. Das regte Mr. Tetterby außerordentlich auf und versetzte ihn einige Male in die Zwangslage, einen Ausfall zu machen, vor dem sich dann diese Guerillatruppen nach allen Richtungen in großer Verwirrung flüchteten.

Mrs. Tetterby fand keinen Genuß an ihrem Abendessen. Sie schien etwas auf dem Herzen zu haben. Einmal lachte sie ohne Grund, ein anderes Mal weinte sie ohne Grund, und schließlich lachte und weinte sie in einer so unbegründeten Art und Weise, daß ihr Mann ganz bestürzt war.

»Mein kleines Frauchen«, sagte Mr. Tetterby, »wenn’s in der Welt so zugeht, so geht es nicht mit rechten Dingen zu.«

»Gib mir einen Tropfen Wasser«, sagte Mrs. Tetterby mit den Tränen kämpfend. »Sprich nicht mit mir, und nimm überhaupt keine Notiz von mir, bitte!«

Nachdem Mr. Tetterby ihr das Wasser gereicht hatte, wandte er sich plötzlich gegen den unglücklichen Johnny, der voll Teilnahme zusah, und fragte, warum er in Völlerei und Faulheit schwelge, anstatt mit dem Wickelkind vorzutreten, damit der Anblick des kleinen Püppchens seine Mutter wieder zu sich bringen könne. Johnny kam sofort herbei, niedergedrückt durch die Last; Mrs. Tetterby aber streckte abwehrend die Hand aus, zum Zeichen, daß sie noch nicht imstande sei, eine so harte Prüfung ihrer Gefühle auszuhalten, und so wurde ihm denn verboten, auch nur einen Zoll näher zu treten, unter Androhung ewigen Hasses von Seiten aller seiner teuersten Verwandten. Demgemäß zog sich Johnny wieder auf seinen Stuhl zurück und versank wie zuvor.

Nach einer Pause sagte Mrs. Tetterby, es sei ihr jetzt wohler, und fing an zu lachen.

»Mein kleines Frauchen«, forschte ihr Mann mißtrauisch, »bist du auch fest überzeugt, daß dir wohler ist, oder soll’s vielleicht in einer andern Richtung ausbrechen, Sophie?«

»Nein, Dolphus, nein«, antwortete seine Gattin, »ich bin wieder ganz bei mir.«

Mit diesen Worten brachte sie ihr Haar in Ordnung, drückte ihre Handflächen auf die Augen und lachte abermals.

»Was für eine gottlose Törin ich war, auch nur einen Augenblick solche Gedanken zu haben«, sagte Mrs. Tetterby. »Rücke näher, Dolphus, ich will mein Herz ausschütten und dir erzählen, was mich drückt.«

Mr. Tetterby rückte seinen Stuhl näher heran. Mrs. Tetterby lachte wieder und wischte sich die Augen.

»Du weißt, mein lieber Dolphus«, sagte Mrs. Tetterby »als ich noch ledig war, hätte ich mich nach verschiedenen Seiten hin vergeben können. Es gab eine Zeit, da liefen mir vier auf einmal nach, und zwei davon waren Marssöhne.«

»Mein Herzblatt, wir alle sind Söhne von Ma’s«, sagte Mr. Tetterby, »zusammen mit Pa’s«, und schwelgte in dem Wortspiel.

»So meine ich’s nicht«, erwiderte seine Frau, »ich meine Soldaten – Unteroffiziere.«

»Oh!« sagte Mr. Tetterby.

»Nun, Dolphus, ich denke jetzt nicht mehr daran, und es tut mir auch nicht leid, ich weiß, ich habe einen so herzensguten Mann und würde ganz gewiß ebensoviel tun, um ihm meine Liebe zu beweisen, wie –«

»– wie irgendein kleines Frauchen auf der Welt. Sehr gut, sehr gut!«

Wäre Mr. Tetterby zehn Fuß hoch gewesen, hätte er keine zartere Rücksicht auf Mrs. Tetterbys feenhafte Gestalt an den Tag legen können, und wäre Mrs. Tetterby zwei Fuß hoch gewesen, sie hätte nicht überzeugter sein können, daß diese Bezeichnung ihr zukäme.

»Aber siehst du, Dolphus«, sagte Mrs. Tetterby »jetzt ist Weihnachten, und da machen alle Leute, die es können, Feiertag, und alle Leute, die Geld haben, geben da gern ein bißchen Geld aus, und da bin ich, ich weiß nicht wie, ein bißchen ärgerlich geworden, als ich eben auf der Straße war. Da sind so viele Sachen zum Verkauf ausgestellt, so köstliche Sachen zum Essen, so schöne Sachen zum Ansehen und so entzückende Sachen zum Tragen – und ich mußte soviel hin und her rechnen, ehe ich es wagen durfte, auch nur einen Sixpence für das Notwendigste auszugeben, und der Korb war so groß, es wäre soviel hineingegangen, und mein Geldvorrat war so klein und hätte nur zu einem bißchen gereicht – du hassest mich, nicht wahr, Dolphus?«

»Keineswegs«, sagte Mr. Tetterby »bis jetzt nicht.«

»Gut! Ich will dir die ganze Wahrheit erzählen, dann wirst du mich vielleicht hassen. Als ich in der Kälte herumlief und noch eine Menge anderer rechnender Gesichter mit großen Körben herumlaufen sah, da kam mir so der Gedanke, ich hätte doch besser getan und wäre vielleicht glücklicher, wenn – wenn, wenn – – –« Der Trauring drehte sich wieder um den Finger, und Mrs. Tetterby schüttelte niedergeschlagen den Kopf.

»Ich verstehe«, sagte ihr Gatte ruhig, »wenn du gar nicht geheiratet hättest oder einen andern geheiratet hättest.«

»Ja«, schluchzte Mrs. Tetterby, »das habe ich gedacht. Hassest du mich jetzt, Dolphus?«

»Nein«, sagte Mr. Tetterby, »ich finde bis jetzt noch nichts.«

Mrs. Tetterby gab ihm einen dankbaren Kuß und fuhr fort:

»Dann fange ich an zu hoffen, du wirst mich überhaupt nicht hassen, obwohl ich fürchte, ich habe dir noch nicht das Schlimmste erzählt. Ich kann mir gar nicht erklären, wie es über mich gekommen ist. Ich weiß nicht, ob ich krank war oder verrückt oder was sonst. Aber ich war mir plötzlich nicht mehr klar darüber, was uns eigentlich aneinanderknüpft und was mich mit meinem Geschick je versöhnen könnte. All die Vergnügungen und Freuden, die wir jemals gehabt, sie schienen so armselig und unbedeutend. Ich haßte sie. Ich hätte sie mit Füßen treten können, und ich konnte an nichts weiter denken, als daß wir arm sind und wieviel Mäuler zu Hause sind.«

»Nun, nun, meine Liebe«, sagte Mr. Tetterby und schüttelte ihr ermutigend die Hand, »das ist doch die Wahrheit. Wir sind arm, und es sind eine Menge Mäuler im Hause.«

»Ach, aber, Dolph, Dolph«, rief seine Gattin und legte ihm die Hände um den Hals, »mein gutes, liebes, geduldiges Männchen, als ich eine kleine Weile erst zu Hause war, wie wurde es da anders! O mein lieber Dolph, wie anders wurde es! Mir war, als flösse alles in mir über vor einem Schwall von Erinnerungen, der mein hartes Herz erweichte und zu zersprengen drohte. All unser Ringen um einen Lebensunterhalt, alle unsere Sorgen und Entbehrungen seit unserer Hochzeit, alle die Zeiten, wo wir krank lagen, all die Stunden, die wir durchwacht, beieinander oder bei den Kindern, schienen zu mir zu reden und zu sagen, daß sie uns zu einer Person gemacht, und ich hätte nie mehr etwas anderes sein mögen, sein können oder wollen als die Gattin und die Mutter, die ich bin. Dann wurden die kleinen billigen Vergnügungen, die ich eben noch so grausam hatte mit Füßen treten wollen, so kostbar, o so wertvoll und teuer, daß ich gar nicht mehr daran denken durfte, wie sehr ich sie verkannt hatte, und es immer und immer wiederholen mußte und es jetzt noch hundertmal sagen möchte, wie konnte ich mich nur so aufführen, Dolphus, wie konnte ich das Herz haben, so etwas zu tun.«

Die gute Frau war ganz außer sich vor Aufregung, Zärtlichkeit und Reue und weinte von ganzem Herzen, als sie plötzlich mit einem Schrei auffuhr und sich hinter ihrem Mann versteckte. Ihr Schrei war so angstvoll, daß die Kinder aus dem Schlaf auffuhren, schleunigst aus den Betten sprangen und sich um sie scharten. Ihr Blick war entsetzt und ihre Stimme außer sich vor Angst, als sie auf einen bleichen Mann in schwarzem Mantel deutete, der in das Zimmer hereingekommen war.

»Sieh den Mann dort an, sieh dort, was will er?«

»Meine Liebe«, entgegnete ihr Gatte, »ich will ihn fragen, wenn du mich nur losläßt. Was gibt es denn? Wie du zitterst.«

»Ich habe ihn auf der Straße gesehen, als ich eben draußen war. Er sah mich an und stand ganz dicht bei mir. Ich fürchte mich so vor ihm.«

»Fürchtest dich vor ihm, warum denn?«

»Ich weiß nicht, warum – ich – bleib hier!« Sie hielt ihren Mann zurück, als er auf den Fremden zugehen wollte.

Sie preßte die eine Hand auf die Stirn und die andere auf die Brust. Ein sonderbares Zittern lief über ihren Körper, und eine Unruhe, wie wenn sie etwas verloren hätte, lag in ihren Augen.

»Bist du krank, mein Schatz?«

»Was ist das, was da wieder von mir weicht«, sagte sie leise vor sich hin, »was ist das nur, das da von mir weicht?« Dann antwortete sie kurz: »Krank? Nein, ich bin ganz wohl«, und starrte mit leerem Blick auf den Boden.

Ihr Mann, der ebenfalls nicht ganz frei von Furcht geblieben war und den die Sonderbarkeit ihres Wesens noch mehr beunruhigte, wandte sich jetzt an den bleichen Besuch im schwarzen Mantel, der mit zu Boden gesenkten Augen an der Tür stehengeblieben war.

»Was wünschen Sie eigentlich von uns, Sir?« fragte er.

»Ich fürchte, mein unbemerktes Hereintreten hat Sie erschreckt«, antwortete der Besuch, »aber Sie sprachen miteinander und hörten mein Kommen nicht.«

»Mein kleines Frauchen sagt, Sie haben es vielleicht selbst gehört«, entgegnete Mr. Tetterby, »es sei nicht das erste Mal heute abend, daß Sie sie erschreckt haben.«

»Das tut mir leid. Ich entsinne mich, Sie auf der Straße bemerkt zu haben; ich hatte nicht die Absicht, Sie zu erschrecken.« Er erhob bei diesen Worten seine Blicke und sie die ihren. Seltsam war die Scheu, die sie vor ihm hatte, seltsam das Grausen, als er das bemerkte.

Dennoch sahen sie einander scharf und forschend an.

»Mein Name ist Redlaw. Ich komme aus dem alten Kolleg dicht nebenan; ein junger Mann, der dort studiert, wohnt in Ihrem Hause, nicht wahr?«

»Mr. Denham?« fragte Tetterby.

»Ja.«

Es war eine ganz natürliche Bewegung und eine so flüchtige, daß sie kaum auffallen konnte, aber ehe der kleine Mann wieder antworten konnte, strich er sich mit der Hand über die Stirn und sah sich rasch im Zimmer um, als fühle er irgendeine Veränderung in der Atmosphäre vor sich gehen. Der Chemiker richtete gleich darauf den scheuen Blick, mit dem er die Frau vorhin angesehen, auch auf ihn, trat zurück und wurde noch fahler.

»Das Zimmer des Herrn«, sagte Tetterby, »ist oben, Sir. Seine Wohnung hat noch einen besonderen Eingang. Aber da Sie schon einmal hier sind, brauchen Sie nicht erst wieder in die Kälte hinauszugehen, wenn Sie hier die paar Stufen hinaufsteigen wollen«, und er zeigte auf eine Treppe, die unmittelbar in das obere Zimmer hinaufführte.

»Ja, ich will hinauf zu ihm«, sagte der Chemiker, »können Sie mir eine Kerze leihen?« Die unruhige Spannung in seinen Augen und das unerklärliche Mißtrauen, das diesen Blick verdüsterte, schienen Mr. Tetterby zu beunruhigen. Er schwieg, sah ihn starr an und blieb wie gebannt ein oder zwei Minuten lang unbeweglich stehen.

Endlich sagte er: »Ich will Ihnen leuchten, Sir, wenn Sie mir folgen wollen.«

»Nein«, antwortete der Chemiker, »ich wünsche nicht, daß man mich begleitet oder bei ihm anmeldet; er erwartet mich nicht. Ich will lieber allein gehen. Bitte, geben Sie mir ein Licht, wenn Sie es entbehren können, und ich werde mich schon zurechtfinden.«

Er stieß diese Worte hastig hervor, nahm dem Zeitungsagenten die Kerze aus der Hand und berührte dabei unabsichtlich dessen Brust. Schnell zog er sie wieder zurück, als habe er den Mann verwundet (denn er wußte nicht, in welchem Teil seines Körpers die neue Kraft lag oder wie sie sich übertrug). Dann wandte er sich ab und stieg die Treppe empor.

Aber als er die oberste Stufe erreicht hatte, blieb er stehen und sah hinab. Die Frau stand noch auf derselben Stelle und drehte sinnend den Trauring um ihren Finger. Der Mann hatte das Haupt auf die Brust sinken lassen und brütete mürrisch vor sich hin. Die Kinder klammerten sich immer noch an die Mutter, blickten furchtsam zu dem Gast empor und drängten sich dichter aneinander, als sie ihn herabschauen sahen.

»Weg da«, sagte der Vater grob, »jetzt hab‘ ich’s satt. Macht, daß ihr ins Bett kommt.« –

»Die Stube ist eng genug ohne euch«, setzte die Mutter hinzu. »Schert euch ins Bett.«

Verschüchtert und betrübt schlich die kleine Brut davon; Johnny und das Wickelkind machten den Schluß. Die Mutter sah sich verächtlich in der ärmlichen Stube um, schob die Überreste des Abendessens verdrossen beiseite und setzte sich hin, in mürrisches Nachsinnen verloren. Der Vater setzte sich wieder zum Kamin, schürte ungeduldig das kleine Feuer zusammen und beugte sich darüber, als wolle er es ganz für sich allein in Anspruch nehmen. Sie wechselten kein Wort.

Der Chemiker, blasser als zuvor, stahl sich wie ein Dieb hinauf, blickte auf die Veränderung, die unten vor sich gegangen, und wußte in seinem Grausen nicht, sollte er weitergehen oder umkehren.

»Was hab‘ ich getan«, sagte er verwirrt, »was wollte ich denn nur?«

»Der Wohltäter der Menschheit sein«, glaubte er eine Stimme antworten zu hören. Er blickte sich um, aber es war niemand da, und eine Wendung der Treppe verbarg jetzt die kleine Stube vor seinen Blicken. So schritt er weiter und sah nur mehr auf seinen Weg.

»Erst gestern nacht habe ich den Pakt geschlossen, und schon sind alle Dinge mir fremd geworden. Ich bin mir selber fremd. Ich bin hier wie im Traum. Was für ein Interesse habe ich für diesen Ort oder irgendeinen andern? Mein Geist ist wie mit Blindheit geschlagen.«

Er stand vor einer Tür, klopfte an und trat ein, als drinnen jemand »herein« sagte.

»Ist’s meine liebenswürdige Wärterin?« fragte die Stimme. »Aber warum frage ich denn, es kann ja doch niemand anderer sein.«

Die Stimme klang in fröhlichem, wenn auch müdem Ton und lenkte des Chemikers Aufmerksamkeit auf einen jungen Mann, der auf einem an den Kamin gerückten Sofa lag und der Tür den Rücken kehrte. In einem so winzigen Kamin, mager und eingefallen wie die Wangen eines Kranken, daß er kaum das Zimmer erwärmen konnte, brannte das Feuer, nach dem sein Gesicht hingewandt war. Die Flammen waren dem zugigen Boden so nahe, daß sie flackernd und prasselnd brannten und die glühende Asche rasch durch den Rost fiel.

»Sie knistert beim Herunterfallen«, sagte der Student lächelnd, »das bedeutet, wie man sagt, nicht Särge, sondern viel Geld. Ich werde also, wenn Gott will, doch noch gesund und reich werden und am Ende noch eine kleine Milly lieben können, die mich dann immer an das gütigste und zarteste Herz in dieser Welt erinnern soll.«

Er streckte die Hand aus und erwartete, seine Pflegerin werde sie ergreifen. Da er aber noch sehr schwach war, blieb er dabei still liegen, ließ das Gesicht auf der andern Hand ruhen und drehte sich nicht um.

Der Chemiker sah sich im Zimmer um, blickte auf die Bücher und Papiere des Studenten, die auf einem Tisch in einer Ecke aufeinandergetürmt lagen und mit der erloschenen, jetzt beiseite gestellten Arbeitslampe von den Stunden eines fleißigen Studiums, das dieser Krankheit vorangegangen und sie vielleicht verursacht hatte, erzählten. Er blickte auf den Straßenanzug, der müßig an der Wand hing und die erste Stelle einnahm unter den Dingen, die von ehemaliger Gesundheit und Freiheit sprachen, sah auf die Andenken an andere und weniger einsame Szenen, auf die kleinen Miniaturporträts auf dem Kaminsims und die Abbildung des Elternhauses, auf das Zeichen eines ehrgeizigen Ziels oder vielleicht der persönlichen Zuneigung, nämlich – Redlaws eingerahmtes Bild. Es hatte eine Zeit gegeben – gestern noch –, wo nicht ein einziger dieser Gegenstände – wäre das Interesse an dem Studenten vor ihm auch noch so gering gewesen – ohne Eindruck auf den Chemiker geblieben wäre. Jetzt waren es gleichgültige Gegenstände, und wenn noch eine schwache Erinnerung in ihm auflebte, so verwirrte es ihn nur, und mit trübem Staunen blickte er umher. Der Student zog die magere Hand wieder zurück, als niemand sie berührte, richtete sich auf seinem Sofa auf und wandte den Kopf. »Mr. Redlaw!« rief er aus und fuhr empor.

Redlaw streckte den Arm aus. »Kommen Sie mir nicht näher, ich will mich hier niedersetzen. Bleiben Sie, wo Sie sind!«

Er setzte sich auf einen Stuhl in der Nähe der Türe, warf einen Blick auf den jungen Mann, der sich mit der Hand auf dem Sofa aufrecht hielt, dann senkte er seine Augen und fuhr fort:

»Ich habe durch einen Zufall gehört, durch welchen, ist gleichgültig, daß ein Student aus meiner Klasse krank und hilflos sei. Ich konnte weiter nichts erfahren, als daß er in dieser Straße wohne. Ich fing in dem ersten Hause der Straße an zu fragen und habe Sie auf diese Art ausfindig gemacht.«

»Ich bin krank gewesen, Sir«, erwiderte der Student. Er sagte es in bescheidener Zurückhaltung, aber mit einer Art gewaltsam unterdrückten Grauens. »Aber jetzt geht es mir schon viel besser. Ein Fieberanfall, Nervenfieber glaube ich, hat mich sehr geschwächt, aber mir ist schon weit wohler. – Ich kann nicht sagen, daß ich ohne Hilfe gewesen bin in meiner Krankheit, sonst vergäße ich die freundliche Hand, die mich niemals verlassen hat.«

»Sie sprechen von der Frau des Kastellans«, sagte Redlaw.

»Ja.« Der Student neigte den Kopf wie in stiller Andacht.

Der Chemiker war in kalte monotone Teilnahmslosigkeit verfallen und schien eher ein Marmorbild auf dem Grabe des Mannes, der gestern bei der ersten Erwähnung von der unglücklichen Lage des Studenten aufgesprungen war, zu sein, als dieser lebende Mensch selbst. Er sah wieder den Studenten an, der sich mit der Hand auf das Sofa stützte, sah auf den Fußboden und in die Luft, als suche er nach einem Licht für seinen erblindeten Geist.

»Ich erinnerte mich an Ihren Namen«, sagte er, »als ich ihn vorhin in der Stube nennen hörte, und entsinne mich jetzt auch Ihres Gesichtes. Wir sind nur wenig in persönliche Beziehungen miteinander gekommen.«

»Sehr wenig.«

»Ich glaube, Sie haben sich von mir zurückgezogen und sich mehr als die andern von mir ferngehalten.«

Der Student verbeugte sich beistimmend.

»Und warum?« fragte der Chemiker, ohne im mindesten Interesse zu zeigen, bloß wie aus einer wunderlichen zufälligen Neugierde heraus. »Warum? Wie kommt es, daß Sie mir absichtlich verhehlt haben, daß Sie hiergeblieben sind in dieser Jahreszeit, wo alle andern verreisen, und daß Sie krank geworden sind? Ich möchte wissen, warum?«

Der junge Mann hatte ihm mit wachsender Erregung zugehört. Er hob die niedergeschlagenen Augen, schlug die Hände zusammen und rief mit bebenden Lippen:

»Mr. Redlaw, Sie haben mich durchschaut, Sie kennen mein Geheimnis.«

»Ihr Geheimnis?« fragte der Chemiker kalt. »Ich soll es kennen?«

»Ja. Ihr Wesen, das jetzt so verschieden ist von der Teilnahme und dem Mitleid, die Sie so vielen Herzen teuer machen, Ihre veränderte Stimme, das Gezwungene in Ihren Worten und Blicken sagen mir, daß Sie mich kennen«, erwiderte der Student. »Daß Sie es selbst jetzt noch verbergen möchten, ist für mich nur ein Beweis mehr für Ihre angeborene Herzensgüte und die Kluft, die uns trennt.«

Ein leeres und verächtliches Lächeln war die einzige Antwort, die er erhielt.

»Aber Mr. Redlaw«, sagte der Student, »bedenken Sie als gerechtfühlender und edler Mensch, wie wenig Schuld ich habe an dem Unrecht, das Ihnen zugefügt worden ist, – an dem Kummer, den Sie ertragen haben. Es müßte denn mein Name und meine Abkunft –«

»Kummer?« unterbrach ihn Redlaw auflachend. »Unrecht? Was geht das mich an?«

»Um Himmels willen«, flehte der Student, »lassen Sie sich von den paar Worten, die Sie mit mir wechselten, nicht noch mehr verändern, Sir. Streichen Sie mich wieder aus Ihrem Gedächtnis. – Lassen Sie mich meinen alten entfernten Platz unter denen, die Sie unterrichten, wieder einnehmen. Kennen Sie mich wieder nur unter dem Namen, den ich annahm, und nicht als – – – Langford –«

»Langford!« rief der andere aus. Er fuhr mit beiden Händen nach der Stirn und wandte dem Jüngling einen Augenblick lang sein früheres geistvolles und nachdenkliches Gesicht zu. Aber das Licht verschwand wieder wie ein flüchtiger Sonnenstrahl, und das Gesicht umwölkte sich wie vordem.

»Der Name, den meine Mutter führt, Sir«, sagte der Jüngling verlegen, »der Name, den sie wählte, als sie vielleicht einen geehrteren hätte bekommen können, Mr. Redlaw«, fuhr er zögernd fort. »Ich glaube, ich kenne diese Geschichte. Wo mein Wissen nicht ausreicht, ergänzen Vermutungen die Lücke, bis das Ganze der Wahrheit ziemlich nahe kommt. Ich bin das Kind einer Ehe, die sich als nicht glücklich erwies. Von Kindheit an hörte ich von Ihnen mit hoher Achtung, fast mit Ehrfurcht sprechen, von solcher Hingebung, Standhaftigkeit und Herzensgüte; von solchem Ankämpfen gegen Hindernisse, die einen Menschen niederschmettern können, habe ich vernommen, daß meine Phantasie, seit ich meinen ersten Unterricht an der Hand meiner Mutter genossen, Ihren Namen mit Lichtglanz umwoben hat. Und endlich, konnte ich – ein armer Student – von einem andern besser lernen als von Ihnen?«

Unbewegt und unverändert und ihn nur mit einem inhaltsleeren Blick anstarrend, antwortete Redlaw weder mit Worten noch durch Gebärden.

»Ich kann nicht in Worte fassen«, fuhr der andere fort, »wie sehr ich gerührt war, die schönen Spuren der Vergangenheit in der Dankbarkeit und dem Vertrauen wieder aufleuchten zu sehen, die sich bei uns Studenten an Mr. Redlaws Namen knüpfen. Wir sind an Alter und Stellung so verschieden voneinander, Sir, und ich bin so gewohnt, Sie nur aus der Ferne zu sehen, daß ich mich über meine eigene Kühnheit wundere, wenn ich dieses Thema auch nur leise berühre. Aber einem Mann, der, ich darf es wohl aussprechen, einst für meine Mutter eine nicht gewöhnliche Teilnahme fühlte, ist es vielleicht nicht ganz gleichgültig, jetzt, wo alles vorüber ist, zu erfahren, mit wie unbeschreiblicher Liebe ich Sie aus der Ferne betrachtet habe, mit welchem Schmerze ich mich von Ihnen ferne hielt – während ein Wort von Ihnen mich reich gemacht hätte – und wie sehr ich dennoch fühle, daß ich recht tat, auf dieser Bahn zu bleiben, zufrieden damit, Sie zu kennen und selbst unbekannt zu sein. Mr. Redlaw«, sagte der Student schüchtern, »was ich sagen wollte, habe ich nicht glücklich ausgedrückt. Aber wenn etwas Unwürdiges in der Täuschung liegt, die ich mir habe zuschulden kommen lassen, so verzeihen Sie mir, und in allem übrigen – – bitte vergessen Sie mich.«

Das starre Stirnrunzeln blieb auf Redlaws Gesicht und wich keinem andern Ausdruck, bis der Student bei den letzten Worten auf ihn zuschritt, als wolle er seine Hand berühren. Da zog er sich zurück und schrie ihn an:

»Kommen Sie mir nicht näher!« Der junge Mann blieb stehen, entsetzt über die Plötzlichkeit und Schroffheit dieser Zurückweisung, und strich sich nachdenklich mit der Hand über die Stirn.

»Was vorbei ist, ist vorbei«, sagte der Chemiker. »Die Vergangenheit stirbt wie das unvernünftige Tier. Wer redet mir von ihren Spuren in meinem Leben. Der faselt oder lügt. Was gehen mich Ihre kranken Träume an. Wenn Sie Geld brauchen, hier ist welches. Ich kam her, um es Ihnen anzubieten, und das war der eigentliche Zweck meines Kommens. Weiter kann ich hier nichts gewollt haben«, murmelte er vor sich hin und legte die Hände wieder an die Stirn. »Weiter kann ich hier nichts gewollt haben, oder –?«

Er hatte seine Börse auf den Tisch geworfen und verfiel wieder in Nachsinnen. Der Student hob sie auf und hielt sie ihm hin.

»Nehmen Sie sie wieder zurück, Sir«, sagte er stolz, doch nicht erzürnt; »ich wünschte, Sie könnten mit ihr zugleich die Erinnerung an Ihre Worte und an Ihr Anerbieten zurücknehmen.«

»Wünschen Sie das?« fragte jener mit einem sonderbaren Flackern in seinen Augen. »Wünschen Sie das?«

»Ja, ich wünsche es.«

Der Chemiker trat jetzt zum erstenmal dicht an ihn heran, nahm die Börse, ergriff den Arm des Studenten und sah ihm ins Gesicht. »Krankheit bringt Schmerz und Sorge, nicht wahr?« sagte er mit einem Lachen.

»Ja«, gab Langford verwundert zur Antwort.

»Ihre Ruhelosigkeit, Ihre Angst, Ihre Ungewißheit und das ganze Gefolge von Leiden an Körper und Geist«, sagte der Chemiker mit einem wilden sonderbaren Frohlocken, »ist es nicht am besten, man vergißt es?«

Der Student antwortete nicht, sondern fuhr sich wieder mit der Hand zerstreut über die Stirn. Redlaw hielt ihn immer noch am Arm gefaßt, als man draußen Millys Stimme vernahm.

»Ich kann jetzt schon sehen, ich danke, Dolph! – – Weine nicht, Kind. Vater und Mutter werden morgen schon wieder gut sein, und dann ist es auch wieder hübsch zu Haus. So, so, ein Herr ist bei ihm?«

Redlaw ließ den Studenten los und horchte.

»Ich habe vom ersten Augenblick an gefürchtet«, murmelte er vor sich hin, »ihr zu begegnen. Es liegt eine Art unendlicher Güte in ihr, die ich zu verderben fürchte. Ich könnte zum Mörder an dem werden, was das Schönste und Beste in ihrem Herzen ist.«

Sie klopfte an die Türe.

»Soll ich es wie eine nichtige Ahnung mißachten oder sie dennoch meiden«, murmelte er und sah unschlüssig umher.

Wieder klopfte sie an die Tür.

»Von all denen, die hierher kommen«, sagte er heiser und erregt zu dem Studenten, »möchte ich diese Frau am wenigsten hier sehen. Verbergen Sie mich!«

Der Student öffnete eine Brettertür in der Wand, die in ein kleines Dachstübchen führte. Redlaw trat rasch hinein und schloß hinter sich ab. Der Student nahm seinen Platz auf dem Sofa wieder ein und rief: »Herein!«

»Lieber Mister Edmund«, sagte Milly und sah sich um. »Man sagte mir, es wäre ein Herr hier.«

»Es ist niemand hier als ich.«

»Es ist aber jemand hiergewesen?«

»Ja, es war jemand hier.«

Sie stellte ihr Körbchen auf den Tisch und trat an die Rückseite des Sofas, als wollte sie wie gewöhnlich die ausgestreckte Hand ergreifen; aber diese war nicht da. Ein wenig überrascht beugte sie sich über den Patienten und berührte leise seine Stirn.

»Sind Sie ganz wohl heute abend? Ihre Stirn ist heißer als nachmittags.«

»Ach was«, sagte der Student ärgerlich, »mir fehlt nichts.«

Mehr Erstaunen als Vorwurf malte sich auf Millys Gesicht, als sie nach der andern Seite des Tisches ging und aus ihrem Korbe ein kleines Päckchen Handarbeit herausholte. Aber bald legte sie es wieder hin, ging geräuschlos im Zimmer umher, setzte jeden Gegenstand an seine Stelle und machte Ordnung. Die Kissen des Sofas berührte sie mit so leichter Hand, daß er es kaum zu merken schien, während er dalag und ins Feuer sah. Als sie damit fertig war und den Herd rein gekehrt hatte, setzte sie sich wieder hin in ihrem bescheidenen Hütchen und arbeitete in geräuschloser Geschäftigkeit.

»Es ist der neue Musselinvorhang für das Fenster, Mister Edmund«, sagte sie, ohne vom Nähen aufzusehen. »Er wird ganz hübsch aussehen, wenn er auch so gut wie nichts kostet, und wird auch Ihre Augen vor dem Licht schützen. William sagt, das Zimmer dürfe jetzt, wo Sie sich so gut erholt, nicht so hell sein, sonst könnte das blendende Licht Sie schwindlig machen.«

Er sagte nichts, aber in der Art, wie er seine Stellung änderte, lag etwas so Ärgerliches und Ungeduldiges, daß ihre flinken Finger innehielten und sie ihn besorgt ansah.

»Die Kissen sind nicht bequem«, sagte sie, die Arbeit hinlegend und sich erhebend, »ich will sie gleich einmal zurechtschütteln.«

»Die Kissen sind sehr gut«, antwortete er. »Lassen Sie, bitte, die Hand davon. Sie machen gleich von allem soviel Wesens.« Er erhob den Kopf, als er das sagte, und warf ihr einen so undankbaren Blick zu, daß sie schüchtern vor ihm stehenblieb, als er sich wieder zurückgeworfen hatte. Dann nahm sie abermals Platz und nähte geschäftig weiter ohne einen Blick des Vorwurfs.

»Ich habe mir oft gedacht, Mr. Edmund, Sie hätten doch oftmals in letzter Zeit, wenn ich neben Ihnen saß, einsehen müssen, daß Unglück ein guter Lehrmeister ist. Die Gesundheit wird Ihnen nach dieser Krankheit kostbarer sein als je zuvor. Und nach Jahren noch, wenn Weihnachten herankommt und Sie sich der Tage, wo Sie hier krank gelegen haben, erinnern – ganz heimlich und innerlich, damit Sie Ihre Lieben nicht betrüben –, dann wird Ihnen der heimische Herd doppelt teuer sein. Ist das nicht ein hübscher Gedanke?«

Sie war zu eifrig bei der Arbeit, die Worte kamen ihr zu innig aus dem Herzen, und sie war überhaupt zu ruhig und stillvergnügt, um achtzugeben, ob er ihr wohl antworten werde. So prallte der Pfeil seines undankbaren Blickes an ihr ab und verletzte sie nicht.

»Ach ja«, sagte Milly und neigte ihr liebliches Gesicht nachdenklich auf die Seite, während sie mit gesenkten Augen den flinken Fingern folgte. »Selbst auf mich – wo ich doch so sehr verschieden von Ihnen bin, Mr. Edmund, und keine Schulbildung habe und nicht weiß, wie man richtig denkt – hat das Erlebnis dieser Vorgänge einen tiefen Eindruck gemacht, seit Sie hier krank gelegen haben. Als ich Sie über die Güte und Aufmerksamkeit der armen Leute unten so gerührt sah, da merkte ich, wie auch Sie fühlten, daß es ein gewisses Entgelt sei für den Verlust der Gesundheit, und ich las in Ihrem Gesichte so deutlich wie in einem Buch, daß wir erst durch ein wenig Kummer und Sorge all das Gute erkennen lernen können, das uns umgibt.«

Sein Aufstehen unterbrach sie, sonst hätte sie noch weitergesprochen.

»Wir brauchen nicht soviel Aufhebens davon zu machen, Mrs. William«, versetzte er geringschätzig, »die Leute da unten werden schon bezahlt werden für die kleinen Extradienste, die sie mir geleistet haben mögen, und erwarten es wohl auch nicht anders. Auch Ihnen bin ich sehr verbunden.«

Sie hörte auf zu nähen und sah ihn an.

»Ich empfinde meine Schuld gegen Sie viel weniger, wenn Sie die Sache übertreiben. Ich bin mir ja bewußt, daß Sie sich sehr um mich bekümmert haben, und ich sage Ihnen, daß ich Ihnen sehr dafür verbunden bin. Was wollen Sie mehr?«

Die Arbeit fiel ihr in den Schoß, und sie sah ihn unverwandt an, wie er ungeduldig hin und her schritt und dann und wann stehenblieb.

»Ich sage nochmals, ich bin Ihnen sehr verpflichtet. Warum wollen Sie das Bewußtsein des Dankes, den ich Ihnen schulde, in mir abschwächen, indem Sie maßlose Ansprüche auf mich erheben? Sorge, Kummer, Leid, Unglück! Man könnte ja rein glauben, ich hätte einen hundertfachen Todeskampf durchgemacht.«

»Glauben Sie vielleicht, Mr. Edmund«, fragte sie, stand auf und trat näher an ihn heran, »daß ich von den armen Leuten hier im Hause sprach, um auf mich selbst anzuspielen? – Auf mich?« Und sie legte die Hand auf ihren Busen mit einem schlichten unschuldsvollen Lächeln des Erstaunens.

»Ach, ich habe darüber gar nicht nachgedacht, gute Frau!« entgegnete er. »Ich habe ein vorübergehendes Unwohlsein gehabt, aus dem Ihre übertriebene Angst, verstehen Sie wohl – übertriebene Angst –, mehr Wesens gemacht hat, als daran war. Jetzt ist es vorbei. Wir können doch nicht ewig darauf herumreiten.«

Gleichgültig nahm er ein Buch zur Hand und setzte sich an den Tisch. Sie sah ihm eine Weile zu, bis ihr Lächeln ganz verschwunden war, dann kehrte sie zu ihrem Korb zurück und fragte sanft:

»Mr. Edmund, möchten Sie lieber allein sein?«

»Ich sehe keinen Grund, weshalb ich Sie hier zurückhalten sollte«, erwiderte er.

»Außer –«, sagte Milly zaudernd, und zeigte auf ihre Handarbeit.

»Ach, der Vorhang«, antwortete er hochmütig lächelnd, »deswegen brauchen Sie nicht zu bleiben.«

Sie packte ihre Arbeit wieder zusammen und legte sie in das Körbchen, dann trat sie vor ihn hin und sagte mit so geduldiger Miene, daß er nicht umhinkonnte, aufzublicken:

»Sollten Sie mich wieder brauchen, so komme ich gern zurück. Als Sie meiner bedurften, war ich wirklich glücklich, kommen zu können, von einem Verdienst kann dabei keine Rede sein. Ich glaube, Sie fürchten jetzt, wo Sie sich erholt haben, ich könnte Ihnen zur Last fallen. Aber das wäre nicht geschehen. Ich wäre nicht länger gekommen, als bei Ihrer Schwäche nötig gewesen. Sie schulden mir keinen Dank. Recht und billig aber wäre es, daß Sie mich behandeln wie eine Dame. – Ja, als wäre ich sogar die Dame, die Sie lieben! Und wenn Sie glauben, ich überschätze in eigennütziger Selbstüberhebung die geringe Mühe, die ich mir gegeben habe, Ihr Krankenzimmer behaglich zu gestalten, so tun Sie sich selbst mehr Unrecht an, als Sie mir antun können. Deswegen bin ich betrübt. Darüber bin ich sehr betrübt.«

Wäre sie leidenschaftlich gewesen statt gelassen, entrüstet statt ruhig, so böse in ihrem Blick, wie sie sanft war, laut im Ton statt leise und klar, so hätte ihr Abschied vielleicht gar keinen Eindruck hinterlassen im Vergleich zu dem, der sich jetzt des einsamen Studenten bemächtigte, als sie fort war.

Er starrte traurig den Platz an, wo sie gestanden, da trat Redlaw aus seinem Versteck hervor und ging zur Türe.

»Wenn Krankheit wieder die Hand auf Sie legen soll«, sagte er und sah ihn erbittert an, »möge es bald geschehen. Mögen Sie hier sterben und verfaulen.«

»Was haben Sie getan«, entgegnete der andere und faßte ihn am Mantel, »welche Verwandlung haben Sie in mir bewirkt. Welchen Fluch haben Sie über mich verhängt! Geben Sie mich mir selbst zurück!«

»Geben Sie mich mir zurück!« schrie Redlaw wie ein Wahnsinniger. »Ich bin wie eine Seuche, ich bin voll Gift in meinem eigenen Innern und voll Gift für die ganze Menschheit. Wo ich früher Teilnahme, Mitleid und Sympathie gehegt habe, da wandle ich mich zu Stein. Selbstsucht und Undankbarkeit keimen auf, wo ich meinen Fuß hinsetze. Nur insofern bin ich vielleicht weniger tiefstehend als die Elenden, die ich schaffe, als ich sie in dem Augenblick hassen kann, wo die Umwandlung in ihnen vorgeht.«

Der junge Mann hielt ihn immer noch am Mantel. Der Chemiker schüttelte ihn von sich ab und schlug nach ihm; dann eilte er wie von Sinnen in die Nachtluft hinaus, wo der Wind heulte, der Schnee herabfiel und durch die einherjagenden Wolkenmassen düster der Mond schien, und wo in dem Heulen des Windes, in dem fallenden Schnee, in den wandernden Wolken und dem trüben Schimmer des Mondes die Worte des Gespenstes sich offenbarten:

»Die Gabe, die ich dir verliehen, sollst du um dich her verbreiten, wo du gehst und stehst.«

Wohin er seine Schritte lenkte, wußte er nicht und kümmerte sich nicht darum, wenn er nur die Menschen vermied. Die Verwandlung, die er in sich verspürte, machte aus den lauten Straßen eine Wüste und ihn selbst zu einer Wüste und die Menge um ihn her mit ihren verschlungenen Lebenspfaden zu einer ungeheuern Wüstenei aus Sand, den der Wind zu zwecklosen Haufen zusammenwarf. Die letzten Spuren in seiner Brust, die, wie der Geist ihm gesagt hatte, bald aussterben würden, waren bis jetzt noch nicht so weit verblichen, daß er nicht zur Genüge begriffen, was er war und aus andern machte, und daß er nicht den Wunsch gefühlt hätte, allein zu bleiben.

Da fiel ihm plötzlich der Junge ein, der in sein Zimmer gestürzt war, und dann ging ihm im Kopf herum, daß von allen, mit denen er seit des Geistes Verschwinden verkehrt, der Knabe der einzige gewesen war, an dem kein Zeichen der Verwandlung aufgetreten. So widerlich ihm das wilde Geschöpf auch war, so beschloß er doch, zu ihm zu gehen und nachzusehen, ob es sich wirklich so verhalte. Er verband damit noch eine andere Absicht, die ihm gleichzeitig einfiel.

Nur mit Mühe stellte er fest, wo er sich befand, und lenkte seine Schritte nach dem alten Stift zurück, und zwar nach jenem Teil, wo die Hauptpforte lag und wo allein das Pflaster von den Tritten der Studenten abgenutzt war. Das Haus des Kastellans stand dicht hinter dem eisernen Tor und bildete einen Teil des Hauptviereckes. Vor der Pforte lief ein alter Bogengang hin, und aus seinem Schatten konnte er zu den Fenstern des Wohnzimmers hineinblicken und sehen, wer darin war. Das Gittertor war geschlossen, aber mit dem Riegel vertraut, steckte er die Hand zwischen die Stäbe, zog ihn zurück und trat leise ein. Dann schloß er das Tor wieder und schlich sich ans Fenster, die dünne Kruste Eis unter seinen Füßen zertretend. Das Kaminfeuer leuchtete hell durch das Fenster und warf einen glänzenden Schein auf den Schnee. Instinktiv wich er der hellen Stelle aus, ging um sie herum und sah hinein. Anfangs glaubte er, die Stube sei leer und die Glut röte nur mit ihrem Schimmer die alten Balken an der Decke und die dunkelbraunen Wände. Als er aber genauer hinblickte, sah er den Knaben auf dem Fußboden kauern. Rasch trat er zur Tür, öffnete sie und ging hinein.

Das Geschöpf lag so nahe bei der Glut, daß, als der Chemiker sich bückte, es aufzurütteln, die Glut ihm fast das Gesicht versengte. Kaum fühlte der Junge die Berührung, als er, kaum halb wach, seine Lumpen zusammenraffte und halb kollernd, halb laufend in eine entlegene Ecke des Zimmers floh, wo er auf dem Boden hocken blieb und mit den Füßen stieß, um sich zu verteidigen.

»Steh auf«, sagte der Chemiker. »Kennst du mich noch?«

»Lassen Sie mich in Frieden«, erwiderte der Junge. »Das ist das Haus der Frau und nicht Ihres.«

Der feste Blick des Chemikers schüchterte ihn ein wenig ein, so daß er sich auf die Füße stellen und ansehen ließ.

»Wer hat dich gewaschen und verbunden?« fragte der Chemiker und deutete auf die wunden Füße des Jungen.

»Die Frau.«

»Und ist sie’s auch gewesen, die dir das Gesicht reiner gemacht hat?«

»Ja, die Frau.«

Redlaw stellte diese Fragen, um die Augen des Jungen auf sich zu lenken, und faßte ihn jetzt in derselben Absicht am Kinn und strich das wirre Haar zurück, so sehr er sich auch davor ekelte, ihn zu berühren. Der Junge sah ihm scharf und unausgesetzt in die Augen, falls im nächsten Augenblick etwas geschähe, das ihn zur Verteidigung zwänge. So konnte denn Redlaw genau erkennen, daß die Verwandlung nicht stattfand.

»Wo sind die andern?« fragte er.

»Die Frau ist aus.«

»Das weiß ich. Wo sind der Alte mit dem weißen Haar und sein Sohn?«

»Der Mann der Frau, was?«

»Ja, wo sind die beiden?«

»Fort! Es war was los. Sie wurden eilig geholt und sagten mir, ich solle hierbleiben.«

»Komm mit mir«, sagte der Chemiker, »und ich will dir Geld geben.«

»Wohin, und wieviel wollen Sie mir geben?«

»Ich will dir mehr Schillinge geben, als du jemals gesehen hast, und dich bald wieder zurückbringen. Kannst du mich an den Ort führen, woher du gekommen bist?«

»Lassen Sie mich«, erwiderte der Knabe und riß sich rasch los. »Dahin führe ich Sie nicht. Lassen Sie mich in Frieden, oder ich werfe Feuer auf Sie.«

Er kniete vor dem Kamin nieder und war bereit, mit seiner kleinen, wilden Hand die brennenden Kohlen herauszureißen.

Was der Chemiker empfunden, als er den Zauber hatte auf die wirken sehen, mit denen er in Berührung trat, kam dem dumpfen Grauen, mit dem er dieses Ungeheuer von einem Kind dem Einflusse Trotz bieten sah, nicht entfernt gleich. Sein Blut erstarrte beim Anblick dieses der Rührung und Empfindung unzugänglichen Wesens, dieses Scheinbildes von einem Kind, das ihm ein scharfes, boshaftes Gesicht zukehrte und sich, auf alles gefaßt, festhielt.

»Hör zu, Junge«, sagte er, »führ mich hin, wohin du willst, nur mußt du mich zu Leuten führen, die sehr arm oder sehr schlecht sind. Ich will ihnen helfen und nichts Böses zufügen. Ich will dir Geld dafür geben und bringe dich wieder hierher. Steh auf, mach rasch.«

Er tat ein paar hastige Schritte der Türe zu, da er die Rückkehr Millys befürchtete.

»Wollen Sie mich allein gehen lassen und mich nicht festhalten und mich auch nicht anrühren?« fragte der Junge und zog langsam die Hand vom Feuer zurück und stand auf.

»Ja!«

»Und mich vor Ihnen gehen lassen oder hinter Ihnen, oder wo ich will?«

»Ja!«

»So geben Sie mir erst Geld, dann gehe ich mit.«

Der Chemiker legte ihm ein paar Schillinge, einen nach dem andern, in die ausgestreckte Hand. Sie zu zählen ging über das Können des Jungen hinaus. Aber er sagte jedesmal »eins« und blickte dabei erst die Münze und dann den Geber habgierig an. Er konnte die Geldstücke außer in seiner Hand bloß im Munde aufbewahren, und dorthin steckte er sie.

Redlaw schrieb dann mit Bleistift auf ein aus seiner Brieftasche gerissenes Blatt, daß das Kind bei ihm sei, legte den Zettel auf den Tisch und winkte dem Jungen, ihm zu folgen. Seine Lumpen zusammenraffend wie gewöhnlich, gehorchte dieser und ging mit bloßem Kopf und nackten Füßen hinaus in die Winternacht.

Der Chemiker zog es vor, nicht durch das Gittertor zu gehen, wo er leicht der Frau begegnen konnte, die er so angelegentlich zu vermeiden trachtete, und führte daher den Knaben durch die dunklen Korridore in den Teil des Gebäudes, wo er selbst wohnte, zu einem kleinen Pförtchen, dessen Schlüssel er bei sich führte. Als sie auf die Straße traten, blieb er stehen und fragte seinen Führer, der sofort zurückwich, ob er wisse, wo sie wären.

Der kleine Wilde sah sich um, nickte endlich mit dem Kopf nach der Richtung, in der er gehen wollte.

Da Redlaw ohne Besinnen den Weg einschlug, ließ der Argwohn des Jungen ein wenig nach, er nahm das Geld aus dem Mund, polierte es verstohlen an seinen Lumpen und steckte es dann wieder zurück.

Dreimal auf ihrem Wege gingen sie Seite an Seite, dreimal blieben sie nebeneinander stehen, dreimal blickte der Chemiker dem Knaben ins Gesicht und schauderte, als es ihm immer den gleichen Gedanken aufzwang.

Das erste Mal war, als sie über einen alten Kirchhof gingen und Redlaw bei den Gräbern stehenblieb, vergeblich bemüht, einen zarten, tröstlichen Gedanken in sich hervorzurufen.

Das zweite Mal war es, als ihn das Hervortreten des Mondes aus den Wolken bewog, zum Himmel emporzublicken, wo er das Gestirn der Nacht in seinem Glanze sah, umgeben von Millionen von Sternen, von denen er noch die Namen wußte, die ihnen die menschliche Wissenschaft beigelegt, bei deren Anblick er aber nicht mehr das gefühlt, was er früher gefühlt, wenn er hinaufgesehen hatte in den funkelnden Nachthimmel.

Das dritte Mal, als er stehenblieb, um einer schwermütigen Weise zu lauschen, aber nur eine Reihe von Tönen aufnehmen konnte, die ihn an den nüchternen Mechanismus der Instrumente erinnerten, ohne an die geheimnisvollen Saiten in seinem Herzen zu rühren, ohne ihn an Vergangenheit oder Zukunft zu mahnen, und die so wenig Eindruck auf ihn machten wie der Ton rinnenden Wassers oder rauschenden Windes. Und alle drei Mal sah er mit Entsetzen, daß trotz des ungeheuren geistigen Abstandes zwischen ihnen und trotzdem sie nicht die mindeste Ähnlichkeit in körperlicher Beziehung miteinander gemein hatten, der Ausdruck in den Zügen des Jungen derselbe war wie der auf seinem eigenen Gesicht.

Sie wanderten eine Weile weiter, bald über so belebte Plätze, daß er sich öfter umsah, ob er nicht seinen Führer verloren, ihn dann aber immer wieder im Dunkel des Schattens an der andern Seite hintraben sah, bald wieder durch so stille Straßen, daß er die kurzen raschen Tritte der nackten Füße hinter sich hätte zählen können, bis sie an eine Reihe zerfallener Häuser kamen und der Knabe ihn am Ärmel faßte und stehenblieb.

»Dort hinein!« sagte das Geschöpf und deutete auf ein Haus, in dem einzelne Fenster erleuchtet waren und eine trübe Laterne mit der Aufschrift »Logis für Reisende« über dem Torweg schimmerte.

Redlaw blickte um sich, sah auf die halbverfallenen Häuser, auf die wüste Umgebung von Schutthaufen und übelriechenden Gossen, auf den langen Viadukt und auf das Kind, das frierend neben ihm auf einem Beine stand und den andern Fuß daran rieb, um sich zu erwärmen, immer mit demselben gewissen Ausdruck im Gesicht die Umgebung ringsumher anstarrend, daß Redlaw sich abwandte. Er sah das jämmerliche Stück Boden, auf dem die Häuser standen oder vielmehr nicht ganz einstürzen konnten, auf die Reihe von Bogen, die zu dem Viadukt gehörten, die immer kleiner wurden in der Ferne, bis der vorletzte fast noch eine Hundehütte und der letzte ein Steinhaufen war.

»Hier hinein!« sagte der Junge und deutete wieder auf das Haus. »Ich warte!«

»Wird man mich hineinlassen?« fragte Redlaw.

»Sagen Sie, Sie wären ein Doktor«, nickte der Junge. »Es ist genug Krankheit drin.«

Redlaw ging auf die Haustür zu und sah, als er sich umblickte, daß der Junge unter den letzten kleinen Schmutzbogen kroch, wie eine Ratte. Er fühlte kein Mitleid mit diesem Geschöpf, aber er fürchtete sich vor ihm, und als es aus seiner Höhle nach ihm hinblickte, da eilte er ins Haus, als wolle er fliehen.

»Kummer, Unglück und Sorgen«, sagte der Chemiker und machte eine schmerzhafte Anstrengung, irgendeine deutlichere Erinnerung in sich wachzurufen, »spuken an diesem Ort. Wer hierher Vergessen bringt, kann kein Leid stiften.«

Mit diesen Worten stieß er die Türe auf und trat ein.

Ein Weib saß auf den Stufen und schlief oder träumte und hatte den Kopf auf Hände und Knie gelegt. Da man nicht gut an ihr vorbei konnte, ohne sie zu treten, und da sie von seinem Kommen nicht die geringste Notiz nahm, blieb er stehen und berührte ihre Schulter. Sie blickte auf, und er sah in ein noch ganz jugendliches Gesicht, aus dem jedoch jede Blüte und Frische weggewischt war, als habe der grausame Winter, dem Lauf natürlichen Gesetzes zum Trotz, den Frühling erwürgt.

Ohne sich sonderlich um ihn zu kümmern, rückte das Weib näher an die Wand, um ihn vorbeizulassen.

»Was sind Sie?« fragte Redlaw, stehenbleibend, die Hand auf das zerbrochene Treppengeländer gestützt.

»Raten Sie mal«, antwortete sie und zeigte ihm wieder ihr Gesicht.

Er sah den verfallenen Gottestempel an, vor so kurzem erst erschaffen, so bald geschändet, und ein Etwas, das nicht Erbarmen war, denn die Quelle, aus der wahres Erbarmen über solches Elend entspringt, war in seiner Brust vertrocknet, ein Etwas, das aber dem Erbarmen näherstand als jedes andere Gefühl, das sich in letzter Zeit in der dunkelnden, aber noch nicht gänzlich finster gewordenen Nacht seines Geistes emporgerungen hatte, gab seinen Worten einen milden Klang.

»Ich komme her, um zu helfen«, sagte er. »Denken Sie nach über erlittenes Unrecht, über erlittenes Leid?«

Sie runzelte die Stirn, und dann lachte sie, und ihr Lachen tönte in einen zitternden Seufzer aus, dann ließ sie wieder den Kopf sinken und vergrub die Finger in ihrem Haar.

»Denken Sie an erlittenes Leid?« fragte er noch einmal.

»Ich denke über mein Leben nach«, sagte sie und warf einen kurzen Blick auf ihn.

Er fühlte, daß sie eine von vielen sei und daß er in ihr das Ebenbild von Tausenden von Unglücklichen sehe!

»Was sind Ihre Eltern?« fragte er.

»Ich hatte es sonst gut zu Haus, mein Vater war Gärtner, weit draußen in der Provinz.«

»Ist er tot?«

»Für mich ist er tot. All das ist tot für mich. Sie sind ein feiner Herr und wissen das nicht einmal.« Sie blickte wieder auf und lachte ihn an.

»Mädchen!« sagte Redlaw ernst. »Ehe all diese Dinge für dich tot waren, hast du da kein Unrecht erlitten? Hängt sich nicht, sosehr du dich auch dagegen sträuben magst, die Erinnerung an erlittenes Unrecht verzweifelt fest an dich, und wird dir diese Erinnerung nicht immer und immer wieder zur Qual?«

So wenig Weibliches lag in ihrem Äußern, daß Redlaw ganz bestürzt war, als sie plötzlich in Tränen ausbrach. Aber noch mehr weckte es sein Erstaunen und beunruhigte ihn außerordentlich, als er sah, daß in der kaum erwachten Erinnerung an erlittenes Unrecht die ersten Spuren ehemaligen Menschentums und starrgewordener Zartheit wieder wach wurden.

Er trat ein wenig zurück und bemerkte, daß sie Schrammen und Wunden trug an Armen, Gesicht und Busen.

»Welche rohe Hand hat Sie verletzt?«

»Meine eigene, ich hab’s selber getan«, antwortete sie rasch.

»Das ist nicht möglich!«

»Ich schwöre es! Er hat mich nicht angerührt. Ich hab’s selber getan in der Wut und hab‘ mich hier niedergeworfen. Er kam mir nicht zu nahe und hat niemals Hand an mich gelegt.«

Aus dem entschlossenen Ausdruck in den bleichen Zügen bei der offenkundigen Lüge erkannte er, daß noch viel verzerrtes Gute in dieser elenden Brust lebte, und bereute tief, daß er ihr nahegetreten war.

»Sorgen, Kummer und Leid«, sagte er halblaut vor sich hin und wandte scheu den Blick ab. »Alles, was sie noch verknüpft mit der Stufe, von der sie herabgesunken, trägt diese Wurzel. In Gottes Namen, lassen Sie mich vorbei!«

Voller Furcht, sie noch einmal anzusehen, voller Furcht, sie zu berühren, voller Furcht vor dem Gedanken, daß er vielleicht den letzten Faden schon zerrissen, der sie noch mit der Barmherzigkeit des Ewigen verbunden, raffte er seinen Mantel zusammen und schlich die Treppe hinauf.

