Kapitel 15

Kapitel 15

 

Das Fest in Dornach rief eine Reihe mehr oder minder glücklicher Nachahmungen hervor. Es gab Bälle auf allen Schlössern der Umgebung, sogar bei Wilhelms wurde getanzt, zum ersten Male, seitdem sie Haus hielten. Später kam der Eissport in Aufschwung, und man huldigte ihm auf das eifrigste. Da zeigte sich Gustav Wonsheim in seinem Glanze.

»Wenn’s friert«, sagte Carla, »dann kommt mein Mann in Feuer.«

Er fuhr wie ein Norweger auf dem Schneeschuh bergab und bergan; er verstand die Eispike zu gebrauchen wie ein Holländer; auf dem Eislaufplatz beschämte er den Amerikaner Haynes. Seine Unermüdlichkeit im Veranstalten immer neuer Wintervergnügungen im Freien war erstaunlich.

Im Dezember dieses Jahres gewann er, ohne Notiz davon zu nehmen, die Herzen von sechzehn benachbarten Damen;doch wandten sie sich im Februar fast alle von ihm ab, als ihn Hermann bei einem tollkühnen Schlittenrennen glorreich besiegte.

Die Zeit verrann. Von Woche zu Woche wurde in Dornach und in Rakonic die Abreise nach Wien verschoben und endlich ganz aufgegeben. Die Balzjagden hatten begonnen, die Herrschaften fuhren fort, sich auf dem Lande prächtig zu unterhalten.

Maria führte ein eigentümliches Doppelleben. Heute eine zweite Elisabeth von Thüringen, morgen eine Vollblut-Sportslady, die das starke Geschlecht oft übertraf an Kühnheit und »Schneid«.

»Ein Mordsweib, die Dornach«, sagte Clemens seufzend zu seinem Bruder. Und Gustav erwiderte zwischen zwei Zügen seiner Zigarette: »Das weiß der Teufel!«

Clemens ließ sich in seinem Fauteuil hinabgleiten, streckte die Beine weit aus und legte den Kopf zurück. »Wie sie gestern so scharf hereingfahren is!« sprach er. »Auf einmal ruft die Betty sie an. Ein Ruck – und die Braun’ stehn wie die Mauern.«

»Ich sag’s ja, als four-in-hand-Kutscher kommt ihr keiner nach.«

»Das Aug, die Hand und – die Ruh.«

»Der Kerl, der Hermann, der hat ein Mordsglück mit der Frau.«

Dem Beneideten indessen schien das, was die hohe Zustimmung der Nachbarn erweckte, ein unheimliches Wunder. Er suchte sich die leidenschaftliche Zerstreuungssucht Marias als einen Rückschlag gegen ihre frühere Melancholie zu erklären. Pendelschwingungen der Seele, von dem Äußersten zu jenem, die nichts sind als Vorbereitungen zur Rückkehr in ihre schöne, wohltuende Gleichmäßigkeit.

Eines Morgens kam Maria heim nach wildem Ritte durch die kaum wegsam gewordenen Wälder. Aus ihren schweren Flechten, die sich nicht völlig unter den Hut hatten zwängen lassen, standen die Spitzen der Haare hervor, glänzend wie Seide; unbändige Löckchen kräuselten sich über den aufgeregt funkelnden Augen, die schlanken Nasenflügel zitterten, zwischen den leicht geöffneten Lippen blinkten die weißen Zähne hervor. Hastig berichtete sie von einer neuen Verabredung mit Wonsheims für den Abend.

Eine Regung der Eifersucht durchzuckte das Herz ihres Mannes; doch machte er sich sogleich einen Vorwurf daraus. »Du hast dich unterhalten?« fragte er.

»Oh, königlich!« gab sie zur Antwort, und er strich leise über ihre geröteten Wangen: »Den nächsten Winter verleben wir in der Stadt, wenn es dir recht ist. Auf dem Lande haben wir zu wenig Ruhe, was meinst du?«

»Was du meinst«, gab sie zur Antwort, und seine unausgesprochene Rüge verfehlte nicht ihre Wirkung.

Maria besann sich auf sich selbst. Ein Wort Hermanns hatte sie aus dem Rausche geweckt, in dem sie eine Art von Frieden gefunden.

Nun wollte sie mehr als seinen Schein, sie wollte ihn selbst wiedergewinnen, den echten Frieden, ohne den das Leben nutzlos und töricht ist.

Sie begann ihn zu suchen im Buch der Bücher, in den Worten der Schrift, die sich nicht an die kalte Tugend wenden, die für den reuigen Sünder gesprochen sind. Ihm gelten diese Verheißungen, dem armen Zöllner, der büßenden Magdalena öffnen sich Vaterarme.

Maria erflehte und erhielt Entsühnung durch den Mund eines ehrwürdigen Priesters und blieb vor sich selbst – unentsühnt.

»Was hilft Ihre Verzeihung, mein Vater, wenn ich mir nicht verzeihen kann?« fragte sie, und der alte Seelenhirt erwiderte:

»Hat meine Tochter vergessen, daß es die Verzeihung des Allbarmherzigen ist und nicht die meine, die sie in der heiligen Beichte empfängt?«

»Wenn es die Verzeihung Gottes ist, warum fühle ich ihre Segnungen nicht? Warum trete ich von dem Tische des Herrn mit so schwerem Herzen hinweg, als ich ihm nahte?«

Ihr Gewissensrat holte vergeblich Trostgründe ohne Ende aus dem unerschöpflichen Born des Glaubens hervor, dessen treuer Bekenner er war.

Sie lag vor ihm auf den Knien im Beichtstuhl der Schloßkapelle, das Angesicht mit den Händen bedeckt, und schluchzte.

Der Priester ließ einen Blick voll Wehmut über die Ringende gleiten und sagte nach langem Besinnen: »Die Wege des Herrn sind unerforschlich. Es ist schon vorgekommen, daß ein reiner Mensch mit Zulassung Gottes in der Versuchung unterlegen ist. Das geschieht, damit dieser Mensch sich nicht überhebe in seiner Tugend. Er fiel, ja, aber – dem Allgütigen zu Füßen, dessen er im Frevelmute vergessen und zu dem die Reue ihn zurückgeführt. Dort liegt er fortan in Demut und Zerknirschung, einer von denen, die dem Herzen des Ewigen näherstehen als hundert Gerechte.«

Er gab ihr seinen Segen. Sie erhob sich stumm, und nie wieder klagte sie ihm ihr Leid.

Der alte Geistliche aber beugte seinen kahlen Scheitel in frommer Einfalt vor dem Bilde des Gekreuzigten bis zur Erde und sprach ein heißes Dankgebet: Sei gepriesen, daß du auf die Lippen deines unwürdigen Dieners die Worte legtest, die eine Seele vor der Verzweiflung gerettet haben.

Maria ging von nun an ihren Weg allein und suchte nicht mehr nach Betäubung oder Stütze. Äußeren Gleichmut hatte sie endlich errungen, der half ihr die schwere Seelenpein verbergen, ja, er wuchs mit ihrem Streben nach Vervollkommnung. Sie war nachsichtslos gegen sich selbst, wenn es die Erfüllung auch der geringsten Pflicht galt – und hatte gegen ihre erste und höchste gesündigt. Sie trug das verfeinertste Rechtsgefühl in der Brust, und – neben ihr wuchs die Frucht des Unrechts auf; ein Eindringling, ein kleiner Dieb, der genoß, was ihm nicht zukam. Über ein schmerzliches Mitleid ging die Empfindung Marias für das Kind nicht hinaus.

Aber Hermann, Vater und Sohn, schienen ihm die Zärtlichkeit ersetzen zu wollen, die seine Mutter ihm versagte. Der vierjährige Majoratserbe, ein großer, stämmiger Junge, der so kühn und stolz einherging, als ob die Erde ihm gehörte, zerschmolz vor dem »Kleinen« in Liebe und Ergebenheit. Seiner Natur nach kriegerisch und immer aufgelegt, zum Schlage auszuholen mit seinen Fäustchen, entfaltete er jeder Laune seines Nachgeborenen gegenüber eine erstaunliche Geduld. Er parierte seine hölzernen Pinzgauer im sausendsten Galopp, wenn Erich mit Tränen in der Stimme rief: »Genug, die Pferde sind schon müd.«

Überlegen lächelnd sah Hermann zu, wie sein Bruder die Gäule unter einer Gartenbank vor ihm versteckte, sie fütterte und sie zudeckte mit dem Taschentuch.

Der Große beschützte den Kleinen bei hundert Gelegenheiten; dieser beschützte die Hunde vor Hermanns derben Zärtlichkeiten. In solchen Fällen gab es Püffe; doch immer war’s der Schwache, der sie versetzte.

Ein festes Band zwischen den Geschwistern war die Freude am Erzählen des einen, die Freude am Zuhören des andern. Es glänzte etwas wie Verehrung in Erichs Augen, wenn er den Geschichten seines Bruders lauschte. Diese hatten eine merkwürdige Ähnlichkeit untereinander und handelten immer wieder von der Wüste, vom Sturm und von den Löwen. Manchmal, wenn sich die Wüste so unermeßlich dehnte, daß sie größer wurde als die Wiese drüben hinter dem Bach, und wenn der Sturm es zu wild trieb und die Löwen zu blutdürstig wurden, da überlief’s den Kleinen; sein Gesichtchen zog sich in die Länge, er verschränkte seine Finger krampfhaft über den Knien und ließ den Kopf auf die Brust sinken.

Glücklich über den Erfolg seiner Erzählungskunst, warf Hermann den Kopf in die Höhe und rief: »Und ich werd hingehen und die Löwen totschießen!«

Das war der Höhepunkt seines Triumphes, und er genoß ihn ungestört, bis eines Tages der Kleine aufsprang, die Arme ausbreitete und völlig begeistert sprach: »Und Erich wird zuerst hingehen und wird den Löwen zu essen geben.«

Von Stund an begann er, den Gedanken an die Reise zu den Löwen mit einer weit über seine Jahre gehenden Beharrlichkeit nachzuhängen. Der Richtung zugewandt, die Hermann als diejenige bezeichnet hatte, in der die Löwen wohnen, konnte er ganz in Gedanken versinken und still und freudig lächeln, als ob die schönsten Bilder vor ihm auftauchten.

Seine Mutter bekämpfte den Hang zur Träumerei in dem Knäblein. Sie lehrte ihn spielen; sie zürnte, wenn sie ihn müßig fand. Doch selbst ihr Zürnen war ihm Glück und Gnade, sie beschäftigte sich ja mit ihm. Er hörte ihr zu, stand wie ein Bildsäulchen und blickte mit seinen strahlenden Augen andächtig zu ihr empor.

Maria hielt den liebewerbenden Blick des Kindes nicht lange aus.

Sie trat fort von ihm, sie fragte sich schaudernd: Sieht denn niemand außer mir diese entsetzliche Ähnlichkeit? – Niemand, antwortete ihr die Unbefangenheit der Ihren, der Fremden, eines jeden, der dem Kinde nahte und in Bewunderung des reizumwobenen Geschöpfchens ausbrach.

Sein besonderer Verehrer war der Doktor, obwohl er sonst gesunden Kindern keine Beachtung schenkte. »Der Herr Graf Erich soll, wie ich höre, geistlich werden«, sagte er zu Lisette, die lange mit ihm geschmollt, es aber zuletzt aufgegeben hatte, weil er so gar nichts davon bemerkte. »Da prophezeie ich Ihnen, aus dem macht man keinen Domherrn. Der bleibt nicht im Lande – der wird ein heiliger Reisender, ein Missionär. Schon jetzt ein Menschen- und Tierfreund und dazu einen unwiderstehlichen Zug hinaus ins Universum.«

Die gute Helmi und Wilhelm sagten oft, daß sie sich einen Neunten gefallen ließen, wenn er ein Seitenstück zu Erich wäre: »So poetisch schöne Kinder sind gewöhnlich kränklich, dieser aber sieht aus und befindet sich wie ein Cherub.«

Den Vergleich hatte zuerst Gräfin Agathe angewendet. Sie entriß sich des bevorzugten Enkels wegen früher als sonst ihrer klösterlichen Einsamkeit. Den scherzenden Vorwurf Hermanns, er hätte nie geahnt, daß sie so schwach und nachsichtig sein könne, wie sie es gegen seinen zweiten Sohn war, ließ sie sich gern gefallen. – Er erinnerte eben an seinen Großvater.

Die Gräfin hatte das festgestellt, und es blieb für die Mitglieder der beiden Häuser Dornach ein Familiendogma, was soviel heißt als ein Satz, an dem der gesunde Menschenverstand und die tiefste Einsicht zuschanden werden.

Als der Fasching heranrückte, mahnte die Mutter Hermanns ihn und Maria von neuem an ihre Pflichten gegen die Gesellschaft. Graf Wolfsberg, mit Geschäften überhäuft und dadurch an Wien gebunden, sehnte sich nach seiner Tochter. Gräfin Dolph schrieb:

 

»Ihr seid noch zu jung, um ganz zu verlandeln. Kommt, obwohl hier nicht viel los ist. Die Menschen werden immer dümmer und ihre Manieren immer schlechter. Früher wußte ich genau, ob ich mit einem Fiaker rede oder mit einer Komteß, jetzt irre ich mich alle Augenblick. Ob es noch junge Herren gibt, werdet wohl Ihr erfahren; eine alte Frau, bei der man etwas Geist, den Erbfeind dieser Rasse, vermutet, kann sie für ausgerottet halten. – Ich gehe mit dem Gedanken um, literarische Abende zu veranstalten, aber – die Literaten sind sämtlich Atheisten – meine Nulle ist dagegen. Um diese Seele sind wir im Streite, der liebe Gott und ich. Ich glaube, ich werde sie ihm überlassen.

Euere Wonsheim haben mich besucht. Beide Männer sind in Dich verliebt, Maria, zwei Waschbären, die den Morgenstern anschmachten. Sobald von Dir gesprochen wird, schnappen ihre Gesichter in die Falten der Demut ein.

Die besseren Hälften Wonsheim fangen an sich zurückzuziehen. Aus Gründen, die man – wahrscheinlich um über ihre bitterliche Prosa hinwegzutäuschen – interessante nennt.

Liebes Kind, mein Horace Walpole beschämt sein Urbild;er schreibt mir nicht nur bewunderungswürdige und ergötzliche, sondern auch liebevolle Briefe. Freilich wagt er nicht viel dabei, auf diese Entfernung. Das ist mein Schicksal. Der einzige gescheite Junggeselle auf Erden und – Meere zwischen uns. Immer die alte Geschichte, alles Wiederholung auf dieser Erde, die ja selbst keine Originalschöpfung des lieben Herrgotts, sondern nach einem vom Teufel verfertigten Modell ausgeführt ist. Ich hab’s aus sicherer Quelle.

Und nun sage ich Euch nochmals: kommt! reißt Euch los von Eueren Iffländern, Wilhelm und Helmi, die ich grüße, und von Euerem Euer Geld, Euere warmen Suppen und Jacken liebenden Volke.

Zuletzt die Tagesneuigkeit: Alma ist in Wien. Wir hörten, daß sie einschrumpfe vor Langeweile auf ihrer Burg im Wald. Da schrieb ihr Dein Vater die Barmherzigkeitslüge: ›Ihre Freunde vermissen Sie, warum halten Sie sich fern?‹ Sie antwortete: ›Ich werde mich ewig fernhalten‹, und – war da.«

 

»Wirst du sie sehen?« fragte Hermann.

Maria errötete bis an die Stirnhaare: »Ja.«

»So kannst du ihr verzeihen?«

»Ich?… Wie käme es mir zu … Und irgendwem?« verbesserte sie sich, in Verlegenheit gebracht durch sein Befremden über diese Worte. »Wer ist so rein, wer steht so hoch, daß er sich anmaßen dürfte zu sagen: Ich verzeihe fremde Schuld.«

Wenige Wochen später begegnete sie Alma auf einem Balle, begrüßte sie zuerst, empfing am folgenden Tage ihren Besuch und erwiderte ihn.

Fürstin Tessin dankte mit Tränen in ihren noch immer schönen Augen.

Die Freundschaft Marias war der stolze Besitz gewesen, auf den sie sich berufen konnte in ihrem Kampfe zwischen ihrer Furcht vor der Meinung der Welt und ihrer Liebe zu Wolfsberg. Zwei starke Empfindungen in einem schwachen Herzen, das nicht vermochte, der einen zu trotzen oder die andere aufzugeben. So hatte sie sich durchs Leben gewunden, überaus höflich, überaus gütig, in jedem, der ihr nahte, einen Richter sehend, den sie zu bestechen suchte. Als Maria begonnen hatte sie zu meiden, da war ihr, als ob die letzte Hülle gerissen worden wäre von ihrem durchsichtigen Geheimnisse. Jetzt aber hatte ihre Beschützerin sich wieder eingefunden, und sie fühlte sich nach Möglichkeit neu hergestellt in den Augen der Menschen, deren Urteil bei ihr die Stelle des Gewissens vertrat.

Graf Wolfsberg äußerte sich über die Wiederanknüpfung des Verkehrs zwischen seiner Tochter und Alma weder zustimmend noch mißbilligend. Man geriet langsam in die alten Geleise zurück. Wolfsberg spöttelte zeitweilig ein bißchen über »die gute Fürstin«; Maria verteidigte sie, wenn auch nicht so warm wie einst.

Die Wahrnehmung Tante Dolphs erwies sich als richtig;beide Wonsheim liebten, gänzlich hoffnungslos, die Frau Nachbarin vom Lande. Diese hatte seit einiger Zeit bedeutend »ausgespannt«, aber trotzdem war und blieb sie – in der Stadt, wo sich unzählige Gelegenheiten zu Vergleichen boten, sah man das erst recht – schön, elegant und sympathisch wie niemand.

Die Brüder gingen einzig und allein ihretwegen in die Welt. Betty und Carla, kürzlich Mütter geworden, hüteten das Haus. Glückwünsche zu ihrer jungen Vaterschaft wiesen die Wonsheim zurück: »Ich bitt Sie, es sind ja nur Mädeln.«

Der gute Kerl, der Hermann, bekam einen Sohn nach dem anderen, und sie bekamen – Mädeln. Sie suchten Trost für dieses klägliche Resultat in allerlei Zerstreuungen.

Zu denen gehörte »der Spaß«, den der Umgang mit Fee ihnen machte. Sie waren ihre Vertrauten, sie erzählte ihnen alles und das übrige. Zum Beispiel, daß sie eine überseeische Korrespondenz führe und das Leben jetzt sehr ernst nehme, ja sogar, wie ein gewisser Jemand, der ihr maßgebend war – von der Schokoladenseite. Daß sie mit dem Gelde umgehen lerne und ihre Rechnungen nicht selten mit eigener – natürlich behandschuhter – Hand bezahle. Den Kurszettel lese sie Tag für Tag. Es könne auf einmal dazu kommen, daß man gezwungen sei, Obligationen zu verkaufen, um die Kosten einer weiten Reise, die vielleicht gar eine Hochzeitsreise sein werde, zu decken.

Gräfin Dolph, bei der Fee den größten Teil ihrer Zeit zubrachte und die ebenso tief in ihre Geheimnisse eingeweiht war wie die Brüder Wonsheim, machte ihr keinen Vorwurf aus ihrer Plauderhaftigkeit.

»In der Welt, die nur eine erweiterte Familie ist, weiß ohnehin jeder alles von jedem«, sagte sie eines Abends zu Fee in Marias Gegenwart.

»Glaubst du das wirklich?« fragte diese. »Ich meine, die Welt und die Familie wissen so gut wie nichts von ihren Mitgliedern. Ich wenigstens«, brach sie plötzlich aus, »habe eine Vorliebe für ihre Zurückgesetzten und eine heilige Scheu vor ihren Vergötterten.«

»Dann mißtraue dir selbst«, erwiderte Dolph.

»Vielleicht tu ich’s«, sprach Maria.

Die Tante zuckte die Achseln, scheinbar gleichgültig, in ihrem Innersten jedoch regte sich ein stiller, immer wieder auftauchender unbequemer Zweifel: Sollte Tessins Liebe nicht unbelohnt geblieben sein?… Pah! wer dem Unwiderstehlichen nicht widersteht, ist entschuldigt, setzte sie in Gedanken hinzu und sprach: »Das sind, verzeih, krankhafte Übertreibungen.«

Selten nur ließ sich Maria zu dergleichen Äußerungen hinreißen. Sie wurden ihr von der Angst ihres Herzens erpreßt, von der verzweifelten Versuchung: Komm der Entdeckung zuvor – jede Stunde kann sie herbeiführen – der Zufall, der geheimnisvolle Weltbeherrscher, den keine Macht der Erde abzuwenden vermag.

Das waren schwere Augenblicke, aber Maria hatte doch auch Zeiten des inneren Friedens – diejenigen, in denen es ihr gelang zu vergessen. Mit weisem Bedacht, mit unendlicher Mühe übte sie sich im Erlernen dieser großen, für so manchen seelenbefreienden Kunst.

Sie lebte in der Gegenwart, der Linderung des Leids, das ihr nahte, der schüchternen Liebe zu ihrem Manne, der mit Wonne und Qual ausgeübten Sorgfalt für ihre Kinder. Oft wiederholte sie sich das Trostwort: Ein ganzes Dasein der Rechtschaffenheit muß eine Stunde der Verwirrung aufwiegen können … Können? – erhob der peinigende Zweifel in ihrer Brust seine Stimme –, vielleicht, wenn dieses Dasein nicht so süß wäre, wenn die Folgen der Verirrung nicht verkörpert atmeten.

Kapitel 16

Kapitel 16

 

Im Laufe des Winters hatte Gräfin Agathe öfters den Wunsch ausgesprochen, ihre Kinder und Enkel unmittelbar nach ihrem Aufenthalt in der Stadt bei sich zu sehen. Sie kamen, und die Gräfin verlangte immer von neuem eine Verzögerung der Abreise ihrer Gäste. Erichs wegen – das Kind hatte es ihr angetan. Oft blickte Hermann ihr nach, wenn sie, viel älter aussehend, als sie war, steif und feierlich dahinschritt, den Kleinen an der Hand, den sie ins Herz geschlossen hatte und dem gegenüber sie es so bitter empfand, daß ihr die Gabe, mit Kindern umzugehen, versagt geblieben.

Dem Kinde war unheimlich zumute bei dieser stummen Liebe. Was sollten die Spaziergänge, die nirgends hinführten und während welcher nicht einmal eine Geschichte erzählt wurde? Erich machte schwache Versuche, seine Hand aus der der Großmutter zu lösen, aber dann sagte sie: »Bist du nicht gern bei mir, Erich?«

Er unterdrückte aus Angst das Nein, das ihm auf den Lippen schwebte, und fragte nach einer Weile ganz verlegen: »Und was werden wir jetzt spielen?« worauf die alte Dame, nach einigen mißlungenen Versuchen, sein Interesse auf einen vorbeischwirrenden Vogel oder auf eine Blume am Wege zu lenken, ihn zur Kinderfrau zurückführte.

Es war schon Sommer, als die Familie endlich in Dornach eintraf. Auf den Wiesen trocknete die erste Mahd. Betäubend fast dufteten die blühenden Linden; die Saaten standen hoch, die Vögel flogen zu Neste.

Aus dem Wagen, in dem die letzte Strecke zurückgelegt wurde, riefen die Kinder jedem Vorübergehenden jubelnd zu: »Wir sind da, wir sind wieder da!«

Ein eggendes Bäuerlein riß sein Gespann zusammen, daß die Kummete den Pferden bis an die Köpfe rutschten, und schwenkte freudig den Hut. Weiber, die Gras sichelten am Raine, richteten sich auf und grüßten unbeholfen: »Kommt ihr einmal nach Haus? – Wir haben schon geglaubt, wir sehen euch nimmer«, sprach eine kleine, schiefe mit langen Armen. Und eine bildhübsche, schlanke zog das Kopftuch über die Augen, stemmte die Fäuste in die Seiten und wand sich vor Lachen – aus lauter Vergnügen. Die Schule spie eben ihren ganzen Inhalt an männlichen und weiblichen Besuchern aus. Ein ohrenzerreißendes Geschrei erhob sich, Mützen flogen in die Luft, am Ausgange des Vorgärtchens entstand ein großes Gedränge. Der Herr Katechet fuhr aus der Haustür wie aus der Mündung einer Bombe mitten hinein in die lärmende Schar. Mit geübter Hand teilte er rechts und links Klapse aus und grüßte dazwischen auf das ehrerbietigste zu den Herrschaften hinüber.

Hermann befahl anzuhalten, man wechselte einige Worte, die ganze Schule wurde für den nächsten Sonntag zu einem Kinderfest im Parke geladen, und die Equipage fuhr davon. In ihrer Begleitung ritt seit der Ankunft auf der Bahnstation ein Einjährig-Freiwilliger vom zwölften Dragonerregimente. Ein schöner, großer Mensch, hellblond, blauäugig, mit gutmütigem Kindergesicht. Es war Willi, Wilhelms Ältester, auf einem mächtigen Braunen, einem Geschenk Hermanns.

Der junge Mann hatte im Vorjahre ein glänzendes Zeugnis der Reife erworben, stationierte jetzt in der Nachbarschaft und sollte im Herbst unter der strengen väterlichen Zucht von der Pike auf anfangen in der Wirtschaft zu dienen. Ihm kam es zu, einzuspringen für seinen Vater, im Falle dem heute oder morgen die Kraft versagen sollte, den Unterhalt zu schaffen für die Seinen. Und mehr als den Unterhalt, nach Wilhelms Begriffen sogar den Wohlstand. Immer waren seine Kinder satt vom Tische aufgestanden, immer ward jedem der acht Rangen Gelegenheit geboten zu lernen, von früh an schon in die Bahn einzulenken, auf die seine Neigung und sein Talent ihn trieben. Und die Urheberin der Möglichkeit, ihnen soviel zu bieten, das war die gute heimatliche Erde, die alles hergab, was ein getreuer Sohn und Pfleger von ihr verlangen durfte.

