23. Kapitel


23. Kapitel

Esthers Erzählung

Nach sechs vergnüglich verlebten Wochen kehrten wir von Mr. Boythorn wieder nach Hause zurück. Wir waren oft im Park und im Walde gewesen und selten vor der Hütte des Parkhüters vorbeigegangen, ohne ein paar Worte mit seiner Frau zu sprechen; aber Lady Dedlock bekamen wir weiter nicht zu Gesicht, außer sonntags in der Kirche. Es waren Gäste in Chesney Wold, und obgleich viele schöne Gesichter sie umgaben, übte ihr Antlitz immer noch denselben Einfluß auf mich aus wie das erste Mal. Selbst jetzt weiß ich nicht recht, war der Einfluß peinlich oder angenehm für mich. Zog er mich zu ihr hin oder stieß er mich von ihr ab! Ich glaube, meine Bewunderung war mit einer gewissen Furcht gemischt, und ich weiß, daß in ihrer Anwesenheit meine Gedanken stets wie das erste Mal zu jener längst vergangnen Zeit meines Lebens zurückwanderten.

An mehr als einem Sonntag schien es mir, ich könnte vielleicht auf Lady Dedlock ebenso wirken wie sie auf mich –, ich meine, daß ich ihren Gedankengang vielleicht ebenso störte, wie sie den meinen beeinflußte. Aber jedes Mal, wenn ich einen verstohlenen Blick auf sie warf und sie so ruhig und kühl und unnahbar dasitzen sah, fühlte ich, daß das eine törichte Einbildung war. Überhaupt merkte ich, daß mein ganzes Denken und Fühlen in bezug auf sie unvernünftig und haltlos war, und machte mir innerlich darüber manchen Vorwurf.

Ein Vorfall, der sich ereignete, bevor wir Mr. Boythorn verließen, findet wohl am besten gleich hier Erwähnung.

Ich ging mit Ada im Garten spazieren, als man mir meldete, jemand wünsche mich zu sprechen. Ich trat in das Frühstückszimmer, in das man die Person geführt hatte, und fand dort die französische Zofe, die an dem Tag des Gewitters die Schuhe ausgezogen hatte und durch das nasse Gras gegangen war.

»Mademoiselle«, fing sie an und fixierte mich mit ihren scharfen Augen ein wenig zu sehr, als daß es sich mit ihrer sonst angenehmen Erscheinung und ihrem weder frechen noch kriecherischen Benehmen gut vertragen hätte. »Ich nehme mir eine große Freiheit, indem ich hierher komme, aber Sie werden es gewiß entschuldigen, da Sie so liebenswürdig sind, Mademoiselle.«

»Sie brauchen sich durchaus nicht zu entschuldigen, wenn Sie mit mir zu sprechen wünschen«, sagte ich.

»Ja, das wünsche ich. Tausend Dank für die freundliche Erlaubnis. Ich darf also sprechen. Nicht wahr?« sagte sie rasch und natürlich.

»Gewiß.«

»Mademoiselle, Sie sind so liebenswürdig! Hören Sie mich, bitte, an. Ich habe Myladys Dienst verlassen. Wir konnten nicht miteinander auskommen. Mylady trägt den Kopf hoch. Außerordentlich hoch. Pardon! Mademoiselle, Sie haben recht!« Ihre schnelle Auffassung erriet, was ich hatte sagen wollen. »Es ziemt sich nicht für mich, hierherzukommen und Klage über Mylady zu führen. Aber ich sage nur, sie trägt den Kopf hoch, außerordentlich hoch. Weiter sage ich kein Wort. Alle Welt weiß das.«

»Bitte, fahren Sie fort!«

»Sogleich, Mademoiselle. Ich bin Ihnen sehr verbunden für Ihre Höflichkeit. Mademoiselle, ich hätte den glühenden Wunsch, bei einer jungen Dame, die gebildet ist und schön ist, einen Dienst zu bekommen. Sie sind gut, gebildet und schön wie ein Engel. Ach, wenn ich die Ehre haben könnte, in Ihre Dienste treten zu dürfen!«

»Es tut mir wirklich leid…« begann ich.

»Weisen Sie mich nicht so rasch zurück, Mademoiselle«, sagte sie und zog unwillkürlich ihre schönen schwarzen Augenbrauen zusammen. »Lassen Sie mich wenigstens hoffen – nur einen Moment! Mademoiselle, ich weiß, die Stelle bei Ihnen würde stiller sein als die, die ich verlassen habe. Aber grade das hätte ich gerne. Ich weiß, diese Stelle würde weniger angesehen sein als meine vorige. Aber das wäre gerade mein Wunsch. Ich weiß, daß ich mich an Lohn schlechter stünde. Gut. Ich bin zufrieden.«

»Ich versichere Ihnen«, sagte ich, schon von dem bloßen Gedanken, eine solche Gesellschafterin um mich zu haben, ganz verwirrt, »daß ich überhaupt keine Kammerfrau halte und…«

»Ach Mademoiselle, warum nicht? Warum nicht, wenn Sie jemand haben können, der Ihnen anhänglich ist, der Ihnen mit Freuden dienen würde, treu, eifrig und verläßlich! Mademoiselle, ich möchte bei Ihnen wirklich von Herzen gern dienen. Reden Sie jetzt nicht von Geld. Nehmen Sie mich, so, wie ich vor Ihnen stehe. Umsonst.«

Sie war so merkwürdig ernst, daß ich einen Schritt zurücktat, denn ich fürchtete mich fast vor ihr. Ohne es in ihrem Eifer zu merken, drängte sie sich mir immer noch auf und sprach mit rascher, unterdrückter Stimme, aber immer mit einer gewissen Anmut und voll Anstand.

»Mademoiselle, ich bin aus dem Süden, wo man schnell entschlossen ist und liebt oder haßt. Mylady trug den Kopf zu hoch für mich, und ich tat es auch. Es ist geschehen. Vorbei. Aus. Nehmen Sie mich als Ihre Zofe an, und ich will Ihnen gut dienen. Ich will mehr für Sie tun, als Sie sich jetzt vorstellen können. Gut! Mademoiselle, verlassen Sie sich darauf! Ich sage Ihnen, ich werde mein Allermöglichstes in allem und jedem tun! Wenn Sie meine Dienste annehmen, werden Sie es nicht bereuen. Mademoiselle, Sie werden es nicht bereuen, und ich werde Ihnen nützlich sein. Sie wissen nicht, wie nützlich.«

In ihrem Gesicht drückte sich eine drohende Energie aus, während ich ihr auseinandersetzte, daß es mir rein unmöglich sei, sie in meine Dienste zu nehmen. Ihr Anblick erinnerte mich an das Bild eines Weibes in den Straßen von Paris während der Schreckenszeit. Sie hörte mich ohne Unterbrechung an und sagte dann mit ihrem hübschen Akzent und mit ihrer sanftesten Stimme: »Nun gut, Mademoiselle, ich habe meine Antwort! Es tut mir leid. Ich muß also anderswo suchen, was ich hier nicht gefunden habe. Würden Sie mir gütigst erlauben, Ihnen die Hand zu küssen?«

Sie sah mich noch aufmerksamer an, als sie meine Hand nahm, und schien sich einen Augenblick jede Ader genau merken zu wollen. »Ich fürchte, Sie haben sich über mich gewundert an jenem Gewittertag, Mademoiselle?« sagte sie und verbeugte sich zum Abschied noch einmal.

Ich gab zu, daß wir uns alle gewundert hätten.

»Ich habe ein Gelübde getan, Mademoiselle«, sagte sie lächelnd, »und wollte es meinem Gedächtnis einprägen, damit ich es getreulich erfülle. Und das werde ich auch. Adieu, Mademoiselle!«

So endete unsere Unterredung, und, wie ich gestehen muß, zu meiner großen Erleichterung. Sie reiste wahrscheinlich ab, denn ich bekam sie nicht mehr zu Gesicht. Und nichts störte weiter unsre stillen Sommervergnügungen, bis sechs Wochen verstrichen waren und wir nach Hause zurückkehrten.

Damals und viele Wochen nachher noch besuchte uns Richard sehr häufig. Außer, daß er jeden Samstag kam und bis Montag bei uns blieb, ritt er oft unerwartet herüber, brachte den Abend bei uns zu und ritt am nächsten Morgen früh wieder zurück. Er war so lebhaft wie immer und erzählte uns, daß er sehr fleißig sei. Aber trotzdem war ich innerlich nicht ohne Besorgnis. Es schien mir, als ob er in einer falschen Richtung tätig sei. Ich konnte nicht entdecken, daß sein Fleiß zu etwas anderm führte als zur Erweckung trügerischer Hoffnungen hinsichtlich des Prozesses, der schon die verderbliche Ursache so vieler Schmerzen und Leiden geworden war. Er sei jetzt in den Kern des Geheimnisses eingedrungen, sagte er uns, und nichts könne klarer sein, als daß das Testament, nach dem er und Ada, ich weiß nicht, wie viele tausend Pfund, erben sollten, endlich anerkannt werden müßte, wenn der Kanzleigerichtshof nur einen Funken Verstand oder Gerechtigkeit besäße, und daß dieser glückliche Abschluß nicht mehr lange auf sich warten lassen könne. Das bewies er sich durch all die ermüdenden Argumente, die er gelesen hatte, und jedes derselben stürzte ihn nur noch tiefer in seine Verblendung. Er hatte sogar angefangen, die Gerichtssitzungen regelmäßig zu besuchen. Er erzählte uns, daß er täglich Miß Flite dort sähe, daß sie sich miteinander unterhielten und er ihr kleine Gefälligkeiten erweise und sie von ganzem Herzen bemitleide, wenn er auch innerlich über sie lächeln müsse.

Er dachte keinen Augenblick daran, der arme, liebe, sanguinische Richard, damals so vielen Glückes fähig und mit einer so viel bessern Zukunft vor sich, welch verhängnisvolle Kette sich zwischen seiner frischen Jugend und ihrem welken Alter schlang, zwischen seinen hohen Hoffnungen und ihren in Käfigen hintrauernden Vögeln und ihrem ärmlichen Dachstübchen und ihrem irren Geist.

Ada liebte ihn zu sehr, um ihm in irgend etwas, was er sagte oder tat, zu mißtrauen, und mein Vormund klagte zwar häufig über Ostwind und las mehr als gewöhnlich im Brummstübchen, beobachtete aber sonst strengstes Stillschweigen über dieses Thema. Als ich daher eines Tages Caddy Jellyby auf ihre Bitte einen Besuch in London machte, kam ich auf den Einfall, mich von Richard im Landkutschenbureau abholen zu lassen, um mit ihm ein wenig über seine Angelegenheiten zu plaudern. Ich fand ihn bei meiner Ankunft dort, und wir gingen Arm in Arm fort.

»Nun, Richard«, sagte ich, sobald ich anfangen konnte, mit ihm ernst zu sprechen, »arbeiten Sie sich jetzt ein?«

»O ja, liebe Esther«, entgegnete Richard. »So ziemlich.«

»Ich meine, haben Sie ordentlich Wurzel gefaßt?«

»Wie meinen Sie das, Wurzel gefaßt?« fragte er mit seinem heitern Lachen.

»In der Jurisprudenz Wurzel gefaßt.«

»O ja. Es macht sich.«

»Das haben Sie schon vorhin gesagt, lieber Richard.«

»Und Sie halten es für keine ausreichende Antwort, wie? Nun, da haben Sie vielleicht recht. Wurzel gefaßt? Sie meinen, ob ich mit ganzem Herzen bei der Sache bin?«

»Ja.«

»Nun, nein. Das kann ich nicht gerade behaupten, weil man nicht ordentlich anfangen kann, solange sich die Angelegenheit in einem so unklaren Stadium befindet. Wenn ich sage Angelegenheit, so meine ich natürlich damit – das verbotene Thema.«

»Glauben Sie wirklich, der Prozeß könne jemals aus dem unklaren Stadium herauskommen?«

»Daran ist doch kein Zweifel.«

Wir gingen eine Weile stumm nebeneinander her; dann redete mich Richard in seiner offenherzigsten Weise an:

»Meine liebe Esther, ich verstehe Sie ganz gut und wünschte bei Gott, ich wäre ein beständigerer Mensch. Ich meine nicht beständig in bezug auf Ada, denn ich liebe sie aufs innigste – mehr und mehr von Tag zu Tag –, aber beständiger in bezug auf mich selbst. Vielleicht drücke ich mich nicht richtig aus, aber Sie werden mich schon verstehen. Wenn ich ein beständigerer Mensch wäre, hätte ich entweder bei Badger oder bei Kenge & Carboy festgehalten wie der grimme Tod und wäre jetzt solid und gesetzt geworden und hätte keine Schulden und…«

»Haben Sie Schulden, Richard?«

»Ja. Ein paar, liebe Esther. Auch habe ich mir etwas zu sehr das Billardspielen angewöhnt und ähnliches. Jetzt ist’s draußen. Sie verabscheuen mich, Esther, nicht wahr?«

»Sie wissen, daß dies nicht der Fall ist«, sagte ich.

»Sie sind nachsichtiger gegen mich, als ich es oft selbst bin. Liebe Esther, ich bin ein armer Hund, daß ich nicht zur Ruhe kommen kann. Aber wie kann ich es denn? Wenn Sie in einem unvollendeten Hause wohnen müßten, würden Sie darin nicht zur Ruhe kommen können, und wenn Sie verurteilt wären, alles, was Sie anfingen, halbfertig liegen lassen zu müssen, wären Sie auch nicht imstande, sich einer Sache ernstlich zu widmen. Ich bin in diesen endlosen Rechtsstreit mit all seinen wechselnden Chancen hineingeboren worden, und er hat mich aus dem Gleichgewicht zu bringen begonnen, ehe ich noch recht wußte, was ein Prozeß ist. Er hat mich seitdem nie mehr recht wieder ins Geleise kommen lassen. Hier stehe ich nun manchmal, von der Überzeugung durchdrungen, daß ich gar nicht wert bin, meine vertrauensvolle Kusine Ada zu lieben.«

Wir waren an einer menschenleeren Stelle angelangt, und er bedeckte die Augen mit seiner Hand und schluchzte.

»Richard, nehmen Sie es sich nicht so zu Herzen! Sie haben eine vornehme Denkungsweise, und der Gedanke an Ada kann Sie jeden Tag ihrer würdiger machen.«

»Ich weiß das, liebe Esther«, antwortete er und drückte mir den Arm. »Ich weiß das alles. Sie dürfen sich nicht wundern, daß ich jetzt ein bißchen weich bin, aber die Geschichte hat mir lange Zeit auf der Seele gelegen, und ich wollte oft mit Ihnen darüber sprechen, aber manchmal hat mir die Gelegenheit und oft der Mut dazu gefehlt. Ich weiß, daß der Gedanke an Ada mich ändern sollte, aber er tut es nicht. Ich bin zu unbeständig. Ich liebe sie auf das innigste, und dennoch handle ich jeden Tag und jede Stunde unrecht an ihr und an mir. Aber das kann nicht ewig dauern. Wir müssen endlich zu einem Schlußtermin kommen und zu einem Urteil zu unsern Gunsten. Und dann sollen Sie und Ada sehen, was ich in Wirklichkeit sein kann.«

Es hatte mir einen Stich ins Herz gegeben, als ich ihn schluchzen hörte und die Tränen zwischen seinen Fingern durchdringen sah, aber es war mir unendlich weniger schmerzlich als die Hoffnungsfreude, mit der er die letzten Worte sprach.

»Ich habe die Akten gründlich studiert, Esther, mich monatelang in sie vertieft«, fuhr er mit seiner alten Heiterkeit wieder fort, »und Sie können sich darauf verlassen, daß wir gewinnen müssen. Was langes Warten betrifft, hat es daran nicht gefehlt, Gott weiß. Um so wahrscheinlicher, daß die Sache rasch zu Ende geht. Sie steht sogar heute auf der Tagesordnung. Es wird zuletzt alles gut werden, und dann sollen Sie sehen.«

Da ich ihn soeben Kenge & Carboy in dieselbe Kategorie mit Mr. Badger hatte stellen hören, fragte ich ihn, wann er beabsichtige, sich in Lincoln’s-Inn einschreiben zu lassen.

»Das ist’s ja eben! Ich denke gar nicht daran, Esther«, erwiderte er gezwungen. »Ich glaube, ich habe die Sache dick. Ich habe im Falle ‚Jarndyce kontra Jarndyce‘ wie ein Galeerensklave gearbeitet und vorläufig meinen Durst nach Jurisprudenz gelöscht und mich überzeugt, daß ich mich nicht dafür eigne. Außerdem finde ich, daß es mich nur noch unruhiger macht, immerwährend auf dem Schauplatz der Handlung zu sein. Worauf richten sich nun naturgemäß meine Gedanken?« fuhr Richard fort, im Laufe seiner Rede wieder zuversichtlich geworden.

»Ich kann es nicht erraten.«

»Machen Sie kein so ernstes Gesicht! Es ist jedenfalls das Beste«, entgegnete Richard, »was ich tun kann, liebe Esther, das ist sicher. Ich brauche doch keinen Beruf im Leben zu haben, um versorgt zu sein. Der Prozeß muß endlich zu Ende gehen, und dann bin ich geborgen. Nein! Ich betrachte die Jurisprudenz als einen Beruf, der für mich nur vorübergehend ist und zu meiner zeitweiligen Lage, ich möchte sagen, vortrefflich paßt. Worauf richten sich nun naturgemäß meine Gedanken?«

Ich sah ihn an und schüttelte den Kopf.

»Auf was sonst«, sagte Richard im Tone tiefster Überzeugung, »als auf die Armee.«

»Auf die Armee?«

»Auf die Armee, natürlich. Ich brauche mir nur ein Patent zu verschaffen, und fertig.«

Und dann bewies er mir durch ausführliche Berechnungen in seinem Notizbuch, daß – vorausgesetzt, er habe zweihundert Pfund Schulden in sechs Monaten gemacht, noch vor seinem Eintritt in die Armee, und als Offizier in einem entsprechenden Zeitraum gar keine weitern – denn dazu sei er fest entschlossen –, daß diese veränderte Lebensweise eine Ersparnis von vierhundert Pfund jährlich oder zweitausend Pfund in fünf Jahren bewirken müsse, was schon eine recht beträchtliche Summe sei. Und dann sprach er so offen und aufrichtig von dem Opfer, das er bringen wolle, indem er sich eine Zeitlang von Ada fernhalte, und von dem Ernst, der ihn jetzt erfülle, ihre Liebe zu vergelten, sie glücklich zu machen und alle seine Fehler abzulegen und ein Mann von Energie und Festigkeit zu werden, daß mir wirklich das Herz weh tat. Ich dachte bei mir, wie würde und könnte das alles enden, wo alle seine hohen Eigenschaften so bald und so sicher von dem Gifthauch getroffen werden mußten, der alles, was er berührte, zugrunde richtete.

Ich sprach mit Richard mit dem ganzen Ernst, der mich erfüllte, und bat ihn um Adas willen, nicht seine Hoffnung auf den Kanzleigerichtsprozeß zu setzen. Allem, was ich sagte, stimmte Richard bereitwillig bei. Nur über den Gerichtshof und was damit zusammenhing ging er leicht hinweg und entwarf die glänzendsten Schilderungen von dem Beruf, dem er sich widmen wollte, wenn der böse Prozeß einmal aufgehört haben würde, seine Gedanken gefangen zu halten. Wir hatten ein langes Gespräch, aber im Wesen drehte es sich immer wieder um denselben Punkt.

Endlich erreichten wir Soho-Square, welchen Platz Caddy Jellyby als einen stillen Ort in der Nähe von Newmanstreet zum Stelldichein bestimmt hatte.

Caddy ging in dem Park in der Mitte des Platzes spazieren und eilte uns entgegen, sobald sie uns erblickte. Nach einigen fröhlichen Worten ließ uns Richard allein.

»Prince hat in der Nähe Unterricht zu geben, Esther«, sagte Caddy, »und hat sich den Gartenschlüssel für uns geben lassen. Wenn du daher mit mir hier spazieren gehen willst, können wir uns einschließen, und ich kann dir in Ruhe erzählen, weshalb ich dein liebes gutes Gesicht so bald wieder zu sehen wünschte.«

»Sehr gut, liebe Caddy«, sagte ich. »Das ist ein prächtiger Einfall.«

Caddy verschloß, nachdem sie das »liebe gute Gesicht«, wie sie es nannte, liebreich geküßt hatte, das Gitter, nahm meinen Arm, und wir gingen gemütlich im Garten spazieren.

»Du mußt wissen, Esther«, begann Caddy, die immer eine Vorliebe für Vertraulichkeit hatte, »als du mir sagtest, es sei Unrecht, ohne Ma’s Wissen zu heiraten oder sie über unser Verlöbnis in Unwissenheit zu lassen – wenn ich auch nicht annehme, daß sie sich viel um mich kümmert –, glaubte ich deine Äußerung Prince mitteilen zu müssen. Erstens, weil ich aus allem, was du mir sagst, profitieren möchte, und zweitens, weil ich keine Geheimnisse vor Prince habe.«

»Ich hoffe, er hat mir beigestimmt, Caddy.«

»Und wie! Ich versichere dir, er würde dir in allem und jedem beistimmen. Du hast keine Idee, welch hohe Meinung er von dir hat.«

»Wirklich?«

»Esther, jede andere als mich würde es eifersüchtig machen«, lachte Caddy und schüttelte den Kopf. »Aber ich freue mich nur darüber, denn du bist meine erste Freundin und die beste, ich jemals haben werde. Und niemand kann dich genug achten und lieben, wenn er mir gefallen will.«

»Mein Wort, Caddy«, sagte ich, »ihr habt euch wohl alle zusammen verschworen, mich eingebildet zu machen? Nun, was wolltest du sagen?«

»Wir sprachen also ausführlich darüber, und ich sagte zu Prince: ‚Prince, da Miß Summerson…’«

»Ich hoffe doch nicht Miß Summerson?«

»Nein, allerdings nicht!« rief Caddy fröhlich. »Ich sagte: Esther. Ich sagte zu Prince: Da Esther entschieden dieser Meinung ist, Prince, und sie gegen mich ausgesprochen hat und stets darauf anspielt in den freundlichen Briefchen, die du dir so gern von mir vorlesen läßt, so bin ich bereit, Mama alles zu gestehen, sobald du die Zeit für geeignet hältst.