Gegenüber dem Ausgang der Treppe stand eine Türe halb offen. In diesem Augenblick trat ein Mann mit einem Lichte in der Hand heraus. Als er den Chemiker erblickte, trat er überrascht zurück und nannte ihn unwillkürlich beim Namen.

Verwundert, hier gekannt zu sein, blieb Redlaw stehen und bemühte sich vergebens, sich auf das abgezehrte und bestürzte Gesicht zu besinnen. Er hatte nicht lange Zeit dazu, denn zu seiner noch größern Überraschung trat der alte Philipp aus dem Zimmer hervor und ergriff seine Hand.

»Mr. Redlaw«, sagte der Alte. »Das sieht Ihnen ähnlich! Das sieht Ihnen ähnlich, Sir! Sie haben davon gehört und sind uns nachgekommen, um zu helfen, soviel noch zu helfen ist. O zu spät, zu spät!«

Redlaw, verwirrt und ratlos, folgte ihnen in das Zimmer. Ein Mann lag dort auf einem Feldbett, und neben ihm stand William Swidger.

»Zu spät!« murmelte der alte Mann und sah den Chemiker traurig an, und die Tränen liefen ihm über die Wangen.

»Ich sag’s auch immer, Vater!« warf sein Sohn mit leiser Stimme ein. »Ich sag’s auch immer. Das einzige, was wir tun können, ist, daß wir uns ganz still verhalten, solange er schläft. Du hast recht, Vater!«

Redlaw blieb neben dem Bette stehen und sah auf die Gestalt herab, die auf der Matratze lag. Es war ein Mann, der in der Vollkraft seines Lebens hätte stehen können, aber die Sonne wahrscheinlich nie mehr wiedersehen sollte. Die Laster eines vierzig- oder fünfzigjährigen Lebenslaufs hatten ihn so gezeichnet, daß im Vergleich mit ihm die schwere Hand der Zeit auf das Antlitz des Greises, der neben ihm stand, sogar schonend und verschönernd gewirkt hatte.

»Wer ist das?« fragte der Chemiker und sah sich um.

»Mein Sohn Georg, Mr. Redlaw«, antwortete der alte Mann und rang die Hände, »mein ältester Sohn Georg, auf den seine Mutter stolzer war als auf alle übrigen.« Redlaws Augen schweiften weg von dem weißen Haupt des Greises, das auf dem Bette ruhte, nach dem Manne hin, der ihn beim Eintreten erkannt hatte und der sich jetzt in der entlegensten Ecke des Zimmers zu schaffen machte. Er schien von seinem Alter zu sein, und obgleich er keinen so hoffnungslos heruntergekommenen Mann kannte, wie dieser zu sein schien, lag doch etwas in seiner Haltung, wie er jetzt zur Türe hinausging, das ihn veranlaßte, sich unruhig mit der Hand über die Stirn zu fahren.

»William«, fragte er leise, »wer ist das?«

»Ja, sehen Sie, Sir«, erwiderte William, »ich sag’s auch immer. Warum muß ein Mensch immer spielen und dergleichen und sich zollweise immer tiefer sinken lassen, bis es nicht mehr tiefer abwärts geht!«

»Hat er das getan?« fragte Redlaw und sah dem Manne nach mit dem gleichen unsichern Blick wie vorhin.

»Jawohl, Sir«, antwortete William Swidger. »Er versteht etwas von Medizin, wie es scheint. Er ist mit meinem armen Bruder dort«, Mr. William fuhr sich mit dem Rockärmel über die Augen, »zu Fuß nach London gekommen. Ja, ja, es treffen hier manchmal seltsame Gefährten zusammen, und er kam, um nach dem Kranken zu sehen. Und er hat uns auch zu ihm geholt. Ein trauriger Anblick, Sir. Aber so geht’s in der Welt! Es wird meinen Vater unter die Erde bringen.«

Redlaw sah auf und erinnerte sich, wo und in welcher Gesellschaft er sich befand, und wurde sich des Zaubers bewußt, den er mit sich trug – in seinem Erstaunen hatte er ihn einen Augenblick vergessen –; er trat schnell ein wenig beiseite und überlegte, ob er bleiben oder gehen sollte. Mit einer gewissen trotzigen Verstocktheit, die zu seiner Natur zu gehören schien, entschied er sich für das Bleiben.

»Erst gestern erkannte ich, daß die Erinnerungen dieses Alten nur ein Gewebe sind von Trübsal und Sorge, und heute schon soll ich mich scheuen, sie zu verwandeln – sind die Erinnerungen, die ich vertreiben kann, für diesen Sterbenden so kostbar, daß ich um ihn zu fürchten brauchte? Nein, ich will bleiben.«

Aber trotzdem blieb er nur mit Zittern und Bangen und hielt sich fern vom Bett, mit abgewandtem Gesicht und in den schwarzen Mantel gehüllt, und lauschte den Worten der andern, als fühle er sich selbst als Dämon an dieser Stätte.

»Vater!« murmelte der Kranke, einen Augenblick aus seiner Betäubung erwachend.

»Mein Junge, mein Sohn Georg!« sagte der alte Philipp.

»Du sprachst eben davon, ich wäre Mutters Liebling gewesen vor langer Zeit. Es ist etwas Schreckliches, an die alten Tage zurückzudenken.«

»Nein, nein, nein!« entgegnete der Alte. »Denke nur daran! Sage nicht, es sei etwas Schreckliches. Für mich ist es nichts Schreckliches.«

»Es schneidet dir doch ins Herz, Vater«, – – – denn die Tränen des Alten fielen auf ihn herab.

»Ja, ja!« sagte Philipp. »Das ist wahr, aber es tut mir wohl. Es ist ein schweres Leid, an jene Zeit zurückzudenken, aber es tut mir wohl, Georg. O denke auch daran, denke auch daran, und dein Herz wird weicher und weicher werden. Wo ist mein Sohn William? William, mein Junge, deine Mutter liebte ihn innig bis zum letzten Augenblick, und mit ihrem letzten Atemzuge flüsterte sie: ›Sag ihm, daß ich ihm vergeben habe, ich segne ihn und bete für ihn.‹ Es waren die letzten Worte, die sie zu mir sprach. Ich habe sie nie vergessen und bin siebenundachtzig.«

»Vater«, sagte der Mann auf dem Bett, »ich fühle, daß ich sterbe. Es ist schon so weit mit mir, daß ich kaum mehr sprechen kann, selbst nicht von dem, was mir am schwersten auf dem Herzen liegt. Gibt es wohl noch eine Hoffnung für mich über dieses Sterbebett hinaus?«

»Es gibt Hoffnung«, entgegnete der Alte, »für alle, die sanftmütig und reuevoll sind.« Er faltete seine Hände und blickte in die Höhe. »Für alle die ist Hoffnung. Erst gestern noch war ich dankbar dafür, daß ich mich darauf besinnen konnte, wie dieser mein unglücklicher Sohn einst ein unschuldiges Kind war. Aber welcher Trost ist es, daß Gott sich seiner nur so erinnern will.«

Redlaw verbarg sein Gesicht in den Händen und bebte zurück wie ein Mörder.

»Ach«, stöhnte der Mann im Bett, »ein ganzes Leben vergeudet.«

»Aber einstmals war auch er ein Kind«, fuhr der Alte fort, »und hat mit Kindern gespielt. Ehe er sich des Abends zu Bette legte und in den Schlummer der Unschuld sank, sprach er sein Gebet auf dem Schoße der Mutter. Ich habe ihm oft zugesehen, viele Male. Und sie zog sein Haupt an ihre Brust und küßte ihn. So schmerzlich es ihr und mir war, daran zu denken, als er dann so irreging und alle unsere Hoffnungen und Pläne begrub, war diese Erinnerung doch das einzige Band, das uns verknüpfte. O Vater im Himmel, der du soviel besser bist als ein Vater auf Erden, o Vater im Himmel, der du soviel betrübter bist über die Irrtümer deiner Kinder, nimm diesen Wanderer wieder auf! Nicht wie er jetzt ist, wie er damals war, laß ihn zu dir flehen!«

Als der Alte die zitternden Hände emporhob, legte der Sohn, für den er diese Bitte sprach, das müde Haupt an seine Brust und suchte Schutz und Trost, als war er wirklich noch das Kind von ehedem.

Wann hat je ein Mensch so gezittert, wie Redlaw in dem großen Schweigen zitterte, das dann folgte. Er wußte, es mußte über sie kommen – und schnell kommen.

»Meine Zeit ist kurz, mein Atem ist noch kürzer«, sagte der Kranke und richtete sich auf und tappte mit der Hand in der Luft herum. »Und mir fällt ein, ich habe noch etwas auf dem Herzen, von wegen des Mannes, der eben hier war. Vater und William – halt – steht dort nicht etwas Schwarzes?«

»Ja, gewiß«, sagte sein alter Vater.

»Es ist ein Mann?«

»Georg«, unterbrach sein Bruder und beugte sich liebevoll über ihn. »Es ist Mr. Redlaw.«

»Mir war, als hätte ich von ihm geträumt. Bitte ihn, er möchte herkommen.«

Bleicher als der Sterbende trat der Chemiker näher. Der Bewegung der abgezehrten Hand gehorchend, setzte er sich auf das Bett.

»Heute nacht hat es mir das Herz zerrissen«, der Sterbende legte die Hand auf die Brust mit einem Blick, in dem die ganze Qual einer stummen Bitte lag, »ich war so ergriffen von dem Anblick meines armen alten Vaters und von dem Gedanken an all den Gram, den ich verschuldet, daß – – – – –«

War es das nahende Ende oder das Aufdämmern einer andern Verwandlung, das ihn innehalten ließ?

»– daß, daß ich versuchen will, so viel gutzumachen, wie ich kann. Es war noch ein Mann hier. Haben Sie ihn nicht gesehen?«

Redlaw konnte nicht antworten, denn als er das verhängnisvolle wohlbekannte Zeichen, das irre Hinfahren der Hand über die Stirn erblickte, erstarb ihm das Wort auf den Lippen. Er machte nur eine Bewegung des Zustimmens.

»Er hat keinen Pfennig, ist hungrig und herabgekommen. Er ist ganz zusammengebrochen und weiß sich nicht mehr zu helfen. Kümmern Sie sich um ihn. Verlieren Sie keine Zeit. Ich weiß, er trägt sich mit dem Gedanken, sich das Leben zu nehmen.«

Die Verwandlung ging bereits vor sich. Es stand auf seinem Angesicht geschrieben. Seine Züge veränderten sich, die Falten wurden tiefer, und der Ausdruck der Sorge wich.

»Erinnern Sie sich nicht? Kennen Sie ihn nicht mehr?« fuhr er fort. Er bedeckte das Gesicht einen Augenblick mit der Hand und strich sich wieder über die Stirn. Dann richtete er seine Augen mit einem gefühllosen, gemeinen und rohen Ausdruck auf Redlaw:

»Hol Sie der Teufel«, rief er wild umherblickend. »Was haben Sie aus mir gemacht. Lustig hab ich gelebt, und lustig will ich sterben. Hol Sie der Henker!« und er legte sich wieder aufs Bett zurück, hob die Arme und legte sie hinter Kopf und Ohren, von diesem Augenblick an entschlossen, in vollständiger Gleichgültigkeit vom Leben zu scheiden.

Wenn den Chemiker der Blitz getroffen, hätte er nicht jäher vom Bette zurückprallen können. Aber auch der Alte, der, während sein Sohn mit Redlaw sprach, zur Seite getreten war, mied mit Abscheu das Lager.

»Wo ist mein Sohn William?« fragte der Alte hastig. »William, komm fort von hier. Wir wollen nach Hause!«

»Nach Hause? Vater«, rief William aus, »willst du denn deinen eigenen Sohn verlassen?«

»Wer ist denn mein eigener Sohn?«

»Wer? Doch der dort!«

»Das ist nicht mein Sohn«, sagte Philipp und zitterte vor Erbitterung. »Ein Schuft wie dieser hat nichts mit mir gemein. Meine Kinder sehen sauber aus und bedienen mich und geben mir zu essen und zu trinken und sind mir nützlich. Ich habe wahrhaftig ein Recht darauf, ich bin siebenundachtzig.«

»Du bist alt genug und brauchst nicht noch älter zu werden«, brummte William, sah ihn scheel von der Seite an und steckte die Hände in die Taschen. »Ich möchte gern wissen, wozu du noch taugst? Ohne dich könnte es wirklich fideler sein.«

»Mein Sohn! Mr. Redlaw«, sagte der Alte, »mein Sohn! Das fehlte gerade noch! Der Junge spricht von meinem Sohn. Ich möchte gern wissen, was der mir jemals Angenehmes gebracht hätte.«

»Und ich möchte gern wissen, was ich jemals von dir Gutes gehabt habe«, knurrte William.

»Laß mich mal nachdenken!« sagte der Alte. »Wie viele Weihnachten über hab ich auf meinem warmen Plätzchen gesessen und mußte nicht in die kalte Nachtluft hinaus und hab mir’s wohl sein lassen, ohne daß ich durch einen so häßlichen widerlichen Anblick, wie der Kerl da einer ist, gestört worden bin. Sind’s zwanzig Weihnachten, William?«

»Mir scheint es schon eher wie vierzig«, brummte dieser. »Na, wenn ich meinen Vater ansehe, Sir, und daran denke«, und er wandte sich an Redlaw mit einer ungeduldigen Gereiztheit, die ganz neu an ihm war, »dann will ich mich hängen lassen, wenn ich etwas anderes in ihm sehen kann als einen Kalender von einer ganzen Reihe Jahren von Essen, Trinken und Faulenzen.«

»Ich – ich bin siebenundachtzig«, sagte der Alte, kindisch und schwach weiterfaselnd, »und niemals hat mich was sonderlich gestört. Ich will jetzt nicht davon reden, wegen des Menschen dort, den er meinen Sohn nennt. Er ist nicht mein Sohn. Ich hab eine Menge schöne Zeiten gehabt, ich erinnere mich noch –; nein, doch nicht, nein, ich hab es vergessen. Es war so etwas wie von Kricket und einem Freund von mir, aber ich kann mich seiner nicht mehr entsinnen. Ich möchte nur wissen, wie das war. Ich konnte ihn gut leiden. Was wohl aus ihm geworden ist. Ich glaube, er starb, aber ich weiß es nicht. Übrigens ist es mir ganz gleichgültig.«

Er kicherte schläfrig und schüttelte den Kopf und steckte die Hände in die Westentaschen. In einer fand er ein Stück Stechpalme, wahrscheinlich vom gestrigen Abend. Er nahm es heraus und sah es an.

»Beeren, aha. Schade, daß man sie nicht essen kann. Ich erinnere mich noch, daß ich spazierenging, als ich ein kleiner Kerl war, nicht größer als so – mit wem ging ich doch spazieren? –, ich kann mich absolut nicht mehr erinnern, wie das damals war. Ich weiß nicht mehr, mit wem und ob jemand bei mir war. Beeren, was! Es ist immer lustig, wenn’s Beeren gibt. Ich sollte eigentlich auch einen Teil davon bekommen, und man muß mich bedienen und mir alles warm und gemütlich machen, denn ich bin siebenundachtzig und ein armer, alter Mann. Ich bin siebenundachtzig, siebenundachtzig.«

Die faselnde jämmerliche Art, mit der er dies vorbrachte und dabei an den Blättern nagte und das Zerkaute wieder ausspuckte, die kalten gleichgültigen Blicke, die ihm sein jüngster Sohn zuwarf, die trotzige Verstocktheit, mit der sein ältester Sohn dalag, all das kam dem Chemiker nicht mehr zum Bewußtsein, er riß sich von der Stelle los, auf der er wie gebannt gestanden, und stürzte aus dem Hause hinaus.

Sein junger Führer kam aus seinem Versteck hervorgekrochen und stand bereit, ehe noch Redlaw den Boden erreichte.

»Zur Frau zurück?« fragte er.

»Ja, schnell heim«, antwortete Redlaw. »Bleib nirgends unterwegs stehen!«

Eine kleine Strecke weit lief der Junge vor ihm her, aber ihr Heimweg war mehr eine Flucht als ein Spaziergang, und nur mit großer Mühe konnte der Junge mit seinen bloßen Füßen mit dem Chemiker gleichen Schritt halten.

Scheu alle Vorübergehenden meidend, dicht in seinen Mantel gehüllt, als ob die leiseste Berührung desselben den andern eine tödliche Ansteckung bringe, machte Redlaw nicht eher halt, bis sie die Tür erreichten, durch die sie zuerst auf die Straße getreten waren. Er sperrte sie auf, trat mit dem Jungen hinein und eilte durch die dunkeln Gänge in sein Zimmer. Der Junge ließ ihn nicht aus den Augen, als die Tür abgesperrt wurde, und verkroch sich unter den Tisch.

»Sie, fassen Sie mich nicht an!« sagte er. »Sie wollen mir wohl mein Geld nehmen?«

Redlaw warf noch einige Geldstücke auf den Boden. Der Junge warf sich sogleich mit dem Körper über sie, wie um sie vor dem Blick des Mannes zu verbergen und damit er nicht am Ende Lust bekäme, sie wieder zurückzufordern. Erst als er den Chemiker wieder bei der Lampe sitzen sah, das Gesicht in den Händen vergraben, fing er an, das Geld verstohlen aufzulesen. Als er damit fertig war, schlich er sich ans Feuer, setzte sich in einen großen Stuhl, holte aus der Brust ein paar Speiseüberreste und fing an zu kauen und in die Glut zu starren, dann und wann seine Schillinge anschauend, die er fest in der geballten Hand hielt.

»Und dieses da«, sagte Redlaw mit wachsendem Widerwillen und Grausen, »ist der einzige Gefährte, der mir noch auf Erden bleibt.«

Wie lange es währte, ehe er aus der Betrachtung des Geschöpfes, das er so verabscheute, erwachte, ob es eine halbe Stunde oder die halbe Nacht währte, er wußte es nicht. Aber plötzlich horchte der Junge auf und unterbrach die Stille des Zimmers, indem er aufsprang und nach der Türe lief.

»Die Frau kommt!«

Der Chemiker riß ihn zurück, doch schon klopfte es an die Türe.

»Lassen Sie mich zu ihr«, rief der Junge.

»Jetzt nicht«, entgegnete der Chemiker. »Hiergeblieben! Niemand darf jetzt herein oder heraus. Wer ist da?«

»Ich bin’s, Sir«, rief Milly. »Bitte, machen Sie auf!«

»Nein, nein!«

»Mr. Redlaw, bitte, bitte, lassen Sie mich hinein!«

»Was gibt es?« fragte er und hielt den Knaben fest.

»Der Unglückliche, bei dem Sie eben waren, liegt im Sterben, und nichts, was ich mit ihm spreche, kann ihn aus seiner entsetzlichen Verblendung reißen. Williams Vater ist im Handumdrehen kindisch geworden, William selbst ist wie ausgewechselt. Der Schlag ist zu plötzlich gekommen. Ich verstehe ihn nicht mehr. Er gleicht sich selbst nicht mehr. Ach, Mr. Redlaw, bitte, raten Sie mir, helfen Sie mir.«

»Nein, nein, nein!« gab der Chemiker zur Antwort.

»Sir, lieber Mr. Redlaw, Georg hat in seinem Halbschlummer von dem andern Mann gesprochen, den Sie dort sahen. Er fürchtete, er werde sich umbringen.«

»Besser, er tut’s, als daß er in meine Nähe kommt.«

»Er sagte in seinen Phantasien, Sie kennen ihn. Er wäre vor langer Zeit Ihr Freund gewesen, er sei der unglückliche Vater eines Studenten hier – wie mir schwant, des jungen Herrn, der krank gewesen ist. Was soll ich tun? Wie soll man auf ihn aufpassen? Wie soll man ihn retten? O Mr. Redlaw, bitte, bitte, raten Sie mir, helfen Sie mir doch.«

Während der ganzen Zeit hielt der Chemiker den Knaben fest, der wie ein Wahnsinniger sich von ihm losreißen wollte, um Milly hereinzulassen.

»Ihr Gespenster, ihr, die ihr gotteslästerliche Gedanken bestraft«, meinte Redlaw voll Verzweiflung, »schauet auf mich herab! Möge aus der Finsternis meines Geistes der Funken der Reue, der dort noch glimmt, aufleuchten und euch mein Elend zeigen! In der Welt des Stoffes ist alles notwendig, wie ich immer lehrte. Kein Atom, keine Stufe an dem wunderbaren Bau kann verlorengehen, ohne daß es nicht eine unausfüllbare Lücke in das große Weltall risse. Jetzt erkenne ich, daß es ebenso ist mit Gut und Böse, mit Freud und Leid im Gedächtnis der Menschen. Erbarmt euch meiner! Erlösung!«

Keine Antwort als Millys »Helfen Sie mir, helfen Sie mir! Machen Sie auf«, und des Jungen stummes Ringen, um zu ihr zu gelangen.

»Schatten meines Ichs, Geist meiner trüben Stunden«, rief Redlaw außer sich, »komm zurück und suche mich heim Tag und Nacht, nur nimm diese Gabe von mir, oder wenn sie doch hinfort auf mir lasten soll, so nimm mir wenigstens die furchtbare Kraft, sie auch auf andere übertragen zu müssen. Mache ungeschehen, was ich getan habe! Lasse mich umnachtet sein, nur gib jenen den Tag zurück, über die ich den Fluch gebracht habe. So wahr ich diese Frau von Anfang an verschont habe, so wahr will ich dieses Zimmer nie wieder verlassen, und keine Hand soll mich pflegen; nur dieses Geschöpf, das gegen mich gefeit ist, soll bei mir sein – höre mich!«

Die einzige Antwort war noch immer das Ringen des Knaben, der zu Milly wollte, und ihr immer verzweifelter werdender Schrei: »Helfen Sie mir, lassen Sie mich hinein! Er war doch Ihr Freund. Wie soll man auf ihn achtgeben und ihn retten? Sie sind alle so verändert. Niemand kann mir helfen als Sie. Bitte, bitte, machen Sie auf!«

Drittes Kapitel


Drittes Kapitel

Die Gabe wird zurückgenommen

Noch lag die Nacht schwer am Himmel. Auf weiten Ebenen, von Gipfeln der Hügel und vom Verdeck der einsamen Schiffe auf See sah man tief unten am Horizont einen schwach dämmernden Streifen, der mit der Zeit Licht zu werden versprach. Doch er verhieß nur Fernes und Ungewisses, und noch kämpfte der Mond mit den unruhigen Wolken der Nacht.

Auch die Schatten, die sich über Redlaws Geist lagerten, folgten einander dicht und schnell und verdunkelten das Licht seiner Seele – wie Nachtwolken zwischen Mond und Erde schweben und ihr Dunkel auf uns werfen. Launenhaft wie die Wolken des Nachthimmels enthüllten sie ihm bald blitzartig das Licht, dann hüllten sie es wieder in Halbdunkel und Ungewißheit, dann stürmten sie wieder, wenn der helle Glanz einen Augenblick durchbrach, darüber hin und machten die Finsternis noch dichter als zuvor.

Draußen herrschte tiefes und feierliches Schweigen über dem alten Gebäude, und die Strebepfeiler und scharfen Ecken warfen geheimnisvolle Formen auf den Boden, der sich bald in dem weichen weißen Schnee versteckte, bald wieder nackt hervorkam, je nachdem der Mond hinter den Wolken hervorschien. Das Zimmer des Chemikers lag undeutlich und düster im trüben Schein der verlöschenden Lampe, ein geisterhaftes Schweigen war auf das Klopfen und Schreien draußen gefolgt, und nichts war vernehmbar als dann und wann ein leiser Ton in der weißen Asche des Kamins, wenn das Feuer sterbend aufatmete. Davor auf dem Boden lag der Junge in tiefem Schlaf. In seinem Stuhl saß der Chemiker, und saß dort, wie ein Mensch, der zu Stein geworden ist.

Da begann von neuem die Weihnachtsmusik, die er schon einmal vernommen hatte, zu spielen. Er lauschte ihr zuerst, wie er auf dem Kirchhofe gelauscht hatte, aber bald stand er auf – sie klang noch fort, und die Nachtluft trug ihre leise, sanfte melancholische Weise zu ihm – und streckte seine Hände aus, als ob sich ihm ein Freund nahe, dem seine unselige Berührung kein Leid tun könne. Dann löste sich langsam der starre, brütende Ausdruck seines Gesichtes, ein leises Zittern überkam ihn, seine Augen füllten sich mit Tränen, und er bedeckte sein Gesicht mit den Händen und neigte den Kopf. Noch war seine Erinnerung an Sorge, Leid und Kummer nicht wieder aufgetaucht; er wußte, daß sie noch nicht wiedergekommen, und hatte auch keine Hoffnung, daß es je geschehen werde. Aber eine dumpfe Regung in seinem Innern machte ihn wieder fähig, das zu empfinden, was in der Musik verborgen lag. Und wenn sie ihm auch bloß voll Trauer vom Werte dessen sprach, was er verloren hatte, so pries er doch den Himmel dafür mit heißer Dankbarkeit. Als der letzte Ton verklungen, hob er den Kopf, um den zitternden Schwingungen noch zu lauschen. Hinter dem Knaben, so daß seine schlafende Gestalt ihm zu Füßen lag, stand das Phantom unbeweglich und stumm, die Augen auf den Chemiker geheftet.

Gespenstisch wie früher, aber doch nicht mehr so grauenhaft und erbarmungslos war es anzuschauen, oder wenigstens kam es Redlaw so vor oder hoffte er wenigstens, als er schaudernd hinblickte. Es war nicht allein, sondern hielt in der schattenhaften Hand noch eine andere Hand.

Und wessen Hand war das? War die Gestalt neben dem Phantom wirklich Milly oder bloß ihr Schatten und ihr Scheinbild?

Das Köpfchen mit dem stillen Antlitz war ein wenig geneigt, wie es ihre Art war, und ihre Augen blickten voll Mitleid auf das schlummernde Kind. Ein strahlendes Licht fiel auf ihr Gesicht, berührte aber das Phantom nicht. Obwohl es dicht neben ihr stand, war es dunkel und farblos wie immer.

»Gespenst!« sagte der Chemiker, von neuer Unruhe erfaßt. »Ich bin nicht vorwitzig und anmaßend gewesen, was sie anbelangt. O bring sie nicht hierher. Erspare mir dies eine!«

»Es ist nur ein Schemen«, sagte das Phantom, »suche die wirkliche Form auf, deren Bild ich dir hier vorführe!«

»Ist das mein unerbittliches Verhängnis?« rief der Chemiker.

»Ja«, sagte das Phantom.

»Um ihren Frieden und ihre Herzensgüte zu vernichten, um sie zu dem zu machen, was ich selbst bin und was ich aus andern gemacht habe!«

»Ich habe gesagt, suche sie auf«, erwiderte das Gespenst. »Mehr hab‘ ich nicht gesagt.«

»O sag mir«, rief Redlaw aus und klammerte sich an die Hoffnung, die in diesen Worten zu liegen schien, »kann ich ungeschehen machen, was ich getan habe?«

»Nein«, antwortete das Phantom.

»Ich bitte nicht um Heilung für mich selbst«, sagte Redlaw. »Was ich hingegeben, gab ich mit freiem Willen hin und habe es mit Recht verloren. Aber für die, die ich mit der unseligen Gabe angesteckt, die nie danach verlangt, die, ohne es zu wissen, verflucht wurden und die die Macht nicht hatten, sich zu wehren, kann ich nichts für diese tun?«

»Nichts!« sagte das Phantom.

»Auch niemand anderer?«

Unbeweglich wie ein Steinbild hatte ihn das Phantom eine Zeitlang fest angestarrt, dann wandte es plötzlich den Kopf und sah auf den Schemen an seiner Seite.

»Oh, kann sie es tun?« schrie Redlaw und sah immer noch den Schatten an.

Das Phantom ließ die Hand los, die es bis jetzt festgehalten, und winkte der Erscheinung, zu verschwinden. Daraufhin begann der Schemen der Frau, ohne seine Stellung zu verändern, sich zu entfernen oder in der Luft zu zergehen.

»Halt!« rief Redlaw mit einer Inbrunst, der er gar nicht genug Ausdruck verleihen konnte, »einen Augenblick noch. Barmherzigkeit! Ich fühlte, daß eine Veränderung mich überkam, als vorhin jene Klänge in der Luft schwebten. Sage mir, habe ich die Kraft verloren, ihr zu schaden? Kann ich mich ihr nahen ohne Furcht? O laß sie mir nur ein Zeichen der Hoffnung geben!«

Das Phantom blickte die Erscheinung an wie er und antwortete nicht.

»Wenigstens sag mir das eine, hat sie künftighin das Bewußtsein der Macht, wiedergutmachen zu können, was ich verbrochen?«

»Das hat sie nicht«, antwortete das Gespenst.

»Hat sie die Macht, ohne sich dessen bewußt zu sein?«

Das Phantom antwortete: »Suche sie auf!«

Und Millys Schatten verschwand langsam.

Sie standen einander wieder gegenüber, Auge in Auge, das Gespenst und er, und wieder herrschte die schreckliche Spannung wie damals, als er die Gabe erhielt, und zwischen ihnen lag der Knabe zu Füßen des Doppelgängers.

»Fürchterlicher Lehrmeister«, sagte der Chemiker und sank vor dem Geiste flehend auf die Knie, »der sich von mir lossagte und doch wiedergekommen ist; wie gern würde ich darin und daß dein Antlitz milder schaut, einen Schimmer von Hoffnung sehen. Ich will dir, ohne zu fragen, gehorchen und flehe nur, daß der Ruf, den ich in der Angst meiner Seele ausgestoßen, erhört werde, um derer willen, die ich geschädigt habe, so daß kein Mensch sie wieder heilen kann! Doch noch etwas liegt mir auf dem Herzen – – –«

»Du sprichst von dem Geschöpf, das hier liegt«, unterbrach ihn das Gespenst und deutete mit dem Finger auf den Knaben.

»Ja«, erwiderte der Chemiker. »Du weißt, was ich fragen möchte. Warum ist dieses Kind allein gefeit gegen meinen Einfluß, und warum, warum liegt in seinem Denken so eine furchtbare Übereinstimmung mit meinem?«

»Das«, sagte das Phantom und deutete auf den Knaben, »ist das letzte und vollkommenste Beispiel eines menschlichen Wesens, das all der Erinnerungen beraubt ist, auf die auch du verzichtet hast. Kein Erinnern an Kummer, Unrecht und Sorge dringt mildernd hier ein, weil dieses unglückliche Menschenkind von Geburt an schlimmer als ein Tier aufgewachsen ist und weil in seiner verhärteten Brust kein Gegensatz lebt, kein menschlicher Zug, der einen Keim solchen Gedächtnisses zum Sprießen bringen könnte. Das Innere dieses verlassenen Geschöpfs ist Öde und Wildnis. Wehe einem solchen Menschen, zehnfach Wehe einem Volk, das Ungeheuer wie dieses, das hier am Boden liegt, zu Hunderten und Tausenden zählt!«

Entsetzt schauderte Redlaw zusammen.

»Allesamt«, sagte das Phantom, »eins wie das andere, streuen sie eine Saat aus, die die Menschheit ernten muß. Aus jedem Keim des Bösen in diesem Kind schießt eine Aussaat des Verderbens auf, die dereinst geerntet, aufgespeichert und wieder ausgesät wird an vielen Stellen der Welt, bis die Länder, überwuchernd von Verworfenheit, die Wasser einer neuen Sintflut heraufbeschwören. Offenkundiger und unbestrafter Mord, täglich geduldet in den Straßen einer Stadt, wäre weniger verderblich als ein Anblick wie dieser.«

Das Phantom schien auf den schlummernden Knaben herabzublicken. Auch Redlaw sah ihn an, doch mit einem andern Gefühl als früher.

»Jeder Vater«, sagte das Gespenst, »an dem solche Geschöpfe vorübergehen, zu jeder Stunde des Tags und der Nacht, jede Mutter unter all den Müttern dieses Landes, jeder, der hinaus ist über die Jahre der Kindheit, ist in seiner Weise verantwortlich für solche Greuel. Es gibt kein Land auf Erden, das solche Schuld nicht mit einem Fluch beladen würde. Es gibt keine Religion auf Erden, kein Volk, denen sie nicht zu Schmach und Schande werden.«

Der Chemiker schlug die Hände zusammen und sah bebend vor Bangen und Mitleid von dem schlafenden Knaben empor zu dem Phantom, das mit abwärts deutendem Finger vor ihm stand.

»Sieh hin«, fuhr das Gespenst fort, »auf das vollkommene Bild von dem, was du selbst sein wolltest. Dein Einfluß ist machtlos hier, weil du aus dieses Knaben Brust nichts verbannen kannst. Seine Gedanken haben schreckliche Gemeinschaft mit deinen, weil du herabgesunken bist auf seine unnatürliche Stufe. Er ist die Frucht der Gleichgültigkeit der Menschen, du bist die Frucht menschlichen Fürwitzes. In beiden Fällen ist der Vorsehung wohlwollende Absicht fehlgeschlagen, und aus beiden Polen der geistigen Welt kommt ihr auf einem Punkt zusammen.«

Der Chemiker beugte sich über den Knaben und deckte mit neuerwachtem Mitleid den Schlummernden zu und fühlte sich nicht mehr von Abscheu erfüllt.

Jetzt wurde auch der ferne Streifen unten am Horizont heller. Die Finsternis wich, und die Sonne ging purpurglänzend auf, und die Rauchfänge und Giebel des alten Gebäudes glänzten in der klaren Luft. Der Rauch und der Dunst der Stadt wandelten sich in eine Wolke von Gold. Selbst die Sonnenuhr in ihrem schattigen Winkel, wo der Wind umherzuwirbeln pflegte, gar nicht nach Windes Art, schüttelte die feinen Schneekristalle ab, die sich während der Nacht auf ihrem schläfrigen alten Gesicht gesammelt, und sah hinab auf die kleinen, weißen Wirbel, die sie umtanzten. Sicherlich huschte auch ein blindes Tasten des Morgens hinunter in die vergessene dumpfe Krypta, wo die normannischen Bogen halb begraben in der Erde staken, und brachte den trägen Saft in dem faulen Wachstum, das an den Mauern hinkroch, in Fluß und machte das langsame Leben, das in dieser kleinen, zarten, so wunderbaren Welt sprießte, pulsieren, verkündigend, daß die Sonne aufging.

Die Tetterbys waren bereits auf den Beinen und bei der Arbeit. Mr. Tetterby nahm die Laden weg von seinen Fenstern und enthüllte Stück für Stück die Schätze in der Auslage den Blicken des Jerusalemstifts, die gegen solche Versuchung so abgehärtet waren. Adolphus war schon so lange fort, daß er bereits auf halbem Wege zu »Mor – genblätt!« sein mußte. Fünf kleine Tetterbys, deren zehn runde Augen von Seife und Reiben sehr entzündet waren, hatten unter Mrs. Tetterbys Vorsitz die Torturen einer kalten Waschung in der Küche auszuhalten. Johnny, der sich stets mit großer Hast anziehen mußte, wenn der Moloch anspruchsvoll gelaunt war, und das war er immer, wankte beschwerter als gewöhnlich mit seiner Last vor der Ladentür auf und ab, denn der Moloch war dank verwickelter Schutzvorrichtungen gegen die Kälte, die aus gestricktem wollenem Zeug bestanden und ein Panzerhemd mit Sturmhaube und blauen Beinschienen bildeten, heute viel schwerer als je.

Es war eine Eigenheit dieses Wickelkindes, daß es rastlos zahnte. Ob die Zähne nie kamen oder ob sie kamen und wieder verschwanden, wußte man nicht. Aber offenbar hatte es genug gezahnt, nach Mrs. Tetterbys Sorge zu schließen, um für das Wirtshausschild der Schenke »Zum Ochsenmaul« eine ausreichende Menge von Zähnen liefern zu können. Zum Reizen des Zahnfleisches wurden hunderterlei Gegenstände herangezogen, obschon der Moloch beständig auf der Brust einen Beinring baumeln hatte, groß genug, um den Rosenkranz einer jungen Nonne abzugeben. Messer- und Regenschirmgriffe aus der Auslage, die Finger der Familie im allgemeinen und die Johnnys im besondern, Muskatnußkühlenden Knöpfe am Handgriff des Schüreisens waren so die gewöhnlichsten Instrumente, die zur Erleichterung der Leiden des Wickelkindes angewendet wurden. Die Menge Elektrizität, die aus ihnen im Verlauf einer Woche herausgerieben wurde, läßt sich nicht annähernd berechnen. Aber Mrs. Tetterby sagte immer: »Jetzt kommen sie durch, und das Kind kommt dann schon wieder zu sich.« Aber sie brachen nicht durch, und das Kind kam nicht zu sich.

Die Stimmung der kleinen Tetterbys hatte sich in ein paar Stunden arg verändert. Mr. und Mrs. Tetterby hatten sich nicht weniger verwandelt als ihre Sprößlinge. Früher waren sie eine selbstlose, gutmütige und nachgiebige kleine Sippe gewesen, die schmale Bissen, wenn es sein mußte, und es mußte recht oft sein, zufrieden, ja sogar großmütig miteinander teilte und die aus einem sehr kleinen Mahl oft einen sehr großen Genuß zu ziehen verstand. Jetzt aber zankten sie sich nicht nur um das Seifenwasser, sondern bereits um das Frühstück, das noch in Aussicht stand. Die Hand jedes kleinen Tetterbys war gegen die andern Tetterbys geballt, und selbst Johnnys Hand, des geduldigen, viel ertragenden und opferfreudigen Johnnys Hand, erhob sich gegen das Wickelkind! Ja, Mrs. Tetterby ging gerade zur Türe, da sah sie ihn hinterlistig eine schwache Stelle in der Rüstung erspähen und dem wonnigen Kinde einen Puff geben.

Im selben Augenblick hatte ihn Mrs. Tetterby schon beim Kragen ins Zimmer geschleppt und zahlte ihm die Mißhandlung mit Wucherzinsen zurück.

»Du Scheusal, du Mordbube«, sagte Mrs. Tetterby, »du hast es über das Herz gebracht!«

»Warum läßt sie nicht ihre Zähne durchbrechen«, sagte Johnny mit lauter aufrührerischer Stimme, »anstatt daß sie mich quält. Wie würde dir so etwas gefallen?«

»Wie es mir gefallen würde, junger Herr?« rief Mrs. Tetterby und nahm ihm die geschändete Last vom Arm.

»Ja, wie es dir gefallen würde«, sagte Johnny. »Wie denn? Überhaupt nicht. Wenn du an meiner Stelle wärst, gingst du unter die Soldaten. Das will ich auch. Es gibt keine Wickelkinder in der Armee.«

Mr. Tetterby, der auf dem Schauplatz erschienen war, rieb sich nachdenklich das Kinn, anstatt dem Aufrührer den Kopf zurechtzusetzen, und schien vielmehr von dieser neuartigen Ansicht über das Soldatenleben recht betroffen.

»Ich wünschte auch, ich könnte unter die Soldaten gehen, wenn’s mit dem Kind wieder in Ordnung ist«, sagte Mrs. Tetterby und sah ihren Mann an, »denn ich habe keine ruhige Stunde hier. Ich bin ein Sklave, ein virginischer Sklave.« Offenbar legte ihr eine unklare Erinnerung an den verflossenen Tabakshandel diese Redewendung in den Mund.

»Ich habe nie einen Feiertag und nie ein Vergnügen von einem Ende des Jahres bis zum andern. Der Herr segne und beschütze dieses Kind«, fügte sie hinzu und schüttelte das Kind mit einer Gereiztheit, die wenig zu dem frommen Wunsche paßte, »was hat es denn schon wieder?«

Da sie nichts entdecken konnte und auch dem Kind durch Schütteln nichts entlockte, legte Mrs. Tetterby die Kleine in die Wiege, setzte sich mit verschränkten Armen daneben und schaukelte es wütend mit dem Fuß.

»Warum stehst du so herum, Dolphus«, sagte sie dann zu ihrem Gatten, »mach dich nützlich.«

»Mir ist alles wurst«, sagte Mr. Tetterby

»Mir auch!« sagte Mrs. Tetterby

»Mir ist überhaupt alles wurst«, sagte Mr. Tetterby.

Eine Schlacht brach jetzt aus zwischen Johnny und seinen fünf jüngern Brüdern, die, während die allgemeine Frühstückstafel hergerichtet wurde, eine Schlägerei um den vorläufigen Besitz des Brotlaibes inszeniert hatten und einander tüchtig boxten, wobei der Allerkleinste mit frühreifem Feldherrnblick die Flanke des Feindes umkreiste und die Kämpfer in die Waden biß. In dieses Gewühl stürzten sich Mr. und Mrs. Tetterby mit so großem Eifer, als ob hier noch das einzige Betätigungsfeld läge, auf dem sie gleichen Sinnes sein könnten. Erst als sie entgegen ihrer ehemaligen Weichherzigkeit rücksichtslos nach allen Seiten Schläge ausgeteilt und viele Exempel statuiert hatten, kehrten sie wieder auf ihre Plätze zurück.

»Lies doch wenigstens die Zeitung, wenn du schon nichts tust«, sagte Mrs. Tetterby.

»Was steht denn in der Zeitung!« sagte Mr. Tetterby furchtbar schlecht aufgelegt.

»Was?« sagte Mrs. Tetterby. »Der Polizeibericht.«

»Geht mich nichts an«, sagte Mr. Tetterby. »Was geht’s mich an, was die Leute tun oder mit sich tun lassen.«

»Selbstmorde«, schlug Mrs. Tetterby vor.

»Hat nichts mit meinem Geschäft zu tun«, antwortete der Gatte.

»Geburten, Todesfälle und Heiraten, gehen die dich auch nichts an?« fragte Mrs. Tetterby.

»Und wenn es mit den Geburten von heute an endgültig vorbei wäre und von morgen an würde nur noch gestorben, so möchte ich gerne wissen, was das mich angehen soll, außer ich käme gerade an die Reihe«, brummte Mr. Tetterby. »Was das Heiraten anbetrifft, so hab ich es selbst versucht; das kenne ich jetzt nachgerade zur Genüge.«

Nach dem unzufriedenen Ausdruck ihres Gesichts zu schließen, schien Mrs. Tetterby derselben Ansicht wie ihr Mann zu sein. Sie widersprach ihm aber doch, um sich den Genuß, streiten zu können, nicht entgehen zu lassen.

»Du bist wirklich ein Mann von Grundsätzen«, sagte Mrs. Tetterby, »du mit deiner spanischen Wand aus Zeitungslappen, die du den Kindern halbe Stunden lang vorlesen kannst.«

»Sage lieber, vorgelesen hast«, entgegnete ihr Gatte. »Du wirst mich nicht mehr dabei erwischen, ich bin jetzt gescheiter.«

»Ja, ja, gescheiter«, sagte Mrs. Tetterby, »bist du auch besser geworden?«

Die Frage klang wie ein Mißton in Mr. Tetterbys Herz. Er brütete verdrießlich und fuhr mit der Hand immer wieder über die Stirn.

»Besser«, murmelte Mr. Tetterby. »Ich wüßte nicht, ob jemand von uns besser ist oder glücklicher. Ach ja, besser, hm!«

Er wandte sich zu der spanischen Wand und suchte mit dem Finger herum, bis er offenbar den Paragraphen gefunden hatte, der darauf paßte.

»Es war ein Lieblingsstück der Familie«, sagte er in trübseligem, blödem Ton vor sich hin, »und entlockte den Kindern immer Tränen und besserte sie, wenn sie sich gezankt hatten oder unzufrieden waren. Es kam gleich hinter der Geschichte von dem Rotkehlchen im Walde. – – – ›Trauriges Beispiel menschlichen Jammers: Gestern erschien ein kleiner Mann mit einem Wickelkind auf den Armen und umgeben von einem halben Dutzend zerlumpter Kleiner im Alter von zehn und zwei Jahren, die alle offenbar dem Hungertode nahe waren, vor der hohen Obrigkeit und stattete folgenden Bericht ab: – – –‹ Ich möchte gerne wissen«, sagte Mr. Tetterby, »was das uns angeht.«

»Wie alt und schäbig er ausschaut«, dachte Mrs. Tetterby und betrachtete ihn. »Ich habe noch nie eine so plötzliche Veränderung an einem Menschen gesehen. O mein Gott, mein Gott, mein Gott, es war ein Opfer!«

»Was war ein Opfer?« fragte ihr Gatte mißmutig.

Mrs. Tetterby schüttelte den Kopf und versetzte das Kind in einen förmlichen Seesturm, so heftig schaukelte sie die Wiege.

»Wenn du meinst, deine Heirat wäre ein Opfer gewesen – – –«, sagte der Gatte.

»Ja, das mein‘ ich«, entgegnete die Frau.

»Nun, dann will ich dir sagen«, fuhr Mr. Tetterby, so unwirsch und griesgrämig wie sie, fort, »daß die Sache zwei Seiten hat und daß ich das Opfer war und daß ich wünschte, das Opfer wäre nicht angenommen worden.«

»Ja, das wünschte ich auch, Tetterby, von ganzem Herzen und von ganzer Seele, versichere ich dir«, sagte seine Frau. »Du kannst es nicht inniger wünschen als ich, Tetterby.«

»Ich weiß nicht, was ich an ihr gefunden habe«, brummte der Zeitungsagent, »wahrhaftig, was ich damals an ihr zu sehen glaubte, ist alles weg. Es fiel mir schon gestern abend auf nach dem Essen; sie ist fett, sie wird alt und hält keinen Vergleich mehr aus mit den meisten andern Frauen.«

»Er sieht schrecklich gewöhnlich aus, er ist unscheinbar und klein; krumm wird er auch und kriegt schon eine Glatze«, brummte Mrs. Tetterby.

»Ich muß halb verrückt gewesen sein, als ich hineinsprang«, knurrte Mr. Tetterby.

»Ich muß von Sinnen gewesen sein, anders kann ich es mir nicht erklären«, dachte Mrs. Tetterby.

In dieser Stimmung setzten sie sich zum Frühstück. Die kleinen Tetterbys waren nicht gewohnt, dieses Mahl als sitzende Beschäftigung aufzufassen, sondern verzehrten es tanzend oder springend und erhoben es durch gellende Schreie, Schwenken der Butterbrote, durch verwickelte Märsche zur Türe hinaus und wieder herein und durch Herumhüpfen auf der Haustreppe zu einer wilden, phantastischen Zeremonie. Augenblicklich boten die Kämpfe der Tetterbyschen Kinder um den gemeinsamen Krug mit verdünnter Milch, der auf dem Tische stand, ein so jämmerliches Beispiel der hochgehenden Leidenschaftswellen, daß es förmlich das Andenken des Dr. Watts schändete. Erst als Mr. Tetterby die Herde zur vorderen Tür hinausgejagt hatte, trat einen Augenblick Ruhe ein, und auch diese wurde getrübt durch die Entdeckung, daß Johnny sich heimlich wieder hereingeschlichen hatte und wie ein Bauchredner in den Krug hineingurgelte, so unanständig und gierig schlürfte er aus ihm.

»Diese Kinder werden noch mein Tod sein«, sagte Mrs. Tetterby, nachdem sie den Sünder verscheucht hatte. »Je eher es geschieht, desto besser.«

»Arme Leute«, sagte Mr. Tetterby, »sollten überhaupt keine Kinder haben. Sie machen uns kein Vergnügen.«

Er ergriff gerade die Tasse, die ihm Mrs. Tetterby verächtlich hingeschoben, und sie wollte ihre Tasse auch eben an den Mund setzen, als beide plötzlich innehielten, als ob sie verhext wären.

»Hier, Mutter, Vater«, schrie Johnny und stürzte in die Stube. »Mrs. William kommt die Straße herunter.«

Und wenn jemals seit Anbeginn der Welt ein Junge ein Wickelkind mit der Sorgfalt einer alten Amme aus der Wiege nahm und schaukelte und liebkoste und fröhlich mit ihm davontrabte, war Johnny dieser Junge und der Moloch das Wickelkind.

Mr. Tetterby setzte seine Tasse nieder; Mrs. Tetterby setzte ihre Tasse nieder. Mr. Tetterby rieb sich die Stirn, Mrs. Tetterby die ihre. Mr. Tetterbys Gesicht hellte sich auf, Mrs. Tetterbys Gesicht ebenfalls.

»Gott bewahre«, sagte Mr. Tetterby vor sich hin, »in was für schlechter Laune ich nur war. Was ist nur mit mir vorgegangen?«

»Wie konnte ich nach alldem, was ich gestern nacht sagte und fühlte, nur wieder so schlecht gegen ihn sein«, schluchzte Mrs. Tetterby und fuhr sich mit der Schürze über die Augen.

»Ich bin ein Ungeheuer«, sagte Mr. Tetterby »es ist kein guter Faden mehr an mir, Sophie, mein kleines Frauchen.«

»Mein guter Dolphus«, gab seine Frau zurück.

»Ich – ich bin in einem Gemütszustand gewesen«, sagte Mr. Tetterby, »daß ich gar nicht mehr daran denken kann, Sophie.«

»Oh, das ist gar nichts gegen den, in dem ich gewesen bin, Dolph«, jammerte seine Frau im tiefsten Seelenschmerz.

»Sophie«, sagte Mr. Tetterby »nimm es dir nicht zu Herzen. Es war unverzeihlich von mir, es muß dir fast das Herz gebrochen haben. Ich weiß es.«

»Nein, Dolph, nein, ich war schuld, ich«, schrie Mrs. Tetterby.

»Mein kleines Frauchen«, sagte der Gatte, »sag das nicht. Du häufst glühende Kohlen auf mein Haupt, wenn du so edel bist. Liebe Sophie, du weißt gar nicht, was ich gedacht habe. Ich habe mich gewiß bös genug ausgedrückt, aber was ich erst dachte, mein kleines Frauchen!«

»Oh, mein lieber Dolph, sprich nicht davon«, jammerte die Gattin.

»Sophie«, sagte Mr. Tetterby, »ich muß es dir enthüllen, ich hätte keine Ruhe mehr, wenn ich es nicht gestünde. Mein kleines Frauchen –«

»Mrs. William ist schon da«, rief Johnny zur Türe hinein.

»Mein kleines Frauchen«, fuhr Mr. Tetterby mit gepreßter Stimme fort und klammerte sich an seinen Stuhl, »ich wunderte mich, daß du mir jemals hattest gefallen können. Ich vergaß die unschätzbaren Kinder, die du mir geschenkt hast, und meinte, du wärest nicht so schlank, wie ich es gerne hätte. Ich – ich dachte mit keinem Wort«, sagte Mr. Tetterby in strenger Selbstanklage, »an alle die Sorgen, die du um mich und die Meinigen gehabt, während du doch an der Seite eines andern Mannes – der mehr Glück gehabt hätte als ich und eine bessere Karriere gemacht hätte, und es wäre nicht schwer gewesen, einen solchen Mann zu finden, wahrhaftig – ohne Sorge hättest leben können. Und ich haderte mit dir, weil du ein wenig gealtert bist in den rauhen Jahren, die du mir erleichtert hast. Kannst du das fassen, mein kleines Frauchen. Ich selbst kann es nicht fassen.«

Mrs. Tetterby lachte und weinte wie närrisch, nahm sein Gesicht in beide Hände und hielt es fest.

»O Dolph«, schrie sie. »Ich bin so dankbar, daß du das gedacht hast, denn ich dachte, du sähest gewöhnlich aus, Dolph; und wenn du auch so aussiehst, lieber Mann, so bleibe so in meinen Augen, bis du sie mir einmal mit deinen guten Händen zudrückst. Ich dachte bei mir, du wärst klein, und das bist du auch, und ich will dich auf meinen Händen tragen, weil du es bist, und weil ich meinen Gatten liebe. Ich dachte, du fingest an, gebückt zu gehen, und das tust du auch, und du sollst dich auf mich stützen, und ich will alles tun, um dich aufrecht zu halten. Ich dachte, du hättest nichts Anziehendes, aber du hast es, und es ist das Anziehende unseres Herdes, und das ist das Reinste und Schönste, und Gott möge unsern Herd segnen und alle, die dazugehören, Dolph!«

»Hurra, Mrs. William ist da!« schrie Johnny.

Und da war sie, und alle Kinder mit ihr. Und als sie hereinkam, küßten sie sie und küßten einander und küßten das Wickelkind und küßten Vater und Mutter, und dann rannten sie wieder zurück und scharten sich um Milly und zogen mit ihr im Triumph daher.

Mr. und Mrs. Tetterby empfingen sie ebenso herzlich. Sie fühlten sich ebenso zu ihr hingezogen wie die Kinder, eilten ihr entgegen, küßten ihr die Hände und konnten sie nicht enthusiastisch genug aufnehmen. Sie trat unter sie wie der Geist der Güte, Liebe, Milde und Häuslichkeit.

»Was! Seid auch ihr alle so froh, mich an diesem schönen Weihnachtsmorgen zu sehen«, rief Milly aus und schlug die Hände verwundert zusammen, »o Gott, das ist ja herrlich!«

Jubel der Kinder, Küsse, Umarmungen, Glück, Liebe und Freude regneten auf sie nieder. Sie konnte es kaum ertragen.

»O Gott! Ihr bringt mich noch zum Weinen. Das hab ich doch nicht verdient. Was habe ich denn getan, um so geliebt zu werden?«

»Man kann nicht anders«, rief Mr. Tetterby, »man kann nicht anders«, rief Mrs. Tetterby.

»Man kann nicht anders!« riefen die Kinder im Chor.

Und sie umtanzten sie, hängten sich an sie, legten ihre rosigen Gesichter an ihr Kleid, küßten und streichelten es und konnten nicht satt werden, sie zu liebkosen.

»Ich bin noch niemals so ergriffen gewesen wie heute. Ich muß es euch erzählen, sobald ich zu Worte kommen kann. Mr. Redlaw kam bei Sonnenaufgang zu mir und bat mich mit einer Zärtlichkeit, als wäre ich seine Tochter, mit ihm zu Williams sterbendem Bruder Georg zu gehen. Ich begleitete ihn, und den ganzen Weg über war er so lieb und sanft zu mir und schien solches Zutrauen und solche Hoffnung in mich zu setzen, daß ich vor Freude weinen mußte. Als wir in das Haus kamen, trafen wir ein Weib an der Türe – sie war verletzt, und ich fürchte, es hat sie jemand geschlagen –, und sie faßte mich bei der Hand und segnete mich, als ich vorüberging.«

»Sie hat recht gehabt«, sagte Mr. Tetterby, und Mrs. Tetterby sagte auch, daß sie recht gehabt, und die Kinder riefen auch alle, daß sie recht gehabt hätte.

»Ja, das ist aber noch nicht alles«, sagte Milly. »Als wir in das Zimmer hinaufkamen, richtete sich der Kranke, der stundenlang in Lethargie gelegen, auf, brach in Tränen aus, streckte mir die Arme entgegen und sagte, er habe ein liederliches Leben geführt, aber jetzt bereue er aufrichtig in seinem Kummer um der Vergangenheit willen, die so klar wie eine große Landschaft, von der eine dicke, schwarze Wolke genommen worden, vor ihm läge, und er ersuchte mich, seinen armen, alten Vater um Verzeihung und um seinen Segen zu bitten, und ich möchte an seinem Bett ein Gebet sprechen. Und als ich dies tat, stimmte Mr. Redlaw so inbrünstig ein und dankte mir so heiß, daß mein Herz ganz überströmte und ich nur schluchzen und weinen konnte, bis mich der Kranke bat, ich möchte mich ihm zur Seite setzen. Da wurde ich ruhiger. Dann hielt er meine Hand fest und verfiel in einen leichten Schlummer, und selbst als ich sie wegzog, um hierher zu gehen, denn Mr. Redlaw drang so darauf, da griff er wieder nach ihr, so daß sich jemand anders an meine Stelle setzen und ihm die Hand halten mußte, damit er glaubte, ich wäre noch da. O Gott, o Gott«, sagte Milly schluchzend, »wie dankbar und glücklich ich bin über all das!«

Während sie noch sprach, war Redlaw eingetreten, hatte einen Augenblick die Gruppe betrachtet und ging stillschweigend die Treppe hinauf. Auf der obersten Stufe erschien er jetzt wieder und blieb stehen, während der junge Student an ihm vorüber- und heruntereilte.