In schweren Zeiten, die dem Landwirt nicht erspart bleiben, hatte sich Wilhelm manchmal dazu bequemen müssen, die mit erfinderischer Delikatesse dargebotene Hilfe seines Vetters anzunehmen. Aber es geschah so widerstrebend, daß Hermann immer die Geduld verlor: »Was soll das? Du beleidigst mich … Meine brüderliche Liebe nimmt er an, ja; meine armseligen Groschen – ah, Gott bewahr’s, nein, die nicht! da wird protestiert. Warum, möcht ich doch wissen, warum?«

»Weil ich den nicht mag, dem ich etwas schuldig bin«, antwortete Wilhelm und bekam einen blauroten Kopf. »Nicht mag, hol ihn der Kuckuck, ich sag’s, wie’s ist! Wenn mir einer unter die Arme greift, komm ich mir vor wie ein Bub. So bin ich. Mach mich anders, wenn du kannst.«

Das allerdings konnte Hermann nicht, und ganz gut und herzlich wurde Wilhelm erst wieder, nachdem er die bei seinem nächsten Verwandten und besten Freund eingegangene Schuld abgetragen hatte. Ja, er war unverbesserlich und Hermann der letzte, der zum Prediger in der Wüste, zum Prediger überhaupt taugte. Wenn etwas seinen Spott reizte, war’s der Hang zur Hofmeisterei, von dem die meisten Leute erfüllt sind, den sie aber ins Gewand einer Tugend kleiden und für Teilnahme ausgeben. Hermann vermochte nicht einmal einen Fehler, unter dem er litt, an Menschen, die er wert hielt, zu rügen.

So schwieg er auch lange dazu, daß Maria ihr liebliches zweites Söhnchen auffallend gegen den älteren, den selbständigen, von Kraft strotzenden Knaben zurücksetzte, und verbarg ihr sein schmerzliches Befremden bei jedem Zeichen der Ungleichheit in ihrer Empfindung für ihre Kinder.

Sie ahnte vielleicht nichts davon. Die Veränderung in ihrer ganzen Art und Weise, wenn sie sich von dem Kinde zu jenem wandte, ging vor – ihr selbst unbewußt. Wenn aber unbewußt, warum geschah es dann, daß Maria eine manchmal dem Kleinen gespendete Zärtlichkeit wie einen an ihrem Erstgeborenen begangenen Raub anzusehen schien, den sie hundertfach zu vergüten suchte?

Danach fragte er sie endlich doch, und ihre Antwort war ein so peinlich verwirrter Blick, daß Hermann dachte: Sie gibt sich Rechenschaft von ihrer Ungerechtigkeit, bekämpft gewiß das Gefühl, das sie dazu treibt, und wird es auch besiegen.

Um diese Zeit übersiedelte Fee, die sich kürzlich im Gefolge Tante Dolphs in Dornach eingenistet, zu ihren Freunden Wonsheim.

»Prächtige Leut, die da drüben«, sagte sie, »es is aber vor Langerweil bei ihnen nicht auszuhalten. Immer nur die Familie Wilhelm, immer nur Eintracht, immer nur Liebe – und noch dazu eine, bei der man nicht beteiligt is … Nein, ich dank!«

Die Brüder gaben zu überlegen, ob es nicht recht praktisch wäre, abermals aufzumischen. Ein Versuch, der gemacht wurde, fand jedoch wenig Anklang. Es stellte sich bald heraus, daß die amüsanteste Person im Hause Dornach in diesem Augenblicke »die alte Dolph« war. Sie hatte wenigstens eine gehörige Leidenschaft für das Lawn-Tennis, den einzigen Sport, den die »fad« gewordenen Nachbarn nicht aufgehört hatten zu pflegen. Ihre Kopfschmerzen quälten sie auf dem Lande weit mehr als in der Stadt; unter allen Dingen, die sie anfeindete, nahm die Zugluft einen hervorragenden Platz ein, trotzdem aber konnte sie beim Tennis stundenlang ausdauern in ihrer Rolle als Schiedsrichter, als drakonisch strenger Umpire.

Weil sie dabei Gelegenheit findet zu seckieren, dachte Fräulein Nullinger.

Wenn die Gesellschaft Wonsheim in ihrer Stage-coach zum Spiel nach Dornach fuhr, mußte sie sich’s nicht selten gefallen lassen, der unwissenden Bevölkerung zum Gegenstand einer nicht schmeichelhaften Aufmerksamkeit zu dienen. Die Herren in ihren hohen weißen Filzhüten, weißen Jongleuranzügen, weißen Zwirnhandschuhen, die Damen schürzenumgürtet wie die kleinen Schmiede von Demavend, den Brustlatz geschmückt mit grellfarbigen heraldischen Emblemen, wurden oft für eine Truppe Seiltänzer gehalten.

Natürlich waren sie samt und sonders im Tennis von einer Stärke, die sie berechtigt hätte, die englische Partie mitzuspielen. Hermann und Maria gaben ihnen wenig nach, und da kamen denn Serien vor, die kein Ende nahmen. Sogar die Gegner mußten einander bewundern, nur der Umpire war nie ganz zufriedenzustellen.

Trotzdem mit unvergleichlicher Grazie haarscharf über das Netz serviert, mit fast nie fehlender Sicherheit aufgenommen wurde, ein Ball oft dreißigmal hin und her flog, bevor er zu Boden fiel, ließ sich Tante Dolph dennoch nur zu einem bedingten Lobe herbei.

»Recht gut, meine Kinder; für eine einheimische Leistung gar nicht übel. Im Auslande würdet ihr abblitzen … Schreit nur, ich kann euch nicht helfen. Ganz kürzlich hatte ich den Besuch eines Fräuleins van Nieuwenhuis-Kabeljau, die erste Tennisspielerin der Welt. Die trägt einen Handschuh Nr. 61/2 an der linken, einen Handschuh Nr. 8 an der rechten Hand und ist, sage ich euch, so schief wie eine im Umkippen begriffene Treck-Schuite vor lauter Raketenschwingen. Das nenn ich Übung, und nur so erlangt man die Meisterschaft.«

»Und einen Buckel«, erwiderte Fee; »der möcht mich doch genieren.«

»Dilettantin! diese Jufvrouw ist stolzer auf ihn als ein Held auf seine Narben.«

»Hat auch alle Ursach«, erklärte Betti Wonsheim, betrachtete ihre rechte Hand und schmeichelte sich im stillen: Etwas größer als die linke ist sie, Gott sei Dank, doch schon.

Vor der Abfahrt der Gäste wurde noch Verabredung für den morgigen Nachmittag genommen, an dem ein Waldfest stattfinden sollte. Gräfin Dolph gab es am Marienfeiertag im August.

Sie fand nötig, sich dankbar zu erweisen für die vielen Freundlichkeiten, die sie bereits in der Gegend genossen hatte. »Meine Einladung zu einem Pläsierchen, wie man vorzeiten in Wien sagte, ist nichts anderes als eine Retourchaise, meine Herrschaften Wilhelm und Wonsheim; sie soll euch einen kleinen Teil des Vergnügens wieder hereinbringen, das mir eure Liebenswürdigkeit schon bereitet hat.«

Groß und klein versprachen sich Wunder. Das Waldfest – Fee hatte der guten Nullinger das Geheimnis herausgelockt – bildete nur einen Vorwand, um Hermann und Maria für eine Weile vom Schlosse zu entfernen. Bei der Rückkehr wartete ihrer eine großartige Überraschung, zauberhafte Beleuchtung des Schlosses und des Gartens, Feuerwerk, von Stuwer in Person angeordnet.

Ort und Stunde des Stelldicheins wurden bestimmt. Man beschloß, um vier Uhr nachmittags beim ehemaligen Vogelherd zusammenzutreffen. Die meisten wollten einen Umweg durch den Wald nehmen und zuerst die Burgruine ersteigen. Tante Dolph und Helmi zogen es vor, bei den Kindern zu bleiben, die mit ihrer Begleitung direkt zum »Uhuhaus« geschickt werden sollten.

Es war ihr Lieblingsplatz im Walde und zu Wagen in einer halben Stunde leicht erreichbar. Die verlassene, von Schlingpflanzen überwucherte Vogelhütte erweckte das große Interesse Hermanns und Erichs. Sie rüttelten an der verschlossenen Tür, sie guckten mit heißer Neugier und leisem, köstlichem Gruseln durch die winzigen, hinter Drahtgittern halb erblindeten Fensterscheiben. Wer recht lange und recht aufmerksam schaute, wer den Augenblick erwischte, in dem der Wind das Gezweige der Bäume bewegte und ein Sonnenstrahl durch das geborstene Dach in den dunklen Raum dringen konnte – der sah etwas: die Trümmer eines Ofens und eines Lerchenspiegels, Netze, von Mäusen zernagt; sah ein Wiesel, das von einem Loch in der Wand zum anderen huschte, und auf einer morschen Stange einen Uhu. Und der böse Raubvogel hatte nur noch einen Flügel und ein Glasauge, und das war fürchterlich und sandte gelbe Blitze aus, sooft ein Streiflicht darüber hinglitt … Oh, die Hütte unter den Erlen barg Erstaunliches! – nur zum Glück keine Gefahr mehr für Finken und Meisen und Rotkehlchen, und wie sie alle heißen, die kleinen Sänger. Getrost durften sie sich jetzt niederlassen auf die Zweiglein, die auf und ab schaukelten unter der leichten Last. Singt, trillert, jubelt und schwingt euch wieder auf, durchschneidet die Lüfte und kehrt heim zu euren Jungen. Ihr habt nicht mehr den Tod oder die Gefangenschaft zu fürchten.

Die Hütte lag wunderschön, von Waldungen umringt und nur gegen Morgen frei. Da breitete sich ein grüner Wiesengrund, da sah man den klaren, breiten Bach erschimmern und durch die Felsschlucht als Wildbach toben; da stiegen rechts von der Schlucht die bemoosten Steinriesen empor, deren einer die alte Burg trug. Heute noch, in ihrem Verfall, erhob sie sich stolz und herrschend.

Die Wonsheim waren bereits fortgefahren, als Fräulein Nullinger müd und abgehetzt erschien. Sie war zweimal zur Post gelaufen, hatte im Auftrage ihrer Gräfin neun Telegramme gewechselt mit Sacher & Demel und eben erst die Versicherung erhalten, daß alles Bestellte aufgegeben sei und morgen pünktlich eintreffen müsse. Als sie erfuhr, daß eine Partie nach der Burg stattfinden werde, erklärte sie, dabeisein zu wollen.

»Ich habe mich längst gesehnt, das Schloß zu besuchen«, sprach sie zu ihrer Gebieterin, »Sie kennen meine Vorliebe für das Mittelalter.«

»Sagen Sie doch: Schwärmerei. Sie stellen sich das so poetisch vor, wie die edlen Ritter mit wehenden Helmbüschen über reisende Kaufleute herfielen, sie erschlugen und beraubten. Wie sie sengend und brennend das Land durchzogen, dem Bauer die Pferde vom Pfluge wegstahlen und ihm, wenn er sich wehrte, die Haut über den Kopf zogen. Wie sie das Haus des schwächeren Nachbarn zerstörten, sein Weib an den Türpfosten hingen, seine Töchter entführten, wenn sie schön waren natürlich, und in ihr verruchtes … hm, hm«, sie räusperte sich, »schleppten. – Sie wären vielleicht auch entführt und geschleppt worden. Nulle.«

»Frau Gräfin«, fiel ihr diese ins Wort, »ich muß mir verbitten …«

»Nichts da! Sie hätten sich nichts verbeten. Sie hätten Schärpen gestickt für Ihren schwarzgelockten Ritter und hätten an seiner Seite, der Minne pflegend, gesessen vor dem Burgverlies, aus dem das Gewinsel der auf faulem Stroh verfaulenden Gefangenen zu Ihnen gedrungen wäre.«

Das Fräulein erhob sich: »Es ist genug, Frau Gräfin, ich sage sogar, es ist zuviel.«

»Da haben wir’s, jetzt ist sie beleidigt«, seufzte Dolph; »ja, meine Liebe, Sie dürfen nicht schwärmen für die Ritterzeit. Dazu ist die Haut Ihres Herzens zu fein geraten.«

Bei Einbruch dieser Nacht wurde in Dornach und dessen Umgebung gar heiß gebetet.

Lieber Gott, flehte Fee, auf den Knien liegend vor ihrem Bette, lieber Gott, du weißt alles, du weißt auch, daß Tante Dolph heute einen Brief von Tessin bekommen hat. Gib, lieber Gott, daß in dem Briefe steht: Ich hab immer eine Schwäche für die Kleine gehabt und will sie heiraten.

Lieber Gott, murmelte Fräulein Nullinger, knüpfte ihre Nachthaube fest und zog die Decke über die Ohren, lieber Gott, Heilige Jungfrau, alle heiligen Märtyrer, gebt mir Geduld mit meiner Gräfin. Sie ging noch weiter und verlangte, sogar etwas Liebe für ihre Peinigerin empfinden zu können. Aber diese Bitte wurde selbst im Himmel indiskret gefunden und blieb unberücksichtigt.

Inbrünstig gestaltete sich das Abendgebet der Jüngsten im Hause Wilhelm. Der sechsjährige Rudi sprach es vor: Du bist so gut für die Kinder, lieber Gott, gib, lieber Gott, weil du so gut bist, daß morgen ein schöner Tag ist.

Bis in die Nacht hatte drückende Hitze geherrscht; jetzt erhob sich, erst sanft, dann immer kräftiger, eine kühle nördliche Strömung. In den Wipfeln der Bäume begann es zu rauschen, allerlei Stimmen sprachen durcheinander; es stöhnte wonnig und lachte im Geäst und stieß laute Schreie aus. Labung, Labung! flüsterten die wehenden Zweige. Massige Wolken, die sich bequem hingelagert hatten rings am Horizont, stoben plötzlich aus ihrer Ruhe auf. Aus dicken Knäueln in lange Strähne verwandelt, jagten sie zuletzt ganz dünn und durchsichtig davon.

In unbestrittener Herrlichkeit stand der Mond am Himmel, als Willi sich einige Stunden nach Mitternacht der elterlichen Behausung näherte. Er ritt im Schritt über den gepflasterten Hof. In den niederen, mit Schindeln gedeckten Stallungen an beiden Seiten schliefen noch Menschen und Tiere. Ein Hund, der auf einer Schwelle ganz zusammengerollt lag, knurrte im Traume; dann schwieg wieder alles; sogar das Brünnlein vor dem sogenannten Schlosse hatte sein Rauschen eingestellt. Das tat dem jungen Soldaten weh. Hatte er doch die Zulage, die sein Onkel Hermann ihm gab, auf die Anschaffung einer neuen, schönen steinernen Muschel für das Brünnlein verwendet. Und jetzt war’s versiegt. – Die Wasserleitung einmal wieder schadhaft geworden, sagte er zu sich selbst, und kein Geld da, um sie herstellen zu lassen.

Armes Brünnlein, armes, geliebtes Vaterhaus! Selbst im alles verklärenden Mondlicht wollte sich’s nicht hübsch machen mit seinen kahlen Mauern, dürftigen Bogenfenstern und dem steilen, Wellenlinien bildenden Dach. Als einziger Schmuck diente ein hölzerner Balkon, dessen schiefe Säulen und wackeliges Geländer sich unter üppig wucherndem wildem Wein verbargen.

Leise pochte Willi ans Tor, um niemanden außer den auch Portiersdienste versehenden Gärtner zu wecken, übergab ihm das Pferd und trat ein.

Am nächsten Morgen begrüßten seine jubelnden Brüder einen Tag von unerhörter Pracht und wußten wohl, wem zuliebe er so geworden war.

In Dornach lief der kleine Hermann vom Vater zur Mutter und von der Mutter zum Vater. Er hatte nirgends Ruhe und war entzückend in seinem Eifer und seiner Ungeduld. »Weißt du, Erich«, sprach er, ihn stürmisch umarmend, »wir gehen heut so spät schlafen wie die großen Menschen. Wir gehen zum Uhu.« »Und was wirst du dort tun?« fragte Tante Dolph.

»Ich werd halt schauen.«

»Und dann?«

»Dann werd ich laufen, laufen auf der Wiese, so geschwind, daß man mich gar nicht sieht … so geschwind –« er machte große Augen, hob die Arme über den Kopf und strengte sich an, einen drastischen Vergleich zu finden, »so geschwind –«

»Wie der Teufel«, kam die Tante ihm zu Hilfe, er aber machte eine geringschätzige Gebärde und sagte: »Oh, viel schneller!«

Sie klopfte ihm lachend die Wange; sie, die Kinder nicht leiden konnte, weil sie Lärm machen und die Türen offen lassen, hatte eine Schwäche für diesen Großneffen. »Das echte Aristokratenkind«, erklärte sie. »Aus reiner, gesunder Rasse, vom ersten Atemzuge an gut genährt, gut bewohnt, gut gewaschen, weiß nicht, was Furcht ist, und nicht, was Geiz ist, schlägt drein, wenn’s gilt, und gibt, wenn’s gilt, das Hemd vom Leibe. Mut, Wohlwollen, Güte – er hat alle Tugenden, die mir fehlen – darum lieb ich ihn.«

Fräulein Nullinger blickte sie ganz verdutzt an und dachte: Merkwürdig, sie hat doch bisher kein Herz gehabt, sollte ihr eines gewachsen sein?

Kapitel 4

Kapitel 4

 

Sie wurden ein stilles und feierliches Brautpaar. Maria blieb kühl und gemessen. Dornach bekämpfte immer siegreich jede Regung seines überströmenden Gefühls. In der Gesellschaft erhoben sich Streitigkeiten, weil die einen behaupteten, er sei ihr, und die anderen wissen wollten, sie sei ihm gleichgültiger. Dennoch erging sich alle Welt in so überzeugten und gerührten Glückwünschen, als ob Romeo und Julia aus ihren Gräbern auferstanden und im Begriffe gewesen wären, sich häuslich einzurichten.

Unter den vielen Oberflächlichen, deren hohles Geschwätz geduldet und für deren als Teilnahme verkleidete Neugier gedankt werden mußte, gab es aber doch auch einige wohlwollende, treue Menschen, gab es vor allem Fürstin Alma Tessin. Maria liebte sie, verehrte ihre grenzenlose Herzensgüte und war voll Mitleid mit ihrer Befangenheit, die von Jahr zu Jahr zunahm. Die Fürstin fragte Maria um Rat, küßte ihre Hände, hatte in ihrer Gegenwart etwas Demütiges und Beschämtes, das dem jungen Mädchen ein Übergewicht über die Frau, die beinahe ihre Mutter hätte sein können, förmlich aufzwang.

Eines Vormittags kam Fürstin Tessin zu Tante Dolph und fand dort das Brautpaar. Maria schritt ihr entgegen, Hermann erhob sich. Alma sah ihn zum ersten Male seit seiner Verlobung, und es geschah unerwartet. Auf ihrem zarten Angesichte wechselten die Farben.

»Graf Dornach«, sprach sie, »ich habe noch nicht Gelegenheit gehabt, Ihnen meinen innigen, meinen freudigen …« sie hielt inne, von unüberwindlicher Verwirrung ergriffen, und blickte beschwörend zu ihm empor: Erbarme dich, schien sie zu sagen, sieh, was ich leide, und erbarme dich. Ihre stumme Bitte blieb unerfüllt. Er verbeugte sich, murmelte ein paar höfliche Redensarten und nahm ihre Hand nicht, die sie ihm zitternd hatte reichen wollen und nun mit einer Gebärde der Trostlosigkeit niedergleiten ließ.

Hermann nahm Abschied und ging.

Das Herz Marias schwoll vor Unzufriedenheit mit ihm. Was berechtigte ihn zu diesem ablehnenden Benehmen gegen ein Wesen, das ihr teuer war? – Almas Verwandtschaft mit Tessin, flog es ihr durch den Kopf. Aber nein! Weder Dornach noch irgend jemand konnte eine Ahnung von dem flüchtigen Interesse haben, das jener Mensch ihr eingeflößt. Tessin war scheinbar nicht mehr um sie bemüht gewesen als zwanzig andere. Daß sie ihm den Vorzug gegeben, blieb ihr sogar gegen ihn selbst streng bewahrtes Geheimnis. Aber die Eifersucht sieht scharf – der arglose Hermann verdankt ihr vielleicht einen Seherblick.

Als er am Abend wiederkam und den wunderschönen Blumenstrauß brachte, der täglich aus den Gewächshäusern von Dornach für die künftige Herrin anlangte, wies Maria die Gabe zurück: »Vorher will ich wissen, was haben Sie gegen Alma?«

Er zögerte mit der Antwort: »Sie ist mir … Aufrichtigkeit über alles, nicht wahr? – Nun denn – sie ist mir unangenehm.«

»Unangenehm? Verzeihen Sie, das begreife ich nicht – ausgenommen, Sie hätten die Kunst entdeckt, die Schönheit zu hassen und die Güte«, rief sie herb, und er erwiderte mit seiner gewohnten bescheidenen Gelassenheit: »Ich habe nicht von Haß gegen Fürstin Tessin gesprochen, ich bewundere ihre Schönheit …«

»Sie sieht eben aus, wie sie ist«, fiel Maria lebhaft ein; »so blond, so weiß, so duftig, von so überirdischer Anmut umflossen habe ich mir in meiner Kindheit die Engel vorgestellt.«

Seltsam war der Eindruck, den diese Worte auf ihn hervorbrachten; ein Schatten von Verlegenheit flog über sein Gesicht, und zugleich malte sich darin die tiefste und liebevollste Rührung.

»Ich will Sie heilen von Ihrer Abneigung«, fuhr Maria fort. »Das Mittel dazu ist einfach: Sie müssen Alma besser kennenlernen, dann wird meine beste Freundin auch die Ihre werden und bei uns ihr zweites Zuhause finden – wenn es Ihnen recht ist.«

Es fiel ihm schwer, den Jubel, den dieses »bei uns« in ihm erweckt hatte, zu unterdrücken; doch bezwang er sich und versetzte: »Sie werden in Ihrem Hause empfangen, wen Sie wollen, und tun und lassen, was Sie wollen; mir wird es recht sein. Nehmen Sie jetzt die Blumen?«

»Gern, und ich danke Ihnen«, antwortete sie und dachte: Er ist ein vortrefflicher Mensch, und ich werde ihn liebhaben wie einen Bruder.

Dornach hörte nicht auf, seine Huldigungen mit der größten Anspruchslosigkeit darzubringen. Seine erfinderischen Aufmerksamkeiten für seine Braut waren in seinen Augen das Selbstverständliche; ein Zeichen der Zustimmung von ihr, einen freundlichen Blick empfing er wie Himmelsgaben. Gräfin Dolph neckte und versicherte ihn, er beschäme die ganze Tafelrunde: solch ein altmodisch ritterlicher Bräutigam wie er bereite dem Ehemann einen schweren Stand.

Hermann lachte und behauptete, daß er nicht mehr sei und nicht mehr sein wolle als korrekt. Maria habe ihm ihren Wahlspruch: »Nur ruhig!« anvertraut, er halte sich an den seinen: »Nur korrekt.«

Und so waren denn seine fürstlichen Geschenke, so war der unerhört großmütige Heiratsbrief, den er ausstellte, so war jeder Beweis seiner unbegrenzten Sorgfalt für das Wohl und Behagen der Gegenwart und Zukunft seiner Braut »nur korrekt«.

Gräfin Dornach benahm sich gegen die Verlobte ihres Sohnes ganz und gar in seinem Sinne, der ihr plötzlich maßgebend geworden. Für die von orthodoxem Familiengeist beseelte Frau war der unmündige Junggeselle Hermann in den respektswürdigen zukünftigen Stammhalter seines edlen Geschlechts verwandelt, und der alten Generation kam nichts mehr zu, als – Platz machen. Agathe trat mit großartigem Gleichmut vor der zurück, die nun an ihrer Stelle die erste im Hause Dornach sein sollte. Sie legte zu deren Gunsten den Majoratsschmuck so gleichgültig ab, als ob es sich um ein Paar getragener Handschuhe gehandelt hätte. Sie traf ihre Anordnungen zur Übersiedlung aus dem Palais nach einem Miethause in der Stadt, wo sie einige Wintermonate, und nach dem Witwensitze Dornachtal, wo sie den größten Teil des Jahres zubringen wollte. Es war dies ein trauriger Aufenthalt in rauher Gegend, zu Füßen der Branecker Berge, und Hermann versuchte in jeder Weise, seine Mutter abzuhalten, ihn zu beziehen. Sie sollte in Dornach bleiben, in dem Flügel des Schlosses, den sie von jeher den drei anderen vorgezogen. Dort hatte sie ihr kurzes Eheglück genossen, dort ein Menschenalter hindurch als Gebieterin gehaust, dort sollte sie auch ferner hausen in der Nähe ihrer Kinder, von ihnen geehrt, geliebt, aber unbehelligt. Sie ließ sich nicht erbitten, ihr Entschluß war unerschütterlich. Sie dankte Gott, sagte sie, für die endlich erlangte Gnade, ihr Leben in Ruhe und im Gebet für sich und die Ihren still zu Ende spinnen zu dürfen.