Und ich glaube, Prince, daß Esther der Meinung ist, ich stünde besser und ehrenhafter da, wenn du es zugleich deinem Papa sagtest.«

»Ja, liebe Caddy«, rief ich. »Esther ist ganz gewiß dieser Ansicht.«

»So hatte ich also recht! Siehst du! Nun also! Das beunruhigte Prince sehr. Nicht, daß er im mindesten andrer Meinung gewesen wäre, sondern weil er soviel Rücksicht auf die Gefühle seines Vaters nimmt und befürchtet, dem alten Mr. Turveydrop würde das Herz brechen oder er könnte in Ohnmacht fallen oder die Sache könnte ihn in irgendeiner andern Art überwältigen. Er fürchtete, der alte Mr. Turveydrop würde es als Pflichtvergessenheit auffassen und eine große seelische Erschütterung davontragen. Du mußt nämlich wissen, Esther, Mr. Turveydrop ist bei seinem hervorragenden Anstand ungemein sensitiv.«

»Wirklich, liebe Caddy?«

»O, außerordentlich sensitiv. Prince sagt es immer. Nur das war die Ursache, daß mein liebes Kind…« Caddy entschuldigte sich, über und über errötend, »…ich nenne gewöhnlich Prince mein liebes Kind.«

Ich lachte; und Caddy lachte und wurde rot und fuhr fort:

»Dies hat ihn veranlaßt, Esther.«

»Wen veranlaßt, meine Liebe?«

»O du Boshafte!« Caddys hübsches Gesicht wurde feuerrot. »Mein liebes Kind, also, wenn du darauf bestehst… Das hat ihm wochenlang Sorge gemacht und ihn veranlaßt, es von Tag zu Tag hinauszuschieben. Endlich sagte er zu mir: Caddy, wenn Miß Summerson, auf die mein Vater große Stücke hält, sich bewegen ließe, mit dabei zu sein, wenn ich es ihm entdecke, glaube ich, könnte ich es tun. So versprach ich ihm denn, dich zu fragen. Ich möchte außerdem«, sagte Caddy und sah mich voll Hoffnung, aber furchtsam an, »wenn es dir recht wäre, später mit dir zu Mama gehen. Das meinte ich, als ich in meinem Brief schrieb, ich wollte dich um eine große Gunst und um deinen Beistand bitten. Und wenn du glaubst, du könntest mir meinen Wunsch erfüllen, Esther, würden wir beide dir von Herzen dankbar sein.«

»Wir werden sehen, Caddy«, sagte ich und tat, als ob ich überlegte. »Ich glaube wirklich, wenn es drauf ankäme, könnte ich Schwereres als das vollbringen. Ich stehe dir und dem lieben Kind natürlich gern zur Verfügung, liebe Caddy.«

Caddy war ganz entzückt, empfand sie doch jeden kleinen Freundschaftsdienst so tief wie wohl je ein zärtliches Herz, das auf dieser Erde geschlagen hat. Und nachdem wir noch ein paar Mal im Garten auf und ab gewandelt waren, zog sie sich ein Paar funkelnagelneue Handschuhe an, wie sie sich denn überhaupt nach Möglichkeit herausgeputzt hatte, um dem Meister des Anstands keine Schande zu machen, und wir gingen geradenwegs nach Newmanstreet.

Prince gab natürlich Unterricht. Er beschäftigte sich gerade mit einer nicht sehr hoffnungsvollen Schülerin – einem bornierten kleinen Mädchen mit trotzigen Stirnfalten, einer tiefen Stimme und einer seelenlosen unzufriedenen Mama; und die Sache wurde durch die Verwirrung, in die wir Prince versetzten, keineswegs aussichtsvoller. Die Unterrichtsstunde nahm einen so unharmonischen Verlauf wie möglich, ging aber endlich zu Ende, und als das kleine Mädchen seine Schuhe gewechselt und den Feuerglanz ihres weißen Musselinkleides in vielen Shawls gelöscht hatte, nahm seine Mama es mit sich fort.

Nach ein paar vorbereitenden Worten suchten wir Mr. Turveydrop auf und fanden ihn, Hut und Handschuhe um sich gruppiert, als ein Musterbild des Anstandes auf dem Sofa in seinem Privatzimmer sitzen, dem einzigen wirklich behaglichen Raum im ganzen Hause. Er schien sich zwischen den Mahlzeiten in aller Muße angekleidet zu haben. Sein Toilettekasten, seine Bürsten und andere Utensilien, alles von elegantester Form, lagen herum.

»Vater: Miß Summerson – Miß Jellyby.«

»Entzückend! Bezaubernd!« rief Mr. Turveydrop und erhob sich mit seiner hochschultrigen Verbeugung. »Darf ich bitten!…« Er schob uns Stühle hin. »Bitte, Platz zu nehmen!« Er küßte die Fingerspitzen seiner linken Hand. »Ich bin außer mir vor Entzücken!« Er verdrehte und schloß die Augen. »Meine kleine Einsiedelei wird zu einem Paradies!« Wieder gruppierte er sich auf dem Sofa wie der ersten Gentleman nach dem König.

»Abermals finden Sie uns, Miß Summerson«, säuselte er, »beschäftigt mit unsern kleinen Künsten: Politur, Politur! Abermals spornt uns das schöne Geschlecht an und belohnt uns durch seine liebenswürdige Gegenwart. Es bedeutet schon sehr viel in diesen Zeiten – und wie sehr sind wir seit den Tagen Seiner Königlichen Hoheit des Prinzregenten, meines Gönners, wenn ich so sagen darf, entartet –, zu sehen, daß der Anstand nicht ganz von Handwerkern mit Füßen getreten wird und daß noch das Lächeln der Schönheit auf ihn herabglänzt, gnädiges Fräulein.«

Ich konnte keine passende Antwort finden, und er nahm noch eine Prise.

»Lieber Sohn«, wendete er sich zu Prince, »du hast heute nachmittag vier Stunden zu geben. Ich würde dir raten, schnell ein paar Sandwichs zu essen.«

»Ich danke dir, Vater«, antwortete Prince, »ich werde pünktlich sein. Lieber Vater, darf ich dich bitten, dich auf das gefaßt zu machen, was ich dir zu sagen habe?«

»Gütiger Himmel!« rief das Anstandsmusterbild aus, blaß und erschrocken, als Prince und Caddy Hand in Hand vor ihm niederknieten. »Was bedeutet das? Ist das Verrücktheit? Oder was sonst?«

»Vater«, begann Prince mit großer Unterwürfigkeit, »ich liebe diese junge Dame, und wir sind verlobt.«

»Verlobt!« rief Mr. Turveydrop, lehnte sich in das Sofa zurück und verhüllte sich das Gesicht mit der Hand. »Ein Pfeil in mein Hirn geschleudert von meinem eignen Kinde!«

»Wir sind schon seit einiger Zeit verlobt, Vater«, stammelte Prince. »Und Miß Summerson, die davon hörte, riet uns, dir die Sache mitzuteilen, und war so außerordentlich liebenswürdig, uns heute hierher zu begleiten. Miß Jellyby ist eine junge Dame, die dich im höchsten Grade schätzt, Vater!«

Mr. Turveydrop ließ ein Stöhnen hören.

»Nicht, Vater, nicht«, flehte der Sohn. »Miß Jellyby schätzt dich außerordentlich hoch, und unser heißester Wunsch ist, dir jede mögliche Bequemlichkeit zu schaffen.«

Mr. Turveydrop seufzte laut.

»Nicht, bitte nicht, Vater«, flehte Prince wieder.

»Mein Junge«, ächzte Mr. Turveydrop, »es ist gut, daß deiner seligen Mutter dieser Schlag erspart blieb. Stoß zu und schone mich nicht. Triff mich ins Herz, mein Sohn, triff mich ins Herz!«

»Ich bitte dich, Vater, sprich nicht so!« jammerte Prince unter Tränen. »Es zerreißt mir das Herz. Ich versichere dir, Vater, unser heißester Wunsch ist, dir jede Bequemlichkeit zu schaffen. Caroline und ich kennen unsre Pflicht. Was für mich Pflicht ist, ist es auch für Caroline, wie wir oft miteinander besprochen haben. Und mit deiner Bewilligung und Zustimmung, Vater, wollen wir alles tun, um dir das Leben so angenehm wie möglich zu machen.«

»Triff mich ins Herz«, murmelte Mr. Turveydrop. »Triff mich ins Herz!«

– Aber er schien auch zu horchen, wie mir vorkam. –

»Lieber Vater, wir wissen recht gut, daß du an mancherlei kleine Bequemlichkeiten gewöhnt bist und Anspruch darauf hast, und es wird unsre größte Sorge und unser Stolz sein, in erster Linie dafür zu sorgen. Wenn du uns mit deiner Einwilligung und Zustimmung glücklich machen willst, Vater, wollen wir gar nicht eher heiraten, als bis es dir paßt, und wenn wir einmal verheiratet sind, werden wir natürlich an dich in erster Reihe denken. Du mußt hier immer das Oberhaupt bleiben, Vater, und wir fühlen, wie widernatürlich es wäre, wenn wir anders dächten oder wenn es uns nicht gelingen sollte, dir in jeder Hinsicht das Leben angenehm zu gestalten.«

Mr. Turveydrop kämpfte einen schweren innerlichen Kampf durch und saß jetzt wieder im Sofa aufrecht, die dicken Backen über die steife Halsbinde hängend; ein vollendetes Muster väterlichen Anstandes.

»Mein Sohn«, sagte er, »meine Kinder! Ich kann euern Bitten nicht widerstehen. Seid glücklich!«

Sein gütiges Wohlwollen, mit dem er seine künftige Schwiegertochter emporhob, seinem Sohn die Hand reichte und Caddy küßte, wirkte geradezu verwirrend auf mich.

»Meine Kinder!« – Mr. Turveydrop schlang väterlich den linken Arm um Caddy, die neben ihm saß, und stemmte die rechte Hand graziös in die Hüfte. – »Mein Sohn und meine Tochter! Euer Glück wird mir beständig am Herzen liegen. Ich will über euch wachen. Ihr sollt immer bei mir wohnen«, – damit meinte er natürlich, er wolle stets bei ihnen wohnen – »dieses Haus ist von jetzt an das eure so gut wie das meine. Betrachtet es als euer eignes Heim. Möget ihr lange leben, es mit mir zu teilen.«

Die Macht seiner Allüren war so groß, daß Caddy und Prince ganz von Dankbarkeit überwältigt waren, als ob er ihnen ein unermeßliches Opfer gebracht hätte, während er sich doch in Wirklichkeit nur für den Rest seines Lebens bei ihnen einquartierte.

»Was mich betrifft, meine Kinder, so naht für mich des Lebens gelber Herbst, und unmöglich ist es, zu sagen, wie lange die letzten schwachen Spuren ritterlichen Anstandes diesem Zeitalter der Weberei und Spinnerei erhalten bleiben. Aber solange das noch der Fall ist, will ich meine Pflicht gegen die Gesellschaft erfüllen und mich wie gewöhnlich in der Stadt zeigen. Ich habe nur wenige und einfache Bedürfnisse. Mein kleines Appartement, meine paar Toilettebedürfnisse, ein frugales Frühstück und ein einfaches Diner genügen. Ich überlasse es eurer Kindesliebe, für diese Bedürfnisse zu sorgen, und komme für alle übrigen auf.«

Prince und Caddy waren abermals von seiner Hochherzigkeit überwältigt.

»Mein Sohn, was die kleinen Einzelheiten betrifft, die dir mangeln, Einzelheiten in Allüren, die den Menschen angeboren sind und sich wohl ausbilden, aber nie erschaffen lassen, kannst du stets auf mich bauen. Ich habe seit den Tagen seiner Königlichen Hoheit des Prinzregenten getreulich auf meinem Posten ausgeharrt und werde ihn auch jetzt nicht verlassen. Nein, mein Sohn! Wenn du jemals deines Vaters bescheidne Stellung mit einem Gefühl des Stolzes betrachtet hast, so kannst du dich auch jetzt darauf verlassen, daß er nie etwas tun wird, was sie beflecken könnte. Was dich selbst betrifft, Prince, so ist dein Charakter anders geartet. Wir können nicht alle gleich sein, noch wäre das auch wünschenswert, und du mußt arbeiten, fleißig sein, Geld verdienen und deinen Kundenkreis so sehr vergrößern wie nur möglich.«

»Darauf kannst du dich verlassen, lieber Vater. Ich will es mit ganzem Herzen tun«, beteuerte Prince.

»Ich zweifle nicht daran. Deine Eigenschaften sind nicht glänzend, lieber Sohn, aber solid und nützlich. Und euch beiden, liebe Kinder, möchte ich nur im Geiste meiner seligen Gattin, auf deren Lebenspfad ich das Glück hatte, glaube ich, wenigstens einige Lichtstrahlen zu werfen, euch möchte ich zurufen: Sorget für das Etablissement, sorgt für meine einfachen Bedürfnisse, und Gott sei mit euch!«

Mr. Turveydrop wurde aus Anlaß des feierlichen Augenblicks dann wieder so galant, daß ich Caddy sagte, wir müßten wirklich auf der Stelle nach Thavies-Inn gehen, wenn wir überhaupt heute noch hinkommen wollten. So entfernten wir uns denn nach einem sehr zärtlichen Abschied Caddys von ihrem Bräutigam, und sie war auf dem Nachhauseweg so glücklich und so voll des Lobes über den alten Mr. Turveydrop, daß ich um keinen Preis ein Wort des Tadels über ihn über die Lippen gebracht hätte.

In den Fenstern des Hauses in Thavies-Inn hingen Vermietungsanzeigen, und es sah schmutziger, düsterer und unheimlicher aus als je. Der Name des armen Mr. Jellyby hatte erst vor ein paar Tagen in der Konkursliste gestanden, und er hatte sich im Speisezimmer mit zwei Herren und einem Haufen von blauen Dokumentenbeuteln, Rechnungsbüchern und Papieren eingeschlossen und machte die verzweifeltsten Anstrengungen, Einsicht in seine Angelegenheiten zu gewinnen. Sie schienen sich ganz und gar seinem Verständnis zu entziehen, denn als Caddy mich irrtümlich in das Speisezimmer führte und wir ihn dort, die Brille auf der Nase, hoffnungslos in einer Ecke neben dem großen Eßtisch von zwei Herrn blockiert fanden, schien er alles aufgegeben zu haben und sprach- und gefühllos geworden zu sein.

Als wir die Treppe hinauf zu Mrs. Jellybys Zimmer gingen – die Kinder kreischten unisono in der Küche, und kein Dienstbote ließ sich sehen –, trafen wir sie mit einer umfangreichen Korrespondenz beschäftigt. Sie öffnete, las und sortierte Briefe, und ganze Haufen zerrissener Kuverts bedeckten den Boden. Sie war so davon in Anspruch genommen, daß sie mich anfangs nicht gleich erkannte, obgleich sie mich mit ihrem sonderbaren in die Ferne gerichteten Blick ihrer hellen Augen lange ansah.

»Ah, Miß Summerson«, sagte sie endlich. »Ich dachte gerade an etwas anderes. Ich hoffe, Sie befinden sich wohl. Es freut mich, Sie zu sehen. Mr. Jarndyce und Miß Clare befinden sich doch ebenfalls wohl?«

Ich bejahte und erkundigte mich nach Mr. Jellybys Befinden.

»Nun, es geht ihm nicht allzu gut«, gab Mrs. Jellyby mit Seelenruhe zur Antwort. »Er hat Unglück im Geschäft gehabt und ist etwas niedergeschlagen. Glücklicherweise bin ich selbst so beschäftigt, daß ich keine Zeit habe, darüber nachzudenken. Wir haben gegenwärtig ungefähr hundertsiebzig Familien, Miß Summerson, jede ungefähr fünf Köpfe stark, die entweder gerade im Begriffe sind, nach dem linken Nigerufer abzureisen, oder bereits abgereist sind.«

Ich mußte an die arme Familie in unsrer unmittelbarsten Nähe denken, die weder am linken Nigerufer war noch dorthin reisen konnte, und begriff nicht, wie Mrs. Jellyby so ruhig sein konnte.

»Sie haben Caddy mitgebracht, wie ich sehe«, bemerkte sie mit einem Blick auf ihre Tochter. »Sie ist eine wahre Seltenheit bei uns geworden. Sie hat mich wirklich gänzlich im Stich gelassen und tatsächlich genötigt, einen Jungen anzustellen.«

»Ich weiß, Ma…« begann Caddy.

»Du weißt doch, Caddy«, unterbrach sie die Mutter mild, »daß ich einen Jungen angestellt habe und daß er jetzt nur zu Tisch gegangen ist. Was für einen Zweck hat es da, zu widersprechen!«

»Ich wollte doch gar nicht widersprechen, Ma. Ich wollte nur sagen, daß du doch nicht verlangen kannst, ich solle mein ganzes Leben lang der Packesel bleiben.«

»Ich sollte doch denken, meine Liebe«, sagte Mrs. Jellyby und fuhr dabei fort, ihre Briefe zu öffnen und sie mit lächelndem Gesicht zu überfliegen und zu sortieren, »du hättest in deiner Mutter ein Vorbild von Geschäftseifer vor dir. Übrigens: Ein bloßer Packesel? Wenn du die geringste Sympathie für die Bestimmung des Menschengeschlechts hättest, würdest du hoch über einem solchen Gedanken stehen. Aber die fehlt dir eben. Ich habe es dir oft gesagt, Caddy, du hast keine solche Sympathie.«

»Nein, für Afrika nicht, Ma, gewiß nicht.«

»Natürlich nicht. Sehen Sie, Miß Summerson, wenn ich nicht glücklicherweise so beschäftigt wäre«, Mrs. Jellyby sah mich einen Augenblick sanft an und überlegte dabei, wohin sie einen eben erbrochenen Brief legen solle, »würde mich das wieder sehr schmerzen und enttäuschen. Aber ich habe in der Angelegenheit mit Borriobula-Gha so den Kopf voll und muß mich so darauf konzentrieren, daß ich nicht darunter leide.«

Da Caddy mir einen bittenden Blick zuwarf und Mrs. Jellyby gerade durch meinen Hut und meinen Kopf hindurch weit nach Afrika hineinblickte, hielt ich es für eine günstige Gelegenheit, auf den Zweck meines Besuchs zu sprechen zu kommen und Mrs. Jellybys Aufmerksamkeit darauf zu lenken.

»Vielleicht werden Sie sich fragen«, begann ich, »was mich hierher geführt und veranlaßt hat, Sie zu stören.«

»Es freut mich stets, Sie zu sehen, Miß Summerson«, versicherte mir Mrs. Jellyby und nahm ihre Beschäftigung mit gewinnendem Lächeln wieder auf, »obgleich ich wünschte, Sie interessierten sich ein wenig mehr für das Borriobulaprojekt.« Sie schüttelte mißbilligend den Kopf.

»Ich bin also mit Caddy hergekommen«, fing ich wieder an, »weil sie der gewiß richtigen Meinung ist, sie dürfe kein Geheimnis vor ihrer Mutter haben, und sich einbildet, sie würde mehr Mut haben, wenn ich ihr behilflich wäre.«

»Caddy«, sagte Mrs. Jellyby, hielt einen Augenblick in ihrer Beschäftigung inne und setzte sie dann kopfschüttelnd, aber in heiterer Ruhe fort. »Du willst mir gewiß irgendeinen Unsinn mitteilen?«

Caddy knüpfte ihr Hutband auf, nahm den Hut ab, ließ ihn an dem Bande auf den Fußboden herunterbaumeln, schluchzte laut und sagte:

»Ma, ich bin verlobt!«

»O du törichtes Kind«, erwiderte Mrs. Jellyby mit zerstreuter Miene und überflog dabei ein Telegramm. »Was für eine Gans du doch bist!«

»Ich bin verlobt, Ma«, schluchzte Caddy, »mit dem jungen Mr. Turveydrop von der Tanzakademie, und der alte Mr. Turveydrop – er ist ein hervorragender Gentleman, ich versichere dir – hat seine Einwilligung gegeben, und ich bitte und flehe dich an, gib mir auch die deine, Ma. Denn sonst könnte ich nie glücklich sein. Wirklich nie, nie«, schluchzte Caddy, die alle ihre früheren Leiden ganz und gar vergaß und sich nur ihrem guten Herzen überließ.

»Da sehen Sie wieder, Miß Summerson«, bemerkte Mrs. Jellyby voller Seelenruhe, »welches Glück, daß ich so beschäftigt bin und meine Gedanken auf eine einzige Sache konzentrieren muß. Da verlobt sich Caddy mit dem Sohn eines Tanzmeisters, verkehrt mit Leuten, die nicht mehr Sympathien für die Geschicke des Menschengeschlechts haben als sie selbst! Und noch dazu, wo Mr. Gusher, einer der ersten Philantropen unsrer Zeit, mir angedeutet hat, daß er ernstlich geneigt sei, sich für sie zu interessieren.«

»Ma, ich habe Mr. Gusher von jeher gehaßt und verabscheut«, schluchzte Caddy.