»Meine gütige Pflegerin, sanftestes, bestes aller Wesen!« rief der junge Mann aus und fiel in die Knie vor ihr und ergriff ihre Hand. »Verzeihen Sie mir meine Undankbarkeit.«

»Du mein Gott!« rief Milly in naivem Erstaunen. »Da ist ja noch einer, da ist ja wieder jemand, der mich gern hat. Was soll ich nur anfangen?« Die unschuldige, einfache Art, mit der sie das sagte und die Hände auf die Augen legte und vor Freude weinte, war ebenso rührend wie entzückend.

»Ich war nicht Herr meiner selbst, ich weiß nicht, was es war, vielleicht eine Folge meiner Krankheit; ich war verrückt. Aber jetzt ist es vorbei. Fast noch während ich rede, fühle ich mich gesund werden. Ich hörte die Kinder Ihren Namen rufen, und bei seinem Klang schon wich der Schatten von mir. O weinen Sie nicht, liebe Milly, wenn Sie in meinem Herzen lesen könnten, wie es überfließt vor dankbarer Liebe, würden Sie mich Ihre Tränen nicht sehen lassen. Es liegt für mich ein tiefer Vorwurf in ihnen!«

»Nein, nein«, sagte Milly, »das ist es nicht, das ist es wirklich nicht! Freude ist’s! Es ist Erstaunen, daß Sie glauben, mich wegen einer solchen Kleinigkeit um Verzeihung bitten zu müssen, und doch ist’s Freude darüber, daß Sie es tun.«

»Und werden Sie auch wiederkommen und den kleinen Vorhang fertig machen?«

»Nein!« sagte Milly, schüttelte den Kopf und trocknete ihre Tränen. »Jetzt wird Ihnen meine Näherei gleichgültig sein.«

»Nennt man das vergessen?«

Sie winkte ihn beiseite und flüsterte ihm ins Ohr: »Es ist Nachricht von zu Hause da, Mr. Edmund!«

»Nachricht, wieso?«

»Entweder das Ausbleiben Ihrer Briefe, als Sie krank lagen, oder Ihre veränderte Handschrift dann später, als es Ihnen wieder besser ging, hat Ihre Familie gewiß vermuten lassen, wie die Sachen stehen. Jedenfalls können Ihnen Nachrichten nur lieb sein, wenn es nur keine schlechten Nachrichten sind.«

»Sicherlich!«

»Es ist jemand angekommen!« fuhr Milly fort.

»Meine Mutter?« fragte der Student und sah sich unwillkürlich nach Redlaw um, der die Treppe herabkam.

»O nein!« sagte Milly.

»Es kann aber niemand anders sein.«

»Wirklich nicht?« sagte Milly. »Wissen Sie das gewiß?«

»Es ist doch nicht –« Ehe er ausreden konnte, legte sie ihm die Hand auf den Mund.

»Ja, sie ist’s, die junge Dame. Sie sieht dem Miniaturbilde sehr ähnlich, Mr. Edmund, ist aber noch viel hübscher. Sie war so beunruhigt durch die ewige Ungewißheit und ist gestern mit einem kleinen Dienstmädchen hergekommen. Da Sie Ihre Briefe stets aus dem Kollegium datierten, so ist sie dorthin gegangen, und ich traf sie dort, bevor ich heute früh zu Mr. Redlaw ging. Sie hat mich auch gern«, sagte Milly. »Du lieber Gott, noch jemand.«

»Diesen Morgen? Wo ist sie jetzt?«

»Jetzt«, flüsterte ihm Milly ins Ohr, »ist sie in meinem kleinen Zimmer im Pförtnerhaus und erwartet Sie dort.«

Er drückte ihr die Hand und wollte davoneilen, aber sie hielt ihn zurück.

»Mr. Redlaw ist ganz verändert und sagte mir heute morgen, sein Gedächtnis habe gelitten. Seien Sie rücksichtsvoll gegen ihn, Mr. Edmund. Er bedarf dessen von uns allen.«

Der junge Mann gab ihr durch einen Blick die gewünschte Versicherung, und als er an dem Chemiker vorüberging, verbeugte er sich voller Achtung und sichtlicher Teilnahme.

Redlaw erwiderte den Gruß höflich, fast demütig, und sah ihm nach. Dann stützte er den Kopf auf die Hand, als wolle er sich auf etwas, das ihm entschwunden war, besinnen, aber es kam nicht wieder. Die dauernde Veränderung, die in ihm vorgegangen war seit den Klängen der nächtlichen Weise und dem Wiedererscheinen des Gespenstes, äußerte sich darin, daß er jetzt wirklich fühlte, wieviel er verloren hatte, und traurig über seine eigene Lage sein konnte, wenn er sie mit dem natürlichen Zustand der Menschen in seiner Umgebung verglich. Dadurch wurde wieder ein Interesse an seiner Umgebung in ihm wach und etwas wie demütige Unterwerfung unter sein unglückliches Schicksal, wie es manchmal dem Alter eigen ist, wenn die geistigen Kräfte geschwächt sind, ohne daß Gleichgültigkeit und Verdrossenheit sich hinzugesellten.

Er war sich bewußt, daß diese neue Veränderung immer mehr in ihm reifte, je mehr von dem Unheil, das er gestiftet, durch Millys Vermittlung wiedergutgemacht wurde. Deshalb und infolge der Zuneigung, die sie ihm einflößte, ohne jedoch weitere Hoffnungen daran zu knüpfen, fühlte er, daß er gänzlich von ihr abhing und daß sie die einzige Stütze war in seinem Herzeleid.

Als sie ihn daher fragte, ob sie jetzt nach Hause gehen sollte zu ihrem Gatten und seinem alten Vater, und er freudig mit ja antwortete, denn auch ihm lag dies sehr auf dem Herzen, reichte er ihr seinen Arm und ging mit ihr, nicht als ob er der große Gelehrte wäre, dem die Wunder der Natur ein offenes Buch, und sie der ungeschulte Geist, sondern als ob dieses Verhältnis umgekehrt sei und sie alles wußte und er gar nichts.

Er sah die Kinder sich um sie drängen und sie liebkosen, als sie jetzt das Haus verließen. Er hörte ihr helles Lachen und ihre lustigen Stimmen, er sah ihre freundlichen Gesichter, die ihn wie Blumen umgaben, er war Zeuge der wiederhergestellten Eintracht ihrer Eltern, er atmete die schlichte Luft des ärmlichen Häuschens, dem der Friede wiedergegeben war, und gedachte des tödlichen Pesthauchs, den er hier verbreitet hatte und auch jetzt, wäre sie nicht gewesen, weiter und weiter hätte verbreiten müssen. Und da war es kein Wunder, daß er demütig neben ihr herging und sie sanft an sich drückte.

Als sie im Pförtnerhaus ankamen, saß der Alte in seinem Stuhl in der Kaminecke, die Augen auf den Boden geheftet, und sein Sohn lehnte an der andern Seite des Ofens und sah seinen Vater an. Als Milly in der Türe stand, fuhren beide auf und wandten sich nach ihr um, und eine leuchtende Veränderung vollzog sich auf ihren Gesichtern.

»O Gott, Gott, Gott! Auch sie sehen mich wieder gern wie die andern!« rief Milly, klatschte freudig in die Hände und blieb stehen: »Wieder zwei mehr!«

Froh, sie zu sehen! Froh – ist kein Ausdruck. Sie warf sich in die ausgebreiteten Arme ihres Gatten, und er hätte sie wohl dort behalten, ihren Kopf an seiner Brust, den ganzen kurzen Wintertag hindurch, der Alte aber wollte auch sein Teil. Auch seine Arme streckten sich nach ihr aus, und er zog sie fest an sich.

»Wo ist denn meine kleine, stille Maus die ganze Zeit über gewesen?« fragte der Alte. »Sie war so lange, lange fort! Ich sehe jetzt wohl, daß es ohne die stille Maus nicht geht. Ich – wo ist mein Sohn William? – ich glaube, ich habe geträumt, William.«

»Ich sag’s immer, Vater!« entgegnete sein Sohn. »Ich für meinen Teil habe einen häßlichen Traum gehabt. Wie fühlst du dich, Vater? Fühlst du dich wohl?«

»Frisch und munter, mein Sohn!« gab der Alte zur Antwort.

Es war eine ordentliche Freude, zu sehen, wie Mr. William seinem Vater die Hand schüttelte, ihm auf den Rücken klopfte und ihn leise streichelte, als ob er gar nicht genug Fürsorge für ihn an den Tag legen könne.

»Was für ein wundervoller Mensch du bist, Vater! Wie fühlst du dich, Vater? Fühlst du dich auch wirklich recht wohl?« fragte William und schüttelte ihm wieder die Hand, klopfte ihm auf den Rücken und streichelte ihn sanft.

»Ich war im Leben nicht frischer und kräftiger, mein Sohn!«

»Was du für ein wundervoller Mensch bist, Vater! Ich sag’s immer«, sagte Mr. William begeistert. »Wenn ich bedenke, was mein Vater alles durchgemacht hat, die vielen Sorgen und Wechselfälle, all das Leid und der Gram, die ihm im Lauf seines langen Lebens zugestoßen sind und sein Haar gebleicht haben, ist mir, als wenn wir nicht genug tun könnten, um den alten Herrn zu ehren und sein Alter leicht zu machen. Wie fühlst du dich, Vater? Wirklich frisch und munter?«

Mr. William würde wohl nie aufgehört haben, diese Frage an ihn zu richten, ihm wieder die Hand zu schütteln, ihn wieder auf den Rücken zu klopfen und leise zu streicheln, hätte der Alte nicht jetzt den Chemiker erblickt.

»Ich bitte um Entschuldigung, Mr. Redlaw«, sagte er, »aber ich wußte nicht, daß Sie hier sind, sonst würde ich mich nicht so haben gehenlassen. Wie ich Sie so hier sehe am Weihnachtsmorgen, fällt mir die Zeit ein, als Sie selbst noch Student waren und so fleißig arbeiteten, daß Sie sogar in der Christwoche nicht aus unserer Bibliothek herauskamen. Ha, ha! Ich bin alt genug, um mich daran zu erinnern, und weiß es noch ganz genau, obgleich ich siebenundachtzig bin. Nachdem Sie von hier fortgingen, starb meine arme Frau. Sie erinnern sich doch noch an meine Frau, Mr. Redlaw?«

»Ja«, antwortete der Chemiker.

»Ja«, sagte der alte Mann. »Sie war ein liebes Geschöpf. Ich erinnere mich, Sie kamen eines Weihnachtsmorgens her mit einer jungen Dame, ich bitte um Entschuldigung, Mr. Redlaw, aber ich glaube, es war Ihre Schwester, an der Sie so sehr hingen.«

Der Chemiker sah ihn an und schüttelte den Kopf. »Ich hatte eine Schwester«, sagte er tonlos.

Weiter wußte er nichts.

»An einem Weihnachtsmorgen«, fuhr der Alte fort, »kamen Sie mit ihr hier vorbei, und es fing an zu schneien, und meine Frau lud die junge Dame ein, hereinzukommen und sich an das Feuer zu setzen, das am Weihnachtstage immer in dem Zimmer brennt, wo wir unsern großen Speisesaal hatten, bevor unsere zehn armen Herrn den Tausch eingingen. Ich war dort, ich erinnere mich noch; ich schürte die Glut, damit die junge Dame ihre hübschen Füßchen daran wärmen könnte, und sie las die Schrift unter dem Bilde: Der Herr erhalte mein Gedächtnis jung! Sie und meine selige Frau fingen an, darüber zu plaudern; und es ist so seltsam, wenn man jetzt denkt, daß beide sagten – und beide waren so jung, daß ans Sterben nicht zu denken war –, es sei ein schönes Gebet und sie würden es inbrünstig beten, falls sie früher sterben sollten, für die, die sie am liebsten hätten. Mein Bruder, sagte die junge Frau; – mein Gatte, sagte meine arme Frau –: Der Herr erhalte dein Gedächtnis jung und lasse dich niemals meiner vergessen.«

Schmerzlichere und heißere Tränen, als er jemals in seinem Leben geweint, rannen über Redlaws Gesicht. Philipp, zu sehr mit seiner Geschichte beschäftigt, hatte es nicht bemerkt und Millys warnende Gebärden nicht verstanden.

»Philipp«, sagte Redlaw und legte ihm die Hand auf den Arm. »Ich bin ein Unglücklicher, auf dem schwer die Hand der Vorsehung lastet. Du sprichst von etwas, Freund, das ich nicht mehr begreifen kann. Meine Erinnerung ist fort.«

»Barmherziger Himmel!« schrie der alte Mann.

»Ich habe die Erinnerung an Kummer und Sorge verloren«, sagte der Chemiker, »und damit auch alles, was dem Menschen der Erinnerung wert ist.«

Wer des alten Philipp Mitleid sah, und sah, wie er den eigenen großen Stuhl heranrollte, damit sich Redlaw darin ausruhen sollte, und das tiefe Verständnis in seinen Augen las für den Verlust, den jener erlitten, der mußte erkennen, wie kostbar die Erinnerungen für das Alter sind.

Der Knabe kam hereingelaufen und eilte auf Milly zu.

»Hier ist der Mann«, sagte er, »im andern Zimmer. Ich mag ihn nicht.«

»Wen meint er?« fragte Mr. William.

»Still!« sagte Milly.

Auf ihren Wink gingen er und sein Vater leise hinaus. Als sie verschwunden waren, winkte Redlaw den Knaben zu sich.

»Ich will lieber bei der Frau sein«, antwortete dieser und klammerte sich an Millys Röcke an.

»Du hast ganz recht«, sagte Redlaw mit einem trüben Lächeln, »aber du brauchst dich vor mir nicht zu fürchten, ich bin sanfter, als ich war, vor allem gegen dich, armes Kind.«

Der Junge hielt sich anfangs noch scheu zurück, aber allmählich gab er Millys Drängen nach, wagte sich näher und setzte sich dem Gelehrten sogar zu Füßen. Redlaw legte seine Hand auf die Schulter des Jungen, blickte mit brüderlicher Teilnahme auf ihn herab, und das Kind reichte die seine seiner Beschützerin hin. Milly beugte sich herab, daß sie ihm ins Gesicht sehen konnte, und fragte nach einer Pause:

»Mr. Redlaw, darf ich Ihnen etwas sagen?«

»Ja«, antwortete der Chemiker und blickte sie an. »Ihre Stimme ist wie Musik für mich.«

»Darf ich Sie etwas fragen?«

»Was Sie wollen.«

»Erinnern Sie sich noch, von wem ich gestern abend sprach, als ich an Ihre Türe klopfte? Von jemand, der einst Ihr Freund gewesen ist und jetzt am Rande des Verderbens steht?«

»Ja, ich kann mich erinnern«, sagte er zögernd.

»Wissen Sie, was ich meinte?«

Er streichelte den Kopf des Kindes, sah sie eine Welle gespannt an – und schüttelte den Kopf.

»Diesen Mann«, sagte Milly mit ihrer sanften, klaren Stimme, die der Blick ihrer milden Augen noch klarer und weicher machte, »fand ich bald darauf. Ich ging nach Hause zurück und machte ihn ausfindig mit Gottes Hilfe. Ich kam gerade noch zurecht. Ein wenig später, und es wäre vorüber gewesen.«

Redlaw zog seine Hand von dem Kinde zurück, legte sie auf die ihre, und die schüchterne und doch innige Berührung drang ihm ins Herz, wie ihre Stimme und ihre Augen, und er sah sie gespannt an.

»Er ist der Vater des Mr. Edmund, des jungen Herrn, den wir vorhin getroffen haben. Sein wirklicher Name ist Langford. Erinnern Sie sich an den Namen?«

»Ich erinnere mich des Namens.«

»Und des Mannes nicht?«

»Nein, des Mannes nicht. Hat er mir jemals etwas Böses getan?«

»Ja.«

»Dann ist keine Hoffnung – keine Hoffnung auf Erinnerung.«

Er schüttelte den Kopf und klopfte leise auf ihre Hand, als ob er sie stumm um Mitgefühl bäte.

»Ich bin gestern abend nicht zu Mr. Edmund gegangen«, sagte Milly. »Wollen Sie jetzt auf alles so genau hören, als ob Sie sich auf alles besännen.«

»Auf jede Silbe, die Sie sprechen.«

»Ich bin nicht hingegangen, erstens weil ich nicht wußte, ob der Mann wirklich sein Vater wäre, und dann, weil ich die Wirkung fürchtete, die eine solche Nachricht möglicherweise auf Mr. Edmund machen mußte – jetzt, wo er kaum genesen. Seitdem ich es bestimmt weiß, bin ich ebenfalls nicht hingegangen, aber aus einem andern Grund. Der Mensch war so lang fort von seiner Frau und seinem Sohn, ist seinem Heim, wie ich von ihm erfuhr, fast seit der Kindheit dieses Sohnes ein Fremdling geworden und hat das verlassen und vergessen, was ihm das Teuerste hätte sein sollen. Während dieser ganzen Zeit ist er tiefer und tiefer gesunken, bis – – – –« Plötzlich stand sie hastig auf, ging auf einen Augenblick hinaus und kam mit der Ruine von einem Menschen, den Redlaw am vergangenen Abend gesehen, wieder herein.

»Kennen Sie mich vielleicht?« fragte der Chemiker.

»Ich wäre glücklich«, entgegnete der andere, »– und das ist ein ungewohntes Wort in meinem Munde –, wenn ich mit nein antworten könnte.«

Der Chemiker sah den Mann an, der in dem niederdrückenden Gefühl der Herabgekommenheit vor ihm stand, und würde ihn noch länger angeblickt haben in vergeblichem Bemühen, Licht in seine Erinnerung zu bringen, hätte nicht Milly wieder ihren Platz an seiner Seite eingenommen und seinen Blick auf sich gelenkt.

»Sehen Sie, wie tief er gesunken ist«, flüsterte sie und deutete auf den Unbekannten, ohne den Blick vom Gesicht des Chemikers abzuwenden. »Wenn Sie sich alles dessen entsinnen könnten, meinen Sie nicht, es würde Ihr Mitleid wachrufen, daß es mit einem, den Sie einmal liebten – und ist’s auch lange her und war er auch unwürdig –, so weit hat kommen müssen?«

»Ich hoffe es«, antwortete Redlaw, »und glaube es.«

Seine Augen wanderten zu der Gestalt an der Tür, kehrten aber rasch zu ihr zurück und hingen an ihrem Gesicht, als wollten sie aus jedem Ton ihrer Stimme und aus jedem ihrer Blicke begierig eine Lehre ziehen.

»Ich habe kein Wissen und Sie dessen so viel«, sagte Milly. »Ich bin nicht gewöhnt zu denken, und Sie denken immer. Darf ich Ihnen sagen, warum es mir gut zu sein scheint, wenn man sich an das Leid erinnert, das uns widerfahren ist? Damit wir es vergeben können!«

»Verzeih mir«, sagte Redlaw und blickte gen Himmel, »daß ich dein Geschenk weggeworfen habe.«

»Und wenn«, fuhr Milly fort, »Ihnen das Gedächtnis eines Tages wiederkehrt, wie wir alle hoffen und beten wollen, wäre es dann nicht ein Segen für Sie, wenn Sie sich an das Unrecht und zugleich daran, daß es vergeben ist, erinnern?«

Er sah auf die Gestalt an der Tür und wiederum aufmerksam auf Milly; ein Strahl helleren Lichtes schien in seine Seele zu fallen.

»Er kann nicht zurückkehren an den heimischen Herd, den er verlassen. Er verlangt auch nicht zurück. Er weiß, er brächte nur Leid und Beschämung über die, die er so grausam vernachlässigt, und weiß, daß er sein Unrecht jetzt am besten sühnt, wenn er sie meidet. Mit ein wenig Geld könnte er in eine ferne Stadt ziehen, um ein besseres Leben zu führen und sein Unrecht wiedergutzumachen, soweit es noch möglich ist. Für seine unglückliche Gattin und ihren Sohn wäre dies das beste und günstigste Geschenk, das ihr treuester Freund ihnen machen könnte – ein Geschenk, von dem sie gar nichts zu wissen brauchten. Und für ihn, dessen Name vernichtet ist, dessen Geist und Körper krank sind, könnte es eine Rettung sein.«

Redlaw nahm ihr Haupt zwischen seine Hände und küßte sie und sagte: »Es soll geschehen. Ich vertraue es Ihnen an, es sogleich und in aller Stille auszuführen und ihm zu sagen, ich würde ihm so gerne vergeben, wäre ich nur so glücklich, zu wissen, was.«

Als sie sich erhob und ihr strahlendes Gesicht dem Unglücklichen zuwandte und ihm damit verriet, daß ihre Bitte erfüllt worden, da trat der Mann einen Schritt vor und redete mit gesenkten Augen Redlaw an.

»Sie sind so großmütig«, sagte er, »– Sie waren es immer –, daß Sie bei diesem meinem Anblick nichts von Vergeltung empfinden werden, ich aber fühle die Vergeltung schwer auf mir lasten, Redlaw. Wenn Sie können, glauben Sie mir das.«

Der Chemiker bat Milly durch eine Gebärde, näher zu ihm zu kommen, und sah ihr fragend ins Gesicht, als hoffe er dort den Schlüssel zu dem zu finden, was er vernommen.

»Ich bin zu tief gesunken, noch so etwas wie eine Beichte ablegen zu können. Mein Lebenspfad steht zu deutlich vor mir, als daß ich mit dergleichen vor Sie hintreten könnte. Aber von dem ersten Tag an, wo ich Sie hinterging, bin ich tiefer und tiefer gesunken mit unaufhaltsamer Geschwindigkeit. Das wollte ich sagen.« Redlaw wandte sein Gesicht dem Sprecher zu, und es lag etwas wie Kummer und schmerzliche Erinnerung darin.

»Ich hätte ein anderer Mensch sein und ein anderes Leben führen können, hätte ich diesen ersten verhängnisvollen Schritt vermieden. Ich weiß nicht, ob es dann so gekommen wäre, ich will mir diese bloße Möglichkeit nicht als Verdienst anrechnen. Ihre Schwester liegt im Grabe, und ihr ist dort wohler, als ihr bei mir sein könnte, selbst wenn ich der geblieben wäre, den Sie einst kannten.«

Redlaw machte eine heftige Bewegung mit der Hand, als wünsche er davon nichts mehr zu hören.

»Ich spreche«, fuhr der andere fort, »wie ein Mensch, den man vom Grabesrand zurückgerissen. Ich hätte gestern nacht mit mir ein Ende gemacht, wäre diese segensreiche Hand nicht gewesen.«

»O Gott, auch er – – – schon wieder jemand, der mich liebhat«, schluchzte Milly leise.

»Ich hätte Ihnen gestern abend nicht entgegentreten mögen, und wärs auch nur um ein Stück Brot gewesen, aber heute ist die Erinnerung an alte Zeiten so heftig und überwältigend in mir aufgewacht, daß ich es doch gewagt habe, auf ihren Rat hierherzukommen und Ihr Geschenk anzunehmen und Ihnen dafür zu danken und Sie zu bitten, Redlaw, seien Sie in Ihrer Sterbestunde so großmütig zu mir in Gedanken wie jetzt in Ihren Taten.«

Er wandte sich zur Türe, blieb aber noch einmal stehen.

»Schenken Sie meinem Sohn Ihre Teilnahme um seiner Mutter willen, ich hoffe, er wird dessen würdig sein. Und wenn ich nicht sehr lange lebe und nicht bestimmt weiß, daß ich Ihre Hilfe nicht mißbraucht habe, werde ich ihn nicht wiedersehen.« In der Tür blickte er zum erstenmal zu Redlaw auf. Der Chemiker, dessen Blicke starr auf ihn gerichtet waren, hielt ihm die Hände hin wie im Traum. Langford kehrte um, berührte sie – es war wenig mehr – mit seinen beiden Händen, dann schritt er gesenkten Hauptes langsam hinaus. In den wenigen Minuten, die verstrichen, während ihn Milly schweigend zum Tor begleitete, sank der Chemiker in den Lehnstuhl und bedeckte das Gesicht mit beiden Händen. Sie bemerkte dies, als sie in Begleitung ihres Mannes und des Alten, die ihn beide innig bedauerten, zurückkehrte, und trug Sorge, daß ihn niemand störe, und kniete nieder, um dem Knaben warme Kleider anzulegen.

»Ich sag’s immer, Vater«, rief Swidger voll Bewunderung aus, »es wohnt ein Muttergefühl in Mrs. Williams Brust, das heraus will und muß.«

»Ja, ja«, sagte der Alte, »du hast recht! Mein Sohn William hat recht.«

»Es mag wohl für uns das beste sein, liebe Milly«, sagte Mr. William zärtlich, »daß wir selber keine Kinder haben, und doch wünschte ich manchmal, du hättest eins, um es recht liebhaben und hegen zu können. Der Tod unseres kleinen, lieben Kindes, auf das du solche Hoffnungen setztest und das niemals die Luft des Lebens geatmet, hat dich so still gemacht, Milly.«

»Die Erinnerung an das Kind macht mich sehr glücklich, William«, gab sie zur Antwort. »Ich gedenke seiner jeden Tag!«

»Ich fürchte, du denkst sehr viel daran.«

»Sage nicht, du fürchtest. Es ist ein Trost für mich; es spricht zu mir in so mannigfacher Weise. Das unschuldige Ding, das nie auf Erden gelebt hat, ist für mich wie ein Engel, William.«

»Und du bist ein Engel für mich und meinen Vater«, sagte Mr. William leise, »so viel weiß ich.«

»Wenn ich an alle die Hoffnungen dachte, die ich auf das Kind baute, und wievielmal ich dasaß und mir das kleine lächelnde Gesichtchen an meiner Brust ausmalte und die lieben Augen, die sich nie dem Licht geöffnet, mir zugewandt vorstellte, da gab mir diese Selbsttäuschung immer noch mehr Milde und Ruhe für die erlittene Enttäuschung. Wenn ich ein schönes Kind in den Armen einer glücklichen Mutter sehe, dann hab‘ ich es um so lieber bei dem Gedanken, mein Kind hätte auch so sein können und hätte mein Herz ebenso stolz und glücklich machen können.«

Redlaw hob den Kopf und sah sich nach ihr um.

»Für das ganze Leben scheint es mir eine Lehre zu geben«, sprach sie weiter, »für arme, verlassene Kinder bittet mein kleines Kind, als wäre es lebendig und hätte eine Stimme und spräche mit mir wohlbekannter Stimme zu mir. Wenn ich von Jugend und Krankheit oder Elend höre, dann denke ich, daß es vielleicht mit meinem Kinde auch hätte so gehen können und daß es Gott aus Barmherzigkeit von mir genommen hat. Selbst im weißhaarigen Alter spricht es zu mir in seiner Art. Vielleicht hätte es die Achtung und die Liebe der Jüngern entbehren müssen, wenn du und ich längst gestorben wären.«

Ihre ruhige Stimme war ruhevoller als je. Sie ergriff den Arm ihres Mannes und legte ihren Kopf darauf.

»Kinder lieben mich so sehr, daß ich mir manchmal einbilde – es ist eine törichte Einbildung, William –, sie fühlten auf eine mir unbekannte Weise mit meinem kleinen Kind und mir und verständen, warum mir ihre Liebe so kostbar ist. Wenn ich seit jener Zeit stiller bin, so bin ich auch glücklicher in hundertfach anderer Art, William – nicht am wenigsten glücklich darin, daß, selbst damals, als mein Kind erst wenige Tage geboren und schon gestorben und ich noch schwach und betrübt war und nicht anders konnte als jammern und klagen, mir der Gedanke kam, wenn ich nur versuchte, mein Leben richtig zu gehen, würde mir im Paradies ein strahlendes Wesen entgegentreten und mich Mutter nennen.«

Redlaw fiel mit einem lauten Ausruf auf die Knie.

»O du! der du mir durch die Lehre reiner Liebe das Gedächtnis, Erlöser am Kreuz, das Gedächtnis aller Guten, die für dich gestorben sind, wiedergegeben, höre meine Dankesworte und segne sie!«

Dann zog er Milly an sein Herz, und sie schluchzte vor freudiger Rührung: »Er ist wieder zu sich gekommen, er ist voll Liebe zu mir, o Gott, o Gott, wieder einer!«

Und jetzt trat der Student herein, an der Hand ein reizendes Mädchen, das sich sträubte mitzukommen, und Redlaw, jetzt so ganz anders zu ihm, sah in ihm und seiner jungen Braut eine Erinnerung an jene glückliche Zeit seines Lebens wieder, umarmte sie beide und bat sie, ihn wie ihren Vater zu betrachten. Und da Weihnachten die Zeit ist, wo vor allen andern Tagen im Jahr in den Menschen das Gedenken jeden heilbaren Kummers, jeden Elends und Leides auf Erden lebendig sein soll, legte er seine Hand auf das Haupt des Knaben und gelobte, indem er stumm zum Zeugen anrief den, der da gesagt hatte: »Lasset die Kindlein zu mir kommen und wehret ihnen nicht«, das Wesen zu seinen Füßen zu beschützen, zu unterrichten und zum Menschen zu machen.

Dann reichte er Philipp fröhlich die Rechte und sagte, sie wollten heute in dem Zimmer, das, bevor die zehn armen Herren den Tausch eingegangen, der große Speisesaal war, ein Weihnachtsmahl veranstalten und man solle dazu so viele Mitglieder der zahlreichen Swidgerfamilie mitbringen, von der William gesagt, daß sie einen Ring um England bilden könnten, als sich in so kurzer Frist nur irgend auftreiben ließen.

Und das geschah. Es waren so viele Swidgers gegenwärtig, Kinder und Erwachsene, daß es kaum zu glauben war. Sie waren gekommen nach Dutzenden und Aberdutzenden, und gute hoffnungsvolle Nachricht traf ein über Georg, den Vater und Bruder und Milly wieder besucht und in ruhigem Schlummer verlassen hatten. Auch die Tetterbys waren zugegen samt Adolphus jr., der in regenbogenfarbigem Schal gerade noch rechtzeitig zum Rinderbraten kam. Johnny und das Wickelkind verspäteten sich natürlich, der eine gänzlich erschöpft, das andere in heftigem Zahnen. Aber das war man gewöhnt und regte sich deswegen nicht auf. Ein trauriger Anblick war das Kind, das keinen Namen hatte und weder Vater noch Mutter kannte, wie es den spielenden Kleinen zusah, unfähig, mit ihnen zu reden und zu spielen, und mit Kinderweise unbekannter war als ein scheuer Hund.

Traurig auch, wie die Kleinsten schon fühlten, daß es ganz anders war als sie, und sich ihm schüchtern näherten mit freundlichen Worten oder Mienen und ihm kleine Geschenke gaben, damit es sich nicht unglücklich fühlen solle. Aber der Knabe hielt sich an Milly – »noch einer«, sagte sie –, und da sie alle Milly so gern hatten, so freute sie das, und wenn sie ihn hinter dem Stuhle hervorgucken sahen, dann waren sie vergnügt, daß er so dicht bei ihr war.

Dies alles sahen der Chemiker, der neben dem Studenten und dessen Braut saß, und Philipp und alle übrigen. Die Leute haben sich seitdem erzählt, er habe nur gedacht, was hier niedergeschrieben steht, andere, er habe es im Feuer gelesen an einem Winterabend in der Dämmerstunde; andere wieder, der Geist sei nur das Bild seiner trüben Gedanken und Milly die Verkörperung der wirklichen Weisheit.

Ich sage nichts.

Nur das eine noch. Als sie alle in der alten Halle beisammensaßen, ohne Licht, nur beim Schein des großen Feuers im Kamin, da schlichen sich die Schatten wieder hervor aus ihren Schlupfwinkeln und tanzten im Zimmer herum und zeichneten den Kindern wunderbare Gestalten und Gesichter an die Wand und verwandelten heimlich, was wirklich und bekannt, in phantastische und ungeheuerliche Bilder. Aber ein Ding war in der Halle, dem sich die Augen Redlaws und Millys und ihres Gatten und des Alten und des Studenten und seiner Braut oft zuwendeten und das die Schatten weder verdunkeln noch verändern konnten: In ernsthafter Würde beim Schein des Feuers blickte das ernste Gesicht mit dem Spitzbart und der Halskrause wie lebendig aus dem dunkeln Getäfel der Wand auf sie herab, geschmückt mit den immergrünen Stechpalmenzweigen, und darunter klar und scharf und deutlich, als ob eine Stimme es riefe: Herr, erhalte mein Gedächtnis jung!

Vierzigstes Kapitel .


Vierzigstes Kapitel .

Häusliche Verhältnisse

Es lag nicht in der Natur der Dinge, daß bei einem Mann von Mr. Dombeys Gemütsart durch den Widerspruch eines Geistes, wie er ihn selbst sich gegenübergestellt hatte, die gebieterische Strenge gemildert oder die kalte, harte Rüstung des Stolzes, in die er eingehüllt war, durch den steten Gegensatz von hochmütigem Trotz und Hohn nachgiebiger gemacht werden konnte. Es ist der Fluch einer solchen Natur und ein Hauptteil der schweren Wiedervergeltung, die sie in sich selbst trägt, daß sie aus dem Widerspruch und einer Zurückweisung ihrer gewalttätigen Ansprüche ebenso gut Nahrung findet, als aus der Ehrerbietung und den gemachten Zugeständnissen, durch die ihre schlimmen Eigenschaften anschwellen und großgezogen werden. Das Böse darin findet selbst in den Gegensätzen die Mittel des Wachstums und der Fortpflanzung. Es zieht Kräftigung und Leben aus dem Süßen wie aus dem Bitteren: Mißachtung sowohl, wie Kriecherei bilden ein Vollwerk um die Brust, wo es seinen Thron aufgeschlagen hat, und mag es verehrt oder zurückgewiesen werden, stets ist es ein so despotischer Gebieter wie der Teufel im Märchen. Gegen seine erste Gattin hatte sich Mr. Dombey in seiner kalten, stolzen Anmaßung benommen als das hoch über ihr stehende Wesen, das er fast zu sein meinte. Er war für sie »Mr. Dombey« gewesen, als sie ihn zum ersten Male sah, und trat als »Mr. Dombey« an ihr Sterbebette. Während ihres ganzen ehelichen Lebens hatte er seine Größe behauptet, und sie hatte diese schüchtern anerkannt. Er saß hoch oben auf der Spitze seines Throns, sie bescheiden nur auf der untersten Treppe desselben, und es bereitete ihm einen Genuß, einsam als Sklave seiner einzigen Idee zu leben. Seiner Ansicht nach sollte der stolze Charakter seiner zweiten Gattin eine Zugabe sein zu dem seinigen – sollte sich mit demselben vermengen und seine Größe erhöhen. Er hatte geglaubt, höher auftreten zu können, als je, wenn Ediths Stolz dem seinigen dienstbar sei, dabei aber nie an die Möglichkeit gedacht, daß derselbe gegen ihn auftreten könne. Jetzt mußte er übrigens finden, daß die Eigenschaft, von der er sich so viel versprochen, bei jedem Tritt, bei jeder Wendung auf dem Pfade seines täglichen Lebens ihr kaltes, trotziges, Verachtung ausdrückendes Antlitz ihm entgegenhielt. Gleichwohl übte das keine demütigende, niederschlagende Wirkung auf seinen Hochmut aus, der im Gegenteil nur neue Sprossen trieb, sich mehr und mehr befestigte, und finsterer, widerwärtiger und unbeugsamer wurde, als er je zuvor gewesen.

Wer eine solche Rüstung führt, trägt auch stets eine andere schwere Wiedervergeltung in seinem Innern. Der Harnisch ist fest gegen Versöhnlichkeit, Liebe und Vertrauen, gegen jede Teilnahme von außen und gegen jede sanftere Regung, während er dagegen bloßliegt den tiefen Dolchstößen der Eigenliebe, wie die unbeschützte Brust der blanken Waffe. Und solche Wunden eitern quälender, als jede andere, namentlich wenn sie die gepanzerte Hand des Stolzes selbst dem machtloseren Stolze, den sie entwaffnet und niedergeworfen, geschlagen hat.

Derartige Wunden waren die seinigen. Er fühlte sie aufs empfindlichste in der Einsamkeit seiner alten Gemächer, wohin er sich nun oft wieder zurückzuziehen begann, uni stundenlang allein zu sein. Das Geschick, stolz und gewaltig, schien es über ihn verhängt zu haben, daß er stets gedemütigt und machtlos werden sollte, wo er gerne am kräftigsten gewesen wäre. Wer mochte wohl bestimmt sein, dieses Gericht an ihm zu erfüllen?

Wer? Wer war es, der seine Gattin gewinnen konnte, wie sie seinen Sohn genommen hatte! Wer war es, der ihm diesen neuen Sieg gezeigt hatte, als er in der dunkeln Ecke saß! Wer war es, der mit dem kleinsten Wort auszurichten vermochte, was allen seinen Mitteln nicht gelang! Wer war es, der ohne den Beistand seiner Liebe und seiner Beachtung zur Schönheit heranwuchs, während jene, denen dieser Beistand zugute gekommen war, starben! Wer konnte es anders sein, als dasselbe Kind, auf das er in seiner Verwaisung so oft unruhig und mit einer Art Furcht hingeblickt hatte, es möchte noch so weit kommen, daß er sie hassen müsse! Seine Ahnung war jetzt erfüllt, denn er haßte sie aus dem Grunde seines Herzens.

Ja, und er klammerte sich fest an diesen Haß, wenn auch einzelne Funken des Lichts, in dem sie an dem denkwürdigen Abend seiner Heimkehr erschienen war, gelegentlich um ihn her aufblitzten. Er wußte jetzt, daß sie schön war, stellte ihre gewinnende Anmut nicht in Abrede und konnte sich die Überraschung nicht verhehlen, in die ihn das schöne Morgenrot ihrer Jungfräulichkeit versetzt hatte. Aber auch das diente nur als Waffe gegen sie. Der unglückliche Mann fühlte wohl, wie alle Herzen sich ihm entfremdet hatten, und konnte sich einer unbestimmten Sehnsucht nach dem, was er sein ganzes Leben über zurückgewiesen, nicht entschlagen. Aber in seinem düstern, krankhaften Sinnen schuf er sich ein verzerrtes Bild von seinen Rechten, die er gekränkt wähnte, und waffnete sich in solcher Weise mit Scheingründen gegen Florence. Je würdiger sie seiner zu werden in Aussicht stellte, desto mehr Anlaß nahm er daraus, Rückblicke zu tun auf ihre frühere Pflichtmäßigkeit und Unterwerfung. Wann hatte sie ihm je Gehorsam und Unterwürfigkeit erwiesen? War sie ein Schmuck seines Lebens – oder nicht vielmehr Ediths? Hatte ihr Willkommen zuerst ihm gegolten – oder Edith? Waren sie von Florence Geburt an je wie Vater und Kind gegeneinander gewesen? Nein, es hatte stets eine Entfremdung stattgefunden. Überall und in jeder Weise war sie ihm in den Weg getreten, und auch jetzt stand sie gegen ihn im Bunde. Ihre Schönheit erweichte Charaktere, die sich ihm gegenüber stahlhart anließen, und beleidigte ihn durch ihren unnatürlichen Triumph.

Möglich, daß in all diesen Beschwerden das Erwachen eines freilich nur selbstsüchtigen und durch seine unvorteilhafte Stellung veranlaßten Bewußtseins lag, wozu sie sein Leben hätte machen können. Aber er brachte diesen fernen Donner durch den tobenden Wellenschlag seines Stolzes zum Schweigen. Nur auf die Stimme des letzteren wollte er hören, und in seinem Stolze warf er, ein Gemeng von Unbeständigkeit, Elend und Selbstpeinigung, seinen Haß auf sie.

Dem finstern, launenvollen, störrischen Dämon, von dem er besessen war, setzte seine Gattin einen Stolz von ganz anderer Art mit voller Macht entgegen. Sie hätten nie miteinander ein glückliches Leben führen können. Nichts indessen war geeigneter, es so ganz elend zu machen, als der eigensinnige, entschlossene Krieg solcher Elemente. Sein Hochmut sah sich darauf hingewiesen, seine vornehme Überlegenheit zu behaupten und ihr die Anerkennung derselben abzuringen, während sie ihrerseits selbst auf der todbringenden Folter bis zum letzten Augenblicke ihres Lebens den Blick ruhiger, unwandelbarer Verachtung auf ihn gerichtet haben würde. Solch ein Dank von Edith! Er wußte wenig, durch welche Stürme, welchen Kampf sie vorwärts getrieben wurde, bis sie die Ehre seiner Hand annahm – ja, er hatte nicht die mindeste Ahnung davon, wieviel sie ihm eingeräumt zu haben glaubte, wenn s i e ihm gestattete, sie seine Gattin zu nennen.

Mr. Dombey war entschlossen, ihr sein Übergewicht zu zeigen. Er verlangte zwar, daß sie stolz sei; aber sie sollte es für ihn, nicht gegen ihn sein. Wann er in seinen finsteren Gedanken allein dasaß, hörte er sie oft ausgehen und zurückkommen. Sie betrat die Runde des Londoner Lebens, ohne auf seine Zustimmung oder seine Unzufriedenheit mehr zu achten, als wäre er ihr Stallknecht gewesen. Ihre kalte, rücksichtslose Gleichgültigkeit – er glaubte allein zu dieser Eigenschaft berechtigt zu sein – verletzte ihn tiefer, als dies durch jede andere Behandlung hätte geschehen können, und er beschloß, sie unter seinen großartigen stattlichen Willen zu beugen.

Er war längst mit solchen Gedanken umgegangen, bis er endlich eines Abends, als er sie spät nach Hause zurückkommen hörte, sie auf ihrem Zimmer aufsuchte. Sie saß in ihrer prächtigen Toilette allein da und hatte unmittelbar zuvor ihrer Mutter einen kurzen Besuch gemacht. Auf ihrem Gesicht lag bei seinem Eintritt ein wehmütiger, gedankenvoller Ausdruck; ein Blick nach dem Spiegel aber, aus dem ihm dieser entgegenkam, zeigte ihm plötzlich, wie in einem Bilderrahmen, wieder die furchige Stirne und die düstere Schönheit, die er so gut kannte.

»Mrs. Dombey«, begann er, »ich muß mir die Freiheit nehmen, einige Worte mit Euch zu sprechen.«

»Morgen«, lautete ihre Erwiderung.

»Keine Zeit ist dazu passender, als die augenblickliche, Madame«, versetzte er. »Ihr verkennt Eure Stellung. Ich bin daran gewöhnt, mir meine Zeit zu wählen, nicht aber sie mir vorschreiben zu lassen. Es scheint mir, Ihr begreift kaum, wer und was ich bin, Mrs. Dombey.«

»Ich denke, ich weiß dies vollkommen«, antwortete sie.

Mit diesen Worten blickte sie zu ihm auf, legte ihre weißen, von Gold und Edelsteinen funkelnden Arme über der schwellenden Brust zusammen und wandte ihre Augen wieder ab.

Wäre sie weniger schön und in ihrer ruhigen Haltung weniger stattlich gewesen, so würde es ihr schwerlich gelungen sein, ihn zu dem Bewußtsein seiner unvorteilhaften Stellung zu bringen, dessen er sich sogar in seinem Stolze nicht erwehren konnte. Doch sie besaß diese Gewalt, und er fühlte es tief – fühlte es noch mehr, als er im Zimmer umherschaute und sah, wie der kostbare Schmuck und die reichen Kleider achtlos umhergestreut waren, nicht in bloßer Laune oder Nachlässigkeit, sondern in entschlossener, stolzer Mißachtung der wertvollen Gegenstände. Häubchen mit Blumen, Hutfedern, Juwelen, Spitzen, Samt und Seide – wohin er auch blickte, überall lag der Reichtum umher, als wäre er eitler Tand, Sogar die Diamanten – ein Hochzeitsgeschenk – die sich ungeduldig auf ihrem Busen hoben und senkten, schienen begierig zu sein, die Kette, an der sie um ihren Hals geschlungen waren, zu zerbrechen und auf dem Boden hinzurollen, damit ihre Gebieterin sie mit Füßen treten könne.

Er fühlte seinen Nachteil und zeigte es in der linkischen Verlegenheit, mit der er der stolzen Frau gegenüberstand, deren unbeugsame Schönheit sich in dem Reichtum von Farben und in dem üppigen Gefunkel wie in ebenso vielen Teilen eines Spiegels brach. Natürlich mußte alles, was ihrer Verachtung ausdrückenden Ruhe dienstbar war, seinen Unmut noch mehr aufregen. Mit sich selbst zürnend, setzte er sich nieder und fuhr in keineswegs gebesserter Stimmung fort:

»Mrs. Dombey, es ist sehr nötig, daß es zwischen uns zu einem Verständnis komme. Euer Benehmen gefällt mir nicht, Madame.«

Sie sah bloß nach ihm hin, wandte aber sogleich ihren Blick wieder ab. Der Ausdruck, mit welchem sie dies tat, war sprechender, als die Rede einer ganzen Stunde.

»Ich wiederhole, Mrs. Dombey, es gefällt mir nicht. Ich habe schon einmal die Gelegenheit ersehen, Euch zu bitten, daß Ihr es verbessern möget. Jetzt bestehe ich darauf.«

»Ihr wähltet einen passenden Anlaß für Eure erste Vorstellung, Sir, und bringt Eure zweite in einer sehr geeigneten Weise und in sehr zweckmäßigen Worten vor. Ihr besteht darauf gegen mich

»Madame«, entgegnete Mr. Dombey, in der verletzendsten Weise all seinen Stolz aufbietend, »ich habe Euch zu meiner Gattin gemacht. Ihr führt meinen Namen und seid Teilhaberin meiner Stellung, meines Rufs. Ich will nicht sagen, daß die Welt im allgemeinen zu glauben geneigt sein dürfte, Ihr seiet durch diese Verbindung geehrt; aber so viel erkläre ich Euch, daß ich gewöhnt bin, meinen Angehörigen und Untergebenen gegenüber auf meinem Willen zu bestehen

»Welche von diesen Eigenschaften beliebt Ihr mir zuzuweisen?« fragte sie.

»Vielleicht denke ich, meine Gattin werde – oder müsse beide in sich vereinigen, Mrs. Dombey.«

Sie warf ihm einen festen Blick zu und preßte ihre bebenden Lippen zusammen. Er sah das Klopfen ihrer Brust – sah, wie ihr Gesicht erglühte und dann blaß wurde. Alles das konnte er bemerken, und er bemerkte es auch. Dagegen war ihm nicht bekannt, daß in dem tiefsten Innern ihres Herzens ein einziges Wort ihr zuflüsterte, sich ruhig zu verhalten. Dieses Wort war Florence.

Blinder Tor, der du einem Abgrunde zustürzest! Er wähnte sie eingeschüchtert – durch ihn!

»Ihr macht zu viel Aufwand, Madame«, sagte Mr. Dombey – »einen übermäßigen Aufwand. Ihr verbraucht große Summen – oder Summen, die in den Taschen der meisten Gentlemen große genannt werden könnten – um Euch in einer Gesellschaft umzutreiben, die mir nutzlos – ja, die mir geradezu widerwärtig ist. In allen diesen Punkten muß ich auf einer durchgreifenden Änderung bestehen. Ich weiß zwar, daß die Frauen in der Neuheit des Besitzes gern zu einem plötzlichen Extrem übergehen, selbst wenn ihnen das Glück nur den zehnten Teil der Mittel zugewiesen hat, der Euch zur Verfügung steht, aber diesem Extrem ist jetzt mehr als Genüge geschehen, und ich muß bitten, daß Mrs. Dombey sich die ganz anderen Erfahrungen der Mrs. Granger zur Lehre dienen lasse.«

Noch immer der unverwandte Blick, die bebenden Lippen, die klopfende Brust und das Gesicht, das bald glühend rot, bald wieder leichenblaß wurde; aber auch das tiefe Flüstern: »Florence, Florence, das in dem Klopfen ihres Herzens zu ihr sprach.

Seine dünkelvolle Anmaßung bewirkte, wie er sah, diese Veränderung in ihr. Ebenso kochend über die ihm erwiesene Verachtung und das kürzliche Gefühl seiner unvorteilhaften Stellung, als durch ihre gegenwärtige vermeintliche Unterwürfigkeit aufgebläht, wurde das, was in seinem Innern gärte, zu übermächtig für seine Brust und sprengte alle Bande. Wer hätte auch seinem stolzen Willen und Befehle auf die Dauer widerstehen können! Er hatte beschlossen, sie zu beugen – und siehe da!

»Ihr werdet ferner die Güte haben, Madame«, fuhr Mr. Dombey im Ton herrscherischen Befehls fort, »Euch zu merken, daß ich Ehrerbietung und Gehorsam verlange – daß mir auf die entschiedenste Weise Ehrerbietung von der Welt erzeigt werde, Madame. Ich bin daran gewöhnt, – verlange es als mein Recht – und will es, mit einem Wort, haben. Ich sehe darin nur ein billiges Entgelt für die derzeitigen Vorteile, die Euch dafür zugefallen sind, und glaube, niemand wird sich darüber wundern, wenn ich es von Euch verlange oder Ihr es leistet – gegen mich – gegen mich!« fügte er mit Nachdruck bei.

Kein Wort von ihrer Lippe. Keine Veränderung in ihr. Der Blick unverwandt auf ihm haftend.

»Ich habe von Eurer Mutter gehört, Mrs. Dombey«, sagte Mr. Dombey mit schulmeisterischer Wichtigkeit, »was Ihr ohne Zweifel selbst wißt – daß ihr nämlich um ihrer Gesundheit willen Brighton empfohlen worden ist. Mr. Carker hat die Güte gehabt – –«

Ein plötzlicher Wechsel bei Edith. Ihr Gesicht und ihr Hals erglühten, als breche sich daran das rote Licht eines zornigen Sonnenuntergangs. Ohne hierauf zu achten, und den Wechsel nach seiner eigenen Art deutend, fuhr Mr. Dombey fort:

»Mr. Carker hat die Güte gehabt, hinzugehen und eine Wohnung zu bestellen. Wenn der Haushalt wieder nach London verlegt wird, werde ich zu dessen besserer Besorgung die Schritte tun, die ich für nötig halte. Einer davon wird, wenn es angeht, darin bestehen, daß ich in Brighton einer sehr achtbaren, in ihren Vermögensverhältnissen heruntergekommenen Person, einer Mrs. Pipchin, die früher in meiner Familie mit einem Dienste betraut war, die Stelle einer Haushälterin übertrage. Ein solches Hauswesen, über dem nur dem Namen nach eine Leitung steht, Mrs. Dombey, fordert einen fähigen Kopf.«

Sie hatte, ehe er bei diesen Worten anlangte, ihre Haltung verändert und saß jetzt da, den Blick noch immer ihm zugekehrt und eine Spange auf ihrem Arme hin und her drehend, nicht in leichter weiblicher Berührung, sondern sie über die glatte Haut hinzerrend, bis das Weiß einen breiten, roten Reif zeigte.

»Ich bemerkte«, sagte Mr. Dombey, »und das soll der Schlußstein zu dem sein, was ich Euch vorderhand mitzuteilen für nötig halte, Mrs. Dombey – ich bemerkte vor einem Augenblick, Madame, daß meine Erwähnung des Mr. Carker in einer eigentümlichen Weise aufgenommen wurde. Als ich Euch in der Gegenwart dieses meines vertrauten Beistandes über die Art, wie Ihr meine Gäste aufnahmt, meine Meinung eröffnete, hat es Euch beliebt, gegen seine Anwesenheit Einwendungen zu erheben. Ihr werdet Euch nunmehr eines Besseren besonnen haben, Madame, denn es ist wahrscheinlich, daß etwas Ähnliches noch oft vorkommen wird, wenn Ihr nicht zu dem Euch freistehenden Abhilfsmittel greift, mir keinen Anlaß zur Beschwerde zu geben. Mr. Carker«, fügte Mr. Dombey bei; denn nach der vorhin bemerkten Aufregung legte er ein großes Gewicht auf diese Art, sein stolzes Weib in die Enge zu hetzen, während er vielleicht auch gute Lust hatte, diesem Gentleman seine Macht in einem neuen triumphierenden Licht zu zeigen, »Mr. Carker besitzt mein Vertrauen, und es wird deshalb gut sein, Mrs. Dombey, wenn er insoweit auch das Eure teilt. Ich hoffe, Mrs. Dombey«, fuhr er nach einer kurzen Pause fort, während der ihm in seinem sich steigernden Hochmut der Kamm geschwollen war, »ich werde es nicht nötig finden, Mr. Carker mit Vorstellungen oder Verweisen an Euch zu beauftragen. Da es aber meiner Stellung und meinem Ruf Abtrag tun würde, mich oft in ärmliche Streitigkeiten mit einer Dame einzulassen, der ich die höchste mir zu Gebot stehende Auszeichnung erwiesen habe, so werde ich kein Bedenken tragen, seine Dienste in Anspruch zu nehmen für den Fall, daß es mir passend erscheint.«

»Und nun«, dachte er, in seiner moralischen Größe sich steifer und unnahbarer als je erhebend, »kennt sie mich und meinen Entschluß.«

Die Hand, die so ungestüm an der Armspange gezerrt hatte, legte sich jetzt schwer auf ihre Brust. Aber sie sah noch immer mit unverändertem Gesicht nach ihm hin und sagte mit gedämpfter Stimme:

»Halt! um Gotteswillen! Ich muß mit Euch sprechen.«

Warum hatte sie das nicht schon einige Minuten früher getan, und durch welchen innern Kampf war sie dazu unfähig geworden? In dem starren Zwang, den sie ihren Zügen auflegte, erschien ihr Gesicht so unbeweglich, wie das einer Statue – und sie schaute nach ihm hin, weder Nachgebung noch Unbeugsamkeit, weder Liebe noch Haß, weder Stolz noch Demut, nichts als einen spähenden Ausdruck in ihren Blick legend.

»Habe ich Euch je verlockt, meine Hand zu suchen? Habe ich irgendeinen Kunstgriff aufgeboten, um Euch zu gewinnen? War ich zur Zeit, als Ihr mich verfolgtet, einladender gegen Euch, als ich während unserer Ehe gewesen bin? Habe ich mich Euch je anders gezeigt, als wie ich bin?«

»Es ist völlig unnötig, Madame«, sagte Mr. Dombey, »auf solche Erörterungen einzugehen.«

»Glaubtet Ihr, ich liebe Euch? Wußtet Ihr das Gegenteil? Mensch, habt Ihr Euch je gekümmert um mein Herz oder die Absicht gehabt, dieses wertlose Ding zu gewinnen? Kam es überhaupt bei unserm Handel nur zur Sprache – auf Eurer Seite oder auf der meinen?«

»Diese Fragen führen ganz und gar von der Sache ab, Madame«, entgegnete Mr. Dombey.

Sie trat zwischen ihn und die Tür, um sein Fortgehen zu hindern, richtete ihre majestätische Gestalt in voller Höhe auf und blickte ihn noch immer fest an.

»Ihr beantwortet jede derselben. Ich sehe, Ihr beantwortet sie, noch ehe ich gesprochen habe. Wie sollte ich auch etwas anderes von Euch erwarten, der Ihr die unglückliche Wahrheit so gut kennt wie ich? Aber redet. Wenn ich Euch aus der Tiefe meiner Seele liebte, könnte ich mehr tun, als mein ganzes Sein und Wollen an Euch hingeben, wie Ihr eben verlangt habt? Wenn mein Herz in reiner Unerfahrenheit in Euch seinen Abgott sehen würde, könntet Ihr mehr fordern – könntet Ihr überhaupt mehr besitzen?«

»Vielleicht nicht, Madame«, versetzte er mit Kälte.

»Ihr wißt, wie ganz anders es bei mir steht. Ihr seht jetzt meinen Blick auf Euch haften und könnt in meinem Gesicht die Wärme der Leidenschaft lesen, die in mir für Euch atmet.« Kein Aufwerfen der stolzen Lippe, kein Blitzen des dunkeln Auges, nichts als derselbe spähende Blick begleitete diese Worte. »Ihr kennt im allgemeinen meine Geschichte. Ihr habt von meiner Mutter gesprochen. Glaubt Ihr, Ihr könnet mich zu Unterwerfung und Gehorsam herabwürdigen – mich beugen oder brechen?«

Mr. Dombey lächelte, wie er vielleicht auf die Frage gelächelt haben würde, ob er glaube, daß er zehntausend Pfund beschaffen könne.