So tadellos auch alles war, was die Gräfin tat und sagte, Maria vermochte dennoch kein Herz zu ihr zu fassen; diese Tadellosigkeit wurde zu frostig ausgeübt. Das zurückhaltende Wesen ihres Vaters flößte Maria Bewunderung ein, weil sie voraussetze, daß sich ein großer Reichtum hinter demselben verberge. Die Zurückhaltung der Gräfin aber schien ihr einen Mangel verdecken zu sollen. Wenn sie nach einem Besuche bei der Mutter ihres Verlobten Abschied nahm, erhielt sie einen Kuß auf die Stirn, dessen eisige Kälte sie vom Wirbel bis zur Sohle durchschauerte.

Einmal, da Gräfin Dornach einen neuen Beweis ihrer ungeheuren Selbstentäußerung geben wollte, wagte Maria abzuwehren. Agathe lächelte, gab dem olympischen Haupte einen kleinen Ruck ins Genick und sprach: »Nimm es nicht zu hoch, liebes Kind, es geschieht vielleicht nur für die Gräfin von Dornach.«

Am Abend vor der Hochzeit ließ Graf Wolfsberg seine Tochter zu sich bescheiden. Er erwartete sie, am Schreibtisch sitzend, in seinem großen Fauteuil, den Kopf zurückgelehnt, die Beine gekreuzt, und überdachte, was er ihr sagen wollte. Es war gar viel. – Daß sie ihm ein braves und gehorsames Kind gewesen, ihm auch nicht eine Stunde getrübt, daß ihm der Abschied schwerfalle, daß er aber einen Trost finde in der festen Hoffnung, sie werde glücklich sein. Und nun das Lob Hermanns und einige gute Ratschläge für die Zukunft. Dem Grafen war es eine ausgemachte, durch hundert Erfahrungen bestätigte Tatsache, daß jede junge, unschuldige Frau sich in den Mann verliebt, der sie zuerst das Leben kennenlehrt. – Maria wird keine Ausnahme machen, und er wollte ihr auf die Seele binden, in ihrer Leidenschaft nicht selbstsüchtig zu werden und stets ihre Würde zu wahren. Die Treue, meinte er, die der Mann seiner Frau am Altare geschworen, ist eine andere als diejenige, deren Schwur er von ihr empfing. Eine scheinbare Vernachlässigung, eine flüchtige Zerstreuung des Gatten wird von dem Weibe, das sich selbst achtet, übersehen. Was ist ein kurzer Sinnenrausch, dem gewöhnlich klägliche Ernüchterung folgt, im Vergleiche zu der unerschütterlichen, dankbaren Anhänglichkeit an die verehrte Lebensgefährtin, die niemals Nachsicht braucht, aber immer Nachsicht übt … üben soll – und weh ihr, wenn sie es nicht tut – wenn sie, wie jene arme, einst von ihm angebetete Frau …

Der Graf seufzte tief, seine Stirn verfinsterte sich. Die schmerzlichste Erinnerung seines Lebens war in ihm erwacht, und er suchte nicht wie sonst ihr zu entfliehen … Eine holdselige Gestalt stieg vor ihm auf: die Liebe seiner Jugend, seine schwer errungene Frau … Für eine der Töchter des Hauses, welchem sie entstammte, war Graf Wolfsberg kein ebenbürtiger Freier; sie gingen fürstliche Verbindungen ein oder blieben unvermählt. Und dennoch hatte er sie heimgeführt, dem Vorurteil zum Trotze, weil er ihr heißes Herz zu gewinnen verstanden, weil sie, zur Entsagung gezwungen, gestorben wäre und weil ihre Eltern, die schwachen, törichten, sie nicht sterben lassen wollten … Hätten sie es doch getan – welch einen süßen und schönen Tod hätte sie damals gehabt! Sie hätte aus dem Dasein scheiden können, unenttäuscht, im frommen Glauben an den Geliebten. Aber das wurde ihr nicht vergönnt. Sie sollte das Ärgste kennenlernen, bevor sie scheiden durfte, den Zweifel an ihm, an seiner Ehrlichkeit, Wahrhaftigkeit und Treue, an allem, was den Wert des Mannes begründet. Eine gräßliche Empfindung, die sie für Verachtung hielt und die Eifersucht war, bemächtigte sich ihrer. Sie heuchelte nun selbst, spielte die Ahnungslose und forschte und beobachtete ihn und ihren Gast, seine Mitschuldige und sein Opfer, die kleine Schlange Alma, die eben erst aus der Kinderstube in ihre – freilich trostlose -Ehe getreten war, forschte und beobachtete und hatte nur noch einen Wunsch, einen Gedanken, ein Ziel, die Schuldigen zu entlarven, ihnen die Worte ins Gesicht zu schleudern: Feiglinge und Verräter! Da erniedrigte sie sich zur Lauscherin an den Türen, da horchte, da erhorchte sie, was ihr den Verstand raubte – –

Ihre rast- und trostlosen Wanderungen begannen, ihre leichten Schritte glitten durch das stille Haus und weckten mit ihrem kaum hörbaren Schall einen nagenden, nie ruhenden Vorwurf. Er kam nach Jahren und Jahren dem Sinnenden noch zum Bewußtsein, und wenn auch nicht eben Reue, so erweckte er doch nicht mehr die Empörung von einst.

Im Zimmer nebenan ließen Stimmen sich vernehmen. Maria wechselte einige Worte mit dem Kammerdiener, der sich’s nicht hatte versagen können, heute mit ganz besonderer Dienstbeflissenheit die Türen vor ihr aufzureißen. Sie trat ein und ging langsam auf ihren Vater zu: »Du hast mich rufen lassen, es war überflüssig, ich wäre ohnehin gekommen, ich habe dir noch viel zu sagen.«

Er lächelte: »Ganz mein Fall dir gegenüber. – Setz dich.«

Maria rückte einen Sessel in die Nähe des Schreibtisches und nahm Platz.

Der Graf streifte sie mit einem Blicke; dann sah er hartnäckig an ihr vorbei ins Leere. – Das Ebenbild ihrer Mutter, dachte er, aber ihr Schicksal wird ein anderes sein. In dieser schönen Hülle wohnt eine stärkere Seele, ein kräftigerer Geist. Sie ist mein Kind … mein liebes Kind, das ich jetzt hingebe … Eine plötzliche Wehmut erfaßte ihn, eine Art Mitleid mit sich selbst, das er verspottete. Begann er vielleicht schon alt zu werden und sentimental?… Er nahm sich zusammen, er richtete sich gerade auf: »Morgen also –«

»Morgen also, Vater« – ein Beben lief durch ihre ganze Gestalt, sie beugte sich, und seines abwehrenden Winkes nicht achtend, fiel sie vor ihm auf die Knie nieder und schlang die Arme um seinen Hals. »Einmal laß mich dir danken«, sprach sie mit erstickter Stimme, »einmal nur dir sagen: Ich danke dir für alles.«

Ein trockenes Schluchzen entrang sich seiner Brust. Er preßte sie an sich, daß ihr der Atem verging, er drückte seine Lippen auf ihre Haare, auf ihre Stirn und zog sie immer und immer wieder an sein Herz.

Endlich erhoben sich beide und gingen lange nebeneinander in ernstem Gespräche auf und ab.

Mitternacht war vorbei, als der Graf seine Tochter mit einem kurzen: »Gute Nacht, Maria«, fortschickte. Sie stand schon auf der Schwelle, da rief er sie zurück. Es drängte ihn, ihr ein letztes Geschenk, eine Erinnerung an diese Stunde mitzugeben. Suchend sah er im Zimmer umher; sein Blick blieb auf einer kostbaren, goldtauschierten Kassette haften, die auf einem Schranke stand: »Nimm das, es ist längst dein Eigentum, es gehörte deiner armen Mutter.«

Kapitel 5

Kapitel 5

 

Bei der Vermählung am nächsten Tage war alles mustergültig, das Arrangement des Ganzen, die Haltung des Brautpaares, die Toilette der Braut, die Auffahrt vor der Kirche, die Trauung, das Diner und die Equipage Dornachs, in der die jungen Eheleute am Abend nach dem Nordbahnhofe fuhren. Sie hatten einen langsamen Zug gewählt, um nicht allzu früh am Morgen im Schlosse einzutreffen, wo ein feierlicher Empfang ihrer wartete.

Maria drückte sich in eine Ecke des Waggons. Ein Schauer der Angst hatte sie durchrieselt, als die Tür zugeschlagen worden. Da war sie nun allein mit dem Manne, der sie liebte und Herrenrechte auf sie besaß. Gestern noch fühlte sie sich stärker als er; wie hatte sich das so plötzlich geändert – nun zitterte sie vor ihm.

Er bemerkte es wohl, und sein Herz schwoll vor Stolz und Glück. – Fürchte dich nicht, hätte er ihr zurufen mögen, du bist mir so heilig, wie du mir teuer bist … Nicht dein Vater, nicht der Priester konnten dich mir schenken, das kannst nur du allein, und um dieses höchste Gut will ich ringen und werben. Aber er dachte: Nein, nicht Worte machen, beweisen! Und dann sprach er allerlei, und zwar nichts Geistreiches. Vom Wetter, das morgen hoffentlich ebenso wunderschön sein werde, wie es – unglaubliche Beständigkeit für den April! – die ganze Woche hindurch gewesen. Wie ihn das freute, weil Dornach sich zum ersten Male vor seiner Gebieterin im Sonnenglanze zeigen werde, dessen es sehr bedürfe, um nicht einen gar zu düsteren Eindruck hervorzubringen. Er legte Kissen und Plaids zurecht und bat Maria, sich’s bequem zu machen und einige Stunden zu ruhen; sie müsse müde sein, und morgen gebe es wieder einen angestrengten Tag. Maria kam seiner Aufforderung gern nach, sie wollte wenigstens tun, als ob sie schliefe, wenn auch an Schlaf nicht zu denken war bei dem unheimlichen Gefühl, das sie erfüllte in der Nähe dieses Mannes – ihres Mannes. Von Zeit zu Zeit öffnete sie die Augen ein wenig und sah zu ihm hinüber, und immer begegnete sie seinem unendlich liebevoll auf sie gerichteten Blick. Es war ein Ausdruck darin, der sie allmählich sicher machte: ihre Bangigkeit verschwand, ihre Lider wurden schwer und schlossen sich. Was sie für unmöglich gehalten hatte, geschah: sie fiel in tiefen, festen Schlaf.

Die Sonne war seit einer Stunde aufgegangen, als Maria erwachte und auffuhr. Hermann stand am Fenster und begrüßte sie mit einem fröhlichen: »Guten Morgen«, den sie ungemein verlegen erwiderte. Ihre Augen glänzten wie die eines erwachenden Kindes, ihre Wangen waren gerötet – wie gut vertrugen sich das junge Tageslicht und ihre junge Schönheit!

Hermann nahm sie bei der Hand und führte sie ans Fenster. »Siehst du die blaue Bergkette dort?« sprach er; »ihre Umrisse verschwimmen mit den blendenden Farben des Horizonts. Vor ihnen, recht in ihrem Schutze, liegt eine Hügelreihe. Siehst du sie?«

»Ja, ja, und der Gegensatz ist hübsch zwischen dem dunkeln Berghintergrund und den freundlichen Hügeln.«

»Auf einem von ihnen erhebt sich ein graues Gemäuer, das ist Schloß Dornach … Es hat mir sonst ausbündig gefallen, aber neulich, bei meinem letzten Besuche, da ich es mir als deine zukünftige Behausung dachte, fand ich’s deiner ganz unwert, das alte Eulennest.«

Maria protestierte nicht nur aus Höflichkeit; der Anblick des Schlosses, den eine Krümmung des Weges ihr jetzt wieder entzog, war ihr herrlich erschienen.

Sie rollten zwischen Wiesengeländen am Ufer eines wasserreichen Flüßchens der Station entgegen, auf welcher die Eisenbahn verlassen wurde. Zu Wagen ging es weiter bis zum ersten Forsthause auf Dornachschem Gebiet, wo Maria ungestört Rast halten und nur von ihren vorausgesandten Dienerinnen erwartet werden sollte. Lisette hatte sich an deren Spitze gesetzt und durch ihre menschenfresserische Laune bereits alle an den Rand der Verzweiflung gebracht. Seit einigen Wochen befand sie sich im Schlosse, um der Einrichtung von Marias Gemächern vorzustehen. Und nun war sie hierhergekommen, denn sie mußte doch die erste sein, die das arme, ihrer Obhut entrissene Kind begrüßte. Sie tat es wie nach jahrelanger Trennung unter Tränenströmen und Ausbrüchen des Bedauerns; Hermann gegenüber jedoch hüllte sie sich in gehässiges Schweigen. Er verbiß ein Lachen, bot seiner Frau den Arm und führte sie, die sich sanft von ihrer Anbeterin und Tyrannin losmachte, in das Haus.

Lisette stürzte nach und erlebte eine neue Enttäuschung. Die Herrin sprach beim Umkleiden nicht ein Wort der Klage noch der Anklage. Und darauf hatte Lisette gerechnet, um dem seit gestern in ihr gestauten Groll gegen die Roheit und Unverschämtheit der frisch gebackenen Ehemänner die Schleusen zu öffnen. Sie nahm es recht übel, daß ihr keine Gelegenheit zu dieser Erleichterung geboten wurde. Maria war heiter und blieb es während der ganzen Fahrt, die auf ihren Wunsch bald fortgesetzt wurde. Der vierspännigen Herrschaftsequipage zunächst folgten Lisette und die Kammerfrau. Die erstere erhob sich oft in ihrem Wagen, setzte die Brille auf und studierte, soviel es nur möglich war, die Miene ihres Abgottes. Ihr schien der ungeratene förmlich begeistert dreinzuschauen, als man an der Grenze der Ortschaft Dornach anlangte und die Bevölkerung der neuen Mitbürgerin einen feierlichen Empfang bereitete. Dem Programme nach kein anderer denn alle feierlichen Empfänge im guten Lande Mähren: Triumphbogen, Ansprachen, Geschenke an Brot und Salz, Eiern, Hühnern, Enten, Gänsen und einem riesigen Säugling aus Lebkuchen in farbigen Wickeln und garnierter Haube, Böllerschüsse und Vivatrufe. Ungewöhnlich war nur die echte Herzlichkeit, welche diese Kundgebungen beseelte, das Unbeholfene veredelte und dem Herkömmlichen das Gepräge des Neuen und Außerordentlichen gab.

»Du wirst von diesen Leuten sehr geliebt«, sagte Maria zu Hermann.

»Weil ich sie liebe«, erwiderte er vergnügt. »Wenn uns auf Erden etwas mit Zins und Zinseszins zurückgezahlt wird, so ist es unsere Menschenliebe. Ungeliebt durchs Leben gehen ist mehr als Mißgeschick, es ist Schuld.«

Auf dem Platze umlagerte eine dichte Menschenmasse den Eingang zur Kirche. Unter dem Portal stand der alte Dechant mit seinen Kaplänen und den Weihrauchfässer schwingenden Chorknaben. Als der Graf und die Gräfin den Wagen verließen, um in das Gotteshaus einzutreten, verstummte das Jubelgeschrei der Menge; die ehernen Stimmen der Glocken sprachen jetzt allein und begleiteten mit ihrem Schalle den Segen, den der greise Priester auf die Häupter der jungen Eheleute vom Himmel herabrief.

Sie traten aus der Kirche, sie stiegen die breite Treppe langsam hinab. Alle Blicke waren auf Maria gerichtet, mit plumper Neugier, mit Schüchternheit, mit staunender Bewunderung – in manchem Jünglingsauge glühte offenbare Verzückung … Ob jung, ob alt indessen, ob weiblich oder männlich, auf all diesen Gesichtern, die sich ihr zuwandten, las Maria den Ausdruck eines geheimnisvollen, eines ererbten Leids. Und in ihr erwachte der Gedanke: Was dich da anruft mit stummer und unbewußter Klage, das ist die nach Erlösung ringende ewige Dienstbarkeit. Wir die Herren, sie die Knechte. Darbend an Leib und Seele, verdienen sie – unser Brot, mühen sich, zur Erde gebeugt, jahrein, jahraus, damit unser Geist frei und unbehindert auffliegen könne bis an die Grenzen des Erkennens. Ohne ihre harte Arbeit keine Ruhe für uns, kein Genuß, nicht Kunst, nicht Wissenschaft …

Am Fuße der Treppe angelangt, hemmte sie plötzlich den Schritt und griff, wie unwillkürlich schutzsuchend, nach dem Arme Hermanns. Er umschlang und hob sie in den Wagen, voll Besorgnis nach dem Grund ihres plötzlichen Schreckens fragend. »Es ist nichts«, versicherte sie, »gar nichts.«

Und es war ja nichts – eine Sinnestäuschung, ein seltsamer Streich, den ihr Gedächtnis ihr gespielt. Sie hatte gemeint, mitten in dem Gewühl einen höhnisch Lachenden zu sehen, der sie anstarrte, frech wie damals in jener Winternacht. Züge, deshalb so widerlich, weil sie die eines verehrten Antlitzes entstellt widerspiegelten. – Unsinn, sagte sie zu sich selbst. Wie käme der Mensch hierher?

Der peinliche Eindruck war entschwunden, verdrängt durch manchen schönen und lieblichen und durch eine kräftige Lebensfreudigkeit, die ihr ganzes Wesen durchströmte, als sie dahinflog im raschen Trabe der feurigen, schäumenden Pferde, auf sammetweicher, bergansteigender Straße zwischen majestätischen Buchen. Jedem Blick in die Gegend, den zu tun die tief niederhängenden Äste gestatteten, bot sich ein anmutiges Bild. Die Landschaft mit ihren im ersten Frühlingsgrün prangenden Wiesen und Baumgruppen, mit ihren Weihern und fleißig rauschenden Bächlein glich einem wohlgehaltenen Parke.

Und nun sah man zwischen hohen Wipfeln ein spitzes Dach, reich verzierte Schornsteine und Giebel emporragen. Endlich war auch die Avenue erreicht, und da stand Schloß Dornach, altersgrau und prächtig. Es war um die Zeit Pierre Nepveus – die Sage wollte wissen, von ihm selbst – im Mischstile von Gotik und Renaissance erbaut; ein stolzes Denkmal einst begründeter und durch die Jahrhunderte behaupteter Macht.

Mit Kennerblicken betrachtete Maria den malerischen Bau; ihr künstlerischer Schönheitssinn schwelgte in höchster Befriedigung. So umgeben sein ist ein Glück, ein Glück von jeder Stunde … Wie oft hatte sie als junges Mädchen die Ruine im Walde zu Wolfsberg, die ihr Vater verfallen ließ, in Gedanken wiederaufgerichtet und geschmückt mit Türmen und Bildwerken und zierlichen Erkern, daß die Schöpfung ihrer Phantasie beinahe so herrlich wurde wie die Wirklichkeit, die ihr jetzt vor Augen stand.

»Mein Traum«, rief sie aus, »mein in Erfüllung gegangener, noch überbotener Traum!«

Auf dem breiten Kieswege vor dem Hause wimmelte es von Willkommrufenden.

»Der letzte Anprall«, sprach Hermann, »die Beamten und das Forstpersonal.«

»Schon recht«, erwiderte sie. »Sage nur, wem gebührt der erste Händedruck? Dem Hünen mit der lichtblonden Mähne an der Spitze des Heeres – nicht wahr?« Sie deutete auf einen großen, breitschulterigen Mann mit rotbraunem Gesicht und hellen Haaren in zu engem Frack und zu weiter Krawatte. Zu seiner Rechten hielt sich eine stattliche schwarzäugige Dame, zu seiner Linken waren lebendige Orgelpfeifen aufgestellt, acht Knaben, von denen der älteste ihm etwas über den Ellbogen, der jüngste bis zum Stiefelschaft reichte und die alle so weiße Köpfe hatten wie er.

Hermann winkte ihm von weitem zu: »Dem gebührt der erste Händedruck, jawohl, dem, meinem vortrefflichen Vetter Wilhelm.«

Der Vetter nickte und verbeugte sich und befahl seinen Buben auf das bärbeißigste, dasselbe zu tun, und seine Gattin tat es ungeheißen.

Glückstrahlend, Hand in Hand mit Maria, trat jetzt Hermann vor die Gruppe. »Da ist sie«, rief er, »da bringe ich sie …« und zu der übrigen Versammlung gewendet: »Da ist sie, eure Gebieterin und die meine.«

Gott im Himmel, was hatte der Herr Graf angerichtet mit dieser überstürzten Vorstellung! Nicht mehr und nicht minder als die unheilbarste Konfusion hineingebracht in die so wohl vorbereitete, so beharrlich einstudierte Begrüßungsfeierlichkeit. Einzelne Hochrufe ertönten, in die viel zu wenig Stimmen einfielen.

»Sie hätten losgehen sollen«, fuhr der Kommandant der Feuerwehr den Kommandanten der Veteranen an.

»Wie denn ich? Wenn der Wagen steht, hat’s geheißen. Ist er gestanden? Die Herrschaften sind ja noch beim Fahren herausgesprungen. Aber alles eins: Feuer! Feuer! sag ich – Sapperlot!«

Eine Salve wurde abgegeben, Fahnen wurden geschwenkt.

»An Euer gräflichen Gnaden«, flüsterte der Herr Direktor dem Grafen Wilhelm zu.

»An Sie«, sprach der Herr Verwalter.

»An Ihnen«, verbesserte der Herr Kanzleirat. – Aber Vetter Wilhelm, erschüttert in tiefster Mannesseele, wußte kein Wort mehr von der schwungvollen Anrede, die der Herr Schullehrer für ihn verfaßt und ihm eingeprägt hatte, so gut, so fest, daß er eben noch voll Stolz gesagt: »Du, Helmi, Sie, Herr Lehrer, das sitzt da drinnen, das sitzt wie Eisen.«

Und jetzt war auf einmal alles herausgefallen.

Umsonst die höllische Arbeit des Auswendiglernens, umsonst der Aufwand an Todesängsten und berauschenden Hoffnungen, den der arme Autor gemacht, zerstört die Freude der guten Gräfin, in bescheidentlicher Teilnahme einem Rednertriumphe ihres Eheherrn beizuwohnen, wie er ihn erst neulich gefeiert, daheim auf der Schießstätte. – In diesem allerwichtigsten Moment jedoch zuckte es nur unter seinem dichten Schnurrbart und über seine runden, glattrasierten Wangen, und seine Augen, die eher klein als groß waren und dennoch ein Meer umfaßten, ein dunkelblaues Meer von Liebe, wanderten von Hermann zu Maria und von Maria zu Hermann. Auf einmal rief er aus: »Hermann, alter Mensch!… Gnädigste Gräfin, hochverehrte Base – herzlichst willkommen. – Tusch!« fuhr er den Lehrer an, der sich genähert hatte, um ihm einzusagen, und die Dorfkapelle fiel ein, trompetend, geigend und paukend.

Hermann schloß den Vetter in die Arme, küßte die Hand Gräfin Helmis und gab den Buben einen Wink, die Blumensträuße zu überreichen, die sie in Bereitschaft hielten für die neue Tante. Alle stürzten auf sie los und hatten alle, vom Vier- bis zum Vierzehnjährigen, dasselbe Gesicht und waren einer so unbefangen und zutraulich wie der andere. Warum denn nicht? Konnten sie sich nicht sehen lassen, waren sie nicht schön in ihren neuen, von der Mutter genähten Leinwandblusen und ihren von der Mutter frisch gewaschenen Gesichtern und heute mit Zahnpulver geputzten Zähnen?

Maria war gegen die ganze Familie so freundlich, wie eine vollkommen elegante junge Dame es dem ausgesprochensten Landjunkertum gegenüber nur irgend sein kann. Sie entzückte das Ehepaar, sie entzückte jeden, der ihr vorgestellt wurde und mit dem sie einige Worte wechselte. Ihre einfache und taktvolle Leutseligkeit gewann ihr in der ersten Stunde die allgemeine Sympathie und besiegte die Vorurteile der greisen Honoratiorenhäupter, die dem zu erwartenden neuen Regimente ziemlich bedenklich entgegengesehen hatten.

Die »alten Spitzen«, wie die höheren Beamten von der lustigen Frau Adjunktin genannt wurden, kehrten spät abends nach dem Souper im Schlosse in durch und durch angenehmer Stimmung heim. Herren und Damen waren darüber einig, daß die junge Gräfin unbeschreiblich liebenswürdig und halt – eine Dame sei.

»Jeder Zoll eine Dame!« rief der gebildete Kanzleirat. »Und – eine Würde, eine Höhe … Sie verstehen mich, Frau Verwalterin.«

Beim Abschied von seinen Verwandten fragte Hermann: »Wann kommt ihr wieder? – morgen?«

Wie wenn ihm ein schnödes Unrecht zugemutet worden wäre, fuhr Wilhelm zurück: »Was fällt dir ein … in acht Tagen frühestens. Nicht wahr, Helmi?«

»Um keinen Preis früher«, versetzte diese, »es ist ohnehin indiskret genug.«

»Heut in acht Tagen also, es bleibt dabei.«

»Bleibt dabei, wir kommen, natürlich ohne die Rangen … Wirst du schweigen?« wetterte er seinen Erstgeborenen an, der sich erlaubt hatte, gegen diesen väterlichen Beschluß zu murren. »Die Rangen bleiben zu Haus, die Rangen müssen lernen, müssen alles das lernen, was ich nicht gelernt habe, und das ist viel.«

Er nahm Hansel, den Kleinsten, der längst auf einem Kanapee eingeschlafen war, auf den Arm und schritt so seiner Frau, die der Hausherr zum Wagen führte, und seinen anderen voranmarschierenden Söhnen nach.