»Caddy, Caddy!« Mrs. Jellyby öffnete mit der größten Gemütsruhe wieder einen Brief. »Ich zweifle daran nicht. Wie könnte es auch anders sein, da dir die Neigungen, von denen er überfließt, gänzlich abgehen. Ich wiederhole, Miß Summerson, diese kleinlichen Einzelheiten würden mich tief bekümmern, wenn meine öffentlichen Pflichten nicht mein Lieblingskind wären und mich in umfassendster Weise in Anspruch nähmen. Aber kann ich die Folgen eines törichten Streichs von Seiten Caddys, von der ich übrigens nichts andres erwarten durfte, wie einen Nebel zwischen mich und den großen afrikanischen Kontinent treten lassen? Nein, nein!« wiederholte Mrs. Jellyby mit ruhiger klarer Stimme und lächelte liebenswürdig, Briefe aufbrechend und sortierend. »Nein, wahrhaftig nicht!«

Ich war so wenig gefaßt auf eine so außerordentlich kaltblütige Aufnahme der Angelegenheit, obgleich ich es mir hätte denken können, daß ich keine Worte fand. Caddy schien es ebenso zu gehen. Mrs. Jellyby fuhr fort, Briefe zu öffnen und zu sortieren, und wiederholte in freundlichem Ton und mit dem ruhigsten Lächeln von der Welt von Zeit zu Zeit: »Nein, wahrhaftig nicht!«

»Ich hoffe, Ma«, schluchzte endlich die arme Caddy, »du bist nicht böse auf mich?«

»Ach Caddy, du bist wirklich abgeschmackt, daß du noch so fragen kannst, wo du doch eben von mir gehört hast, wie sehr ich anderweitig beschäftigt bin.«

»Und ich hoffe, Ma, du gibst uns deine Zustimmung und deinen Segen.«

»Du hast sehr töricht gehandelt, Kind, daß du einen solchen Schritt tatest, und bist aus der Art geschlagen, sonst hättest du dich dem allgemein menschlichen Interesse gewidmet. Aber der Schritt ist einmal geschehen, und ich habe einen Knaben aufgenommen und will kein Wort weiter darüber verlieren. Ich bitte dich, Caddy«, sagte Mrs. Jellyby, denn Caddy küßte sie, »störe mich nicht bei meiner Arbeit und laß mich diesen Stoß Briefe erledigen, ehe die Nachmittagspost kommt.«

Ich konnte nichts Besseres tun als mich verabschieden, blieb aber noch einen Augenblick stehen, und Caddy sagte:

»Du wirst doch nichts dagegen haben, daß ich ihn dir vorstelle, Ma?«

»O Gott, o Gott, Caddy!« rief Mrs. Jellyby, die bereits wieder im Geiste in weiter Ferne weilte. »Fängst du schon wieder an? – Wen willst du vorstellen?«

»Ihn, Ma.«

»Caddy, Caddy!« sagte Mrs. Jellyby, solcher Nebensächlichkeiten sichtlich müde, »dann mußt du ihn an einem Abend mitbringen, an dem keine Sitzung des Haupt-, des Neben- oder des Abzweigungsvereins angesetzt ist. Du mußt den Besuch nach den Ansprüchen einrichten, die man an meine Zeit stellt. Meine liebe Miß Summerson, es war sehr freundlich von Ihnen, daß Sie mit hierhergekommen sind, diesem albernen Gänschen herauszuhelfen. Leben Sie wohl! Wenn ich Ihnen sage, daß ich heute morgen achtundfünfzig Briefe von Fabrikarbeiterfamilien empfangen habe, die alle wünschen, die Einzelheiten der Eingeborenen- und Kaffeekulturfrage kennenzulernen, so muß ich Sie gewiß nicht erst um Verzeihung bitten, daß ich so wenig Zeit habe.«

Caddy war sehr betrübt, als wir die Treppe hinabgingen, und fing an meiner Brust wieder zu schluchzen an. Scheltworte wären ihr lieber gewesen als eine so gleichgültige Behandlung, sagte sie und vertraute mir an, sie sei so arm an Ausstattung, daß sie noch gar nicht wüßte, wie sie jemals würde anständig getraut werden können. Ich konnte mich über all das natürlich nicht wundern, und es gelang mir, sie nach und nach zu trösten, indem ich von den vielen Dingen sprach, die sie für ihren armen Vater und für Peepy tun könnte, wenn sie erst einmal eine eigne Wirtschaft habe würde. Dann gingen wir hinunter in die feuchte dunkle Küche, wo Peepy mit seinen kleinen Brüdern und Schwestern auf dem Steinboden herumkrabbelte. Wir spielten so lustig mit ihnen, daß ich, um nicht ganz in Stücke gerissen zu werden, wieder zum Märchenerzählen meine Zuflucht nehmen mußte.

Von Zeit zu Zeit hörte ich im Zimmer über uns laute Stimmen und heftiges Herumwerfen von Stühlen. Dies Geräusch ließ mich vermuten, daß der arme Mr. Jellyby jedes Mal vom Speisetisch aufsprang und zum Fenster rannte, mit der Absicht, sich hinauszustürzen, so oft er einen neuen Versuch machte, Einsicht in seine Angelegenheiten zu gewinnen.

Als ich nach des Tages Geschäften abends ruhig nach Hause fuhr, mußte ich viel über Caddys Verlobung nachdenken und fühlte mich in der Hoffnung bestärkt, daß sie trotz des alten Mr. Turveydrop glücklich sein werde. Wenn auch nur geringe Aussicht war, daß sie und ihr Gatte jemals das Musterbild des Anstands durchschauen würden, so brachte ihnen das weiter keinen Schaden, und kein Mensch auf der Welt hätte ihnen wohl mehr Weisheit gewünscht. Ich jedenfalls nicht. Ich schämte mich fast, daß ich nicht selbst an ihn glauben konnte.

Und ich blickte zum Himmel empor und dachte an die Wanderer in fernen Ländern und an die Sterne, die sie sahen, und hoffte, immer so gesegnet und glücklich zu sein, mich in meiner bescheidenen Weise irgend jemandem nützlich machen zu können.

Als ich nach Hause kam, freuten sich alle so sehr, mich wiederzusehen, daß ich mich am liebsten hingesetzt und vor Freude geweint hätte. Nur wäre das wohl nicht die beste Art gewesen, mich angenehm zu machen. Jedermann im Hause, vom Geringsten bis zum Höchsten, zeigte mir ein so freundliches Bewillkommnungsgesicht und sprach so heiter zu mir und freute sich so sehr, etwas für mich tun zu können, daß ich wirklich glaube, es hat noch nie auf der Welt ein glücklicheres unbedeutendes Geschöpf gegeben, als ich war.

Wir kamen an diesem Abend so ins Plaudern hinein, als Ada und mein Vormund mich verleiteten, ihnen die ganze Geschichte von Caddy zu erzählen, daß ich lange Zeit allein erzählte und immer nur erzählte. Endlich ging ich in mein Zimmer hinauf, ganz rot bei dem Gedanken, wie ich gepredigt hatte. Und gleich darauf klopfte es leise an meine Türe. Ich sagte: »Herein!« und auf der Schwelle erschien ein hübsches kleines Mädchen in saubern Trauerkleidern und knickste.

»Wenn Sie gestatten, Miß«, sagte die Kleine leise, »ich bin Charley.«

»Ja wirklich, Charley«, rief ich, beugte mich erstaunt zu ihr nieder und gab ihr einen Kuß. »Wie es mich freut, dich zu sehen, Charley!«

»Wenn Sie gestatten, Miß, ich bin Ihre Zofe.«

»Charley?«

»Wenn Sie gestatten, Miß, ich bin ein Geschenk für Sie. Mr. Jarndyce läßt Sie vielmals grüßen.«

Ich setzte mich, die Hand auf Charleys Schulter, und blickte sie an.

»Und, ach, Miß«, sagte Charley, während Tränen ihr über die Grübchen in den Wangen liefen, »Tom ist in der Schule, wenn Sie gestatten, und lernt so gut! Und die kleine Emma ist bei Mrs. Blinder, Miß, und in so guter Obhut! Und Tom wäre schon viel eher in die Schule gekommen und Emma zu Mrs. Blinder und ich schon viel eher hierher, Miß, aber Mr. Jarndyce dachte, Tom und Emma und ich sollten uns erst ein wenig mit der Trennung vertraut machen, weil wir so klein wären. Aber bitte, weinen Sie nicht, Miß.«

»Ich kann nicht anders, Charley.«

»Ach, Miß, ich kann auch nicht anders. Und wenn Sie erlauben, Miß, Mr. Jarndyce läßt herzlich grüßen und glaubt, es würde Ihnen Freude machen, mir dann und wann etwas beizubringen. Und wenn Sie erlauben, Tom und Emma und ich sollen uns ein Mal im Monat sehen. Und ich bin so glücklich und dankbar, Miß«, rief Charley mit überströmendem Herzen, »und ich werde mich bemühen, eine gute Dienerin zu sein.«

»O liebe Charley, vergiß nie, wer das alles getan hat.«

»Nein, Miß, ich werde es nie vergessen. Und Tom auch nicht. Und Emma auch nicht. Ihnen haben wir alles zu verdanken, Miß.«

»Ich habe nicht einmal davon gewußt. Mr. Jarndyce war es, Charley.«

»Ja, Miß, aber es geschah alles Ihnen zuliebe, und damit Sie meine Herrin werden sollten. Wenn Sie erlauben, Miß, Mr. Jarndyce schickt mich Ihnen mit seinen herzlichsten Grüßen, und es sei alles nur Ihnen zuliebe geschehen. Ich und Tom dürften das nie vergessen.«

Charley trocknete sich die Augen und trat ihr Amt an, wobei sie sich in ihrer matronenhaften zierlichen Weise im Zimmer umherbewegte und alles zusammenlegte, was ihr in die Hände fiel. Gleich darauf kam sie wieder zu mir geschlichen und sagte:

»Ach bitte, Miß, weinen Sie nicht.«

Und ich sagte wieder: »Ich kann nicht anders, Charley.«

Und Charley sagte wieder: »Ach, Miß, ich kann auch nicht anders.« Und so weinte ich doch, aber vor lauter Freude, und sie auch.

16. Kapitel


16. Kapitel

»Toms Einöd«

Lady Dedlock ist ruhelos, sehr ruhelos. Die erstaunten »fashionablen Nachrichten« wissen kaum, wo ihrer habhaft werden. Heute ist sie in Chesney Wold, gestern war sie in ihrem Haus in der Stadt, morgen kann sie im Ausland sein, wenn überhaupt die »fashionablen Nachrichten« sich noch getrauen, irgend etwas vorauszusagen. Selbst Sir Leicester in seiner Galanterie kann nicht an ihrer Seite bleiben. Um so weniger, als sein getreuer Verbündeter in guten und bösen Tagen – die Gicht – in das alte eichengetäfelte Schlafzimmer in Chesney Wold eingezogen ist und ihn bei beiden Beinen gepackt hat.

Sir Leicester findet sich mit der Gicht wie mit einem lästigen Dämon ab. Aber immerhin wie mit einem Dämon adeligen Stammes.

Sämtliche Dedlocks in direkter männlicher Linie haben während eines Zeitraums, weit über Menschengedanken hinaus, die Gicht gehabt. Es läßt sich beweisen. Die Väter anderer Leute sind vielleicht an Rheumatismus gestorben oder haben sich an dem verdorbenen Blute des kranken Pöbels angesteckt, aber das Haus Dedlock hat dem nivellierenden Prozeß des Sterbens den Stempel des Exklusiven aufgedrückt, indem alle seine Mitglieder an ihrer eignen Familiengicht gestorben sind. Sie hat sich in dem illustren Geschlecht vererbt wie das Silber, die Gemälde oder die Besitzung in Lincolnshire. Sie zählt mit zu den Würden.

Sir Leicester ist vielleicht nicht ganz frei von der Ansicht, wenn er sie auch noch nie in Worte gefaßt hat, daß der Todesengel bei Vollzug seiner Pflichten die Schatten der Aristokratie möglicherweise anreden könnte: Mylords und Gentlemen, ich habe die Ehre, Ihnen wieder einen Dedlock vorzustellen, der laut Bescheinigung per Familiengicht soeben angekommen ist.

Daher überläßt Sir Leicester seine Familienbeine der Familienkrankheit, als ob er, Namen und Vermögen gemäß, diese Lehnspflicht mit übernommen habe. Er fühlt allerdings, daß man sich eine gewisse Freiheit herausnimmt, wenn man einen Dedlock auf den Rücken legt und ihn krampfhaft in die Extremitäten zwickt und sticht, aber er denkt: Wir haben uns das alle gefallen lassen; es gehört mit dazu; es ist seit einigen hundert Jahren ein stillschweigendes Übereinkommen, daß wir die Totengruft im Park nicht aus andern gemeineren Ursachen zieren sollen, und ich unterwerfe mich dieser Vereinbarung.

Und es nimmt sich sehr gut aus, wie er in einer Glut von Scharlach und Gold in der Mitte des großen Salons vor seinem Lieblingsbild von Mylady liegt, während breite Streifen Sonnenschein die lange Perspektive hinunter durch die endlose Reihe der Fenster hereinglänzen und mit den Schattenstreifen abwechseln. Draußen stehen die stattlichen Eichen seit Generationen in den Grund gewurzelt, der niemals die Pflugschar gefühlt hat und schon Jagdgebiet war, als Könige noch mit Schwert und Schild in die Schlacht und mit Bogen und Pfeil auf die Jagd ritten, und legen Zeugnis ab für seine Größe. Drinnen sagen seine von den Wänden herabblinkenden Ahnen: »Jeder von uns war hier einmal vorübergehend eine Wirklichkeit und ließ diesen gemalten Schatten seines Selbst zurück und verschmolz in Erinnerungen so traumhaft wie der ferne Schrei der Krähen, der dich jetzt in Schlaf lullt.« Und legen ebenfalls Zeugnis ab für seine Größe.

Und Sir Leicester ist heute sehr von seiner Bedeutung durchdrungen. Und wehe Boythorn oder jedem anderen frechen Wicht, der sich erkühnt, ihm einen Zoll Boden streitig zu machen.

Mylady weilt gegenwärtig bei Sir Leicester. Aber nur durch ihr Porträt vertreten. Sie selbst ist in die Stadt geflogen. Aber nicht mit der Absicht, dort zu bleiben. Sie wird bald wieder zurückfliegen, sehr zur Verwirrung der »fashionablen Nachrichten«.

Das Haus in der Stadt ist nicht zu ihrem Empfange bereit, es ist eingewickelt und öde. Nur ein gepuderter Merkur gähnt untröstlich hinter einem Vorhallenfenster und bemerkte gestern abend zu einem andern Merkur seiner Bekanntschaft, der auch an gute Gesellschaft gewöhnt ist, wenn das so fortgehen sollte – und das sei unmöglich, denn ein Mann von seinem Geist könne das nicht ertragen und von einem Mann von seiner Figur könne man es nicht verlangen –, so bleibe ihm auf Ehre nichts übrig, als sich die Kehle abzuschneiden.

Was für eine Verbindung kann es zwischen dem Schloß in Lincolnshire, dem Haus in der Stadt, dem gepuderten Merkur und dem Treiben Jos, des Ausgestoßenen mit dem Besen, auf den der Lichtstrahl der Ewigkeit fiel, als er die Kirchhoftreppe fegte, geben? Was kann die vielen Menschen in den unzähligen Histörchen dieser Welt, die trotz tiefer unüberbrückbarer Kluft seltsamerweise doch zusammenkommen, miteinander verbinden? Jo kehrt seinen Straßenübergang den ganzen Tag, ohne etwas von unsichtbaren Verbindungen, wenn es überhaupt solche gibt, zu wissen. Von seinem Geisteszustand, wenn man ihm eine Frage vorlegt, pflegt er mit den Worten Zeugnis abzulegen: »Was weiß denn i?« Er weiß, daß es schwer ist, bei schmutzigem Wetter den Straßenübergang rein zu kehren, und noch viel schwerer, davon zu leben. Selbst das hat ihn niemand gelehrt. Er hat es von selbst herausgebracht. Jo lebt – das heißt, es ist ihm noch nicht gelungen, zu sterben – in einer ruinenhaften Gegend, die Menschen seines Standes unter dem Namen »Toms Einöd« bekannt ist.

Es ist eine schwarze pflasterlose Straße, gemieden von allen anständigen Leuten, wo einige freche Vagabunden sich der zusammengestürzten Häuser bemächtigt haben und sie teils selbst bewohnen, teils sie als Wohnungen – vermieten.

Nachts sind diese wackligen Höhlen ein Ameisenhaufen von Elend. Wie sich auf den Ruinen menschlicher Leiber Ungeziefer erzeugt, so haben diese Häuserruinen ein Gewimmel unflätigen Daseins ausgebrütet, das durch Lücken in Mauern und Brettern aus- und einkriecht, zahlreich wie die Maden sich zum Schlaf zusammendrängt, während der Regen hereintropft – und im Kommen und Gehen Fieber holt und bringt und in jeder Fußstapfe mehr Unheil sät, als Lord Coodle und Sir Thomas Doodle und Herzog von Woodle und all die vornehmen Herren in Amt und Würden bis hinab zu Zoodle in fünfhundert Jahren wieder gutmachen können, obgleich sie ausdrücklich dazu von Geburt bestimmt sind.

Zwei Mal kurz hintereinander soll man einen Krach gehört und eine Staubwolke, wie von der Explosion einer Mine, in »Toms Einöd« gesehen haben. Jedes Mal war ein Haus eingestürzt. Diese Unfälle gaben den Zeitungen Stoff und füllten ein paar Betten im nächsten Hospital. Die entstandenen Höhlen aber bleiben, und diese Wohnungen im Schutt sind nicht unbeliebt. Da mehrere andere Häuser ebenfalls dicht vor dem Einsturz stehen, so wird der nächste Krach in »Toms Einöd« voraussichtlich kolonisatorisch – sehr günstig wirken.

Diese prächtige Besitzung steht natürlich unter Sequester des Kanzleigerichts. Es wäre eine Beleidigung für den Scharfsinn eines Mannes, selbst mit nur einem halben Auge, das erst sagen zu müssen. Ob Tom – von »Toms Einöd« – der vom Volksmund erschaffene Repräsentant des ursprünglichen Klägers oder Beklagten in »Jarndyce kontra Jarndyce« ist oder ob Tom »wirklich ganz allein« hier wohnte, als der Prozeß die Straße verödete, bis andre Ansiedler ihm Gesellschaft zu leisten anfingen, oder ob die traditionelle Benennung ein Sammelname für einen Zufluchtsort ist, der von ehrenwerter Gesellschaft abgeschnitten und aus dem Bereich der Hoffnung gewiesen ist, weiß vielleicht niemand. Jo weiß es keinesfalls.

»Wos weiß denn i«, sagt Jo.

Es muß ein seltsamer Zustand sein, in Jos Haut zu stecken. Durch die Straßen zu schlottern, ohne die geheimnisvollen Symbole nur im Entferntesten zu begreifen, die über den Läden, an den Straßenecken und an Türen und Fenstern so häufig angebracht sind! Leute lesen zu sehen und Leute schreiben zu sehen, den Postboten Briefe abgeben zu sehen, ohne den mindesten Begriff von dieser Sache zu haben, dem kleinsten Schnörkel gegenüber stockblind und – taub zu sein. Wie merkwürdig, die anständigen Leute sonntags in die Kirche gehen zu sehen, die Gebetbücher in der Hand, und zu denken (vielleicht denkt Jo doch so hie und da einmal), was das wohl alles bedeuten möge. Und wenn es für jemanden etwas bedeutet, warum es für ihn nichts bedeutet. Herumgestoßen und vom Polizeimann verjagt zu werden und einzusehen, daß es vollkommen wahr zu sein scheint, daß man hier oder dort oder irgendwo anders nichts zu schaffen hat, und doch von dem Eindruck geplagt zu werden, trotzdem hier zu sein, von jedermann übersehen, bis man das Geschöpf geworden, das man jetzt ist.

Es muß ein seltsamer Zustand sein, nicht bloß hören zu müssen, daß man kaum ein menschliches Wesen ist – wie im Fall der Zeugniseinvernahme –, sondern es selbst einzusehen. Die Pferde, die Hunde und das Vieh vorübergehen zu sehen und zu begreifen, daß man an Unwissenheit zu ihnen gehört und nicht zu den höheren Wesen von gleicher menschlicher Gestalt, deren Gefühle man immer und überall verletzt.

Jos Ansichten von einem Kriminalprozeß oder einem Richter oder einem Bischof oder einer Regierung oder von dem für ihn so unschätzbaren Juwel, der Verfassung, müssen seltsam sein. Sein ganzes körperliches und geistiges Leben ist wunderbar seltsam. Sein Tod das Seltsamste von allem.

Jo verläßt »Toms Einöd« mit dem säumigen Morgen, der sich hierher immer verspätet, und kaut unterwegs sein schmutziges Stück Brot. Da er durch viele Straßen zu gehen hat und die Häuser noch nicht offen sind, setzt er sich zum Frühstück auf die Türschwelle der »Gesellschaft zur Verbreitung des Evangeliums im Ausland« und fährt mit dem Besen, wenn er fertig ist, zum Dank für die gewährte Gastfreundschaft darüber. Er bewundert die Größe des Gebäudes und fragt sich, wozu es da ist. Der arme Teufel hat keine Ahnung von der religiösen Rückständigkeit eines Korallenriffs im Stillen Ozean oder was es kostet, die frommen Seelen unter den Kokosnußpalmen und den Brotfruchtbäumen zu hüten. Er nimmt seinen Posten an seinem Straßenübergang ein und fängt an, ihn für den Tag frei zu kehren. Die Stadt erwacht, das große Ringelspiel beginnt sein tägliches Drehen und Wirbeln, all das unerklärliche Lesen und Schreiben, daß ein paar Stunden lang aufgehört hat, setzt von neuem an.

Jo und die anderen niedern Geschöpfe helfen sich durch den unverständlichen Wirrwarr, so gut sie können. Es ist Markttag. Die geblendeten Ochsen, grausam gestachelt und abgehetzt und nie geleitet, rennen hin, wohin sie nicht gehören, werden mit Knütteln wieder fortgetrieben und rennen mit rotglühenden Augen und Schaum vor dem Maul gegen steinerne Mauern, verletzen Unschuldige und verletzen sich selbst schwer. Ganz so wie Jo und seinesgleichen. Ganz genau so.