»Wenn hierin etwas Ungewöhnliches liegt«, sagte sie, indem sie mit der Hand über die Stirn fuhr, ohne jedoch auch nur einen Augenblick ihren unbeweglichen und im übrigen ausdruckslosen Blick zu ändern, – »ich weiß, daß es hier ungewöhnliche Gefühle gibt«, – sie drückte die Hand auf ihre Brust und ließ sie dann wieder sinken, »so vergeßt nicht, daß in der Aussprache, die ich an Euch richten will, keine gewöhnliche Bedeutung liegt. Ja, ich habe wirklich im Sinn«, fügte sie wie in schneller Antwort auf etwas in seinem Gesicht bei, »eine Aussprache an Euch ergehen zu lassen.«

Mit einem leichten, herablassenden Senken seines Kinns, so daß die steife Halsbinde rauschte und krachte, setzte sich Mr. Dombey auf ein nahestehendes Sofa nieder, um ihren Worten Gehör zu schenken.

»Wenn Ihr glauben könnt, mein Wesen sei von der Art« – er meinte in ihren Augen Tränen glänzen zu sehen und wähnte selbstgefällig, er habe sie ihr entrungen, obschon keine auf ihre Wange niederfiel und sie ihn so fest wie je im Auge behielt – »daß meine nunmehrigen Worte, zu jedem Wann gesprochen, der mein Gatte geworden wäre, vor allem aber zu Euch gesprochen, mir selbst fast unglaublich erscheinen, so werdet Ihr vielleicht ein desto größeres Gewicht darauf legen. In das dunkle Ende, auf das wir lossteuern und dem wir wahrscheinlich nicht entrinnen, werden wir nicht bloß uns – denn dies wäre nicht viel –, sondern auch andere verstricken.«

Andere! Er wußte, was sie damit sagen wollte, und runzelte finster die Stirn.

»Ich spreche zu Euch um anderer willen. Auch Euret- und meinetwegen. Seit unserer Verheiratung seid Ihr anmaßend gegen mich gewesen, und ich habe Euch mit gleicher Münze bezahlt. Jeden Tag, jede Stunde zeigtet Ihr mir und unserer ganzen Umgebung, Ihr dächtet, daß ich durch den Bund mit Euch geehrt und ausgezeichnet sei. Ich bin nicht dieser Ansicht und habe es Euch auch gezeigt. Es scheint, Ihr begreifet nicht, oder es liege, soweit Eure Macht reicht, nicht in Eurer Absicht, daß jeder von uns einen gesonderten Weg gehen müsse, und erwartet statt dessen von mir eine Huldigung, zu der ich mich nie herablassen werde.«

Obschon ihr Gesicht wandellos dasselbe blieb, lag doch eine nachdrückliche Bekräftigung dieses »Nie« sogar in ihren Atemzügen.

»Ich fühle keine Liebe zu Euch: dies wißt Ihr. Wäre es der Fall, oder könnte ich es, so würdet Ihr Euch nicht darum kümmern. Ich weiß ebensogut, daß auch Ihr keine Liebe zu mir hegt. Doch wir sind aneinander gefesselt, und in den Knoten, der uns bindet, sind, wie gesagt, auch andere eingeschlossen. Wir beide müssen sterben; wir beide stehen bereits mit dem Jod in Verbindung, jedes von uns durch ein kleines Kind. Laßt uns gegenseitig nachsichtig sein!«

Mr. Dombey atmete tief auf, als wollte er sagen: »O, ist das alles?«

»Es gibt keinen Reichtum«, fuhr sie fort, und ihr Antlitz wurde blasser, während ihre auf ihm haftenden Augen einen erhöhten Glanz zeigten, »der mir diese Worte und den Sinn, der darin liegt, abkaufen könnte. Einmal weggeworfen als eitler Hauch, ist kein Reichtum und keine Macht mehr imstande, sie zurückzubringen. Es ist mir feierlich ernst damit: ich habe sie abgewogen und werde treulich an dem halten, was ich mir vornehme. Wenn Ihr mir Eurerseits Nachsicht versprechen wollt, so gebe ich Euch für mich dieselbe Zusage. Wir sind ein höchst unglückliches Paar, in dem aus verschiedenen Ursachen jedes Gefühl ausgerottet ist, das die Ehe rechtfertigt oder zu einem Segen macht. Gleichwohl könnte im Lauf der Zeit einige Freundschaft oder ein wenig gegenseitiges Anbequemen zu erzielen sein. Ich will versuchen, dies zu hoffen, wenn Ihr Euch gleichfalls Mühe geben wollt. Vielleicht mache ich von den Jahren meiner Reife einen besseren und glücklicheren Gebrauch, als das mit der Zeit meiner Jugend und meiner Blüte der Fall war.«

Sie hatte stets mit gedämpfter, einfacher Stimme gesprochen, die sich weder hob noch fiel. Nachdem sie zu Ende war, ließ sie die Hand sinken, auf die sie sich in ihrer leidenschaftslosen, bestimmten Gegenrede gestützt hatte, obschon ihr Auge sich nicht von ihm wandte.

»Madame«, versetzte Mr. Dombey mit seiner geschraubtesten Würde, »ich kann nicht auf einen so außerordentlichen Vorschlag eingehen.«

Sie sah ihn noch immer an ohne den mindesten Wechsel.

»Ich will in unserer Angelegenheit«, fuhr Mr. Dombey fort, indem er sich von seinem Sitz erhob, »über die Ihr meine Ansichten und Erwartungen vernommen habt, Mrs. Dombey, nicht zaudern oder mit Euch unterhandeln. Ihr habt mein Ultimatum vernommen, Madame, und ich muß Euch nur ersuchen, ihm Eure ernstlichste Aufmerksamkeit zuzuwenden.«

Wie ihr Gesicht den alten Ausdruck wieder annahm, nur vertieft in seiner Stärke! Wie ihre Augen sich senkten, als wollten sie den Anblick eines gemeinen, häßlichen Gegenstandes vermeiden! Welch ein Wetterleuchten auf der stolzen Stirn! Welche unwillige Verachtung, welcher entrüstete Abscheu, als der blasse, gleichförmige Ernst gleich einem Nebel verschwand! Er konnte alledem nicht ausweichen, obschon der Anblick unheimlich auf ihn wirkte.

»Geht, Sir!« sagte sie, mit gebieterischer Hand nach der Tür weisend. »Das erste und das letzte Vertrauen, das zwischen uns stattgefunden hat, ist zu Ende. Nichts kann uns fortan fremder gegeneinander machen, als wir es sind.«

»Madame«, versetzte Mr. Dombey, »verlaßt Euch darauf, daß ich, uneingeschüchtert durch allgemeine Deklamationen, den Weg gehen werde, zu dem ich berechtigt bin.«

Sie wandte ihm den Rücken zu und setzte sich, ohne ihm eine Antwort zu geben, vor ihrem Spiegel nieder.

»Ich hoffe, Ihr werdet Euch eines Besseren besinnen und mehr Eure Pflicht ins Auge fassen, Madame«, sagte Mr. Dombey.

Keine Silbe von ihren Lippen. Der Ausdruck, den ihr vom Spiegel zurückgeworfenes Gesicht ihm zeigte, gab so wenig Rücksicht auf ihn kund, als wäre er eine unbemerkte Spinne an der Wand oder ein Käfer auf dem Boden gewesen. Ja, als sie sich endlich von ihm abwandte, sah sie sogar aus, als hätte sie ihn wie das erwähnte ekelhafte Ungeziefer zertreten und für immer vergessen können.

Während er zur Tür hinausging, schaute er noch einmal auf das hell erleuchtete, reiche Zimmer, die überall umherliegenden schönen, funkelnden Gegenstände, die in ihrem kostbaren Gewand vor dem Spiegel sitzende Gestalt Ediths und das Gesicht zurück, das sich ihm im Spiegel zeigte. Dann begab er sich nach seinem alten Gedankenstübchen, von allen diesen Dingen im Geiste ein lebhaftes Bild mit fortnehmend und sich in unsteten Grübeleien ergehend, wie sie wohl aussehen dürften, wann er das nächste Mal ihrer ansichtig würde.

Im übrigen verhielt sich Mr. Dombey sehr schweigend und würdevoll, zuversichtlich darauf bauend, daß er sein Vorhaben durchsetzen könne. In dieser Stimmung beharrte er.

Er hatte nicht im Sinn, die Familie nach Brighton zu begleiten, sondern teilte am Morgen der Abreise, die ein paar Tage nach dem vorerwähnten Auftritt stattfinden sollte, Kleopatra beim Frühstück in Gnaden mit, daß man ihn bald erwarten dürfe. Es war hohe Zeit, Kleopatra nach einem Ort zu bringen, der als gesund empfohlen wurde, denn sie schien wahrhaft im letzten Viertel der Erdenlaufbahn zu stehen.

Ohne gerade einen entschiedenen zweiten Anfall erlitten zu haben, war es doch von ihrer ersten Genesung an mehr und mehr rückwärts mit ihr gegangen. Sie wurde sichtlich noch magerer und welker, ihre Geistesschwäche nahm zu, und ihr Gedächtnis verwirrte sich in der befremdlichsten Weise. Unter andern Anzeichen dieses letzteren Leidens verfiel sie in die Gewohnheit, die Namen ihrer beiden Schwiegersöhne, des lebenden und des toten, wirr durcheinander zu bringen, so daß sie in der Regel Mr. Dombey entweder »Grangeby« oder »Domber« nannte, bei Gelegenheit wohl auch beide Namen ohne Unterschied auf ihn anwendete.

Aber sie war jugendlich, noch sehr jugendlich, und so erschien sie auch vor ihrer Abreise in einem ausdrücklich bestellten Hut und in einem Reisekleid, das wie das eines alten Wickelkindes verbrämt und gestickt war, beim Frühstück. Es war nicht leicht, ihr das flugfertige Hütchen aufzusetzen oder es an der Hinterseite ihres armen, nickenden Kopfes festzuhalten, wenn es einmal angebracht war. Im gegenwärtigen Fall übte es nur die nicht sachgemäße Wirkung, daß es immer auf die eine Seite hing und stets von Flowers, der Zofe, die zu Verrichtung dieses Dienstes während des Frühstücks im Hintergrunde stand, an den Kopf zurückgedrückt werden mußte. »Mein teuerster Grangeby«, sagte Mrs. Skewton, »Ihr müßt uns versp–« sie schnitt manche ihrer Worte kurz ab und ließ andere gar aus – »recht bald hinunterzukommen.«

»Ich habe Euch bereits gesagt, Madame«, versetzte Mr. Dombey laut und mühsam, »daß ich mich nach einem oder zwei Tagen einfinden werde.«

»Gott segne Euch, Dombey!«

Jetzt ergriff der Major, der gekommen war, um sich von den Damen zu verabschieden, und mit der uneigennützigen Ruhe eines unsterblichen Wesens durch seine schlagflüssigen Augen Mrs. Skewtons Gesicht musterte, das Wort:

»Alle Welt, Ma’am, Ihr ladet den alten Joe nicht ein, Euch zu besuchen?«

»Scheußlicher Wicht, von wem spricht er denn?« lispelte Kleopatra. Ein Klopfen auf dem Hut von seiten Flowers schien jedoch ihr Gedächtnis anzuspornen, und sie fügte bei: »O, Ihr meint Euch, Ihr garstiges Geschöpf!«

»Verteufelt seltsam, Sir«, flüsterte der Major Mr. Dombey zu. »Schlimmer Fall. Nie warm genug gekleidet.« Der Major war bis an das Kinn zugeknöpft. »Ei, wen sollte J. B. unter Joe anders meinen, als den alten Joe Bagstock – Joseph – Euern Sklaven – Joe, Ma’am? Hier! hier ist der Mann! hier sind Bagstocks Blasebälge, Ma’am!« rief der Major, sich einen dröhnenden Schlag auf die Brust versetzend.

»Meine liebe Edith – Grangeby – es ist ganz’erordentlich«, sagte Kleopatra verdrießlich, »daß Major –«

»Bagstock! J. B.« rief der Major, als er bemerkte, daß sie um seinen Namen verlegen war.

»Nun, es liegt nichts daran«, sagte Kleopatra, »Edith, meine Liebe, du weißt, daß ich mir die Namen nie merken konnte. Was wollte ich doch sagen? O! ganz ‚erordentlich, daß so viele Leute mich da drunten zu besuchen wünschen. Ich gehe nicht auf lange. Ich komme wieder zurück. Sicherlich können sie warten, bis ich wieder hier bin!«

Kleopatra sah sich bei diesen Worten am ganzen Tisch um und schien sehr unruhig zu sein.

»Ich wünsche keine Besuche – brauche in der Tat keine Besuche«, sagte sie: »ein wenig Ruhe – und dergleichen – ist alles, was ich nötig habe. Keine garstige Bären dürfen mir kommen, bis ich diese Taubheit ’schüttelt habe.«

Und in greulicher Wiederaufnahme ihres koketten Wesens führte sie mit ihrem Fächer einen Stoß nach dem Major, traf aber statt dessen die in ganz anderer Richtung stehende Kaffeetasse des Mr. Dombey, die unter diesem Angriff überstürzte.

Dann beschied sie Withers vor und trug ihm auf, ja nicht zu vergessen, daß einige kleine Veränderungen in ihrem Zimmer vorgenommen werden sollten, die fertig sein müßten, ehe sie wieder zurückkomme. Er habe dies augenblicklich zu besorgen, da man nicht wissen könne, wie bald sie wieder hier sei; denn sie habe bei allerlei Personen so gar viele Besuche zu machen. Withers nahm diese Weisungen mit geziemender Ehrerbietung entgegen und verbürgte sich für ihre pünktliche Besorgung. Als er aber um einen oder zwei Schritte hinter ihr zurücktrat, schien es, als müsse er noch einen eigentümlichen Blick dem Major zuwerfen, der seinerseits gleichfalls mit einem eigentümlichen Ausdruck nach Mr. Dombey hinsah. Von diesem Beispiel angesteckt, betrachtete letzterer Kleopatra auch in eigentümlicher Weise, während dieser guten Dame das Hütchen über das eine Auge niederfiel und das von ihr gebrauchte Besteck auf dem Teller klapperte, als ob sie mit Kastagnetten spiele.

Nur Edith erhob ihr Auge nie zu irgendeinem Gesicht an dem Tisch und schien auch durch nichts ängstlich gemacht zu werden, was ihre Mutter sagte oder tat. Sie hörte ihrem unzusammenhängenden Gerede zu oder wandte wenigstens den Kopf gegen sie, wenn die Worte ihr galten, gab im Notfall eine leise einsilbige Erwiderung, unterbrach sie bisweilen, wenn die alte Dame allzusehr faselte, oder führte ihre Gedanken durch eine kurze Bemerkung nach dem Punkt zurück, von dem aus sie abgeschweift waren. So unsicher die Mutter übrigens auch in andern Dingen geworden war, blieb sie doch darin beständig, daß sie fast kein Auge von ihr verwandte. Sie schaute in das schöne Gesicht mit seiner strengen marmornen Ruhe bald in einer Art furchtsamer Bewunderung, bald in einem kichernden, törichten Versuch, es zu einem Lächeln zu bewegen, bald mit launenhaften Tränen und eifersüchtigem Kopfschütteln, als halte sie sich für vernachlässigt, stets aber mit einem bestimmten Bezug auf Edith, und der wechselte nicht, wie ihre andern Gedanken, sondern wirkte beharrlich fort. Von Edith konnte sie bisweilen in einer Weise, die sich wild genug ausnahm, nach Florence hin und dann wieder nach Edith zurückblicken. Mitunter versuchte sie auch, anderswohin zu schauen, als wolle sie dem Antlitz ihrer Tochter ausweichen. Aber ihr Auge schien nach diesem zurückgedrängt zu werden, obschon Ediths Blick den ihren nie unaufgefordert suchte.

Das Frühstück war zu Ende. Mrs. Skewton tat in gezierter Mädchenhaftigkeit, als wolle sie sich auf den Arm des Majors lehnen, mußte aber auf der andern Seite von Flowers, der Zofe, und von hinten durch Withers, den Pagen, kräftig unterstützt werden. So geleitet, gelangte sie nach dem Wagen, der sie, Florence und Edith nach Brighton bringen sollte.

»Und ist Joseph unbedingt verbannt?« sagte der Major, sein Purpurgesicht zum Kutschenschlag hineinsteckend. »Beim Henker, Ma’am, ist Kleopatra so hartnäckig, ihrem treuen Antonius Bagstock zu verbieten, daß er in ihre Nähe komme?«

»Fort mit Euch!« versetzte Kleopatra. »Ich kann Euch nicht ausstehen. Wenn Ihr Euch recht wacker aufführt, könnt Ihr mich besuchen, wann ich wieder zurückkomme.«

»Sagt Joseph, er dürfe in Hoffnung leben, Ma’am«, erwiderte der Major; »oder er wird in Verzweiflung sterben.«

Kleopatra schauderte und lehnte sich zurück.

»Edith, meine Liebe«, rief sie, »sage ihm –«

»Was?«

»So schreckliche Worte«, sagte Kleopatra. »Er braucht so schreckliche Worte!«

Edith bedeutete ihm mit einem Wink, er möchte zurücktreten, gab das Zeichen zur Abfahrt und überließ den anstößigen Major Mr. Dombey, zu dem dieser pfeifend zurückkehrte.

»Ich will Euch was sagen, Sir«, begann der Major, der, die Hände auf den Rücken gelegt, seine Beine weit spreizte, »eine schöne Freundin von uns hat ihr Quartier in einer wunderlichen Straße aufgeschlagen.«

»Was meint Ihr damit, Major?« fragte Mr. Dombey.

»Nichts anders, Dombey«, erwiderte der Major, »als daß Ihr bald eine Schwiegerwaise sein werdet.«

Mr. Dombey schien diese scherzhafte Bezeichnung seiner Person so wenig zu gefallen, daß der Major mit dem Pferdehusten schloß.

»Gott verdamm mich, Sir«, sagte der Major, »es hilft nicht«, eine Tatsache zu bemänteln. Joe ist derb, Sir. Das liegt in seiner Natur. Wollt Ihr den alten Josh überhaupt haben, so müßt Ihr ihn nehmen, wie Ihr ihn findet; und Ihr werdet ein verteufelt rostiges altes Kratzeisen, eine scharfzahnige J.B.-Feile an ihm finden. Dombey«, fügte der Major bei, »die Mutter Eurer Gattin ist auf der Reise, Sir.«

»Ich fürchte«, versetzte Mr. Dombey mit philosophischer Ruhe, »daß Mrs. Skewton sehr leidend ist.«

»Leidend, Dombey?« entgegnete der Major. »Sie ist so gut wie hin.«

»Eine Luftveränderung übrigens«, fuhr Mr. Dombey fort, »und sorgfältige Pflege können noch viel tun.«

»Glaubt das nicht, Sir«, erwiderte der Major. »Hole mich der Kuckuck, sie hat sich nie warm genug gekleidet. Wenn man sich nicht ordentlich einhüllt«, fügte er hinzu, indem er einen weitern Knopf seiner hellgelben Weste zumachte, »so hat man nichts, auf was man sich verlassen könnte. Aber die Leute wollen sterben. Sie wollen es. Gott verdamm mich, sie wollen. Sie sind starrsinnig. Laßt Euch was sagen, Dombey. Vielleicht ist’s nicht gerade zierlich und fein ausgedrückt; vielleicht sogar rauh und zäh, aber ein bißchen von dem echten altenglischen Bagstock-Urstoff, Sir, würde in der ganzen Welt der menschlichen Zucht trefflich zustatten kommen.«

Nachdem der Major, der jedenfalls echt blau war, was für andere Eigenschaften er auch haben mochte, um in die echt altenglische Klassifikation eingereiht werden zu können – diesen großartigen Witz gemacht hatte, trug er seine Hummernaugen und seine Gicht nach dem Klub, wo er den ganzen Tag über hustete.

Kleopatra, die das eine Mal ärgerlich, dann wieder selbstgefällig, bisweilen wach und dann wieder schläfrig, zu allen Zeiten aber sehr jugendlich war, langte noch am nämlichen Abend in Brighton an, fiel wie gewöhnlich in Stücke und wurde zu Bett gebracht. Eine düstere Phantasie hätte sich wohl ein gewaltiges Gerippe vorstellen können, das den Dienst der Jungfer versah, wie es ja auch im Geiste dort lauerte unter den rosenfarbigen Vorhängen, die man mitgenommen hatte, damit sie ihren Abglanz auf Mrs. Skewton ergössen. In dem hohen Rate medizinischer Autoritäten war beschlossen worden, daß sie jeden Tag eine Spazierfahrt ins Freie machen sollte. Auch sei es sehr wichtig, daß sie täglich ein wenig gehe, wenn sie es könne. Edith war bereit, sie zu begleiten – stets dazu bereit mit derselben mechanischen Sorgfalt und unbeweglichen Schönheit – und sie fuhren allein aus; denn nun es mit ihrer Mutter schlechter wurde, fühlte sich Edith unruhig in Florences Nähe, weshalb sie derselben mit einem Kusse sagte, es wäre ihr lieber, wenn sie beide allein blieben.

Eines Tages befand sich Mrs. Skewton ganz besonders in jener unschlüssigen, gewalttätigen, eifersüchtigen Stimmung, die nach ihrer Genesung von dem ersten Anfall sich ausgebildet hatte. Als sie eine Weile schweigend in dem Wagen gesessen und Edith angesehen hatte, ergriff sie deren Hand und küßte sie leidenschaftlich. Die Hand wurde weder gegeben noch zurückgezogen, sondern verhielt sich leidend und sank, sobald sie frei gelassen war, gleichsam empfindungslos wieder nieder. Hierauf begann Mrs. Skewton zu wimmern und zu stöhnen; sie klagte, was sie für eine Mutter gewesen und wie sie jetzt so ganz und gar vergessen sei. Dies währte in launenhaften Zwischenräumen lange fort, als sie ausgestiegen waren und Mrs. Skewton, von Withers und einem Stocke unterstützt, neben Edith herging, während der Wagen langsam in einiger Entfernung nachfolgte.

Es war ein düsterer, kalter, windiger Tag, und sie befanden sich auf den Dünen, wo nur ein kahler Streifen Landes zwischen ihnen und dem Himmel lag. Die Mutter, die sich in der Eintönigkeit ihrer Klagen gefiel und diese von Zeit zu Zeit mit gedämpfter Stimme wiederholte, ging langsam neben der stolzen Gestalt ihrer Tochter her, bis sie über einen dunkeln Hügelrücken weggekommen waren, wo sie in einiger Entfernung ein paar Gestalten erblickten, in denen Edith eine so treffende karikierte Nachbildung ihrer selbst erkannte, daß sie stehen blieb.

In demselben Augenblick machten auch die zwei Personen halt. Die eine, die Edith wie ein verzerrter Schatten ihrer Mutter vorkam, sprach angelegentlich mit der andern und deutete nach ihnen herüber. Sie schienen geneigt zu sein, umzukehren. Aber die andere, in der Edith eine so große Ähnlichkeit mit sich selbst bemerkte, daß sie von einem ungewöhnlichen, mit Furcht untermengten Gefühl überwältigt wurde, kam heran, während ihre Begleiterin sich an sie anschloß.

Edith hatte das meist während des Gehens bemerkt, da sie nur für einen Augenblick stehengeblieben war. Eine nähere Betrachtung zeigte ihr, daß die beiden Personen nach Weise herumziehenden Landvolkes sehr ärmlich gekleidet waren. Die jüngere Frau trug Strickwaren und ähnliche Gegenstände zum Verkauf bei sich, die Alte aber mühte sich mit leeren Händen weiter.

Welcher Abstand auch in Kleidung, Würde und Schönheit vorhanden war, Edith konnte doch nicht anders, als noch immer die jüngere Frau mit sich selbst zu vergleichen. Möglich, daß sie auf ihrem Gesicht auch einige Züge sah, die, wie sie wußte, in ihrer eigenen Seele harrten, wenn sie sich auch nicht äußerlich kund gaben. Als aber die Fremde herankam, in Erwiderung von Ediths Blick ihre leuchtenden Augen auf sie heftete und, in Haltung und Statur ihr so ganz ähnlich, sogar mit ihren Gedanken in eine Wechselbeziehung zu treten schien, – da überflog das schönere Gegenbild der Unbekannten ein Frösteln, als ob der Tag sich in Nacht hülle und der Wind kälter werde.

Die Fremden waren nun ganz herangekommen. Die Alte streckte zudringlich ihre Hand aus und blieb stehen, um bei Mrs. Skewton zu betteln. Auch die jüngere machte halt. Sie und Edith sahen sich gegenseitig in die Augen.

»Was habt Ihr zu verkaufen?« fragte Edith.

»Nur dies«, versetzte die Angeredete, indem sie ihre Waren feilbot, ohne danach hinzusehen. »Mich selbst habe ich längst verkauft.«

»Meine Lady, glaubt ihr nicht«, krächzte die Alte Mrs. Skewton zu: »glaubt nicht, was sie sagt. Es macht ihr Freude, so zu sprechen. Sie ist meine schöne, undankbare Tochter und überhäuft mich nur mit Vorwürfen, meine Lady, für alles, was ich an ihr getan habe. Schaut sie nur an, meine Lady, welche Blicke sie ihrer armen alten Mutter zuwirft.«

Als Mrs. Skewton mit zitternder Hand ihre Börse herauszog, um daraus hastig etwas Geld zu nehmen, dem die andere Alte mit Gier entgegensah, – in ihrer Hast und Gebrechlichkeit berührten sich beinahe die beiden Köpfe – nahm Edith wieder das Wort.

»Ich habe Euch schon früher gesehen«, sagte sie zu der Alten.

»Ja, meine Lady«, entgegnete die Alte mit einem Knix. »In Warwickshire drunten. An jenem Morgen unter den Bäumen. Als Ihr mir nichts geben wolltet. Aber der Gentleman – er gab mir etwas. O, vergelt ihm, vergelt es ihm Gott!« murmelte die Alte, indem sie ihre runzelige Hand hinhielt und fürchterlich nach ihrer Tochter hingrinste. »Versuch‘ nicht, mich zurückzuhalten, Edith!« sagte Mrs. Skewton, verdrießlich einer Einwendung ihrer Tochter vorgreifend. »Du verstehst nichts davon, und ich lasse mir nicht abraten. Das ist bestimmt eine treffliche Frau und eine gute Mutter.«

»Ja, meine Lady, ja«, plapperte die Alte, ihre habgierige Hand ausstreckend. »Danke, meine Lady. Gott vergelte es Euch, meine Lady. Wieder sechs Pence, meine hübsche Lady. O, Ihr seid zuverlässig selbst eine gute Mutter.«

»Und ich versichere Euch, mein gutes altes Geschöpf, eine Mutter, die bisweilen gleichfalls undankbar genug behandelt wird«, versetzte Mrs. Skewton wimmernd. »Da! gebt mir Eure Hand. Ihr seid ein sehr gutes Geschöpf – voll, von wie nennt man’s doch – und dergleichen. Ihr seid ganz Liebe et cetera – ist es nicht so?«

»O ja, meine Lady!«

»Ich wußte es, und so ist auch jener kavalierhafte Mensch, Grangeby. Ich muß Euch in der Tat noch einmal die Hand drücken. So, jetzt könnt Ihr gehen; und ich hoffe«, sie wandte sich dabei an die Tochter, »Ihr werdet fortan mehr Dankbarkeit, natürliches wie nennt man’s doch und all dergleichen mehr – ach, ich kann mir die Namen nie merken – zeigen, denn es hat nie eine bessere Mutter gegeben, als das gute alte Geschöpf da gegen Euch gewesen ist. Komm, Edith!«

Während die Ruine der Kleopatra wimmernd weiter wankte und sich sentimental und vorsichtig wegen des aufgelegten Rots die Augen wischte, humpelte die Alte, die ihr Geld zählte, mit wackelndem Kinn nach der entgegengesetzten Richtung weiter. Kein Wort, keine Gebärde weiter war zwischen Edith und der jüngeren Frau ausgetauscht worden. Aber sie hatten keinen Augenblick die Augen von einander verwandt. So blieben sie sich gegenüber stehen, bis Edith, wie aus einem Traum erwachend, langsam weiter ging.

»Ihr seid eine schöne Frau«, murmelte ihr Schatten, der ihr nachblickte; »aber das gute Aussehen wird Euch nicht retten. Und Ihr seid eine stolze Frau; aber auch der Stolz wird Euch nicht retten. Wir werden einander wohl kennen, wenn wir uns wiedersehen!«

Einundvierzigstes Kapitel.


Einundvierzigstes Kapitel.

Neue Stimmen auf den Wellen

Alles geht seinen gewohnten Gang. Die Wellen sind heiser von der Wiederholung ihres Geheimnisses; der Sand häuft sich am Ufer auf. Die Seevögel streichen durch die Luft; Winde und Wolken jagen dahin, ohne eine Spur zurückzulassen, und die weißen Wogenarme winken in dem Mondlicht nach dem weit entlegenen unsichtbaren Lande.

Mit wehmütiger Freude ist Florence wieder an der alten, früher mit Trauer betretenen Stätte. Sie fühlt sich glücklich, wenn ihre Gedanken den Bruder nach dem ruhigen Plätzchen zurückrufen, wo er und sie so oft miteinander gesprochen hatten, während die Wellen um sein Lager her spielten. Auch jetzt, wie sie so gedankenvoll dasitzt, hört sie in dem wilden, dumpfen Gemurmel des Meeres eine Wiederholung seiner kleinen Geschichte, ja sogar seiner Worte. Sie findet, daß all ihr seitheriges Leben, Hoffen und Grämen – in dem einsamen Hause sowohl, wie in dem Palast, in den es sich verwandelt hat – zu dem Schlußreim jenes wunderbaren Liedes gehört.

Und der schüchterne Mr. Toots, der in der Ferne wandert, sehnsüchtig nach der von ihm angebeteten Gestalt hinblickt und ihr hierher gefolgt ist, obschon er es in seinem Zartgefühl nicht über sich gewinnen kann, sie zu einer solchen Zeit zu stören – vernimmt gleichfalls das Requiem des kleinen Dombey auf den Wellen, die mit den Pausen in ihrem ewigen Loblied auf Florence steigen und fallen. Ja, und der arme Mr. Toots begreift einigermaßen, daß sie etwas sagen von einer Zeit, in der sein Kopf noch lichter und nicht so umnebelt war, und die Tränen, die sich in seinen Augen heben, wenn er fürchtet, er sei jetzt blöde, dumm und zu nichts gut, als um verlacht zu werden, mindern in ihrem beschwichtigenden Mahnen seine Zufriedenheit darüber, daß er für den Augenblick aller Verantwortlichkeit gegen den Preishahn enthoben ist, weil besagter Ehrenmann eben auf Toots‘ Kosten eine Landpartie gemacht hat, um mit dem Larkeyjungen anzubinden.

Aber Mr. Toots faßt Mut; denn die Wellen flüstern ihm einen freundlichen Gedanken zu, und mit langsamen Schritten, wobei er oft unschlüssig haltmacht, nähert er sich Florence. Er ist zwar ihrem Reisewagen auf dem ganzen Wege von London Meile für Meile gefolgt, da ihm sogar der erstickende Staub seiner Räder teuer ist. Trotzdem drückt er, sobald er ihr nahe gekommen, unter Erröten stammelnd, sein Erstaunen aus, daß er sie sieht, und sagt, er sei in seinem ganzen Leben nie so überrascht gewesen.

»Und Ihr habt auch Diogenes mitgebracht. Miß Dombey?« sagt Mr. Toots, und ein Prickeln durchfliegt seinen ganzen Körper bei der Berührung der kleinen Hand, die ihm so lieblich und unverhohlen dargeboten wird.

Ohne Zweifel ist Diogenes da und ohne Zweifel hat Mr. Toots allen Grund, ihn zu bemerken, denn er fährt geradewegs auf die Beine des jungen Gentleman los und überpurzelt sich in der Verzweiflung, mit der er seinen Angriff macht. Aber seine holde Gebieterin hält ihn zurück.

»Nieder Di, nieder. Erinnerst du dich nicht mehr, wer uns zuerst miteinander bekannt gemacht hat, Di? Pfui, schäme dich!«

Ach, wohl hat Di Ursache, schmeichelnd seine Nase unter ihre Hand zu schieben, fort, wieder zurück und um sie her zu laufen, zu bellen und köpflings auf jeden Herankommenden loszustürzen, damit er seine Ergebenheit zeige. Mr. Toots würde gleichfalls köpflings auf jeden Menschen losgerannt sein. Ein Offizier geht vorbei, und Mr. Toots wäre nichts lieber gewesen, als wenn er hätte voll gegen ihn anrennen können.

»Diogenes fühlt sich wieder in seiner heimischen Luft – meint Ihr nicht, Miß Dombey?« fragte Mr. Toots.

Florence gibt mit einem anmutigen Lächeln ihre Zustimmung.

»Miß Dombey«, sagt Mr. Toots, »ich bitte um Verzeihung; aber wenn Ihr einen Besuch bei Blimbers machen möchtet, ich – ich gehe hin.«

Ohne ein Wort zu sprechen, legt Florence ihren Arm in den seinigen und sie gehen miteinander weiter, Diogenes voraus. Mr. Toots zittern die Knie, und obgleich er prächtig gekleidet ist, fühlt er sich doch unbehaglich und sieht Runzeln auf den Meisterwerken von Burgeß und Co. Er wünscht, daß er sein glänzendstes Paar Stiefel angezogen hätte.

Das Äußere von Mr. Blimbers Hause erscheint noch ebenso schulmeisterlich und akademisch, wie nur je; und dort oben ist das Fenster, wo sie nach dem blassen Gesicht hinaufzuschauen pflegte, wo das blasse Gesicht sich erheiterte, wenn es sie gewahrte, und wo die abgezehrte kleine Hand ihr Küsse zuwarf, wenn sie vorüberging. Die Tür wird durch denselben kurzsichtigen Mann geöffnet, in dessen ausdruckslosem Grinsen beim Anblick von Mr. Toots sich die verkörperte Geistesschwäche kundgibt. Sie werden nach dem Studierzimmer des Doktors gewiesen, wo ihnen der blinde Homer und Minerva wie ehedem zu dem nüchternen Ticken der großen Wanduhr in der Halle Audienz erteilt und wo die Erd- und Himmelskugeln noch immer an ihren gewohnten Plätzen stehen, als sei auch die Welt stillgestanden und nie etwas darin nach dem allgemeinen Gesetz, daß auf dem rollenden Erdball alles zur Erde abruft, zugrunde gegangen.

Doktor Blimber ist da mit seinen gelehrten Beinen. Mrs. Blimber ist da mit ihrer himmelblauen Haube. Und Cornelia ist da mit ihrer gelben kleinen Lockenreihe und ihrer glänzenden Brille, noch immer wie ein Totengräber in den Gräbern der Sprachen arbeitend. Dort steht der Tisch, auf dem fremd und verlassen der »neue Knabe« der Schule saß, und man hört das ferne Getümmel der alten Knaben, wie sie sich nach dem alten Grundsatz in der alten Stube umtreiben.

»Toots«, sagt Doktor Blimber. »Es freut mich sehr, Euch zu sehen, Toots.«

Mr. Toots kichert zur Erwiderung.

»Und Euch noch dazu in so guter Gesellschaft zu sehen, Toots«, sagt Doktor Blimber.

Mr. Toots setzt mit einem puterroten Gesicht auseinander, daß er zufällig mit Miß Dombey zusammengetroffen sei, und daß Miß Dombey gleich ihm gewünscht habe, die alte Stätte zu sehen. Dies der Grund, warum sie miteinander kämen.

»Ohne Zweifel möchtet Ihr, Miß Dombey«, sagt Doktor Blimber, »unter unsere jungen Freunde treten. Lauter vormalige Studiengenossen von Euch, Toots. Ich glaube, meine Liebe«, fügt er gegen Cornelia bei, »es sind in unserer kleinen Akademie keine neuen Schüler, seit Mr. Toots uns verlassen hat.«

»Bitherstone ausgenommen«, entgegnete Cornelia.

»Ja, richtig«, sagte der Doktor. »Bitherstone ist für Mr. Toots neu.«

Auch für Florence ist er es beinahe; denn der Bitherstone in der Schulstube – nicht länger Master Bitherstone bei Mistreß Pipchin – zeigt sich in Vatermördern und Halsbinde und trägt eine Uhr. Aber der unter einem schlimmen bengalischen Stern geborene Bitherstone ist ungemein tintig und sein Wörterbuch hat von dem beharrlichen Gebrauch ein so wassersüchtiges Aussehen, daß es nicht mehr schließen will und in einer Weise gähnt, als könne es die langweilige Behandlung nicht länger aushalten. Seinem Herrn, Bitherstone selbst, auf dem Doktor Blimbers Hochdruck lastet, ergeht es ebenso. Aber in seinem Gähnen liegt ein boshaftes Kläffen, und man hat ihn sagen hören, er wünsche nur, daß er den »alten Blimber« einmal in Indien erwische. Er wolle ihn dann bald durch einige von seinen (Bitherstones) Kulis landaufwärts geschafft und den Thugs2 überantwortet haben – das sage er ihm zum voraus.

Briggs mahlt noch immer in der Mühle der Wissenschaft; auch Tozer, Johnson und alle übrigen. Die älteren Zöglinge sind eifrig damit bemüht, wieder zu vergessen, was sie in jüngeren Jahren gelernt haben. Alle sind so geschniegelt und blaß, wie nur je, und unter ihnen ist Mr. Feeder, B.A., mit seiner knöchernen Hand und dem stoppeligen Haarwuchs der alte Treiber. Der Herodot ruht für den Augenblick, und seine übrigen Waffen liegen auf dem Sims hinter ihm.

Selbst unter diesen ernsten jungen Leuten erregt ein Besuch des emanzipierten Toots gewaltiges Aufsehen. Man betrachtet ihn mit einer Art Ehrfurcht als einen Menschen, der den Rubikon überschritten und geschworen hat, nie wieder zurückzukommen. Was aber den Schnitt seiner Kleider und seinen Schmuck betrifft, so flüstert man sich gegenseitig hinter den Händen erstaunte Bemerkungen zu. Der gallsüchtige Bitherstone, der nicht aus der Zeit des Mr. Toots stammt, tut gegen die kleineren Knaben, als verachte er einen derartigen Schmuck, und sagt, er wisse das besser; man solle ihn nur einmal in Bengalen besuchen, wo seine Mutter einen ihm gehörigen Smaragd habe, der aus dem Fußschemel eines Raja genommen sei.

Auch der Anblick Florencens weckt berückende Gefühle, und jeder junge Gentleman verliebt sich augenblicklich wieder in sie, den vorerwähnten gallsüchtigen Bitherstone ausgenommen, der aus hellem Widerspruchsgeist nichts davon wissen will. Gegen Mr. Toots erhebt sich bittere Eifersucht, und Briggs ist der Meinung, daß Toots im Grunde nicht mal alt genug sei. Aber diese beschimpfende Andeutung wird schleunigst durch Mr. Toots zunichte gemacht, der laut zu Mr. Feeder B.A. sagt: »Wie geht’s Euch, Feeder?« und ihn auf heute abend zu einem Diner nach dem Bedford einlädt. Kraft dieser Großtat hätte er sich anstandslos für den alten Parr ausgeben können, wenn es ihm darum zu tun gewesen wäre.

Es gibt viele Händedrücke, viele Verbeugungen, und bei jedem jungen Gentleman macht sich der sehnliche Wunsch bemerklich, Toots in Miß Dombeys Gunst auszustechen. Nachdem Mr. Toots sein altes Pult mit Kichern begrüßt hat, zieht er sich mit Florence, Mistreß Blimber und Cornelia wieder zurück. Er ist der letzte, der herauskommt, und hört noch, während er die Tür schließt, Doktor Blimber sagen: »Meine Herren, wir wollen jetzt unsere Studien wieder aufnehmen.« Denn dieses und nicht viel mehr ist es, was der Doktor die Wellen sagen hört oder sein ganzes Leben über aus ihrem Sprechen verstand.

Florence schleicht sich dann fort und geht mit Mrs. Blimber und Cornelia nach dem alten Schlafstübchen hinauf. Mr. Toots, der fühlt, daß weder er, noch sonst jemand dort nötig ist, steht unter der Tür des Studierzimmers und spricht mit dem Doktor, oder hört vielmehr dem Sprechen des Doktors zu. Dabei wundert er sich, wie er besagtes Studierzimmer je für ein großes Heiligtum und den Doktor mit seinen krummen Beinen, als wäre dieser eine geistliche Orgel, für einen furchtbaren Mann hatte halten können. Florence kommt bald wieder herunter und verabschiedet sich. Auch Mr. Toots nimmt Abschied, und Diogenes, der die ganze Zeit über dem kurzsichtigen jungen Mann aufs erbarmungsloseste zugesetzt hatte, schießt zur Tür hinaus, um in frohem Trotz über die Klippe hinunter zu bellen. Melia und eine andere von des Doktors weiblichen Dienstboten sehen zu einem oberen Fenster heraus, lachen ›über den Toots da‹ und sagen von Miß Dombey: ›Wahrhaftig, gleicht sie nicht ihrem Bruder, nur daß sie hübscher ist?‹

Mr. Toots, der nach Florences Wiedereintreten Tränen auf ihrem Gesicht bemerkt hat, ist verzweifelt ängstlich und unruhig und fürchtet anfangs sogar, er habe unrecht getan, indem er ihr den Besuch vorschlug. Aber er fühlt sich bald erleichtert, weil sie sagt, es freue sie sehr, wieder hier gewesen zu sein, und ganz heiter über alles spricht, während sie an dem Ufer weiter gehen. Er hört die Stimmen auf den Wellen, hört ihre süße Stimme. Solange bis sie in die Nähe von Mr. Dombeys Haus kommen, wo er sie verlassen muß, ist er so verstrickt, daß er über keine Spur freien Willens mehr gebieten kann. Sie reicht ihm die Hand zum Abschied, aber es ist ihm unmöglich, sie wieder loszulassen.

»Miß Dombey, ich bitte um Verzeihung«, sagt Mr. Toots in traurigem Flüsterton: »aber wenn Ihr mir erlauben wolltet, zu – zu –«

Florences lächelnder, nichts ahnender Blick bewirkt, daß er nicht weiter fortfahren kann.

»Wenn Ihr mir erlauben wolltet, zu – wenn Ihr es nicht als eine Dreistigkeit ansehen wolltet, Miß Dombey, wenn ich – ohne irgend eine Ermutigung, wenn ich hoffen dürfte« – sagt Mr. Toots.

Florence sieht ihn fragend an.

»Miß Dombey«, sagt Mr. Toots, der fühlt, daß er jetzt einmal im Zuge ist, »ich bin in der Tat in jenem Zustand von Anbetung gegen Euch, daß ich nicht weiß, was ich mit mir selbst anfangen soll. Ich bin der beklagenswerteste Unglückliche. Wenn es nicht gerade an der Ecke des Square wäre, so würde ich auf meine Knie niederfallen und Euch bitten und anflehen, ohne eine Ermutigung, mich nur hoffen zu lassen, daß ich – daß ich es für möglich halten dürfe, Ihr –«

»O, ich bitte, haltet inne!« ruft Florence in einem augenblicklichen Schrecken. »O, ich bitte, haltet inne, Mr. Toots. Sprecht nicht weiter. Wenn Ihr mir eine Liebe, eine Gunst erweisen wollt, so fahrt nicht fort.«

Mr. Toots ist schrecklich beschämt und sperrt den Mund weit auf.

»Ihr seid so gütig gegen mich gewesen«, sagt Florence, »und ich erkenne es dankbar an. Ich habe allen Grund, in Euch einen wohlwollenden Freund zu lieben, und habe Euch wirklich so gern«, – ihr offenes Gesicht lächelt ihm dabei mit dem lieblichsten, ehrlichsten Blick von der Welt zu – »daß ich von Euch überzeugt bin, Ihr wolltet weiter nichts, als mir Lebewohl sagen.«

»Jawohl, Miß Dombey«, versetzt Mr. Toots. »Ich – ich – das ist es gerade, was ich meine. Es ist von keinem Belang.«

»Gott befohlen!« ruft Florence.

»Gott befohlen. Miß Dombey!« stammelt Mr. Toots. »Ich hoffe, Ihr werdet nichts Schlimmes davon denken. Es ist – es ist von keinem Belang, danke Euch – von durchaus keinem Belang.«

Der arme Mr. Toots geht in einem Zustand von Verzweiflung nach seinem Hotel zurück, schließt sich in sein Schlafgemach ein, wirft sich auf sein Bett und bleibt daselbst geraume Zeit liegen, als ob es dennoch vom größten Belang sei. Glücklicherweise stellt sich aber Mr. Feeder B.A. zum Diner ein, da man sonst kaum sagen könnte, wann er wieder aufgestanden wäre. Mr. Toots sieht sich genötigt, ihn zu bewillkommnen und gastlich zu bewirten.

Und der allgemeine Einfluß jener sozialen Tugend, der Gastfreundschaft (des Weins und des guten Mahls nicht zu gedenken), öffnet Mr. Toots das Herz und erwärmt ihn zur Redseligkeit. Er sagt Mr. Feeder B.A. nicht, was an der Ecke des Square vorgegangen ist. Aber als Mr. Feder ihn fragt, »wann es losgehen werde«, versetzte Mr. Toots, »es gebe gewisse Dinge –«, eine Bemerkung, die Mr. Feeder um einige Grade wieder herunterstimmt. Mr. Toots fügt bei, er wisse nicht, was Blimber berechtige, über sein Erscheinen in Miß Dombeys Gesellschaft sich Bemerkungen zu erlauben, und wenn er glauben könnte, der Doktor habe damit eine Unverschämtheit beabsichtigt, so wolle er es ihm geben, Doktor hin, Doktor her. Er meint übrigens, es sei nur die Unwissenheit des Mannes schuld daran, und Mr. Feeder sagt, daß er nicht daran zweifle.

Mr. Feeder jedoch wird als ein vertrauter Freund von der Angelegenheit nicht ausgeschlossen, und Mr. Toots hat nur den Wunsch, daß diese Angelegenheit geheimnisvoll und mit Gefühl angedeutet werde. Nach einigen Gläsern Wein bringt er Miß Dombeys Gesundheit aus und bemerkt:

»Feeder, Ihr habt gar keine Vorstellung von den Gefühlen, mit denen ich diesen Toast begleite.«

»O ja, die habe ich wohl, mein teurer Toots«, versetzt Mr. Feeder, »und sie gereichen Euch sehr zu Ehre, alter Knabe.«

Mr. Feeder ist vor Freundschaft sehr aufgeregt, drückt seinem Wirt die Hände und sagt, wenn Toots je einen Bruder brauchte, so wisse er, wo er ihn finden könne, entweder direkt durch Post oder durch Boten. Auch meint er, wenn er Mr. Toots einen Rat erteilen dürfe, so würde er ihm empfehlen, die Gitarre oder wenigstens die Flöte spielen zu lernen; denn Frauenzimmer lieben an denen, die ihnen ihre Huldigung darbringen, musikalische Fertigkeit, und er hat selbst schon gefunden, welchen Vorteil man daraus ziehe.

Das bringt Mr. Feeder B.A. zu dem Geständnis, daß er sein Auge auf Cornelia Blimber geworfen hat. Er teilt Mr. Toots mit, daß er nichts gegen Brillen einzuwenden habe, und wenn der Doktor sich so wacker anläßt, ihm das Geschäft zu übergeben, ei, so sind sie – versorgt. Seiner Meinung nach ist jeder Mensch, der sich durch sein Geschäft eine schöne Summe erworben hat, verpflichtet, dasselbe aufzugeben, und Cornelia wäre dabei eine Gehilfin, auf die man stolz sein könnte. Mr. Toots antwortet mit einem wilden Übergang auf Miß Dombeys Lob und mit Hindeutungen, daß es ihm bisweilen sei, als möchte er sich eine Kugel durchs Hirn jagen. Mr. Feeder stellt ihm sehr nachdrücklich vor, daß dies ein übereilter Versuch sein würde, und zeigt ihm, um ihn wieder mit dem Dasein zu versöhnen, Cornelias Porträt mit Brille und Zubehör.

So verbringen diese ruhigen Geister den Abend, und sobald der Abend der Nacht gewichen ist, begleitet Mr. Toots seinen Gast nach Hause und verabschiedet sich von ihm an Doktor Blimbers Tür. Mr. Feeder geht aber nur die Treppe hinauf und kommt, sobald Mr. Toots fort ist, wieder herunter, um einsam an dem Gestade zu wandeln und über seine Aussichten nachzudenken. Er vernimmt in der Stimme der Wellen deutlich die Mitteilung, Doktor Blimber wolle das Geschäft aufgeben, fühlt eine sanfte romantische Lust, wenn er das Äußere des Hauses ansieht und sich dabei denkt, der Doktor werde es anstreichen und gründlich ausbessern lassen.

Mr. Toots geht gleichfalls außerhalb der Mauern, die sein Kleinod bergen, hin und her, und schaut in einer kläglichen Gemütsstimmung – die Polizei hat ein mißtrauisches Auge auf ihn geworfen – nach einem Fenster hinauf, wo noch Licht ist. Er zweifelt nicht daran, daß es aus Florences Zimmer komme, irrt aber hierin; denn es ist das Nachtlicht der Mrs. Skewton. Während Florence unter den alten Schauplätzen schläft und in ihren Träumen frühere Erinnerungen wieder aufleben, liegt in grimmiger Wirklichkeit, wachend und wimmernd, die Gestalt des alten Weibes da, die dem nämlichen Zimmer den geduldigen Knaben ersetzt, um es – aber wie ganz anders – abermals mit Hinfälligkeit und Tod in Verbindung zu bringen. Hager und häßlich liegt sie auf dem unruhigen Bett, und daneben sitzt Edith in ihrer erschreckenden, leidenschaftslosen Lieblichkeit – denn auf das erblindete Auge der Leidenden wirkt sie in der Tat erschreckend. Was rufen ihnen die Wellen zu in der Stille der Nacht?

»Edith, was soll dieser steinerne Arm da, der aufgehoben ist, mich zu schlagen? Siehst du ihn nicht?«

»Es ist nichts, Mutter, als Eure Phantasie.«

»Als meine Phantasie? Alles ist meine Phantasie. Schau nur! Ist es möglich, daß du ihn nicht siehst?«

»In der Tat, Mutter, es ist nichts da. Könnte ich auch so ruhig hier sitzen, wenn Ihr von etwas Derartigem bedroht würdet?«

»Ruhig?« entgegnete die Kranke, wild nach ihr hinschauend. »Er ist jetzt fort – und warum bist du so ruhig? Das ist nicht meine Phantasie, Edith. Eiskalt geht es mir durch die Glieder, wenn ich dich so an meiner Seite sitzen sehe.«

»Ich bin traurig, Mutter.«

»Traurig? Du scheinst immer traurig zu sein. Aber du bist es nicht um meinetwillen.«

Sie fängt zu wimmern an, wirft auf ihrem Kissen ruhelos den Kopf von Seite zu Seite, klagt über Vernachlässigung, nachdem sie eine solche Mutter gewesen, und spricht von der Mutter, die ihnen begegnet, dem guten alten Geschöpf und dem schlechten Dank, den solche Mütter von ihren Töchtern erhalten. Mitten in ihrem Irrereden hält sie an, blickt nach ihrer Tochter hin, ruft, daß sie ihren Verstand verliere, und verbirgt ihr Gesicht in dem Kissen.

Teilnahmsvoll beugt sich Edith über sie hin und redet sie an. Die kranke Alte umklammert ihren Hals und sagt mit einer Miene des Entsetzens:

»Edith, wir gehen bald wieder nach Hause – kehren zurück. Du meinst doch auch, daß ich wieder nach Hause soll?«

»Ja, Mutter, ja.«

»Und was sagte der, wie heißt er doch – ich kann mir nie die Namen merken – der Major – jenes schreckliche Wort, als wir weggingen – ist es nicht wahr? Edith!« ruft sie kreischend und ihre Augen werden starr, »ist’s nicht eben dies, was jetzt mich überfällt?« –

Nacht für Nacht blinkt das Licht durch die Fenster. Die Gestalt liegt auf dem Bett, Edith sitzt an ihrer Seite, und die ruhelosen Wellen singen ihnen die ganze Nacht hindurch zu. Nacht für Nacht wiederholen die Wellen heiser ihr Geheimnis; der Sand liegt an dem Ufer aufgehäuft; die Seevögel schweben durch die Luft; die Winde und Wolken eilen hin, ohne eine Spur zurückzulassen, und die weißen Arme winken im Mondlicht nach dem fernen, unsichtbaren Lande.

Und noch schaut die kranke Alte in die Ecke, wo der steinerne Arm – ein Stück von einem Grabmonument, sagt sie – erhoben ist, um sie zu schlagen. Endlich fällt er nieder; ein stummes altes Weib liegt auf dem Bett und krümmt sich zusammen. Die Hälfte von ihr ist tot.

So sieht die Gestalt aus, die Tag für Tag – geschminkt und bemalt, um die Sonne zu verhöhnen – langsam durch das Gedränge gefahren wird; sie sieht sich nach dem guten alten Geschöpf um, das eine solche Mutter war, und verzieht den Mund, wenn sie vergeblich nach ihr späht. So sieht die Gestalt aus, die man in einem Räderbett an den Meeresstrand bringt und dort ruhen läßt. Aber kein Wind kann ihr Frische zuwehen, und das Gemurmel des Ozeans hat kein beruhigendes Wort für sie. Sie liegt da und hört es stundenlang; aber die Sprache ist ihr unbekannt und dunkel. Auf ihrem Gesicht ist Furcht zu lesen, und wenn ihre Augen über die Fläche hinwandern, sehen sie nur einen breiten Strich Öde zwischen Erde und Himmel.

Florence wird nur selten zu ihr gelassen, und wenn es geschieht, so ist sie ärgerlich und zankt. Edith ist immer an ihrer Seite und hält Florence fern. Florence aber, wenn sie nachts in ihrem Bett liegt, zittert bei dem Gedanken an den Tod in einer solchen Gestalt, kann oft lange nicht schlafen und lauscht in der Meinung, er sei gekommen. Niemand verpflegt die Kranke als Edith; denn es ist besser, daß nur wenige Augen sie sehen. Die Tochter wacht allein an ihrem Lager.

Es fällt ein weiterer Schatten auf das umschattete Gesicht; die spitzigen Züge werden noch spitziger, und der Schleier vor den Augen verdichtet sich zu einem schwarzen Tuch, das die trübe Welt ausschließt. Ihre unsicheren Hände liegen über der Decke matt Fläche an Fläche, bewegen sie nach der Tochter hin, und eine Stimme – ungleich der ihrigen und ungleich jeder Stimme, die in unserer sterblichen Sprache redet – sagt:

»Denn ich habe dich erzogen!«

Tränenlos kniet Edith neben dem Bett nieder, um dem ersterbenden Haupt ihre Stimme näher zu bringen und erwidert:

»Mutter, könnt Ihr mich hören?«

Die Augen weit aufsperrend, versucht sie mit Nicken zu antworten.

»Erinnert Ihr Euch der Nacht vor meiner Hochzeit?«

Der Kopf ist regungslos, drückt aber einigermaßen eine Bejahung aus.

»Ich sagte Euch damals, daß ich Euch Eure Beteiligung dabei verzeihe, und flehte zu Gott, daß er mir auch die meinige vergebe. Ich erklärte Euch, daß die Vergangenheit jetzt zwischen uns abgeschlossen sei. Ich sage das wieder. Küßt mich, Mutter.«

Edith berührt die weißen Lippen, und für einen Moment ist alles still. Einen Augenblick nachher richtet sich ihre Mutter mit ihrem mädchenhaften Lachen und dem Skelett der Kleopatra-Manier in ihrem Bette auf.