An der Tür, bis zu welcher Maria ihn begleitet hatte, blieb er stehen, sah ihr in die Augen, und seine Wange an den Kopf des Kindes lehnend, sprach er: »Der achte! ‘s ist eine Nummer – ich genier mich manchmal – ich genier mich eigentlich immer nachträglich und im voraus, denn – wer weiß – und wer kann wissen, was noch nachkommt? – Aber«, und jetzt ging ihm, zum wievielten Male an diesem Abend hat er nicht gezählt, das Herz über, »wenn auch doppelt so viele nachkämen, als schon da sind, in jedem von ihnen wird ein braver Mensch heranwachsen und ein treuer Freund Ihrer, das heißt deiner zukünftigen Söhne, Frau Base, deren erstes Exemplar du uns ehebaldigst bescheren mögest.«

Kapitel 6

Kapitel 6

 

»Du hast mich einem edlen und guten Menschen zur Frau gegeben«, schrieb Maria an ihren Vater in ihrem ersten Briefe aus Dornach. Das Wort »Glück« kam nicht ein einzigesmal vor, aber aus jeder Zeile sprach Zufriedenheit. Maria hatte sehr bald begriffen, daß sie als die Frau Hermanns eine Aufgabe zu lösen haben werde, die ihrem ernsten Sinn entsprach. Anders als in Wolfsberg gestalteten sich in Dornach die Beziehungen zwischen dem Großgrundbesitzer und seinen kleinen Nachbaren. – Dort herrscht eine Art bewaffneten Friedens, offene gegenseitige Feindschaft; eingewurzelte Unredlichkeit und Arglist von seiten der Schwachen, Starrsinn und unerbittliche Strenge von Seite des Starken.

»Ich will nur mein Recht«, sagte der Graf und ging schonungslos vor in der Erreichung dieses Rechtes.

»Das Recht?« sagte Hermann. »Mit welchem Rechte verlangt man einen Begriff des Rechtes von Leuten, die sich immer nur der Gewalt beugen mußten?«

Maria stimmte ihm bei. Sie war wie er ein Kind der neuen Zeit, das Gefühl der Unerträglichkeit fremden Leids, fremder Not und ein heißer Drang zu helfen hatte auch sie oft ergriffen. Nun lag die Macht, ihm Genüge zu tun, in ihrer Hand. Sie empfand eine innige Dankbarkeit für den, der sie ihr gegeben, unter dessen Leitung sie dieselbe ausübte.

»Heute Dienstag und Familiendiner«, sprach Hermann eines Morgens, in das Frühstückszimmer tretend. »Hast du nicht vergessen?«

Sie gestand es ein: »Jawohl, völlig vergessen. – So wäre seit unserer Ankunft eine Woche vergangen?«

»Eine volle Woche. Mir ist sie entschwunden wie ein glücklicher Augenblick … Und dir, Maria? Nicht allzu langsam?«

»Nein, nein«, sagte sie leise.

Er umfaßte sie mit beiden Armen. »Wenn es so fortgeht, werden wir plötzlich ein Paar alte Leute sein. Unvermutet wird uns einst das Alter überraschen; aber ich fürchte es nicht und auch nicht den Tod. Es ist schön zu sterben nach einem schön erfüllten Leben, in dem man nie irre geworden ist an seinem teuersten und höchsten Menschen, wie ich es an dir nie werden kann.«

»Was verstehst du darunter? Was ist der Inbegriff von allem, was du von mir verlangst?« fragte sie.

Hermann sah ihr mit einem langen, verständnissuchenden Blick in die Augen. »Du weißt es ja, vorläufig nur – einen Tausch. Für meine grenzenlose Liebe – dein grenzenloses Vertrauen. Espérant mieux, wie das Motto Antoine Latours gelautet.«

Maria senkte den Kopf. »Du bist so gut, du hast die Geduld mit mir, um die ich dich gebeten habe«, flüsterte sie nach kurzem Schweigen und verbarg plötzlich ihr Gesicht an seiner Schulter.

 

»Die Pferde! Deine Pferde aus Wolfsberg«, ließ jetzt die laute Stimme Lisettens sich im Nebenzimmer vernehmen, und sie selbst schlich herein, lächelnd und bissig, untertänig und grollerfüllt wie immer in Hermanns Gegenwart, welcher in ihren Augen nichts war als der mit einem Privilegium versehene Räuber »des Kindes«. Sie hatte jede trübe Stunde vergessen, die sie in Marias Geburtsort verlebt, und gab Wolfsberg hier im Hause für das Gelobte Land aus. Jeder Brief, jede Sendung, die von dort kam, wurde von ihr empfangen wie ein Gruß aus dem Aufenthalt der Seligen.

»Und der Georg hat sie gebracht, deine lieben Pferde, der alte Georg, der’s nicht erwarten kann, dir die Hand zu küssen, Frau Gräfin, mein Kind«, setzte sie in schmelzendem Tone hinzu. – Dieselben Pferde, die sie ingrimmig gehaßt als immerwährende Gefahrbringer für das Leben und die geraden Glieder Marias, derselbe Georg, den sie verabscheut, weil er diese Pferde gesattelt hatte, standen jetzt in Lisettens höchster Gunst.

Sie sah aus dem Fenster »dem Kinde« nach, das voll Freude über das bevorstehende Wiedersehen seiner vierbeinigen Lieblinge an der Seite Hermanns über den Hof eilte. »Ohne Hut, ohne Handschuhe, freilich, freilich«, brummte Lisette und überließ sich ihrer Gewohnheit, halblaut mit sich selbst zu sprechen, sobald sie allein war: »Wer schaut hier auf dich, du Vogel du, der verliebte Graf gewiß nicht, der denkt an nichts, sieht nichts, ist dumm und blind vor lauter Verliebtheit.«

Sie begab sich in das Schreibzimmer, schellte und befahl dem Stubenmädchen, der Frau Gräfin das Vergessene nachzutragen. Dann fuhr sie in ihrer eine Weile hindurch unterbrochenen Beschäftigung fort. Diese bestand in dem Ausräumen eines Rokokoschreibtisches aus Rosenholz mit Bronzeverzierungen und eingelegten Vieux-saxe-Platten. Lisette wickelte unzählige, sehr wertvolle Sachen und Sächelchen, Bonbonnieren, Dosen, Elfenbeinschnitzereien, Siegel, Flakons aus ihren Papier- und Wattehüllen und legte alles auf einem Tisch in der Nähe des zierlichen Glasschränkchens zurecht, das an der Wand hing und bestimmt war, die kleinen Kostbarkeiten aufzunehmen. Fast jeder dieser Gegenstände weckte in der Alten eine wehmütige Erinnerung an dessen frühere Besitzerin, an Marias Mutter. Es waren sämtlich Geschenke des Grafen. Er hatte sie dereinst aus Paris, wo er kurze Zeit in besonderer diplomatischer Mission in Verwendung gestanden, nach Hause geschickt als Zeichen treuen täglichen Gedenkens. Und wie beglückten und beseligten sie! Mit welchem Eifer suchte die junge Frau vor allem nach dem flüchtig bekritzelten Zettelchen, das diese Sendungen meist begleitete. Meist – nicht immer … und dann, war das sehnlichst Erwartete ausgeblieben, dann fehlte dem Schönen der Reiz, und die Gräfin beugte sich traurig über ihr Kindlein: »Er hat uns heute nicht geschrieben, Maria …«

Sie hat ihn zu liebgehabt. Freilich, freilich. – Lisette sann nach, ihre Lippen verzogen sich zu einem tückischen Lächeln: »Das wirst du ihr nicht nachmachen, mein Vogerl«, murmelte sie, »du hast eine andere Natur. Wenn in deiner Eh eins von euch vor lauter Lieb den Kopf verliert, wird’s der andere sein, nicht du.«

»Worüber lachst du?« fragte Maria eintretend.

»Ach was, nur so – – über den spaßigen Heiligen da.« »Was ist das für ein Heiliger?« Sie reichte der Gebieterin eine Dose, die mit einem Emailbildchen von Petitot, einen jungen, weinlaubumkränzten Faun darstellend, geschmückt war.

Maria betrachtete es zum erstenmal aufmerksam; sie war keine Freundin der Kunst im Kleinen und hatte diesen Bibelots nie ein besonderes Interesse geschenkt. Nun aber bewunderte sie eingehend die feine Arbeit des französischen Meisters, und wie sie dabei das Kästchen hin und her wandte, sprang bei einem Druck ihres Fingers der Deckel auf. Die Dose barg einen goldenen, in Seidenläppchen gewickelten Schlüssel; Marien schien, die Zeichnung der Arabesken seines durchbrochenen Griffes habe Ähnlichkeit mit der Tauschierung der Kassette, die sie am Abend vor ihrer Vermählung von ihrem Vater erhalten und an welcher der Schlüssel fehlte. – Doch hatte sie nicht Zeit, sich der Zusammengehörigkeit der beiden gleich zu versichern, denn die Ankunft ihrer Gäste, die um ein Uhr, eine Stunde vor dem Mittagessen, eintreffen sollten, stand bevor.

Sie kamen auch richtig angefahren, auf die Minute, zwei Seelen und vier Seelchen. Im letzten Augenblicke hatte Wilhelm sich erweichen lassen durch die traurigen Gesichter, mit denen die jüngeren Rangen den Vorbereitungen zur Abfahrt der Eltern zusahen, und sie mitgebracht. Sie waren ja noch so dumm und versäumten nicht gar viel Lernerei. Vater und Mutter baten dringend, sich nicht im geringsten um sie zu kümmern, sie nur im Garten herumlaufen zu lassen. Das Vertrauen konnte man ihnen schenken, daß sie sich in acht nehmen und nicht in den Teich fallen würden. Auf irgendwelche Berücksichtigung bei der Mahlzeit hatten sie keinen Anspruch; sie waren zu Hause abgefüttert worden, und überdies hatte jeder sein Stück Brot im Sacke und konnte damit bequem aushalten bis zur Heimkehr.

Eine so ungastliche Behandlung sollten sie jedoch nicht erfahren, vielmehr durften sie ihre Brotration den Pferden bringen; ihre Mutter und je zwei von ihnen wurden von Maria in der Ponyequipage im Parke herumkutschiert, während die zwei anderen dem Wagen nachrannten, um die Wette mit den Hunden. Bei Tische erhielten sie ihre Plätze nebeneinander, saßen kerzengerade und benahmen sich musterhaft. Trefflich regiert von den kurzen Kommandoworten des Vaters und den abmahnenden oder zustimmenden Blicken der Mutter, entfalteten sie bei aller Dressur einen kleiner Rothäute würdigen Appetit.

Maria hatte sich auf die Freuden des heutigen Familienfestes mit uneingestandenem Grauen gefaßt gemacht, und jetzt erfüllte sie mit Vergnügen ihre Hausfrauenpflichten und unterhielt sich beinahe. Nicht nur mit den Kindern. Der biedere Mann, der, wie sie wußte, den Unterhalt seiner zahlreichen Nachkommenschaft schwer bestritt und ihrer etwaigen Vermehrung dennoch mit naiver Ergebung entgegensah, die Frau mit dem Typus ihres hochadeligen Stammes in den feinen Zügen, die sich ihrer abgearbeiteten Hände so gar nicht schämte und die Haube mit den gefärbten Bändern und das verschossene Foulardkleid so tapfer trug, flößten der neuen Verwandten die herzliche Wertschätzung ein, die bei ihr eine sichere Vorbotin künftiger Freundschaft war.

Bald nach Tische trennte man sich. Hermann und Wilhelm ritten nach einem entlegenen Hof zur Besichtigung eines Baues, der dort aufgeführt wurde. Gräfin Wilhelmine und ihre Kinder kollerten heim in ihrem kürzlich neu lackierten, mit Bauernpferden bespannten grünen Wägelchen.

Maria blieb allein und wollte ihre Einsamkeit zu einer Wanderung durch den Park benützen und einen schönen Aussichtspunkt am Ende desselben erreichen, von dem Hermann ihr gesprochen hatte. Sie nahm seine beiden Jagdhunde als Begleiter mit; semmelfarbige, kurzhaarige, sehr kluge Tiere, die am Tage des Einzugs Marias begriffen hatten: in Abwesenheit des Herrn gibt es jetzt eine Herrin. Auf den Fersen folgten sie ihr, die Nasen gesenkt, mit tief herabhängenden Ohren, und wenn sich’s regte auf der Wiese, im Gebüsch, im dunklen Schatten der Bäume, fuhren sie zusammen, hoben die Nasen in die Höhe, schnupperten, alle ihre Sehnen spannten sich zum Sprunge. – Ein Anruf aber: »Zurück! Lord, Fly, zurück!« und sogleich senkten sie die Köpfe und schritten dahin, gehorsam den Befehlen der Menschen, widerstrebend den Gesetzen ihrer eigenen Natur.

Es war ein kühler Nachmittag; Maria ging rasch vorwärts, von einem wohligen Gefühl der Freiheit beseelt. Daheim wäre ihr verwehrt gewesen, einen weiten Spaziergang allein zu unternehmen, und sie empfand einen großen Genuß in der Ausübung ihrer kaum erlangten Selbständigkeit. Alles trug dazu bei, ihre Wanderlust zu erhöhen, der wolkenlose Himmel, der über ihr blaute, die kräftige Luft, die, gewürzt mit Harzdüften, vom Tanne hergestrichen kam, die Frühlingslieder der Vögel in den Zweigen, die Schönheit der Stätte selbst, die Maria durchschritt. – Sie kam sich vor wie in einem Zaubergarten, den menschenfreundliche Geister pflegten. Sie hatten die Wege besandet, die Wiesen geschoren, die Hecken beschnitten, die Brücklein über den Bach gebaut. Sie hatten die bewimpelten Kähne am Ufer des Weihers befestigt, die Scheiben des Fischerhauses blankgescheuert, daß sie im Abendrot glänzten wie Gold, und waren nach vollbrachtem Werke verschwunden ohne Spur.

Wie wohltuend, wie entzückend schön ist es hier, sagte sich Maria, und zugleich durchblitzt’ es sie: Wenn Tessin jetzt dastände und mich sähe in diesem kleinen irdischen Himmelreich …

Sie hatte ihn verbannen wollen aus ihren Gedanken, es nicht vermocht und – Frieden mit ihm geschlossen.

Was war denn sein Verbrechen gewesen? – Hatte er sie zu täuschen gesucht, je ein Wort von Liebe zu ihr gesprochen?… Und doch war sie beneidet worden um seine Aufmerksamkeit und hatte sich beneidenswert gefühlt und sich nicht Rechenschaft gegeben, worin seine Macht über sie bestand.

Die unbestimmte, unerklärliche Angst, von der sie manchmal ergriffen worden in seiner Nähe, im Banne seiner Augen, durchrieselte sie; eine Ahnung kommenden Leids beklemmte ihr die Brust.

Sie war sich der Zeit nicht bewußt, die verflossen, seit ihre Wanderung begonnen hatte, und staunte, als sie, aus einem Fichtenhain tretend, die Sonne schon tief zum Untergang geneigt sah. Mit verdoppelter Geschwindigkeit eilte sie ihrem Ziele, einer Zirbelkiefer, zu, an deren gewaltigem Stamm eine leichte, geschnitzte Wendeltreppe zu einer runden Altane emporführte, über die der mächtige Baum sein grünes Schirmdach breitete.

Die junge Frau lief die Stufen hinan, um von der hohen Warte aus noch einen letzten Blick des scheidenden Tagesgestirns zu erhaschen. Die Hunde folgten. – Plötzlich schien ihr, als schwanke die Treppe … sie blieb stehen, wartete, an das Geländer gelehnt – das Schwanken dauerte fort. Es war nicht durch sie hervorgebracht. Dort oben mußte jemand auf und ab gehen, langsam und wuchtig. Einen Augenblick dachte sie an Flucht, es war doch gar zu einsam hier. Sogleich jedoch verlachte sie die feige Regung, die sich ihrer hatte bemeistern wollen. Wer konnte es sein? Ein Jäger, im schlimmsten Fall ein Wildschütz. Aber wenn auch, was hatte sie zu fürchten?

Die Hunde knurrten. Die Schritte hielten an, die ihren waren gehört worden.

Wenige Sekunden später betrat sie die Plattform unter dem wütenden Gebell Lords und Flys, die ihr vorangesprungen waren.

»Hoho, die Hunde! Rufen Sie die Hunde!« kreischte eine erregte Stimme ihr entgegen. – Der Mensch, der diesen Hilfeschrei ausgestoßen hatte, preßte den Rücken an den Stamm des Baumes und führte mit dem Stock einen Schlag gegen seine Angreifer, traf sie aber nicht.

Maria hatte ihn auf den ersten Blick erkannt trotz der Veränderung, die mit ihm vorgegangen war. Nicht in Lumpen wie in jener Winternacht, sondern gut gekleidet, in einem lichten Sommeranzug, mit wohlgepflegtem Haar und Bart, wäre seine Erscheinung die eines auffallend hübschen Menschen gewesen ohne den Ausdruck der Verwilderung und der Krankheit in seinem eingefallenen Gesicht.

Auch Maria war bleich geworden: »Hierher!« befahl sie den Hunden, die sich widerwillig fügten, und sprach in hartem Tone den Fremden an: »Der Eintritt in den Park ist nur den Hausleuten erlaubt. Was wollen Sie hier?«

Er hatte seine Sicherheit wiedergewonnen und beeilte sich, es zu beweisen. Den Hut spöttisch lüftend, erwiderte er: »Ich will dasselbe, was Sie wollen – die Aussicht bewundern, die wirklich ganz reizend ist. Erfüllen wir den Zweck unseres Spaziergangs.«

»Frechheit«, murmelte Maria, und die Rechte gebieterisch ausgestreckt, setzte sie laut hinzu: »Fort!«

»Entschuldigen Sie«, versetzte er, »ich bleibe. Ich habe mit Ihnen zu reden und hätte Sie um eine Zusammenkunft ersuchen lassen, wenn nicht der Zufall – oder war es vielleicht ein geheimer Zug des Herzens? – Sie hierhergeführt hätte, Frau Schwester.«

Maria stieß einen dumpfen Schrei aus und wich zurück. Wie dieser Mensch sich jetzt leicht verneigt hatte, war es in einer Art geschehen, mit einer Bewegung des Hauptes, ihr so wohlbekannt, so lieb und sympathisch an einem andern …

»Es beleidigt Sie, daß ich mir erlaube, Ihnen diesen Namen zu geben, aber – er gebührt Ihnen und nicht durch meine Schuld … Bleiben Sie doch«, bat er, als Maria, entsetzt und gequält, sich plötzlich zum Gehen wandte. »Einmal müssen wir uns aussprechen, warum nicht lieber heute als morgen. Was ich Ihnen zu sagen habe, ist bald gesagt. – Unser Vater hat meine Mutter betrogen – wie die Ihre, nebenbei bemerkt«, brach er höhnisch aus.

»Lüge!« sprach Maria; er aber fuhr fort, ohne sich unterbrechen zu lassen.

»Ich mache ihm keinen Vorwurf, ich klage ihn überhaupt nicht an. Unser Vater hat viel Geld auf mich verwendet – schade darum! –, mich erziehen, mir Grundsätze beibringen lassen wollen. Ganz vergeblich, denn – ich habe sein Blut in meinen Adern. Daß sein Sohn ihm gar zu gut nachgeraten, empörte den vortrefflichen Mann. Endlich zog er seine Hand von mir ab … Der Grund ist eigentümlich – was?« Er brach in ein Lachen aus, das allmählich in ein heftiges Husten überging. Auf dem Taschentuche, das er an die Lippen drückte, zeigten sich dunkelrote Flecken. »Da«, sagte er, »ich bin fertig. Zuviel Verschiedenes kennengelernt im Leben, zuviel Vergnügen und zuviel Elend. Jetzt bin ich fertig, fertig, hörst du? Der schlechte Spaß mit der Schneeschaufelei hat mir das letzte Almosen vom Grafen eingebracht, das allerletzte! Laß mich nicht auf dem Stroh sterben, gib mir ein Obdach, Frau Schwester.«

Sie starrte ihn an wie verloren. »Lügen, Lügen! – ich glaube nicht – ich glaube Ihnen nicht …«

»Wäre freilich das Bequemste, wird aber nicht durchzuführen sein. Fragen Sie nur den Grafen, meinen Schwager, der weiß von mir, Wolfi Förster, nennen Sie mich ihm nur. Ich will ihn sprechen, das heißt euch, in der Fischerhütte am Weiher, morgen vormittag zehn Uhr. Kommt gewiß, ich könnte euch sonst Unannehmlichkeiten bereiten. – Jetzt jagt der verfluchte Krankheitsteufel mich heim nach dem Bauernhotel, in dem ich mich vorläufig einlogiert habe.« Er knöpfte seinen Rock zu, Fieberfröste schüttelten ihn. »Auf Wiedersehen.«

Damit reichte er Maria die Hand, sie zog die ihre mit Abscheu zurück. »O Frau Schwester«, rief er, »du bist noch hochmütiger als unser edler Herr Vater!«

Kapitel 7

Kapitel 7

 

Hermann hatte die Erzählung von Marias Abenteuer im Parke schweigend angehört und sich am nächsten Morgen zur Zusammenkunft mit Wolfi im Fischerhause eingefunden.

»Ein Schwerkranker, vielleicht ein Sterbender«, sagte er bei seiner Rückkehr. »Mag er nun sein, wer er will, wir können ihm die Aufnahme, um die er bittet, vorläufig wenigstens nicht verweigern.«

»Wir können – du meinst, wir dürfen nicht«, fragte Maria. »So hat denn dieser Mensch einen Anspruch …«

»Genausoviel Anspruch«, unterbrach er sie, »als wir Erbarmen mit ihm haben.«

»Mir flößt er keines ein, er ist zu keck«, gab sie zur Antwort. Sie erkundigte sich kaum nach dem, was für ihn geschah, obwohl Lisette dem hergelaufenen Gast eine ganz merkwürdige Teilnahme bezeigte. Es war ihm eine kleine Wohnung im Hause einer Hegerswitwe angewiesen worden, das am Saume des Waldes und doch nahe genug am Dorfe lag, um den täglichen Besuch des Arztes zu ermöglichen. Diesen, einen sehr gutmütigen und sehr neugierigen ältlichen Herrn, beehrte Lisette mit ihrem Vertrauen. Sie saßen nebeneinander am Bette des Kranken, der in den ersten Tagen aus stumpfer Bewußtlosigkeit nur auffuhr, um in Fieberphantasien zu verfallen, in denen er lachte und schwatzte und alle Geheimnisse seiner armen, verkommenen Seele ausplauderte.

Der Doktor trank förmlich jedes seiner Worte. »Fräulein Lisette«, sagte er einmal, »da werden verborgene Familienverhältnisse vor uns enthüllt.«

Sie lächelte: »Bin eingeweiht, Herr Doktor, und brauche mir darauf nichts einzubilden. Wer das Haus kennt, kennt diesen wilden Sprößling, der in Wolfsberg zur Welt gekommen ist. Wäre auch schwer zu verleugnen gewesen bei der Ähnlichkeit und bei dem impertinenten Spektakel, den seine Mutter vor der Hochzeit des Herrn Grafen gemacht hat – als ob nicht viele andere dieselben Ansprüche … Na, darüber ist nichts zu sagen …« brach sie plötzlich ab.

»Sagen Sie doch, Fräulein, genieren Sie sich nicht und sagen Sie doch!«

Lisette erwiderte mit einem kleinen Achselzucken voll Koketterie: »Können sich selber denken. So ein Herr wie unser Graf, so eine Schönheit, kann der was dafür, daß ihm die Weiber nachlaufen? – ‘s ist ihre Sach und ihre Schuld. So ein Herr wird sich nicht auf den heiligen Aloisius hinausspielen.«

Doktor Weise stimmte bei. Er hätte gern einen recht nichtsnutzigen Witz gemacht, um auf das alte Fräulein den blendenden Eindruck eines Don Juan hervorzubringen. Weil er aber von Natur ein keuscher Mann war, wollte ihm nichts Frivoles einfallen.

Lisette erneuerte den feuchten Umschlag auf Wolfis Stirn. »Ein so hübscher Bursche und soll schon sterben«, seufzte sie. »Recht traurig, aber im Grunde doch das Beste für ihn und auch für die anderen.«

Der Doktor sah seinen Patienten, der jetzt ruhig atmete und sanft zu schlafen schien, prüfend an: »Gut gebaut, kräftig, kann sich noch eine Zeitlang wehren.«

»Wie lange zum Beispiel?«

»Schwer zu erraten – möchte mich nicht vor Fräulein blamieren« – er verbeugte sich galant –, »ich glaube nur, bei vortrefflicher Pflege – in dieser gesunden Luft – vielleicht noch zwei Jahre.«

Der Kranke schlug die Augen auf und blickte ihn zornig an: »Esel«, sagte er, so laut er konnte, »merken Sie nicht, daß ich wach bin?«

»Ich merke, daß Sie Ihre Besinnung wieder haben, und gratuliere«, sprach der Arzt, nicht im geringsten beleidigt.

»Zwei Jahre – wieviel Tage sind das?… rechnen …« Wolfi begann langsam zu zählen, seine Stimme wurde immer schwächer, er schlief wieder ein.

»Schon bei Besinnung«, flüsterte Lisette, »das hätte ich nicht geglaubt. Das ist eine schöne Kur von Ihnen, Sie reißen ihn am Ende gar noch heraus. Aber dann ist das erste« – diese Worte wurden von einer bezeichnenden Gebärde begleitet –, »abreisen.«

»Wird schwerlich dazu kommen, Fräulein«, erwiderte der Doktor und verbeugte sich noch galanter als vorhin.