Eine Musikbande kommt und spielt. Jo hört zu. Dasselbe tut ein Hund – eines Viehtreibers Hund, der auf seinen Herrn vor einem Fleischerladen wartet und offenbar an die Schafe denkt, die ihm ein paar Stunden lang so viel Sorgen gemacht haben und die er jetzt glücklich los ist. Drei oder vier scheinen ihm besonders zu schaffen zu machen; er kann sich nicht entsinnen, wo er sie gelassen hat. Er läßt die Augen die Straße auf und ab schweifen, als erwarte er so halb und halb, sie dort verirrt zu finden. Plötzlich spitzt er die Ohren und weiß jetzt alles ganz genau. Er ist ein vollendeter Hundevagabund, an schlechte Gesellschaft und ordinäre Schenken gewöhnt, ein schrecklicher Hund für Schafe. Stets bereit, auf einen Pfiff über ihre Rücken zu springen und ihnen schnauzenweis die Wolle auszureißen, aber ein erzogener, gebildeter Hund, der seine Pflichten kennt und sie zu erfüllen weiß. Er und Jo hören der Musik zu. Wahrscheinlich mit demselben Grad von Genuß. Wahrscheinlich sind sie sich auch vollkommen gleich in der Art der Erinnerungen, in den traurigen oder freudigen Gedanken an übersinnliche Dinge. Aber sonst, – wie hoch steht das Tier über dem menschlichen Zuhörer!

Man lasse die Nachkommen der Hunde unbeaufsichtigt und wild herumlaufen wie Jo, und in wenigen Jahren werden sie so ausarten, daß sie selbst das Bellen verlernen, wenn auch nicht das Beißen.

Der Tag verändert sich, wie er dahinschleicht, und wird dunkel und regnerisch. Jo kämpft ihn durch bei seinem Straßenübergang mitten unter Kot und Rädern, Pferden, Peitschen und Regenschirmen und verdient sich kaum die Summe, um das ekelhafte Obdach in »Toms Einöd« zu erschwingen. Die Dämmerung sinkt herab. In den Läden fangen die Gasflammen an zu brennen. Der Laternenmann mit seiner Leiter läuft am Rand des Pflasters entlang.

Ein scheußlicher Abend bricht an.

In seiner Kanzlei sitzt Mr. Tulkinghorn und denkt nach über eine Eingabe an den nächsten Friedensrichter wegen eines Vorführungsmandats für morgen früh. Gridley, ein unzufriedner Prozessant, ist heute hier gewesen und hat aufbegehrt… Wir lassen uns nicht drohen, und der ungebärdige Kerl soll daran glauben. Von der Decke deutet die perspektivisch verkürzte Allegorie in Person eines unmöglichen kopfabwärts stürzenden Römers mit einem seiner zwei verrenkten linken Simsonarme aufdringlich nach dem Fenster. Warum sollte Mr. Tulkinghorn nicht auch so grundlos zum Fenster hinaussehen? Aber die Hand des Römers deutet doch immer hinaus. Warum soll also Mr. Tulkinghorn jetzt aus dem Fenster hinausschauen?

Und wenn er’s täte, was sähe er an der Frau, die vorübergeht? Es gibt Frauenzimmer genug auf der Welt, ist Mr. Tulkinghorns Ansicht – viel zu viel. Sie sind im Grund genommen an allem schuld, was darin verkehrt geht… Allerdings, wenn man schon einmal davon spricht, sie geben den Advokaten Beschäftigung. Was ist dabei, ein Frauenzimmer vorbei gehen zu sehen, selbst, wenn sie es heimlich tut. Sie haben immer Geheimnisse. Mr. Tulkinghorn weiß das ganz genau.

Aber sie gleichen nicht alle der Frau, die jetzt ihn und sein Haus hinter sich läßt, deren einfaches Kleid und vornehme Manieren miteinander so in Widerspruch stehen. Ihrer Kleidung nach könnte sie ein besserer Dienstbote sein. Ihrem Wesen und Gange nach, obgleich beide hastig und verstellt sind – soweit sie das auf den kotigen Straßen, die sie mit ungewohntem Fuß betritt, zuwege bringt –, ist sie eine vornehme Dame. Ihr Gesicht ist verschleiert, und trotzdem ist es immer noch verräterisch genug, um mehr als einen der Passanten zu veranlassen, sich rasch nach ihr umzusehen.

Sie wendet nie den Kopf. Dame oder Dienstmädchen, jedenfalls hat sie etwas vor. Sie wendet nie den Kopf, bis sie zu dem Straßenübergang kommt, wo Jo den Besen handhabt. Er tritt ihr in den Weg und bettelt sie an. Aber sie wendet nicht eher den Kopf, als bis sie über der Straße drüben ist. Dann winkt sie ihm kaum merklich und sagt: »Komm her!«

Jo folgt ihr ein paar Schritte in einen stillen Hof.

»Bist du der Bursche, von dem ich in den Zeitungen gelesen habe?« fragt sie hinter ihrem Schleier hervor.

»Was woaß denn i von Zeitungen«, sagt Jo und starrt verdrossen den Schleier an. »Ich woaß überhaupt von nix.«

»Bist du bei der Totenschau vernommen worden?«

»Was woaß denn i von… Wo mi der Kirchendiener hingnommen hat, meinens?« sagt Jo. »Hat der, von was Sie reden, Jo gheißen?«

»Ja.«

»Dös bin i.«

»Komm weiter herein.«

»Sie meinen von wegen den Mann?« fragt Jo und folgt ihr. »Der wo jetzt tot is?«

»St! Sprich nicht so laut. Ja. Sah er wirklich, als er noch lebte, so sehr arm und krank aus?«

»No na, was denn!« sagt Jo.

»Sah er aus wie – nicht wie du?« fragt die Frau mit einem Schauder.

»No na, so schlecht net. I bin a Regulärer. Sie haben ihn leicht net kennt?«

»Wie kannst du glauben, daß ich ihn gekannt habe?«

»Tschuldigens, gnä Fräuln«, sagt Jo unterwürfig, denn selbst in ihm hat sich der Argwohn geregt, daß sie eine Dame ist.

»Ich bin keine Dame. Ich bin ein Dienstmädchen.«

»A feins Dienstmädel«, meint Jo, ohne etwas Beleidigendes sagen zu wollen, nur um seiner Bewunderung Ausdruck zu verleihen.

»Schweig und hör zu! Sprich nicht zu mir und stell dich weiter weg von mir! Kannst du mir alle die Orte zeigen, die in dem Bericht, den ich gelesen habe, erwähnt waren, den Ort, für den er schrieb, den Ort, wo er starb, den Ort, wo du hingeholt wurdest, und den Ort, wo er begraben liegt? Weißt du, wo er begraben liegt?«

Jo antwortet mit einem Nicken. Er hat auch bei der Erwähnung der andern Orte jedes Mal genickt.

»Geh vor mir her und zeige mir all diese schrecklichen Orte. Bleib bei jedem stehen und sprich nicht mit mir, außer, wenn ich dich frage. Sieh dich nicht um. Tue, was ich dir sage, und ich will dich gut bezahlen.«

Jo paßt scharf auf die Worte auf, während sie spricht, murmelt sie lautlos nach, in den Besenstiel, auf den er sich lehnt, hinein, weil sie ihm so schwer vorkommen, schweigt, um sich ihre Bedeutung zu überlegen, kommt zu einem zufriedenstellenden Resultat und nickt mit dem zottigen Kopf.

»Stocken mer uns. An Flins, verstengans? An Stutz brennen.«

»Was meint das scheußliche Geschöpf!« ruft das Dienstmädchen aus und tritt erschrocken zurück.

»Flinserln brennen – an Stutz«, sagt Jo.

»Ich verstehe dich nicht. Geh vor mir her! Ich will dir mehr Geld geben, als du je in deinem Leben besessen hast.«

Jo spitzt die Lippen zu einem Pfeifen, fährt sich einmal durch das zottige Haar, nimmt den Besen unter den Arm und zeigt den Weg. Leicht und geschickt geht er mit seinen bloßen Füßen über die harten Steine, durch Kot und Schmutz.

Cook’s Court!

Jo bleibt stehen.

Eine Pause.

»Wer wohnt hier?«

»Der, wo ihn hat schreiben lassen und mir an halben Stutz geben hat«, sagt Jo flüsternd, ohne sich umzusehen.

»Weiter!«

Krooks Haus. Jo bleibt wieder stehen. Eine längere Pause.

»Wer wohnt hier?«

»Er hat hier gewohnt«, antwortet Jo wie vorhin. Nach einem Schweigen ertönt die Frage: »In welchem Zimmer?«

»Dort oben, hint hinaus. Sie könnens Zimmer vom Eck aus segn. Da drobn! Dort habens n aufbahrt. Dort is s Wirthaus, wos mich hingholt habn.«

»Weiter!«

Bis zum nächsten Ort ist ein weiterer Weg, aber Jo, der seinen Verdacht hat fallen lassen, hält sich genau an die vereinbarten Bedingungen und sieht sich nicht um. Durch allerlei kleine Gassen voll dampfenden Unrats aller Art erreichen sie einen kleinen Tunnel von einem Hof, und eine Gaslampe brennt an dem eisernen Gittertor.

»Dort habns n hinglegt«, sagt Jo, hält sich an die Gitterstäbe und sieht hinein.

»Wo? – Gott, welche Stätte des Grauens«

»Dorten!« Jo deutet mit dem Finger hin. »Dorten drübn. Bei dem Knochenhaufen und bei dem Küchenfenster dorten. Sie habn n obenauf glegt. Sie habn drauftreten müassen, bis n habn dringhabt. I könnt n außerfegen mit in Besen, wanns Tor offen war. Drum glaub i, spirrns es ab«, sagt er und rüttelt an dem Gitter. »Sis immer zuagspirrt. Sehgns die Ratten dort!« ruft er aufgeregt. »Hui! Sehgns! Dort laufts! Ho! in d Erd eini.«

Das Dienstmädchen weicht schaudernd in eine Ecke zurück, in die Ecke des scheußlichen Torwegs, der mit seinen giftigen Ausdünstungen ihr Kleid beschmutzt, und streckt beide Hände vor und sagt Jo leidenschaftlich, er solle ihr nicht zu nahe kommen; denn sie ekelt sich vor ihm. So bleibt sie einige Augenblicke. Jo steht vor ihr mit aufgerissnem Mund und starrt sie immer noch an, als sie sich bereits erholt hat.

»Ist dieser grauenhafte Ort geweihter Boden?«

»Was woaß denn i von gweihtn Boden«, sagt Jo, der sie immer noch anstarrt.

»Ist er eingesegnet?«

»Was is er?« fragt Jo in fassungslosem Erstaunen.

»Ist er eingesegnet?«

»I bin gsegnt, wann is woaß«, sagt Jo und stiert sie noch mehr an als vorhin, »aber i möcht glaubn, na. Eingsegnet!!« wiederholt Jo, in seinem Innern stark beunruhigt. »Eingsegnt! S werd eam net viel gholfn habn. Eingsegnet? I glaub ender s Gegenteil. Aber was woaß denn i.«

Das Dienstmädchen achtet nicht auf das, was er gesagt hat, und ist ganz geistesabwesend. Sie zieht den Handschuh aus, um ein Geldstück aus ihrer Börse zu nehmen. Jo beobachtet stumm, wie weiß und klein die Hand ist und was das für ein feines Dienstmädchen sein muß, das so funkelnde Ringe trägt. Sie läßt ein Geldstück in seine Hand fallen, ohne sie zu berühren, und schaudert, wie sie ihm mit den Fingern zu nahe kommt. »Jetzt«, setzt sie hinzu, »zeig mir die Stelle noch ein Mal.«

Jo fährt mit dem Besenstiel durch die Gitterstäbe und deutet mit äußerster Sorgfalt auf die Stelle. Endlich blickt er zur Seite, um zu sehen, ob er sich verständlich gemacht hat, und findet sich allein.

Sein erstes ist, das Geldstück an die Gaslaterne zu halten. Dann ist er ganz überwältigt von der Entdeckung, daß es gelb ist. – Gold! Sein nächstes, mit den Zähnen in den Rand zu beißen, um zu sehen, ob es echt ist. Dann steckt er es der Sicherheit wegen in den Mund und kehrt die Stufe und den Gang mit größter Sorgfalt. Wie er damit fertig ist, macht er sich nach »Toms Einöd« auf den Weg, bleibt im Licht zahlloser Gaslaternen stehen, um das Goldstück hervorzuholen, und immer wieder muß er, um zu prüfen, ob es echt ist, in den Rand beißen.

Dem gepuderten Merkur fehlt es heute abend nicht an Gesellschaft, denn Mylady geht zu einem großen Diner und auf drei oder vier Bälle.

Sir Leicester kann nicht still sitzen unten in Chesney Wold, weil er keine bessere Gesellschaft als die Gicht hat. Er beklagt sich bei Mrs. Rouncewell, der Regen prassele so eintönig auf die Terrasse, daß er nicht einmal am Kamin seines eignen behaglichen Ankleidezimmers die Zeitung lesen könne.

»Sir Leicester hätte besser getan, die andre Seite des Hauses zu versuchen«, sagt Mrs. Rouncewell zu Rosa. »Sein Ankleidezimmer liegt auf Myladys Flügel, und diese ganzen langen Jahre waren die Schritte auf dem Geisterweg nicht so deutlich zu hören wie heute.«

17. Kapitel


17. Kapitel

Esthers Erzählung

Richard besuchte uns sehr oft während unseres Aufenthaltes in London, wenn er auch das Briefschreiben bald einstellte, und mit seiner raschen Auffassungsgabe, seiner Lebendigkeit, seinem gutherzigen Wesen, seiner Fröhlichkeit und munteren Laune war er stets ein gern gesehener Gast. Aber wenn ich ihn auch immer lieber gewann, so fühlte ich doch, je mehr ich ihn kennenlernte, wie sehr es zu beklagen war, daß man ihn nicht zu größerem Fleiß und zur Konzentration angehalten hatte. Das System, das in derselben Art auf ihn wie auf hundert andere an Charakter und Fähigkeiten vollständig verschiedene Knaben angewendet worden war, hatte ihn wohl befähigt, seine Aufgaben gar oft mit Auszeichnung abzutun, aber eben nur abzutun in einer gewissen leichtsinnigen, oberflächlichen Weise, die seine Zuversicht gerade auf die Eigenschaften, die in ihm am wenigsten erzogen und geleitet worden waren, verstärkte. Es waren gewiß hohe Eigenschaften, ohne die ein großes Ziel wirklich verdienstvoll nicht erreicht werden kann, aber wie Feuer und Wasser waren sie zwar vortreffliche Diener, aber sehr schlechte Herrn. Wenn Richard sie hätte beherrschen lernen, würden sie ihm gedient haben. So wurden sie seine Feinde.

Ich schreibe diese Urteile nieder, nicht, weil ich glaube, daß sich dies oder das so und so verhielt oder weil es mir so vorkam, sondern nur, weil ich darüber nachdachte und in allem, was ich dachte und tat, aufrichtig sein will.

Also so war meine Meinung über Richard. Ich dachte auch oft daran, wie recht mein Vormund mit seiner Ansicht gehabt hatte, daß die Unsicherheit, die aus den ewigen Verschleppungen des Kanzleigerichtsprozesses entsprang, in ihm schon in jungen Jahren eine Art Spielercharakter großgezogen hatte.

Mr. und Mrs. Bayham Badger besuchten uns eines Nachmittags, als mein Vormund gerade abwesend war, und im Lauf des Gesprächs erkundigte ich mich natürlich nach Richard.

»Oh, Mr. Carstone«, sagte Mrs. Badger, »befindet sich sehr wohl und bedeutet, versichere ich Ihnen, einen großen Zuwachs für unsern Kreis. Kapitän Swosser pflegte von mir zu sagen, daß ich für die Back der Midshipmen, wenn das Pökelfleisch zäh wie das Luv-Fock-Marssegel Vorderlick ausgefallen war, noch besser sei als Landinsicht oder Achterbrise. Er wollte damit in seiner Seemannsweise ausdrücken, welch schätzbarer Zuwachs ich für die Mannschaft war. Ich kann mit gutem Gewissen dieselbe Versicherung hinsichtlich Mr. Carstones geben. Aber ich… Werden Sie mich auch nicht für naseweis halten, wenn ich es erwähne?«

Ich sagte nein, da Mrs. Badgers Ton eine Antwort zu verlangen schien.

»Auch Miß Clare nicht?« fragte Mrs. Bayham Badger zärtlich.

Ada sagte ebenfalls nein, aber ihr Gesicht verriet, daß sie unruhig wurde.

»Ja, sehen Sie, meine Lieben«, fuhr Mrs. Badger fort… »Gestatten Sie, daß ich Sie meine Lieben nenne?«

Wir baten Mrs. Badger, keine Umstände zu machen.

»Ich nenne Sie so, weil Sie wirklich so liebenswürdig sind, wenn ich mir die Freiheit nehmen darf, Ihnen das zu sagen. Wirklich so bestrickend liebenswürdig. Sie sehen, meine Lieben, daß, wenn ich auch noch jung bin – wenigstens ist Mr. Badger so galant, das immer zu behaupten –«

»Das ist durchaus keine Schmeichelei!« rief Mr. Badger aus, wie jemand, der in einer öffentlichen Versammlung widerspricht. »Nein, durchaus kein Kompliment.«

»Also gut«, lächelte Mrs. Badger. »Wir wollen einfach sagen: Noch jung…«

»Oh, zweifellos«, schaltete Mr. Badger ein.

»Obgleich ich also selbst noch jung bin, meine Lieben, habe ich doch vielfach Gelegenheit gehabt, junge Herren zu beobachten. An Bord des guten alten ‚Crippler‘, ich versichere Ihnen, waren ihrer eine ganze Menge. Außerdem, als ich mit Kapitän Swosser im Mittelmeer war, nahm ich jede Gelegenheit war, die Midshipmen unter Kapitän Swossers Kommando kennenzulernen und mich mit ihnen anzufreunden. Sie haben nie solche junge Gentlemen unter sich reden hören, meine Lieben, und würden mich wahrscheinlich gar nicht verstehen, wenn ich darauf anspielte, was sie das ‚Schwänzen‘ ihres Wochendienstes nannten. Aber bei mir ist das etwas anderes, denn das Salzwasser war mir eine zweite Heimat und ich ein vollständiger Seemann. Dann wieder mit Professor Dingo…«

»Ein Mann von europäischem Ruf«, murmelte Mr. Badger.

»Als ich meinen geliebten ersten Mann verlor und die Gattin meines geliebten zweiten wurde«, sagte Mrs. Badger, die von ihren beiden früheren Gatten sprach wie von einer Legende, »hatte ich ebenfalls Gelegenheit, die Jugend zu beobachten. Professor Dingos Vorlesungen wurden sehr stark besucht, und es war mein Stolz, als die Frau eines so ausgezeichneten Gelehrten, die selbst in der Wissenschaft all den Trost, den Studium bieten kann, suchte, den Studenten unser Haus als eine Art wissenschaftlichen Brennpunktes zu öffnen. Jeden Dienstag abends hatten wir Limonade und Biskuit für alle, die an diesen Erfrischungen teilnehmen wollten. Und Wissenschaft gab es in unbeschränkter Auswahl.«

»Höchst bemerkenswerte Versammlungen waren das, Miß Summerson«, bestätigte Mr. Badger ehrfurchtsvoll. »Unter den Auspizien eines solchen Mannes muß es viel geistige Reibung gegeben haben.«

»Und jetzt«, fuhr Mrs. Badger fort, »wo ich die Gattin meines geliebten dritten, Mr. Badgers, geworden bin, habe ich die Gewohnheit zu beobachten, die ich, solange Kapitän Swosser lebte, angenommen und unter Professor Dingo zu neuen ungeahnten Zwecken ausgestaltet habe, beibehalten. Ich kam daher nicht als Neophyt zu meiner Ansicht über Mr. Carstone. Und dennoch bin ich der Meinung, meine Lieben, daß er nicht den passenden Beruf gewählt hat.«

Adas Gesicht sah so besorgt aus, daß ich Mrs. Badger fragte, auf welche Gründe sich ihre Vermutung stütze.

»Auf Mr. Carstones Charakter und Benehmen, meine liebe Miß Summerson. Er ist von so leichtblütiger Veranlagung, daß er es wahrscheinlich nicht der Mühe wert halten würde zu sagen, wie er es selbst empfindet; aber der Beruf langweilt ihn. Er fühlt nicht das positive Interesse dafür, das das Fach erfordert. Wenn er wirklich eine bestimmte Meinung darüber hat, so ist es meiner Ansicht nach die, daß er es für langweilig hält. Das ist nicht vielversprechend. Junge Männer wie Mr. Allan Woodcourt, die sich dem Ärztestand in allen seinen verschiedenen Gebieten eines starken Interesses wegen widmen, finden darin den Lohn für sehr viel Arbeit, geringes Verdienst für jahrelanges Ausharren und viele Enttäuschungen. Aber ich bin vollständig überzeugt, daß dies bei Mr. Carstone niemals der Fall sein wird.«

»Denkt Mr. Badger ebenso?« fragte Ada schüchtern.