Laßt diese rosenfarbigen Vorhänge nieder. Außer dem Wind und den Wolken ist auch etwas anderes auf der Flucht! Laßt die rosenfarbigen Vorhänge nieder!

Die Nachricht von dem Ereignis ergeht an Mr. Dombey in London, der dem Vetter Feenix, der sich noch nicht zur Abreise nach Baden-Baden hat entschließen können und gleichfalls schon von dem Vorgang unterrichtet ist, einen Besuch macht. Ein so gefälliges Wesen, wie Vetter Feenix, ist gerade der rechte Mann für Trauungen sowohl wie für Leichenbegängnisse, und seine Stellung in der Familie gibt ihm ein Recht, zu Rat gezogen zu werden.

»Dombey«, sagte Vetter Feenix, »bei meiner Seele, ich bin erschüttert, Euch um eines so traurigen Anlasses willen bei mir zu sehen. Meine arme Tante! Sie war eine fabelhaft lebhafte Frau.«

»Jawohl«, versetzte Mr. Dombey.

»Und Ihr wißt, sie hat sich beziehungsweise ganz jung gemacht«, sagte Vetter Feenix. »Am Tage Eurer Trauung meinte ich wahrhaftig, sie könne wohl noch zwanzig Jahre aushalten. Ich sagte dies auch bei Brooks zu dem kleinen Billy Joper – Ihr kennt ihn ohne Zweifel – dem Mann mit einem Glas in seinem Auge?«

Mr. Dombey macht eine verneinende Gebärde.

»Ich möchte wegen ihrer Beisetzung hören, ob Ihr – – –«

»Ah, bei meinem Leben«, sagt Vetter Feenix und streichelt mit dem bißchen Hand, das unter seinen Manschetten hervorsteht, das Kinn, »ich weiß in der Tat nicht. In dem Park bei meinem Haus ist ein Mausoleum. Aber ich fürchte, es bedarf sehr der Ausbesserung, da es sich wahrhaftig in einem miserablen Zustand befindet. Wenn ich mich nicht meist auswärtig aufhielte, so würde ich schon Sorge getragen haben; aber ich glaube, die Leute kommen und machen dorthin Picknick-Ausflüge innerhalb der eisernen Geländer.«

Mr. Dombey sieht ein, daß dies nicht angehen würde.

»Es ist eine ungemein schöne Kirche im Dorf«, sagt Vetter Feenix nachdenkend, »rein im ersten anglonormannischen Stil gehalten, und man hat einen bewundernswürdigen Kupferstich von ihr – Zeichnung von Lady Jane Finchbury – sehr geschnürte Dame. Ich hörte übrigens, die Kirche sei durch den Maler sehr verdorben worden.«

»Vielleicht Brighton selbst«, deutete Mr. Dombey an.

»Auf meine Ehre, Dombey, ich glaube nicht, daß wir etwas Besseres tun könnten«, sagt Vetter Feenix. »Ihr seht, man ist schon am Platz, und der Ort wäre recht angenehm.«

»Und wann ist es Euch gelegen?« fragt Mr. Dombey.

»Es ist eine Ehrensache für mich, auf jeden Tag zuzusagen, der Euch passend dünkt«, antwortete Vetter Feenix. »Mit dem größten Vergnügen – natürlich mit wehmütigem Vergnügen – werde ich meine arme Tante begleiten zu den Schranken des – – ja, zum Grabe«, fügt Vetter Feenix bei, da ihm der Schwung der andern Phrase nicht gelingen will.

»Könnt Ihr am Montag von London abkommen?« fragt Mr. Dombey.

»Der Montag ist mir vollkommen gelegen«, erwidert Vetter Feenix.

Demgemäß verspricht Mr. Dombey, an dem besagten Tag Vetter Feenix abzuholen, und verabschiedet sich. Vetter Feenix begleitet ihn bis zur Treppe und bemerkt noch: »Es tut mir in der Tat außerordentlich leid, Dombey, daß Ihr in der Sache so viele Mühe habt«, worauf Mr. Dombey antwortet: »Durchaus nicht.«

Zu der bestimmten Zeit treffen Vetter Feenix und Mr. Dombey zusammen, fahren nach Brighton und begleiten, in ihren zwei Personen alle übrigen Leidtragenden vertretend, die Überreste der hingeschiedenen Dame nach ihrer Ruhestätte. Vetter Feenix, der in dem Trauerwagen sitzt, bemerkt auf der Straße zahllose Bekannte, nimmt aber anstandshalber keine andere Rücksicht auf sie, als daß er sie Mr. Dombey laut nennt; zum Beispiel: »Tom Johnson. Mann mit Korkbein – kenne ihn von White. Wie, Ihr auch da, Tommy? Vernarrt in eine Vollblutstute. Die Smalder-Mädchen«, und so weiter. Bei der Feierlichkeit ist Vetter Feenix traurig; denn er weiß, bei solchen Gelegenheiten müsse man die Leute glauben machen, daß man wirklich erschüttert sei. Zudem sind seine Augen, nachdem die Sache vorüber ist, in der Tat feucht. Er sammelt sich jedoch bald wieder, und das Gleiche ist der Fall bei dem Rest der Freunde und Verwandten von Mrs. Skewton, über die der Major in seinem Klub unaufhörlich zu erzählen weiß, daß sie sich nie warm genug gekleidet habe. Die junge Dame mit dem Rücken dagegen, die so viel mit ihren Augenlidern zu schaffen hatte, sagt mit einem Seufzer, sie müsse ungeheuer alt gewesen sein und habe einen entsetzlichen Tod erlitten; man dürfe nur nicht davon reden.

So liegt Ediths Mutter in ihrem Grabe, und nichts bleibt von ihr zurück in der Erinnerung ihrer lieben Freundinnen, die taub sind gegen die Wellen, die heiser ihr Geheimnis wiederholen, nichts von dem am Ufer aufgehäuften Sand sehen und keine Augen haben für die weißen Arme, die im Mondlicht nach dem fernen, unsichtbaren Lande winken. Aber an dem Saume des unbekannten Meeres geht alles in der gewohnten Weise fort, und Edith, die allein dasteht und auf die Stimme der Wellen lauscht, sieht das moderige Schilf zu ihren Füßen, das ihren ganzen Lebenspfad bestreuen soll.

  1. Berüchtigte indische Sekte, die Raubmörderei als eine Art religiöses System betreiben. (Vgl. Richard Garbe, Beiträge zur indischen Kulturgeschichte, S. 183 ff.)

Sechsunddreißigstes Kapitel.


Sechsunddreißigstes Kapitel.

Der offizielle Einzugsschmaus.

Viele der folgenden Tage verliefen in der gleichen Weise, nur mit der Ausnahme, daß allerlei Besuche gemacht und angenommen wurden, daß Mrs. Skewton in ihrem Zimmer kleine Morgenempfänge hielt, bei denen sich Major Bagstock sehr fleißig einstellte, und daß Florence dem Blicke ihres Vaters nicht wieder begegnete, obschon sie ihn jeden Tag sah. Florence hatte auch nicht viel mündlichen Verkehr mit ihrer neuen Mama, die – wie ihr nicht entgehen konnte – sich gegen jeden im Hause stolz und herrisch benahm, nur nicht gegen unsere Freundin, da Edith, sooft sie ausging oder von Besuchen zurückkehrte, sie entweder rufen ließ oder selbst aufsuchte. Auch versäumte die neue Mutter nicht, jede Gelegenheit zu benützen, um in Florences Gesellschaft zu sein, wie sie denn auch bis in die späte Nacht hinein gern in ihrem Zimmer verweilte, obschon sie oft stundenlang schweigend und gedankenvoll nebeneinander saßen.

Florence, die sich so viel von dieser Heirat versprochen hatte, konnte nicht umhin, da« prunkvolle Haus zuweilen mit dem düsteren, traurigen Platz zu vergleichen, aus dem es sich erhoben hatte. Sie fragte sich verwundert, wann es denn irgend endlich einmal anfangen werde, eine Heimat zu sein. Denn es war stets für sie ein Gegenstand geheimer Besorgnis, daß es jetzt, obschon alles regelmäßig und üppig herging, nicht so genannt werden könne. Die so kräftig abgegebene Versicherung ihrer neuen Mama, daß niemand auf Erden unfähiger sei, sie zu lehren, wie sie das Herz ihres Vaters gewinnen solle, bereitete ihr, sowohl bei Tag wie bei Nacht, manche Stunde kummervollen Nachdenkens, und ihre Tränen strömten ob der vernichteten Hoffnung. Und sobald Florence zu erwägen begann – zu erwägen sich vornahm, würde wohl der passendere Ausdruck sein – daß niemand so gut wissen könne als sie, wie hoffnungslos es sei, die Kälte des Vaters zu mildern oder umzuwandeln, – so mußte sie wohl auch zu dem Schlüsse kommen, Edith habe ihr nur aus Mitleid untersagt, über diesen Gegenstand mit ihr zu sprechen. Wie in allem ihr Tun und Denken frei von aller Selbstsucht war, zog sie es vor, lieber den Schmerz dieser neuen Wunde zu ertragen, als ihrem Vater auch nur im mindesten diesen Kummer zu offenbaren, und sie bewahrte ihm ihre ganze Zärtlichkeit selbst in ihrem rastlosen Grübeln. Was seine Heimat betraf, so hoffte sie, es werde damit besser werden, wenn er sich einmal an die Neuheit gewöhnt habe; für sich selbst aber dachte sie nicht viel darüber nach und klagte noch weniger.

Wenn es auch in der neuen Familie nicht sehr heimisch zuging, so beschloß doch Mrs. Dombey energisch, daß es wenigstens nach außen einen andern Anschein gewinne. Zur Feier der kürzlich begangenen Vermählung und zur Erweiterung des gesellschaftlichen Kreises wurde eine Reihe von Festmahlen angeordnet, die der Übereinkunft gemäß damit beginnen sollten, daß Mrs. Dombey an einem gewissen Abend zu Hause blieb, und Mr. und Mrs. Dombey für solchen Tag sich die Ehre vieler, sehr wenig zusammenstimmender Personen zu einem Diner erbaten.

Demgemäß fertigte Mr. Dombey eine Liste von allerlei Größen des östlichen Stadtteils an, die um seinetwillen zu dem Feste eingeladen wurden. Dagegen fügte entsprechend Mrs. Skewton im Namen ihres lieben Kindes, das sich in seinem Stolz um dergleichen Dinge nicht bekümmerte, eine Liste für den Westen bei. Auf dieser stand nun auch Vetter Feenix, der zum großen Nachteil für sein persönliches Besitztum noch immer nicht nach Baden-Baden zurückgekehrt war. Daneben viele Motten von verschiedenem Rang und Alter, die vordem um das Licht ihrer schönen Tochter oder um ihr eigenes hergeflattert waren, ohne dabei für ihre Flügel einen bedeutenden Schaden zu nehmen. Auf Ediths Befehl, der Folge eines augenblicklichen Zweifelns und Zauderns von seiten Mrs. Skewton, mußte auch Florence unter die Teilnehmer eingereiht werden, und das arme Mädchen leistete mit stummer Verwunderung Folge, da ihr instinktartiges Gefühl sie schnell über das belehrte, was ihren Vater auch nur im mindesten unangenehm berühren konnte.

Die Feierlichkeit nahm damit ihren Anfang, daß Mr. Dombey in einer ungemein hohen und steifen Halsbinde bis zu der für das Diner anberaumten Stunde in dem Besuchszimmer unablässig hin und her ging. Pünktlich wie die Uhr erschien zuerst ein Direktor der ostindischen Kompanie von unermeßlichem Reichtum in einer fast brettartigen Nankingweste und wurde von Mr. Dombey empfangen. Zunächst ließ Mr. Dombey ebenso pünktlich Mrs. Dombey seine Empfehlungen ausrichten und sie ersuchen, zum Empfang der Gäste zu erscheinen. Da jetzt der Direktor nicht wußte, was er sagen sollte, und Mr. Dombey auch nicht in der Lage war, ein Gespräch zu unterhalten, so starrte dieser große Mann nach dem Feuer hin, bis in der Person von Mrs. Skewton Hilfe nahte. Als erfreulicher Anlauf für den Abend hielt der Direktor diese Dame irrtümlicherweise für Mrs. Dombey und begrüßte sie mit Begeisterung.

Der weiterhin Erscheinende war ein Bankdirektor, der im Rufe stand, alles aufkaufen zu können – sogar die ganze menschliche Natur, wenn er es sich je in den Kopf setzen sollte, seinen Einfluß nach dieser Richtung des Geldmarktes auszudehnen. Zwar tat er fast großsprecherisch bescheiden von seinem »kleinen Häuslein« zu Kingston über der Themse in einer Weise, als sei es kaum imstande, Mr. Dombey ein Bett und ein Hammelrippchen zu bieten, wenn dieser einmal auf Besuch hinkäme. Für einen Mann von seiner ruhigen Lebensweise, sagte er, passe es zwar nicht, Damen einzuladen. Falls aber Mrs. Skewton und ihre Tochter, Mrs. Dombey, je in die Gegend kämen und ihm die Ehre erweisen wollten, das bißchen Gesträuch, das sie daselbst finden würden, ein armes, kleines Blumenbeet und dergleichen, einen dürftigen Anflug von Fichtengehölz und zwei oder drei ähnliche anspruchslose Versuche zu beaugenscheinigen, so würde er dieses als große Auszeichnung betrachten. Im Einklang mit seinem Charakter war dieser Herr sehr einfach gekleidet; denn er trug nur eine dünne Halsbinde, große Schuhe, einen viel zu weiten Rock und ein Paar knappe Beinkleider. Auch erklärte er, als Mrs. Skewton auf die Oper anspielte, daß er sie nur sehr selten besuche, weil er es nicht erschwingen könne. Derartige Äußerungen schienen ihm große Freude zu machen; denn während er mit den Händen in der Tasche dastand, strahlte sein Gesicht dem Hörerkreis zu, und in dem Blinzeln seiner Augen gab sich ungemeine Selbstzufriedenheit kund.

Nun erschien Mrs. Dombey, schön, stolz, und dabei den bereits Anwesenden einen Blick trotziger Verachtung zuwerfend, als sei der bräutliche Kranz auf ihrem Haupt eine Krone von Lanzenspitzen, ihr aufgesetzt, um ihr ein Zugeständnis abzuringen, dem sie nicht nachzugeben beschlossen hatte, und wenn es ihr das Leben kostete. Sie führte Florence an ihrer Hand. Als sie miteinander eintraten, verdunkelte der Schatten aus der Nacht nach der Rückkehr wieder Mr. Dombeys Gesicht, obschon unbemerkt. Florence wagte es nämlich nicht, ihre Augen zu den seinen zu erheben, und Edith zeigte sich zu gleichgültig, um auch nur im mindesten auf ihren Gatten zu achten.

Die Gäste stellten sich jetzt rasch nacheinander in großer Anzahl ein. Noch mehr Direktoren, Präsidenten öffentlicher Kompanien, ältere Damen, die ganze Lasten von Putz auf ihren Köpfen trugen, Vetter Feenix, Major Bagstock und unterschiedliche Freundinnen von Mrs. Skewton mit demselben jugendlichen Anstrich und sehr kostbaren Kolliers um ihren welken Hals. Unter diesen befand sich eine junge Dame von Fünfundsechzig, die, was Rücken und Schultern betraf, merkwürdig leicht gekleidet war. Sie sprach stets mit einem gewinnenden Lispeln, konnte ihre Augenlider nicht ohne große Mühe offen erhalten und zeigte in ihrem ganzen Wesen jenen unbeschreiblichen Zauber, der so häufig in dem Schwinden der Jugend liegt. Da der größere Teil von Mr. Dombeys Liste sehr schweigsam und der größere Teil von Mrs. Dombeys Liste sehr zum Reden geneigt war, so konnte natürlich keine sonderliche Sympathie zwischen den beiden Partien herrschen. Deshalb schloß Mrs. Dombeys Liste, wie infolge eines gemeinsamen heimlichen Einverständnisses, einen Bund gegen Mr. Dombeys Liste, die auf den einsamen Wanderungen durch die Zimmer oder in ihren Zufluchtswinkeln von der hereinkommenden Gesellschaft verstrickt, hinter Sofas verbarrikadiert, durch rasch von außen geöffnete Türen mit derben Kopfnüssen heimgesucht und jeder Art von Ungemach ausgesetzt wurde.

Das Aufgebot zum Diner erfolgte. Mr. Dombey reichte einer alten Dame, die wie ein mit Banknoten bestecktes, rotsamtenes Nadelkissen aussah und um ihres Reichtums und ihrer unverträglichen Miene willen wohl die alte Lady von Threadneedle-Street (die englische Bank) hätte vorstellen können, den Arm. Vetter Feenix gesellte sich zu Mrs. Dombey. Major Bagstock geleitete Mrs. Skewton. Das junge Ding mit den nackten Schultern wurde als Ordensschmuck dem Direktor der ostindischen Kompanie verliehen, und die übrigen Damen mußten vor den im Besuchzimmer zurückgebliebenen Herren Parade machen, bis je eine verlorene Hoffnung sich erbot, sie nach dem Speisezimmer hinunterzuführen, wo diese Wackeren mit ihren schönen Gefangenen die Tür versperrten, so daß sich sieben weniger kühne Männer in die hartherzige Halle hinausgeschlossen sahen. Nachdem alle übrigen Gäste noch eingetreten waren und Platz gefunden hatten, tauchte einer von ihnen lächerlich verwirrt auf und mußte von dem Oberkellner zweimal um die Tafel herumgeführt werden, ehe sich sein Stuhl auffinden ließ. Zuletzt entdeckte man diesen links von Mrs. Dombey, und der linkische Mann fühlte sich durch besagte Einführung dermaßen eingeschüchtert, daß er die ganze Zeit über seinen Kopf nicht wieder erhob.

Der geräumige Speisesaal mit der um die glänzende Tafel herumsitzenden Gesellschaft, die sich emsig mit den blanken Löffeln, Messern, Gabeln und Tellern beschäftigte, hätte für eine groß gewordene Schaustellung von Tom-Tittler-Reliefs angesehen werden können, wo Kinder auf Gold und Silber sich gütlich tun. Mr. Dombey als Tittler nahm sich in dieser Rolle bewunderungswürdig aus, und der lange Tafelaufsatz zwischen ihm und Mrs. Dombey, auf dem plastisch dargestellte herzlose Liebesgötter ihnen geruchlose Blumen darboten, ward hier zu einem recht passenden Symbol.

Vetter Feenix zeigte sich in voller Kraft und erstaunlich jugendlich. Trotzdem wurde er in seiner guten Stimmung bisweilen gedankenlos: denn sein Gedächtnis war hin und wieder so unstet, wie seine Beine, und bei einer dieser Gelegenheiten flößte er der Gesellschaft einen wahren Schauder ein. Das geschah folgendermaßen. Die junge Lady mit dem entblößten Rücken, die mit Vetter Feenix zärtliche Gefühle unterhielt, hatte den Direktor der ostindischen Kompanie dazu verleitet, sie nach dem Stuhl neben ihm zu führen. Zum Dank für diesen Dienst gab sie augenblicklich ihren Geleitsmann auf, so daß dieser, der nun auf der andern Seite von einem düsteren, schwarzen Samthut über einem knöchernen, schweigsamen Frauenzimmer mit einem Fächer beschattet wurde, trostlos sich in sich selbst zurückzog. Vetter Feenix und die junge Dame waren sehr lebhaft und launig; dabei lachte letztere über etwas, was ihr Vetter Feenix erzählt hatte, so sehr, daß Major Bagstock im Auftrag der Mrs. Skewton (diese saß etwas weiter unten dem Paare gegenüber) sich die Frage erlaubte, ob der erheiternde Gegenstand nicht Gemeingut werden könne.

»Ei, bei meinem Leben«, sagte Vetter Feenix, »es ist nichts daran – nicht der Mühe wert, es zu wiederholen – in Wahrheit nur eine Anekdote von Jack Adams. Ohne Zweifel erinnert sich mein Freund Dombey« – denn die allgemeine Aufmerksamkeit war jetzt Vetter Feenix zugewendet – »des Jack Adams, des Jack Adams, nicht des Joe; denn dieser war sein Bruder. Jack – der kleine Jack – Mann mit schielendem Auge und einem leichten Hindernis in seiner Sprache – Mann, der für den Flecken eines andern im Parlament saß. Vielleicht hat mein Freund Dombey den Mann gekannt?«

Mr. Dombey hätte wohl ebensogut sich der Bekanntschaft des Guy Fawkes1 rühmen können und antwortete daher mit Nein. Aber einer von den anwesenden Kavalieren konnte sich rühmen, er habe ihn gekannt, und dazu bemerken: »Er trug immer hessische Stiefel!«

»Ganz richtig«, entgegnete Vetter Feenix und sah sich den Kavalier ermunternd genauer an. »Dies war Jack. Joe trug –«

»Stulpen!« rief der Kavalier, der mit jedem Augenblick mehr in der öffentlichen Achtung stieg.

»Natürlich«, versetzte Vetter Feenix. »Ihr wart mit ihnen bekannt?«

»Jawohl; mit beiden«, sagte der Kavalier, dem jetzt Mr. Dombey zuprostete.

»Verdammt guter Kerl, der Jack?« fuhr Vetter Feenix fort, indem er sich abermals vorbeugte und lächelte.

»Ausgezeichnet«, entgegnete der Kavalier. »Einer der besten Burschen, die ich je kennenlernte.«

»Ohne Zweifel habt Ihr die Geschichte gehört?« fragte Vetter Feenix.

»Ich werde sie erfahren, wenn Eure Herrlichkeit zur Mitteilung geneigt ist«, erwiderte der Kavalier, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und lächelte nach der Decke hinauf, als wisse er sie bereits auswendig und freue sich schon von vornherein darauf.

»In Wahrheit. Es ist eigentlich nichts an der Sache«, sagte Vetter Feenix, lächelnd und mit lebhaftem Kopfschütteln sich an die Tischgesellschaft wendend, »und es bedarf daher keines Vorworts. Aber es ist bezeichnend für Jacks artige Einfälle. Die Sache verhält sich so, daß Jack zu einer Hochzeit eingeladen wurde, die, glaube ich – in Barkshire stattfinden sollte?«

»Shropshire«, warf der Kavalier ein.

»Wirklich? – gut! In der Tat, es könnte auch in was immer für einem Shire geschehen sein«, fuhr Vetter Feenix fort. »Mein Freund also, der zu dieser Hochzeit in jenem Shire eingeladen ist, geht – geradeso wie jeder von uns, der mit einer Einladung zu der Hochzeit meiner lieblichen und begabten Verwandten mit meinem Freund Dombey beehrt wurde, nicht zweimal sich hätte nötigen lassen. Er war verdammt froh, an einer so interessanten Angelegenheit teilzunehmen, und geht – Jack geht. Diese Hochzeit war in der Tat die Verbindung eines ungemein schönen Mädchens mit einem Herrn, um den sie sich keinen Strohhalm kümmerte und den sie nur wegen seines unermeßlichen Vermögens genommen hatte. Als Jack nach den Trauungsfeierlichkeiten wieder in London anlangte, begegnete ihm in der Vorhalle des Unterhauses ein Bekannter und sagte zu ihm: ›Jack, das ist in der Tat eine schlimme Geschichte, ein schlimmes Geschäft‹. ›Ein schlimmes Geschäft?‹ versetzte Jack. ›Durchaus nicht. Mir erscheint es vollkommen ehrlich und einwandfrei. Sie ist regelmäßig gekauft, und Ihr könnt darauf schwören, daß er ebenso regelmäßig verkauft ist!‹«

Vetter Feenix freute sich noch über diesen Glanzpunkt in seiner Geschichte, als ihm mit einemmal der Schauder, der wie ein elektrischer Funke am Tisch umhersprang, auffiel. Er hielt inne. Auf keinem Gesicht lockte dieser einzige allgemeine Unterhaltungsgegenstand, der soeben zur Sprache kam, ein Lächeln hervor. Es folgte ein tiefes Schweigen, und der vernichtete Kavalier, der von der bevorstehenden Geschichte so wenig eine Ahnung gehabt hatte wie ein neugeborenes Kind, mußte den Jammer erfahren, daß ein jedes Auge ihn als den Urheber dieser Unbesonnenheit anzusehen schien.

Mr. Dombeys Gesicht war nicht wandlungsfähig und beharrte in seiner gußeisernen Stattlichkeit. Die Erzählung schien auf ihn durchaus keinen Eindruck zu machen und ihn zu nichts Weiterem anzuregen, als daß er mitten in dem Schweigen feierlich sagte: »Sehr gut.«

Edith entsandte einen hastigen Blick nach Florence hin, bewahrte aber in ihrem Äußeren eine ruhige, gleichgültige Miene.

Durch die verschiedenen Stadien von köstlichen Speisen und Weinen, ewigem Gold und Silber, Leckereien aus Erde, Feuer, Luft und Wasser, aufgehäuften Früchten und jenem bei Mr. Dombeys Banketten so unnötigen Artikel, dem Eis, nahm das Diner langsam seinen Fortgang und wurde namentlich während seiner späteren Abschnitte durch die volltönige Musik von unablässigen Türschlägen begleitet – die Ankündigung von weiteren Gästen, deren Anteil an dem Mahl sich auf den Geruch davon beschränkte. Als Mrs. Dombey aufstand, war es in der Tat ein merkwürdiges Schauspiel, mit anzusehen, wie ihr Herr mit steifem Hals und aufrechtem Kopf für den Abzug der Damen die Tür offenhielt, während sie, dessen Tochter an ihrem Arme, an ihm vorbeirauschte.

Wie denkmalmäßig nahm sich nicht Mr. Dombey hinter den Flaschen aus! Der Direktor der ostindischen Kompanie saß wie in einer Einöde verloren an dem jetzt fast unbesetzten Tisch. Der Major war ganz Militär und erzählte den übrigen Kavalieren (der ehrgeizige war nämlich ganz ausgetilgt) Geschichten von dem Herzog von York. Der Bankdirektor, der sich gar gering ausnahm, entwarf für eine Gruppe von Bewunderern mit Dessertmessern einen Riß von seinem dürftigen Fichtenanflug, und Vetter Feenix, in Gedanken vertieft, glättete seine langen Manschetten und rückte verstohlen seine Perücke zurecht. Welchen Anblick übrigens alle diese Gentlemen bieten mochten – er war nur von kurzer Dauer, da er bald durch den Kaffee unterbrochen wurde, nach dem sie insgesamt das Speisezimmer verließen.

Das Gewühl in den Staatsgemächern oben vermehrte sich mit jeder Minute. Aber noch immer schien sich Mr. Dombeys Gästeliste unmöglich mit der von Mrs. Dombey harmonisch bilden zu können, so daß es bei keiner der anwesenden Personen zweifelhaft blieb, zu welcher von beiden sie gehörte. Die einzige Ausnahme von dieser Regel machte vielleicht Mr. Carker, der in der Gesellschaft umherlächelte. Er beobachtete in dem Kreise, der sich um Mrs. Dombey gesammelt hatte, diese selbst, ihre Umgebung, seinen Chef, Kleopatra und den Major, Florence und alle im Saal aufs genaueste. Augenscheinlich überwand er die gesellschaftliche Spaltung mit großer Leichtigkeit, und es war ihm nicht anzumerken, daß er es ausschließlich mit der einen oder der andern hielt.

Florence fürchtete sich vor ihm, und seine Anwesenheit lastete wie ein Alp auf ihr. Sie konnte sich dieses Gefühls nicht erwehren; denn ihre Augen wurden durch die Abneigung und das Mißtrauen, die zu überwinden sie außerstande war, stets nach ihm hingezogen. Gleichwohl waren ihre Gedanken mit andern Dingen beschäftigt. Sie saß nämlich, obschon nicht unbewundert und unaufgesucht, beiseite und fühlte in der Zartheit ihrer stillen Seele wohl, wie wenig Anteil ihr Vater an allem nahm, was vorging. Mit Schmerz bemerkte sie, wie unbehaglich ihm dieses Treiben zu sein schien und wie wenig er, während er sich in der Nähe der Tür aufhielt, wegen jener Gäste bewundert wurde, die er dadurch besonders auszuzeichnen wünschte, daß er sie seiner Gattin vorstellte. Diese begrüßte dieselben mit stolzer Kälte, ohne dabei eine Spur von Teilnahme oder Liebenswürdigkeit zu zeigen. Nachdem die kahle Zeremonie des Empfangs vorüber war, blieben ihre Lippen verschlossen und fanden kein weiteres Wort des Willkommens für seine Freunde oder des Eingehens auf seine Wünsche. Nicht weniger verwirrend und peinlich wurde für Florence die Beobachtung, daß die Frau, die sich so benahm, sie stets liebevoll und mit der größten Rücksicht behandelte. Es kam ihr fast vor, als danke sie ihr schlecht, wenn sie für diese Vorgänge überhaupt nur Augen hatte.

Wie glücklich wäre Florence gewesen, wenn sie es hätte wagen dürfen, ihrem Vater auch nur durch Blicke Gesellschaft zu leisten. Ein noch größeres Glück aber war es für sie, daß sie von dem Hauptgrund seiner Unruhe keine Ahnung hatte. Gleichwohl scheute sie sich, merken zu lassen, daß sie seine unvorteilhafte Stellung durchschaute. Sie wollte ihm nicht dadurch irgendein Ärgernis verursachen. Im Kampfe zwischen ihren Gefühlen für ihn und ihrer dankbaren Zuneigung zu Edith wagte sie es kaum, zu beiden die Augen zu erheben. In ihrer Bekümmernis drängte sich ihr unter dem Gewühl von andern Gedanken auch der auf, es dürfte wohl besser für sie gewesen sein, wenn dieser Lärm von Zungen und Fußtritten nie hieher gekommen wäre – wenn statt des neuen Prunkes noch die alte Öde herrschte – wenn das vernachlässigte Kind in Edith keine Freundin gefunden hätte, sondern noch immer unbemitleidet und vergessen in der Einsamkeit fortlebte.

Mrs. Chick hatte auch einigermaßen derartige Gedanken, obschon sie nicht so ruhig in ihrem Herzen verschlossen blieben. Diese gute Frau war schon dadurch in die höchste Wut versetzt worden, daß sie keine Einladung zu dem Diner unmittelbar nach der Ankunft des Paars erhalten hatte. Nachdem dieser Schlag teilweise verschmerzt war, bot sie alle Mittel auf und scheute keine Kosten, um vor Mrs. Dombey sich aufzuspielen, so daß dieser Dame die Augen vergehen und Mrs. Skewton sich zu Tod ärgern sollte.

»Aber es ist so weit gekommen«, sagte Mrs. Chick zu ihrem Gatten, »daß ich nicht mehr gelte, als Florence. Wer nimmt nur die mindeste Rücksicht auf mich? Niemand!«

»Niemand, meine Liebe«, pflichtete Mr. Chick bei, der neben ihr an der Wand saß und sich auch jetzt nur durch leises Pfeifen trösten konnte.

»Sieht es nicht aus, als ob ich hier ganz und gar überflüssig sei?« rief Mrs. Chick mit blinzelnden Augen.

»Jawohl, meine Liebe – das glaube ich auch«, sagte Mr. Chick.

»Paul ist verrückt!« rief Mrs. Chick.

Mr. Chick pfiff.

»Wenn du nicht ein ganzes Ungeheuer bist – und es kommt mir oft vor, als sei dies der Fall«, fuhr Mrs. Chick unverhohlen fort, »so sitz nicht hier herum, um ein Liedchen zu summen. Wie kann jemand, der nur im entferntesten das Gefühl eines Mannes in sich trägt, mit ansehen, wie Pauls Schwiegermutter sich kleidet und wie sie es mit dem Major Bagstock treibt, für den wir unter anderen kostbaren Dingen auch deiner Lukretia Tox verpflichtet sind.«

»Meiner Lukretia Tox meine Liebe?« versetzte Mr. Chick erstaunt.

»Ja«, entgegnete Mrs. Chick mit großer Strenge, »deiner Lukretia Tox. In der Tat, wie jemand jene Schwiegermutter Pauls, das hochmütige Weib Pauls, die unanständigen, alten Vogelscheuchen mit ihren nackten Rücken und Schultern, kurz all dieses Treiben mit ansehen und pfeifen kann –« Mrs. Chick legte auf die letzteren Worte einen so verächtlichen Nachdruck, daß Mr. Chick darüber zusammenfuhr – »das ist, dem Himmel sei Dank, ein Geheimnis für mich.«

Mr. Chick verzog seinen Mund in einer Weise, die ein Summen oder Pfeifen unmöglich machte, und schaute betrachtungsvoll vor sich hin.

»Hoffentlich weiß ich aber, was sich für mich gehört«, fuhr Mrs. Chick in steigender Entrüstung fort, »obschon es Paul vergessen hat. Ich, ein Glied dieser Familie, bin nicht hergekommen, um ohne alle Beachtung dazusitzen. Ich bin nicht der Staub unter Mrs. Dombeys Füßen, nein – noch nicht ganz«, sagte Mrs. Chick, als sehe sie voraus, daß es etwa übermorgen doch so weit kommen könnte – »und ich werde gehen. Was ich auch darüber denken mag, so will ich doch kein Wort darüber verlieren, daß diese ganze Geschichte bloß eingeleitet wurde, um mich herabzuwürdigen und zu kränken. Ich werde einfach gehen. Man wird mich nicht vermissen.«

Mrs. Chick richtete sich bei diesen Worten kerzengerade auf und nahm den Arm ihres Gatten, der sie aus dem Zimmer führte, wo sie eine halbe Stunde im Schatten gesessen hatte. Wir müssen bemerken, daß sie bei ihrer Prophezeiung viel Scharfsinn bekundete, denn sie wurde in der Tat durchaus nicht vermißt.

Sie war übrigens nicht der einzige entrüstete Gast. Mr. Dombeys Liste, die noch immer in Nöten stand, nahm es in Masse sehr übel, daß Mrs. Dombeys Liste durch Lorgnetten nach ihr hinsah und laut ihre Neugierde äußerte, was das doch alles für Leute seien. Mrs. Dombeys Liste dagegen beklagte sich über Langeweile, und das junge Ding mit den Schultern, das jetzt die Aufmerksamkeiten jenes lebhaften Jünglings, des Vetter Feenix, entbehren mußte, da dieser nach der Tafel sich entfernt hatte, teilte dreißig oder vierzig Bekannten im Vertrauen mit, die Sache sei ihr bis in den Tod verleidet. Sämtliche alte Damen mit überladenen Frisuren hatten mehr oder weniger Ursache, sich über Mrs. Dombey zu beschweren, und die Direktoren und Präsidenten vereinigten sich in dem Gedanken, wenn Dombey einmal habe heiraten müssen, so wäre es besser gewesen, seine Wahl hätte eine Person getroffen, die ihm dem Alter nach näher stand und nicht ganz so schön, dabei aber manierlicher war. Die allgemeine Ansicht dieser Klasse von Gentlemen lief darauf hinaus, daß es von Dombey eine Schwäche gewesen sei, und daß er es wohl noch bereuen werde. Mit Ausnahme der wenigen Kavaliere blieb oder entfernte sich kaum jemand, ohne über Vernachlässigung oder Kränkung durch Mr. oder Mrs. Dombey zu klagen. Auch hatte das stumme Frauenzimmer in dem schwarzen Samthut nur deshalb ihre Sprache verloren, weil der Lady in dem roten Samthut vor ihr der Arm geboten worden war. Sogar die Stimmung der Kavaliere erlitt, entweder weil zuviel Limonade in ihr zirkulierte, oder infolge der allgemeinen Ansteckung eine böse Wandlung; denn sie machten gegeneinander sarkastische Späße oder schalten in Flüstertönen auf den Treppen und Nebenplätzen. Das Mißvergnügen und die Unbehaglichkeit verbreitete sich von der Gesellschaft oben sogar bis zu der Dienerschaft in der Halle und von dieser auf die Fackelträger in der Straße draußen, die die Gäste mit einem Leichenzug verglichen, in dem keiner der Leidtragenden mit einem Legat bedacht worden wäre.

Endlich hatten sich sämtliche Gäste entfernt – auch die Fackelträger, und die Straße, die so lange mit Equipagen überfüllt gewesen, war frei. Die ersterbenden Lichter ließen in den Zimmern niemanden mehr erblicken, als Mr. Dombey, der mit Mr. Carker sich abseits besprach, und Mrs. Dombey mit ihrer Mutter. Erstere saß auf einer Ottomane, und letztere erwartete in der Kleopatra-Haltung die Ankunft ihres Mädchens. Nachdem Mr. Dombey sich mit Carker zu Ende besprochen hatte, trat dieser mit einem Katzenrücken heran, um sich zu verabschieden.

»Ich hoffe«, sagte er, »daß die Anstrengungen dieses köstlichen Abends Mrs. Dombey morgen keine Unbequemlichkeit bereiten werden.«

»Mrs. Dombey hat sich der Anstrengung reichlich enthoben«, bemerkte Mr. Dombey, der jetzt herantrat, »als daß Ihr deshalb besorgt sein dürftet. Es tut mir leid. Euch sagen zu müssen, Mrs. Dombey, daß es mir lieb gewesen wäre, wenn Ihr bei dieser Gelegenheit etwas mehr getan hättet.«

Sie warf ihm einen stolzen Blick zu, als halte sie es nicht der Mühe wert, bei diesem Gegenstand überhaupt zu verweilen, und wandte dann ihre Augen wieder ab, ohne zu sprechen.

»Ich bedaure, Madame«, fuhr Mr. Dombey fort, »daß Ihr es nicht für Eure Pflicht halten mochtet –«

Sie sah wieder nach ihm hin.

»Für Eure Pflicht, Madame«, fuhr Mr. Dombey fort, »meine Freunde mit etwas mehr Achtung zu empfangen. Einige von denen, die Ihr heute abend in so auffallender Weise zu vernachlässigen beliebtet, Mrs. Dombey, erweisen Euch, muß ich Euch sagen, mit jedem Besuche eine große Ehre.«

»Wißt Ihr, daß noch jemand hier ist?« versetzte sie, ihn jetzt mit Festigkeit ins Auge fassend.

»Nein, Carker – ich bitte, laßt dies. Ich bestehe darauf, daß Ihr bleibt«, rief Mr. Dombey, diesen Gentleman zurückhaltend, der sich daraufhin mit lautlosen Schritten entfernen wollte. »Ihr wißt, Madame, daß Mr. Carker mein Vertrauen besitzt, und er kennt die Sache, von der ich spreche, so gut wie ich selbst. Ich erlaube mir daher, Euch zu belehren, Mrs. Dombey, daß ich in den Besuchen dieser reichen und bedeutenden Personen eine Auszeichnung für mich sehe.«

Mr. Dombey warf sich dabei in die Brust, als habe er besagten Personen jetzt die höchst mögliche Bedeutsamkeit gegeben.

»Ich muß wiederholt fragen«, entgegnete sie, wieder den festen Blick stolzer Verachtung auf ihn heftend, »ob Ihr wißt, daß jemand hier ist, Sir.«

»Ich muß bitten«, sagte Mr. Carker vortretend, »ich muß bitten, ich muß fordern, daß ich entlassen werde. So gering und belanglos auch diese Meinungsverschiedenheit ist –«

Mrs. Skewton, die inzwischen kein Auge von dem Gesicht ihrer Tochter verwandt hatte, ergriff jetzt das Wort:

»Meine süßeste Edith«, sagte sie, »und mein teuerster Dombey – unser vortrefflicher Freund Mr. Carker, denn so muß ich ihn ohne Zweifel nennen –«

»Allzuviel Ehre«, murmelte Mr. Carker.

»– hat sich derselben Worte bedient, die mir auf dem Herzen lagen, und ich brannte schon seit einer Ewigkeit vor Begier, sie anzubringen. Gering und belanglos! Meine süßeste Edith und mein teuerster Dombey, wissen wir nicht, daß jede Meinungsverschiedenheit zwischen euch beiden – nein, Flowers; jetzt nicht.«

Flowers war die Kammerjungfer, die, als sie bemerkte, daß Gentlemen anwesend waren, sich eiligst wieder zurückzog.

»Daß jede Meinungsverschiedenheit zwischen euch beiden«, nahm Mrs. Skewton wieder auf, »mit dem Herzen, das ihr gemeinschaftlich besitzt, und bei dem bezaubernden Einklang der Gefühle, der zwischen euch stattfindet, notwendig gering und belanglos sein muß? Mit welchen Worten könnte diese Tatsache besser bezeichnet werden? Mit keinen. Darum benutze ich mit Freuden diesen unbedeutenden Anlaß – diesen geringfügigen Anlaß, der bei eurer Natürlichkeit, eurem individuellen Charakter und dergleichen so wahrhaft geeignet ist, Tränen in ein Mutterauge zu bringen – um die Versicherung abzugeben, daß ich der Sache nicht die mindeste Wichtigkeit beilege, es sei denn als einer Entwicklung jener feineren Elemente der Seele. Ich will daher nicht nach Art der meisten Schwiegermütter – welch ein garstiger Ausdruck, mein lieber Dombey! – wie sie dem Vernehmen nach in dieser leider nur zu erkünstelten Welt bestehen, den Versuch machen, zu einer solchen Zeit je mich einzumengen. Auch kann ich im ganzen solch ein kleines Aufzucken der Fackel des, wie heißt er doch – nicht Cupido, sondern das andere liebenswürdige Wesen – nicht beklagen.«

In dem Blick der guten Mutter, den sie bei diesen Worten nach ihren beiden Kindern entsandte, lag eine Schärfe, die vielleicht auf einen unmittelbaren und wohlüberlegten Zweck hindeutete, der sich hinter den zusammenhanglosen Worten barg. Er bestand wohl in nichts anderem, als in der Vorsorge, schon im Anfang bei dem Klirren der gemeinsam drückenden Kette, das notwendig folgen mußte, sich beiseite zu machen und hinter dem Trugbilde ihres unschuldigen Glaubens an ihre wechselseitige Liebe und an ihr Zusammenpassen Schutz zu suchen.

»Ich habe Mrs. Dombey auf das aufmerksam gemacht«, sagte Mr. Dombey in seiner stattlichsten Weise, »was mir in ihrem Benehmen schon in so früher Zeit unseres Ehestandes mißfällt und was ich deshalb zu verbessern bitte. Carker«, mit einem Nicken der Entlassung, »ich wünsche Euch gute Nacht.«

Mr. Carker verbeugte sich gegen die gebieterische Gestalt der jungen Frau, deren funkelndes Auge auf ihren Gatten geheftet war, und machte dann beim Hinausgehen vor Kleopatras Ruhebett halt, um die gnädig ihm hingebotene Hand in tiefer, bewundernder Huldigung an seine Lippen zu führen.

Hätte Edith auf den Vorwurf eine Erwiderung gegeben, ihr Gesicht verändert, oder das Schweigen, in dem sie beharrte, auch nur durch ein Wort unterbrochen, so würde Mr. Dombey, nun sie allein waren – denn Kleopatra hatte sich eiligst aus dem Staube gemacht – wohl imstande gewesen sein, seine Ansicht gegen sie zu behaupten. Aber gegen den tiefen, unaussprechlichen, vernichtenden Hohn, mit dem sie, nachdem sie ihm einen Blick zugeworfen, die Augen senkte, als sei er ihr zu gleichgültig und unbedeutend, um sich von ihm aufbringen zu lassen – gegen den Verachtung ausdrückenden Stolz, mit dem sie vor ihm saß, und gegen die kalte, unbeugsame Entschlossenheit, mit der jeder ihrer Züge ihn in den Staub zu schleudern schien, hatte er kein Hilfsmittel. Er entfernte sich daher, während sie in ihrer ganzen hochmütigen Schönheit zurückblieb, ohne seiner weiter zu achten.

War er niedrig genug, eine Stunde später ihr auf der alten, wohlbekannten Treppe aufzulauern, wo er einmal Florence im Mondlicht den kleinen Paul hatte hinantragen sehen – oder befand er sich nur zufälligerweise im Dunkeln, als er aufblickend die Wahrnehmung machte, daß sie mit einem Licht aus Florences Schlafgemach kam und wieder das auffallend veränderte Antlitz zeigte, dem er so gar nichts anhaben konnte.

Freilich konnte es sich nie so verändern, wie sein eigenes. Selbst im höchsten Stolz und in der größten Leidenschaft zeigte Ediths Gesicht nichts von dem Schatten, der an dem Abend der Rückkehr in der dunkeln Ecke das seine umnachtet hatte. Etwas Ähnliches war seitdem oft wiedergekehrt, und als er jetzt aufblickte, war das nämliche Düster darauf zu schauen.

  1. Guy Fawkes (1570–1606), als Haupt der sogenannten Pulververschwörung hingerichtet.

Siebenunddreißigstes Kapitel.


Siebenunddreißigstes Kapitel.

Mehr als eine Warnung.

Florence, Edith und Mrs. Skewton waren am andern Tage beisammen, und der angespannte Wagen harrte an der Tür. Denn Kleopatra hatte jetzt wieder ihre Galeere, und Withers, nicht länger der Spindeldürre, stand in taubengrauer Jacke und militärischen Beinkleidern zur Zeit der Tafel hinter ihrem räderlosen Stuhl, ohne fortan die Dienste eines Sturmbocks verrichten zu müssen. In jenen Tagen des Flaums glänzte Withers‘ Haar von Pomade; auch trug er Glacéhandschuhe und duftete von weitem nach Kölnischem Wasser.

Sie waren in Kleopatras Zimmer versammelt. Die Schlange des alten Nil (wir wollen sie nicht aus Achtungswidrigkeit so nennen) ruhte auf ihrem Sofa, schlürfte um drei Uhr nachmittags ihre Morgenschokolade, und Flowers, die Zofe, legte ihr die jugendlichen Manschetten und Krausen an. Dann verrichtete Flowers an ihrer Gebieterin noch eine Art Privatkrönung vermittels eines pfirsichblütenfarbenen Samthuts, in dem die künstlichen Rosen ungemein vorteilhaft nickten, je nachdem das Zittern des Kopfs gleich einem Lüftchen damit spielte.

»Ich denke, ich bin heute morgen ein wenig angegriffen, Flowers«, sagte Mrs. Skewton. »In der Tat, meine Hand zittert.«

»Ihr wißt, Ma’am«, versetzte Flowers, »daß Ihr gestern abend das Leben der ganzen Gesellschaft ausmachtet, und nun müßt Ihr es eben büßen.«

Edith, die Florence nach dem Fenster gewinkt hatte und eben hinaussah, den Rücken der Toilette ihrer hochachtbaren Mutter zugekehrt, wich jetzt plötzlich zurück, als ob es geblitzt hätte.

»Mein Herzchen«, rief Kleopatra im Tone der Erschöpfung, »du fühlst dich nicht angegriffen. Sage mir nicht, meine liebe Edith, daß du bei deiner beneidenswerten Ruhe gleichfalls anfängst, eine Märtyrerin zu werden, wie deine Mutter mit ihrer unglücklichen Konstitution. Withers, jemand an der Tür!«

»Karte, Ma’am«, sagte Withers, sie Mrs. Dombey überbringend.

»Ich gehe aus«, versetzte sie, ohne danach hinzusehen.

»Meine Liebe«, sprach Mrs. Skewton gedehnt, »wie gar wunderlich von dir, absagen zu lassen, ohne auch nur nach dem Namen zu sehen! Bring die Karte mir, Withers. Himmel, meine Liebe – noch dazu Mr. Carker! Dieser ungemein verständige Mann!«

»Ich gehe aus«, wiederholte Edith in so gebieterischem Ton, daß Withers zur Tür ging, dem Diener, der draußen wartete, die Worte »Mrs. Dombey geht aus. Also fort mit Euch!« zurief und ihm vor der Nase die Klinke zuschnappen ließ.

Nach langer Abwesenheit kam jedoch der Diener wieder zurück und flüsterte Withers abermals etwas zu, der darauf, obschon nur ungerne, aufs neue sich vor Mrs. Dombey präsentierte.

»Mit Erlaubnis, Ma’am, Mr. Carker läßt seine achtungsvollen Empfehlungen melden und bittet, wenn es Euch möglich sei, nur um eine einzige Minute – Geschäfte halber, Ma’am.«

»Wahrhaftig, meine Liebe«, sagte Mrs. Skewton in ihrer mildesten Weise, da das Gesicht ihrer Tochter einen drohenden Ausdruck angenommen hatte, »wenn du mir ein Wort gestatten willst, so möchte ich dir raten –«

»So führ‘ ihn hierher«, unterbrach sie Edith.

Sobald Withers verschwunden war, um diesen Befehl auszuführen, fügte sie finster gegen ihre Mutter hinzu: »Da es auf Euren Rat geschieht, so soll er auch auf Euer Zimmer kommen.«

»Darf ich – soll ich fortgehen?« fragte Florence hastig.

Edith nickte; aber schon auf dem Weg zur Tür begegnete Florence dem eintretenden Besuch. Mit derselben widerlichen Mischung von Vertraulichkeit und Schonung, mit dem er sie früher angeredet hatte, wandte er sich jetzt in seiner sanftesten Art an sie – hoffte, daß sie sich wohl befinde– brauchte nicht zu fragen, da er schon in dem Aussehen die Antwort las – hatte gestern abend kaum die Ehre gehabt, sie zu kennen, da sie sich so sehr verändert – und hielt ihr die Tür offen, daß sie hinausgehen konnte. Indes vermochte alle Ehrerbietung und Höflichkeit seines Benehmens nicht ganz das geheime Bewußtsein der Gewalt zu verbergen, die er über sie besaß und die sich in ihrem schüchternen Zurückweichen vor ihm ausdrückte.

Dann beugte er sich einen Augenblick über Mrs. Skewtons herablassende Hand und machte endlich Edith seine Verbeugung. Letztere erwiderte seinen Gruß mit Kälte, ohne ihn eines Blickes zu würdigen oder ihm einen Sitz anzubieten, und erwartete stehend seine Anrede.

Bei all ihrem Stolz und der ganzen Verstockung ihres Geistes fühlte sie doch den lähmenden Eindruck der alten Überzeugung, daß dieser Mann von Anfang an sie und ihre Mutter in ihren schlimmsten Farben erkannt habe – daß jede Herabwürdigung, die sie erduldet, vor ihm so offen daliege, wie vor ihr selbst– daß er in ihrem Leben zu lesen verstand, wie in einem schlechten Buch, und daß er in den geringschätzigen Blicken und Tönen, die keiner anders aufdecken konnte, die Blätter vor ihr umschlug. Zwar trat sie ihm stolz entgegen, ihr gebieterisches Gesicht zwang ihn zur Demut, ihre Verachtung ausdrückende Lippe wies ihn zurück, ihre Brust wogte zornig über seine Aufdringlichkeit, und die dunkeln Wimpern ihrer Augen verschleierten düster das darunter weilende Licht, um ihm ja keinen Strahl davon zukommen zu lassen, während er mit der Miene eines Gekränkten, bittend, aber mit vollkommener Unterwerfung unter ihren Willen, vor ihr stand. Trotzdem aber fühlte sie in ihrer tiefsten Seele, wie ganz anders die Sache sich verhielt, als es den Anschein hatte. Eine innere Stimme sagte ihr, der Triumph und die Überlegenheit seien auf seiner Seite und er wisse das recht wohl.

»Ich habe mich unterfangen«, sagte Mr. Carker, »Euch um Gehör zu bitten, und es zugleich gewagt, den Gegenstand meines Besuches als Geschäftssache zu bezeichnen, weil –«

»Vielleicht seid Ihr von Mr. Dombey mit einem Verweise beauftragt«, unterbrach ihn Edith. »Ihr besitzt Mr. Dombeys Vertrauen in einem so ungewöhnlichen Grade, Sir, daß es mich kaum überraschen würde, wenn dies Euer Geschäft wäre.«

»Ich überbringe keinen Auftrag an eine Dame, die einen Glanz auf seinen Namen wirft«, sagte Mr. Carter. »Aber ich bitte diese Dame, einem unbedeutenden, von Mr. Dombey abhängigen Mann, der schon durch seine Stellung zur Demut angewiesen ist, Gerechtigkeit widerfahren zu lassen und zu bedenken, daß es gestern abend nicht in seine Macht gegeben war, der Beteiligung auszuweichen, die ihm bei einem sehr peinlichen Anlaß aufgedrungen wurde.«

»Meine teuerste Edith«, bemerkte Kleopatra in gedämpfter Stimme, indem sie ihr Augenglas senkte, »in der Tat ganz bezaubernd von Mr., wie heißt er doch. Und voll Herz!«

»Denn ich erlaube mir«, sagte Mr. Carter, sich mit einem Blick dankbarer Ehrerbietung auf Mrs. Skewton berufend, »ich erlaube mir, ihn einen peinlichen Anlaß zu nennen, obschon er es nur für mich war, da ich das Unglück hatte, bei ihm zugegen sein zu müssen. Eine solche kleine Irrung zwischen Personen, die sich gegenseitig mit uneigennütziger Hingebung lieben und in einer derartigen Sache gern jedes Opfer bringen würden, ist eigentlich für nichtig anzuschlagen, und ich stimme Mrs. Skewton vollkommen bei, die gestern abend mit so viel Wahrheit und Gefühl das alles auch für nichtig erklärte.«

Edith konnte nicht nach ihm hinsehen, sagte aber nach einer kurzen Pause:

»Und Euer Anliegen, Sir? –«

»Edith, mein Herz«, bemerkte Mrs. Skewton, »Mr. Carter steht diese ganze Zeit über! Mein lieber Mr. Carter, ich bitte, nehmt einen Sitz.«

Er gab der Mutter keine Antwort, sondern heftete seine Augen auf die stolze Tochter, als sei er entschlossen, nur ihrem Geheiß Folge zu geben. Wider Willen setzte sich Edith nieder und winkte ihm leicht mit der Hand, daß er gleichfalls Platz nehme. Sie tat das mit dem kalten Stolz anmaßender Überlegenheit. Aber wie sehr sie auch sogar gegen ein solches Zugeständnis angekämpft hatte, war es ihr doch entrungen worden. Genug für Mr. Carter. Er nahm Platz. »Habe ich Eure Erlaubnis, Madame«, sagte Carter, seine weißen Zähne gleich einem Lichte gegen Mrs. Skewton hinwendend – »eine Dame von Eurem trefflichen Verstand und Eurem tiefen Gefühl wird mir zuversichtlich Glauben schenken, daß ich gute Gründe dafür habe – das, was mir mitzuteilen obliegt, an Mrs. Dombey zu richten, damit sie sodann Euch darüber Auskunft gebe, die Ihr, außer Dombey, ihrem Herzen am nächsten steht?«

Mrs. Skewton wollte sich entfernen, aber Edith hielt sie zurück. Sie würde auch dem Sprecher Einhalt getan und ihm entrüstet die Weisung gegeben haben, er solle entweder offen oder gar nicht reden. Da er jedoch mit gedämpfter Stimme die Worte – »Miß Florence – die junge Lady, die eben das Zimmer verlassen hat« – hinwarf, unterbrach sie ihn nicht weiter, und sah jetzt sogar nach ihm hin. Aber als er sich, um ihr näher zu sein, mit der Miene des größten Zartgefühls und der Achtung, die Zähne überredend zu einem abbittenden Lächeln geordnet, vorwärts beugte, war es ihr, als hätte sie ihn mit Einem Streiche totschlagen mögen.

»Miß Florence«, begann er, »hat sich in einer unglücklichen Lage befunden. Es fällt mir schwer, das gegen Euch zu berühren, da Eure Zuneigung zu dem Vater natürlich jedes Wort auf die Wagschale legen wird, das sich auf ihn bezieht.« Stets bestimmt und weich in seiner Sprache – keine Zunge vermöchte die Ausdehnung dieser Bestimmtheit und Weichheit zu schildern, als er obige Worte oder andere ähnlichen Inhalts vorbrachte. »Als ein Mann übrigens, der in seiner untergeordneten Stellung Mr. Dombey anhängt und der fast sein ganzes Leben in Bewunderung von Mr. Dombeys Charakter verbrachte, darf ich wohl sagen, ohne Eure Zärtlichkeit als Gattin zu verletzen, daß Miß Florence unglücklicherweise vernachlässigt wurde – von ihrem Vater. Darf ich sagen, von ihrem Vater?«

»Ich weiß es«, versetzte Edith.