Lisette aber warf einen Blick in den kleinen Spiegel, der an der Wand über dem Schranke hing, und sagte zu sich: Ich weiß eigentlich nicht, warum ich so altmodische Hauben trage.

Zur selben Stunde war Maria im Schloß an ihren Schreibtisch getreten mit der Absicht, den letzten Brief Wolfsbergs zu beantworten. Ein Brief, reich an ernsten und eigentümlichen Gedanken, voll tiefer Empfindung und Zärtlichkeit, den sie mit Stolz und innerster Herzensbefriedigung gelesen und wieder gelesen. Nie hatte ihr Vater so liebreich zu ihr gesprochen, wie er an sie schrieb; jetzt fürchtete er nicht mehr, sie zu verwöhnen.

Am Tische Platz nehmend, bemerkte sie, daß die Kassette aus dem Nachlasse ihrer Mutter neben die Mappe gestellt worden war.

Eine alte Bekannte! Wie oft hatte Maria sie stehen gesehen, immer auf demselben Platz im Zimmer ihres Vaters, und ihre feinen Ornamente betrachtet. Jetzt holte sie den kleinen Schlüssel, dessen Griff ihr in ähnlicher Weise durchbrochen und verziert geschienen hatte, aus der Emaildose und steckte ihn in das Schloß. Er paßte, wollte sich aber nicht drehen lassen. Viel Geduld und Geschicklichkeit mußte angewendet werden, bevor es gelang, der Deckel aufsprang und der Inhalt zum Vorschein kam. Der bestand aus einem zerrissenen Heft, dessen vergilbte Blätter mit einer zarten, feinen Schrift dicht bedeckt waren, und aus alten, mit einer verblaßten Schleife zusammengebundenen Briefen. Maria zog einen derselben hervor. Ihr Vater hatte ihn als Bräutigam an ihre Mutter gerichtet, und die glühendste Leidenschaft sprach sich darin mit hinreißender Beredsamkeit aus. Wie mußten die Beteuerungen, diese Schwüre überzeugt und beseligt haben! Wie reich war das Leben, das durch die Liebe eines solchen Mannes geschmückt worden! Und wenn auch früh erloschen, es hatte den köstlichsten, den seltensten Inhalt gehabt – ein volles Glück.

Maria griff nach einem der Blätter, auf denen sie die Schrift ihrer Mutter erkannt hatte. Es hing mittelst eines Seidenfadens lose mit den anderen zusammen und war, wie alle, ein Bruchstück. Das Ganze machte den Rest eines Heftes aus, das einst ziemlich stark gewesen sein mochte. Verbogen und zerknittert fand sich noch der Umschlag vor. Maria glättete ihn, so gut es ging. Er trug die mit größtem Fleiß kalligraphisch ausgeführte Aufschrift: »Im Himmel« und das Datum 1850. Aber die schönen Lettern waren durch Kreuz- und Querstriche verunstaltet, recht wie mit kindischer Zerstörungslust, und eine unsichere Hand hatte sich bemüht, als Vignette einen Teufel hinzuzeichnen; die kaum zu entziffernden Worte: »Der König des Himmels« und das Datum 1858 standen darunter.

Maria las hier und dort einen Satz, eine Zeile; ihr Gesicht verfinsterte sich; wie versteinert blickte sie nieder auf die verstümmelten Blätter. Die stummen, toten Zeichen aber wurden lebendig und sprachen und gaben Zeugnis von einem längst eingesargten Schmerz. Der überwundene, der vergessene, da war er aus dem Grabe auferstanden und stöhnte erschütternd seine Klagen aus.

Sie fanden einen qualvollen Widerhall in der Seele Marias. Nun war ihr einmal wieder etwas zerstört worden: ein beglückender Glaube … Glaube? Nein, ein Glaube, der auf einem Irrtum beruht, ist ein Wahn. Maria wäre sehr gestimmt gewesen, dem ihren nachzuweinen: das Künstlerische in ihrer Natur sträubte sich gegen die Zerstörung des Ideals, das ihr Vater ihr bisher gewesen war. Da fiel ein Wort ihr auf, das am Rande eines der mißhandeltsten Bogen des seltsamen Tagebuches stand: WAHRHEIT, groß geschrieben, von einer leichten Arabeske umschlungen.

Maria blickte nicht mehr auf, bevor sie den Sinn der letzten ihr noch halbwegs verständlichen Zeile in sich aufgenommen hatte. – Dann küßte sie die Blätter innig und lange, trug sie zum Kamin, verbrannte sie und erwartete auf den Knien das Verlöschen der Flammen. Das Geheimnis der Toten blieb aufbewahrt im Herzen ihres Kindes.

Einige der aus dem Zusammenhang gerissenen Stellen, die sich dem Gedächtnisse Marias fast vollständig eingeprägt, lauteten:

 

»Die Wahrheit verlange ich von dir. Du sollst nicht lügen. Treu sein, festhalten, was dein Herz einmal ergriffen hat, kannst du nicht. Du bist schwach und hilflos deinen Leidenschaften gegenüber. Sei wenigstens wahr. Dem Schwachen Bedauern, dem Lügner Verachtung.

 

Eifersüchtig ist nicht das rechte Worte. Würde ich sonst deinen Wolfi lieben? Würde ich sonst das Andenken seiner Mutter ehren? – Und ich hätte Grund, auf sie eifersüchtig zu sein, denn sie hat dich mehr geliebt, als ich dich liebe; ich hätte dir nicht geopfert, was sie dir geopfert hat: ihre Eltern, ihre Heimat, Ehre und Pflicht.

Wenn meine Tochter erwachsen sein wird, werde ich ihr sagen: heirate nicht aus Liebe. Man glaubt, vereint sein mit dem Geliebten, das ist der Himmel auf Erden. Es ist nicht wahr. Was macht den Himmel zum Himmel? Daß ein Gott darin regiert und – – –

 

Wenn Gott nur so gut wäre, wie wir sind gegen unsere braven Diener, dann hätte er mich erhört. Habe ich nicht alle meine Pflichten getreu erfüllt?… war ich nicht gläubig und fromm? Wenn Gott gut und gerecht wäre, hätte er mich gehört. Aber es ist überhaupt kein Gott im Himmel, nur ein Teufel, und der straft mich.

 

Geliebter, wenn die Jugend hinter uns liegen wird, wenn du zu mir zurückgekehrt sein wirst und ich dir alles verziehen haben werde, dann lesen wir zusammen, was ich jetzt schreibe, und reichen uns die Hände und lachen – und weinen auch ein wenig.

 

… daß du Alma verleitest – sie hat ein Gewissen. Es schläft jetzt nur, du hast es eingeschläfert, du weißt, wie man das macht … aber es wird erwachen, und dann – – –

Ich glaube es nicht, ich will es wissen, mich überzeugen, euch auflauern. Ich bin jetzt ein Jäger, ihr seid das scheue Wild …

 

Manchmal fürchte ich und manchmal hoffe ich den Verstand zu verlieren. Wir werden mein Tagebuch nicht zusammen lesen, Geliebtester. Ich glaube, daß ich es zerreißen muß. Die schöne Schilderung der glücklichen Tage – schon fort. In kleine, kleine Stücke gerissen und fliegen lassen von ›hoher Altane am Turm‹… Wie sie stoben im Winde … Woran habe ich gedacht? woran nur? An mein Glück oder was? Ich weiß nicht mehr …«

 

Bei dem nächsten Besuch, den Hermann im Hegerhause machte, begleitete ihn Maria. Der Kranke erholte sich sehr langsam von dem letzten heftigen Anfall seines Leidens. Er lag in tiefer Erschöpfung dahin, halb wachend, halb schlafend, nahm nur widerstrebend die Nahrung, die man ihm reichte, und zählte ohne Unterlaß an seinen Fingern, wieviel Monate, Wochen, Tage er noch zu leben habe. Die Rechnung war ihm aber zu schwer und wollte nicht stimmen. Gegen alle, die ihm nahten, Hermann nicht ausgenommen, legte er feindseliges Mißtrauen, ein mürrisches und schroffes Wesen an den Tag, das sogar die Geduld seines langmütigen Arztes sehr oft erschöpfte.

Nur wenn Maria an sein Bett trat, glättete sich seine Stirn, er lächelte; unter seinem kleinen schwarzen Schnurrbart schimmerten seine Zähne hervor, jung und gesund wie die eines Kindes. In der Tiefe seiner dunklen Augen entzündete sich ein unheimlicher Glanz: »Frau – – –« sprach er und machte eine lange Pause. Fürchtest du dich, fürchtest du das Wort, das ich jetzt sagen könnte? fragte sein boshafter und drohender Blick. Aber der ihre hielt ihn im Bann. Stolz und kalt ruhte er auf ihm, und er murmelte verwirrt: »Frau Gräfin.«

Sie kam regelmäßig, aber nicht an bestimmten Tagen, wöchentlich zweimal, auf der Rückkehr von ihren Gängen durch das Dorf. Dort hatte sie die Armen und Kranken besucht, war wohl auch in die Schule getreten und hatte einer Unterrichtsstunde beigewohnt. Sie hatte getadelt, gelobt, mit vollen Händen gegeben und mit alledem nur eine Einführung ihrer Schwiegermutter aufrechterhalten – nicht ganz in deren Sinn jedoch.

Gräfin Agathe hatte von den Leuten, denen sie Hilfe angedeihen ließ, eine Gegenleistung gefordert: »Du bekommst das unter der Bedingung, fortan das Wirtshaus zu meiden. – Du bekommst jenes unter der Bedingung, daß du von heut ab deine religiösen Verpflichtungen pünktlich erfüllst.«

Maria hingegen stellte nicht nur keine Bedingungen, sie lehnte sogar den Dank ab, dessen meist überschwengliche Äußerungen ihr widerstrebten. So verstimmte sie die Geistlichen und die Lehrer, die gewohnt gewesen waren, ihren Teil von der gräflichen Wohltätigkeit mittelbar einzuheimsen, und entwertete ihre Geschenke bei den Empfängern. – Wie hoch soll denn angeschlagen werden, was umsonst zu haben ist?

»Mit einer Hand geben und die andere zum Nehmen ausstrecken«, sagte Maria zu Hermann, »ekelt mich an.«

»Das versteh ich nicht«, entgegnete er. »Was diesen Menschen vor allem anderen fehlt, was ihnen vor allem anderen beigebracht werden muß, ist das Pflichtgefühl. Mit Wohltaten wirst du es nicht wecken.«

»Wecke ich es, wenn ich ihnen einen Handel vorschlage, einen Tausch?«

»Viel eher. Wenn du einem anderen Gutes tust und zum Preis dafür verlangst, daß auch er etwas Gutes tue, kannst du damit einen Begriff von Billigkeit in ihm erwecken, eine Ahnung dessen, was Pflicht ist. Und wenn du das getan, hast du ihm unendlich mehr genützt als durch momentane Linderung seines Elends.«

Sie mußte das gelten lassen und tat es gern. Es freute sie, von ihm überwiesen zu werden, sich seiner größeren Erfahrung zu beugen, seine schlichte Lebensweisheit anzuerkennen. Ein schönes Leben ließ sich an seiner Seite führen, ein tätiges und hilfreiches Leben. Für alles fand sich Zeit darin, auch für die Pflege ihrer geliebten Kunst.

Im Spätsommer sollte Graf Wolfsberg zu längerem Aufenthalt bei seinen Kindern eintreffen. Kurz vor dem Tage jedoch, an dem sie ihn erwarteten, kam seine Absage. Er hatte die vorläufige Vertretung eines hohen Herrn an einem fremden Hofe übernehmen und den Besuch in Dornach auf ein Vierteljahr hinausschieben müssen.

Der Gleichmut, mit dem Maria diese Nachricht empfing, setzte Hermann in Erstaunen, wie schon längst das Schweigen, das sie seit ihrer Verheiratung über Alma Tessin beobachtete. Ein Brief von ihrer einst besten Freundin, den er selbst ihr gebracht hatte, war unbeantwortet geblieben. Hermann fragte nicht warum. Er wollte seiner Frau eine peinliche Erörterung ersparen; es lag ja klar am Tage: der Zufall, den die Blinden blind nennen, hatte hier gewaltet und Maria in Kenntnis von Dingen gesetzt, die ihr bisher sorgfältig verborgen worden.

Der Herbst kam, die Weihnachtszeit rückte heran. Schnee und Eis bedeckten die Wiesen und die Weiher, die Natur war tot – scheintot. Unter dem Herzen Marias aber regte sich ein neues Leben und strebte frisch und kräftig dem Tageslicht entgegen.

Kapitel 8

Kapitel 8

 

Ein banger Tag in Dornach.

Die stattliche Frau, die seit einer Woche im Schloß wohnte, der die Mahlzeiten auf ihrem Zimmer serviert wurden und die zum Verdruß des Kellermeisters mittags und abends eine Flasche Bordeaux vertilgte, weilte seit zwei Uhr nachts am Bette der Gräfin. Auf dem Bahnhofe wartete eine Equipage die Ankunft des Schnellzugs aus Wien ab, mit dem der Herr Professor ankommen sollte. Der Herr Doktor hatte sich in Lisettens jungfräulichem Gemache etabliert, und wenn sich ein Geräusch auf dem Gange vernehmen ließ, trat er hinaus und sprach zu dem etwa Vorbeikommenden: »Ich bin hier – daß Sie’s wissen – für den Fall, daß ein Arzt nötig wäre, daß Sie wissen, wo er zu finden ist.«

Niemand hörte auf ihn, er war ganz uninteressant. Die gespannte Aufmerksamkeit richtete sich ausschließlich auf die Frauen, denen Gelegenheit zu irgendeiner Handreichung in der Nähe der Wochenstube gegeben war.

Am Nachmittage mußte Hermann sich’s gefallen lassen, vom Schmerzenslager seiner Frau, an dessen Ende er mit verstörtem Gesichte stand, durch Base Wilhelmine entfernt zu werden.

Jetzt waren sie in seinem Schreibzimmer, sein Vetter und er. Wilhelm hatte mitten auf dem Diwan Platz genommen, sich vorgebeugt und beschäftigte sich damit, seine dicken roten Finger knacken zu machen. Hermann ging rastlos neben dem Bücherschrank, der die Längenwand einnahm, auf und ab und pfiff entsetzlich falsch oder versank in ein düsteres Schweigen oder pflanzte sich vor Wilhelm hin und starrte ihn an.

Die Dämmerung war eingebrochen, der Kammerdiener erschien.

»Was willst du?« fragte sein Herr.

»Die Lampe anzünden.«

»Wir brauchen keine Lampe«, brachte Hermann mühselig hervor, und Wilhelm dachte: Dem armen Kerl ist das Weinen nah.

»Heute«, sagte er nach einer Pause, »haben wir drei Marder in der Falle gefangen«, worauf sein Vetter erwiderte: »Wieviel Uhr ist es?«

»Fünf hat’s just geschlagen.«

»Dann muß ja um Gottes willen der Professor schon hier sein.« Er schellte, und es dauerte unglaublich lang, bis endlich ein Lakai eintrat und meldete, der Herr Professor sei angelangt, und Lisette habe ihn zur Frau Gräfin geführt.

Eine Stunde verfloß, in der die Zeit bleierne Wellen rollte und Wilhelm die nutzlosen Versuche, Hermanns Gedanken abzulenken, aufgab. Plötzlich blieb dieser stehen und lauschte. Er hatte die hastenden Schritte, die sich nahten, erkannt, es waren die Wilhelminens. Sie riß die Tür auf. Das Nebenzimmer war hell erleuchtet, und wie von strahlendem Goldgrund hob ihre Gestalt auf der Schwelle sich ab. »Hermann?« rief sie fragend in das Dunkel hinein. »Komm, Hermann, komm – du hast einen Sohn!«

»Und Maria …«

»Wohl, Gott sei Dank.«

Er stürzte auf sie zu und hob die schwere Frau in seinen Armen in die Höhe und jauchzte laut.

»Was heißt denn das?« sagte sie. »Nimm dich zusammen. Sie ist noch matt. Wenn du dich nicht zusammennimmst, darfst du nicht zu ihr.«

»Oh – ich nehme mich …« er machte einen ungeheuren Aufwand an Selbstüberwindung, warf sich in die Brust, umschlang seine Base und zog sie mit sich fort. »Wilhelm, telegraphiere du an meine Mutter, an meinen Schwiegervater«, rief er noch atemlos zurück und durchmaß den ganzen Weg auf den Fußspitzen, betrat Marias verhängtes Zimmer unhörbar wie ein Sylphe und hätte am liebsten Wolkenform angenommen, um ihr zu nahen.

Sie lag ganz still, war blaß – blaß bis an die Lippen und sah unendlich müde aus. Aber sie lächelte ihn an, glücklich, sanft und milde. Das Herz wollte ihm übergehen vor Rührung – doch sie haßte es, bedauert zu werden; er durfte nichts sagen, er küßte nur leise ihre Hände und blickte dabei mit einer gewissen Verlegenheit nach einem weißen Bündel aus Stoffen, Spitzen, Stickereien, Bändern, das neben sie hingelegt wurde.

»Ich gratuliere Ihnen zu einem Prachtbuben«, sprach der Professor, aus dem Nebenzimmer tretend.

»Wo?« stotterte Hermann, und Wilhelmine brach aus: »Jesus Maria, da doch!«

Da – ganz richtig. Unter den Stickereien und Spitzen guckte etwas hervor. Ein kleines braunrotes Gesicht, mit faltenbedeckter Stirn, mit lichtscheuen, fest zugedrückten Äuglein, einer Nase, die mit unzähligen kleinen gelben Pünktchen bedeckt war, und einem winzigen Mund. Es waren auch Pfötchen zu sehen, die unverhältnismäßig lange Finger hatten und die zartesten schmalsten Nägel. Das also war der »Prachtbub«, das war der »Sohn«.

Hermann wunderte sich und küßte auch ihm die Hände.

Maria erholte sich langsam, und Doktor Weise, der nach der Abreise des Professors Ordinarius geworden, wurde nicht müde, die größte Schonung zu empfehlen. »Besonders der Nerven. Nur keine Aufregung, Herr Graf, Fräulein Lisette, Fräulein Klara, nur keine Aufregung!« – Er freute sich, daß die Taufe nicht vor dem vierzehnten Tage stattfinden konnte, weil es dem Grafen Wolfsberg, der durchaus selbst als Pate seines Enkels fungieren wollte, unmöglich war, früher einzutreffen.

Der Graf schrieb oder telegraphierte täglich, und es schien Hermann, als ob diese Botschaften ihres Vaters Maria peinlich berührten. Zuletzt wagte er nicht mehr, sie ihr mitzuteilen. Nun aber fragte sie allabendlich: »Kommt der Vater?« und als endlich die Antwort lautete: »Morgen«, da flammte eine fiebernde Röte auf ihren Wangen auf. Sie schloß die Augen, in kurzen, raschen Schlägen klopfte ihr Herz, eine unnennbare Bangigkeit überkam sie.

»Was ist dir?« fragte Hermann. »Maria, was bekümmert dich? Es ist etwas, das dich bekümmert und das du mir verschweigst.«

Sie seufzte tief auf. »Laß es« – bat sie, »wir wollen nie davon sprechen. Geh jetzt, es ist spät. Ich muß Ruhe haben und Kräfte sammeln für morgen.«

»Natürlich«, erwiderte er und befand sich schon auf den Fußspitzen und schlug sein beliebtes Sylphentempo an.

Maria winkte ihn zurück: »Eines möchte ich dich bitten – bringe es dem Vater vor. Das Kind soll Hermann heißen, Hermann Wolfgang … Verstehst du mich? Und dir, Lieber, möge es nachgeraten.«

Er ging beseligt, er machte sich selbst zum Hüter der Ruhe, nach der sie verlangte. Mehr als Stille ringsumher vermochte er jedoch nicht herzustellen. Eine so tiefe Stille, daß Maria das Atemholen des Kindleins hören konnte, dessen Wiege dicht an ihrem Bette stand. – Es war unerhört brav, schrie gerade soviel, als sich’s für einen zwei Wochen alten Jüngling gehört, sog seine Nahrung aus der mütterlichen Brust und schlief und lächelte oft im Schlafe.

Und der Anblick seines Friedens war die einzig wirksame Labung, die Marias Seele empfangen konnte in dieser letzten Nacht vor dem Wiedersehen mit ihrem Vater. Ein Wiedersehen und keines – es sollte ja ein anderer Mensch vor sie treten, nicht der, den sie geliebt und angebetet, einer, der gelogen, betrogen und getötet – einer, den sie gerichtet hatte.

Am nächsten Morgen war er da, völlig unermüdet, trotz der langen Reise. Den Wagen, der ihn auf der Station erwartete, hatte er seinem Kammerdiener überlassen und kam zu Fuß an. Ein tüchtiger Marsch in der tauigen Frühe war ihm Bedürfnis gewesen nach zweien im Waggon verbrachten Nächten.

Sein Schwiegersohn lief ihm entgegen, die beiden Männer schüttelten einander die Hände. Wolfsberg fragte zuerst nach Maria und dann unverzüglich nach Waschwasser und ließ sich in die für ihn bereiteten Zimmer führen.

Eine halbe Stunde später stand er vor seiner Tochter, mit unnachahmlich kunstvoller Nachlässigkeit gekleidet, duftend von Reinlichkeit und Eau de Toilette, einen freudig gerührten Ausdruck in seinem energischen Gesichte. Er klopfte Maria auf die Wange und sagte, halb zu Hermann, halb zu ihr: »Mager ist sie geworden.«

Sie hätte aufschreien mögen: Ich weiß, was du getan hast, und werde es dir nie verzeihen! – aber sein Anblick, seine Stimme, sein flüchtiger Kuß auf ihre Stirn übten ihre alte Macht. Sie beugte sich ihr fast ohne Widerstreben. – Er ist ja doch mein Vater, dachte sie.

Der Graf schenkte seinem Enkel die gebührende Aufmerksamkeit, setzte sich an das Bett Marias und begann mit ihr zu sprechen, mehr von sich als von ihr, offenherzig, vertrauensvoll, recht wie zu einem ebenbürtigen Geiste, dessen Verkehr er lange und schwer entbehrt. Ihre Kälte und Beklommenheit waren ihm sofort aufgefallen. Er schrieb sie ohne weiteres der richtigen Ursache zu: Maria hatte etwas, das ihn in ihren Augen herabsetzte, erfahren. Durch wen? – Um gegen Hermann auch nur den Schatten eines Verdachtes zu hegen, war Wolfsberg zu sehr Menschenkenner. Was liegt auch daran, dachte er, durch wen deine Illusionen über mich zerstört wurden, du armes Kind, sie sind fort. Du mußt lernen, mich zu nehmen, wie ich bin, und einsehen, daß du dennoch stolz auf deinen Vater bleiben kannst. – Da entfaltete er seine ganze zielbewußte Liebenswürdigkeit, stellte sich in das hellste Licht – indem er einen Irrtum, irgendein begangenes Unrecht eingestand. Mit der Miene eines Emporblickenden ließ er sich zu ihr herab, die er weit übersah. Galt es doch, einen erschütterten Einfluß wiederzugewinnen, eine schwankende Neigung wieder zu befestigen: zu erobern, mit einem Wort …

Wie ihm die Aufgabe gelang! – Wie seine Tochter, als er nach kurzem Aufenthalte Schloß Dornach verließ, ihn liebte, mehr als je! Der Starke war hilflos seinen Leidenschaften gegenüber, gab das nicht Grund, ihn zu bemitleiden? Und wer hatte seine Kämpfe gesehen? Mit so feinem Sinn für alles Edle begabt, was mußte er leiden unter dem Bewußtsein seiner Fehlbarkeit! Er gehört ja nicht zu denen, die sich feig über ihre Mängel hinwegtäuschen. Dieser Selbsterkenntnis, sagte sie sich, war wohl auch seine harte Zurückweisung Tessins entsprungen. Vielleicht fand er – in einer Hinsicht wenigstens – zwischen dem und sich Ähnlichkeit … Er wollte seine Tochter vor den schmerzvollen Enttäuschungen bewahren, die er ihrer Mutter bereitet hatte.

Nach wie vor weihte Maria der Toten die frömmste und getreueste Erinnerung, doch war sie in ihren Augen nicht mehr das Opfer eines Verbrechens, sondern die Märtyrerin eines unabwendbaren Schicksals, eine leidverklärte Heilige, vor deren Bild sie in Andacht versank.

Allmählich kehrte ihre Heiterkeit zurück und wuchs mit dem Gefühle zunehmender Kraft und wiedererlangter Gesundheit. Sie hatte es durchgesetzt, sie nährte ihr Kind selbst, obwohl das jetzt »niemand« mehr tut und selbst die Ärzte ihr davon abgeraten. Aber sie wußte wohl, was sie sich zutrauen durfte.

Ihr Vetter Wilhelm trug eine Bewunderung für sie zur Schau, die sich in den ausbündigsten Aufmerksamkeiten äußerte. Den ganzen Winter hindurch kam er allabendlich, bei jedem Wetter, herübergeritten, machte halt im Schloßhofe, fragte: »Wie geht’s?« und kehrte nach erhaltener Antwort heim auf seiner kugelrunden Falbin. – Sobald die Wege wieder fahrbar geworden, kamen die Familiendiners am Dienstag von neuem in Aufnahme.