»Um der Wahrheit die Ehre zu geben, Miß Clare«, sagte Mr. Badger, »muß ich gestehen, daß ich zu dieser Ansicht erst hinneigte, als mich Mrs. Badger darauf aufmerksam machte. Als es mir Mrs. Badger in diesem Lichte darstellte, schenkte ich der Sache natürlich große Beachtung, denn ich weiß, daß ihr Urteil, ganz abgesehen von seinen natürlichen Vorzügen, den seltenen Vorteil gehabt hat, von zwei so ausgezeichneten – ich möchte sogar sagen, berühmten – Männern der Öffentlichkeit, wie Kapitän Swosser von der Königlichen Marine und Professor Dingo waren, gebildet zu werden. Kurz, mein Urteil deckt sich vollständig mit dem Mrs. Badgers.«

»Es war eine von Kapitän Swossers Maximen«, nahm Mrs. Badger wieder das Wort, »daß – in seiner bildlichen Seemannssprache ausgedrückt –, wenn man schon Pech heiß mache, man es nicht genug heiß machen könne, und wenn man eine Planke scheuere, man sie scheuern solle, als ob der Klabautermann hinter einem stünde. Es scheint mir, als ob sich dieser Grundsatz ebenso auf den medizinischen wie auf den nautischen Beruf anwenden läßt.«

– »Auf alle Berufsarten!« bestätigte Mr. Badger. »Es war prächtig ausgedrückt von Kapitän Swosser. Wirklich bewundernswert ausgedrückt.« –

»Die Leute warfen, als wir uns nach unsrer Heirat im nördlichen Devonshire aufhielten, Professor Dingo vor, er verunstalte Häuser und andere Gebäude dadurch, daß er mit seinem kleinen geologischen Hammer Stücke davon losschlüge. Aber der Professor erwiderte, er kenne kein Gebäude außer den Tempel der Wissenschaft. Das Prinzip ist ganz dasselbe, glaube ich.«

»Ganz dasselbe«, stimmte Mr. Badger bei. »Sehr schön ausgedrückt. Der Professor gebrauchte dieselben Worte, Miß Summerson, in seiner letzten Krankheit, als er in seiner Fieberphantasie darauf bestand, seinen kleinen Hammer unter dem Kopfkissen zu behalten und an den Gesichtern der Umstehenden herumzuklopfen. Ja, die alles beherrschende Leidenschaft!«

Obgleich Mr. und Mrs. Badger uns ihre Meinung weniger umständlich hätten mitteilen können, fühlten wir doch beide die Uneigennützigkeit ihres Urteils und seine Richtigkeit. Wir beschlossen, Mr. Jarndyce, ehe wir nicht mit Richard gesprochen, nichts zu sagen, und da dieser uns am nächsten Abend besuchen sollte, wollten wir die Angelegenheit erst ernst mit ihm durchnehmen.

So ließ ich ihn denn, als er gekommen war, eine Weile mit Ada allein und fand sie dann, wie ich vorausgesehen, mit allem, was er sagte, einverstanden.

»Nun, was machen Ihre Fortschritte, Richard?« fragte ich. Ich saß wie gewöhnlich an seiner Seite, denn er behandelte mich ganz wie eine Schwester.

»Oh, es geht so ziemlich«, antwortete er.

»Besser kann es doch nicht sein, Esther, nicht wahr!« rief mein Liebling triumphierend.

Ich versuchte sie mit meinem weisesten Gesicht anzusehen, aber natürlich gelang es mir nicht.

»So ziemlich?« wiederholte ich.

»Ja, so ziemlich. Es ist ein wenig Hundetrab und schlafmützenhaft, aber schließlich grade so gut wie irgend etwas anderes.«

»Aber, lieber Richard!« wendete ich ein.

»Nun, und?«

»Grade so gut wie irgend etwas anderes!?«

»Ist denn etwas Schlimmes dabei, Mütterchen?« sagte Ada und sah mich an ihm vorbei zuversichtlich an. »Wenn es so gut wie irgend etwas anderes ist, so ist es immerhin doch gut, oder nicht?«

»Ja, ja. Das meine ich«, entgegnete Richard sorglos und schüttelte sich das Haar aus der Stirn. »Schließlich ist es ja nur eine Art Prüfungszeit, bis unser Prozeß… Ach, richtig, ich vergaß, ich soll ja nicht von dem Prozeß sprechen. Es ist ja ein verbotenes Thema! Also, es ist alles ganz in Ordnung. Reden wir vielleicht von etwas anderem.«

Ada hätte es auch gern getan, überzeugt, daß die Sache zufriedenstellend erledigt sei, aber ich hielt es denn doch nicht für angezeigt, auf diesem Punkte stehen zu bleiben, und fing daher wieder an:

»Aber Richard und du, liebe Ada, ihr müßt doch bedenken, wie wichtig das für euch beide ist. Es ist doch Ehrensache Ihrem Vetter gegenüber, Richard, daß Sie die Sache mit rückhaltlosem Ernst auffassen. Ich dächte, wir sollten das wirklich gründlich durchsprechen, Ada. Es könnte sonst bald vielleicht zu spät sein.«

»Gewiß müssen wir es durchsprechen«, sagte Ada. »Aber ich glaube, Richard hat recht.«

– Was nützte es mir, eine weise Miene aufzusetzen, wo sie so hübsch und reizend war und ihn so lieb hatte! –

»Mr. und Mrs. Badger waren gestern hier, Richard«, sagte ich, »und schienen der Ansicht zuzuneigen, Sie fänden an der Chirurgie keinen besondern Geschmack.«

»So, sagten sie das? Oh! Das ändert die Sache allerdings. Ich hatte keine Ahnung davon, daß sie es glaubten, und hätte ihnen nicht gern eine Enttäuschung oder eine Unannehmlichkeit bereitet. Die Sache ist freilich so. Der Beruf interessiert mich nicht besonders. Aber das macht weiter nichts. Er ist so gut wie jeder andre.«

»Da hörst du es, Ada«, sagte ich.

»Tatsache ist«, fuhr Richard halb nachdenklich, halb scherzend fort, »er liegt mir nicht besonders. Er gefällt mir nicht sehr. Und ich muß zuviel von Mrs. Bayham Badgers erstem und zweitem Gatten hören.«

»Das ist doch nur natürlich!« rief Ada erfreut aus. »Ganz dasselbe sagten wir gestern auch, Esther.«

»Dann ist er so einförmig«, fuhr Richard fort. »Das Heute gleicht dem Gestern, und das Morgen ist wie das Heute.«

»Aber ich fürchte«, sagte ich, »das läßt sich überall einwenden – sogar gegen das Leben selbst, außer unter ganz abnormen Verhältnissen.«

»Meinen Sie wirklich?« fragte Richard, immer noch nachdenklich. »Vielleicht! Hm! Übrigens, da sehen Sie selbst«, setzte er hinzu und wurde plötzlich wieder heiter. »Wir gehen im Kreise herum auf das los, was ich eben sagte. Es ist ebensogut wie irgend etwas anderes. Reden wir doch nicht mehr davon.«

Selbst Ada, und wenn sie schon unschuldig und vertrauensvoll gewesen an jenem denkwürdigen Novembernebeltag, wieviel mehr war das jetzt der Fall, wo ich ihr unschuldiges und vertrauendes Herz kannte, selbst Ada schüttelte jetzt den Kopf und machte ein ernstes Gesicht. Ich hielt es daher für eine günstige Gelegenheit, Richard anzudeuten, daß, wenn er auch manchmal leichtsinnig gegen sich selbst sei, er doch gewiß nicht leichtsinnig gegen Ada handeln wolle und daß es von seiner Seite eine Art Liebespflicht sein müsse, den Schritt, der auf ihr ganzes Leben Einfluß haben würde, nicht so leicht zu nehmen. Das stimmte ihn fast ernst.

»Mütterchen Hubbard, das ist es ja eben. Ich habe auch schon oft darüber nachgedacht und mich über mich selbst geärgert, daß ich es so ernst nehmen wollte und, ich weiß nicht warum, nie recht konnte. Ich weiß nicht, wie es zugeht, ich scheine immer Abwechslung zu brauchen. Selbst Sie können sich keinen Begriff machen, wie sehr ich Ada liebe, aber in allen andern Dingen fällt mir Beständigkeit so schwer. Es ist so aufreibend und frißt soviel Zeit«, sagte Richard mit verdrießlicher Miene.

»Das kommt wahrscheinlich daher, daß Sie keinen Gefallen an dem Beruf haben.«

»Der arme Junge!« sagte Ada. »Ich kann mich wahrhaftig nicht darüber wundern.«

Nein. Es half nicht das mindeste, daß ich versuchte, weise dreinzuschauen. Ich machte noch einen Versuch, aber wie konnte es mir gelingen, solange Ada ihre Hände auf seiner Schulter faltete und er ihr in die zärtlichen blauen Augen schaute.

»Du siehst, mein Schatz«, sagte Richard und ließ ihre goldnen Locken durch seine Finger gleiten, »ich habe mich vielleicht ein wenig übereilt und meine Neigungen nicht gehörig erkannt. Ich konnte es vorher wirklich nicht wissen. Die Frage ist nur, ob es dafür steht, alles ungeschehen zu machen. Das kommt mir vor, wie einen großen Lärm wegen einer Kleinigkeit zu machen.«

»Lieber Richard«, sagte ich, »wie können Sie das eine Kleinigkeit nennen?«

»Ich meine es nicht in dem Sinne. Ich meine nur, es ist insofern nichts Besonderes, weil ich möglicherweise sowieso niemals darauf angewiesen sein werde.«

Sowohl Ada wie ich hoben hervor, daß es nicht nur der Mühe wert wäre, die Angelegenheit ungeschehen zu machen, sondern daß das geradezu eine Notwendigkeit sei. Dann fragte ich Richard, ob er schon an einen andern passenden Beruf gedacht habe.

»Da treffen Sie den rechten Punkt, Mütterchen«, sagte Richard. »Ich habe daran gedacht. Ich glaube, die Jurisprudenz läge mir besser.«

»Die Jurisprudenz?!« wiederholte Ada in einem Ton, als ob sie sich schon vor dem bloßen Namen fürchtete.

»Wenn ich zu Kenge in die Kanzlei käme und dort eingeschrieben würde, so hätte ich Gelegenheit, den – hm – den verbotenen Gegenstand ins Auge zu fassen, zu studieren, ihn gründlich kennenzulernen und mich zu vergewissern, daß er ordnungsgemäß geführt und nicht vernachlässigt wird. Ich wäre imstande, Adas und meine Interessen, die sich ja decken, zu verfolgen, und würde mich mit Blackstone und all den andern Schmökern mit der größten Leidenschaft herumbalgen.«

Ich war durchaus nicht fest überzeugt, daß dies der Fall sein werde, und sah, wie betrübt Ada darüber war, daß er es nicht lassen konnte, Irrlichtern nachzujagen. Indessen hielt ich es immerhin noch für das beste, ihn in allem, was eine anhaltende Beschäftigung nach sich ziehen konnte, zu ermutigen, und riet ihm nur, genau mit sich zu Rate zu gehen, ob er sich nun wirklich ganz und gar entschlossen habe.

»Meine liebe Minerva, Sie selbst können nicht beständiger sein, als ich es bin. Ich habe mich geirrt – wir alle sind Irrtümern unterworfen –, aber ein Mal und nicht wieder, und ich will ein Jurist werden, wie er nicht alle Tage vorkommt. Das heißt«, sagte Richard und verfiel wieder in seine Zweifel, »wenn es überhaupt der Mühe wert ist, soviel Aufhebens von einer so geringfügigen Sache zu machen.«

Das veranlaßte uns, noch einmal mit großem Ernst zu wiederholen, was wir bereits gesagt hatten, und wir kamen zu demselben Schlusse wie vorhin. Wir rieten Richard so angelegentlich, ohne die Sache nur einen Augenblick aufzuschieben, frei und offen mit Mr. Jarndyce zu reden, daß er, von Natur jeder Heimlichkeit sowieso abhold, ihn sogleich aufsuchte, uns mitnahm und ihm alles eingestand.

»Rick«, sagte mein Vormund, nachdem er ihn aufmerksam angehört hatte, »wir können in Ehren zurücktreten und wollen es tun. Aber wir müssen uns hüten, unsrer Kusine wegen, Rick, daß wir nicht noch mehr solcher Irrtümer begehen. Was das Jus betrifft, wollen wir uns lieber vorerst zu einer gewissen Probezeit entschließen. Sehen wir uns erst den Graben an, ehe wir springen, und lassen wir uns Zeit.«

Richards Energie war so ungeduldiger und überstürzter Art, daß er am liebsten sofort auf Mr. Kenges Kanzlei gegangen wäre und sich bei ihm hätte einschreiben lassen. Er machte jedoch gute Miene zu den Vorsichtsmaßregeln, von deren Notwendigkeit wir ihn überzeugten, und saß unter uns in heiterster Laune und plauderte, als ob sein Lebensziel von Kindheit an der Beruf gewesen wäre, dem er sich jetzt widmen wollte. Mein Vormund war sehr freundlich und herzlich mit ihm, wenn auch ein wenig ernst. So ernst, daß Ada, als Richard Abschied genommen hatte und wir schlafen gehen wollten, zu ihm sagte:

»Vetter John, ich hoffe doch nicht, daß du jetzt schlechter von Richard denkst?«

»Nein, liebe Ada.«

»Es ist doch so natürlich, daß sich Richard in einem so schwierigen Fall geirrt hat. Es ist das doch nichts Ungewöhnliches.«

»Nein, nein, meine Liebe. Mach kein betrübtes Gesicht.«

»Oh, ich bin durchaus nicht betrübt, Vetter John«, sagte Ada, lächelte heiter und legte die Hand auf seine Schulter, »aber ich würde es sein, wenn du schlecht von Richard dächtest.«

»Liebe Ada«, sagte Mr. Jarndyce, »ich würde es nur tun, wenn du jemals durch seine Schuld unglücklich würdest oder auch nur littest. Und selbst dann würde ich mir selbst mehr zürnen als dem armen Richard, weil ich euch ja zusammengebracht habe. Aber still, alles das hat ja nichts auf sich. Er hat Zeit genug und freie Bahn vor sich. Ich schlechter von ihm denken? Ich gewiß nicht, meine liebe Kusine. Und du denkst auch nicht schlechter von ihm, ich wette.«

»Nein, gewiß nicht, Vetter John, ich könnte überhaupt nie etwas Böses von Richard denken, und wenn es die ganze Welt täte. Ich könnte und würde dann sogar noch besser von ihm denken.«

Ruhig und ehrlich sagte sie das, jetzt beide Hände auf seine Schulter gelegt, und sah ihm dabei ins Gesicht, gläubig und offen.

Mein Vormund betrachtete sie nachdenklich.

»Ich glaube, es muß irgendwo geschrieben stehen, daß die Tugenden der Mütter an den Kindern heimgesucht werden sollen wie die Sünden der Väter. Gute Nacht, mein Rosenknöspchen. Gute Nacht, Mütterchen. Gute Ruh! Angenehme Träume!«

Das war das erste Mal, daß ich einen Schatten den wohlwollenden Ausdruck seiner Augen trüben sah, als er Ada nachblickte. Ich erinnerte mich noch recht gut des Blickes, mit dem er sie und Richard betrachtet hatte, als sie beim Schein des Kaminfeuers gesungen, und es war nur sehr wenig Zeit vergangen, seit wir sie aus dem sonnenerleuchteten Zimmer in den Schatten hatten treten sehen, aber sein Ausdruck war ein andrer jetzt, und selbst sein stummer vertrauensvoller Blick auf mich war nicht ganz so hoffnungsfreudig und sicher wie früher.

Ada lobte an diesem Abend Richard mehr als je zuvor. Sie ging mit einem kleinen Armband, das er ihr geschenkt hatte, zu Bett. Ich glaube, sie träumte von ihm, als ich sie auf die Wange küßte, während sie schlummerte, und ihr ruhiges und glückliches Gesicht ansah.

Ich selbst hatte an jenem Abend so wenig Lust zu schlafen, daß ich aufblieb und arbeitete. An und für sich wäre dieser Umstand nicht des Erwähnens wert, aber ich war nicht schläfrig und etwas trübe gestimmt. Warum, weiß ich nicht.

Jedenfalls war ich entschlossen, so schrecklich fleißig zu sein, daß mir keine Minute Zeit für trübe Laune übrig bleiben sollte. Ich sagte mir: »Esther! Du bist verstimmt. Du!« Und es war wirklich hohe Zeit, mir das vorzuhalten, denn ich sah mich, ja, ich sah mich wirklich im Spiegel nahe daran zu weinen. »Als ob du irgendeine Ursache hättest, dich unglücklich zu fühlen, du undankbares Herz«, hielt ich mir vor.

Wenn ich hätte einschlafen können, würde ich es jetzt auf der Stelle getan haben. Aber da ich fühlte, es würde mir nicht glücken, nahm ich aus meinem Arbeitskörbchen eine kleine Stickerei, die ich in Bleakhaus angefangen hatte, und machte mich mit großem Eifer darüber her. Man mußte bei dieser Arbeit alle Stiche abzählen, und ich beschloß, nicht eher damit aufzuhören, als bis mir die Augen zufielen.

Ich war bald ganz in meine Arbeit vertieft, hatte aber in einem Arbeitstäschchen in dem jetzigen Brummstübchen unten eine Spule Seide gelassen, die ich jetzt brauchte, wenn ich weiterarbeiten wollte. Ich nahm daher ein Licht und ging leise hinunter. Zu meiner großen Überraschung sah ich meinen Vormund immer noch dort sitzen und in die verglimmende Asche blicken.

Er war ganz in Gedanken versunken. Sein Buch lag unbeachtet neben ihm, sein graumeliertes Haar war verwirrt, als ob er mit den Fingern darin gewühlt hätte, und sein Gesicht sorgenvoll. Fast darüber erschrocken, ihn so unerwartet: hier zu sehen, blieb ich einen Augenblick stehen und wollte eben wieder stumm umkehren, als er sich mit der Hand zerstreut durch die Haare fuhr und mich dabei bemerkte.

»Esther!«

Ich sagte ihm, was ich hier noch suchte.

»So spät willst du noch arbeiten, liebes Kind?«

»Nur weil ich nicht einschlafen kann und mich müde machen möchte. Aber auch du, lieber Vormund, bist ja noch so spät wach und siehst angegriffen aus. Ich will doch nicht hoffen, daß du aus Sorgen nicht schlafen kannst?«

»Ich habe keine Sorge, Mütterchen, die du so leicht begreifen könntest.«

Er sagte dies in einem für mich so überraschend betrübten Ton, daß ich mir seine Worte innerlich wiederholte, als ob ich sie dadurch besser verstehen könnte: »Keine, die ich so leicht begreifen könnte?«

»Bleib einen Augenblick, Esther«, sagte er. »Ich habe eben an dich gedacht.«

»Ich hoffe, du hattest doch nicht meinetwegen Sorge, Vormund.«

Er bewegte seine Hand leicht abwehrend, und sein Gesicht nahm im Augenblick seinen gewohnten Ausdruck wieder an. Die Veränderung war so auffallend und verriet soviel Selbstbeherrschung, daß ich mir abermals innerlich die Worte wiederholte: »Keine, die ich so leicht begreifen könnte.«

»Mütterchen, ich dachte – das heißt, ich habe, seit ich hier sitze, an nichts anderes gedacht –, daß du eigentlich alles, was ich von deiner Geschichte weiß, erfahren solltest. Es ist sehr wenig. Fast nichts.«

»Lieber Vormund«, wandte ich ein, »als du das erste Mal die Sache zur Sprache brachtest…«

»Aber seitdem«, unterbrach er mich ernst, denn er erriet, was ich sagen wollte, »seitdem bin ich mir darüber klar geworden, daß es etwas sehr Verschiedenes ist, ob du mich etwas fragen willst oder ob ich dir etwas mitzuteilen habe, Esther. Es ist vielleicht sogar meine Pflicht, dir das Wenige, was ich weiß, zu enthüllen.«

»Wenn du glaubst, Vormund.«

»Ich glaube, es ist meine Pflicht«, sagte er sehr sanft und gütig und sehr bestimmt. »Liebe Esther, ich glaube, es ist so. Wenn in den Augen irgendeines überhaupt vollwertigen Menschen an deiner Position wirklich ein Mangel haften kann, so gehört es sich vor allem, daß du selbst ihn dir in deinen eignen Augen nicht vergrößerst, indem du die Sache in unbestimmten vagen Formen siehst.«

Ich setzte mich hin und sagte nach einer kleinen Anstrengung, so ruhig zu bleiben, wie es sich für mich gebührte:

»Eine meiner frühesten Erinnerungen, Vormund, sind die Worte: ‚Deine Mutter, Esther, ist deine Schande, und du warst ihre. Die Zeit wird kommen – früh genug –, wo du dies besser verstehen und fühlen wirst, wie nur ein Weib es fühlen kann.’«

Ich hatte mein Gesicht mit den Händen bedeckt, während ich diese Worte wiederholte. Ich nahm sie jetzt in einer bessern Erkenntnis wieder weg und sagte ihm, daß ich nur ihm das Glück verdanke, es von meiner Kindheit an bis zu dieser Stunde nie gefühlt zu haben.

Er erhob abwehrend die Hand. Ich wußte wohl, daß man ihm nicht danken durfte, und schwieg.

»Es sind jetzt neun Jahre her«, begann er nach einer kleinen Weile Nachdenkens, »da erhielt ich von einer in Zurückgezogenheit lebenden Dame einen Brief, der von einer finstern Leidenschaft und Kraft erfüllt war, die ihn von allen Briefen, die ich jemals gelesen, unterschied. Vielleicht war es ein unbewußter Zug der Absenderin, mir ihr Vertrauen zu schenken, vielleicht ein unbewußter Zug von mir, ihr Vertrauen zu rechtfertigen. Der Brief erzählte von einem Kind, einem Waisenmädchen, damals zwölf Jahre alt, mit ähnlich grausamen Worten wie denen, an die du dich noch erinnerst. Die Schreiberin habe, hieß es darin, das Kind von seiner Geburt an im geheimen auferzogen, alle Spuren seiner Herkunft verwischt, und wenn die Schreiberin vor Mündigwerden des Kindes stürbe, so stünde es freudlos, namenlos und ungekannt in der Welt. Der Brief forderte mich auf, mit mir zu Rate zu gehen, ob ich vollenden wollte, was sie begonnen hatte.«

Ich hörte schweigend zu und sah ihn gespannt an.