»Ihr wißt es?« entgegnete Mr. Carker, der tat, als fühle er sich ungemein erleichtert. »Dies wälzt mir eine Bergeslast von der Brust. Und hoffentlich ist Euch auch bekannt, worin diese Vernachlässigung ihren Ursprung nahm, in was für einer liebenswürdigen Phase von Dombeys Stolz – Charakter, wollte ich sagen –«

»Ihr könnt das übergehen, Sir«, erwiderte sie, »um desto früher mit dem zu Ende zu kommen, was Ihr mir mitzuteilen habt.«

»Ich fühle in der Tat, Madame«, versetzte Carter – »glaubt mir, ich fühle aus tiefster Seele, daß Mr. Dombey Euch gegenüber in nichts einer Rechtfertigung bedarf. Wofern Ihr übrigens mein Herz freundlich nach dem Euren beurteilen wollt, so werdet Ihr mir meine Teilnahme für ihn verzeihen, wenn sie auch vielleicht in ihrem Übermaß irre geht.«

Welch ein Dolchstoß für ihr stolzes Herz, Angesicht in Angesicht mit diesem Mann dasitzen zu müssen, der ihr den Meineid, den sie an dem Altare geschworen, wieder und wieder vorhielt, ihn ihr aufdrängend gleich dem Bodensatz in einer garstigen Tasse, den sie nicht zurückweisen konnte, wie sehr ihr auch davor ekelte. Beschämung, Leidenschaft und Gewissensbisse tobten in ihrem Innern, denn sie mußte sich gestehen, daß sie trotz der aufrechten und majestätischen Haltung, die sie ihm gegenüber bewahrte, im Geiste zu seinen Füßen saß.

»Miß Florence«, sagte Carter, »blieb der Sorge – wenn man anders hier von Sorge reden kann – der Dienstboten und bezahlten Personen überlassen, die in jeder Weise unter ihr standen, während ihr doch ein Führer und Kompaß für ihre Jugend nötig gewesen wäre. In Ermangelung dessen ist sie natürlich unbesonnen gewesen und hat einigermaßen ihre Stellung vergessen. Es begab sich eine törichte Geschichte mit einem gewissen Walter, einem gemeinen Jungen, der jetzt glücklicherweise tot ist. Außerdem unterhielt sie, wie ich mit Bedauern sagen muß, einen sehr unwünschenswerten Verkehr mit einigen Küstenschiff-Matrosen von nichts weniger als gutem Ruf und einem entlaufenen alten Bankerottmacher.«

»Ich habe von diesen Umständen gehört, Sir«, entgegnete Edith, einen Blick der Verachtung nach ihm hinblitzen lassend, »und weiß, daß Ihr sie verdreht. Möglich, daß Ihr selbst nicht gehörig unterrichtet seid. Ich hoffe das wenigstens.«

»Verzeiht mir«, sagte Mr. Carter. »Ich glaube, niemand kann besser davon unterrichtet sein als ich. Eure hohe, warme Seele, Madame, dieselbe Seele, die so edel, so gebieterisch ist in Verteidigung Eures geliebten und geehrten Gatten und denselben völlig nach Würden behandelt, verdient sicherlich alle Achtung, und ich beuge mich in Ehrerbietung davor. Doch was die Umstände betrifft, auf die ich Euch aufmerksam zu machen für meine Pflicht halte, so kann ich keinem Zweifel Raum geben, daß ich nicht in Erfüllung meiner Aufgabe als Mr. Dombeys vertrauter Freund – ich erdreiste mich, ihn so zu nennen – alles vollkommen erkundet habe. Ich bemühe mich, diesem Vertrauen Ehre zu machen, und sorge für alles, was in Beziehung dazu steht. Jedenfalls habe ich mich jetzt beeilt, von dieser treuen Sorge Euch einen Beweis zu bringen; und so habe ich in Person sowohl als durch zuverlässige Werkzeuge geraume Zeit den Tatsachen nachgeforscht, so daß ich mit zahlreichen und ins einzelne gehenden Belegen versehen bin.«

Sie erhob ihre Augen nicht höher als bis zu seinem Mund, sah aber die Mittel zum Unheilstiften prahlerisch in jedem Zahn, den er enthielt, sich zur Schau stellen.

»Verzeiht mir, Madame«, fuhr er fort, »wenn ich mir in meiner Verwirrung herausnehme, Euch um Euren Rat anzugehen und mir Eure Weisungen zu erbitten. Ich glaube, bemerkt zu haben, daß Ihr für Miß Florence große Teilnahme fühlt.«

Was gab es auch in ihr, das er nicht bemerkt hätte, und das ihm nicht bekannt gewesen wäre? Gedemütigt und zugleich bis zum Wahnsinn gehetzt bei dem Gedanken in jeder neuen, auch noch so unbedeutenden Ahnung davon, preßte sie ihre Zähne auf die bebende Lippe, um sie zur Ruhe zu bringen, und verbeugte als Erwiderung abgemessen den Kopf.

»Diese Teilnahme, Madame – ein so rührender Beweis davon, daß Euch alles teuer ist, was mit Mr. Dombey zusammenhängt – veranlaßt mich, zu zögern, ehe ich ihn mit den gedachten Umständen bekannt mache, von denen er bis jetzt noch nichts weiß. Wenn ich es gestehen darf, so erschüttert sie mich insoweit in meiner Dienstpflicht, daß ich sie unterdrücken würde, wenn Ihr mir auch nur im mindesten andeutet, daß Ihr dies wünschen könntet.«

Edith erhob rasch ihren Kopf, fuhr zurück und heftete ihren dunkeln Blick auf ihn. Er begegnete ihm mit seinem mildesten, ehrerbietigsten Lächeln und fuhr fort:

»Ihr sagt, meine Darstellung sei eine verkehrte. Ich fürchte leider das Gegenteil; doch laßt uns annehmen, daß Ihr recht hättet. Die Unruhe, die ich bisweilen in der Sache fühlte, hat ihren Grund darin, daß die bloß öftere Wiederholung eines solchen Verkehrs der Miß Florence, wie unschuldig und vertrauensvoll er auch gewesen sein mag, für Mr. Dombey, der vornweg gegen sie eingenommen ist, maßgebend sein und ihn – ich weiß, daß er schon öfters daran gedacht hat – bewegen würde, sie ganz aus dem Hause fortzuschaffen. Madame, ich kenne und verehre Mr. Dombey fast von Kindheit auf. Habt daher Nachsicht mit mir, wenn ich sage, daß, falls er einen Fehler hat, dieser in einem gewissen Starrsinn besteht, dem wir alle uns unterwerfen müssen. Ich will ihm damit durchaus keinen Vorwurf machen; denn er ist in seinem edlen Stolz und in dem Gefühl der ihm zuständigen Macht begründet; aber eben deshalb kann man ihm nicht so beikommen, wie andern Charakteren, und die erwähnte Eigenschaft steigert sich von Tag zu Tag, von Jahr zu Jahr.«

Ihr Blick haftete noch immer auf ihm; aber mochte sie ihn so fest ansehen, wie sie wollte, ihre stolze Nase erweiterte sich, ihr Atem wurde etwas tiefer, und ihre Lippe warf sich leicht auf, als er in seinem Dienstherrn das schilderte, wovor sie alle sich beugen mußten. Er sah es, und obschon sich der Ausdruck seines Gesichtes nicht änderte, so wußte sie doch sehr gut, daß er es sah.

»Selbst ein so geringfügiger Vorfall, wie der von gestern abend«, sagte er, »wenn es mir gestattet ist, noch einmal darauf zurückzukommen, kann dazu dienen, meine Meinung besser zu belegen, als ein wichtigerer. Dombey und Sohn nimmt keine Rücksicht auf Zeit oder Ort, sondern wirft alles vor sich nieder. Indes ist es mir lieb, daß es so kam, denn ich wurde dadurch ermutigt, mich um des erwähnten Gegenstandes willen Mrs. Dombey zu nahen, selbst auf die Gefahr hin, mir zur Zeit ihr Mißfallen zuzuziehen. Madame, als ich um eben jener Geschichte willen voll Unruhe und Besorgnisse war, wurde ich von Mr. Dombey nach Leamington beschieden. Ich sah Euch dort und erkannte sogleich, welches Verhältnis bald zwischen ihm und Euch stattfinden werde – zu seinem und Eurem dauernden Glück. Damals faßte ich den Entschluß, die Zeit Eures Einzuges hier im Hause abzuwarten und zu handeln, wie ich jetzt gehandelt habe. Ich fürchte in der Tat nicht, daß ich es in meiner Pflicht gegen Mr. Dombey fehlen lasse, wenn ich das, was ich weiß, in Eurer Brust begrabe; denn wo – wie in einer solchen Ehe – zwischen zwei Personen nur ein Geist und ein Sinn herrscht, ist die eine fast für die andere zu nehmen. Mein Gewissen kann mich daher vollkommen freisprechen, mag ich mich nun in diesem Gegenstande Euch oder ihm vertrauen. Aus den erwähnten Gründen habe ich mich an Euch gewendet. Darf ich der mich so auszeichnenden Hoffnung Raum geben, daß mein Vertrauen nicht zurückgewiesen wird und ich meiner Verantwortlichkeit entbunden bin?«

Er erinnerte sich noch lange des Blickes, den sie ihm jetzt zuwarf – wer hätte ihn sehen und vergessen können? – und des inneren Kampfes, der darauf folgte. Endlich sagte sie:

»Ich nehme es an, Sir. Ihr werdet aber die Gefälligkeit haben, diese Sache damit als beendigt zu betrachten und eingedenk zu sein, daß unsere Beziehung nicht weiter geht.«

Er verbeugte sich tief und erhob sich. Auch sie stand auf, und er verabschiedete sich mit aller Unterwürfigkeit. Withers aber, der ihm auf der Treppe begegnete, blieb stehen, um die Schönheit seiner Zähne und sein strahlendes Lächeln zu bewundern. Als Carker sodann auf seinem weißbeinigen Pferd fortritt, hielten ihn die Leute um des blendenden Schauspiels willen, das er bot, für einen Zahnarzt. S i e dagegen hielten die Leute, als sie unmittelbar nachher in ihrer Equipage ausfuhr, für eine vornehme Dame, die ebenso glücklich wie reich war. Freilich – wer sie einen Augenblick zuvor gesehen hätte, als sie in ihrem Zimmer allein war – wer Zeuge gewesen wäre, als sie nur die drei Worte ausstieß: »O Florence, Florence« würde anders gedacht haben.

Mrs. Skewton, die auf ihrem Sofa ruhte und Schokolade schlürfte, hatte nichts gehört, als das gemeine Wort »Geschäft«, das ihr einen tödlichen Widerwillen einflößte. Das Wort war nämlich längst aus ihrem Wörterbuch verbannt und hätte beinahe in bezaubernder Weise und einem ungemeinen Aufwand von Herz, der Seele gar nicht zu gedenken, unterschiedliche Putzmacherinnen und infolge davon auch andere Personen zugrunde gerichtet. Sie stellte daher keine Fragen und zeigte durchaus keine Neugier. Überhaupt gab ihr im Freien der pfirsichblütenfarbige Samthut hinreichend zu schaffen. Da er nämlich nur auf dem hinteren Teil ihres Kopfes festsaß und der Tag ziemlich windig war, so schien er wie wahnsinnig darauf auszugehen, Mrs. Skewtons Gesellschaft zu entlaufen, und wollte sich durchaus nicht zu einem gütlichen Vergleich heranlassen. Der Wagen wurde zugemacht und der Wind ausgeschlossen. Der zitternde Kopf spielte unter den künstlichen Rosen wie ein ganzes Armenhaus voll altersschwacher Zephire, Mrs. Skewton hatte auch so noch genug zu tun, so daß in dem Wagen ein gleichgültiges Schweigen herrschte.

Gegen Abend ging es noch schlimmer; denn Mrs. Dombey wartete, nachdem sie sich angekleidet hatte, schon eine halbe Stunde auf ihre Mutter, und Mr. Dombey stieg mit einem feierlichen Ärger – alle drei sollten nämlich an einem auswärtigen Diner teilnehmen – in dem Besuchszimmer auf und ab, als Flowers, die Zofe, mit bleichem Gesicht in Mrs. Dombeys Toilettezimmer stürzte.

»Ach, Ma’am«, rief sie; »ich bitte um Verzeihung, aber ich kann nichts mit Missiß anfangen.«

»Was meinst du damit?« fragte Edith.

»Ich weiß es selber kaum, Ma’am«, versetzte das erschreckte Mädchen. »Sie macht solche Gesichter.«

Edith eilte mit ihr nach dem Gemach ihrer Mutter. Kleopatra war in ihrem vollen Putze; aber trotz der Diamanten, der kurzen Ärmel, des Rots, der falschen Locken, der Zähne und anderer jugendlichen Zeichen hatte sich der Schlaganfall nicht täuschen lassen, sondern in ihr den Gegenstand seines Suchens erkannt und sie nach dem Spiegel hingeworfen, wo sie zusammengebrochen gleich einer schrecklichen Puppe lag.

Sie beraubten sie des falschen Prunkes und brachten das wenige, was an ihr echt war, auf ein Bett. Man schickte nach Ärzten, die auch bald erschienen. Kräftige Belebungsmittel wurden in Anwendung gebracht und Ansichten darüber abgegeben, daß sie sich wahrscheinlich von dieser Erschütterung erholen, aber einen zweiten Schlag nicht überleben werde. Und so lag sie tagelang da, sprachlos und die Decke anstarrend, bisweilen, wenn sie wußte, wer da war, auf die gestellten Fragen in unartikulierten Lauten Antwort gebend, zu andern Zeiten aber weder durch Zeichen noch Gebärden oder überhaupt eine Bewegung ihres Auges antwortend. Endlich kehrte allmählich das Bewußtsein und einigermaßen auch die Bewegungsfähigkeit, nicht aber die Sprache zurück. Eines Tages, als sie die rechte Hand wieder benützen konnte, zeigte sie diese ihrem Mädchen, das sie verpflegte. Sie schien sehr unruhig zu sein und deutete durch Gebärden an, daß sie einen Bleistift und etwas Papier wünsche. Die Dienerin schaffte das Geforderte augenblicklich herbei, in der Meinung, Mrs. Skewton wolle ein Testament machen oder einen letzten Wunsch aufzeichnen, und da Mrs. Dombey abwesend war, so sah sie dem Ergebnis mit feierlichen Empfindungen entgegen.

Nach vielem peinlichen Gekritzel und Wiederauslöschen, wobei unrechte Buchstaben willkürlich aus dem Bleistift herauszufallen schienen, kam das alte Weib endlich mit nachstehendem Schriftstück zustande:

»Rosenfarbige Vorhänge.«

Das Mädchen hatte allen Grund, kaum ihren Augen zu trauen, und Kleopatra, die ihr Erstaunen bemerkte, verbesserte das Manuskript, indem sie zwei weitere Worte beifügte, so daß es so lautete:

»Rosenfarbige Vorhänge für die Ärzte.«

Der Dienerin dämmerte jetzt der Gedanke auf, daß sie die Vorhänge wünsche, um vor der Fakultät in einem rosigeren Licht zu erscheinen, und da diejenigen im Hause, die Mrs. Skewton am besten kannten, die Richtigkeit dieser Ansicht nicht in Zweifel zogen, so wurde ihr Bett mit dem gewünschten Stoff, der leicht beizuschaffen war, behängt. Von Stunde an ging es mit der Kranken schnell besser. Sie war bald imstande, im Bett aufzusitzen, weshalb denn auch die Locken, eine Spitzenhaube und ein mit Spitzen besetztes Nachtgewand in Anspruch genommen wurden; auch mußte ein wenig künstliches Rot die tiefen Höhlen ihrer Wangen ausfüllen.

Es war ein erschreckender Anblick, wie dieses alte Weib mit dem Tod noch so jugendlich kokettierte, als habe sie es nur mit dem Major zu tun; aber der Schlaganfall hatte auch eine Veränderung in ihrem Geist zur Folge, die ernsten Stoff zu unheimlichen Betrachtungen abgab. Ob sie durch die Schwächung ihres Verstandes schlauer und falscher geworden war, als zuvor, ob eine Verwirrung zwischen dem erkünstelten und natürlichen Ich stattfand, ob dadurch ein Anflug von Gewissensbissen geweckt wurde, der sich nicht recht ins Licht kämpfen konnte, aber doch auch nicht ganz in die Dunkelheit zu drängen war, oder ob – vielleicht die wahrscheinlichste Annahme – das Zusammenbrechen ihrer intellektuellen Fähigkeiten ein Gemisch aller dieser Wirkungen aufgewühlt hatte, das Ergebnis war folgendes: Edith konnte ihr nicht genug Liebe, Dankbarkeit und Aufmerksamkeit erweisen. Ihrem stetigen Eigenlob nach hätte sie die beste und unschätzbarste aller Mütter sein müssen, und namentlich war sie sehr eifersüchtig darauf, in Ediths Zuneigung keine Nebenbuhlerin zu haben. Statt sich an den Vertrag zu erinnern, der zwischen ihnen geschlossen worden war, diesen Gegenstand zu vermeiden, spielte sie beständig auf die Heirat ihrer Tochter als auf den Beweis an, daß sie eine unvergleichliche Mutter sei; und dieses noch obendrein mit der Schwäche und Reizbarkeit eines solchen Zustandes, der stets einen ironischen Kommentar zu ihrer erkünstelten Jugendlichkeit abgab.

»Wo ist Mrs. Dombey?« konnte sie ihre Zofe fragen.

»Ausgegangen, Ma’am.«

»Ausgegangen? Geht sie aus, um ihrer Mutter aus dem Weg zu gehen, Flowers?«

»Aber, Gott behüte, nein, Ma’am. Mrs. Dombey hat nur mit Miß Florence eine Spazierfahrt gemacht.«

»Mit Miß Florence. Wer ist Miß Florence? Sage mir nichts von Miß Florence. Was kann ihr Miß Florence sein in Vergleich mit mir?«

Das Blitzen der Diamanten, der pfirsichblütenfarbene Samthut – sie empfing schon wochenlang in diesem Hut Besuche, noch ehe sie über die Stubentür hinaus konnte – oder irgendein anderer bunter Putz tat gewöhnlich den Tränen Einhalt, die bei solchen Betrachtungen zu fließen begannen, und sie verblieb dann in einem Zustand von Selbstgefälligkeit, bis Edith erschien, um nach ihr zu sehen. Sobald sie die stolze Gestalt ihrer Tochter gewahr wurde, kam wieder ein Rückfall.

»Endlich doch einmal, Edith!« konnte sie mit schüttelndem Kopfe rufen.

»Was gibt es, Mutter?«

»Was es gibt? Ich weiß es wirklich nicht. Die Welt ist so erkünstelt und undankbar geworden, daß ich entschieden glaube, es ist kein Herz – oder irgend etwas der Art – in ihr zurückgeblieben. Withers ist kindlicher gegen mich, als du. Er pflegt mich mehr, als meine eigene Tochter. Es wäre mir fast lieb, wenn ich nicht so jung aussähe – und all dergleichen – dann würde ich vielleicht mehr berücksichtigt werden.«

»Was wünscht Ihr, Mutter?«

»O, sehr viel, Edith«, entgegnete sie ungeduldig.

»Fehlt es Euch an irgend etwas? Wenn das der Fall, so ist es nur Eure eigene Schuld.«

»Meine eigene Schuld«, begann sie zu wimmern. »Was für eine Mutter bin ich dir gewesen, Edith – eine treue Gefährtin von deiner Wiege an! lind dafür vernachlässigst du mich und hast nicht mehr natürliche Zuneigung zu mir, als ob ich eine Fremde wäre – nicht den zwanzigsten Teil der Liebe, die du an Florence verschwendest. Aber ich bin ja nur deine Mutter und könnte sie in einem Tage verderben! – Du machst mir Vorwürfe, daß es meine eigene Schuld sei.«

»Mutter, Mutter, ich mache Euch mit nichts einen Vorwurf. Warum immer und ewig diese Geschichten?«

»Ist es nicht natürlich, daß ich immer wieder darauf zurückkommen muß, wenn ich lauter Liebe und Empfindung bin, dafür aber in der grausamsten Weise verwundet werde, so oft du mich nur ansiehst.«

»Ich beabsichtige durchaus nicht, Euch zu verletzen, Mutter. Erinnert Ihr Euch denn gar nicht mehr, was zwischen uns abgemacht wurde? Laßt die Vergangenheit ruhen.«

»Ja, laß sie ruhen! Laß auch die Dankbarkeit gegen mich ruhen – laß die Liebe gegen mich ruhen – laß mich in meinem von der ganzen Welt abgelegenen Stübchen, ohne Gesellschaft und Aufmerksamkeit, während du neue Bekanntschaften anknüpfst, die auf Erden nicht den mindesten Anspruch an dich haben! Ach, du mein Himmel, Edith, weißt du auch, wie elegant das Hauswesen ist, an dessen Spitze du stehst?«

»Ja.«

»Und jener ritterliche Mann, Dombey? Weißt du, daß du mit ihm verheiratet bist, Edith – daß du eine Versorgung, eine Stellung, eine Ausstattung, und was weiß ich alles, hast?«

»In der Tat, ich weiß dies recht wohl, Mutter.«

»Wie du es gehabt haben würdest bei jener entzückenden, guten Seele – wie hieß er doch? – Granger – wenn er nicht gestorben wäre. Und wem hast du das alles zu danken, Edith?«

»Euch, Mutter; Euch.«

»Dann schlinge deine Arme um meinen Nacken und küsse mich. Zeige mir, Edith, daß du weißt, es habe nie eine bessere Mutter gegeben, als ich dir gewesen bin. Und laß mich nicht dadurch, daß du mich mit deinem Undank quälst, zu einer wahren Vogelscheuche werden, da mich sonst, wenn ich wieder in Gesellschaft gehe, keine Seele kennen wird, nicht einmal jenes abscheuliche Tier, der Major.«

Bisweilen aber, wenn Edith ihr näher trat, das stattliche Haupt zu ihr niederbeugte und ihre kalten Wangen an die ihrigen legte, konnte die Mutter zurückfahren, als fürchte sie sich vor ihr, und unter einem Anfall von Zittern in den Ruf ausbrechen, daß es in ihrem Kopf irre sei. Zu andern Zeiten flehte sie die Tochter demütig an, auf dem Stuhl neben ihrem Bett Platz zu nehmen, und blickte dabei mit einem Gesicht, das sich selbst unter den rosenfarbigen Vorhängen nur scheu und verwirrt ausnahm, nach der düster sinnenden Gestalt hin. Im Lauf der Zeit erröteten die rosenfarbigen Vorhänge über Kleopatras leibliche Wiedergenesung, über ihren Aufzug, der, jugendlicher als je, die Verheerungen der Krankheit gutmachen sollte, über das Rot, die Zähne, die Locken, die Diamanten, die kurzen Ärmel und die ganze Garderobe der Puppe, die vor dem Spiegel zusammengebrochen war. Sie erröteten auch hin und wieder über eine Unbestimmtheit in ihrer Sprache, über das mädchenhafte Kichern, mit dem sie redete, und über ein gelegentliches Nachlassen ihres Gedächtnisses, das sich an keine Regel band, sondern phantastisch kam und ging, wie im Hohn über ihr eigenes phantastisches Ich.

Nie aber erröteten sie über einen Wechsel in der neuen Denk- und Sprechweise, die sich der Tochter gegenüber bei ihr bekundete. Und obgleich diese Tochter oft in den Bereich ihres Widerscheins kam, so erröteten sie nie ob ihrer durch ein Lächeln beleuchteten Liebenswürdigkeit oder ob der durch das Licht kindlicher Liebe gemilderten Strenge in ihrem schönen Antlitz.

Achtunddreißigstes Kapitel .


Achtunddreißigstes Kapitel .

Miß Tox nimmt eine alte Bekanntschaft wieder auf

Aufgegeben von ihrer Freundin Louisa Chick und des Anblicks von Mr. Dombeys Gesicht beraubt – denn kein seines Paar durch Silberdraht verbundener Verlobungskarten schmückte den Spiegel über dem Kamin auf dem Prinzessinnenplatz, das Klavier oder irgendeinen von jenen kleinen Prunkgegenständen, die Lukretia sich für ihre Festtagsbeschäftigung vorbehielt – wurde Miß Tox sehr niedergeschlagen und schwermütig. Eine Zeitlang hörte man auf dem Prinzessinnenplatz nichts mehr von dem Vogelwalzer. Die Pflanzen wurden vernachlässigt, und auf dem Miniaturbild des Vaters von Miß Tox mit seinem gepuderten Kopf und Haarbeutel sammelte sich der Staub.

Miß Tox war jedoch dank ihres Alters oder ihres Charakters nicht geeignet, sich lange nutzlosen Klagen hinzugeben. Nur zwei Saiten des Klaviers waren infolge des Nichtgebrauchs verstummt, als der Vogelwalzer schon wieder in dem winkligen Besuchszimmer trillerte und wirbelte. Ein einziger Geranium-Ableger wurde ein Opfer der unvollkommenen Pflege, als sie schon wieder ihren Garten in den grünen Töpfen jeden Morgen regelmäßig begoß; und der puderköpfige Vater hatte kaum mehr als sechs Wochen unter der Wolke gehangen, als Miß Tox sein wohlwollendes Gesicht anhauchte und es mit einem Stück Waschleder polierte.

Dennoch fühlte sie sich einsam und verlassen. Wenn sie jemandem ihre Zuneigung geschenkt hatte, war ihr ganzes Herz und ihre Seele dabei, wie lächerlich sie dies auch kundgeben mochte, und die unverdiente Kränkung, die sie von Louisa erfahren, verletzte sie tief. Der Charakter von Miß Tor ließ keinen nachhaltigen Groll aufkommen. Wenn sie während ihres Lebens in ihrer sanften Art jeden nach seiner Fasson hatte selig werden lassen und keine eigenen Ansichten gehabt hatte, so war sie wenigstens ohne heftige Leidenschaften durchgekommen. Eines Tages erblickte sie auf beträchtliche Entfernung hin ihre ehemalige Freundin auf der Straße, und dies überwältigte ihr weiches Herz so sehr, daß sie augenblicklich ihre Zuflucht zu einem Pastetenbäcker nehmen mußte, um daselbst in einem dumpfen kleinen Hinterstübchen, das gewöhnlich zur Verzehrung von Kraftbrühen besucht wurde und von einer Ochsenschwanz-Atmosphäre qualmte, ihre Gefühle durch einen reichlichen Tränenerguß zu beruhigen.

Gegen Mr. Dombey fühlte Miß Tor kaum einen Grund zur Beschwerde; denn die Großartigkeit dieses Gentleman war in ihren Augen so eindrucksvoll, daß es ihr nach seiner Entfremdung vorkam, als sei der Abstand stets unermeßlich und er sehr herablassend gewesen, daß er sie überhaupt nur in seiner Nähe geduldet hatte. Nach ihrer aufrichtigen Ansicht konnte für ihn keine Frau zu schön oder zu vornehm sein, und es lag vollkommen in der Natur der Sache, daß er bei der Wahl einer Gattin nach oben schaute. Unter Tränen stellte sie sich diese Wahrheit wohl zwanzigmal des Tages vor und fand sie vollauf berechtigt. Sie dachte nie an die stolze Weise, mit der Mr. Dombey sie seiner Bequemlichkeit und seinen Launen dienstbar gemacht hatte, indem er gnädigst gestattete, daß sie eine von den Wärterinnen seines kleinen Sohnes wurde. Wie sie selbst sagte, hatte sie in jenem Hause viele glückliche Stunden verbracht, deren sie sich stets mit Dank erinnern mußte. Auch konnte sie nie aufhören, Mr. Dombey als einen der würdevollsten Männer zu betrachten.

Von der unversöhnlichen Louisa aber verstoßen und mit einiger Scheu vor dem Major, den sie jetzt mit Mißtrauen betrachtete, war es gleichwohl für Miß Tor sehr ärgerlich, daß sie nicht erfuhr, was in Mr. Dombeys Hause vorging. Sie hatte sich in der Tat daran gewöhnt, in Dombey und Sohn die Angel zu sehen, um die sich die Welt im allgemeinen drehte. So beschloß sie, ehe sie auf alle Kunde von dem verzichte, was von so großem Interesse für sie war, lieber ihre alte Bekanntschaft mit Mrs. Richards wieder aufzunehmen. Sie wußte seit ihrem letzten denkwürdigen Erscheinen vor Mr. Dombey, daß sie hin und wieder einen Verkehr mit den Dienstboten unterhielt. Vielleicht wurde Miß Tor beim Aufsuchen der Toodle-Familie im geheimen noch durch den zarteren Beweggrund geleitet, daß sie dann jemand habe, mit dem sie über Mr. Dombey sprechen konnte, gleichviel, wie gering dieser Jemand auch war.

Wie dem nun sein mochte, Miß Tor richtete eines Abends ihre Schritte nach Toodles Wohnung – eine Zeit, um die Mr. Toodle schwarz und rußig im Kreise seiner Familie sich mit Tee erfrischte. Mr. Toodle kannte nur drei Stadien seines Daseins: er nahm entweder Erfrischungen in dem eben erwähnten Kreise ein, oder stürmte mit einer Geschwindigkeit von fünf bis zehn Meilen in der Stunde durchs Land, oder gab sich nach des Tages Mühe dem Schlafe hin. Er befand sich immer in einem Sturm oder in einer Windstille – in jedem dieser Zustände ein friedlicher, zufriedener, bequemer Mann, der alles Aufbrausende in seiner Natur an die keuchenden, pustenden und sich in der schonungslosesten Weise aufreibenden Dampfmaschinen abgetreten zu haben schien, während er selbst ein stilles, gleichförmiges Leben führte.

»Polly, mein Mädel«, sagte Mr. Toodle, dem auf jedem Knie ein junger Toodle saß, während zwei andere den Tee für ihn anfertigten und eine hübsche weitere Anzahl sich in der Stube umhertummelte – er war nämlich nie ohne Kinder, sondern hielt stets einen guten Vorrat bereit – »hast du in der letzten Zeit unsern Sieder nicht gesehen?«

»Nein«, versetzte Polly! »aber ich rechne fast mit Sicherheit darauf, daß er heute noch kommen wird. Es ist sein Abend, und er hält ihn sehr regelmäßig ein.«

»Ich meine«, sagte Mr. Toodle, der es sich einmal ungemein gut schmecken ließ, »unser Sieder entwickelt sich jetzt so gut fort, wie dies einem solchen Jungen möglich ist. Bist du nicht auch der Ansicht, Polly?«

»O, es geht ihm recht gut«, antwortete Polly.

»Bemerkst du nichts Heimliches an ihm – tut er nicht duckmäuserisch, Polly?« fragte Mr. Toodle.

»Nein!« erwiderte Mrs. Toodle nachdrücklich.

»Es freut mich, daß er sich nicht duckmäuserisch anläßt, Polly«, bemerkte Mr. Toodle in seiner langsamen, abgemessenen Weise und schaufelte sein Butterbrot mit einem Schnappmesser ein, als müsse er seine eigene Maschine mit Material versehen, »denn das wäre kein gutes Zeichen. Meinst du nicht, Polly?«

»Aber natürlich, Vater. Wie kannst du nur fragen!«

»Seht, meine Jungen und Mädels«, sagte Mr. Toodle, in seiner Familie umherschauend, »wo ihr je ein ehrliches Unterkommen finden mögt, so kommt euch gewiß nichts besser zustatten als die Offenheit. Geratet ihr in Bergdurchschnitte oder Tunnels, so gebt euch nicht mit geheimem Spiel ab. Haltet eure Pfeifen im Gang und laßt wissen, wo ihr seid.«

Die aufstehenden Toodles vereinigten sich zu einem wirren Lärm, um damit ihre Entschlossenheit anzudeuten, daß sie von dem väterlichen Rat Nutzen ziehen wollten.

»Aber wie kannst du nur wegen Rob mit solchen Fragen kommen, Vater?« ergriff jetzt die Mutter ängstlich da« Wort.

»Polly, meine Alte«, versetzte Mr. Toodle, »ich wüßte nicht, daß ich wegen Rob gerade etwas Besonderes gesagt hätte. Es ist mir nur so eingefallen. Ich komme vor ein Stationshaus; man nimmt mit, was sich da vorfindet, und ein ganzer Zug von Ideen wird angekoppelt, ehe ich weiß, wo ich bin, oder woher sie kommen. Was doch Menschengedanken für eine Verkettung sind!« fügte Mr. Toodle bei.

Mr. Toodle spülte diese tiefe Betrachtung mit einem großen Topf Tee hinunter und setzte darauf eine ansehnliche Menge Butterbrot. Dabei erteilte er seinen jungen Töchtern den Auftrag, einen gehörigen Vorrat Wasser im Topf heiß zu erhalten, da er ganz ausgetrocknet und deshalb ein »Anblick von vielen Tassen« erforderlich sei, ehe sein Durst sich zufrieden geben könne.

In der Befriedigung seines Appetits vergaß übrigens Mr. Toodle die jüngeren Zweige um ihn her durchaus nicht, denn obschon letztere bereits ihre Abendmahlzeit erhalten hatten, lugten sie doch nach den ungewöhnlichen Bissen aus, als ob solche von besonderem Wohlgeschmack wären. Diese verteilte er hin und wieder an den erwartungsvollen Kreis, indem er große Keile Butterbrot ausstreckte, von welchen die Familie in gesetzlicher Reihenfolge herunterbiß. Außerdem spendete er in gleicher Weise mit einem Löffel kleine Dosen Tee. Diese Extraportionen mundeten den jungen Toodles so köstlich, daß das junge Volk nach dem Genuß dann in seinem Entzücken kleine Tänze aufführte, auf einem Bein umherhüpfte und sich in andern sprunggerechten Merkzeichen der Freude erging. Nachdem es in solcher Weise seiner Aufregung Luft gemacht hatte, schloß es sich allmählich wieder an Mr. Toodle an und verwandte kein Auge von dem Tee und Butterbrot des Vaters, obschon es tat, als erwarte es für sich selbst nichts von diesen Nährmitteln, sondern wolle sich nur mit dem Familienhaupt in vertraulichem Flüstern über allerlei sonstige Gegenstände unterhalten.

Mr. Toodle, der inmitten seiner Kinder ein schauerliches Beispiel von Appetit gab, führte eben zwei junge Toodles auf seinen Knien, die einen besonderen Eisenbahnzug vorstellten, nach Birmingham und sah nach den andern über eine Barriere von Butterbrot hin, als Rob, der Schleifer, in seinem Südwesterhut und den Trauerkleidern eintrat – eine Erscheinung, die unter Brüdern und Schwestern ein stürmisches Willkommen hervorrief.

»Ah, Mutter!« sagte Rob, indem er ihr einen pflichtmäßigen Kuß aufdrückte. »Wie geht es Euch, Mutter?«

»Bist du da, mein Junge?« rief Polly, ihn umarmend und dann seinen Rücken klopfend. »Er und heimlich tun – aber Vater, wo denkst du hin?«

Dies war auf Mr. Toodles Privaterbauung berechnet; aber Rob, der Schleifer, der sich schon in seinem knappen Anzug unbehaglich fühlte, fing die Worte augenblicklich auf.

»Wie, hat der Vater wieder etwas über mich gesagt?« rief der gekränkte Unschuldige. »O, wie hart ist´s doch, daß es einem der eigene Vater hinterrücks immer ins Gesicht wirft, wenn man einmal ein wenig auf Abwege gekommen ist! Das könnte einen wohl dazu treiben«, rief Rob, in seinem Schmerz zu den Ärmelaufschlägen seine Zuflucht nehmend, »daß man hinginge und wider Willen etwas täte.«

»Mein guter Junge«, rief Polly, »der Vater meinte nichts damit.«

»Wenn der Vater nichts damit meinte«, heulte der beleidigte Schleifer, »warum geht er hin und sagt etwas? Niemand denkt nur halb so schlimm von mir, wie mein eigener Vater. Zu unnatürlich! Ich wollte, es nähme jemand ein Beil und hackte mir den Kopf ab. Ich glaube, der Vater würde sich nicht viel daraus machen, und es wäre mir lieber, er täte es, als ein anderer.«

Bei diesen verzweifelten Worten schrien alle die jungen Toodles laut hinaus – eine pathetische Wirkung, die der Schleifer noch erhöhte, indem er sie ironisch beschwor, nicht um ihn zu weinen, denn sie müßten ihn hassen – müßten es, wenn sie gute Knaben und Mädchen seien. Das ergriff den zweitjüngsten Toodle, der überhaupt leicht zu rühren war, so sehr, daß die Aufregung sich auch in seiner Stimmritze verfing und ihn ganz purpurrot machte. Das veranlaßte den bestürzten Mr. Toodle, ihn nach dem Wasserfaß hinauszunehmen und unter den Zapfen zu bringen, obschon diese medizinische Maßregel unnötig war; denn der Patient genas bei dem bloßen Anblick dieses Werkzeuges wieder.

Nachdem es soweit gekommen war, gab Mr. Toodle seine Erklärung ab. Hierüber beruhigten sich die tugendhaften Gefühle seines Sohnes. Sie gaben sich gegenseitig die Hand, und es herrschte wieder Eintracht.

»Willst du auch mitmachen, Sieder, mein Junge?« fragte der Vater, der mit erneuerter Kraft zu seinem Tee zurückkehrte.

»Nein, ich danke, Vater. Der Herr und ich, wir beide haben schon den Tee getrunken.«

»Und was macht dein Herr, Rob?« fragte Polly.

»Ich weiß selbst nicht, Mutter – es ist da nicht viel zu rühmen. Mit dem Geschäft ist es gar nichts, seht Ihr. Er versteht nichts davon – nicht das mindeste. So kommt erst heute ein Mann in den Laden und sagt: ›Ich möchte gern ein So und So haben‹, sagt er – es ist ein ganz schwerer Name. ›Was?‹ sagt der Kapt’n. ›Ein So und So‹, sagt der Mann. ›Bruder‹, sagt der Kapt’n, ›wollt Ihr Euch nicht im Laden umsehen?‹ ›Gut‹, sagt der Mann; ›ich habe es getan.‹ ›Seht Ihr, was Ihr braucht?‹ sagt der Kapt’n. ›Nein‹, sagt der Mann. ›Kennt Ihr es, wenn Ihr es zu Gesicht bekommt?‹ sagt der Kapt’n. ›Nein‹, sagt der Mann. ›Ei, dann will ich Euch was sagen, mein Junge‹, sagt der Kapt’n: ›geht lieber wieder zurück und fragt, wie es aussieht, denn ich weiß es auch nicht.‹«

»Das ist doch nicht die Art, wie man Geld verdient – oder?« fragte Polly.

»Geld, Mutter? Er wird nie Geld verdienen. Er hat eine Art an sich, wie ich nie etwas Ähnliches gesehen habe. Trotzdem möchte ich ihm nicht nachsagen, daß er ein schlimmer Herr ist. Mir kann es übrigens gleichgültig sein; denn ich glaube nicht, daß ich lange bei ihm bleiben werde.«

»Wie, nicht an deinem Platz bleiben, Rob?« rief die Mutter, während Mr. Toodle die Augen weit aufsperrte.

»Nicht an diesem Platz vielleicht«, entgegnete der Schleifer mit einem Blinzeln. »Es sollte mich nicht wundern – Ihr wißt, Freunde bei Hof – doch kümmert Euch vorderhand nicht darum, Mutter. Es ist schon in der Ordnung – mehr kann ich Euch nicht sagen.«

Der unanfechtbare Beweis, der in diesen Andeutungen und in dem geheimnisvollen Wesen des Schleifers lag, daß er nicht dem Fehler ausgesetzt sei, den Mr. Toodle bei ihm befürchtet hatte, würde vielleicht zu einer Erneuerung der früheren Unbill und zu einer weiteren Aufregung in der Familie geführt haben, wenn nicht im gelegenen Augenblick ein anderer Besuch angelangt wäre, der sich zu Pollys großer Überraschung unter der Tür zeigte und den Anwesenden mit freundschaftlicher Gönnermiene zulächelte.

»Wie geht es Euch, Mrs. Richards?« sagte Miß Tox. »Ich wollte nach Euch sehen. Darf ich eintreten?«

Auf dem heiteren Gesichte der Mrs. Richards leuchtete eine gastfreundliche Antwort, und Miß Tox, die den dargebotenen Stuhl annahm und dabei Mr. Toodle huldreich begrüßte, knüpfte ihr Hutband los und erklärte, sie müsse zuerst die lieben Kinder bitten, daß eines ums andere herkomme und sie küsse.

Der arme zweitjüngste Toodle, der um der oft durch ihn veranlaßten häuslichen Unruhen willen unter einem unglücklichen Planeten geboren zu sein schien, konnte sich an dieser allgemeinen Begrüßung nicht beteiligen, weil er unter dem Südwesterhut steckte. Er hatte vorher mit ihm gespielt und ihn sich jetzt verkehrt so tief auf seinen Kopf gesetzt, daß er unmöglich wieder herauskommen konnte. Dieser Zufall bot seiner erschreckten Phantasie das unheimliche Bild dar, als müsse er den Rest seiner Tage in Finsternis und hoffnungsloser Abgeschiedenheit von seiner Familie verbringen, weshalb er mit Macht zu kämpfen und ein ersticktes Geschrei auszustoßen anhub. Nach Befreiung von dieser Plage zeigte sich sein Gesicht sehr heiß, rot und feucht, weshalb Miß Tox das erschöpfte Büblein auf ihren Schoß nahm.

»Ich kann mir denken, Sir, daß Ihr mich fast vergessen habt«, sagte Miß Tox zu Mr. Toodle.

»Nein, Ma’am, nein«, sagte Toodle. »Aber wir alle sind seitdem ein bißchen älter geworden.«

»Und wie geht es Euch, Sir?« fragte Miß Tox freundlich.

»Ganz gut, Ma’am, danke«, versetzte Toodle. »Aber wie befindet Ihr Euch, Ma’am? Halten sich die Rheumatismen hübsch ferne, Ma’am? Wir müssen alle erwarten, in sie hineinzugeraten, je weiter wir vorrücken.«

»Danke«, sagte Miß Tox. »Ich habe von dieser Seite aus noch keine Unbequemlichkeit zu erfahren gehabt.«

»Da könnt Ihr von Glück sagen, Ma’am«, entgegnete Mr. Toodle. »Viele Personen von Eurem Alter, Ma’am, werden schwer davon heimgesucht. Da ist zum Beispiel meine Mutter – –« Er begegnete jetzt dem Auge seines Weibes und begrub weislich den Schluß seines Satzes in einer weiteren Tasse Tee.

»Ihr werdet mir doch nicht sagen wollen, Mrs. Richards«, rief Miß Tox, nach Rob hinsehend, »daß dies Euer –«

»Ja, mein Ältester, Ma’am«, ergänzte Polly. »Das ist der kleine Bursch, Ma’am, der die unschuldige Ursache von so vielem wurde.«

»Freilich, Ma’am«, pflichtete Toodle bei, »es ist der mit den kurzen Beinen – und sie waren«, fuhr er mit einem Anflug von Poesie in seinem Tone fort, »ungewöhnlich kurz für Lederhosen, als Mr. Dombey einen Schleifer aus ihm machte.«

Die Erinnerung überwältigte Miß Tox beinahe; denn der Gegenstand derselben hatte für sie unmittelbar ein besonderes Interesse. Sie forderte Rob auf, ihr die Hand zu geben, und wünschte seiner Mutter Glück zu seinem offenen feinen Gesicht. Rob, der dies mitanhörte, versuchte nun, eine entsprechende Miene aufzusetzen, um das Lob zu rechtfertigen, obschon es kaum die rechte war.

»Und nun, Mrs. Richards«, sagte Miß Tox – »und auch Ihr, Sir«, sich an Toodle wendend – »will ich euch unverhohlen und der Wahrheit gemäß sagen, weshalb ich hierher gekommen bin. Ohne Zweifel wißt Ihr, Mrs. Richards – und möglicherweise ist es auch Euch bekannt, Sir – daß zwischen mir und einigen meiner Freunde, die ich sonst häufig besuchte, eine kleine Entfremdung stattgefunden hat.«

Polly, die mit weiblichem Takt wohl verstand, was ihr Besuch meinte, drückte dies in einem leichten Blick aus, während Mr. Toodle, der nicht die mindeste Vorstellung von dem hatte, auf was Miß Tox anspielte, seine Unwissenheit mit einem weiten Aufsperren seiner Augen zu erkennen gab.

»Natürlich ist es von keinem Belang«, fuhr Miß Tox fort, »wie diese Kälte herbeigeführt wurde, und die Sache bedarf deshalb keiner Erörterung. Genug, daß ich die größtmögliche Achtung und Teilnahme habe für Mr. Dombey« – ihre Stimme stockte – »und alles, was zu ihm in Beziehung steht.«

Der so belehrte Mr. Toodle schüttelte den Kopf und entgegnete, er habe sagen hören und glaubte es auch für seinen Teil, daß mit Mr. Dombey nicht gut umzugehen sei.

»Ich bitte, habt die Güte, nicht so zu sprechen, Sir«, erwiderte Miß Tox. »Ich muß Euch flehentlich ersuchen, Sir, weder jetzt oder in Zukunft solche Äußerungen fallen zu lassen. Sie sind sehr schmerzlich für mich und können gewiß bei einem Gentleman von so geordnetem Geist, wie es zuverlässig der Eure ist, keine nachhaltige Überzeugung bleiben.«

Mr. Toodle geriet in große Verwirrung; denn er hatte nicht im mindesten daran gezweifelt, daß seine Bemerkung mit Beifall aufgenommen werden würde.

»Alles, was ich Euch zu sagen wünsche, Mrs. Richards«, nahm Miß Tox wieder auf – »ich wende mich dabei auch an Euch, Sir– besteht darin, daß mir jede Euch etwa zugehende Kunde von dem Tun und Treiben der Familie, von der Wohlfahrt der Familie, von der Gesundheit der Familie stets von größtem Interesse sein wird. Wie angenehm ist es mir, mit Mrs. Richards über die Familie und von alten Zeiten plaudern zu können. Denn zwischen Mrs. Richards und mir gab es nie die mindeste Mißhelligkeit; zwar könnte ich wünschen, daß wir besser bekannt geworden wären, ob schon ich dafür nur mir selbst Vorwürfe zu machen habe. Aber ich hoffe doch, sie wird nichts dagegen haben, wenn wir jetzt uns freundschaftlich aneinander anschließen, und mir erlauben, daß ich, wenn ich Lust dazu habe, hier nicht als Fremde vorspreche. In der Tat, Mrs. Richards«, fügte Miß Tox angelegentlich bei, »Ihr werdet als das gutmütige Wesen, das ich stets in Euch kannte, diese Bitte aufnehmen, wie sie gemeint ist.«

Polly war erfreut darüber und bestätigte das auch. Mr. Toodle aber, der nicht wußte, ob er sich freuen sollte oder nicht, beharrte in einer stöckischen Ruhe.

»Ihr seht, Mrs. Richards«, sagte Miß Tox – »und ich hoffe, auch Ihr seht es, Sir, – daß es mancherlei gibt, wodurch ich Euch einigermaßen nützlich werden kann, wenn Ihr mich nicht als Fremde betrachten wollt. Es wird mich stets freuen, wenn ich in der Lage bin, Euch einen Dienst zu erweisen. So kann ich zum Beispiel Eure Kinder etwas lehren. Wenn Ihr es erlaubt, so will ich ein paar Büchlein und einige Arbeit mitbringen; sie können dann hin und wieder etwas lernen – ach, lieber Himmel, und wieviel sie hoffentlich lernen werden, um ihrer Lehrerin Ehre zu machen!«

Mr. Toodle, der großen Respekt vor dem Lernen hatte, duckte den Kopf beifällig nach seiner Frau hin und feuchtete mit aufdämmernder Zufriedenheit seine Hände an.

»Wenn ich nicht als Fremde gelte, werde ich niemandem im Wege stehen«, sagte Miß Tox, »und alles wird fortgehen, gerade so wie wenn ich nicht hier wäre. Mrs. Richards kann bei ihrer Näherei, beim Bügeln oder bei der Wartung ihrer Kinder bleiben, ohne auf mich Rücksicht zu nehmen; und Ihr raucht Eure Pfeife, wenn Ihr Lust dazu habt, Sir – nicht wahr?«

»Danke, Ma’am«, sagte Mr. Toodle. »Ja; ich will mein Röllchen zusammenschneiden.«

»Sehr schön von Euch, Sir«, versetzte Miß Tox, »und ich gebe Euch von ganzer Seele die Versicherung, daß es mir ein großer Trost sein wird und ich für alles, was ich vielleicht für die Kinder zu tun so glücklich bin, eine reiche Belohnung darin sehe, wenn Ihr mit aller Behaglichkeit auf diesen Vertrag eingeht, ohne ein weiteres Wort darüber zu verlieren.«

Der Vertrag wurde auf der Stelle ratifiziert, und Miß Tox tat ohne Verzug so ganz heimisch, daß sie sofort der Reihe nach ein einleitendes Verhör mit den Kindern vornahm und – zu Mr. Toodles großer Verwunderung – Alter, Namen und Fortschritte derselben auf ein Blatt Papier niederschrieb. Diese Zeremonie, die durch allerlei kleines Geplauder unterbrochen wurde, währte bis nach der gewöhnlichen Schlafenszeit der Familie. Miß Tox hielt sich so lange an Toodles Herd auf, bis es für sie zu spät war, allein nach Hause zu gehen. Der galante Schleifer aber, der gleichfalls dageblieben war, erbot sich höflich, sie bis vor ihre Tür zu begleiten, und da für Miß Tox etwas darin lag, wenn sie sich im Geleit eines jungen Menschen sehen lassen konnte, der Mr. Dombey seine erste Beinbekleidung verdankte, so ging sie sehr bereitwillig auf den Vorschlag ein.

Nachdem sie Mr. Toodle und Polly die Hand gereicht, sodann alle Kinder geküßt hatte, verließ sie das Haus unter unbegrenzter Popularität und mit so leichtem Herzen, daß Mrs. Chick sicherlich großen Anstoß daran genommen haben würde, wenn sie den Grad dieser Leichtigkeit hätte ermessen können.

Rob, der Schleifer, wollte in seiner Bescheidenheit hinter ihr dreingehen. Miß Tox aber forderte ihn auf, an ihrer Seite zu bleiben, damit sie sich mit ihm unterhalten könne, und »fragte ihn unterwegs aus«, wie sie nachher seiner Mutter berichtete.

Rob bestand sein Examen so glanzvoll, daß Miß Tox ganz bezaubert von ihm war. Je mehr sie herausholte, desto feiner machte er sich – gerade wie der Draht auf der Ziehbank. Wie er sich an jenem Abend ausnahm, hätte man glauben sollen, es habe nie einen besseren, klügeren, nüchterneren, ehrlicheren, bescheideneren und aufrichtigeren Menschen gegeben.

»Es freut mich in der Tat, daß ich Euch kenne«, sagte Miß Tox, als sie an ihrer Tür anlangte. »Ich hoffe, Ihr werdet mich als Eure Freundin betrachten und mich so oft besuchen, wie es Euch beliebt. Habt Ihr eine Sparbüchse?«

»Ja, Ma’am«, versetzte Rob. »Ich spare alles auf, bis ich genug habe, um es in die Bank zu legen, Ma’am.«

»In der Tat sehr löblich«, sagte Miß Tox. »Das höre ich gerne. Seid so gut, auch diese halbe Krone hineinzulegen.«

»O, ich danke Euch, Ma’am«, entgegnete Rob; »aber ich darf doch wirklich nicht daran denken, Euch zu berauben.«

»Euer unabhängiger Geist gefällt mir«, sagte Miß Tox; »aber ich versichere Euch, daß hier von keiner Beraubung die Rede ist. Ihr werdet mich kränken, wenn Ihr das Geldstück nicht als einen Beweis meiner guten Meinung annehmt. Gute Nacht, Robin.«

»Gute Nacht, Ma’am«, erwiderte Rob. »Und schönen Dank!«

Der Schleifer lachte sich ins Fäustchen, ließ sich die halbe Krone wechseln und verspielte sie mit Aufwerfen an einen Pastetenmann. Aber freilich hatte man in der Schleiferschule nichts von Ehrgefühl gelernt, denn das daselbst herrschende System war besonders geeignet, die Heuchelei einzuimpfen – in einem Grad sogar, daß viele von den Verwandten und Herren vormaliger Schleifer erklärten, wenn aus der Erziehung einfacher Menschen nichts weiter herauskomme, so unterbleibe sie besser ganz und gar. Einige Verständigere sagten, man solle bei der Leitung besseren Grundsätzen folgen; aber die Vorstände der Schleiferzunft traten stets solchen Einwürfen damit entgegen, daß sie einige Knaben heraussuchten, die trotz des Systems gut ausgefallen wären, und dann rundweg behaupteten, sie hätten dies nur ihrer Erziehung zu danken. Damit war den Tadlern das Handwerk gelegt und der Ruhm der Schleiferschule hergestellt.

Neununddreißigstes Kapitel.

Neununddreißigstes Kapitel.

Weitere Abenteuer des Schiffskapitäns Edward Cuttle.

Sicheren Fußes und kräftigen Willens hatte die Zeit so sehr vorwärts gedrängt, daß das Jahr, das der alte Instrumentenmacher seinem Freund als Termin für Eröffnung des den Brief begleitenden, versiegelten Pakets anberaumt hatte, nahezu abgelaufen war. Demzufolge begann Kapitän Cuttle Abend für Abend mit den Gefühlen unruhiger Neugierde danach zu sehen.

Wir müssen ihm zur Ehre nachrühmen, daß ihm ebensowenig der Gedanke kam, das Päckchen auch nur eine Stunde vor Ablauf der Frist zu erbrechen, wie es ihm eingefallen sein würde, sich selbst zu öffnen, um die Anatomie seines eigenen Leibes zu studieren. Er holte es nur bei einem gewissen Stadium seiner ersten Abendpfeife heraus, legte es auf den Tisch und blickte in stummem Ernst zwei oder drei Stunden durch den Rauch danach hin, als ob es einen Zauber enthielte. Bisweilen rückte der Kapitän, nachdem es ziemlich lange in solcher Weise vor ihm gelegen hatte, seinen Stuhl allmählich weiter und weiter ab, als wolle er sich der unheimlichen Atmosphäre entziehen, obschon ihm dieses, wenn es auch wirklich seine Absicht war, nie gelang. Denn selbst an der Stubenwand übte das Paket noch immer seine bannende Kraft. Ja das Bild davon folgte sogar seinen Augen, wenn sie gedankenvoll an der Decke hinschweiften, legte sich vor ihm in die Kohlen, wenn sein Blick dem Feuer zugekehrt war, oder nahm das auffallendste Plätzchen in dem Schrank mit weißer Wäsche ein.

Was die »Herzensfreude« betraf, so erlitt die väterliche Zuneigung und Bewunderung des Kapitäns keinen Wechsel, wiewohl es bei der letzten Besprechung mit Mr. Carker zweifelhaft geworden war, ob seine frühere Einmengung zugunsten dieser jungen Dame und seines Knaben Wal’r ganz so günstig ausgefallen sei, wie er damals wirklich glaubte. Mit einem Wort: der Kapitän trug sich mit ernsten Bedenken, ob er durch jenen Schritt nicht mehr Schaden als Nutzen gestiftet habe. Deshalb leistete er denn auch in seiner Reue und Bescheidenheit die beste ihm erdenkliche Sühne dadurch, daß er sich in einer Weise beseitigte, die es ihm unmöglich machte, irgend jemandem nachteilig zu werden, und daß er sich sozusagen selbst als eine gefährliche Person über Bord warf.