Nach dem ersten hatte Wilhelm seinen Vetter in eine Fensterecke gedrückt und ihm geheimnisvoll zugeflüstert: »Deine Frau war bisher immer wunderbar – gemütlich aber ist sie erst jetzt geworden. Das macht das Kind, ja, mein Lieber … Man sagt: des Herzens Schrein – ganz falsch, es sind Schreine. Da und dort steht einer offen von Jugend auf. Die anderen öffnen sich nach und nach – ich spreche nur von guten Menschen natürlich – und den Schlüssel zum wichtigsten bringt manchmal ein Kindlein mit, in seiner kleinen Hand.«

In der Tat schien Maria ein ungetrübtes Glück in ihrer Ehe gefunden zu haben. Und war sie nicht auch beneidenswert vor Tausenden? Vergöttert und angebetet von einem Manne, den sie innig wertschätzte, Mutter eines blühenden Kindes, schön, ohne eitel, und hochbegabt, ohne ehrgeizig zu sein, reich genug mit Glücksgütern gesegnet, um dem regsten Wohltätigkeitssinne Genüge tun zu können, gehörte sie zu den Auserwählten des Schicksals. Sie selbst empfand es als eine Pflicht, sich zu ihnen zu zählen.

Früher, als Hermann es gestatten wollte, hatte sie sich wieder in den Hütten der Armen eingefunden, aber mahnen und drängen mußte er, bevor sie den Entschluß faßte, die Schwelle Wolfis nach langer Zeit von neuem zu überschreiten.

Er war, kaum erholt von einem abermaligen heftigen Anfall seines Leidens, dennoch aufgestanden, um sie zu empfangen, und kam ihr einige Schritte entgegen. Ein greisenhafter Zug bildete sich um seinen Mund, als er sie anlächelte. »Endlich, Frau Gräfin«, sprach er mit schwacher und heiserer Stimme, »endlich – Sie sehen, es geht besser. Ihr großer Arzt gibt mir nur noch beiläufig fünfhundert Tage zu leben, aber ich beabsichtige, Ihnen länger zur Last zu fallen, als der Gelehrte sich’s träumen läßt, ich …«

Hermann unterbrach ihn mit der Aufforderung, jetzt das Bekenntnis zu tun, das er auf dem Herzen habe.

»Aber verderben Sie mir die Freude nicht, Frau Gräfin«, sprach Wolfi.

»Welche Freude?«

»Die, zuzuhören, wenn Sie Klavier spielen … Staunen Sie nur! Der elende Kerl, der Wolfi, hat Sinn für Musik – besonders für diejenige, die Sie treiben.« Er klopfte mit der flachen Hand auf seine Brust. »Balsam, Frau Gräfin. – Ich habe mich auf allerlei Umwegen in die Nähe des Schlosses geschleppt, bis zum Gartenhaus hinter den Fliederbüschen, und gelauscht … Ja, das war Musik! Dabei läuft es einem kalt über den Buckel, und das ist das Rechte. Ich hatte Ihnen soviel Leidenschaft gar nicht zugetraut. – Sie haben es da«, er griff ans Herz, »und in den Fingern, und ich hätt es auch gehabt, wäre gewiß ein Künstler worden … Aber hat’s denn sein dürfen?… Was, Künstler – Lump! Eine Satzung des großen Grafen: Aus dem Künstler wird nichts, wenn nicht der Lump in ihm die Begeisterung dazu gibt … Also ich bitte um freien Eintritt in das Gartenhaus, bitte auch, den Hunden und den Leuten aufzutragen, mich dort unbehelligt zu lassen, wenn ich komme, was nicht gar zu oft geschehen wird. Aber ich darf? – ich darf?« wiederholte er ungeduldig.

Maria zögerte: »Ein versteckt lauschendes Publikum ist nicht angenehm.«

»Flausen! was wissen Sie, wenn Sie spielen, von einem Publikum.«

Hermann legte seine Fürsprache ein, und der Wunsch Wolfis wurde gewährt.

Von diesem Tag an verlängerte Maria ihre Besuche bei dem Kranken. »Ein Mensch, der sich noch Empfänglichkeit für das Schöne erhalten hat, kann nicht ganz schlecht sein«, meinte sie und betrachtete es als ihre Aufgabe, diese Seele, die schon so bald vor den ewigen Richter gerufen werden sollte, zu retten. Sie hielt den Zynismus, mit dem er ihre Vorstellungen aufnahm, für eine scheußliche Maske, und die Einwendungen, die er ihr machte, für erbärmliche Prahlereien.

Eines Nachmittags fand sie ihn in großer Aufregung. Er war mit dem Lesen eines Briefes beschäftigt und empfing sie mit den Worten: »Habe ich noble Korrespondenten, he? Sehen Sie doch die Unterschrift.«

Sie las mit peinlicher Verwunderung »Felix Tessin«.

Wolfi steckte den Brief ein. »Ja«, sprach er nachlässig, »der antwortet einem doch, erinnert sich doch der einstigen Jugendfreundschaft. – Sie lächeln ungläubig? Sie können den Gassenkehrer nicht vergessen, der hat Ihnen einen unauslöschlichen Eindruck gemacht. Aber dieser Episode meines bewegten Lebens gingen andere voran … Ei, ei – nun, was ist denn los?« Er stockte.

Maria hatte eine Art, den Kopf zu heben und Leute, die etwas taten oder sagten, das ihr mißfiel, dabei anzusehen, die den Kecksten in Verwirrung brachte.

Wolfi erfuhr es jetzt. »Ohne Sorge! Wozu diesen Aufwand an Würde?« spöttelte er, »ich denke nicht daran, mich in Details einzulassen, ich sage nur: Wir waren befreundet. Felix und ich studierten in Heidelberg zusammen – fragt mich nur nicht was –, wurden zusammen relegiert. Tessin kümmerte sich nicht um die Anzahl der Ahnen, die einer hatte, sondern um die der Frauenherzen, die er bezwang, und um die Klinge, die er führte. Die meine hat er schätzen gelernt bei jenem Überfall, den ein beleidigter Ehemann gegen ihn in Szene gesetzt hat … Ja, wir waren Freunde!«

»Und einer des anderen wert«, sprach Maria und wandte sich, um ihr Erröten zu verbergen. Wie hatte sie diese Worte sprechen können? War ihre Erbitterung gegen Tessin nicht längst überwunden?

Sie stand auf und verließ das Zimmer.

Lisette, von der sie sich hatte begleiten lassen, überhäufte Wolfi mit Vorwürfen, ehe sie der Gebieterin folgte.

Er aber blickte aus dem Fenster der hohen Gestalt nach, die langsam hinter den Bäumen des Parkes entschwand, und murmelte zwischen den Zähnen: »O Majestät, meinen letzten Lebensfunken für einen Flecken auf deinem Hermelin!«

Kapitel 9

Kapitel 9

 

Noch ein Herbst auf dem Lande, noch einmal die Weihnachtszeit in Dornach, die Gräfin Agathe bei ihren Kindern zubrachte, im Anblick ihres Enkels schwelgend. Nach dem Neuen Jahre trennte man sich. Hermann und Maria fuhren zum Winteraufenthalte nach Wien, Gräfin Agathe kehrte in ihre Einöde zurück, nicht ohne die jungen Leute gemahnt zu haben, daß es auch gegen die Gesellschaft Pflichten zu erfüllen gibt. Während des langen Witwenstandes der Gräfin war kein Fest gefeiert worden im alten Dornachischen Palast, den ein prachtliebender Ahnherr der Gastfreiheit seiner Nachkommen erbaut. Allabendlich nur hatte sich das schwere Tor vor der soliden Equipage einer Familienmutter oder der ehrwürdigen Stiftskarosse geöffnet und Glock zehn hinter ihr wieder geschlossen unter den tiefen Bücklingen des gähnenden Portiers, der nach und nach zu der Überzeugung gelangt war, der Zweck des Lebens sei auszuruhen.

Das sollte nun anders werden, viel gründlicher anders, als die Gebieter des Hauses beabsichtigt hatten. Ihr Vorsatz, sich frei zu erhalten von dem Zwange, alles mitzumachen, erwies sich als unausführbar; in kurzer Zeit waren sie von dem Wirbel erfaßt. Die Welt sprach zu ihnen wie zu allen ihren Kindern: Gib dich mir ganz, eine Halbheit kann ich nicht brauchen. Und Maria wenigstens tat der Welt den Willen, und diese bereitete ihr dafür Triumphe von berauschender und von denen, die sie als junges Mädchen gefeiert hatte, ganz verschiedener Art.

Wenn sie früher die Summe dessen zog, was sie sollte, was von ihr verlangt wurde, so lautete das Resultat: gefallen. Jetzt hingegen schienen alle Menschen nur einen Wunsch, nur einen Ehrgeiz zu haben, den: ihr zu gefallen. Ein Lächeln, ein freundliches Wort von ihr beglückte, die geringste Bevorzugung des einen machte hundert Neider.

Der erste Ball bei Dornach hatte ungeteiltes Lob geerntet, ein zweiter Enthusiasmus erregt. Nun sollte ein dritter am vorletzten Faschingstag stattfinden.

Zu dem eine Einladung zu erhalten, bemühte sich jemand, der bisher die Nähe Marias sorgfältig gemieden hatte: Felix Tessin. Sie war ihm anfangs dankbar gewesen für seine Zurückhaltung; doch sagte sie sich endlich, daß in dieser etwas viel Auffälligeres liege als in den banalen Huldigungen, die ihr von jung und alt dargebracht wurden.

Mit welchem Rechte machte er eine Ausnahme? War zwischen ihnen das geringste vorgefallen, das ihm erlaubte, sich anders als alle anderen gegen sie zu benehmen?

Fast freute sie sich, als sie eines Tages seine Karte fand und ihm eine Einladung zum Ball senden konnte. Es war Zeit, daß er seine Sonderstellung aufgab. Erst unlängst hatte Hermann gesagt: »Tessin hat seine Niederlage noch nicht verschmerzt, er grollt«, und als Maria ihn staunend und bestürzt angeblickt, ganz ruhig hinzugefügt: »Vor einem braven Manne, den du mir vorgezogen hättest, wäre ich zurückgetreten, vor Tessin nicht. Ich hätte ihn eher niedergeschossen als zugegeben, daß er dich heimführt.«

Maria zwang sich mühsam eine gleichgültige Miene ab: »Wie – du hast etwas entdeckt von dem mißlungenen Versuch des Grafen Tessin, sich auf die einfachste Weise den Einfluß meines Vaters zu sichern? – Allen Respekt! Außer dir ist dieser kleine diplomatische Fehlgriff niemandem aufgefallen.«

»So war auch ich einmal scharfsichtig«, hatte Hermanns Antwort gelautet. »Die Liebe tut Wunder.«

An dieses Gespräch erinnerte sich Maria oft, als die Stunde immer näher kam, in der sie Tessin als Gast in ihrem Hause sehen sollte. Und welche Vorsätze faßte sie nicht! Mit welcher Unbefangenheit wollte sie ihm entgegentreten und sogleich den kühl freundlichen Ton anstimmen, der von nun an zwischen ihnen herrschen sollte.

Der Faschingmontag kam heran. Es war neun Uhr; Maria hatte ihre Toilette beendet und sich noch in das Kinderzimmer begeben, um dem Kleinen gute Nacht zu sagen. Er erwachte, als sie sich über ihn beugte, stieß ein freudiges Lachen aus und griff mit beiden Händen nach dem glitzernden Diadem auf ihrem Haupte. Sie wehrte ihm, küßte ihn, schläferte ihn wieder ein und flüsterte ihm zu: »Du bist doch mein Höchstes und Liebstes.«

Dann begab sie sich hinüber nach den taghell erleuchteten, blumendurchdufteten Festräumen … Alles noch leer und still. Nur im Wintergarten, in dem soupiert werden sollte, der Obergärtner aus Dornach und seine Leute mit dem Ordnen einer Palmengruppe beschäftigt. Und in der Galerie der Haushofmeister, der mit so feierlichem Ernste, als ob er einem Ministerrate präsidierte, den schwarzbefrackten Kammerdienern und den goldbetreßten, perückengeschmückten Lakaien seine Befehle erteilte.

Im kühlen Ballsaale ging Hermann mit dem Direktor der Kapelle, einem berühmten und liebenswürdigen Künstler, in lebhaftem Gespräch auf und ab. Als Maria sich näherte, blieben beide stehen, und der Musiker rief unwillkürlich aus: »Wie schön Sie sind, Frau Gräfin!«

»Nicht wahr?« erwiderte sie, seine Bewunderung ebenso unbefangen hinnehmend, wie er sie geäußert hatte: »Diese Spitzen – eine geklöppelte Symphonie; das Diadem, ein Meisterstück unseres Köchert, prächtig und doch leicht, ich spüre es kaum – lauter Geschenke meines Mannes …« Und seine geringsten, dachte sie. Hatte er sich ihr nicht selbst völlig zu eigen gegeben? Sein erster und letzter Gedanke gehörte ihr, und was ihr Leben schmückte und schön und reich machte, vom Größten bis zum Kleinsten, war das Werk dieses Mannes, der im Besitz ihres Selbst noch sehnsüchtig nach ihrer Liebe rang.

Von unendlicher Dankbarkeit ergriffen, freute sie sich, so schön zu sein, freute sich, daß ihn heute viele glücklich preisen würden. Strahlenden Auges blickte sie in den Spiegel … Sie konnte zufrieden sein mit sich. Nie hatte ein Kleid ihr besser gestanden als dieses farbig-farblose, eine Mischung von Grau und Lila, für die die Sprache keine Bezeichnung hat. Das kostbare, goldgestickte Spitzengewebe, das eben von ihr gerühmt worden, umgab die herrlich geformte Büste, bildete eine schmale Spange zwischen der Schulter und dem Oberarm und wallte, kunstvoll gerafft, vom Gürtel nieder bis zu der langen, mit schwerem Goldbrokat gefütterten Schleppe. Die edle, in zarter Fülle prangende Gestalt war wie von einer goldenen Wolke umschimmert, und eine Wonne für das Auge die gelassene und stolze Anmut ihrer Bewegungen.

Allmählich füllten sich die Säle. Übermütig oder abgespannt, mit vergnügten, erwartungsvollen oder mit gelangweilten Mienen wogten die Ankommenden herein. Die paar hundert Menschen, welche die sogenannte große Welt ausmachen, trafen einmal wieder an einem und demselben Orte zusammen – Blüte des Adels, Häupter und Angehörige uralter Geschlechter, die ihr Blut rein erhalten hatten von jeder Vermischung mit dem nicht Ebenbürtiger.

Da stehen sie, eine große Gruppe bildend, die in ihrer Art einzigen, die berühmten Wiener Komtessen. Die Reden einiger sind so frei und so derb, daß es nicht leicht ist, die Harmlosigkeit zu ermessen, mit welcher sie geführt werden. »Slang« und nichts weiter, das fliegt sie so an. Die spricht’s ihrem Vater und jene ihrem Bruder und eine der anderen nach. In Wahrheit aber sind sie sorgfältig betreut worden, von ihrem ersten Atemzuge an behütet vor dem Anblick des Häßlichen und Schlechten, aufgewachsen in Unkenntnis des Elends und der Schuld. Und jetzt führt man sie ein in das Leben, zu welchem das vergangene nur eine Vorbereitung war; sie nähern sich seiner Schwelle, als wäre sie diejenige der Himmelspforte, und klopfen herzhaft an.

Und die jungen Herren – sämtlich studierte Leute, wenn auch nicht immer viel mehr, als nötig ist, um die Offiziersprüfung zu machen. So mancher von ihnen hat auf der Schulbank neben dem Sohn des Schneiders oder des Branntweinbrenners gesessen und manche sauer erworbene gute Klasse dem Ehrgeiz zu verdanken gehabt, sich nicht regelmäßig von einem Plebejer überflügeln zu lassen. Ob sie jedoch gedenken, das Erlernte baldmöglichst wieder zu vergessen und nur noch ihrem Vergnügen zu leben, oder ob sie sich fühlen als angehende Marschälle, Botschafter, Minister: dieselbe Zuversicht, daß es die Welt nur gut mit ihnen meinen könne, beseelt alle, und sie treten hinein wie junge Könige in ihr Reich.

»Schau, wie sie grüßen«, sagte Hermann zu seinem Schwiegervater. »Da hat sich eben ein blühender Schwarm frischgebackener Leutnants und Attachés durch die Menge gedrängt, um der Hausfrau seine Reverenz zu machen. Sie stehen unbeweglich, nur die Arme werden noch etwas mehr geründet, die Schultern noch ein wenig höher emporgehoben als gewöhnlich. Ein leichter Ruck, der Kopf neigt sich – beileibe nicht zu tief! – eine Viertelsekunde lang – der Gruß ist abgefertigt.«

»Modern«, sprach Wolfsberg. »Die Bursche sind alle nach demselben Rezept eingetunkt und steif glaciert in Eleganz.«

»Und soviel Gutes, das sich hinter den Faxen verbirgt, soviel Bravheit, Tüchtigkeit, Mut und – wie oft – Talent!«

»Wenn sie nur damit etwas anzufangen wüßten … Guten Abend, Fürstin«, unterbrach er sich, das freundliche Kopfnicken einer wohlerhaltenen stattlichen Dame mit tiefer Verbeugung erwidernd.

»Ich suche einen Platz auf der Estrade zwischen ein paar Nachbarinnen, die nicht gar zu arg besessen sind vom mütterlichen Ballwahnsinn. Einen Mauerfliegenplatz, mein lieber Graf«, sagte sie lachend und in bester Laune, obwohl sie wußte: Beim ersten Geigenstrich wird es sie erfassen mit fast unbezwinglicher Lust, sich noch einmal – ein allerletztes Mal – im Reigen zu schwingen … Ach! wenn sie sich nicht schämte vor ihrer siebzehnjährigen Tochter …

Die Ankunft des Hofes wurde gemeldet; Hermann eilte den hohen Gästen auf die Treppe entgegen, und bald darauf eröffnete Maria den Ball am Arme eines jungen Erzherzogs.

Während der ersten Tänze, umringt und umdrängt, in Anspruch genommen von ihren Hausfrauenpflichten, hatte sie ihn noch nicht gesehen, an den sie seit dem Beginn des Festes fortwährend dachte. Plötzlich meinte sie seine Anwesenheit zu fühlen. – Er ist da, sagte sie sich und erblickte ihn. Eine entsetzliche Verwirrung bemächtigte sich ihrer. Seine dämonische Schönheit fiel ihr wie etwas Neues auf.

Er stand neben dem Fauteuil Gräfin Dolphs, in eifrigem Gespräch mit ihr. Eifrig ihrerseits, sie war lebhaft angeregt, ein leichtes Rot färbte ihre welken Wangen, ein heiter satirisches Lächeln umspielte ihre Lippen, ihre scharfen Züge waren von dem Ausdruck der Zufriedenheit erhellt, die sie nur im Verkehr mit wirklich gescheiten Männern empfand. Tessin sprach wenig, aber jeder der kurzen Sätze, die er vorbrachte, schien eine Welt von Gedanken in dem verständnisvollen Geiste der Gräfin zu wecken.

Er brach das Gespräch ab, als sein suchender Blick dem Marias begegnete, und kam auf sie zugeschritten. Sie wechselten einige Redensarten, er bat um die nächste Polka.

»Ich gebe Ihnen die dritte – mit meiner Kusine Wolfsberg; sie hat, wie mir eben anvertraut wurde, keinen Tänzer«, antwortete Maria.

Tessin verneigte sich und ging, um die Komtesse zu engagieren, eine der Unbegabtesten ihres Geschlechts, für die jeder Ball eine Übung im Sitzen war.

Der Kotillon, den Tessin mitmachte, bot ihm endlich die ersehnte, glücklich wahrgenommene Gelegenheit zu einer Entschädigung. Scheinbar zufällig führte ihn eine Wahltour mit Maria zusammen. Mit leidenschaftlicher Hast umschlang er sie. »Einmal wieder!« sagte er so laut, daß sie erschrak, und schon flogen sie dahin, und ihr Atem mischte sich mit dem seinen, und sein Mund streifte ihre Haare, und er drückte sie an sich und sprach: »Ich habe Sie gemieden, Gräfin – aus Sorge für meine Seelenruhe«, und sie erwiderte mit einer Stimme, die ihr selbst fremd klang und herb und unsicher war … Nein, nein, so hatte sie ihm nicht begegnen wollen: »Und was sichert sie Ihnen jetzt?«

»Nichts, aber ich will sie zu gewinnen – das heißt zu befestigen suchen – fern von Ihnen.«

Sie lachte: »An welchem Ende der Welt?«

Statt zu antworten, flüsterte er ihr zu, rasch und überstürzt: »Es wäre schön gewesen, auch jetzt noch zu schweigen, wie ich geschwiegen habe, als man mich bei Ihnen verleumdete – leugnen Sie doch nicht«, kam er dem Einwande zuvor, den sie erheben wollte –, »verleumdete und Sie die Frau eines anderen wurden … Es wäre heldenhaft gewesen, ich weiß, schweigend in die Verbannung zu gehen – aber zu so hoher Tugend vermag ich mich nicht aufzuschwingen, und Sie sollen wissen …«

»Also wirklich in die Verbannung«, unterbrach sie ihn; »da bedaure ich ja sehr die kleine Nicolette.«

Das hätte sie nicht sagen dürfen! Oh, wie sie das wußte, als es zu spät, als es schon gesagt war und spöttischer Triumph aus den Augen des Herzenskundigen leuchtete, der in ganz verändertem und leichtfertigem Tone fragte: »Die Kleine – Sie erinnern sich ihrer? War sie nicht nett?«

Sie sprach ihn nicht mehr an diesem Abend, den er ihr, den sie selbst sich vergällt hatte, den sich ins Gedächtnis zurückzurufen ihr peinlich wurde. Sie hörte, daß er einen »exotischen« Posten angenommen hatte und Österreich und Europa für Jahre verlassen sollte, sehr bald wahrscheinlich, vielleicht schon in einigen Wochen; der Zeitpunkt war noch nicht genau bestimmt.

Fast täglich führte die ruhelose Geselligkeit, in der sie lebten, sie zusammen. Sie trafen einander auf dem Eise, im Prater, bei Diners, in Soireen. Und er, mit großer Geschicklichkeit, mit steter Beherrschung seiner selbst, wußte immer da zu sein, wo sie war, und sich dann mit allen außer mit ihr zu beschäftigen. Er machte auf das eifrigste der und jener koketten Frau in Marias Gegenwart den Hof, er verschwendete die Schätze seines Geistes und seines Witzes an irgendeine hübsche Dutzend-Komtesse.

Das war so seltsam, so unerwartet nach seinem kühnen Versuch einer Erklärung auf dem Balle. Sie belächelte es, fand es kindisch, ihrer und seiner unwürdig und nahm den Kampf dennoch auf, den er ihr bot. Allerdings beschäftigte sie sich dabei mehr als billig mit ihm, dachte an ihn – immer und immer! Anfangs rang sie gegen diese törichte Besessenheit, dann erinnerte sie sich des großen Wortes: »Wir befreien uns von unseren Leidenschaften, wenn wir sie denken.« – Von unseren Leidenschaften – um wieviel eher denn von einer Marotte. Überdies stand Tessin am Morgen seiner Abreise; er einmal fort, und der kleine Krieg, den sie miteinander geführt, und die Laune, die ihn heraufbeschworen hatte, waren vergessen.

Gräfin Dolph, zu deren, wie sie selbst sagte, senilen Eitelkeiten es gehörte, mit der Marquise du Deffand verglichen zu werden, nannte Tessin, der sich regelmäßig in ihrem auswattierten, vor jedem Zuglüftchen sorgfältigst verwahrten Salon einfand, ihren Horace Walpole. Sie sang sein Lob in allen Tonarten, und ein Massenchor von schönen Damen stimmte ein. Tessin war nie so ausschließend und siegreich in der Mode gewesen wie jetzt, da sein Nimbus dadurch noch erhöht wurde, daß er einen Scheidenden umgab.

Die aus Überzeugung Unwissenden, die geschworenen Feindinnen der Geographie begannen diese verachtete Wissenschaft zu pflegen. Landkarten von Asien fanden nie dagewesenen Absatz in aristokratischen Häusern, die Wege, die Tessin nehmen sollte oder konnte, wurden mit farbigen Stiften auf denselben eingezeichnet. Eine unerhörte Wanderlust regte sich plötzlich in hundert jungen weiblichen Herzen.

Es versteht sich von selbst, daß die Abende bei der Gräfin Dolph, die sonst wenig Anziehungskraft besaßen, bis zum Ende der Fastenzeit besucht wurden wie ein Gnadenort. Die gastlich geöffnete Zimmerreihe der großen Wohnung, welche die Gräfin im Hause ihres Bruders beibehalten hatte, stand fast leer, während das Gelaß, in dem die Hausfrau ihren Günstling empfing, immer überfüllt war.

Der Graf mied diese Gesellschaften, weil Tessin ihr Mittelpunkt war, und Maria fand sich so selten ein, als unauffälligerweise geschehen konnte. Einmal aber kam sie nach der Oper, begleitet von Hermann, und bald nach ihnen erschien Wolfsberg. Er befand sich in schlechter Stimmung; um seinen Mund lagerte der böse Zug, den Maria einst gefürchtet hatte und der ihr jetzt noch unangenehm war, weil er eine Härte verriet, zu welcher ein Überlegener wie er sich gegen Geringere nicht hinreißen lassen durfte. Er schritt durch das Gedränge bis in die Nähe der Gräfin Dolph, die in ihrem kissenreichen Lehnstuhl am Ende des Zimmers ruhte und mit dem auf einem Taburett neben ihr sitzenden Tessin scherzte. Ein kleiner Hofstaat von besonders eifrigen Anhängern umgab sie und mischte sich gelegentlich in ihr Gespräch.