»Deine Jugenderinnerungen, liebes Kind, werden dir am besten sagen, in welch düsterm Licht die Schreiberin alles sah und ausdrückte, in ihrem finstern Puritanismus, der ihren Geist umwölkte, mit der grausamen Anschauung, daß ein Kind eine Schuld büßen müsse, die es nicht begangen. Ich faßte ein Interesse für das Kind und sein freudloses Leben und beantwortete den Brief.«

Ich ergriff seine Hand und küßte sie.

»In dem Brief stand, ich solle nie den Versuch machen, die Schreiberin, die seit langer Zeit allen Verkehr mit der Welt abgebrochen habe, zu Gesicht zu bekommen, aber sie schlüge mir vor, ich möchte ihr einen vertrauenswürdigen Vertreter nennen, mit dem sie dann verhandeln wollte. Ich bestimmte Mr. Kenge. Die Dame sagte ihm aus freien Stücken, ihr Name sei ein angenommener und sie die Tante des Kindes, wenn in solchen Fällen von Blutsverwandtschaft überhaupt die Rede sein könnte. Sie werde niemals – Mr. Kenge war von der Festigkeit ihres Entschlusses durchaus überzeugt – mehr enthüllen… So, liebes Kind, jetzt habe ich dir alles gesagt.«

Ich hielt seine Hand eine kleine Weile in der meinen.

»Ich sah mein Mündel öfter als sie mich«, fuhr er in einem heitereren und leichteren Ton fort, »und erfuhr immer, sie sei glücklich, häuslich und von allen geliebt. Sie vergilt mir zwanzigtausendfach, und zwanzig Mal mehr noch, jede Stunde im Tag die Kleinigkeit, die ich für sie getan habe.«

»Und noch öfter«, sagte ich, »segnet sie den Vormund, der ihr ein Vater ist.«

Bei dem Worte Vater sah ich den frühern sorgenvollen Ausdruck wieder auf seinem Gesichte erscheinen. Er beherrschte sich wie vorhin, und einen Augenblick später sah er drein wie gewöhnlich. Sein Mienenspiel wechselte bei meinen Worten so schnell, daß es mir vorkam, als hätte ich ihm damit weh getan. Abermals wiederholte ich mir verwundert: »Keine, die ich so leicht begreifen könnte… Keine, die ich so leicht begreifen könnte.« Ja, es war wahr. Ich begriff es nicht. Lange, lange Zeit nicht.

»Und nun ein väterliches gute Nacht, liebes Kind«, sagte er und küßte mich auf die Stirn, »und flink zu Bett. Das sind viel zu späte Stunden zum Arbeiten und Nachdenken. Du tust das sowieso den ganzen Tag für uns, kleine Hausfrau.«

Ich arbeitete weder, noch grübelte ich in dieser Nacht mehr. Ich schüttete mein volles Herz vor Gott aus und dankte ihm inbrünstig, daß er mich nicht verlassen, und schlummerte ein.

Den Tag darauf hatten wir Besuch. Mr. Allan Woodcourt. Er kam, um von uns Abschied zu nehmen. Er wollte als Schiffsarzt nach China und Ostindien gehen, wie er uns schon vor einiger Zeit erzählt hatte. Er hatte vor, sehr lange Zeit abwesend zu sein.

Ich glaube – das heißt, ich weiß es –, daß er nicht reich war. Alle Ersparnisse seiner verwitweten Mutter waren darauf verwendet worden, ihn zu seinem Beruf auszubilden. Für einen jungen Arzt mit wenig Beziehungen in London war es kein einträglicher Beruf, und obgleich er sich Tag und Nacht für eine Menge armer Leute abmühte und Wunder an Zartheit und Geschicklichkeit bei ihnen verrichtete, verdiente er doch sehr wenig Geld. Er war sieben Jahre älter als ich. Nicht, daß ich es zu erwähnen brauchte, denn es scheint kaum hierher zu gehören.

Ich glaube – das heißt, er sagte uns –, daß er drei oder vier Jahre praktiziert habe und die Reise nicht machen würde, wenn er sich noch drei oder vier Jahre hätte durchschlagen können. Aber er besäße kein Vermögen und wäre daher gezwungen, ins Ausland zu gehen.

Er hatte uns schon einige Male besucht. Es tat uns leid, daß er jetzt Abschied nahm, denn er war ein hervorragender Arzt in den Augen aller derer, die ihn kannten, und einige der bedeutendsten Gelehrten hatten eine hohe Meinung von ihm.

Als er sich jetzt von uns verabschieden kam, brachte er zum ersten Mal seine Mutter mit. Sie war eine hübsche alte Dame mit glänzenden schwarzen Augen und schien sehr stolz zu sein. Sie stammte aus Wales und hatte vor langer, langer Zeit einen außerordentlich hervorragenden Vorfahren gehabt, mit Namen Morganap-Kerrig, aus einem Ort, der wie Gimlet klang, der unglaublich berühmt gewesen und dessen Verwandte sämtlich eine Art königliche Familie gebildet hätten. Er mußte sein ganzes Leben damit zugebracht haben, in den Gebirgen herumzuziehen und Gefechte zu liefern. Ein Barde, mit Namen Crumlinwallinwer, hatte ihn in einem Lied, das, soweit ich verstehen konnte, Mewlinnwillinwodd hieß, besungen.

Mrs. Woodcourt erzählte uns viel von dem Ruhm ihres großen Ahnen und sagte dann, daß, wohin ihr Sohn Allan auch immer kommen sollte, er sich stets seiner Abstammung erinnern und unter keiner Bedingung eine Verbindung unter seinem Rang schließen werde. Sie wisse, es gäbe viele schöne englische Damen in Indien, die nur aus Heiratsspekulation hinreisten, und daß sich auch einige mit Vermögen unter ihnen finden ließen, aber weder Schönheit noch Reichtum könnten dem Abkömmling eines solchen Geschlechts genügen ohne Geburt, die immer die erste Bedingung sein müßte. Sie sprach so viel von Geburt, daß ich mir für einen Augenblick fast einbildete, und mit Schmerz – aber welch törichte Einbildung, das anzunehmen –, sie könnte am Ende nach meiner Abkunft fragen.

Mr. Woodcourt schien ihre Gesprächigkeit ein wenig unangenehm zu sein, aber er war zu rücksichtsvoll, um es merken zu lassen, und wußte mit viel Taktgefühl das Gespräch so zu drehen, daß er meinem Vormund für seine Gastfreundschaft und für die vielen glücklichen Stunden danken konnte – er nannte sie sehr glückliche Stunden –, die er bei uns verlebt hatte.

Die Erinnerung daran, sagte er, würde ihn überall hinbegleiten, wohin er auch komme, und er werde sie stets im Herzen bewahren. Wir gaben ihm nach der Reihe die Hand – wenigstens sie taten es – und ich auch. Und er küßte Ada die Hand – und mir auch, und so verließ er uns, um seine lange, lange Reise anzutreten.

Ich war den ganzen Tag über sehr beschäftigt und schrieb Unterweisungen für die Dienstboten nach Bleakhaus und Briefe für meinen Vormund, staubte seine Bücher und Papiere ab und hatte mit meinen Wirtschaftsschlüsseln viel im Hause herumzuklimpern. Die Dämmerung kam, und ich war immer noch beschäftigt, sang und arbeitete am Fenster, als niemand anders als Caddy, die ich am wenigsten erwartet hätte, eintrat.

»Ei, liebe Caddy«, sagte ich, »was für schöne Blumen!«

Sie hatte ein allerliebstes Blumensträußchen in der Hand.

»Sie sind wirklich sehr hübsch, Esther. Die schönsten, die ich je gesehen habe.«

»Von Prince, liebe Caddy?« flüsterte ich lächelnd.

Caddy schüttelte den Kopf und hielt mir den Strauß zum Riechen hin.

»Nein. Nicht von Prince.«

»Was? Du hast zwei Anbeter!?«

»So? Sehen die Blumen danach aus?« fragte Caddy.

»Sehen Sie danach aus?« wiederholte ich und kniff sie in die Wange.

Caddy lachte nur dazu und sagte, sie sei bloß auf eine halbe Stunde gekommen, dann werde Prince auf sie an der Ecke warten. Sie plauderte mit mir und Ada am Fenster, reichte mir von Zeit zu Zeit ihre Blumen hin oder probierte, wie sie sich in meinem Haar ausnähmen. Beim Abschied zog sie mich in meine Stube und steckte mir den Strauß an.

»Für mich?« fragte ich überrascht.

»Für dich«, sagte Caddy und küßte mich. »Sie wurden von jemand zurückgelassen.«

»Zurückgelassen?«

»Bei der armen Miß Flite. Jemand, der immer sehr gut zu ihr war, eilte vor einer Stunde weg, um abzureisen, und ließ diese Blumen zurück. Nein, nein, nein! Leg sie nicht weg! Laß die hübschen kleinen Dinger hier ruhen«, sagte Caddy und steckte die Blumen sorgfältig zurecht. »Ich war selbst anwesend und würde mich nicht wundern, wenn sie jemand absichtlich zurückgelassen hätte.«

»Sehen sie danach aus?« fragte Ada, die lachend hinter mich trat und mich lustig mit ihren Armen umschlang. »O ja, sie sehen danach aus, Mütterchen. Sie sehen sogar sehr, sehr danach aus, wahrhaftig, liebe Esther.«

11. Kapitel


11. Kapitel

Unser geliebter Bruder

Irgend jemand berührt die runzelvolle Hand des Advokaten, wie er im finstern Zimmer unentschlossen dasteht, und macht ihn auffahren: »Wer ist da!«

»Ich bin’s«, sagt der Alte vom Hause. Sein Atem berührt das Ohr Mr. Tulkinghorns. »Können Sie ihn nicht wecken?«

»Nein.«

»Was haben Sie mit Ihrer Kerze gemacht?«

»Sie ist ausgegangen. Hier ist sie.«

Krook nimmt sie, geht ans Feuer, bückt sich über die roten Kohlen und versucht den Docht anzuzünden. Die ersterbende Asche hat keine Glut mehr, und seine Bemühungen sind umsonst. Ebenso vergeblich sucht er seinen Mieter zu wecken; dann brummt er und geht hinunter in den Laden, um eine brennende Kerze zu holen. Aus irgendeinem Grunde erwartet Mr. Tulkinghorn seine Rückkehr nicht im Zimmer, sondern draußen auf der Treppe.

Endlich, endlich erhellt ein Licht die Wände, wie Krook langsam heraufkommt, die grünäugige Katze ihm auf den Fersen.

»Schläft der Mann immer so fest?« fragt der Advokat leise.

»Hi! Ich weiß nicht«, Krook schüttelt den Kopf und zieht die Augenbrauen in die Höhe. »Ich weiß so gut wie nichts von seinen Gewohnheiten, außer, daß er sich fast ganz abschließt.«

So flüsternd treten sie beide ein. Wie das Licht hereinkommt, scheinen die großen Augen in den Fensterläden dunkler zu werden und sich zu schließen. Nicht so die Augen auf dem Bett.

»Gott sei uns gnädig«, ruft Mr. Tulkinghorn. »Er ist tot.«

Krook läßt die schwere Hand, die er ergriffen hat, so plötzlich los, daß der Arm an der Seite des Bettes herunterfällt. Die beiden sehen sich einen Augenblick an.

»Laufen Sie nach einem Doktor! Rufen Sie Miß Flite oben, Sir! Hier steht Gift beim Bett! Rufen Sie Flite, wollen Sie?« sagt Krook, der seine dürren Hände über der Leiche hält wie die Flügel eines Vampirs.

Mr. Tulkinghorn eilt hinaus und ruft: »Miß Flite! Flite! Schnell, kommen Sie schnell! Flite!«

Krook folgt ihm mit seinen Blicken und benützt die Gelegenheit, während er ruft, sich zu dem alten Mantelsack und wieder zurück zu schleichen.«

»Schnell, Flite, schnell! Zum nächsten Doktor! Schnell!« So schreit Mr. Krook die verrückte kleine Alte, seine Mieterin, an.

Im Nu erscheint sie und verschwindet und kehrt zurück, begleitet von einem Arzt, der sehr verdrießlich dreinschaut, weil man ihn beim Essen gestört hat, – einem Mann mit einer dicken, mit Schnupftabak bedeckten Oberlippe und einem breiten schottischen Akzent.

»Ei! Gott haab ihn seelig«, sagt der Arzt und sieht nach einer kurzen Untersuchung auf. »Der ischt so toot wie Pharao.«

Mr. Tulkinghorn, der neben dem alten Mantelsack steht, fragt, ob er schon lange tot sei.

»Schon lange, Ser«, sagt der Arzt. »Waahrscheinlich ischt er etwa drei Stunden toot.«

»Ungefähr so lange auch meiner Meinung nach«, bemerkt ein schwarzer junger Mann auf der andern Seite des Bettes.

»Sind Sie selbscht Meediziner, Ser?« fragt der Schotte.

Der schwarze junge Mann sagt: »Ja.«

»Nun, denn kann ich ja gehn. Denn bin ich hier gaar nichts nütze.«

Mit dieser Bemerkung macht der Arzt seiner kurzen Anwesenheit ein Ende und kehrt wieder zu seinem Essen zurück.

Der schwarze junge Mediziner leuchtet mit der Kerze wiederholt über das starre Gesicht und untersucht sorgfältig den Schreiber, der seine Ansprüche auf seinen Namen jetzt dadurch festgestellt hat, daß er wirklich »Niemand« geworden ist.

»Ich kenne den Mann sehr gut vom Sehen«, sagt er. »Er hat seit den letzten anderthalb Jahren Opium bei mir gekauft. Ist jemand von den Anwesenden mit ihm verwandt?« fragt er und mustert die drei um das Bett herumstehenden Personen.

»Ich war sein Hauswirt«, gibt Krook mürrisch zur Antwort und nimmt dem Arzt die hingehaltene Kerze aus der Hand. »Er sagte einmal zu mir, ich sei der nächste Verwandte, den er hätte.«

»Er ist an einer zu starken Dosis Opium gestorben. Daran ist kein Zweifel. Das ganze Zimmer riecht danach. Hier ist noch genug«, – der Arzt nimmt Mr. Krook einen alten Teetopf aus der Hand – »um ein Dutzend Menschen zu töten.«

»Meinen Sie, daß er es absichtlich getan hat?« fragt Krook.

»Die zu starke Dosis genommen?«

»Ja!« – Krook schmatzt fast mit den Lippen im Hochgenuß eines schauerlichen Interesses.

»Das kann ich nicht sagen. Ich halte es nicht für wahrscheinlich, da er gewohnt war, starke Dosen zu nehmen. Das kann niemand wissen. Er war sehr arm, vermute ich?«

»Das vermute ich auch. Sein Zimmer – macht nicht den Eindruck von Reichtum«, sagt Krook, der so aussieht, als habe er die Augen mit seiner Katze vertauscht, so gierig schweifen seine Blicke in der Stube umher. Aber ich bin nie hier gewesen, seit er eingezogen ist, und er war zu verschlossen, um mir etwas über seine Verhältnisse zu erzählen.«

»Ist er Ihnen Zins schuldig?«

»Sechs Wochen.«

»Er wird ihn nie bezahlen«, sagt der junge Arzt und nimmt seine Untersuchung wieder auf. »Es ist ganz außer Zweifel, daß er so tot ist wie Pharao, und nach seinem Körperzustand zu urteilen, möchte ich sagen, es ist ein Glück für ihn. Und doch muß er als junger Mann groß und schlank und ich sollte meinen hübsch gewesen sein.«

– Er sagt dies nicht ohne Gefühl, während er auf dem Rande der Bettstelle sitzt, das Gesicht dem Toten zugekehrt und die Hand auf die Herzgegend gelegt. –

»Ich erinnere mich, daß es mir schon früher einmal so vorkam, als sei etwas in seinem Auftreten, so abstoßend er sich auch benahm, was auf eine bessere Vergangenheit hindeutete. Wissen Sie etwas darüber?« fährt er fort und sieht sich um.

Krook antwortet: »Sie könnten ebensogut von mir verlangen, Ihnen die Damen zu beschreiben, deren Haar ich unten im Keller in Säcken habe. Ich weiß nicht mehr von ihm, als daß er anderthalb Jahre lang mein Mieter war und vom Abschreiben für Advokaten lebte – oder nicht lebte.«

Während dieses Zwiegesprächs hat Mr. Tulkinghorn abseits neben dem alten Mantelsack gestanden, die Hände auf dem Rücken und allem Anschein nach gleich unendlich fern von all den drei verschiedenen Arten von Teilnahme, die neben dem Bett an den Tag gelegt wurden – von dem Interesse des jungen Mannes an der Leiche als Arzt und seiner Teilnahme für den Verstorbenen als Mensch –, von des alten Mannes lüsternem Genuß an der Schrecklichkeit des Vorfalls – und von dem Grauen der verrückten kleinen Alten vor der Leiche. Sein unbewegliches Gesicht blieb so ausdruckslos wie das rostige Aussehen seiner Kleider. Er scheint die ganze Zeit über an nichts gedacht zu haben. Er hat weder Geduld noch Ungeduld, weder Aufmerksamkeit noch Zerstreutheit gezeigt. Nur die äußere Schale ist zu sehen gewesen. Ebensowenig hätte man auf den Ton eines Musikinstrumentes aus dem Gehäuse schließen können.

Er mischt sich jetzt hinein, redet den jungen Mann in seiner teilnahmslosen, geschäftsmäßigen Weise an.

»Ich kam einen Augenblick vor Ihnen hierher«, bemerkt er, »mit der Absicht, dem Verstorbenen, den ich als Lebenden nicht gekannt habe, einige Kopierarbeiten zu geben. Ich erfuhr seine Adresse von meinem Papierhändler Snagsby in Cook’s Court. Da niemand hier etwas von dem Toten weiß, wäre es vielleicht gut, nach Snagsby zu schicken. – Ah!« sagt er zu der verrückten kleinen Alten, die er oft im Kanzleigericht gesehen zu haben sich erinnert. »Ja, vielleicht holen Sie ihn«, sagt er, da sie sich in erschrecktem stummem Gebärdenspiel erbötig macht, den Papierhändler zu holen.

Während sie fort ist, gibt der Arzt die Untersuchung als hoffnungslos auf und deckt den Toten mit der Flickendecke zu. Mr. Krook und er wechseln ein paar Worte miteinander. Mr. Tulkinghorn spricht kein Wort und steht immer noch neben dem alten Mantelsack.

Mr. Snagsby erscheint in aller Eile in seinem grauen Kittel mit den schwarzen Schreibärmeln.

»Mein Gott, mein Gott!« sagt er. »Ist es also endlich dazu gekommen! Gott soll einen Menschen behüten!«

»Können Sie dem Hauswirt hier irgendeine Auskunft über den Unglücklichen geben, Snagsby?« fragt Mr. Tulkinghorn. »Er war angeblich mit seinem Zins im Rückstand. Und er muß doch begraben werden.«

»Hm, Sir«, meint Mr. Snagsby und läßt hinter seiner Hand ein verlegenes Hüsteln hören. »Ich wüßte wirklich nicht, welchen Rat ich geben könnte, außer, daß man nach dem Kirchendiener schicken sollte.«

»Ich spreche nicht von Rat«, lehnt Mr. Tulkinghorn ab. »Ich könnte ja selbst raten…«

»Niemand besser, Sir, selbstverständlich«, entschuldigt sich Mr. Snagsby mit seinem ehrerbietigen Husten.

»Ich meine, ob man nicht etwas über seine Verwandten oder woher er stammt oder über seine sonstigen Verhältnisse erfahren könnte?«

Mr. Snagsby schickt seiner Antwort einen allgemein versöhnlichen Husten voraus und sagt:

»Ich versichere Ihnen, Sir, ich weiß ebensowenig, woher er gekommen ist, als ich weiß…«

»Wohin er gegangen ist«, unterbricht ihn der Arzt, nachhelfend.

– Pause. –

Mr. Tulkinghorn sieht den Schreibmaterialienhändler an. Mr. Krook sieht mit offenem Munde von einem zum andern, erwartungsvoll, wer wohl jetzt etwas sagen werde.

»Was seine Verwandten betrifft, Sir«, fährt Mr. Snagsby fort, »wenn jemand zu mir spräche: Snagsby, hier liegen zwanzigtausend Pfund für Sie in der Bank von England bereit, wenn Sie mir auch nur einen von ihnen nennen, so könnte ich es nicht, Sir. Vor ungefähr anderthalb Jahren, soweit ich mich erinnern kann, und um die Zeit, wo er in den Althändlerladen hier eingezogen ist…«

»Um die Zeit war es«, bestätigt Krook mit einem Kopfnicken.