Er begrub sich unter den Instrumenten, wagte sich nie in die Nähe von Mr. Dombeys Haus und brach jeglichen Verkehr mit Florence oder Miß Nipper ab. Sogar von Mr. Perch hatte er sich bei erster Gelegenheit losgesagt, indem er diesem Gentleman trocken erklärte, er danke ihm für seine Gesellschaft, habe sich aber von allen solchen Bekannten losgelöst, da er nicht wisse, ob nicht durch ihn, ohne daß er es beabsichtige, ein Pulvermagazin in die Luft gesprengt werde. In dieser freiwilligen Einsamkeit verbrachte der Kapitän ganze Tage und Wochen, ohne mit jemandem anders ein Wort zu wechseln, als mit Rob, dem Schleifer, den er als ein Muster uneigennütziger Anhänglichkeit und Treue betrachtete. Die einzige Unterhaltung in seiner Abgeschiedenheit bestand darin, daß er abends mit seiner Pfeife im Mund das Päckchen anschaute und dabei an Florence und den armen Walter dachte, bis beide seiner nicht sehr reichen Phantasie als tot erschienen – hingegangen in ewiger Jugend als die schönen, unschuldigen Kinder seiner ersten Erinnerung.

In seinem Grübeln versäumte übrigens der Kapitän die eigene Ausbildung oder die des Schleifers durchaus nicht. Rob mußte ihm in der Regel jeden Abend eine Stunde lang aus einem Buche vorlesen, und da der Kapitän des unbedingten Glaubens lebte, daß alle Bücher wahr seien, so gelangte er auf diese Weise in den Besitz vieler merkwürdiger Kenntnisse. An Sonntagabenden las er vor Schlafengehen stets selbst eine gewisse göttliche Predigt, die vordem auf einem Berge gehalten wurde, und obgleich er gewohnt war, den Teil ohne Buch nach seiner eigenen Art zu zitieren, so las er sie doch augenscheinlich mit einem so ehrerbietigen Eingehen auf ihren himmlischen Geist, als könne er das griechische Original auswendig und als sei er imstande, über jeden Vers eine beliebige Anzahl scharfer theologischer Abhandlungen zu schreiben.

Rob, der Schleifer, dessen Ehrfurcht für die Heilige Schrift unter dem bewundernswürdigen System der Schleiferschule durch beharrliches Zerbeulen seiner intellektuellen Schienbeine an allen Eigennamen sämtlicher Judastämme, durch das eintönige Hersagen von schweren Versen, das ihm meist zur Strafe auferlegt worden, und durch die Sonntags je dreimal vorkommende Schaustellung seiner sechs Jahre alten Person in Lederhosen auf einer sehr hohen und sehr heißen Emporkirche, wo eine große Orgel gleich einer ungemein geschäftigen Biene gegen seinen schläfrigen Kopf summte, zur Entwicklung gekommen war – Rob, der Schleifer, tat, sobald der Kapitän zu lesen aufgehört hatte, als sei er ungemein erbaut, obschon er während der Vorlesung selbst in der Regel gähnte und döste – eine Tatsache, die der gute Kapitän freilich nie bei ihm argwöhnte.

Als Geschäftsmann hielt Kapitän Cuttle auch darauf, daß regelmäßig Buch geführt wurde. Er trug in dasselbe seine Beobachtungen über das Wetter und über den Zug der Frachtwagen und anderer Fuhrwerke ein, die in diesem Stadtteil morgens, und im Laufe des Tages nach Westen, abends aber nach Osten ihre Richtung zu nehmen pflegten. Als einmal in einer Woche zwei oder drei Personen ihn wegen Brillen »angingen« – so lautete nämlich der Eintrag – und, ohne gerade zu kaufen, wieder herzukommen versprachen, so folgerte der Kapitän daraus mit Zuversicht, daß das Geschäft im Zunehmen begriffen sei, und zeichnete auch diese Bemerkung in seinem Tagebuch auf, nachdem er zuerst notiert hatte, der Wind blase ziemlich frisch West bei Nord und habe im Lauf der Nacht umgeschlagen.

Eine der Hauptnöte des Kapitäns war Mr. Toots, der sehr häufig auf Besuch kam und, ohne viel Worte darüber zu verlieren, sich die Idee in den Kopf gesetzt zu haben schien, das kleine Hinterstübchen sei ein ganz herrliches Zimmer, um darin zu kichern. Er saß nämlich oft halbe Stunden da, ohne etwas anderes zu tun und ohne dem Kapitän auch nur im mindesten etwas mehr Vertrauen abzugewinnen. Der Kapitän, der durch seinen letzten Versuch vorsichtig gemacht worden war, konnte nicht mit sich ins reine kommen, ob Mr. Toots wohl in Wirklichkeit das gutmütige Subjekt, das er zu sein schien, oder nicht vielmehr ein durchtriebener, arglistiger und in der Verstellungskunst ausgelernter Heuchler sei. Seine häufigen Anspielungen auf Miß Dombey waren verdächtig; aber der Kapitän fühlte sich doch im geheimen durch Mr. Toots‘ Zutraulichkeit angezogen und unterließ es daher vorderhand, ein Urteil zu fällen. Dagegen faßte er ihn mit einer Schlauheit, die sich nicht beschreiben läßt, ins Auge, so oft Mr. Toots den Gegenstand, der seinem Herzen so nahe lag, zur Sprache brachte.

»Kapitän Gills«, platzte Mr. Toots seiner Gewohnheit nach eines Tages plötzlich heraus, »glaubt Ihr, daß Euch mein Vorschlag genehm sein könne, und wollt Ihr für mich Eure Beziehungen nutzbar machen?«

»Nun, mein Junge, ich will Euch sagen, wie die Sache liegt«, versetzte der Kapitän, der endlich über sein Handeln zu einem Entschluß gekommen war. »Ich habe mir die Sache überlegt.«

»Kapitän Gills, das ist sehr freundlich von Euch«, entgegnete Mr. Toots. »Ich bin Euch sehr dafür verbunden. Auf mein Ehrenwort, Kapitän Gills, es würde ein Liebesdienst sein, wenn Ihr mich die Ehre Eurer Beziehungen teilhaftig werden ließet. Gewiß und wahrhaftig.«

»Ja, seht, Bruder«, fuhr der Kapitän langsam fort, »ich kenne Euch nicht.«

»Aber Ihr könnt mich nie kennenlernen, Kapitän Gills«, erwiderte Mr. Toots in eifriger Beharrlichkeit, »wenn Ihr mir nicht das Vergnügen einer näheren Aussprache gönnen wollt.«

Der Kapitän schien ob der Originalität und dem Gewicht dieser Worte betroffen zu sein und sah Mr. Toots an, als denke er, es stecke am Ende doch weit mehr in ihm, als er erwartet hatte.

»Gut gesprochen, mein Junge«, erwiderte der Kapitän mit gedankenvollem Kopfnicken, »und vollkommen richtig. Schaut aber einmal her. Ihr habt einige Äußerungen fallen lassen, aus denen ich entnehmen muß, daß Ihr ein gewisses holdes Geschöpf bewundert – ist es nicht so?«

»Kapitän Gills«, sagte Mr. Toots, ungestüm mit der Hand ausholend, in der er seinen Hut hielt, »Bewunderung ist nicht das rechte Wort. Bei meiner Ehre, Ihr habt gar keine Vorstellung von der Art meiner Gefühle. Wenn ich schwarz gefärbt und zu Miß Dombeys Sklaven gemacht werden könnte, so würde ich es als eine Auszeichnung betrachten. Ja, ich ließe es mich mein ganzes Vermögen kosten, wenn ich damit eine Umwandlung meiner Person in Miß Dombeys Hund zu erkaufen imstande wäre. Ich – ich glaube wahrhaftig, ich würde dann nie aufhören, mit meinem Schwanz zu wedeln. Gewiß, das würde das höchste Glück für mich sein, Kapitän Gills!«

Mr. Toots sprach dies mit feuchten Augen und drückte in tiefer Erregung seinen Hut gegen die Brust.

»Mein Junge«, versetzte der zum Mitleid bewegte Kapitän, »wenn Euch dies Ernst ist –«

»Kapitän Gills«, rief Mr. Toots, »ich bin in einem solchen Gemütszustand, und es ist mir so furchtbar ernst, daß ich es auf einem heißen Stück Eisen, auf einer glühenden Kohle, auf geschmolzenem Blei, auf brennendem Siegelwachs oder auf irgend etwas der Art beschwören wollte. Ja, ich würde mich sogar freuen über die Beschädigung, da sie mir eine Erleichterung brächte für meine Gefühle.«

Und Mr. Toots schaute hastig im Zimmer umher, als suche er irgendein zureichend schmerzliches Peinigungsmittel, um seinen fürchterlichen Vorsatz auszuführen.

Der Kapitän schob seinen Glanzhut auf dem Kopf zurück, strich mit der schweren Hand sein Gesicht, so daß seine Nase noch fleckiger wurde, trat vor Mr. Toots hin, packte ihn mit seinem Haken an dem Aufschlag seines Rocks und redete ihn mit folgenden Worten an, während Mr. Toots in großer Aufmerksamkeit und einiger Verwunderung ihm ins Gesicht schaute.

»Seht Ihr, mein Junge, wenn es Euch ernst ist«, sagte der Kapitän, »so seid Ihr ein Gegenstand der Gnade, und Gnade ist das glänzendste Kleinod in der Krone eines Engländers – lest darüber nach, was im Rule Britannia niedergelegt ist, und habt Ihr’s gefunden, so erkennt darin den Freibrief, von dem schon die Engel im Paradies so oft gesungen haben. Haltet bei! Euer Vorschlag kommt mir ein wenig überraschend. Und warum? Weil ich, Ihr begreift dies, nur allein und ohne Kameradschaft in diesen Wassern segle, außerdem mir auch keine wünsche. Nimmermehr! Ihr habt mich zuerst angegangen wegen einer gewissen jungen Dame, in deren Dienst Ihr handeltet. Wenn nun Ihr und ich, wir beide überhaupt Kameradschaft halten sollen, so darf der Name jenes jungen Geschöpfs nie gesprochen oder auch nur angedeutet werden. Ich weiß nicht, was Schlimmes dabei herausgekommen sein mag, weil ich mich in diesem Punkt früher zu frei benahm, und muß deshalb abbrechen. Habe ich mich Euch gehörig klargemacht, Bruder?«

»Ihr werdet mich entschuldigen, Kapitän Gills«, versetzte Mr. Toots, »wenn ich Euch bisweilen nicht ganz folgen kann. Aber auf mein Wort, ich – es ist eine schwere Aufgabe, Kapitän Gills, nicht von Miß Dombey sprechen zu sollen. Es liegt mir so fürchterlich schwer hier« – Mr. Toots berührte jetzt pathetisch mit beiden Händen seinen Busenstreif – »daß es mir Tag und Nacht gerade so vorkommt, als ob jemand auf mir sitze.«

»Das sind die Bedingungen«, sagte der Kapitän, »auf denen ich bestehen muß. Wenn sie Euch schwer vorkommen, Bruder, wie dies vielleicht der Fall sein mag, so schüttelt sie ab, scheert weiter und laßt sie lustig allein laufen.«

»Kapitän Gills«, erwiderte Mr. Toots, »ich weiß kaum, wie es zuging. Aber nach dem, was Ihr mir bei meinem ersten Besuche sagtet, kommt es mir vor, ich – ich könne in Eurer Gesellschaft weit besser an Miß Dombey denken, als fast mit jedem andern sonst von ihr sprechen. Wenn Ihr mir daher das Vergnügen Eurer Unterhaltung gönnen wollt, Kapitän Gills, so werde ich mich sehr glücklich schätzen, sie auf Eure eigenen Bedingungen hin anzunehmen. Ich wünsche als ein Ehrenmann zu handeln, Kapitän Gills«, fuhr Mr. Toots fort, indem er seine ausgestreckte Hand für einen Augenblick zurückhielt, »und muß Euch daher sagen, daß ich es nicht vermeiden kann, an Miß Dombey zu denken. In dieser Hinsicht nur ist es mir unmöglich, mich auf eine etwaige Bedingung einzulassen.«

»Mein Junge«, sagte der Kapitän, in dessen Meinung Mr. Toots durch sein aufrichtiges Zugeständnis sehr gestiegen war, »die Gedanken eines Menschen sind wie die Winde, und niemand kann auf die Dauer mit Sicherheit für sie einstehen. Unser Vertrag gilt also dem Sprechen?«

»Ja, dem Sprechen, Kapitän Gills«, erwiderte Mr. Toots. »Ich glaube, mir insoweit Zwang auflegen zu können.«

Mr. Toots gab jetzt Kapitän Cuttle seine Hand darauf und letzterer verlieh ihm mit der Miene huldreicher Herablassung förmlich die Ehre seiner näheren Bekanntschaft. Mr. Toots schien durch diese Erwerbung sehr getröstet und erfreut zu werden; denn er kicherte während der übrigen Dauer seines Besuches mit großem Entzücken. Der Kapitän seinerseits war nicht übel zufrieden, so die Stellung eines Gönners einzunehmen, und lobte sich im geheimen selbst ob seiner Klugheit und Vorsicht.

Trotz des großen Vorrats von diesen eben genannten Eigenschaften blühte übrigens dem Kapitän am nämlichen Abend noch eine Überraschung in keiner geringeren Person, als dem ehrlichen, klugen Schleifer Rob. Dieser unschuldige Jüngling beugte sich, als er am nämlichen Tisch mit seinem Gebieter den Tee einnahm, ganz demütig über seine Tasse, schielte von der Seite nach dem Kapitän hin, der mit großer Schwierigkeit, aber viel Würde durch die Brille seine Zeitung las, und unterbrach endlich das Schweigen mit den Worten:

»O, ich bitte um Verzeihung, Kapitän, aber Ihr werdet wahrscheinlich keine Tauben brauchen, Sir?«

»Nein, mein Junge«, versetzte der Kapitän.

»Weil ich die meinigen zu verkaufen wünsche«, sagte Rob.

»So?« entgegnete der Kapitän, die buschigen Augenbrauen ein wenig erhebend.

»Ja; ich will gehen, Kapitän, wenn Ihr nichts dagegen habt«, sagte Rob.

»Gehen? und wohin willst du gehen?« fragte der Kapitän, über die Brillengläser weg nach ihm zurückschauend.

»Wie –wußtet Ihr nicht, daß ich Euch verlassen will, Kapitän?« fragte Rob mit einem besonderen Lächeln.

Der Kapitän legte die Zeitung nieder, nahm seine Brille ab und faßte den Ausreißer fest ins Auge.

»O ja, Kapitän, ich will Euch hiermit aufgesagt haben. Ich glaubte, Ihr hättet dies vielleicht schon zum voraus wissen können«, sagte Rob, die Hände reibend und von seinem Tische aufstehend. »Wenn Ihr so gut sein wolltet, Euch bald anderweitig umzusehen, Kapitän, so würde mir damit ein großer Gefallen geschehen. Ich fürchte freilich, es wird nicht morgen früh schon geschehen können, Kapitän – oder glaubt Ihr?«

»Und du willst also fahnenflüchtig werden, mein Junge?« entgegnete der Kapitän, nachdem er geraume Zeit das Gesicht des Ausreißers gemustert hatte.

»O, es ist sehr hart für einen jungen Menschen, Kapitän«, rief der weichherzige Rob, der in einem Augenblick gekränkt und unwillig werden konnte, »wenn er nicht in rechtmäßiger Weise soll kündigen dürfen, ohne in solcher Weise angeschaut und ein Fahnenflüchtiger genannt zu werden. Ihr habt kein Recht, einem armen Burschen Schimpfnamen zu geben, Kapitän, und weil Ihr der Herr seid und ich nur der Diener bin, so folgt daraus nicht, daß Ihr mich beschimpfen dürft. Was habe ich denn Unrechtes getan? Laßt mich wissen, worin mein Verbrechen besteht, wenn Ihr so gut sein wollt, Kapitän.«

Der beleidigte Schleifer weinte und brachte seinen Ärmelaufschlag vor die Augen.

»Ja, Kapitän, nennt mir mein Verbrechen«, rief der gekränkte Jüngling. »Was bin ich gewesen und was habe ich getan? Habe ich irgend jemandem etwas gestohlen? Habe ich das Haus in Brand gesteckt? Wenn mich ein solcher Vorwurf treffen kann, warum übergebt Ihr mich nicht dem Gericht? Aber wie unrecht ist es nicht und welch schlimmer Lohn für treue Dienstleistung, wenn Ihr einem jungen Menschen, der Euch rechtschaffen gedient hat, seinen guten Ruf antastet, weil er um Euretwillen seinem besseren Fortkommen nicht im Wege stehen mag. Auf diese Weise verdirbt man junge Menschen und treibt sie auf unrechte Wege, In der Tat, ich kann mich nicht genug wundern über Euch, Kapitän.«

Alles das wurde in heulendem, weinerlichem Ton vorgetragen, während der Schleifer zu gleicher Zeit sich rücklings der Tür näherte.

»Du hast also schon eine andere Heuer in Aussicht?« sagte der Kapitän, kein Auge von ihm verwendend.

»Ja, Kapitän – wenn Ihr mich in solcher Weise angeht, so muß ich Euch sagen, daß ich eine andere Heuer in Aussicht habe«, rief Rob, mehr und mehr sich der Türe nähernd; »eine bessere Heuer, als ich hier hatte, und noch dazu eine, wo ich nicht einmal ein gutes Wort von Euch brauche, Kapitän. Dies ist ein Glück für mich, nachdem Ihr mich so in den Staub gezogen habt, weil ich arm und nicht in der Lage bin, um Euretwillen mir selbst im Licht zu stehen, Ja, ich habe eine andere Heuer, und wenn es Euch gleichgültig wäre. Kapitän, so würde ich lieber auf der Stelle gehen, als daß ich mir von Euch Schimpfnamen geben lasse, weil ich arm und nicht in der Lage bin, Euretwegen meinem besseren Fortkommen im Wege zu stehen. Warum macht Ihr mir Vorwürfe wegen meiner Armut und wegen meines Wunsches, mich zu verbessern? Wie könnt Ihr Euch selbst so herabwürdigen?«

»Schau jetzt her, mein Junge«, versetzte der friedliebende Kapitän, »und komm mir nicht mehr mit solchen Worten.«

»Dann müßt Ihr mir auch nicht mehr mit solchen Worten kommen«, erwiderte der gereizte Unschuldige, der immer lauter winselte und sich mehr und mehr rücklings der Ladentür näherte. »Es ist mir lieber, wenn Ihr mich umbringt, als wenn Ihr mir meine Ehre nehmt.«

»Vielleicht«, fuhr der Kapitän fort, »hast du schon etwas von einem Dinge gehört, das man einen Galgenstrick nennt?«

»Ob ich davon gehört habe, Kapitän«, rief der Schleifer höhnisch. »Nein, ich habe es nicht. In meinem Leben hörte ich nie etwas von einem solchen Artikel.«

»Gut«, sagte der Kapitän; »ich bin der Meinung, daß du recht bald mehr davon erfahren wirst, wenn du nicht scharf Auslug hältst. Ich verstehe mich auf deine Signale, mein Junge. Du kannst gehen.«

»O, ich kann sogleich gehen – kann ich, Kapitän?« rief Rob hocherfreut über seinen Erfolg. »Aber wohl gemerkt, ich habe nicht sogleich zu gehen verlangt, Kapitän. Ihr werdet mir doch ein Zeugnis nicht vorenthalten, weil Ihr mich aus freien Stücken fortschickt – und werdet mir nichts von meinem Lohn abrechnen, Kapitän?«

Der Kapitän bereinigte den letzteren Punkt, indem er die Zinnbüchse hervorlangte und dem Schleifer sein Geld voll auf den Tisch hinzählte. Schnüffelnd, schluchzend und schwer verwundet in seinen Gefühlen, nahm Rob die Stücke einzeln auf und band sie abgesondert in verschiedene Knoten seines Taschentuchs. Dann stieg er nach dem Dach hinauf und füllte seinen Hut und seine Tasche mit Tauben. Sobald er wieder heruntergekommen war, machte er unter noch lauterem Schnüffeln und Schluchzen, als werde sein Herz von alten Erinnerungen zerrissen, sein Bündel zusammen, greinte ein »gute Nacht, Kapitän, Kapitän. Ich verlasse Euch ohne Groll!«, gab auf der Türtreppe draußen zum Abschied dem kleinen Midshipman einen Nasenstüber und eilte dann in grinsendem Triumph die Straße hinunter.

Der Kapitän, der jetzt sich selbst überlassen war, nahm seine Zeitung wieder auf, als sei nichts Ungewöhnliches oder Unerwartetes vorgefallen und las mit dem größten Eifer fort. Aber er verstand kein Wort von dem vielen Gelesenen, denn durch das ganze Blatt rannte Rob der Schleifer die eine Spalte hinauf und die andere wieder hinunter.

Es ist zweifelhaft, ob sich der würdige Kapitän früher je so ganz verlassen gefühlt hatte, wie jetzt. Der alte Sol Gills, Walter und die Herzensfreude waren jetzt in der Tat für ihn verloren, und Mr. Carker, der ihn getäuscht hatte, verhöhnte ihn noch außerdem aufs grausamste. Sie alle fanden eine böse Ergänzung in dem falschen Rob, dem er so oft die warmen Empfindungen seines Herzens mitgeteilt, dem er Vertrauen geschenkt und dem er so gerne geglaubt hatte. Rob war für ihn, nachdem er seine alte Schiffsgesellschaft verloren, ein Gefährte gewesen. Ihn zu seiner Rechten hatte er das Kommando des kleinen Midshipman übernommen, und auf die Anhänglichkeit des Jungen bauend, war es ihm in der Güte seines Herzens fast vorgekommen, als seien sie beide schiffbrüchig und nach einem öden Platze verschlagen worden. Jetzt aber hatte derselbe treulose Rob Mißtrauen, Verrat und Gemeinheit in das kleine Stübchen gebracht, das bisher eine Art Heiligtum gewesen, und der Kapitän würde sich nicht gewundert haben, wenn auch dieses versunken wäre oder ihm sonst große Not bereitet hätte.

Deshalb las Kapitän Cuttle die Zeitung mit so tiefer Aufmerksamkeit, ohne etwas zu begreifen. Deshalb sagte er durchaus nichts über Rob zu sich selbst; ja, er gestand sich nicht einmal zu, daß er an ihn dachte, und wollte nicht in der entferntesten Weise anerkennen, daß Rob mit seinen Gefühlen, die mit denen des einsamen Robinson Crusoe zu vergleichen waren, etwas zu schaffen haben.

In der gleichen ruhigen, geschäftsmäßigen Weise ging der Kapitän noch spät nach Leadenhall Market hinüber und traf mit einem daselbst im Dienst aufgestellten Wächter die Übereinkunft, daß er jeden Abend und Morgen komme, um die Läden zu schließen und zu öffnen. Dann begab er sich nach dem Speisehaus, um die eine Hälfte der bisher an den Midshipman gelieferten täglichen Ration, und in das Wirtshaus, um das Bier des Verräters abzubestellen. »Mein junger Mann«, bemerkte der Kapitän gegen die junge Dame in der Schenkstube, »mein junger Mann hat sich verbessert, Miß,« Schließlich nahm er sich vor, von dem Bett unter dem Ladentisch selbst Besitz zu nehmen und, statt droben, als einziger Wächter des Eigentums hier zu schlafen.

Aus diesem Bett erhob sich fortan Kapitän Cuttle täglich und klappte um sechs Uhr morgens mit der trostlosen Miene Crusoes, der seine Toilette mit der Ziegenfellmütze beendigt, seinen Glanzhut auf den Kopf. Zwar hatte sich seine Furcht vor einem Besuch des Wildenstamms Mac Stinger wie bei jenem einsamen Gestrandeten die Besorgnis vor einem Einfall der Kannibalen durch die Zeit, die keine Abzeichen von solcher feindlichen Nähe blicken ließ, abgekühlt. Trotzdem fuhr er aber aus Gewohnheit in seinen Abwehroperationen fort, und es kam nie ein Weiberhut durch die Straße, ohne daß er ihn von seinem sichern Kastell aus gemustert hätte. Inzwischen begann sogar seine eigene Stimme für seine Ohren ein fremder Ton zu werden (Mr. Toots hatte ihm nämlich die briefliche Mitteilung gemacht, daß er sich nicht in London befinde). Auch mußte er bei dem Polieren und Verstauen der Vorräte, bei dem Lesen hinter dem Ladentisch oder beim Hinausschauen zum Fenster so viel denken, daß ihn bisweilen sogar der rote Rand, den der harte Glanzhut auf seiner Stirn zurückließ, im Übermaß seiner Betrachtungen schmerzte.

Das Jahr war nun abgelaufen, und Kapitän Cuttle hielt es für passend, das Päckchen zu öffnen. Aber er hatte stets im Sinne gehabt, dies in der Gegenwart Robs, des Schleifers, der es ihm überbrachte, zu tun, weil er der Ansicht war, die Eröffnung könne nur regelmäßig und seegerecht in der Anwesenheit eines Zeugen geschehen. Daß ihm der letztere abging, versetzte ihn in große Not, und die Kunde über die Rückkehr der vorsichtigen Clara, Kapitän John Bunsby, von einer Küstenfahrt, die er in dem Schiffsanzeiger las, bereitete ihm daher die größte Freude. Der Kapitän zögerte nicht, durch die Post einen Brief an diesen Philosophen abzusenden, in dem er Mr. Bunsby seinen Wohnplatz als ein unverletzliches Geheimnis einschärfte und sich einen baldigen Abendbesuch erbat.

Bunsby, der einer von jenen Weisen war, die nur aus Überzeugung handeln, brauchte einige Tage, bis die Überzeugung in seinem Kopfe haftete, er habe einen derartigen Brief erhalten. Als er sich jedoch endlich mit der Tatsache abgefunden hatte und ihrer Herr geworden war, schickte er seinen Jungen mit der Meldung ab – »Heute abend kommt er.« Der Beauftragte, der die Weisung hatte, diese Worte vorzubringen und dann wieder zu verschwinden, erfüllte seine Sendung wie ein mit Teer besudeltes Gespenst, dem es oblag, der betreffenden Person eine geheimnisvolle Warnung zugehen zu lassen.

Der Kapitän war erfreut über diese Nachricht, sorgte für Pfeifen und Grog und erwartete seinen Gast in dem Hinterstübchen. Um acht Uhr verkündete dem Kapitän ein tiefes Brüllen, als ginge es von einer Schiffsirene aus, und das Klopfen eines Stocks an die Ladentür, daß Bunsby neben Bord lag. Der zottige, verwilderte Ehrenmann mit seinem starren Mahagonigesicht wurde sogleich eingelassen. Wie gewöhnlich schien er für nichts in seiner Nähe ein Auge zu haben, sondern irgend etwas, das in einem ganz andern Weltteil vorging, aufmerksam zu beobachten.

»Bunsby«, sagte der Kapitän, ihn bei der Hand nehmend, »wie geht es, mein Junge – wie geht es?«

»Kamerad«, versetzte die Stimme in Bunsby, ohne daß der Kommandeur dabei selbst beteiligt zu sein schien, »ganz gut – ganz gut!«

»Bunsby!« sagte der Kapitän mit ununterdrückbarer Huldigung vor dem Genius seines Gefährten, »endlich seid Ihr hier, ein Mann, der eine Ansicht abgeben kann, die glänzender ist, als Diamanten – ja, gebt mir den Boten, den Burschen mit den Teerhosen, der für mich in dem Licht der Diamanten blitzt. Seht deswegen in Stanfells Budget nach, und wenn Ihr es gefunden habt, so biegt in die betreffende Buchseite ein Ohr ein. Habt Ihr doch hier an diesem Platz ein Gutachten abgegeben, das auf den Buchstaben eingetroffen ist.« Der Kapitän glaubte dies aus dem Grunde seines Herzens.

»So?« brummte Bunsby.

»Auf den Buchstaben«, bekräftigte der Kapitän.

»Warum?« brummte Bunsby, jetzt zum erstenmal seinen Freund ansehend. »In welcher Weise? Und wenn so, warum nicht? Darum.«

Mit diesen orakelhaften Worten – sie schienen den Kapitän fast schwindlig zu machen, da sie ihn auf ein so weites Meer von Mutmaßungen setzten – ließ sich der Weise den Lotsenrock ausziehen und begleitete seinen Freund nach dem Hinterstübchen, wo er sogleich nach der Rumflasche griff und sich ein Glas Steifen anfertigte. Dann langte er nach der Pfeife, füllte Tabak ein, zündete sie an und begann zu rauchen.

Kapitän Cuttle, der in allen diesen Stücken dem Beispiel seines Gastes folgte, obschon er das in sich gekehrte unverwüstliche Wesen des Kommandeurs nicht nachzuahmen vermochte, setzte sich in die andere Ecke des Kamins und sah seinen Gefährten mit hoher Achtung an, als erwartete er von diesem eine Ermutigung oder einen Ausdruck der Neugierde, um sodann auf seine eigenen Angelegenheiten übergehen zu können. Doch der Mahagoni-Philosoph schien nur für die Wärme und den Tabak empfänglich zu sein. Erst als er seine Pfeife entfernte, um für das Glas Platz zu machen, warf er mit ungemeiner Grämlichkeit die Bemerkung hin, daß sein Name Jack Bunsby sei. Diese Erklärung bot freilich nur einen geringen Anhalt für ein Gespräch, weshalb der Kapitän seine Aufmerksamkeit durch eine kurze, schmeichelhafte Einleitung zu fesseln suchte und dann die ganze Geschichte von Onkel Sols Verschwinden nebst dem Wechsel, der infolgedessen in seinen eigenen Verhältnissen herbeigeführt wurde, zu berichten. Zum Schluß legte er das Päckchen auf den Tisch.

Nach einer langen Pause nickte Mr. Bunsby mit dem Kopf.

»Soll ich öffnen?« fragte der Kapitän.

Bunsby nickte abermals.

Demgemäß erbrach Kapitän Cuttle das Siegel und öffnete den Umschlag, der zwei zusammengelegte Blätter mit den Überschriften: »Letzter Wille und Testament von Solomon Gills« – »Brief an Ned Cuttle« – enthielt.

Bunsby schien, das Auge auf die Küste von Grönland geheftet, bereit zu sein, den Inhalt anzuhören. Der Kapitän räusperte sich daher und begann den Brief laut zu lesen.

»›Mein lieber Ned Cuttle. Als ich London verließ, um nach Amerika zu reisen – –‹«

Der Kapitän hielt inne und blickte nach Bunsby hin, der seinerseits die Küste von Grönland nicht aus dem Auge verlor.

– »›und Kunde über meinen lieben Jungen einzuholen, wußte ich wohl, Ihr würdet meine Absicht, wenn ich Euch dieselbe mitteilte, vereiteln oder mich begleiten wollen. Deshalb hielt ich sie vor Euch geheim. Wenn Ihr je diesen Brief lest, Ned, so bin ich wahrscheinlich tot. Ihr werdet dann gerne einem alten Freund seine Torheit vergeben und der Unruhe, mit der er eine so abenteuerliche Reise antrat, Eure Teilnahme nicht versagen. Also nichts mehr davon. Ich habe geringe Hoffnung, daß mein armer Junge je diese Worte lesen oder Eure Augen mit dem Anblick seines offenen Gesichts erfreuen werde.‹ Nein, nein; er tut es nicht«, fügte Kapitän Cuttle in bekümmertem Nachdenken bei: »er tut es nie mehr. Dort liegt er, schon so lange Zeit –«

Mr. Bunsby, der ein musikalisches Ohr hatte, brüllte plötzlich: »in der Bay von Biscay, o!« und dies griff als ein geeigneter Tribut für den Wert des Hingeschiedenen den guten Kapitän so an, daß er seinem Gefährten dankbar die Hand drückte und die Augen wischen mußte.

»Ach ja«, sagte der Kapitän mit einem Seufzer, nachdem Bunsbys Gebrüll an dem Hochlichtfenster verhallt war. »Er hat lange sein schweres Leid mit sich herumgetragen. Wir wollen übrigens nachsehen, was wir weiter darüber finden.«

»Die Doktores haben da wohl nicht viel geholfen«, bemerkte Bunsby.

»Freilich nicht«, sagte der Kapitän. »Was könnten auch diese nützen in zwei- oder dreihundert Faden Wassertiefe.« Dann nahm er den Brief wieder auf und las weiter: »›Wenn er aber bei Eröffnung dieses Schreibens anwesend sein‹«, der Kapitän blickte unwillkürlich umher und schüttelte den Kopf, »›oder sonst zu irgendeiner Zeit davon erfahren sollte –‹« abermaliges Kopfschütteln von seiten des Kapitäns – »›so erteile ich ihm hiermit meinen Segen! Im Fall das beiliegende Papier nicht gesetzlich abgefaßt ist, so liegt nicht viel daran, denn es ist außer Euch und ihm keine beteiligte Person vorhanden, und mein Wunsch besteht einfach darin, daß die geringe Habe, die noch vorhanden ist, wenn er noch lebt – was ich leider nicht zu hoffen wage – auf ihn, andernfalls aber auf Euch komme, Ned. Ich weiß, Ihr werdet meinen Willen achten. Gott segne Euch dafür, wie auch für die viele Freundschaft, die Ihr erwiesen habt Eurem Solomon Gills‹. Bunsby!« fügte der Kapitän mit einer feierlichen Berufung an seinen Gefährten bei, »was denkt Ihr davon? Ihr seid ein Mann, der sich von Kindheit auf stets den Kopf zerbrochen und bei jedem Schädelbruch eine neue Erfahrung hineingekriegt hat. Was denkt Ihr jetzt davon?«

»Wenn er wirklich tot ist«, entgegnete Bunsby mit erstaunlicher Schnelligkeit, »so bin ich der Meinung, daß er nicht wieder zurückkommen wird; lebt er aber noch, so kriegt Ihr ihn ohne Zweifel wieder zu sehen. Sage ich dies für gewiß? Nein. Warum nicht? Weil die Erfahrung daß erst bestätigen muß.«

»Bunsby!« sagte Kapitän Cuttle, der den Wert der Ansichten seines ausgezeichneten Freundes nach der Schwierigkeit ihres Verständnisses zu ermessen schien, in tiefster Bewunderung, »Ihr tragt mit Leichtigkeit eine Last Geist, die einen Mann von meinem Tonnengehalt versenken würde. Aber was das Testament betrifft, so bin ich nicht willens, wegen der Besitznahme des Eigentums Schritte zu tun. Gott verhüte dies! Ich werde es nur aufbewahren, bis sich rechtmäßigere Ansprüche dartun, und hoffe noch immer, daß der alte Sol Gills am Leben ist und zurückkommen wird. So seltsam es auch erscheinen mag, daß keine Nachrichten von ihm eingelaufen sind. Was haltet Ihr davon, Bunsby, wenn wir diese Papiere da wieder wegstauten und auf der Außenseite bemerkten, daß sie an dem und dem Tag in Gegenwart von John Bunsby und Ed’ard Cuttle geöffnet worden seien?«

Da Bunsby weder an der Küste von Grönland noch sonstwo irgendeinen Grund zu Einwendungen gegen diesen Vorschlag bemerkte, so wurde die Sache ausgeführt. Der große Mann wandte sein Auge für einen Moment der Gegenwart zu und brachte die Unterschrift auf den Umschlag, wobei er sich mit charakteristischer Bescheidenheit jeglichen Gebrauchs von großen Buchstaben enthielt. Nachdem Kapitän Cuttle gleichfalls mit seiner linken Hand unterzeichnet und das Paket in die eiserne Truhe eingeschlossen hatte, bat er seinen Gast, sich noch ein Glas und eine Pfeife zu füllen, ging ihm mit gutem Beispiel voran und versenkte sich dann beim Anblick des Feuers in eine Reihe von Betrachtungen über das mögliche Schicksal des armen alten Instrumentenmachers.

Aber jetzt kam eine Überraschung, die auf Kapitän Cuttle so erschreckend und überwältigend wirkte, daß ohne Bunsbys Anwesenheit notwendig eine Niederlage hätte erfolgen müssen und er von Stund‘ an ein verlorener Mann gewesen wäre.

Wie sich der Kapitän sogar in seiner Freude über einen solchen Gast die Nachlässigkeit zuschulden kommen lassen konnte, die Tür nur zuzudrücken und nicht abzusperren, das ist eine von jenen Fragen, die wir für immer der Vermutung oder den unbestimmten Anschuldigungen des Schicksals überlassen müssen. Genug, daß in jenem ruhigen Augenblick durch die unverschlossene Tür Mrs. Mac Stinger in die Stube hereinwehte. Sie trug in ihren mütterlichen Armen den jugendlichen Alexander Mac Stinger, und in ihrem Gefolge waren Verwirrung und Rache, nicht zu gedenken der Miß Juliana Mac Stinger und ihres Bruders Charles Mac Stinger, der auf den Tummelplätzen seiner jugendlichen Spiele nur unter dem Namen Kuhlen bekannt war. Ihr Eintritt war so schnell und geräuschlos wie das Rauschen des Windes in der Nähe der Ostindiendocks gewesen, und Kapitän Cuttle hatte sie kaum zu Gesicht bekommen als sein ruhiges gedankenvolles Gesicht plötzlich den Ausdruck des Schreckens und Entsetzens annahm.

Sobald er jedoch die volle Ausdehnung seines Mißgeschicks begriff, bewog ihn die Pflicht der Selbsterhaltung zu einem schleunigen Fluchtversuch. Er eilte nach der kleinen Tür hin, die von dem Stübchen aus nach der steilen Kellertreppe führte, und wollte diese kopfüber hinuntereilen, wie ein Mann, der, gleichgültig gegen Beulen und Quetschungen, es nur darauf abgesehen hat, sich in den Eingeweiden der Erde zu verbergen. Diese mutige Anstrengung wäre ihm auch wahrscheinlich gelungen, wenn ihn nicht die liebevollen Wesen Juliana und Kuhlen, von denen jedes ihn an einem Bein hielt, mit kläglichem Geschrei als ihren Freund zurückgerufen hätten. Mittlerweile verrichtete Mrs. Mac Stinger, die sich nie auf eine wichtige Handlung einließ, ohne zuvor Alexander Mac Stinger umzukehren, eine scharfe Batterie von Klopsen gegen ihn spielen zu lassen und ihn dann zur Abkühlung auf den Boden zu setzen, wie ihn der Leser zum ersten Male erblickt hat – diese feierliche Zeremonie, als ob sie ihn bei gegenwärtigem Anlaß den Furien opfern wollte. Dann wandte sie sich mit voller Entschlossenheit auf den Kapitän zu, die den sich ins Mittel legenden Bunsby mit der Schärfe der Nägel zu bedrohen schien.

Das Geschrei der beiden älteren Mac Stinger und das Gewinsel des jungen Alexander, der sozusagen eine schreckliche Kindheit verleben mußte, sintemal er während der Hälfte dieser schönen Daseinsperiode in seinem Gesicht alle Farben des Regenbogens zeigte, trug dazu bei, diese Heimsuchung um so furchtbarer zu machen. Der Schrecken hatte seinen Höhepunkt erreicht, als wieder Stillschweigen herrschte und der Kapitän mit großen Schweißtropfen auf der Stirn mit demütiger Miene Mrs. Mac Stinger gegenüber stand.

»O, Kapt’n Cuttle, Kapt’n Cuttle«, rief Mrs. Mac Stinger, ihr Kinn in eine starre Haltung bringend und im Einklang mit dieser das schüttelnd, was man, wenn die Schwäche ihres Geschlechtes nicht wäre, ihre Faust nennen könnte, »O, Kapt’n Cuttle, Kapt’n Cuttle, wagt Ihr es, mir noch ins Gesicht zu sehen, ohne in die Erde zu versinken?

Der Kapitän, der nichts weniger als waghalsig aussah, murmelte leise vor sich hin:

»Halt bei!«

»O, was war ich für eine schwache vertrauensvolle Törin, als ich Euch unter mein Dach aufnahm, Kapitän Cuttle!« fuhr Mrs. Mac Stinger fort. »Schon der Gedanke an die Wohltaten, mit welchen ich diesen Mann überhäufte, und an die Art, wie ich meine Kinder erzog, daß sie ihn liebten und ehrten, als ob er ihr Vater wäre, während es keinen Hauswirt und keinen Mieter in unserer Straße gibt, der nicht wüßte, daß ich durch diesen Mann und sein Gegurgel und Gewurgel« – das letztere Wort brauchte Mrs. Mac Stinger mehr zur Verstärkung und der Lautmalerei halber, als um irgendeine Idee damit auszudrücken – »mein Geld verlor. Sie rufen jetzt alle samt und sonders pfui über ihn aus, weil er eine fleißige Flau verlassen hat, die früh und spät tätig ist für das Beste ihrer jungen Familie und ihr bescheidenes Haus so reinlich hält, daß jeder sein Mittagessen und, wenn er Lust hätte, auch seinen Tee auf jedem Stubenboden und jeder Treppe einnehmen könnte, trotz all seines Gegurgels und Gewurgels: denn so viel Sorge und Mühe habe ich mir um seinetwillen gemacht!«

Mrs. Mac Stinger hielt inne, um wieder zu Atem zu kommen, und ihr Gesicht glühte triumphierend ob dieser zweiten glücklichen Anführung von Kapitän Cuttles Gewurgel.

»Und er geht fo–o–o–rt!« rief Mrs. Mac Stinger, die letzte Silbe in einer Weise dehnend, daß der unglückliche Kapitän sich als den gemeinsten aller Menschen betrachten mußte, »und bleibt zwölf Monate aus! Ist das ein Gewissen? Er hat nicht den Mut, mir keck entgegenzutreten, sondern schleicht sich weg, wie ein Di–i–eb« – wieder lange Silbe. »Wenn mein Bübchen da«, fügte Mrs. Mac Stinger mit plötzlicher Hast bei, »es versuchen wollte, sich so fortzustehlen, so würde ich meine Mutterpflicht an ihm erfüllen, bis es über und über mit Schwielen bedeckt wäre.«

Der junge Alexander, der diese Worte als eine bestimmte Zusage deutete, die bald in Erfüllung gehen würde, überpurzelte sich vor Furcht und Schrecken, so daß er seine Schuhsohlen in die Höhe streckte, und begleitete diese Bewegung mit einem so betäubenden Geschrei, daß es Mrs. Mac Stinger nötig fand, ihn auf ihre Arme zu nehmen, wo sie ihn, so oft er wieder losbrach, durch ein Schütteln beruhigte, das alle seine Milchzähne zum Wackeln bringen konnte.

»Ja, ein sauberer Mann, dieser Kapt’n Cuttle«, sagte Mrs. Mac Stinger mit einem scharfen Nachdruck auf der ersten Silbe seines Namens, »und es war wohl der Mühe wert, daß man sich um ihn kümmerte, um seinetwillen den Schlaf verlor, für ihn sich abzehrte, ihn sogar für tot hielt und wie toll die ganze Stadt auf- und abrannte, um nach ihm zu fragen! O, ein sauberer Mann! Ha, ha, ha, ha! Er verdient all diesen Schmerz und dieses Herzeleid, ja, noch viel mehr. Gott behüte, dies ist noch nichts! Ha, ha, ha, ha! – Kapt’n Cuttle«, fügte Mrs. Mac Stinger mit großer Strenge in Ton und Wesen bei, »ich wünsche zu wissen, ob Ihr wieder nach Hause kommen wollt.«

Der erschreckte Kapitän schaute in seinen Hut hinein, als sehe er keine andere Möglichkeit, als ihn aufzusetzen und sich gefangen zu geben.

»Kapt’n Cuttle«, wiederholte Mrs. Mac Stinger in der gleichen entschiedenen Weise, »ich wünsche zu wissen, ob Ihr nach Hause kommen wollt, Sir!«

Der Kapitän schien vollkommen bereitwillig zu sein, mitzugehen, murmelte aber einige Worte des Inhalts hin, daß sie keinen solchen Lärm darüber aufschlagen solle.

»Ja, ja«, legte sich Bunsby mit beschwichtigendem Ton ins Mittel. »Halt Frieden, mein Mädel, halt Frieden!«

»Und wer mögt Ihr sein, wenn ich fragen darf«, versetzte Mrs. Mac Stinger mit züchtigem Stolz. »Habt Ihr je in Nummer neun Brig-Place gewohnt, Sir? Mein Gedächtnis ist vielleicht schlecht, aber ich denke, bei mir wohntet Ihr nicht. Vor mir gehörte das Haus Nummer neun einer Mrs. Jollson, und vielleicht seht Ihr mich irrtümlicherweise für diese an. Nur in solcher Weise kann ich mir Eure Vertraulichkeit erklären, Sir.«

»Komm, laß das, mein Mädel – halt Frieden!« sagte Bunsby. Kapitän Cuttle konnte es sogar von diesem großen Mann kaum glauben, obschon er es mit weit offenen Augen geschehen sah; aber Bunsby trat keck auf Mrs. Mac Stinger zu, schlang seinen rauhen blauen Arm um sie und begütigte sie durch die magische Art, wie er dies tat, und durch jene paar Worte – er sagte nichts weiter – so sehr, daß sie, nachdem sie ihn einige Augenblicke angesehen hatte, in Tränen zerschmolz. Ihr Mut war dahin, und ein Kind hätte sie jetzt besiegen können.

Vor Erstaunen sprachlos, sah der Kapitän zu, wie Mr. Bunsby diese unerbittliche Frau allgemach in den Laden hinaus expedierte, dann zurückkehrte, um Grog und ein Licht zu holen, beides ihr brachte und sie in solcher Weise begütigte, ohne daß er hierzu nur ein Wort zu brauchen schien. Dann kam er wieder in seinem Lotsenrocke herein und bemerkte: »Cuttle, ich bin im Begriffe, die alte Fracht heimzulotsen.«

Der Kapitän hätte nicht überraschter sein können, wenn man ihn selbst zum sicheren Transport nach Brig-Place in Fesseln gelegt hätte, als jetzt, da er die Familie mit Mrs. Mac Stinger an der Spitze friedlich abziehen sah. Er hatte kaum Zeit, seine Zinnbüchse herunterzunehmen und verstohlenerweise Juliana Mac Stinger, seinem vormaligen Liebling, und Kuhley, der um seines seemännischen Körperbaus willen natürliche Ansprüche an ihn hatte, einige Geldstücke in die Hand zu drücken, als der Midshipman schon von allen verlassen war und Bunsby als der Nachtrab des Häufleins die Tür hinter sich zudrückte, nachdem er zuvor dem Kapitän zugeflüstert, er wolle es schon recht machen und Ned Cuttle wieder aufsuchen, ehe er an Bord gehe.

Als der Kapitän wieder nach dem kleinen Stübchen zurückkehrte und sich daselbst allein fand, gab er anfangs der unruhigen Vorstellung Raum, er müsse wohl im Schlaf gewandelt oder mit Gespenstern und nicht mit einer Familie von Fleisch und Blut verkehrt haben. Dann folgte ein grenzenloses Vertrauen zu dem Kommandeur der vorsichtigen Clara, und die Bewunderung vor diesem großen Genius versetzte den Kapitän eigentlich in ein verzücktes Träumen. Gleichwohl begannen in dem Kapitän unruhige Bedenken anderer Art aufzutauchen, als die Zeit fortschritt, ohne daß Bunsby wieder erschien. War dieser wohl arglistig nach Brig-Place verlockt und daselbst als Geisel für seinen Freund in sichere Verwahrung genommen worden? In diesem Fall wurde es für den Kapitän Ehrensache, ihn durch Aufopferung seiner eigenen Freiheit zu erlösen. Hatte Mrs. Mac Stinger einen Angriff auf ihn gemacht, ihn geschlagen, und wollte er aus Scham über seine Niederlage sich nicht zeigen? War Mrs. Mac Stinger in der Wandelbarkeit ihrer Gemütsart auf andere Gedanken gekommen und vielleicht umgekehrt, um den Midshipman abermals zu erobern, während Bunsby unter dem Vorwande, sie einen kürzeren Weg zu führen, sich alle Mühe gab, die Familie in den abenteuerlichen wilden Plätzen der City so zu verwirren, daß sie nicht mehr wußte, wohin sie sich wenden sollte? Vor allem aber, was sollte Kapitän Cuttle tun für den Fall, daß er weder von den Mac Stingers, noch von Bunsby wieder etwas hörte? Denn unter einer so wundervollen und unvorhergesehenen Verkettung der Ereignisse ließ sich eine derartige Möglichkeit wohl denken.

Er ging mit sich zu Rate, bis er müde war; aber noch immer erschien kein Bunsby. Er hielt sein Bett unter dem Ladentisch bereit, damit er sich nur hineinzubugsieren brauchte; aber noch immer kein Bunsby. Nachdem ihn endlich der Kapitän für diesen Abend wenigstens schon aufgegeben und seine Kleider abzulegen angefangen hatte, ließ sich das Rasseln eines Wagens, der an der Tür haltmachte, und unmittelbar darauf Bunsbys Ruf vernehmen.

Der Kapitän zitterte bei dem Gedanken, er könnte der Mrs. Mac Stinger nicht losgeworden und sie in der Kutsche wieder mitgebracht haben.

Aber nein. Bunsby hatte keine andere Begleitung, als einen großen Koffer, den er mit eigenen Händen in den Laden hineinschaffte, wo er ihn niedersetzte, um darauf Platz zu nehmen. Kapitän Cuttle erkannte darin sogleich sein in Mrs. Mac Stingers Haus zurückgelassenes Eigentum und betrachtete jetzt, das Licht in der Hand, seinen Freund um so aufmerksamer, da er meinte, der späte Ankömmling müsse wohl schief geladen oder mit andern Worten betrunken sein. Es war jedoch schwer, hierüber ins klare zu kommen, da das Gesicht des Kommandeurs auch im nüchternen Zustand durchaus keinen Ausdruck zeigte.

»Cuttle«, sagte der Kommandeur, von dem Koffer aufstehend und den Deckel öffnend, »ist das Euer Zeug?«

Kapitän Cuttle sah hinein und überzeugte sich, daß es seine Habe war.

»Nicht wahr, Kamerad, das ist hübsch knapp und takelfest abgelaufen?« bemerkte Bunsby.

Der von Dank erfüllte Kapitän reichte ihm in seiner Verwirrung die Hand und wollte eben seiner Bewunderung Ausdruck verleihen, als Bunsby sich durch einen Ruck seines Handgelenks wieder losriß und den Versuch machte, mit seinem beweglichen Auge zu blinzeln, obschon in seinem Zustand diese Anstrengung ihn beinahe aus dem Gleichgewicht gebracht hätte. Dann öffnete er plötzlich die Tür und schoß weiter, um mit aller Eile nach der vorsichtigen Clara zurückzukehren – wenigstens war das stets seine Gewohnheit, sooft er etwas Rechtes ausgeführt zu haben meinte. Da Bunsby kein Freund von vielem Zuspruch war, so verzichtete Kapitän Cuttle darauf, am andern Tag zu ihm zu gehen oder nach ihm zu schicken, indem er sich vornahm, eine Weile abzuwarten, ob der Kommandeur nicht selbst etwas von sich hören lassen wolle. Er begann daher am nächsten Morgen wieder seine einsame Lebensweise und machte sich Tag um Tag Gedanken über Sol Gills, über Bunsbys Gutachten und über die Hoffnungen, die er um die Rückkehr des alten Mannes hegte. Letztere steigerten sich, je mehr der Kapitän sich mit ihnen trug, und er ging darin sogar so weit, daß er – wie er jetzt in seiner unerwarteten Freiheit wohl tun durfte – vor der Tür nach dem Instrumentenmacher auslugte, den Stuhl für ihn an seinen Platz stellte und das kleine Stübchen in die alte Ordnung brachte, für den Fall sein Freund unerwarteterweise in der Heimat anlangte. In weiser Vorsorge nahm er auch ein kleines Miniaturbild, das Walter als Schulknaben vorstellte, von seinem Nagel herunter, damit es nicht auf den zurückgekehrten Greis eine allzu erschütternde Wirkung übe. Bisweilen hatte der Kapitän sogar Ahnungen, daß er an diesem und jenem Tag ankommen müsse, und namentlich an einem Sonntag glaubte er seiner Sache so gewiß zu sein, daß er eine doppelte Portion Mittagessen bringen ließ. Aber der alte Solomon erschien nicht, und die Nachbarn bemerkten, daß der Seefahrer in dem Glanzhut den ganzen Nachmittag vor der Ladentür stand, wo er ohne Unterlaß die Straße aufwärts und abwärts schaute.

Neunundfünfzigstes Kapitel.


Neunundfünfzigstes Kapitel.

Vergeltung

Abermalige Wechsel haben das große Haus in der langen öden Straße betroffen, das vordem der Schauplatz von Florences Kindheit und Verwaisung war. Es ist noch immer ein großes Haus, fest gegen Wind und Wetter, ohne Brüche im Dach, ohne zerschlagene Fenster oder eingestürzte Mauern; aber nichtsdestoweniger steht es als eine Ruine da, und die Ratten fliehen daraus.

Mr. Towlinson und Co. sind anfänglich ungläubig in betreff der ungeheuerlichen Gerüchte, die sie vernehmen. Die Köchin sagt, der Kredit unserer Leute sei gottlob nicht so leicht zu erschüttern, als daß es soweit kommen könnte, und Mr. Towlinson erwartete ebensogut mit nächstem zu vernehmen, daß die Bank von England falliert habe oder die Kronjuwelen im Tower verkauft worden seien. Aber zunächst kommt die Zeitung und Mr. Perch; und Mr. Perch bringt Mrs. Perch mit sich, um in der Küche über die Sache zu plaudern und einen angenehmen Abend zu verleben. Sobald kein Zweifel mehr darüber obwaltet, ist es Mr. Towlinsons Hauptfürsorge, den Bankerott zu einem recht guten und runden zu machen – nicht weniger als hunderttausend Pfund. Mr. Perch glaubt nicht einmal, daß hunderttausend Pfund hinreichen werden, ihn zu decken. Die Frauen wiederholten unter Mrs. Perchs und der Köchin Anführung oft die Worte »hunderttausend Pfund« mit schauerlicher Selbstbefriedigung, als ob es mit dem Gelde ebenso leicht abgetan sei, und die Hausmagd, die ein Auge auf Mr. Towlinson hat, wünscht, dem Mann ihrer Wahl nur den hundertsten Teil dieser Summe mitbringen zu können. Mr. Towlinson, der das ihm früher zugefügte Unrecht noch immer nicht vergessen hat, ist der Ansicht, ein Ausländer würde kaum wissen, was er mit so viel Geld anfangen müsse, wenn er es nicht auf seinen Bart verwende – ein bitterer Sarkasmus, der die Hausmagd bewegt, sich in Tränen zurückzuziehen.

Aber nicht um lange abwesend zu bleiben, denn die Köchin, die in dem Ruf ungemeiner Gutherzigkeit steht, macht jetzt den Vorschlag, sie wollen zusammenhalten, denn man könne nicht wissen, wie bald sie getrennt würden. »Sie hätten in diesem Hause«, sagt die Köchin – »ein Leichenbegängnis, eine Hochzeit und Entführung erlebt, und man solle ihnen nicht nachreden, daß sie in einer Zeit, wie die gegenwärtige, unter sich uneinig geworden seien.« Mrs. Perch ist von dieser beweglichen Anrede im hohem Grade gerührt und drückt offen ihre Ansicht aus, daß die Köchin ein Engel sei. Mr. Towlinson antwortet der Köchin, er sei weit entfernt, einer so wünschenswerten guten Gesinnung im Weg zu stehen, und bricht sodann auf, um die Hausmagd zu suchen, die er bald darauf am Arm zurückbringt. Er teilt den in der Küche Anwesenden mit, daß er mit den Ausländern nur gespaßt habe und daß er und Anna jetzt entschlossen seien, sich gegenseitig für gute und schlimme Tage zu nehmen und auf dem Oxford-Markte einen Gemüsehandel anzufangen, für den ihre geneigte Kundschaft erbeten werde. Diese Ankündigung wird mit großem Beifall aufgenommen, und Mrs. Perch, deren Auge in die Zukunft blickt, sagt der Köchin mit feierlichem Flüsterton ins Ohr: »Mädchen!«

Ein Familienunglück konnte in diesen unteren Regionen nicht ohne Festessen abgehen. Die Köchin tischte daher einige warme Gerichte zum Nachtessen auf, und Mr. Towlinson fertigte einen Hummersalat an, der demselben gastlichen Zwecke dienen soll. Sogar Mrs. Pipchin zieht, durch die Kunde aufgeregt, an der Klingel und läßt hinunter sagen, man solle ihr die übrig gebliebenen Pfannkuchen wärmen und ihr ein Quart Glühwein bringen, da sie sich elend fühle.