»Begum Somru und Dyce«, sagte Wolfsberg im Vorübergehen zu seiner Tochter, und sie versetzte: »Nein, Stuwer & Nachfolger – sie sprechen ein Feuerwerk.«

Der Graf reichte seiner Schwester die Hand, würdigte einige der Damen seiner freundlichen Beachtung und bemerkte erst nach einer Weile, daß Tessin aufgestanden war und der Erwiderung seines Grußes harrte.

Nun sah er ihn. Die Blicke beider Männer kreuzten sich wie blanke Schwerter. Der jüngere senkte seine Augen nicht, und Wolfsberg sprach: »Sind Sie reisefertig?« »Seit vier Wochen, Exzellenz.«

»Um so besser, denn Sie werden wohl kaum noch ebenso viele Tage hier zubringen. Was meinen Sie?«

»Immer das, was Euer Exzellenz meinen.« »In all und jedem«, fiel die kleine Gräfin Felicitas Soltan, genannt Fee, ein, die zu den ausgesprochenen Lieblingen Wolfsbergs gehörte. Er lauschte gern dem reichen Quell des Unsinns, der aus ihrem hübschen Mund sprudelte, und fand, ihr Plaudern sei ein höchst anmutiges Geräusch, bei dem er ausruhe. – Fee war reich und elternlos zu sechzehn Jahren durch ihre Verwandten an einen viel älteren Mann verheiratet worden, der sie zwei Jahre später zur Witwe machte. Jetzt genoß sie ihr junges Dasein und das sich selbst erteilte Privilegium, alles zu sagen, was ihr durch den Kopf fuhr. Es hatte viel Staub aufgewirbelt in diesem Fasching, daß sie sieben Heiratsanträge ausgeschlagen, weil sie, ihrer eigenen Behauptung nach, seit ihrer Kindheit in Tessin verliebt war »bis über die Ohren«. Jüngst hatte er sich einige Tage lang auffallend mit ihr beschäftigt und vernachlässigte sie jetzt wieder ebenso auffallend.

Maria durchschaute sein Spiel. Sie wußte wohl, wessen Befremden es erregen sollte, und daß es ohne weiteres eingestellt worden, als es seinen geheimen Zweck verfehlt hatte.

Jetzt rief die kleine Fee sie an und zwang sie, neben ihr Platz zu nehmen. »Hörst du«, fragte sie, »wie bald Tessin uns verlassen soll?… Ihr könnts euch um ihn kränken, wenn’s euch freut. Ich kränk mich nicht – ich reis ihm nach.«

Alle lachten, und Tessin sprach achselzuckend: »Sie wären in größter Verlegenheit, Gräfin. Sie haben ja keine Ahnung von dem Wege, den Sie nehmen müßten.«

Fee zog ihr feines Kindergesicht in ernste Falten: »Ich werd halt fragen, ich werd auf die Bahnhöf fahren, ich werd an jeden Stationschef schreiben in die vier Weltteil.«

»Immer schlimmer«, versetzte Tessin, und seine Augen ruhten mit unbarmherzigem Spotte auf ihr, »denn nur im fünften leben Gelehrte, die Ihre Schrift lesen können.«

Sie suchte nach einer Antwort und fand keine. »Schau, wie er mit mir is«, flüsterte sie ihrer Nachbarin zu. Ihr Mund verzog sich zum Weinen; sie sprang auf und sprach mit einem Schluchzen in der Stimme: »Das is hier eine Hitz, nicht zum Aushalten!«

Maria folgte ihr. Sie traten beide ans Fenster; Fee preßte ihre glühende Stirn an die Scheibe. Tränen flossen über ihre Wangen.

Eine halbe Stunde später verließ das Ehepaar Dornach die Gesellschaft und wurde auf der Treppe von Tessin eingeholt.

»Ich begreife nicht«, sagte Hermann zu ihm, »wie du Freude daran finden kannst, eine Frau, die dich liebt, lächerlich zu machen.«

»Mich liebt?« erwiderte Tessin mit einer weder durch diese Worte noch durch den Ton, in dem sie gesprochen waren, gerechtfertigten Gereiztheit. »Ein Wetterfähnchen, das liebt?«

»Der Tausend! – Du wirst doch niemandem aus seiner Unbeständigkeit einen Vorwurf machen?«

»Jedem den schwersten«, sprach Tessin mit großem Nachdruck.

Am folgenden Morgen erhielt Hermann ein Telegramm von dem Gewissensrat seiner Mutter, Pater Schirmer. Er berichtete auf eigene Faust, daß die Gräfin – wenn auch unbedenklich – erkrankt sei.

Der Entschluß, am selben Abend zu reisen, war sogleich gefaßt. Die Anordnungen dazu wurden getroffen, das Kind mit seiner Kamarilla unter der Obhut Lisettens nach Dornach gesandt.

Maria geleitete den Kleinen zur Bahn, nahm Abschied von Tante Dolph und schickte ihrem Vater eine Zeile der Nachricht ins Ministerium. Nach Hause zurückgekehrt, betrat sie das leere Kinderzimmer und verließ es schnell wieder – es machte ihr einen peinlichen Eindruck. Sie ging zu Hermann hinüber; er war zu seinem Geschäftsmanne gefahren und hatte gesagt, man solle ihn nicht vor der Essenszeit, sieben Uhr, erwarten.

Nun lehnte Maria etwas müde in ihrem Fauteuil am Schreibtisch. In dieser ganzen letzten Vergangenheit hatte sie sich geklammert an die Liebe zu ihrem Kinde, hatte jede Stunde, die ihr angestrengtes Weltleben ihr übrigließ, mit Hermann zugebracht. Bald sollte sie nur für diese beiden leben, durch nichts zerstreut, durch nichts in Anspruch genommen sein als durch die berechtigten, die heiligen Empfindungen, die in ihr Dasein getreten waren wie zum Ersatz zweier anderer, völlig verwandelter: der anbetenden Liebe zu ihrem Vater, der innigen Zuneigung zu der einzigen Freundin, die sie jemals zu haben geglaubt.

Ich bin reich genug, sagte sie sich und hatte das Gefühl, daß noch einige Stunden vergehen müßten, ehe sie zu dem vollen Genuß dieses Reichtums kommen könne. Dann würde die unerklärliche Sehnsucht, die ihr jetzt immer und immer die Seele beklemmte, verschwunden, und sie würde frei sein – frei – –

Die Tür des Salons, der an ihr Schreibzimmer grenzte, wurde geöffnet, ein Kammerdiener trat ein und fast zugleich mit ihm derjenige, den er anmeldete: Graf Tessin.

Kapitel 10

Kapitel 10

 

»Entschuldigen Sie, Gräfin«, sagte er, am Eingang erscheinend und stehenbleibend, »daß ich Ihnen nicht Zeit lasse, mich fortzuschicken. Ich hörte aber, daß Sie heute reisen, und habe noch dringend mit Ihnen zu sprechen.«

Es war unmöglich, ihn abzuweisen in Gegenwart des Dieners. Maria ging dem Besucher in den Salon entgegen und nahm Platz an einem Tischchen, auf dem ihre Arbeit lag. Sie bot alle ihre Kräfte auf, um eine unbefangene Haltung zu bewahren, und wies Tessin einen Sessel ihrem Kanapee gegenüber an.

Gott im Himmel, wie fassungslos fühlte sie sich, wie seltsam war ihr zumute! Die Zunge klebte ihr am Gaumen, eine eiserne Faust schnürte ihr die Kehle zu, ihr Herz klopfte, ihre Pulse flogen – und diesen tollen Aufruhr ihres ganzen Wesens brachte – Schmach und Verbrechen! – seine Nähe hervor.

Er hatte das Wort genommen, und sie, nur mit sich selbst beschäftigt, hörte, ohne zu verstehen, ohne sich Rechenschaft von dem zu geben, was er sagte. Er bat für jemanden um Nachsicht und Schonung, er tat es in seiner eindringlichen, bestrickenden Weise. So warm, so sanft, so bescheiden hatte ihn wohl noch niemand bitten gehört. Nichts Einschmeichelnderes auf Erden als der Klang seiner Stimme. Der Name, der immer wieder auf seine Lippen kam, war der Almas.

Plötzlich raffte Maria sich auf aus ihrem schweren Kampfe. »Was wollen Sie eigentlich?« fragte sie rauh. »Was soll ich für Alma tun?«

»Was ich für sie erflehe.«

»Und das ist?«

»Oh – Sie schenken mir nicht einmal soviel Aufmerksamkeit als dem ersten besten Bettler, der Sie auf der Straße anspräche«, rief Tessin vorwurfsvoll. »Woran denken Sie? Immer nur an den Glückseligen, der durch Sie der Erste unter den Menschen geworden ist. Ja, ja, ja! der ist der Erste, der sich rühmen darf, das höchste Erdengut zu besitzen, eine Frau wie Sie.«

»Er rühmt sich nicht«, wandte sie ein.

Tessin lachte: »Es wäre menschlich – und er hat die Verpflichtung, eine Vollkommenheit zu sein, und wird ihr gerecht. Aber auch ein anderer, ein Geringerer, dem sein Glück zugefallen wäre, hätte verstanden, sich dessen ebenso würdig zu machen … Gräfin, Gräfin! – Mir selbst traue ich zu, daß ich an Ihrer Seite nicht nur gut, daß ich sogar ein Vorkämpfer des Guten hätte werden können.«

Maria neigte sich über ihre Arbeit und sprach: »Man tut das Gute um des Guten willen. Aus einem anderen Grunde getan ist es wertlos.«

»Sie leugnen die Bekehrungen durch Heilige, durch Propheten«, entgegnete Tessin, »die hinreißende Macht des Beispiels? – Ich gehöre nicht zu den Auserwählten, die am Urquell schöpfen. Ich bedarf einer Freundeshand, großmütig genug, es für mich zu tun und mir dann etwas mitzuteilen von der herrlichen Labe … Der Wohltäter des Menschen ist immer nur der Mensch. Ich gäbe jeden göttlichen Schutz und das sogenannte Walten und Vorsehen einer unendlichen Weisheit um die Treue eines Herzens, das mich liebt, und beneidenswert wäre ich, wenn es mir freistände den Tausch einzugehen … Gräfin«, begann er nach kurzem Schweigen wieder, »so unwichtig ich Ihnen auch bin, haben Sie vielleicht doch bemerkt, daß eine große Veränderung mit mir vorgegangen ist in der kurzen schönen Zeit, in der ich gewagt habe, die Augen zu Ihnen zu erheben … So voll Ehrfurcht, so demütig und – so töricht kühn … Oh, wenn ich noch erröten könnte, bei dem Geständnisse müßte ich’s« – und eine dunkle Blutwelle stieg ihm ins Gesicht –, »denn ich hoffte, Sie zu erringen … Kindisches Wagnis, nach solchem Ziele zu streben. – Ein Verwandter Alma Tessins darf nicht der Schwiegersohn des Grafen Wolfsberg werden. Ich hätte es wissen und auf das gefaßt sein sollen, was geschah.«

»Was geschah?«

»Ich wurde gestrichen aus den Reihen Ihrer Bewerber …« »Meiner Bewerber?… Sie hätten um mich geworben?«

»Sie wissen es nicht? Ihr Vater hat es Ihnen verschwiegen!« rief Tessin bitter und ironisch aus. »Das ist Wolfsbergische Politik! Weder offenherzig noch gerecht, aber klug. Warum Sie vor eine Wahl stellen, da man doch entschlossen ist, Ihnen keine Wahl zu lassen? – Über Sie war verfügt; Sie waren, ehe Sie es ahnten, dem Grafen Dornach versprochen.« »Versprochen?« rief Maria mit Entrüstung aus.

»Sagen wir denn: bestimmt. Über mich schritt Ihr Vater einfach hinweg, nachdem ich entwurzelt worden in Ihrer guten Meinung … durch ihn – ich bitte, leugnen Sie nicht –, durch ihn. Auf welche Weise, frage ich nicht. Das Leben eines Weltmannes, der jede Mode berufsmäßig mitmacht, bietet Blößen genug. Und ich trage keinen Harnisch. Jeder gegen mich abgesandte Pfeil trifft meine unbeschützte Brust … Sie aber, Gräfin, – so weise, so gerecht, so hochherzig, Sie hatten für mich nicht eine Entschuldigung, nicht einen milden Gedanken. Sie wandten sich von mir ab, stumm und verächtlich – ich werde die Art nie verschmerzen, in der Sie sich von mir abgewandt haben!«

Sie war erschüttert von seiner Anklage, sah ihn an und sprach, alle Geistesgegenwart verlierend: »Auch Sie blieben stumm – hätten Sie damals gesprochen. Jetzt ist es zu spät.«

»Zu Ihnen gesprochen?« fragte er rasch, ihre letzten Worte überhörend, »zu Ihnen, in deren Herzen nichts für mich sprach? Nichts, sonst würden Sie mich nicht so leicht aufgegeben haben. Auch ist ein Verschmähter nicht immer aufgelegt, sich zu rechtfertigen. Ein Verschmähter ist leicht gekränkt, ist reizbar. Nein, ich wollte warten, bis ich Ihnen zugleich sagen konnte: Leben Sie wohl, und Ihnen wenigstens meine Uneigennützigkeit beweisen. Unglaublich albern, nicht wahr? Es ist zum Lachen. Das nennt man doch Torheit um Torheit begehen … Wahrhaftig, ich hätte es anders angefangen, wenn ich nicht das Unglück haben würde – Sie zu lieben.«

Was sollte sie erwidern? Sie gab ihm recht im stillen. Ihr gegenüber hatte er seine Verführungskünste nicht ausgeübt. Der Mann, von dem es hieß, daß er sich nie vergeblich um Frauengunst bemüht habe, nie von denen, die er verließ, vergessen worden sei, ihr war er nie anders als bescheiden genaht. Sie konnte ihm nicht widersprechen, als er von neuem begann:

»Sagen Sie mir, ob ein Gymnasiast sich gegen die stumm und heiß Vergötterte ungeschickter, blöder hätte benehmen können, als ich mich gegen Sie benahm?… Vorbei! Mein ›freudenreiches‹ Leben bleibt leer, ist nichts. Nun will ich’s mit dem Ehrgeiz versuchen«, fuhr er mit einem tiefen Seufzer fort, »dem Auskunftsmittel so manches Gescheiterten. Wenn Sie einmal hören, daß ich irgend etwas ›geworden‹ bin, das zu sein der Mühe wert scheint, dann erinnern Sie sich dieser Stunde und wägen die Bedeutung ab, die äußerer Glanz des Daseins für mich haben kann.«

Er hielt inne, er wartete, Maria schwieg. Schüchtern beinahe kam Tessin nach einer Weile auf seine erste Bitte zurück, sprach wieder von Alma: »Haben Sie Mitleid mit einer Unglücklichen, ein wenig Mitleid, Gräfin. Sie selbst wagt es nicht, Sie anzuflehen. Sie glaubt nicht einmal, an einem Orte mit Ihnen wohnen zu dürfen; sie vergräbt und verzehrt sich auf dem Lande in Einsamkeit und Reue …«

»Sie tut recht«, unterbrach ihn Maria kalt und leise. »Mit welcher Stirn vermochte sie es früher, mit mir zu verkehren und – es ist unfaßbar – mit hundert Menschen, die alle in Kenntnis waren von ihrer unsühnbaren Schuld.«

»Unsühnbar? Ich meine, sie sühnt.«

»Möge sie es versuchen.« Damit erhob sie sich, und er sprang auf: »Sie entlassen mich?«

»Leben Sie wohl.«

»Ihre Hand!… Reichen Sie mir zum Abschied die Hand. Ein paar Duellanten reichen sich die Hand, wenn einer den anderen entwaffnet hat. Gräfin Maria, ich habe die grausamste Niederlage erfahren, ich habe alles verloren, Hoffnung, Mut, Kraft. Sie haben sogar den elenden Stolz gebrochen, der mich noch aufrecht hielt – aus Erbarmen, geben Sie mir die Hand!« Seine Zähne knirschten, sein edles stolzes Gesicht war leichenblaß.

Maria machte eine verneinende Bewegung mit dem Haupte. Nach einem letzten fragenden, beschwörenden Blick verneigte er sich und trat aus dem Zimmer.

Maria blickte ihm nach. Da war ja ein vollständiger Sieg über sich selbst von ihr errungen worden; denn wahrlich, das Erbarmen, um das er gebeten hatte, füllte ihre Brust zum Zerspringen, und süß und wonnig wäre es ihr gewesen, die Hand zu erfassen, die er beim Abschied nach ihr ausstreckte, und ihm zu sagen: Sie leiden nicht allein. Nehmen Sie diesen Trost mit sich.

Aber sie hatte ihm die Hand nicht reichen dürfen. Er würde gefühlt haben, daß sie zitterte und eisig war, weil alles Blut zu dem aufrührerischen Herzen strömte, das ihm so toll entgegenschlug.

 

Knapp vor der Abfahrt des Zuges trafen Hermann und Maria auf dem Bahnhofe ein, und wenige Minuten später dampfte die Lokomotive durch die Halle.

»Ist das nicht Tessin?« fragte Hermann, auf eine dunkle Gestalt deutend, die im Schatten eines Pfeilers stand und den fortrollenden Wagen nachblickte.

Maria hatte ihn längst gesehen: »Ja, es ist Tessin.«

»Mit dem Gesicht eines Selbstmörders«, versetzte Hermann. »Er ist mir unheimlich seit einiger Zeit.«

Es war wieder eine laue, schöne Frühlingsnacht wie vor zwei Jahren, als sie ihre Hochzeitsreise nach Dornach angetreten hatten. Maria drückte sich in eine Ecke und schloß die Augen, und wieder, wenn sie sich öffneten, begegneten sie dem treuen, liebevollen Blick des Mannes, der über ihr wachte.

Ihre Verstimmung war ihm sogleich aufgefallen. Er schrieb sie der überstürzten Abreise zu, die allen eben jetzt besonders reichlich gebotenen Vergnügungen der Stadt ein plötzliches Ende machte, fand sie sehr begreiflich und bedauerte, Marias Opfer egoistisch angenommen und zugegeben zu haben, daß sie ihn nach Dornachtal begleitete.

»Wenn wir meine Mutter getrost verlassen können«, sagte er, »fahren wir im Mai nach Wien zurück zu den Rennen.«

Maria widersprach: »Das wollen wir nicht tun, du hast kein Interesse daran, und ich, glaube mir, ich sehne mich nach der Ruhe in Dornach. Dorthin wollen wir, sobald die Mutter unserer nicht mehr bedarf. Nach Dornach, Lieber – dort wird alles gut werden.« Unwillkürlich, mehr zu sich selbst als zu ihm, waren die letzten Worte gesprochen, und nicht mit Zuversicht – mit peinvollem Zweifel.

Hermann ergriff ihre Hände: »Was soll erst gut werden? was ist nicht gut?… Sprich, sag es mir, du mein alles, mein Kind und meine Gottheit. Beglückerin! was fehlt dir zum Glücke?«

Sie entzog ihm ihre Hände, um sie auf seine Schultern zu legen, und sah tief in seine friedlichen Augen hinein: »Mein Freund … Mein Freund«, wiederholte sie und dachte daran, ihm alles zu gestehen, ihm zu sagen: Hilf – befreie mich – ich ringe in entsetzlichen Banden. Es frißt mir am Herzen, es ist ein sündiges Mitleid, eine verbrecherische Sehnsucht. Hilf, hilf, rette mich vor dem Wirrsal, in das ich geraten bin!

Sollte sie so zu ihm sprechen?

Eines Augenblicks Dauer, und sie staunte, wie der Einfall ihr hatte kommen können. War denn nicht jede Gefahr vorbei? Was galt es noch zu bekämpfen? – Einen Sturm von Empfindungen, dessen sie allein Herr werden wollte.

»Mir fehlt nichts«, sagte sie, »es sind Launen, Bester, die jeder Sterbliche hat, du allein ausgenommen. Ich kann nur wiederholen, was ich dir schon als Braut sagte: Habe Geduld mit mir.«

 

Gräfin Agathe empfing ihre Kinder, als sie am nächsten Tage kurz vor dem Mittagessen bei ihr eintrafen, mit sehr absichtlich betonter Überraschung. Sie befand sich zwar noch zu Bette, aber nur aus Rücksicht für die viel zu weit getriebene Ängstlichkeit ihres Hausarztes. Es sei ihr höchst unangenehm, versicherte sie, den Kleinen allein in Dornach zu wissen – noch dazu ihretwegen. Eine Einwendung ließ sie nicht gelten und blieb dabei: »Ohne seine Mutter ist ein so junges Kind immer allein. Nur um mich keine Sorgen! Was der Herr beschließt, haben wir in Demut hinzunehmen. Aber ich hoffe von seiner Gnade, daß er mein Gebet erhören und mich noch hier lassen wird, um meinen dritten Enkel zu segnen. Drei müssen es sein. Einer für Dornach, einer für Gott, einer für den Kaiser.«

»Majoratsherr, Priester, Soldat«, murmelte Pater Schirmer, nickte dreimal dazu, kreuzte seine kleinen Hände über dem Magen und guckte aus winzigen Augen über die runden Polster der Wangen mit einer wahren Fülle von Wohlwollen und Freundlichkeit vor sich hin.

Die Gräfin beruhigte sich erst, als Maria ein Telegramm nach Dornach abgesandt hatte, in dem sie ihr Eintreffen für den drittnächsten Tag ankündigte. Hermann wurde gebeten, länger zu bleiben. Es geschah auf Veranlassung Pater Schirmers, der, mit dem Amte eines Sekretärs betraut, infolge seines Bestrebens, »jede Störung der Harmonie zwischen Gutsbesitzer und Gutsverwaltung hintanzuhalten«, einen verderblichen Schlendergang in der Leitung der Geschäfte geduldet hatte. Mit Schrecken war er sich des Unheils bewußt worden, das seine Ohnmacht angerichtet. Das Eingreifen der festen Hand Hermanns war notwendig.

So kam denn Maria allein in Dornach an.

Auf der Station wartete Wilhelm und empfing seine Base bewegt wie ein Liebhaber. Er bestellte ein Willkomm-Lallen von seinem »Prachtneffen«, die wärmsten Grüße Helmis und Handküsse der Rangen. Er konnte die schriftlichen Nachrichten über das Befinden Wolf Forsters, die Doktor Weise im Laufe des Winters nach Wien geschickt hatte, bestätigen. Der Patient war wohl genug, um Dornach verlassen und die Fahrt nach einem Jagdschlößchen Hermanns, das ihm zum bleibenden Aufenthalt angewiesen wurde, unternehmen zu können. Er selbst freue sich sehr darauf und spreche nur noch von seiner lang gehegten und mühsam gebändigten »Passion« für das lustige Waidwerk.

»Lauter Gutes, lieber Wilhelm, du bringst lauter gute Botschaft«, sprach Maria, und Tränen traten ihr in die Augen.

»Das Beste bringen Sie«, rief er aus, »Sie bringen sich.«

»Wie sagst du? Sie!?«

»Entschuldige! das macht der Respekt … Nach so langer Trennung kommt es mir ordentlich keck vor …« Er wurde verlegen und schwieg.

Sie rollten im raschen Trabe der Pferde dahin.

Durchsichtig blau und wolkenlos wölbte sich über ihnen der Himmel. Im Westen, in einer Einsattelung der Bergkämme, bildete die untergehende Sonne einen blendenden Feuerherd und sandte ihre Strahlengrüße über die keimende, knospende, blühende Welt, die sie zu neuem Leben erweckt hatte.

Ewig gelöstes, ewig unlösbares Rätsel, Frühlingswunder! – Still ließ Maria es auf sich einwirken und betete die eine und einzige Kraft an, die webt und treibt im Hälmchen auf der Wiese, widerhallt aus der tönenden Brust der Nachtigall, unwiderstehlich lockt und ringt im Menschenherzen.

Man war vor dem Schlosse angelangt, Wilhelm bestieg seinen Gaul und ritt heim, nachdem er versprochen hatte, sich morgen als Pater familias in Dornach einzufinden.

Maria hielt ihr Kind in ihren Armen; sie küßte und liebkoste es und wiederholte ihr Sprüchlein: »Alles gut – lauter Gutes – –«

Ach, wenn der bittere Vorwurf nicht wäre! der nagende, peinvolle Vorwurf gegen einen Menschen, der nicht in ihrer, nein, in dessen Schuld sie stand, unerbittlich grausam gewesen zu sein. Sie hätte sich überwinden, ihm die Hand reichen und sagen sollen – was hielt sie ab, welche Pflicht verbot es ihr? – : Ich habe Sie geliebt. Dereinst, als ich noch frei war. Die Verhältnisse haben uns getrennt. Nun wollen wir unsere Schuldigkeit als brave Menschen tun und beim Wiedersehen nach Jahren, wenn die Empfindung, die uns jetzt noch bedrückt und verwirrt, erloschen sein wird, einander als alte Freunde entgegentreten.

Hätte sie doch so gesprochen, so sprechen können! Schwäche, Schwäche, daß sie es nicht gekonnt. Jetzt bleibt der Stachel in ihrer Brust, der Tropfen Gift in ihrem Blute. Sie sollte den Blick nie vergessen, den er ihr beim Scheiden zugeworfen.

Als sich Maria in ihr Schlafgemach begeben hatte, erschien Lisette, um gute Nacht zu wünschen und eine Botschaft von Forster zu überbringen. »Er geht also fort«, sagte sie, »und läßt dich bitten, inständig, daß du morgen Klavier spielst und dann hinkommst in den Pavillon. Er möcht sich gar so gern bei dir empfehlen und dir auch den weiten Weg ersparen bis zur Hegerin. Wirst du kommen?«

»Ja.«

»Noch etwas, denk dir. Heut hat er Besuch gehabt, der Wolfi. Ein Freund von ihm, der eine weite Reise macht, hat sich hier aufgehalten von einem Zug zum andern.«

Maria rückte den Schirm, der auf dem Tische stand, vor die Lampe. »Wer?« fragte sie.