»Vor ungefähr anderthalb Jahren«, fährt Mr. Snagsby ermutigt fort, »kam er eines Morgens nach dem Frühstück in mein Geschäft, fand dort meine kleine Frau, legte ihr eine Probe seiner Handschrift vor und sagte ihr, er suche Abschreibearbeit zu bekommen. Und daß er – um nicht durch die Blume zu sprechen« – ein Lieblingsausdruck Mr. Snagsbys, wenn er keine Umstände machen und frei herausreden will – »und daß er sehr in Not sei. Meine kleine Frau hat für gewöhnlich keine besondere Vorliebe für Fremde, besonders – um nicht durch die Blume zu sprechen –, wenn sie etwas haben wollen. Aber irgend etwas an dem Mann mußte doch ihr Interesse erregt haben; ob er unrasiert war oder wild und ungekämmt aussah oder sonst etwas an sich hatte, was Damen interessiert, überlasse ich Ihnen zu beurteilen, aber sie nahm die Probe an und auch die Adresse. Meine kleine Frau hat kein gutes Ohr für Namen«, fährt Mr. Snagsby fort, nachdem er mit seinem rücksichtslosen Husten hinter der vorgehaltnen Hand zu Rate gegangen ist, »und sie verwechselte Nemo mit Nimrod. Sie hat sich deshalb angewöhnt, bei Tisch zu mir zum Beispiel zu sagen: Snagsby, hast du noch immer keine Arbeit für Nimrod? Oder: Snagsby, warum hast du die achtunddreißig Folioseiten in Sachen Jarndyce nicht Nimrod gegeben? Und so weiter. Auf diese Art bekam er nach und nach ziemlich regelmäßig Arbeit von uns, und das ist alles, was ich von ihm weiß, außer, daß er sehr rasch schrieb und sich aus Nachtarbeit nichts machte. Wenn man ihm zum Beispiel fünfundvierzig Folioseiten Mittwoch abends gab, hatte er sie schon Donnerstag früh fertig.« Mr. Snagsby schließt seine Rede mit einer höflichen Bewegung seines Hutes nach dem Bette hin, als wollte er hinzusetzen, – »was alles ohne Zweifel mein ehrenwerter Freund hier bestätigen würde, wenn es ihm sein Zustand erlaubte.«

»Möchten Sie nicht vielleicht nachsehen, ob Papiere da sind, die Licht in die Sache bringen könnten«, sagt Mr. Tulkinghorn zu Krook. »Man wird Totenschau halten und Sie wahrscheinlich danach fragen.«

»Nein, kann ich nicht«, antwortete der Alte plötzlich, die Zähne zusammenbeißend.

»Snagsby, durchsuchen Sie also einmal das Zimmer für ihn«, sagt Mr. Tulkinghorn. »Er könnte sonst leicht Unannehmlichkeiten haben. Da ich schon hier bin, will ich warten, wenn Sie schnell machen, und kann dann Zeugenschaft ablegen, daß alles richtig zugegangen ist, wenn es verlangt werden sollte.«

»Wenn Sie Mr. Snagsby die Kerze halten wollen, mein Freund, wird er bald sehen, ob etwas vorhanden ist.«

»Erstens einmal ist hier ein alter Mantelsack, Sir«, sagt Snagsby.

»Ja richtig!« Mr. Tulkinghorn scheint den Mantelsack nicht gesehen zu haben, obgleich er dicht daneben steht und weiß Gott sonst wenig genug im Zimmer ist.

Der Trödler hält das Licht, und der Papierhändler leitet die Untersuchung. Der Arzt lehnt an einer Ecke des Kaminsimses; Miß Flite steht zitternd auf der Türschwelle und lugt furchtsam ins Zimmer. Der gelehrte Advokat der alten Schule mit den glanzlosen schwarzen, mit Bändern am Knie zugebundnen Hosen, der langen schwarzen Weste, dem langärmeligen schwarzen Frack und dem ungestärkten weißen Halstuch mit der kleinen Schleife, die der Hochadel so gut kennt, steht genau auf demselben Fleck in der alten Stellung.

In dem Mantelsack finden sich ein paar wertlose Kleidungsstücke, ein Bündel Versatzscheine, diese Mautzettel auf dem Wege zur Armut, ein zerknittertes Blatt Papier, das nach Opium riecht und ein paar hingekritzelte Notizen aufweist, zum Beispiel: An dem und dem Tage soviel Gran genommen, an dem und dem so und so viel Gran mehr. Die Notizen sind vor längerer Zeit niedergeschrieben, wohl mit der Absicht, sie regelmäßig fortzusetzen. Aber bald sind sie abgebrochen worden. Es finden sich ein paar schmutzige Fetzen von Zeitungen, lauter Totenschauberichte. Weiter nichts. Sie suchen im Wandschrank und in der Schublade des tintenbespritzten Tisches. Auch nicht ein Stückchen eines alten Briefs oder sonst ein Anhaltspunkt ist zu entdecken. Der junge Arzt untersucht die Kleider des Schreibers. Weiter nichts als ein Messer und einige Halfpence kommen zum Vorschein. Mr. Snagsbys Rat ist schließlich doch der praktischste, und der Kirchendiener muß geholt werden.

Die kleine verrückte Alte holt daher den Kirchspieldiener, und die übrigen verlassen das Zimmer.

»Die Katze darf nicht hier bleiben«, sagt der Arzt. »Das geht nicht.«

Mr. Krook jagt sie vor sich hinaus, und sie schleicht verstohlen die Treppe hinab, richtet ihren schlanken Schweif auf und leckt sich die Lippen.

»Gute Nacht«, sagt Mr. Tulkinghorn und geht heim zu Allegorie und Grüblerei.

Um diese Zeit hat sich die Nachricht von dem Todesfall im Hofe verbreitet. Es sammeln sich Gruppen seiner Bewohner, um die Sache zu besprechen, und die Vorposten der Beobachtungsarmee, die hauptsächlich aus Jungen besteht, werden bis zu Mr. Krooks Fenster vorgeschoben, das sie dicht umlagern. Ein Polizeidiener ist bereits in das Zimmer hinauf und wieder bis zur Tür hinuntergegangen, steht da wie ein Turm und läßt sich nur gelegentlich herab, die Jungen tief unten zu seinen Füßen anzublicken. Und jedes Mal, wenn er sie ansieht, weichen sie scheu zurück.

Mrs. Perkins, die seit Wochen mit Mrs. Piper kein Wort gesprochen hat, weil der kleine Perkins dem kleinen Piper eins auf den Kopf gegeben hat, knüpft bei dieser aussichtsreichen Gelegenheit den freundschaftlichen Verkehr wieder an. Der Schankkellner an der Ecke, eine Art privilegierter Amts-Amateur, da er offizielle Lebenskenntnis besitzt und gelegentlich mit Betrunkenen zu tun hat, tauscht vertraulich Ansichten mit dem Polizeidiener und hat das Aussehen eines unbesiegbaren Jünglings, dem Konstablerstäbe und Polizeistationen nichts anhaben können.

Die Leute reden miteinander über die Gasse hinweg aus den Fenstern, und barhäuptige Späher kommen aus Chancery-Lane herbeigelaufen, um zu sehen, was es gibt. Die allgemeine Ansicht scheint zu sein, es sei ein Glück, daß wider Erwarten die Reihe nicht an Mr. Krook zuerst kam, aber es mischt sich ein wenig natürliche Enttäuschung hinein.

Inmitten dieser Aufregung erscheint der Kirchspieldiener.

Der Kirchspieldiener, obgleich allgemein in der Nachbarschaft für eine lächerliche Institution gehalten, genießt für den Augenblick eine gewisse Popularität, wenn auch nur als Person, die die Leiche ansehen darf. Der Polizeidiener sieht in ihm einen schwachsinnigen Zivilisten, ein Überbleibsel aus dem barbarischen Zeitalter der Nachtwächter, aber er läßt ihn ein wie etwas, das geduldet werden muß, bis die Regierung es abschafft. Die allgemeine Aufregung erreicht ihren Höhepunkt, als das Gerücht von Mund zu Mund geht, der Kirchspieldiener sei eingetroffen und hineingegangen.

Bald darauf kommt der Kirchspieldiener wieder heraus, und wieder steigt die Aufregung, die mittlerweile ein wenig abgeflaut war. Man vernimmt, daß er für die morgige Totenschau Zeugen sucht, die dem Beamten und den Geschwornen Auskunft über den Verstorbenen geben können. Er wird auf der Stelle an unzählige Leute gewiesen, die ihm nicht das mindeste zu sagen imstande sind. Er wird dadurch noch dümmer gemacht, daß man ihm beständig wiederholt, Mrs. Greens Sohn sei selbst Advokatenschreiber gewesen und habe den Toten besser gekannt als irgend jemand sonst.

Der Sohn von Mrs. Green befindet sich jedoch, wie sich bei näherer Nachfrage herausstellt, gegenwärtig an Bord eines Schiffes, das vor drei Monaten nach China unter Segel ging, das man aber vermutlich nach einer Eingabe an die Admiralitätschaft telegraphisch erreichen könnte.

Freund Kirchspieldiener geht in die verschiednen Läden und Gassenzimmer, fragt die Einwohner aus, schließt vor allen Dingen jedes Mal die Tür und erbittert durch langes Wartenlassen und alles umfassende Blödheit das Publikum. Der Polizeidiener lächelt den Schankkellner an. Das Publikum verliert das Interesse, und allgemeine Teilnahmslosigkeit fängt an einzutreten. Es verhöhnt den Kirchspieldiener, und schrille jugendliche Stimmen werfen ihm vor, einen Knaben gekocht zu haben; Chöre singen Fragmente eines Gassenliedes, das ebenfalls davon handelt und besagt, daß sie aus dem Knaben Suppe für das Armenhaus gekocht hätten. Der Polizeidiener sieht sich zuletzt genötigt, dem Gesetz zu Hilfe zu kommen und einen der Sänger zu ergreifen. Da die übrigen ausreißen, läßt er ihn unter der Bedingung, sofort aufzuhören und zu verduften – sonst! –, wieder los. Der Sänger kommt der Aufforderung augenblicklich nach. So legt sich die Aufregung, und der unerschütterliche Polizeimann, den ein wenig Opium mehr oder weniger kalt läßt, mit dem lackierten hohen Hut, der hohen Halsbinde, dem steifen Überrock, dem ledernen Gürtel und Armband und seiner ganzen übrigen Kriegsausrüstung schreitet langsam seines Weges mit schwerem Tritt. Er schlägt die Flächen seiner weißen Handschuhe gegeneinander und bleibt dann und wann an einer Straßenecke stehen, um sich nach Unglücksfällen umzusehen: Vom verlorenen Sohn aufwärts bis zum Mord.

Unter dem Schutze der Nacht flattert der schwachsinnige Kirchspieldiener in Chancery-Lane mit seinen Vorladungen herum, in denen der Name jedes Geschwornen falsch und nur sein eigner, den aber niemand lesen kann oder will, richtig geschrieben ist.

Nachdem die Vorladungen verteilt und die Zeugen benachrichtigt sind, begibt sich der Kirchspieldiener zu Mr. Krook, um hier einige Armenhausbewohner, die er bestellt hat, zu erwarten. Sie erscheinen bald darauf; er führt sie die Treppe hinauf, wo sie für die großen Augen in den Fensterläden etwas Neues zum Anstarren hinsetzen: Die letzte irdische Behausung für »Niemand«, – die letzte Behausung für jeden Sterblichen. Und die ganze Nacht hindurch steht der Sarg neben dem alten Mantelsack; und die einsame Gestalt auf dem Bett, die fünfundvierzig Jahre auf dem Pfad des Lebens gewandelt, liegt dort und hat nicht mehr Spur, die zu einer Entdeckung führen könnte, hinterlassen als ein ausgesetztes Kind.

Am nächsten Tag ist alles lebendig im Hof. Es ist wie ein Jahrmarkt, wie Mrs. Perkins in dickster Freundschaft mit Mrs. Piper in vertraulichem Gespräch zu dieser vortrefflichen Frau äußert. Der Totenbeschauer wird in dem Saal im ersten Stock der »Sonne« sitzen, wo sich zwei Mal wöchentlich die harmonische Gesellschaft versammelt und ein Herr von großem künstlerischem Ruf einen Lehnstuhl ausfüllt, vis à vis dem kleinen Swills, dem komischen Sänger, der, nach dem Zettel im Fenster zu schließen, hofft, daß sich seine Freunde um ihn scharen und »ein Talent ersten Ranges« unterstützen werden.

Die »Sonne« bestrahlt an diesem Morgen ein einträgliches Geschäft. Selbst Kinder bedürfen bei der allgemeinen Aufregung so sehr der Stärkung, daß ein Pastetenbäcker, der an der Ecke des Hofes einen fliegenden Laden errichtet hat, sagt, seine Likörbonbons gingen weg wie Rauch. In der Zwischenzeit zeigt der Kirchspieldiener, der zwischen Mr. Krooks Ladentür und dem Tor der »Sonne« hin und her spukt, die seiner Obhut anvertraute Sehenswürdigkeit ein paar diskreten Günstlingen, die sich ihm dafür mit einem Glas Ale oder dergleichen erkenntlich erweisen.

Zur festgesetzten Stunde erscheint der Totenbeschauer, von den Geschworenen erwartet und von einer Salve rasselnder Kegel aus der guten, trocknen Kegelbahn der »Sonne« begrüßt. Der Totenbeschauer besucht mehr Wirtshäuser als irgendein lebender Mensch. Der Geruch von Sägespänen, Bier, Tabakrauch und Branntwein ist ihm in seinem Beruf untrennbar geworden vom Tode, auch in seiner schrecklichsten Gestalt. Der Kirchspieldiener und der Wirt geleiten ihn in den Saal der »Harmonischen Gesellschaft«, wo er seinen Hut auf das Klavier legt und in einem Präsidenten-Lehnstuhl Platz nimmt – am obern Ende einer langen Tafel, die sich aus vielen aneinandergeschobenen kleinen Tischen zusammensetzt und verziert ist mit klebrigen Ringen, von Gläsern und Krügen herrührend, in endloser Verschlingung. Genau soviel Geschworne, als sich um die lange Tafel zusammendrängen können, sitzen dort. Die übrigen finden Platz mitten unter Spucknäpfen und Pfeifenständern oder lehnen am Klavier. Über dem Kopf des Totenbeschauers hängt ein kleiner eiserner Kranz, der Griff eines Klingelzugs, und im Laien erweckt er den Anschein, als sollte der Vorsitzende des Gerichtshofs im nächsten Augenblick gehängt werden.

»Man verlese und beeidige die Geschwornen!«

Während diese Zeremonie vor sich geht, macht der Eintritt eines kleinen, dicken Mannes mit einem mächtigen Hemdkragen, Triefaugen und einer roten Nase, der bescheiden an der Tür unter dem Publikum Platz nimmt, aber dennoch in dem Saale ganz zu Hause zu sein scheint, einiges Aufsehen. Ein allgemeines Flüstern verrät, daß es der kleine Swills ist. Man hält es nicht für unwahrscheinlich, daß er heute abend vor der »Harmonischen Versammlung« den Totenbeschauer kopieren wird.

»Also, meine Herren…« fängt der Vorsitzende an.

»Ruhe, Ruhe!« ruft der Kirchspieldiener. Er ruft es nicht dem Vorsitzenden zu, aber es klingt fast so.

»Also, meine Herren«, beginnt der Totenbeschauer von neuem, »Sie sind hier zusammengetreten, um über die Todesart einer gewissen Person die Tatsachen festzustellen. Sie werden Zeugenaussagen über die diesen Todesfall begleitenden Umstände hören und Ihren Wahrspruch nach den – Kegeln gibt’s heute nicht, die Kegelbahn ist augenblicklich zu sperren, Kirchendiener! – nach den Zeugenaussagen und nach nichts anderm fällen. Zuerst haben wir die Leiche zu besichtigen.«

»Platz da, Platz!« ruft der Kirchspieldiener.

Alle verlassen in Prozession wie ein langgestreckter Leichenzug den Saal und begeben sich zur Besichtigung in Mr. Krooks zweiten Stock in das Hinterzimmer. Ein paar der Geschwornen verlassen es blaß und hastig auf der Stelle wieder. Der Kirchspieldiener ist eifrig bemüht, daß zwei um Ärmelaufschläge und Knopflöcher herum nicht sehr sauber aussehende Herren, für die er schon im Saal der »Harmonischen Gesellschaft« neben dem Totenbeschauer ein besonderes Tischchen hingestellt hat, alles genau zu sehen bekommen. Sie sind nämlich die öffentlichen Berichterstatter über solche Untersuchungen – nach der Zeile –, und auch er ist der allgemeinen menschlichen Schwäche unterworfen, zu hoffen, gedruckt zu lesen, was Mooney, der tätige und scharfsinnige Kirchspieldiener des Distriktes, alles gesagt und getan hat. Er wünscht sich innerlich, den Namen Mooney in dem vertraulichen Ton erwähnt zu lesen wie in letzter Zeit den Namen des Henkers.

Der kleine Swills wartet im Saal auf die Rückkehr des Totenbeschauers und der Geschwornen. Auch Mr. Tulkinghorn wartet. Mr. Tulkinghorn wird mit Ehrfurcht begrüßt und in die Nähe des Totenbeschauers gesetzt. Zwischen diesen hohen Gerichtsbeamten ein Zimmerkegelspiel und eine Kohlenkiste. Die Untersuchung wird fortgesetzt. Die Geschworenen erfahren, wie der Gegenstand ihrer Untersuchung gestorben ist. Über ihn selbst erfahren sie nichts.

»Ein angesehener Advokat ist hier, meine Herren«, sagt der Totenbeschauer, »der, wie ich höre, zufällig anwesend war, als man die Leiche entdeckte; aber er könnte nur wiederholen, was Sie bereits von dem Arzt, dem Hauswirt, der Mieterin im obern Stock und dem Schreibmaterialenhändler gehört haben, und wir brauchen ihn daher nicht weiter zu inkommodieren. Ist sonst noch jemand hier, der eine Auskunft geben könnte?«

Mrs. Perkins schiebt Mrs. Piper vor. Mrs. Piper wird vereidigt.

»Anastasia Piper, meine Herren, verheiratete Frauensperson. Nun, Mrs. Piper, was haben Sie uns über die Sache zu sagen?«

Mrs. Piper hat sehr viel zu sagen. Besonders in Klammer und ohne jede Interpunktion, kann aber nicht viel Auskunft geben. Mrs. Piper wohnt im Hof (wo ihr Mann Schreiner ist) und es ist seit langer Zeit den Nachbarn wohl bekannt (es war zwei Tage nach dem Tage wo Alexander James Piper der jetzt achtzehn Monate vier Tage alt ist die Nottaufe erhielt weil er aufgegeben war so sehr litt das arme Kind an Krämpfen) daß der Kläger – so nennt immer wieder Mrs. Piper den Verstorbenen sich angeblich dem Teufel verkauft haben sollte. Das Gerücht sei wahrscheinlich entstanden weil der Kläger danach ausgschaut hat. Der Kläger habe immer fuchtig und grimmig ausgschaut und sie habe immer gesagt man dürfe ihn nicht frei herumgehen lassen weil manche Kinder furchtsam sind (und wenn man ihr nicht glaube so solle man Mrs. Perkins fragen die hier ist und die bestätigen kann daß sie und ihr Mann und ihre Familie niemals keine Unwahrheit nicht spricht) sie habe gesehen wie die Kinder den Kläger geneckt und gequält haben (denn Kinder sind Kinder und man kann nicht von ihnen erwarten besonders wenn sie munter und lebhaft sind daß sie sich wie Methuselers benehmen) deswegen und wegen seines finstern Aussehens habe sie oft geträumt daß er eine Axt aus der Tasche gezogen habe um damit Johnny den Kopf zu spalten aber das Kind kenne keine Furcht nicht und habe ihn oft dicht auf dem Fuß noch ausgespottet. In Wirklichkeit habe sie jedoch niemals den Kläger eine Axt aus der Tasche ziehen sehen. Im Gegenteil. Er sei rasch gegangen wenn ihm die Kinder nachliefen oder nachschrien als ob er Kinder nicht gern hätte und sie habe ihn nie mit einem Kind oder Erwachsenen nicht sprechen sehen ausgenommen mit dem Jungen was den Übergang unten im Gäßchen an der Ecke kehrt. Wenn er hier wäre müsse er selbst sagen daß man ihn oft mit ihm habe sprechen sehen.

Der Totenbeschauer fragt: »Ist der Junge hier?«

»Nein, Sir, er ist nicht hier«, sagt der Kirchspieldiener.

»Gehen Sie ihn holen.«

Während der Abwesenheit des emsigen und erfahrenen Dieners unterhält sich der Totenbeschauer mit Mr. Tulkinghorn.

»Hier ist der Junge, meine Herren.«

Hier ist er, schmutzbedeckt, ganz heiser, sehr zerlumpt.

»Nun, Junge!… Aber halt, einen Augenblick. Vorsicht. Der Knabe muß erst anderweitig verhört werden.«

Name? Jo. Hat keinen andern, soviel er weiß. Weiß nicht, daß jeder Mensch zwei Namen hat. Hat niemals von so was gehört. Weiß nicht, daß Jo die Abkürzung für einen längern Namen ist. Glaubt, daß er lang genug für ihn ist. Findet nichts daran auszusetzen. Kann er ihn buchstabieren? Nein. Er kann ihn nicht buchstabieren. Hat keinen Vater, keine Mutter, keine Freunde. Ist nie in der Schule gewesen – was ist dös, Elternhaus?? – Weiß, daß ein Besen ein Besen ist, und weiß, daß es eine Sünde ist, zu lügen. Erinnert sich nicht, wer ihm das von dem Besen und der Lüge gesagt hat, aber er weiß beides. Kann nicht genau sagen, was mit ihm nach dem Tode geschehen wird, wenn er den Herren hier eine Lüge sagt, aber er glaubt, daß es ihm zur Strafe sehr schlecht gehen wird und daß ihm dös dann recht gschiecht… Und deshalb will er die Wahrheit sagen.

»Damit kommen wir zu nichts, meine Herren«, sagt der Totenbeschauer und schüttelt melancholisch den Kopf.

»Glauben Sie nicht, daß wir seine Aussage anhören sollen, Sir?« fragt ein aufmerksamer Geschworner.

»Ausgeschlossen. Sie haben den Knaben doch selbst gehört. ‚Weiß ich nicht genau‘ können wir nicht brauchen. In einem Gerichtshof können wir mit dergleichen nichts anfangen, meine Herren. Schreckliche Herabgekommenheit. Schaffen Sie den Jungen weg.«

Der Knabe tritt ab zur großen Erbauung der Zuhörerschaft – besonders des kleinen Swills, des komischen Sängers.

»Nun, sind noch andre Zeugen da?«

Es sind keine andern Zeugen da.