Es wird von Mr. Dombey gesprochen, aber nicht viel, und man behandelt dabei hauptsächlich die Mutmaßung, wie lange er wohl gewußt habe, daß es so kommen werde. Die Köchin wirft die schlaue Bemerkung hin: »O, Gott behüt euch, schon lange, darauf könnt Ihr schwören,« und da auch Mr. Perch darüber vernommen wird, so bestätigt er ihre Ansicht von dem Fall. Jedermann wundert sich, was er wohl anfangen und ob er sich vielleicht nach einer Stellung umsehen wird. Mr. Towlinson glaubt es nicht und deutet auf einen Zufluchtsort in einem der gentilen Armenhäuser besserer Art hin. »Ah, Ihr wißt«, sagte die Köchin kläglich, »wo er seinen kleinen Garten haben wird und im Frühjahr Zuckererbsen ziehen kann.« »Ganz richtig«, sagt Mr. Towlinson, »er geht dann vielleicht unter die Brüder.« »Wir sind alle Brüder«, sagt Mrs. Perch, während sie beim Trinken eine Pause macht. »Mit Ausnahme der Schwestern«, sagt Mr. Perch. »Wie sind doch die Mächtigen gefallen!« bemerkt die Köchin. »Hochmut kommt vor dem Fall«, meint die Hausmagd; »so war es stets und wird es immer sein!«

Es ist wunderbar, wie wohl sie sich bei Anstellung dieser Betrachtungen fühlen und wie christliche Einmütigkeit unter ihnen herrscht, wo es gilt, den gemeinschaftlichen Schlag mit Ergebung zu tragen. Diese treffliche Stimmung erleidet nur eine einzige Störung durch die junge Küchenmagd untergeordneten Ranges mit blauen Strümpfen, die, nachdem sie lange Zeit mit offenem Munde dagesessen, unerwartet sich der Worte entledigt: »Wenn aber gar der Lohn nicht ausbezahlt würde!« Die Gesellschaft ist einen Augenblick völlig sprachlos; dann aber wendet sich die Köchin, die sich zuerst wieder erholt, an die junge Weibsperson und fragt sie, wie sie sich unterstehen könne, durch einen so unehrenhaften Argwohn die Familie zu beschimpfen, deren Brot sie esse, und ob sie glaube, daß jemand nur mit einem Funken Ehrgefühl arme Dienstboten um ihren Liedlohn betrügen werde. »Wenn dies Eure religiöse Gesinnung ist, Mary Daws«, sagt die Köchin mit großem Eifer, »so weiß ich nicht, wohin es mit Euch kommen wird, nach oben oder unten.«

Mr. Towlinson weiß es auch nicht: niemand weiß es, und die junge Küchenmagd, die selbst nicht mit sich darüber im klaren zu sein scheint und jetzt hören muß, wie die allgemeine Stimmung sich gegen sie erhebt, gerät in die größte Verwirrung.

Nach einigen Tagen beginnen fremde Personen einzusprechen und sich im Salon zu gebärden, als ob sie da zu Hause seien. Namentlich macht sich ein Gentleman von mosaisch-arabischem Gesichtsschnitt mit einer schweren Uhrkette sehr bemerkbar, denn während er auf den andern Gentleman wartet, der immer Feder und Tinte in der Tasche mit sich führt, pfeift er in dem Salon und fragt Mr. Towlinson mit der vertraulichen Bezeichnung »alter Hahn«, ob er nicht wisse, was die Scharlach- und Goldbehänge gekostet haben mögen, als sie neu gekauft wurden. Die Besuche und Bestellungen in dem Speisezimmer werden mit jedem Tage zahlreicher, und die Gentlemen, die Feder und Tinte in der Tasche mitbringen, scheinen einigen Anlaß zu finden, von ihrem Schreibmaterial Gebrauch zu machen. Endlich ist von einem Ausverkauf die Rede. Dann kommen noch mehr Leute mit Feder und Tinte in den Taschen und führen eine Abteilung von Männern mit Strohmützen ein, die augenblicklich die Teppiche aufzunehmen anfangen, das Möbelwerk umherwerfen, und in der Halle und auf der Treppe Abdrücke von ihren Schuhen in Tausenden zurücklassen.

Der Küchenrat hält diese ganze Zeit über Konklave und verrichtet, da er nichts zu tun hat, wahre Heldentaten im Essen, bis endlich eines Tags das ganze Gremium nach Mrs. Pipchins Zimmer beschieden und von der schönen Peruvianerin folgendermaßen angeredet wird:

»Euer Gebieter ist in Bedrängnis«, sagt Mrs. Pipchin scharf. »Ihr wißt es vermutlich.«

Mr. Towlinson als Sprecher räumt die Kenntnis der Tatsache im allgemeinen ein.

»Und ich stehe dafür, ihr seid alle für euch selbst auf dem Lugaus«, sagt Mrs. Pipchin, den Kopf schüttelnd.

Eine schrille Stimme von hinten ruft:

»Nicht mehr als Ihr!«

»Ist dies Eure Meinung, Mrs. Unverschämt –he?« sagt die zornmütige Pipchin, mit wildem Blick über die dazwischen befindlichen Köpfe hinschauend.

»Ja, Mrs. Pipchin, sie ist’s«, versetzte die Köchin vortretend. »Und was weiter, wenn ich fragen darf?«

»Nur so viel, daß Ihr gehen könnt, sobald es Euch beliebt«, sagt Mrs. Pipchin. »Je eher, desto besser; und ich hoffe, ich werde Euer Gesicht nie wieder sehen.«

Mit diesen Worten zieht die mannhafte Pipchin einen leinenen Beutel hervor und zahlt ihr den Lohn auf einen Monat und darüber aus, hält aber das Geld fest, bis die Quittung auf den letzten Strich hin richtig unterzeichnet ist, und läßt es dann brummend los. Dieses Verfahren wiederholt sie bei jedem Mitglied des Haushalts, bis alle bezahlt sind.

»Wer will, kann jetzt an sein Geschäft gehen,« sagt Mrs. Pipchin. »Diejenigen, die Lust haben, mögen gegen Kostgeld noch eine Woche oder so hier bleiben und sich nützlich machen. Ausgenommen«, fügte die reizbare Pipchin bei, »jene Schlumpe von einer Köchin, die augenblicklich fort muß.«

»Sie wird zuverlässig nicht säumen«, sagt die Köchin. »Guten Tag, Mrs. Pipchin, und ich wünsche aus aufrichtigem Herzen, daß ich Euch über die Holdseligkeit Eures Aussehens ein Kompliment machen könnte.«

»Fort mit Euch!« ruft Mrs. Pipchin und stampft mit dem Fuße.

Die Köchin segelt mit der Miene behaglicher Würde ab; sie ist sehr aufgebracht über Mrs. Pipchin, und bald nachher sammelt sich unten der Rest der Verbindung um sie.

Mr. Towlinson sagt sodann, daß er zuvörderst eine kleine Mahlzeit beantragen möchte, bei der er eine Andeutung kundgeben wolle, die seiner Meinung nach gut auf die Lage passe, in der sie sich befänden. Die Erfrischung wird beigeschafft und findet kräftigen Zuspruch. Mr. Towlinson meint nun, die Köchin gehe und wenn sie nicht sich selbst treu blieben, so werde ihnen niemand treu sein. Sie hätten im Hause so lang gelebt und sich alle Mühe gegeben, unter sich gesellschaftlich zu sein. (Die Köchin erwiderte hierauf mit Erregung »hört, hört!«, während Mrs. Perch, die wieder dabei und bis an den Hals vollgepfropft ist, in Tränen ausbricht.) Er glaube deshalb, in einer solchen Zeit müsse das Gefühl vorherrschen: »Geht eines, so gehen alle.« Die Hausmagd ist von dieser edlen Gesinnung sehr ergriffen und spricht ihr mit Wärme das Wort. Die Köchin fühlt, daß er recht habe, und hofft, es geschehe nicht als Kompliment gegen sie, sondern aus Pflichtgefühl. Mr. Towlinson versetzt: aus Pflichtgefühl; und da er sich jetzt gedrungen sehe, seine Ansichten auszusprechen, so wolle er offen sagen, daß er es nicht für achtbar halte, in einem Hause zu bleiben, wo Ausverkäufe und dergleichen Dinge vorkommen. Die Hausmagd ist davon vollkommen überzeugt und berichtet zur Bekräftigung, daß ein fremder Mann in einer Strohmütze erst sie auf der Treppe habe küssen wollen. Mr. Towlinson springt jetzt von seinem Tisch auf, um den Verbrecher zu suchen und ›niederzulegen‹, wird aber von den Damen zurückgehalten, die ihn bitten, er möchte sich doch beruhigen und in Erwägung ziehen, daß es leichter und klüger sei, den Schauplatz solcher Unanständigkeiten unverweilt zu verlassen. Mrs. Perch, die den Fall in einem neuen Licht darstellt, weist sogar nach, das Zartgefühl gegen Mr. Dombey, der sich in seinem Zimmer einschließe, fordere gebieterisch einen schleunigen Rückzug. »Denn welcher Art«, sagte die gute Frau, »müssen seine Gefühle sein, wenn er einem von den armen Dienstboten begegnet und sich den Vorwurf machen muß, er habe sie getäuscht, indem er sie auf den Glauben brachte, daß er unermeßlich reich sei!« Der Köchin leuchtet diese moralische Rücksicht so sehr ein, daß Mrs. Perch sie mit unterschiedlichen frommen Sprüchen, originell sowohl, als gesammelt, zu belegen sucht. Der Fall stellt sich klar heraus, daß sie alle gehen müssen. Die Koffer werden gepackt, Wagen geholt, und um die Zeit der Dämmerung sieht man kein Mitglied des ganzen Häufleins mehr im Hause.

Das Haus steht da, groß und wetterfest, in der langen öden Straße, aber es ist eine Ruine, und die Ratten fliehen daraus.

Die Männer in den Strohkappen werfen die Möbel umher, und die Gentlemen mit Tinte und Feder fertigen Inventarien darüber an, setzen sich auf Gerätschaften, die nie zum Sitzen gemacht worden sind, essen Brot und Käse, die sie aus dem Wirtshaus beschaffen lassen, auf andern Möbelstücken, die ebensowenig ursprünglich zu solchem Zwecke bestimmt waren, und scheinen eine Freude daran zu haben, wertvolle Artikel in der befremdlichsten Art zu gebrauchen. Auch findet unter dem Hausrat eine eigentlich chaotische Verwirrung statt. Matratzen und Betten verlieren sich in das Speisezimmer; das Glas und das Porzellan gelangen in die Speisekammer, das große Dinerservice ist auf dem langen Diwan des Besuchszimmers aufgehäuft, und die Treppendrähte, die in Bündel zusammengebunden sind, zieren die marmornen Kaminsimse. Zuletzt wird ein wollener Teppich mit einem gedruckten Zettel darauf vor dem Balkon ausgehängt, und ähnliche Banner wehen zu beiden Seiten der Hallentür.

Den ganzen Tag über harren verschimmelte Gigs und Wägelchen in der Straße. Herden von schäbigen Vampyren jüdischer und christlicher Abkunft überlaufen das Haus, untersuchen die Dicke der Spiegeltafeln mit ihren Knöcheln, schlagen auf dem großen Piano mißtönige Oktaven an, fahren mit angefeuchtetem Zeigefinger über die Gemälde, hauchen die Klingen der besten Tischmesser an, zerklopfen die Roßhaarpolster der Sessel und Sofas mit ihren schmutzigen Fäusten, lüften die Federbetten, öffnen und schließen alle Schubladen, wägen die silbernen Löffeln und Gabeln in den Händen, sehen sogar durch die Fäden vom Bett- und Tischzeug und verachten alles. Es gibt kein geheimes Plätzchen im ganzen Haus. Schnupftabaknasige Fremde glotzen mit gleicher Neugierde in den Küchenkasten, wie in die Kleiderschränke der Dachkammern hinein. Stämmige Männer mit abgerutschten Hüten auf den Köpfen schauen zu den Schlafzimmern hinauf und rufen ihren Freunden auf der Straße drunten Späße zu. Ruhige, berechnende Geister ziehen sich mit Listen in die Ankleidegemächer zurück und machen mit Bleistiftstümpfchen Randbemerkungen. Zwei Makler dringen sogar in den Schornstein ein und nehmen vom Dachgiebel aus eine panoramische Übersicht über die Nachbarschaft. Das Schwärmen, Summen und Auf- und Niedergehen dauert Tage lang. Der moderne Hausrat usw. ist zur Schau ausgestellt.

In dem besten Salon sieht man eine Palisade von Tischen, und auf der französisch polierten Mahagoni-Auszugstafel, die ihre Füße in die Höhe reckt, steht das Pult des Auktionators. Die Herden schäbiger Vampyre jüdischer und christlicher Abkunft, die schnupftabaknasigen Fremden und die stämmigen Männer mit den abgerutschten Hüten sammeln sich darum her, sitzen auf alles in ihrem Bereich, selbst die Kaminsimse nicht ausgenommen, und fangen an zu bieten. Den ganzen Tag über geht in den heißen, staubigen Zimmern das Gesumme fort, und hoch über der Hitze, dem Staub und dem Gesumme sind Kopf, Schultern, Stimme und Hammer des Auktionators in steter Tätigkeit. Die Männer in den Strohmützen werden von dem Umherwerfen der Gegenstände verwirrt und boshaft, und doch gehen die Nummern fort, zum ersten, zum zweiten und dritten Mal. Mitunter fällt ein Witz, der einen allgemeinen Beifallsdonner hervorruft. So geht es den ganzen Tag und die drei folgenden. Der moderne Hausrat usw. wird versteigert.

Die verschimmelten Gigs und Wägelchen kommen wieder, und mit ihnen Schubkarren und andere Fuhrwerke nebst einer Armee von Lastträgern. Den ganzen Tag über machen sich die Strohmützen-Männer mit Schraubenziehern zu schaffen, stolpern zu Dutzenden unter schweren Lasten auf der Treppe, oder heben wahre Felsmassen von spanischem Mahagoni, bestem Rosenholz oder Tafelglas in die Gigs und Wägelchen. Alle Arten von Lastfuhrwerken stehen auf der Wache, von dem beplanten Frachtwagen an bis zum Schubkarren herunter. Die kleine Bettstatt des armen Paul wird in einem Eselkarren fortgeführt. Fast eine Woche lang dauert die Abführung des modernen Hausrats usw.

Endlich ist alles fort, und im Hause sieht man nichts mehr als umhergestreute Blätter von Listen, Reste von Heu und Stroh, und eine Batterie von Zinnkannen hinter der Hallentür. Die Männer mit den Strohmützen sammeln ihre Schraubenzieher und ähnliche Gerätschaften in Säcke, nehmen sie auf die Schulter und marschieren ab. Einer von den Tinten- und Feder-Gentlemen geht – die letzte Aufmerksamkeit – noch einmal durch das Haus, steckt die Zettel in die Fenster, Vermietung dieses empfehlenswerten Familiensitzes betreffend, und schließt die Läden. Endlich folgt er den Männern mit den Strohmützen. Keiner von den Eindringlingen bleibt zurück. Das Haus ist eine Ruine, und die Ratten sind daraus geflohen.

Die Zimmer der Mrs. Pipchin nebst jenen verschlossenen Gemächern im Erdgeschoß, wo die Fensterladen niedergelassen sind, haben die allgemeine Verwüstung nicht teilen müssen. Hart und streng ist Mrs. Pipchins während dieses Verfahrens in ihrem Zimmer geblieben, oder hat nur hin und wieder einen kurzen Besuch in dem Auktionslokal gemacht, um zu sehen, was für die Gerätschaften erlöst wird, und auf einen besonders gemächlichen Stuhl ein Angebot zu tun. Als höchste Bieterin hat sie den Stuhl erhalten und sitzt eben auf ihrem Eigentum, als Mrs. Chick kommt, um sie zu besuchen.

»Wie geht es meinem Bruder, Mrs. Pipchin?« fragt Mrs. Chick.

»Ich weiß von ihm verteufelt wenig«, versetzt Mrs. Pipchin. »Er erweist mir nie die Ehre, mich anzureden. Sein Essen und Trinken muß in das Vorzimmer gebracht werden, und was ihm davon paßt, holt er, wenn niemand dabei ist. Es führt zu nichts, mich zu fragen. Ich weiß von ihm so wenig als der Mann im Süden, der sich bei kaltem Pflaumenmus den Mund verbrannte.«

Die scharfe Mrs. Pipchin wirft sich in die Brust, während sie dies spricht.

»Aber du mein gütiger Himmel!« ruft Mrs. Chick milde, »wie lang kann es noch fortwähren? Was soll aus meinem Bruder werden, Mrs. Pipchin, wenn er keine Anstrengung machen will? Man sollte wahrhaftig meinen, er hätte Zeit genug gehabt, um die Folgen des Nichtsichanstrengens kennenzulernen und sich gegen diesen verhängnisvollen Irrtum warnen zu lassen.«

»Ei der Tausend«, sagt Mrs. Pipchin, ihre Nase reibend, »ich denke, man macht da allzuviel Wesens. Der Fall ist nicht so verwunderlich. Auch andere Leute haben Unglück gehabt und mußten sich von ihrem Hausgerät trennen. Mir selbst ist es so ergangen.«

»Mein Bruder«, fährt Mrs. Chick gedankenvoll fort, »ist ein so eigener – ein so sonderbarer Mann – der sonderbarste Mann, der mir je vorgekommen. Sollte man’s wohl glauben, daß er, als er die Kunde von der Verheiratung und Auswanderung jenes unnatürlichen Kindes erhielt – es ist mir jetzt ein Trost, wenn ich daran denke, daß ich immer sagte, es sei etwas Außerordentliches an jenem Kind; aber niemand achtete auf mich – ich sage, würde man’s wohl glauben, daß er damals mir Vorwürfe machte und mir entgegenhielt, aus meinem Benehmen sei er auf die Vermutung gekommen, sie befinde sich in meinem Hause. Ach, du mein Himmel! Und würde man’s wohl glauben, daß er, als ich bloß zu ihm sagte, ›Paul, es mag wohl töricht von mir sein, und ich will’s auch nicht in Zweifel ziehen, aber ich kann nicht begreifen, wie deine Angelegenheiten in einen solchen Zustand geraten konnten‹, eigentlich auf mich losfuhr und mir erklärte, ich solle nicht wieder zu ihm kommen, bis er mich bitte! Ach, barmherziger Gott!«

»Ja«, sagte Mrs. Pipchin, »’s ist schade, daß er nicht mehr mit Minen zu schaffen hatte. Sie würden sein Temperament auf die Probe gesetzt haben.«

»Und wie soll es enden?« nimmt Mrs. Chick wieder auf, ohne auf die Bemerkung der Mrs. Pipchin zu achten. »Das möchte ich wissen. Was gedenkt mein Bruder zu tun? Etwas muß geschehen. Es führt zu nichts, wenn er sich in seinen Zimmern absperrt. Das Geschäft kommt nicht zu ihm. Er muß darnach gehen. Aber warum tut er’s nicht? Ich denke, er weiß doch, wie er es anzufangen hat, da er sein ganzes Leben über Geschäftsmann gewesen ist. Gut. Aber warum sieht er sich nicht um?«

Nachdem Mrs. Chick diese gewaltige Kette von Vernunftschlüssen geschmiedet hat, bleibt sie eine Minute stumm, um ihr Machwerk zu bewundern.

»Außerdem«, fährt die verständige Dame in argumentierender Weise fort, »wer hat je von einem solchen Starrsinn gehört, sich während aller dieser Unannehmlichkeiten hier einzuschließen? Man sollte ja meinen, es habe keinen andern Platz gegeben, wohin er gehen können. Natürlich hätte er zu mir kommen können, denn weiß er nicht, daß er bei mir wie zu Hause ist? Mein Mann hat es ihm recht übel genommen, und ich sagte zu ihm: ›Da deine Angelegenheit einmal in einen solchen Zustand geraten sind, Paul, meinst du nicht, du wärest bei so nahen Verwandten, wie wir sind, besser zu Hause? Du wirst doch nicht annehmen, daß wir die übrige Welt sind?‹ Aber nein; da bleibt er die ganze Zeit, und da ist er. Du mein Himmel, wenn nun das Haus vermietet wird, was will er dann tun? Er kann doch nicht hier bleiben. Wollte er es, so liefe es auf eine Ausweisung hinaus, auf ein gerichtliches Verfahren, und dann muß er gehen. Und warum dies nicht lieber anfänglich, da sich’s doch nicht ändern läßt? Dies führt mich wieder auf meine früheren Worte zurück, und ich frage natürlich, wie soll es enden?«

»So weit ich dabei beteiligt bin, weiß ich schon, wie es enden wird«, versetzt Mrs. Pipchin, »und dies ist genug für mich. Ich werde mich selbst abführen, und zwar im Nu.«

»In was, Mrs. Pipchin?« fragt Mrs. Chick.

»Im Nu«, versetzt Mrs. Pipchin mit Schärfe.

»Ah, so! Ich kann Euch freilich nicht darum tadeln, Mrs. Pipchin«, sagt Mrs. Chick mit Offenheit.

»Es wäre mir auch ziemlich gleichgültig, wenn Ihr’s wolltet«, entgegnet die sardonische Pipchin. »Jedenfalls gehe ich. Ich kann nicht hier bleiben, denn in einer Woche hätte ich den Tod davon. Gestern mußte ich meine Schweinsrippchen selber braten, und daran bin ich nicht gewöhnt. Meine Konstitution würde bald erliegen.

Außerdem hatte ich, ehe ich hierher kam, zu Brighton eine recht hübsche Stellung – die kleinen Pankeys trugen mir allein jährlich gute achtzig Pfund ein – und ich kann eine solche Gelegenheit zum Erwerb nicht wegwerfen. Ich habe meiner Nichte geschrieben, und sie erwartet mich bereits.«

»Habt Ihr mit meinem Bruder darüber gesprochen?« fragte Mrs. Chick.

»O ja, es ist gar leicht, mit ihm zu sprechen«, erwidert Mrs. Pipchin. »Und wie ist es geschehen! Ich rief ihm gestern zu, ich sei hier nichts mehr nütze, und es dürfte wohl das geratenste sein, wenn er mich zu Mrs. Richards schicken lasse. Er grunzte irgend etwas, das ein Ja sein sollte, und ich schickte. Jawohl da, grunzen! Wenn er etwa Mr. Pipchin gewesen wäre, so hätte er vielleicht Ursache gehabt zu grunzen. Nein, mit meiner Geduld ist’s zu Ende.«

Die musterhafte Frau, die so viel Standhaftigkeit und Tugend aus den Tiefen der peruvianischen Minen gepumpt hat, erhebt sich jetzt von ihrem gepolsterten Eigentum, um Mrs. Chick an die Tür zu begleiten. Letztere, die bis auf den letzten Augenblick den eigenen Charakter ihres Bruders beklagt, entfernt sich geräuschlos und wünscht sich unterwegs Glück, daß sie selbst so weise und einsichtsvoll ist.

In der Abenddämmerung langt Mr. Toodle, der gerade keinen Dienst hat, mit Polly und einem Koffer an und setzt sie in der Halle des leeren Hauses ab, dessen Verlassenheit auf Mr. Toodles Geist einen mächtigen Eindruck macht.

»Ich will dir was sagen, liebe Polly«, er begleitet diese Worte mit einem schallenden Kuß; »da ich jetzt Maschinenführer bin und mein gutes Auskommen habe, so wäre es mir nicht eingefallen, dich hierher kommen zu lassen, wenn ich nicht der früheren Vergünstigungen gedächte. Freilich kann man hier nur trübsinnig werden; aber was man früher Gutes genossen, Polly, darf man doch nicht vergessen, und außerdem ist schon dein Gesicht für Personen in Bedrängnis eine wahre Herzstärkung. Laß dir noch einmal einen Kuß geben. Ich weiß, du willst nichts als das Rechte, und meine Ansicht ist, daß du hierin recht und pflichtmäßig handelst. Gute Nacht, Polly!«

Inzwischen erscheint, eine düstere Nachtgestalt, Mrs. Pipchin in ihrem schwarzen Bombasinkleid, schwarzem Hut und schwarzem Halstuch. Sie hat ihr persönliches Eigentum aufgepackt, ihren Stuhl (vordem der Lieblingssitz von Mr. Dombey und das letzte Möbelstück in der Versteigerung) in die Nähe der Haustür gebracht und wartet nur noch auf einen Planwagen, der in Privatdiensten am Abend noch nach Brighton gehen und infolge eines gesonderten Vertrags sie aufladen soll.

Das Fuhrwerk bleibt nicht lange aus. Mrs. Pipchins Garderobe wird hinein- und untergebracht; dann kommt ihr Stuhl, der seinen Platz unter gewissen Heubüscheln findet, denn die liebenswürdige Dame beabsichtigt, während der Reise dieses Eigentum sich dienstbar zu machen. Dann wird Mrs. Pipchin selbst hineingeschoben und nimmt grämlich ihren Sitz ein. Es ist ein schlangenartiges Leuchten in ihrem harten Auge, gleichsam ein Vorgefühl von gebutterten Röstschnitten, warmen Rippchen, Plackereien an jungen Kindern, schnippischen Reden gegen die arme Berry und all den übrigen Vergnügungen in ihrem Werwolf-Kastell. Mrs. Pipchin lacht fast, während der Planwagen abfährt, glättet ihre schwarzen Bombasin-Schöße und macht sich’s in den Kissen ihres Armstuhls bequem.

Das Haus ist eine solche Ruine, daß die Ratten geflohen sind, ohne daß auch nur eine einzige zurückblieb.

Aber Polly, obgleich allein in dem verlassenen Hause – denn die verschlossenen Zimmer, in denen ihr früherer Gebieter sein Haupt verbirgt, sind nicht als Gesellschaft zu rechnen – bleibt nicht lange allein. Es ist Nacht. Sie sitzt im Haushälterinzimmer an der Arbeit und versucht die Einsamkeit und die Geschichte des Hauses zu vergessen, als ein Klopfen sich von der Haustür her vernehmen läßt – ein Klopfen, das an dem leeren Platz nur um so lauter zu tönen scheint. Sie öffnet und kehrt mit einer weiblichen Gestalt in einem dicht anschließenden schwarzen Hut nach der dröhnenden Halle zurück. Es ist Miß Tox, die sich mit rotgeweinten Augen einstellt.

»O Polly«, sagt Miß Tox, »als ich vorhin bei Euch vorsprach, um den Kindern eine Stunde zu geben, erfuhr ich die Nachricht, die Ihr mir hinterlassen habt, und sobald ich mich zu fassen vermochte, kam ich zu Euch. Ist denn außer Euch niemand hier?«

»Ach, keine Seele«, versetzt Polly.

»Habt Ihr ihn gesehen?« flüstert Miß Tox.

»Gott behüte, nein«, entgegnet Polly. »Er hat sich schon tagelang nicht blicken lassen. Wie ich höre, kommt er nie aus seinem Zimmer.«

»Man erzählt sich, daß er krank sei?« bemerkt Miß Tox.

»Nein, Ma’am, nicht daß ich wüßte«, erwidert Polly, »es wäre denn geistig. Es muß dem armen Gentleman sehr schwer ums Herz sein!«

Die Teilnahme der Miß Tox ist so groß, daß sie kaum zu sprechen vermag. Sie gehört zwar nicht zu den heurigen Hasen, ist aber doch nicht von Alter und Zölibat zäh geworden. Sie besitzt ein gefühlvolles Herz; ihre Teilnahme ist echt und ihre Huldigung lauter. Unter dem Schloß mit dem Fischauge birgt Miß Tox bessere Eigenschaften, als manche einladendere Außenseite – Eigenschaften, die um viele Sommer länger leben werden, als die glänzendsten Hüllen, die in der Ernte des großen Schnitters fallen.

Es währt lange, bis Miß Tox sich entfernt und Polly mit einem flackernden Licht sie die Treppe hinab bis auf die Straße hinaus begleitet. Nur ungern kehrt letztere in das traurige Haus zurück, denn die schweren Riegel der Tür klirren so trostlos, ehe sie in ihr Bett schlüpft. Am andern Morgen bringt sie in das verödete Zimmer diejenigen Gegenstände, die man ihr anzufertigen aufgetragen hat, zieht sich dann zurück und betritt es nicht mehr bis zum nächsten Morgen um dieselbe Stunde. Es sind Klingeln da, die aber nie geläutet werden, und obschon sie bisweilen auf und ab gehende Fußtritte vernimmt, kommen sie doch nie heraus.

Miß Tor stellt sich am andern Tage früh wieder ein. Sie beginnt nun, kleine Leckerbissen zuzubereiten, die am andern Morgen in das erwähnte Zimmer gebracht werden. Dieses Geschäft macht ihr so viel Freude, daß sie es fortan mit aller Regelmäßigkeit betreibt, denn sie bringt täglich in ihrem Körbchen unterschiedliche Konfitüren mit, die aus den spärlichen Vorräten des abgeschiedenen Eigentümers vom gepuderten Kopf und Haarbeutel stammen. In gleicher Weise trägt sie ihr eigenes Mittagessen mit sich, aus Stückchen kalten Fleisches, Schafszungen, halben Hühnern und dergleichen bestehend, die sie in Fließpapier eingewickelt hat. Diese Erfrischungen teilt sie mit Polly und bringt ihre Zeit meist in der Ruine zu, aus der die Ratten geflohen sind. Sie erschrickt vor jedem Laut und stiehlt sich wie eine Verbrecherin ein und aus, denn sie wünscht nichts, als dem gefallenen Gegenstand ihrer Bewunderung treu zu sein, ohne daß er oder die ganze übrige Welt, ein einziges armes Weib ausgenommen, darum weiß.

Der Major weiß es zwar auch, wird aber nicht klüger daraus, obschon er es sehr belustigend findet. In einem Anfall von Neugierde hat er den Eingeborenen beauftragt, das Haus von Zeit zu Zeit zu beobachten und ausfindig zu machen, wie es mit Dombey stehe. Der Eingeborene hat über die Treue der Miß Tox Bericht erstattet und der Major vor lauter Lachen fast einen Schlaganfall erlitten. Von Stunde an wird er stets blauer und pustet sich unaufhörlich zu, während ihm die Hummeraugen fast aus dem Kopf springen: »Gott verdamm‘ mich, Sir, das Weibsbild ist eine geborene Gans!«

Und der zugrunde gerichtete Mann – wie verbringt er seine einsamen Stunden? Möge er sich des erinnern in jenem Zimmer nach vielen kommenden Jahren. Der Regen, der auf das Dach niederfällt, der Wind, der draußen trauert, drückt wohl in dem wehmütigen Ton eine Ahnung aus. Möge ihn jenes Zimmer daran mahnen nach vielen künftigen Jahren!

Er erinnerte sich daran. In der unglücklichen Nacht, dem traurigen Tag, in der trübseligen Morgendämmerung und in dem gespenstischen, von Erinnerungen umspukten Zwielicht dachte er daran! Er dachte daran mit Schmerz, voll Leid, mit Gewissensbissen und in Verzweiflung! »Papa! Papa! redet mit mir, lieber Papa!« Er hörte die Worte wieder und sah das Gesicht. Er sah, wie es auf die zitternden Hände sank, und hörte, wie sie schluchzend die Treppe hinaufstieg.

Er war gefallen, um nie wieder aufgerichtet zu werden. Für die Nacht seines zeitlichen Untergangs gab es keine Morgensonne, für den Flecken seiner häuslichen Schande keine Reinigung; dem Himmel sei Dank, nichts konnte sein totes Kind wieder ins Leben zurückrufen. Aber dasjenige, was er in der Vergangenheit so ganz anders hätte machen können und was ihm selbst eine so ganz andere Vergangenheit geschaffen haben würde, obgleich er jetzt kaum daran dachte, – das, was sein eigenes Werk war und was ihm seit Jahren zum Fluch geworden, während es so leicht in Segen umzuwandeln gewesen wäre, wurde jetzt zum herben Schmerz seiner Seele.

O, er erinnerte sich. Der Regen, der auf das Dach fiel, der Wind, der draußen trauerte – ihr wehmütiger Ton war ahnungsvoll gewesen. Er wußte, er habe alles selbst auf sein Haupt heruntergerufen, und wurde dadurch tiefer gebeugt, als durch den schwersten Schlag des Schicksals. Er wußte, was es war, verlassen und verstoßen zu sein, jetzt, da jede liebende Blüte, die in dem unschuldigen Herzen seiner Tochter verwelkt war, als Asche auf ihn niederregnete.

Er dachte an sie, wie sie gewesen war in der Nacht, als er mit seiner jungen Frau nach Hause zurückkam. Er dachte an sie, wie sie gewesen während aller der verschiedenen Ereignisse in dem verlassenen Hause. Er dachte jetzt, daß von allem um ihn her sie allein sich nie verändert hatte. Sein Sohn war zum Staub zurückgekehrt, sein stolzes Weib zu einem erbärmlichen Geschöpf geworden; sein Schmeichler und Freund hatte sich in den schlechtesten aller Schurken umgewandelt, sein Reichtum war dahin und sogar die Wände, die ihn schirmten, sahen ihn nur wie einen Fremden an. Sie allein wandte ihm stets den gleichen sanften, milden Blick zu. Ja, bis auf den letzten Augenblick. Sie hatte sich nie gegen ihn – er sich nie gegen sie verändert – und sie war für ihn verloren.

Und der Reihe nach schwanden sie hin vor seinem geistigen Blicke – die Hoffnungen, die er auf seinen Knaben gesetzt, sein Weib, sein Freund, seine Habe – sie schwanden hin wie der Nebel, der ihm das Bild seiner Tochter getrübt hatte, und nachdem derselbe weg war, sah er sie in ihrer wahren Gestalt. O wieviel besser wäre es gewesen, er hätte sie geliebt, wie er seinen Knaben liebte, und sie verloren, wie seinen Knaben – beide zusammen in einem frühen Grabe!

In seinem Stolze – denn er war noch immer stolz – kümmerte er sich nicht darum, daß die Welt sich von ihm zurückzog. Wie sie dies tat, schüttelte auch er sie ab. Mochte er sich dieselbe als mitleidsvoll oder gleichgültig gegen ihn denken, sie war ihm in gleicher Weise zuwider, und er wollte sie so wie so meiden. Er hatte keine Vorstellung von irgendeinem Gefährten in seinem Elend, aber die einzige, die bei ihm ausgehalten haben würde, war von ihm vertrieben worden. Was er zu ihr gesagt oder welchen Trost er von ihr empfangen haben würde, dies vergegenwärtigte er sich nie, obschon er stets in seinem Innern fühlte, daß sie ihm treu geblieben wäre in seinem Leiden. Er wußte, sie würde ihn jetzt mehr geliebt haben, als zu irgendeiner andern Zeit, war so fest davon überzeugt, wie von dem Vorhandensein eines Himmels über ihm, und schleppte sich unter solchen Gedanken durch die Einsamkeit seiner Stunden. Tag um Tag hallte die nämliche Stimme in seinen Ohren, Nacht um Nacht trat ihm dasselbe Bewußtsein vor die Seele.

Es begann ohne Zweifel – wie langsam es auch eine Zeitlang fortschreiten mochte – mit dem Empfang des Briefes von ihrem jungen Gatten und mit der Gewißheit, daß sie fort war. Und doch war er so stolz in seinem Untergang, fühlte er so sehr, es sei etwas, das ihm hätte gehören können, unwiederbringlich verloren, daß er nicht zu ihr hinausgegangen sein würde, selbst wenn er in dem anstoßenden Gemach ihre Stimme gehört hätte. Wäre er ihr auf der Straße begegnet und hätte sie auch nur nach ihm hingeblickt, wie sie sonst zu tun pflegte, so würde er mit dem alten, kalten, unversöhnlichen Gesicht an ihr vorbeigegangen sein, ohne sie anzureden, selbst wenn bald darauf sein Herz gebrochen wäre. Mit welcher Bitterkeit, mit welchem herben Ingrimm er auch anfänglich an ihre Heirat und an ihren Gatten gedacht hatte, war doch jetzt alles vorbei. Er vergegenwärtigte sich hauptsächlich, was hätte geschehen können und was nicht geschehen war. In dem Sein ging alles übrige auf. Sie war ihm verloren, und er beugte sich voll Schmerz und Gewissensbissen.

Er fühlte jetzt, daß ihm zwei Kinder in diesem Haus geboren worden waren und daß zwischen ihm und den kahlen, leeren Wänden ein Band lag, ein schmerzliches zwar, aber doch auch ein schwer zerreißbares, das ihn an eine doppelte Kindheit, an einen doppelten Verlust fesselte. An dem Abend des Tages, an dem dieses Gefühl zum erstenmal in seiner Brust Wurzel gefaßt, hatte er daran gedacht, das Haus zu verlassen, obschon er nicht wußte, wohin; er beschloß jedoch, noch eine Nacht zu bleiben und im Lauf derselben zum letztenmal die Gemächer zu durchwandeln.

Gegen Mitternacht verließ er seine Einsamkeit und ging, ein Licht in der Hand, leise die Treppen hinan. Unter allen den Füßen, die hier ihre Abdrücke zurückgelassen und die Treppe so gemein gemacht hatten, wie die gewöhnliche Straße, war nicht einer, der zu der Zeit, als er in seiner Abgeschlossenheit auf ihren Schall lauschte, nicht den Eindruck auf ihn geübt hätte, als zertrete er ihm das Gehirn. Er sah die zahlreichen Spuren, erkannte daraus die Hast und das Vorwärtsdrängen – ein Fuß hatte das Abzeichen des andern ausgetreten, und so ging’s gegeneinander anprallend aufwärts und abwärts. Mit einer eigentlichen Furcht machte er sich Gedanken, wieviel er während jener Zeit der Prüfung gelitten haben mußte, und welche Gründe für ihn vorhanden waren, ein anderer Mann zu werden. Außerdem vergegenwärtigte er sich, ob es nicht irgendwo in der Welt einen leichten Fußtritt gebe, der in einem Nu die Hälfte dieser Abzeichen auszutilgen vermöchte! Mit gebeugtem Haupte ging er weiter, und Tränen rannen über seine Wangen nieder.

Er sah jenen fast vor sich hergleiten, hielt inne und schaute nach dem Hochlichtfenster hinauf. Eine Gestalt, selbst noch Kind, aber noch ein Kind auf dem Arme tragend und vor sich hinsingend, schien wieder dort zu sein. Ja, es war dieselbe Gestalt, einsam und für einen Moment mit verhaltenem Atem stehen bleibend. Das schöne Haar wallte lose um ein tränenvolles Antlitz her, das nach ihm zurückschaute.

Er wandelte durch die Gemächer, die sonst so üppig gewesen waren, jetzt aber so kahl und unheimlich, ja selbst in Gestalt und Größe so verändert aussahen. Die Fußspuren häuften sich dort, und der Rückblick auf die Leiden, die sie ihm bereitet hatten, verwirrte und schreckte ihn. Er begann zu fürchten, die wilden Vorstellungen seines Gehirns könnten ihn wahnsinnig machen und seine Gedanken hätten bereits ihren Zusammenhang verloren, um wie die Fußstapfen in nicht mehr erkennbarer Verwicklung ineinander zu laufen und Abwechselungen unbestimmter Formen zu bilden.

Er wußte nicht einmal, in welchem von diesen Zimmern sie gewohnt hatte, als sie allein war, und ging deshalb gern weiter, um höher hinauf zu wandern. Hier bot sich ihm eine Menge von Anhaltspunkten dar, die ihn an sein falsches Weib, an seinen treulosen Freund und Diener, an die falschen Grundlagen seines Stolzes erinnerten; aber er schob sie insgesamt beiseite und gedachte in seinem Elend nur seiner beiden Kinder.

Überall die Fußstapfen! Sie hatten keine Achtung gehabt vor dem alten Stübchen hoch oben, wo das kleine Bett gestanden, und der arme Mann konnte dort kaum einen Raum finden, um an der Wand auf den Boden niederzuknien und seinen Tränen freien Lauf zu lassen. Er hatte vor langer Zeit hier so viele Tränen vergossen, daß er sich an diesem Platze weniger als an irgendeinem andern seiner Schwäche schämte, und vielleicht war es dieses Bewußtsein, das ihm für sein Herkommen als Entschuldigung dienen mußte. Mit gebeugten Schultern und auf die Brust gesenktem Kinne war er eingetreten, und jetzt lag er in Mitte der Nacht da, auf den kahlen Brettern, einsam und bis zu Tränen ergriffen, obschon auch jetzt noch ein stolzer Mann, der, wenn eine freundliche Hand sich nach ihm ausgestreckt oder ein liebevolles Gesicht auf ihn niedergesehen hätte, sich schnell erhoben haben würde, um fort und wieder in seine Zelle hinunterzugehen.

Mit Anbruch des Tages war er wieder in seinen Zimmern eingeschlossen. Er hatte heute ausziehen wollen, hielt aber an diesem Bande im Hause, als an dem letzten und einzigen, das ihm geblieben war, fest. Er wollte morgen gehen. Der Morgen kam. Er verschob es wieder auf den andern Tag. Ohne von irgendeinem menschlichen Wesen beobachtet zu werden, verließ er jeden Abend seine freiwillige Haft und wanderte wie ein Gespenst durch das verheerte Haus. An manchem aufdämmernden Morgen brütete sein verändertes Gesicht hinter den geschlossenen Fensterblenden, niedergebeugt und nur von unvollkommenem Licht erhellt, über den Verlust seiner beiden Kinder. Nicht einmal ein einziges mehr! Er vereinigte sie wieder in seinen Gedanken und sie wollten sich nie trennen lassen. O, hätte auch er sie einigen können in seiner früheren Liebe und im Sterben, denn der eine Verlust war viel schlimmer, als durch den Tod!

Heftige geistige Aufregung und Verstörtheit war ihm auch vor seinem letzten Leiden nichts Neues gewesen. Bei störrischen, finsteren Charakteren ist dies etwas Gewöhnliches, denn es kostet sie Anstrengung, solche Eigenschaften zu behaupten. Doch ein lang untergrabener Boden stürzt oft plötzlich zusammen, wenn auch der Zahn der Zerstörung nur so langsame allmähliche Fortschritte gemacht hat, wie der Weiser auf seiner Uhr.

Endlich begann er zu denken, daß er gar nicht zu gehen brauche. Er konnte auf das verzichten, was ihm seine Gläubiger noch gelassen hatten (daß sie ihn nicht mehr schonten, war seine eigene Schuld gewesen), und um das Band zwischen ihm und dem verfallenen Hause zu trennen, hatte er nur nötig, jenes andere Glied zu lösen – –

Damals hörte man seinen Fußtritt in dem Zimmer der früheren Haushälterin – freilich nicht in seiner wahren Bedeutung, da er sonst einen erschreckenden Ton gehabt haben würde.

Die Welt war wegen seiner sehr geschäftig und unruhig. Dies trat ihm wieder ins Bewußtsein. Sie flüsterte, plauderte und konnte keinen Augenblick aufhören. Dies und die Verwicklung der Fußtritte quälte ihn auf den Tod. Alles zeigte sich ihm jetzt in düsteren, schwarzen Farben. Dombey und Sohn waren nicht mehr – seine Kinder waren nicht mehr – dies mußte er morgen ernstlich in Erwägung ziehen.

Er zog es in Erwägung. In seinem Stuhle sitzend, sah er von Zeit zu Zeit in den Spiegel und erblickte folgendes Bild: eine gespenstische, hagere, abgezehrte Gestalt, der seinen ähnlich, die über dem leeren Feuerplatze brütete. Jetzt erhob sie den Kopf, um die Linien und Furchen in seinem Gesichte zu betrachten, jetzt senkte sie ihn wieder, um aufs neue zu brüten. Dann stand sie auf und ging umher, begab sich in das anstoßende Zimmer hinaus und kam mit etwas zurück, das sie vom Ankleidetische weggenommen und in ihre Brust gesteckt hatte. Dann sah sie nach dem Boden an der Tür hin und dachte.

Stille! Was?

Sie dachte, wenn Blut in diese Richtung rieselte und sich hinauslecken sollte nach der Halle, so brauche es wohl lange Zeit, um so weit zu kommen. Es mußte sich so verstohlen und langsam bewegen, da eine kleine Lache bilden, dort wieder weiter rinnen und dann sich wieder zu einer kleinen Lache sammeln, so daß durch seine Vermittlung ein schwer verwundeter Mensch nur tot oder sterbend aufgefunden werden konnte. Nachdem sie dies eine Weile erwogen hatte, stand sie auf und ging, die Hand in die Brust gesteckt, wieder hin und her. Sie blickte gelegentlich danach hin, um ihre Bewegungen zu beobachten, und bemerkte, wie wild und mordgierig jene Hand aussah.

Sie dachte wieder! Was dachte sie?

Ob die Leute wohl in das Blut, wenn es so weit gekrochen war, treten und es unter den vielen Fußspuren im Hause umher oder vielleicht gar in die Straße hinaustragen würden.

Sie setzte sich wieder, heftete die Augen auf den leeren Kamin, und während sie sich aufs neue in ein Brüten verlor, schoß ein Lichtstrahl ins Zimmer – ein Strahl der Sonne. Sie achtete nicht darauf und blieb gedankenvoll sitzen. Plötzlich erhob sie sich mit einem schrecklichen Gesicht, und die verbrecherische Hand griff nach dem, was in der Brust stak. Dann wurde ihr durch einen Schrei Einhalt getan – durch einen wilden, lauten, durchbohrenden, liebevollen, entzückten Schrei – er sah nur im Spiegel sein eigenes Abbild und die Knie desselben umfaßt von dem seiner Tochter.

Ja, seine Tochter! Sie ist da! Auf dem Boden liegend hat sie seine Knie umschlungen, faltet bittend die Hände und ruft ihm zu:

»Papa – teuerster Papa! Verzeiht mir! Ich bin zurückgekommen, um auf meinen Knien mir Eure Vergebung zu erflehen. Ich kann nicht mehr glücklich sein, wenn Ihr mir nicht verzeiht!«

Noch immer unverändert. Von der ganzen Welt nur sie unverändert. Dasselbe Gesicht zu ihm erhebend, wie in jener unglücklichen Nacht, und um seine Vergebung bittend.

»O teurer Papa, seht mich nicht so schrecklich an! Ich wollte Euch nicht verlassen, dachte nie daran, weder vorher noch nachher. Als ich wegging, war ich so erschrocken, daß ich nicht denken konnte. Lieber Papa, ich bin anders geworden. Reuig kehre ich zurück. Ich weiß, wie schwer ich gefehlt habe, und kenne jetzt meine Pflicht besser. Papa verstoßt mich nicht, oder ich sterbe.«

Er wankte nach seinem Stuhle, fühlte, wie sie seine Arme um ihren Nacken schlang und wie sie die ihrigen um den seinigen legte, empfand auf seinem Gesicht die Glut ihrer Küsse und das Feucht ihrer Wange, die sich an die seinige schmiegte – o, wie tief fühlte er nicht dabei alles, was er getan hatte.

Auf die Brust, die er mit seiner Faust mißhandelte, gegen das Herz, das er fast gebrochen hatte, legte sie sein Gesicht, das er mit den Händen bedeckt hielt, und sagte schluchzend:

»Teurer Papa, ich bin Mutter. Ich habe ein Kind, das Walter bald mit dem Namen nennen wird, den ich Euch jetzt zurufe. Erst nach seiner Geburt und als ich wußte, wie sehr ich es liebte, wurde mir klar, was ich getan hatte, als ich Euch verließ. Verzeiht mir, lieber Papa! O! sprecht Euren Segen über mich und mein kleines Kind!«

Er würde ihn gesprochen haben, wenn er dazu fähig gewesen wäre. Er wollte seine Hände erheben und sie um Verzeihung bitten, aber sie faßte dieselben mit den ihrigen und drückte sie hastig nieder.

»Mein Kind wurde auf dem Meere geboren, Papa. Ich betete zu Gott (und auch Walter betete mit), er möchte mich verschonen und wieder nach der Heimat zurückkommen lassen. Sobald ich ans Land getreten war, eilte ich zu Euch zurück. Wir wollen uns nie wieder trennen, Papa, wir wollen uns nie mehr trennen!«

Sein jetzt graues Haupt war von ihrem Arm umschlungen, und er stöhnte bei dem Gedanken, daß es nie, nie zuvor eine solche Ruhe gefunden hatte.

»Ihr kommt jetzt mit mir, Papa, und seht nach meinem Knaben. Sein Name ist Paul, Papa. Ich glaube – ich hoffe – er gleicht –« Sie konnte vor Tränen nicht weiter reden.

»Lieber Papa, um meines Kindes willen, um des Namens willen, den wir ihm gegeben haben, um meinetwillen bitte ich Euch, daß Ihr Walter verzeihet. Er ist so gut und liebevoll gegen mich. Ich bin so glücklich mit ihm. Er trägt keine Schuld an unserer Verheiratung – sie trifft nur mich, weil ich ihn so sehr liebte.«

Sie klammerte sich fester, inniger und liebevoller an ihn an.

»Er ist das Kleinod meines Herzens, Papa, und ich würde für ihn in den Tod gehen. Er wird Euch lieben und ehren, wie ich es tun will. Er wird unser kleines Kindchen lehren, daß es Euch liebe und ehre, und wir wollen ihm, wenn es so viel verstehen kann, sagen, daß Ihr einmal einen Sohn des gleichen Namens hattet, daß er starb und daß Ihr sehr betrübt waret; aber er sei in den Himmel gegangen, wo wir alle ihn wieder zu sehen hoffen, wenn für uns die Zeit der Ruhe kommt. Gebt mir einen Kuß, Papa, als Zusage, daß Ihr mit Walter versöhnt sein wollet – mit meinem teuren Gatten – mit dem Vater des Kindes, das mich zu Euch zurückkommen lehrte, Papa.«

Mit einem abermaligen Tränenausbruch umschlang sie ihn aufs neue, während er sie auf die Lippen küßte, die Augen gen Himmel erhob und die Worte sprach:

»O mein Gott, vergib mir, denn ich bin dessen sehr bedürftig!«

Dann senkte er das Haupt wieder und streichelte ihr Gesicht im Gefühl schmerzlicher Reue. Lange, lange Zeit ließ sich kein Laut durch das ganze Haus vernehmen. Sie hielten sich gegenseitig mit den Armen umschlungen, und noch immer fiel der glorreiche Sonnenschein auf sie nieder, der mit Florence hereingeschlichen war.

Ihrer Bitte sich bereitwillig unterwerfend, kleidete er sich zum Ausgehen an. Schwankenden Schritts und zitternd nach dem Zimmer zurückschauend, wo er so lang eingeschlossen gewesen, und wo er das Bild im Spiegel gesehen hatte, folgte er ihr in die Halle hinaus. Florence schaute sich kaum um, damit sie ihn nicht aufs neue an ihren letzten Abschied erinnere (denn sie stand auf den Steinen, wo er sie in seinem Wahnsinn niedergeschlagen hatte), hielt sich dicht an ihn, ohne ihre Blicke von seinem Antlitz zu verwenden, und führte ihn, während er sich an ihr festhielt, nach der Kutsche hinaus, die vor der Tür wartete und ihn aufnahm.

Dann kamen Miß Tox und Polly in tränenvollem Jubel aus ihrem Versteck hervor, packten seine Kleider, Bücher usw. mit großer Sorgfalt ein und überantworteten sie im Laufe des Tags an gewisse Personen, die von Florence beauftragt worden waren, diese Gegenstände abzuholen. Abends nahmen sie in dem einsamen Hause die letzte Tasse Tee ein.

»Und so ist Dombey und Sohn, wie ich bei einer gewissen traurigen Gelegenheit bemerkte«, sagte Miß Tox am Schlüsse einer Menge von Erinnerungen, »am Ende doch eine Tochter, Polly.«

»Und dazu eine recht gute!« rief Polly.

»Ihr habt recht«, sagte Miß Tox. »Und es macht Euch Ehre, Polly, daß Ihr stets als Freundin zu ihr hieltet, als sie noch ein kleines Kind war. Ihr seid ein gutes Geschöpf, Polly«, fügte sie bei, »und waret lange vor mir ihre Freundin. Robin!«

Diese letztere Anrede galt einem rundköpfigen jungen Menschen, dem Anscheine nach in sehr bedrängten Verhältnissen, der betrübt in einer Ecke saß. Als derselbe aufstand, ließ sich die Gestalt und das Gesicht des Schleifers erkennen.

»Robin«, sagte Miß Tox, »wie Ihr gehört haben werdet, habe ich soeben Eurer Mutter gesagt, daß sie ein gutes Geschöpf sei.«

»Dies ist sie auch, Miß«, versetzte der Schleifer mit einigem Gefühl.

»Gut, Robin«, sagte Miß Tox. »Es freut mich. Euch so reden zu hören. Da ich auf Euer dringliches Ersuchen eine Probe mit Euch machen und Euch in der Absicht, Eure Achtbarkeit wieder herzustellen, als Dienstboten in mein Haus aufnehmen will, so benutze ich diese eindrucksreiche Gelegenheit, um Euch zu erklären, daß ich hoffe, Ihr werdet nie vergessen, welche gute Mutter Ihr habt und stets gehabt habt. Ich setze von Euch voraus, Ihr werdet Euch Mühe geben, Euch stets so aufzuführen, daß sie Freude an Euch erlebe.«

»Bei meiner Seele, das will ich«, entgegnete der Schleifer. »Ich habe viel durchgemacht, und meine Entschlüsse sind nun so geradaus, wie die eines jungen Bursch –«

»Ich muß mir hier erlauben. Euch zu unterbrechen, Robin«, fiel ihm Miß Tox höflich ins Wort.

»Wenn Ihr lieber so wollt, wie die eines jungen Menschen –«

»Danke, Robin, nein«, erwiderte Miß Tox. »Ich würde Individuum vorziehen.«

»Wie die eines Entenvittum –« sagte der Schleifer.

»Viel besser«, bemerkte Miß Tox wohlgefällig. »Unendlich ausdrucksvoller.«

»– nur sein können«, fuhr Rob fort. »Hätte man nicht einen Schleifer aus mir gemacht, Miß und Mutter, denn dies war ein sehr unglücklicher Umstand für einen jungen Bu – Entenvittum.«

»In der Tat sehr gut«, bemerkte Miß Tox beifällig.

»– und wäre ich nicht durch die Vögel verlockt worden und dann in einen schlimmen Dienst gekommen«, sagte der Schleifer, »so würde es hoffentlich besser mit mir ausgefallen sein. Aber es ist nie zu spät für ein –«

»Indi –« deutete Miß Tox an.

»Vittum«, sagte der Schleifer, »sich zu bessern, und ich hoffe, Miß, ich werde es können, wenn Ihr den freundlichen Versuch mit mir macht. Sagt es auch dem Vater, den Brüdern und den Schwestern, Mutter, und bringt ihnen herzliche Grüße von mir.«

»Es freut mich sehr, Euch so sprechen zu hören«, bemerkte Miß Tox. »Wollt Ihr ein wenig Butterbrot und eine Tasse Tee genießen, Robin, ehe wir gehen?«

»Danke, Miß«, entgegnete der Schleifer, der augenblicklich seine Zähne auf höchst merkwürdige Weise in Tätigkeit zu setzen begann, als sei er beträchtlich lange auf gar kurze Rationen beschränkt gewesen. Nachdem endlich Miß Tox und Polly ihre Hüte und Halstücher angelegt hatten, umarmte Rob seine Mutter und folgte seiner neuen Gebieterin – so sehr zur hoffnungsvollen Bewunderung Pollys, daß, als sie ihm nachsah, etwas in ihren Augen glänzende Ringe um die Gaslampen her erscheinen ließ. Mrs. Richards löschte sodann ihr Licht, schloß die Haustür, übergab den Schlüssel einem in der Nachbarschaft wohnenden Agenten und ging, so schnell sie konnte, im Vorgenusse des Entzückens, das ihre unerwartete Ankunft verbreiten würde, nach Hause. Das große Gebäude, so taub gegen alle Leiden und Wechsel, deren Zeuge es gewesen, stand finster wie ein stummer Leichenbegleiter in der Straße, jede nähere Nachfrage mit der unverantwortlichen Ankündigung täuschend, daß dieser angenehme Familiensitz zu vermieten sei.