»Den Namen weiß ich nicht. So ein hübscher großer; das Gesicht wie von einem Italiener. Hat einen Backenbart, rabenschwarze, etwas gelockte Haare, die Nase gebogen, das Kinn ausrasiert. Vielleicht kennst du ihn. Ich hab ihn zwar nie bei uns gesehen.«

Nachdem die Alte sich entfernt hatte, durchwandelte Maria noch lange das Zimmer und dachte dessen, den jede Minute, jede Sekunde weiter hinwegtrug von ihr und der wohl auch wachte und litt wie sie und ihr grollte und zürnte …

Er war da gewesen, er hatte die Erinnerung an die Stätte, an der sie lebte, mitnehmen wollen in seine freiwillige Verbannung. – Einen Tag nur – nur einen, und sie hätten einander noch gesehen und den Abschied nehmen können, den sie sich in immer holderen, reineren Farben ausmalte.

Der Morgen kam. – Das Kindlein wankte ebenso tollkühn wie unsicher an der Hand der Wärterin in das Schlafgemach herein, dem Bette seiner Mutter zu und jauchzte ihr entgegen …

Maria erhob sich nach wenigen Stunden eines unerquicklichen, durch wüste Träume gestörten Schlafes. Sie wollte ihr Tagewerk beginnen, aber sie hatte Blei in den Gliedern, einen eisernen Reifen um den Kopf. Alles wurde ihr schwer, alles versagte, sogar die getreue Kunst. Sie schloß das Klavier, nachdem sie einige Akkorde angeschlagen hatte, eilte hinab ins Freie, umschritt das Haus und wanderte durch einen Fliedergang dem Pavillon zu. Forster wartete ihrer dort; sie wollte ihn treffen und durch den letzten, der den Scheidenden noch in der Heimat gesprochen, eine Kunde von ihm haben.

Sie war angelangt und überschritt die Stufen, die zum Pförtchen des kleinen Baues hinaufführten, einer zierlichen und luxuriösen Spielerei aus dem 18. Jahrhundert. Er enthielt zwei durch Rundbogen getrennte Zimmer. Die Wände und die Möbel waren mit gelbem chinesischem Seidenstoff überzogen, die Fenster mit demselben kostbaren Gewebe verhangen.

Als Maria aus dem grellen Tageslicht in die goldige Dämmerung trat, schwamm es ihr vor den Augen, und sie vermochte nicht, einen scharfen Umriß zu unterscheiden. Aus dem Nebenzimmer nahte jemand langsam und zögernd, wie ihr schien. »Forster«, rief sie.

Keine Antwort. Nach einer Weile erst ihr leise geflüsterter Name.

Maria erkannte die Stimme sogleich und schrie auf: »Sie!« Tessin stürzte ihr entgegen mit inbrünstig gefalteten Händen … sie streckte die ihren abwehrend aus: »Fort!… wie können Sie es wagen?… das ist Verrat. Gehen Sie!«

Er schüttelte den Kopf: »So nicht. Ich hab’s versucht – es ist unmöglich.« Entschlossenheit in jeder Bewegung, die Brauen drohend zusammengezogen, trat er näher.

Sie wich schweigend zurück und schritt dem Ausgang zu. Da warf er sich zwischen sie und die Tür, und als Maria ans nächste Fenster rannte und es zu öffnen versuchte mit bebenden Fingern, die den Gehorsam versagten, glitt ein finsteres Lächeln über seine Züge.

»Sie wollen Leute herbeirufen, tun Sie es doch. Der Gewalt muß ich weichen. – Aber nicht lebendig … das sage ich Ihnen – und Sie«, er hob beteuernd die Rechte, »Sie glauben mir das.«

»Wahnsinn«, stammelte Maria, von Furcht und Schrecken durchbebt.

»Nein, Verzweiflung!… Was hab ich Ihnen getan? warum verachten Sie mich? – Ich habe Sie unaussprechlich geliebt.« »Und was haben Sie mir getan? Sie haben mich verschmäht, mißhandelt, wie ich nicht dulde, daß man mich mißhandle. Sie haben die reinste Empfindung meines Lebens verkannt, mir gemeine Beweggründe zugeschrieben, mich verletzt, kalt und berechnend, an der empfindlichsten Stelle meines Herzens -geben Sie mir Genugtuung!« Er sah sie an, verstört, in rasender Erregung … Aber plötzlich, wie durch Zaubergewalt beschwichtigt, sank er auf das Knie.

Was war denn geschehen?

Eine von Angst gefolterte Frau, die mit ihren Tränen kämpfte, stand vor ihm. Ihr Stolz war gebrochen; mit ersterbender Stimme sprach sie: »Sie müssen fort.«

»Ja, ja?« er faßte ihre widerstrebende Hand. »Unter einer Bedingung … Geben Sie mir das Zeichen des Erbarmens, um das ich schon gefleht habe. Ich will als Gnade empfangen, was mein Recht wäre, was Sie mir schuldig sind für alles … auch für den Mord des besseren Menschen, der in mir schlummerte, der erwachen wollte unter Ihrem Einfluß und den Sie getötet haben, als Sie mich aufgaben.«

Immer heißer bestürmte er sie, immer überzeugender strömte die Rede von seinen Lippen, ein berauschender Hauch der Leidenschaft ging von ihm aus: »Was verlange ich denn? Ein Wort des Trostes mit auf den Weg, einen gütigen Blick, einen Händedruck …«

Das durfte sie gewähren, das war es ja, wonach sie sich gesehnt hatte all die Tage lang – vor dem Scheiden auf ewig ein Lebewohl in Frieden und Versöhnung.

Seine Augen flammten zu ihr empor, sie neigte sich, ihr Blick ruhte in dem seinen, und sie flüsterte: »Weil es unsere letzte Begegnung ist, Tessin, so wissen Sie … ich habe nicht leicht verzichtet. Sie sind mir nicht gleichgültig gewesen …«

Da brach er in jubelndes Entzücken aus: »Endlich! Endlich!« – Weich und zärtlich, in wonniger Dankbarkeit preßte er seine Stirn, seine Lippen auf ihre Hand, und Maria, im schwersten Kampfe ringend, flüsterte ihm leise zu: »Nun fort.«

Ganz verwandelt, außer sich, sprang er auf: »Nein, und nein! – Du hast mich geliebt, du liebst mich noch!« Er zog sie in seine Arme und erstickte mit seinen Küssen den Schrei, den sie ausstieß.

Sie wollte sich ihm entziehen – sie wollte sich retten – und lag an seiner Brust, unwiderstehlich hingerissen wie von einer Naturgewalt.

Zwei trunkene Menschen hatten kein Bewußtsein mehr von Ehre, Pflicht und Treue, ihnen versank die Welt und jegliches Erinnern.

 

Die Sonne stand im Scheitel, Maria war allein.

Seit langem, langem – seit einer Ewigkeit … Oder nicht? – war sie eben erst verlassen worden beim Aufschrecken aus einem gräßlichen, seligen, unmöglichen Traum?…

Sie saß da, die Hände auf den Tisch gelegt, das Gesicht in die Hände vergraben, als die Tür geöffnet und ein keuchender, pfeifender Atem hörbar wurde.

Wolfi schleppte sich herein, auf einen Stock gestützt, und fiel schwer auf den Diwan neben Maria hin. Er streckte die Beine aus, lehnte sich zurück und stöhnte: »Da hab ich’s. – Das war ein teurer Spaß.«

Maria starrte ihn an, entsetzt über sein Aussehen. Es war das eines Sterbenden. »Sie sind erschöpft, der Weg hierher war Ihnen zu weit«, sagte sie.

»Der Weg hierher?« Er wollte lachen, doch kam nur eine Art Schluchzen aus seiner Kehle. »Das nicht, aber daß ich Ihren Liebhaber durch den Wald hab führen müssen – damit er sich nicht verirrt. Und dann sein Dank … Mich niederzustechen hat er gedroht, weil ich nicht schwören wollte, mein Maul zu halten. Ihm schwören, dem Menschen ohne Treu und Glauben.«

Maria war versteinert. So war sie in eine Falle gelockt worden. Tessin hatte einen Vertrauten gehabt. Haben müssen. Natürlich – zu Gelegenheiten braucht man Leute, die sie machen, Helfer, Hehler. Einen wie den Niederträchtigen da … Ihr Herz stand still, als diese Gedanken sie so klar, so kalt durchblitzten. Kommt der Tod? – Ach, käme er doch von selbst, daß ich ihn nicht suchen müßte – denn, wie könnte sie jetzt noch leben?

»Müd, müd bin ich«, stöhnte Wolfi, »ich liege schlecht – hilf ein wenig.«

Von Abscheu und Ekel ergriffen, rang Maria mit sich selbst, doch beugte sie sich, er umklammerte ihren Nacken, sie faßte ihn an den Schultern, legte ihn – er kam ihr leicht vor wie ein Kind – der Länge nach auf das Ruhebett und schob Kissen unter seinen Kopf: »Bleiben Sie so. Ich schicke den Arzt.«

»Brauche ihn nicht – nicht ihn – dich allein – mir ist schon besser … Deine Sorgfalt tut mir wohl. – Wärst du immer gütig gegen mich gewesen – ich hätte dir vielleicht erspart – vielleicht … Gewiß weiß man’s nicht – ein Mensch wie ich« – er stockte, schwerer noch rang sich der Atem aus seiner Brust, die roten Flecken auf seinen Wangen färbten sich dunkler. Nun ging eine seltsame Veränderung in seinen Zügen vor; sie nahmen plötzlich einen milden, fast edlen Ausdruck an.

»Du bist nicht mehr stolz«, sprach er kaum vernehmbar, »verachtest niemanden mehr?«

Sie, mit herzzerreißender Klage, antwortete: »Nur mich!«

»Wirst du jetzt Bruder zu mir sagen?«

»Bruder.«

»Triumph …!« Seine letzte Kraft erschöpfte sich in der Anstrengung, mit welcher er dieses Wort hervorbrachte. Aus seinem Munde quoll ein Blutstrom, sein Kopf, den er ein wenig erhoben hatte, sank in die Kissen.

Maria stieß einen Schrei aus: »Zu Hilfe! Zu Hilfe! er stirbt!«

Kapitel 1

Kapitel 1

Die Vorstellung des »Fidelio« war zu Ende; das Publikum strömte aus dem Opernhause und zerstreute sich rasch nach allen Richtungen. Seit vierundzwanzig Stunden fiel Schnee, emsig, unablässig, in großen Flocken; er lag schwer auf den Dächern, verschleierte die Lichter in den Lampen, machte die Mühe der Wege ausschaufelnden Arbeiter fast vergeblich. Geräuschlos rollten die Equipagen vor; in Pelze gehüllte Männer und Frauen stiegen in weich gepolsterte Wagen. Ein paar Ladendiener hoben ihre sommerlich gekleideten Schönen in einen Komfortable mit zerbrochenen Fenstern. Wie der Wind sauste ein Fiaker nach dem anderen davon. Den Hut auf dem Ohr, den Schnurrbart gewichst, saßen die Eigentümer des »feschen Zeugels« etwas vorgebeugt auf ihrem Bock, in jeder Hand einen Zügel; und die Pferde griffen aus und gaben her an Lebenskraft, was sie geben konnten, um grüne Majoratsherrchen, hochgeborene Reiteroffiziere und Sportsleute so geschwind als möglich zum Spiel in den Jockeiklub zu bringen. An den Rand der Straße gedrängt, rumpelten dichtbesetzte Gesellschaftswagen, von abgejagten Mähren geschleppt, von schlaftrunkenen Kutschern regiert, den Vororten zu. Solide Bürgersfamilien gingen wohlverwahrt, mit geschärftem Appetit – man wird so hungrig im Theater – nach Hause, wo ein kräftiges Abendessen sie erwartete, oder begaben sich in eine Restauration.

Gemächlich, trotz des bösen Wetters, schlenderten einige Infanterieoffiziere dem nächsten Kaffeehause zu. Ein kleines Fähnlein, aber tatendurstig und eroberungssicher. Sie sprachen von den eleganten Damen in den Logen und von den Tänzerinnen und den Pferden anderer. Ein »Einjahrig-Freiwilliger«, der Sohn eines geadelten Bankiers, der sich ihnen angeschlossen hatte, sagte mit Vorliebe: »Wir Kavaliere« und »wir vom Turf«. Daß sein Sessel im väterlichen Kontor das einzige Rößlein war, auf dessen Rücken er es je zu einem Gefühl der Sicherheit gebracht, verschwieg er.

Die Herren wurden von einer jungen Lehrerin überholt, die eiligen Schrittes die Wanderung nach ihrer Wohnung angetreten hatte. Ihr Mantel war fadenscheinig, aber sie fror nicht; ihr Weg war weit und einsam, doch ihr bangte nicht. Sie schwelgte im Nachgenuß der Wonne, die ihrem kunstverständigen Sinn eben geboten worden. Es gab doch auch in ihrem schweren, harten Dasein Stunden der herrlichsten Erhebung. Die Kraft, die sie aus ihnen geschöpft, sollte lange vorhalten. Wer das Manna für die Seele auf Kosten des täglichen Brotes erwerben muß, kann sich dieser holden Labung nicht oft erfreuen.

In der Opernstraße war eine Arbeiterabteilung mit dem Aufrichten einer Schneepyramide beschäftigt, als ein Brougham, mit Rassepferden bespannt, im feierlichen Trabe vorbeikam. Die Flammen eines Gaskandelabers erleuchteten einen Augenblick das Innere des Wagens. Zwei Damen saßen darin, die eine alt und von kränklichem Aussehen, in dunklem Capuchon und Überwurfe, die andere sehr jung, sehr schön, barhäuptig, mit klassischem Profil, ihre Gefährtin um Kopfeshöhe überragend.

»Ho!« rief der dicke Pferdelenker in lässig warnendem Tone den Straßenkehrern zu, und alle zogen sich zurück – nur einer nicht. Der sprang vor, sah mit spöttischer Vertraulichkeit zu dem Kutscher hinauf und zwang ihn auszuweichen, was dieser tat, ohne den Kopf zu wenden, während der Diener neben ihm murmelte: »Wieder zurück aus Amerika und – Gassenkehrer? Gibt’s denn dort keine solche Anstellung?«

»Gibt’s gewiß«, lautete die Antwort, »damit is ihm aber nit gedient. Will uns hier aufpassen und Skandal machen, der Lump.« – Diese Bezeichnung galt einem schlank- und hochgewachsenen Burschen mit blassem Gesicht, eingefallenen Wangen und großen dunkelbraunen Augen. Er trug zerlumpte Kleider; ein kleiner, durchlöcherter Hut, den er ins Genick zurückgeschoben hatte, ließ die Stirn und die trotz der Verkommenheit, die sie ausdrückten, noch hübschen Züge frei. Mit frechem Behagen pflanzte er sich im Lampenscheine auf, und die junge Dame, die den Kopf ans Wagenfenster neigte, unverschämt anstarrend, präsentierte er vor ihr den Besen wie ein Gewehr.

Die Equipage fuhr davon, die Arbeiter lachten: »Schaut’s den Wolfi an!« und Wolfi, den Zornigen spielend, rief: »Dumme Bagage, was lacht’s? – Was hab ich getan?… Militärische Ehren erwiesen. Wem? – der Gräfin Maria Wolfsberg, meiner – meiner lieben Verwandten.«

Die so Bezeichnete hatte bei der Gebärde des Taglöhners keine Miene verzogen, doch verfärbte sie sich ein wenig und sagte mit beklommener Stimme zu ihrer Begleiterin: »Tante Dolph, hast du den Menschen gesehen? Im zerrissenen Sommerrock, mit geplatzten Schuhen bei dieser Kälte …«

»Oh, meine Liebe, der hat seinen Schnaps im Leibe, dem ist wärmer als mir«, erwiderte die Tante fröstelnd.

»Hast du auch gesehen, was er getan hat?«

»Ja, ja – ein Spaßvogel.«

»Das ist kein Spaßvogel – das ist ein Feind, der uns haßt.«

Der Gräfin unterbrach sie: »Hör auf. Du bist nervös. Dazu hat man in deinem Alter noch kein Recht. Ein Betrunkener erlaubt sich einen Scherz – was weiter? Man sieht es, wenn es einen unterhält, sieht es nicht, wenn es einen verdrießt – darüber nachdenken ist krankhaft.«

Maria schwieg. Sie ließ sich nicht gern in einen Streit mit ihrer Tante ein, weil sie regelmäßig den kürzeren zog. Die Tante war klug und schlagfertig; ihr Bruder, Graf Wolfsberg, nannte sie sogar weise und verehrte in der um viele Jahre älteren Schwester seine Vertraute, Ratgeberin und Freundin. Sie hingegen liebte auf Erden nichts als ihn. Kränklich von Jugend auf und sehr unabhängigen Sinnes, hatte sie niemals einen Beruf zur Ehe in sich verspürt und die zahlreichen Bewerber um ihre unscheinbare Persönlichkeit und um ihr glänzendes Vermögen einen nach dem anderen ohne Seelenkampf abgewiesen. Gräfin Adolphine oder Dolph, wie sie in der Familie genannt wurde, lebte seit langem auf ihrem Gute der Pflege ihrer Rheumatismen und ihres Vermögens, das sie, bedeutend vermehrt, ihrem Bruder zu hinterlassen gedachte. Als dieser Witwer wurde, brachte sie ihm, seiner Bitte nachgebend, ein großes Opfer. Sie verzichtete auf ihre Selbständigkeit im eigenen Haushalte und machte sich zur Leiterin des seinen. Da die Zeit kam, Maria in die Welt zu führen, tat sie noch mehr: sie entsagte der ihr notwendigen Bequemlichkeit und Ruhe und durchwachte manche Nacht auf dem Balle, den schmerzenden Kopf mit Diamanten bedeckt und so unvorteilhaft aussehend im großen Staat, daß nicht einmal ihre Kammerfrau es wagte, sie zu bewundern. Dabei langweilte sie sich grausam, langweilte sich sogar, wenn sie die anderen durch ihren scharfen und sprudelnden Witz vortrefflich unterhielt. »Glücklicher Bertrand de Born«, sagte sie, »dem doch die Hälfte seines Geistes nötig war. Ich wäre froh, wenn ich nur für ein Zehntel des meinen Abnehmer fände!«

Zu Hause angelangt, zog sich die Gräfin in ihre Gemächer zurück, während Maria in den Salon ihrer Wohnung trat. Jeden Abend erwartete sie hier einen verehrten Gast – ihren Vater. Es geschah fast nie umsonst. So wenig Zeit das hohe Staatsamt, das er bekleidete, und die Genußsucht, der nachzugeben er selbstverständlich fand, ihm übrigließen: die Stunde, mit der Maria ihren Tag beschloß, wußte er für sie freizuhalten.

Sie ließ sich jetzt den Theatermantel von ihrer Kammerzofe abnehmen und begann sogleich den Tee zu bereiten, zu dem alle Anstalten auf einem Tischchen neben dem Etablissement getroffen waren.

Maria widmete ihrer Beschäftigung die größte Sorgfalt. Mit dem Vorsetzen einer Tasse Tees hatte sie alle kindlichen Pflichten, die ihr Vater ihr auferlegte, erfüllt. Es wäre ihr heißer Wunsch gewesen, etwas für ihn tun, ihm etwas sein zu können; aber sie fühlte wohl, daß die Ahnung eines solchen Ehrgeizes im Herzen seiner Tochter ihn lachen gemacht hätte. Er wollte sie heiter und glücklich sehen, und wenn sie seine Fragen: »Hast du dich unterhalten? – Freut dich dies? – Freut dich jenes?« mit Ja beantwortet hatte, dann wich der strenge Ernst, der gewöhnlich auf seinem Antlitz lag. Dank seiner Großmut hatte sie ihre Wohnung in ein kleines Museum verwandeln können; fiel es ihr aber ein, bei der Betrachtung eines Bildes, einer Bronze etwas von ihren neuerworbenen Kenntnissen in der Kunstgeschichte durchblicken zu lassen, dann wurde seine Miene so spöttisch, daß Maria verwirrt schwieg und sich beschämend albern vorkam. Und der kostbare Blüthner, mit dem er sie jüngst überrascht und der dort in der Ecke stand, eingehüllt in weiche, indische Gewebe, noch hatte sie seinem Spender nichts anderes darauf vorspielen dürfen als Operettenarien und Tanzmusik. Sie war nicht leicht abzuschrecken gewesen, hatte immer einen Übergang gefunden aus dem Trivialen ins Schöne, aus dem Zerstreuenden ins Erhebende – aber nach den ersten Takten schon wurde das gefürchtete »Gute Nacht, Maria« gesprochen, und der Graf war aus dem Zimmer verschwunden. In solchen Fällen pflegte sie sich nicht zu unterbrechen; es hätte ihn, der sich in seinem Hause gegen Rücksichtnahme wehrte wie ein anderer gegen Rücksichtslosigkeit, sehr verdrossen. Nun blieb Maria in seiner Gegenwart bei dem Vortrage von Arietten und Walzern. Die Musik, die ihrem Geschmack entsprach, übte sie aus vor dem Bilde ihrer Mutter, das lebensgroß an der Wand über dem Piano hing. Du hättest deine Freude an mir gehabt, sprach sie in Gedanken zu ihr. Du hättest gewußt, daß ich nur zu wollen brauche, um eine Künstlerin zu werden. Aber ich werde nicht wollen, ich darf nicht. Unsereins darf so etwas nicht. Hättest du das auch gefunden, Mutter?

Ihr Blick haftete voll inniger Begeisterung auf dem edlen Angesicht, dem das ihre so ähnlich sah. Es war dasselbe reine Oval, dieselbe von kleinen Locken der reichen, aschblonden Haare beschatteten Stirn. Sie bildete zwei kaum sichtbare Hügel über den feinen Brauen, den etwas tiefliegenden blaugrauen Augen. Es war derselbe Schnitt der schlanken Nase, der leicht geschwellten Lippen und dieselbe wahrhaft königliche Gestalt. Aber ein anderer Geist offenbarte sich in jedem der beiden schönen Wesen. Marias ganze Erscheinung bekundete Entschlossenheit, Seelenstärke, Klarheit. Die Verstorbene hingegen hatte einen Ausdruck von eigentümlicher Schwermut und hilfloser Schüchternheit. Das Bild, aus dem sie unvergänglich jung und lieblich herabsah, war in ihrem achtzehnten Jahre, dem ersten Jahre ihrer Ehe, gemalt worden. Es stellte sie dar in einem weißen Spitzenkleide, mit bloßem Halse, mit nachlässig herabhängenden Armen, eine weiße, kaum aufgeblühte Rose in der Hand. Den Kopf leicht vorgeneigt, schien sie traumverloren zu lauschen. Maria besann sich noch, sie so gesehen zu haben im Konzert, in der Oper, und auch wenn der Vater oder sie zu ihr sprachen.

Aber diese freudigen Erinnerungen an die Mutter lagen fern, und die, die sich an eine spätere Zeit knüpften, waren unsäglich traurig. Die Gräfin, von einer Gemütskrankheit ergriffen, war langsam hingesiecht. Immer teilnahmsloser, immer schattenhafter wandelte sie stundenlang im Sommer durch den Garten, im Winter durch die Zimmer und durch die Gänge, blieb manchmal horchend an einer Tür stehen, machte eine Gebärde des Entsetzens und trat ihre Wanderungen stumm und rastlos wieder an.

Die ersten Symptome des Leidens sollten durch einen heftigen Schrecken hervorgerufen worden sein, dessen Veranlassung niemand in Marias Umgebung kennen wollte. Sie zweifelte nicht, daß ein Geheimnis da verborgen liege, und ließ nicht nach in ihrem leidenschaftlichen Eifer, es zu entdecken. Ganz besonders wurde ihre ehemalige Kinderfrau, die mit unbegrenzter und sklavischer Liebe an ihr hing, mit Fragen von ihr bestürmt.

»Sag es mir, Lisette, geh, sag es mir«, hatte sie einst gefleht und, so geizig sie mit ihren Zärtlichkeiten war, ihren Arm um den Hals der Getreuen geschlungen. »Wenn du mich liebhast, sagst du’s gleich, in dieser Minute … Wenn du es nicht sagst, dann weiß ich, daß dir nichts an mir liegt.«

Lisette sank in sich zusammen. Ratlos und verzweifelt starrten ihre grauen Augen ins Leere, ihre Wangen wurden fahl, und ihre Lippen bebten. »Wär ich doch tot«, jammerte sie, »daß mich das Kind nicht mehr fragen könnt.«

– Tot? – Maria trat weg von ihr und senkte den Kopf.

Lisette hatte sich den Tod gewünscht. Sie, die nicht von ihm reden hören konnte, die in jedem, der ihn nur nannte, ihren Feind sah, die das Leben als das höchste aller Güter schätzte, noch soviel von ihm erwartete, die tanzen wollte auf der Hochzeit Marias und Kinder des Kindes heranziehen, alle – und wenn ihrer zwölfe wären!… Lisette hatte sich den Tod gewünscht!

Das junge Mädchen war tief ergriffen und mußte Tränen niederkämpfen, um laut und vernehmlich sagen zu können: »Ich werde dich nie wieder fragen.«

Maria hatte Wort gehalten. – Seitdem waren sechs Jahre vergangen.