»Also, meine Herren! Hier ist ein unbekannter Mann infolge Genusses einer zu großen Menge Opium tot aufgefunden worden. Er ist überwiesen, seit anderthalb Jahren aus Gewohnheit Opium in großen Mengen genossen zu haben. Wenn Sie aus den Zeugenaussagen schließen zu dürfen glauben, daß er Selbstmord begangen hat, so haben Sie dementsprechend Ihren Wahrspruch zu fällen. Wenn Sie meinen, es handle sich um einen Zufall, so haben Sie ein dementsprechendes Verdikt zu fällen.«

Man fällt das entsprechende Verdikt. Selbstmord aus Zufall. Kein Zweifel.

»Meine Herren, Sie sind entlassen. Guten Nachmittag.«

Während der Totenbeschauer seinen Überrock zuknöpft, geben er und Mr. Tulkinghorn dem zurückgewiesenen Zeugen in einer Ecke eine Privataudienz. Dieses allen menschlichen Liebreizes bare Geschöpf weiß nur, daß der Tote, den es an seinem gelben Gesicht und schwarzen Haar soeben erkannt hat, manchmal von den Kindern auf der Straße verhöhnt und verfolgt wurde. An einem kalten Winterabend, als es in einem Torwege nicht weit von seinem Straßenübergang vor Kälte zitternd gekauert, habe sich der Mann nach ihm umgesehen, es ausgefragt und erfahren, daß es keinen Freund auf der Welt habe. Darauf hätte er gesagt: Ich auch nicht. Nicht einen! und hätte ihm Geld zu einem Abendessen und einem Obdach für die Nacht gegeben.

Seitdem hätte der Mann oft mit ihm gesprochen und ihn gefragt, ob er in der Nacht schlafen könnte, wie er Kälte und Hunger vertrüge und ob er sich den Tod wünsche, und ähnliche seltsame Fragen. Und manchmal hätte er im Vorbeigehen zu ihm gesagt: »Ich bin heute so arm wie du, Jo.« Wenn er aber Geld gehabt, habe er immer welches gegeben – und sehr gern. (Wie der Knabe fest überzeugt sei.)

»Er war sehr gut gegen mich.« Jo wischt sich mit dem zerlumpten Ärmel die Augen. »Wann i n so als a Toter daliegen siech, möcht i, er könnts hören. Er war immer so gut gegen mich.«

Wie er die Treppe hinunterschlottert, drückt ihm Mr. Snagsby, der im Hinterhalt auf ihn wartet, eine halbe Krone in die Hand.

»Wenn ich einmal mit meiner kleinen Frau – ich meine mit einer Dame – an deinem Straßenübergang vorbeikomme«, sagt Mr. Snagsby, den Finger an der Nase, »dann kennst du mich nicht, hörst du!«

Die Geschworenen bleiben noch eine Zeitlang in ernstem Gespräch in der Nähe der »Sonne«. Später findet man ein halbes Dutzend von ihnen in eine Wolke von Tabakqualm gehüllt, die das Gastzimmer der »Sonne« durchräuchert; zwei trollen nach Hampstead und vier kommen überein, da halber Preis ist, ins Theater zu gehen und den Abend mit Austern zu beschließen. Der kleine Swills wird allerseits traktiert. Gefragt, was er von der Verhandlung halte, nennt er sie einen »krumpen Start« – er ist berühmt wegen seines Witzes. Der Wirt der »Sonne« empfiehlt den kleinen Swills, als er sieht, wie populär er ist, höchlichst den Geschworenen und dem Publikum und beteuert, daß er in charakteristischen Liedern nicht seinesgleichen habe und für seine Charaktergarderobe einen ganzen Wagen brauche.

So verschmilzt allmählich die »Sonne« in die schattige Nacht und strahlt gewaltig im Gaslicht. Die Stunde der Harmonischen Gesellschaft naht. Der Gentleman mit dem hohen künstlerischen Ruf setzt sich in den Präsidentenstuhl vis à vis dem kleinen Swills mit dem roten Gesicht; seine Freunde scharen sich um sie und unterstützen das Talent ersten Ranges. Im Zenit des Abends sagt der kleine Swills:

»Gentlemen, wenn Sie mir erlauben, will ich eine kurze Beschreibung einer wirklichen Szene aus dem Löben, deren Zeuge ich heute war, versuchön.« Großer Beifall und Ermunterung werden ihm. Er verläßt das Zimmer als Swills und kommt als Totenbeschauer wieder herein und sieht ihm nicht im geringsten ähnlich; er beschreibt die Totenschau mit Zwischenspiel auf dem Pianoforte mit dem Refrain: Tippy toi li doll, tippy toi lo doll, tippy toi li doll, Dee! den er dem Totenbeschauer in den Mund legt.

Das Klaviergeklimper schweigt endlich, und die harmonischen Freunde sinken in ihre Kissen.

Ruhe herrscht um den Einsamen, der jetzt in seiner letzten irdischen Behausung liegt, bewacht während der paar stillen Nachtstunden von den riesigen Augen der Fensterläden. Wenn die Mutter, an deren Busen der Verlassene einst als Kind geruht, die Augen empor zu ihr gerichtet und das weiche Händchen, kaum wissend, wie es den Nacken, zu dem es emporstrebte, umfassen sollte, ihn mit prophetischem Blick hier hätte liegen sehen können, wie unmöglich wäre ihr die Vision erschienen.

Wenn in schöneren Tagen das jetzt erloschene Feuer in seiner toten Brust einst für ein Weib glühte, das sein Bild im Herzen trug, wo ist dieses Herz in dieser Stunde, wo seine Asche die letzte Nacht über der Erde weilt?

Bei Mr. Snagsby in Cook’s Court herrscht heute nacht keine Ruhe. Dort mordet Guster den Schlaf, indem sie, wie Mr. Snagsby selbst zugibt – um nicht durch die Blume zu sprechen –, nicht ein Mal, sondern zwanzig Mal in Krämpfe fällt. Die Ursache ist, daß Guster ein empfindsames Herz und ein empfängliches Etwas im Busen trägt, das ohne Tooting und ihren Schutzheiligen vielleicht zur Einbildungskraft ausgewachsen wäre. Sei dem, wie es wolle, Mr. Snagsbys Bericht über die Totenschau hat zur Teezeit einen so überwältigenden Eindruck auf sie gemacht, daß sie um die Stunde des Abendessens, einen fliegenden holländischen Käse voraussendend, in die Küche stürzt und einen Anfall von ungewöhnlicher Dauer bekommt, der nur aufhört, um sogleich wieder von neuem anzufangen, wobei sie die kurzen Zwischenräume dazu benützt, Mrs. Snagsby in rührendem Tone zu bitten, ihr nicht zu kündigen, wenn sie wieder zu sich käme, und mit Aufforderungen an das ganze Haus ausfüllt, sie auf die Steinfliesen zu legen und ruhig zu Bett zu gehen. Und Mr. Snagsby sagt, als er endlich den Hahn in der kleinen Milchwirtschaft in Cursitor Street in seine selbstlose Ekstase über das Erscheinen des Tageslichts ausbrechen hört, mit einem langen Atemzuge, obgleich er sonst der geduldigste aller Menschen ist:

»Mistviech, ich hoffte schon, du seist tot.«

Warum der enthusiastische Vogel sich in so unerhörter Weise anstrengt, über etwas zu krähen, was für ihn nicht von der mindesten Bedeutung sein kann, ist schließlich seine Sache. Krähen doch auch Menschen bei verschiedenen öffentlichen Triumphgelegenheiten, ohne daß es sie etwas angeht. Jedenfalls, und das genügt, der Tag bricht an, der Morgen und der Mittag kommen.

Der Emsige und Erfahrene, der in dieser Eigenschaft richtig in der Morgenzeitung gestanden hat, erscheint mit seinem Gefolge von Armenhausbewohnern bei Mr. Krook und geleitet die Leiche unsres dahingeschiedenen lieben Bruders auf einen rings von Häusern umgebenen, pesthauchenden und leichenüberfüllten Kirchhof, wo den Leibern unsrer noch nicht dahingeschiedenen geliebten Brüder und Schwestern bösartige Krankheiten mitgeteilt werden, dieweil unsre andern gewissen geliebten Brüder und Schwestern, die sich auf Amtshintertreppen herumtreiben und leider noch nicht von uns geschieden sind, es sich sehr wohl sein lassen.

In ein abscheuliches Stück Boden, der einen Türken mit Grauen erfüllen, über den ein Kaffer schaudern würde, bringen sie unsern dahingeschiedenen lieben Bruder, auf daß er ein christliches Begräbnis empfange.

Wo Häuser von allen Seiten herabsehen, außer wo ein kleiner Tunnel von einem Hofe aus nach dem eisernen Gitter seinen Schlund öffnet, wo jede Verkommenheit des Lebens dicht neben den Toten und jedes giftige Element des Todes dicht neben dem Leben sich die Hand reichen, da versenken sie unsern lieben Bruder einen oder zwei Fuß tief in die Erde. Hier säen sie ihn in Fäulnis, damit er in Fäulnis wieder auferstehe als rächendes Gespenst am Krankenbett; ein beschämendes Zeugnis für künftige Zeiten, wie Zivilisation und Barbarei auf dieser prahlerischen Insel Arm in Arm gingen.

Komm, Nacht! Komm, Finsternis! Ihr könnt auf einem solchen Platz wie diesem nicht zu bald kommen und nicht lange genug bleiben! Kommt, ihr flackernden Lichter in den Fenstern scheußlicher Häuser und ihr Missetäter dahinter! Recht so, Gasflamme, daß du so trag über dem Eisengitter brennst, auf das die vergiftete Luft ihre schlüpfrige Hexensalbe niederschlägt! Ganz gut, daß du jedem Vorübergehenden zurufst: Sieh her!

Bei Einbruch der Dunkelheit kommt schlotternden Ganges eine Gestalt in den Tunnelhof geschlichen, an die Außenseite des eisernen Gittertors. Sie faßt das Tor mit den Händen und schaut zwischen den Stäben hindurch und bleibt so stehen eine kleine Weile lang.

Mit einem alten Besen, den sie auf der Schulter trägt, kehrt sie die Stufe und fegt den Torweg rein. Sie tut das sehr geschäftig und geschickt, blickt wieder eine kleine Weile hinein und geht dann.

Jo, bist du’s? Gut, gut! Wenn du auch ein zurückgewiesener Zeuge bist, der »nicht genau sagen kann«, was mit ihm eine mächtigere Hand als die der Menschen vorhat, steckst du doch nicht ganz in irdischer Finsternis. Es ist etwas wie ein ferner Lichtstrahl in der Begründung, die du murmelnd dafür angibst:

»Er is immer so gut gegen mich gwesen.«

12. Kapitel


12. Kapitel

Auf der Lauer

Endlich hat es aufgehört zu regnen in Lincolnshire, und Chesney Wold hat sich wieder ein Herz gefaßt. Mrs. Rouncewells Kopf steckt voll wirtschaftlicher Sorgen, denn Sir Leicester und Mylady kommen von Paris nach Hause. Die »Fashionable« hat es entdeckt und teilt die frohe Botschaft dem umnachteten England mit. Sie hat auch entdeckt, daß sie einen neuen glänzenden und auserwählten Kreis der élite der beau monde (die fashionablen Zeitungen sind schwach im Englischen und riesenstark im Französischen) auf dem historischen und gastlichen Familiensitz in Lincolnshire um sich sehen werden.

Zu Ehren der glänzenden und vornehmen Gesellschaft und nebenbei auch Chesney Wolds wegen ist der eingestürzte Brückenbogen im Park ausgebessert, und das Wasser, das sich jetzt in die gebührenden Schranken zurückgezogen hat und wieder anmutig überbrückt wird, macht sich in der Aussicht von dem Hause aus recht hübsch. Der klare, kalte Sonnenschein glitzert im raschelnden Wald und sieht billigend zu, wie der scharfe Wind die Blätter verstreut und das Moos trocknet. Er gleitet hinter dem Schatten der Wolken über den Wald hin und jagt sie den ganzen Tag lang und kann sie doch nicht erhaschen. Er sieht zu den Fenstern herein und bringt auf den Ahnenbildern Streifen und Flecken von Licht an, von denen die Maler sich nie haben träumen lassen. Querüber das Bild von Mylady über dem Prachtkamin malt er einen breiten Lichtschrägbalken, der von links hinab in den Herd fährt und ihn zu zerspalten scheint.

Durch denselben kalten Sonnenschein und denselben scharfen Wind fahren Mylady und Sir Leicester in ihrem Reisewagen heimwärts; Myladys Kammerzofe und Sir Leicesters Lakai sitzen in zärtlicher Gemeinschaft hinten. Unter beträchtlichem Geklingel und Peitschenknallen und zahlreichem Sichaufbäumen von zwei sattellosen Pferden und zwei Zentauren mit glasierten Hüten, Stulpenstiefeln und fliegenden Mähnen und Schweifen rasseln sie aus dem Hofe des Hotels Bristol auf den Place Vendôme hervor und traben zwischen der Sonnenschein- und schattenwechselnden Kolonnade der Rue de Rivoli und dem Garten des verhängnisreichen Palastes eines kopflosen Königspaars über den Place de la Concorde und die Elysäischen Felder durch das Sternentor aus Paris hinaus.

Um nur die Wahrheit zu sagen, sie können gar nicht schnell genug abreisen, denn selbst hier hat sich Lady Dedlock zu Tode gelangweilt. Konzert, Matinees, Oper, Theater, Spazierfahrt, nichts ist Mylady neu unter dieser abgenutzten Sonne. Erst vorigen Sonntag, wo arme Teufel fröhlich waren innerhalb der Stadt und in dem Palastgarten unter verschnittenen Bäumen und den Statuen mit ihren Kindern spielten oder auf den Elysäischen Feldern, noch elysäischer geworden durch künstliche Hunde und hölzerne Pferde, in Gassenbreite spazieren gingen oder draußen vor dem Tor um ganz Paris einen Kreis zogen von Tanzen, Liebelei, Weintrinken, Tabakrauchen, Gräberbesuchen, Billard-, Karten- und Dominospielen und unter Quacksalbern und anderm toten und lebendigen Abschaum, – erst vorigen Sonntag hätte Mylady in der Einsamkeit der Langweile und in den Klauen des Riesen Verzweiflung beinahe ihre eigne Zofe wegen deren guter Laune gehaßt.

Daher kann sie Paris jetzt nicht schnell genug verlassen. Seelische Ermüdung liegt vor ihr und hinter ihr – ihr Ariel hat einen Gürtel davon um die ganze Erde gelegt, den niemand lösen kann. Aber das einzige, wenn auch unzulängliche Heilmittel ist, immer von dem letzten Ort an einen andern zu fliehen. Also weg mit Paris! Man vertausche es mit endlosen Alleen und Queralleen winterlicher Bäume. Und wenn man wieder zum Vorschein kommt, so sei es einige Meilen weiter, wo das Sternentor nur mehr ein weißer, sonnenglänzender Fleck ist und die Stadt eine formlose, dunkle Masse in der Ebene, aus der sich zwei dunkle, viereckige Türme erheben, auf denen Licht und Schatten auf- und abwärts steigen wie die Engel in Jakobs Traum.

Sir Leicester ist zumeist in ruhevoller, selbstgefälliger Gemütsverfassung und langweilt sich selten. Wenn er sonst nichts andres zu tun hat, kann er immer seine eigne Größe betrachten. Es bedeutet eine große Annehmlichkeit für einen Mann, ein so unerschöpfliches Gebiet zu haben. Nachdem er seine Briefe gelesen hat, legt er sich in eine Wagenecke zurück und stellt Betrachtungen über seine Wichtigkeit in der »Gesellschaft« an.

»Sie haben diesen Morgen ungewöhnlich viel Briefe bekommen«, sagt Mylady nach einer langen Pause. Sie ist müde vom Lesen. Sie hat während der letzten zwanzig Meilen beinahe eine ganze Seite gelesen.

– Es steht aber nichts drin. Überhaupt nichts. –

»Ich glaube vorhin einen von Mr. Tulkinghorns langen Ergüssen gesehen zu haben.«

»Mylady sehen alles«, sagt Sir Leicester voll Bewunderung.

»Ach«, seufzt Mylady. »Er ist der langweiligste aller Menschen.«

»Er sendet mir – ich muß Mylady wirklich um Verzeihung bitten – eine Botschaft für Sie«, sagt Sir Leicester, sucht den Brief aus den übrigen heraus und öffnet ihn.

»Wir machten gerade Halt, um die Pferde zu wechseln, als ich an sein Postskript kam, und deswegen vergaß ich. Ich bitte um Entschuldigung.

Er schreibt…« Sir Leicester braucht so lange, sein Augenglas herauszunehmen und sich damit zurechtzufinden, daß Mylady eine etwas gereizte Miene annimmt. »Er schreibt hinsichtlich des Wegerechts… Ich bitte um Verzeihung, das war es nicht. Er schreibt… Ja! Hier ist’s. Er schreibt: ‚Ich bitte, mich Mylady, der, wie ich hoffe, die Luftveränderung wohlgetan hat, hochachtungsvoll zu empfehlen. Wollen Sie mir die Gunst erweisen, ihr zu sagen, da es vielleicht von Interesse für sie ist, daß ich ihr bei ihrer Rückkunft etwas in bezug auf die Person mitzuteilen habe, die das Affidavit in dem Kanzleiprozeß, das ihre Aufmerksamkeit so sehr erregte, kopiert hat. Ich habe sie gesehen.’«

– Mylady, vorwärts gebeugt, blickt zum Fenster hinaus. –

»So lautet die Nachricht«, schließt Sir Leicester.

»Ich möchte ein wenig zu Fuß gehen«, sagt Mylady plötzlich und blickt immer noch zum Fenster hinaus.

»Zu Fuß gehen?« wiederholt Sir Leicester in einem Ton des Erstaunens.

»Ich möchte ein wenig zu Fuß gehen«, wiederholt Mylady mit nicht mißzuverstehender Deutlichkeit. »Bitte, den Wagen halten zu lassen.«

Der Wagen hält. Der zärtliche Bediente springt vom Rücksitz, öffnet den Schlag und klappt den Wagentritt herunter, einer ungeduldigen Handbewegung Myladys gehorsam. Mylady steigt so rasch aus und geht so schnell, daß Sir Leicester trotz peinlichster Höflichkeit außerstande ist, ihr den Arm zu reichen, und zurückbleibt. Eine oder zwei Minuten verstreichen, ehe er sie einholt. Sie lächelt, sieht sehr schön aus, nimmt seinen Arm, geht ein paar hundert Schritt, ist sehr gelangweilt und nimmt ihren Sitz im Wagen wieder ein.

Das Gerassel und Geklapper wird den größten Teil von drei Tagen unter mehr oder weniger Schellengeklingel und Peitschenknallen, mehr oder weniger Aufbäumen der Zentauren und sattellosen Pferde fortgesetzt.

Die altadlige Höflichkeit, mit der sich das Ehepaar behandelt, bildet in den Hotels, in denen es absteigt, den Gegenstand allgemeiner Bewunderung.

»Wenn auch Mylord ein wenig alt für Mylady ist«, sagt Madame, die Wirtin zum »Goldenen Affen«, »und eigentlich ihr zärtlicher Vater sein könnte, so sieht man doch auf den ersten Blick, daß sie sich lieben.«

Man sieht, wie Mylord in seinem weißen Haar, den Hut in der Hand, Mylady aus dem Wagen und in den Wagen hilft. Man sieht, wie Mylady Sir Dedlocks Höflichkeit anerkennend hinnimmt, indem sie ihr anmutiges Haupt neigt und ihm die Fingerspitzen ihrer so vornehmen Hand überläßt! Es ist hinreißend!

Das Meer weiß große Männer nicht zu würdigen und schüttelt sie herum wie unbedeutende Plebejer. Es pflegt stets hart auf Sir Leicester einzuwirken und auf seinem Gesicht grüne Flecken wie auf Salbeikäse hervorzubringen und in seiner aristokratischen Konstitution erschreckliche Revolutionen zu verursachen. Das Meer bedeutet für ihn das Radikale in der Natur. Doch endlich, nach einer kurzen Rast der Erholung, bändigt seine Würde auch den Ozean, und er reist mit Mylady weiter nach Chesney Wold und übernachtet nur einmal in London auf dem Wege nach Lincolnshire.

Durch denselben kalten Sonnenschein, der immer kälter wird, je mehr sich der Tag neigt, und durch denselben scharfen Wind, der immer schärfer wird, wie die einzelnen Schatten der kahlen Bäume im Wald zusammenfließen und der Geisterweg an seiner westlichen Ecke von einer Feuersäule am Himmel erhellt wird und sich auf die kommende Nacht gefaßt macht – fahren sie in den Park ein.

Die Krähen in ihren luftigen Häusern in der Ulmenallee scheinen die Frage zu besprechen, wer in dem unten dahinrollenden Wagen sitzt; einige scheinen ganz einverstanden, daß Sir Leicester und Mylady angekommen sind, andre streiten mit den Unzufriedenen, die es nicht zugeben wollen; dann sind alle einig, die Frage als erledigt zu betrachten, plötzlich brechen sie aber wieder in heftigen Streit aus, aufgereizt durch einen hartnäckigen, verschlafenen Vogelkameraden, der noch ein letztes widerspruchsvolles Krächzen hören ließ.

Der Reisewagen kümmert sich nicht darum und rollt auf das Haus zu, wo durch die Fenster warme Feuer scheinen, aber nicht genug an Zahl und nicht so hell, um der dunkeln Masse der Front den Anstrich des Bewohntseins zu geben. Aber der glänzende und auserwählte Kreis wird das bald ändern.

Mrs. Rouncewell steht bereit und erwidert Sir Leicesters gewohnten Händedruck mit einem tiefen Knicks.

»Wie geht’s Ihnen, Mrs. Rouncewell? Es freut mich, Sie zu sehen.«

»Ich hoffe, ich habe die Ehre, Sie in bester Gesundheit bewillkommnen zu dürfen, Sir Leicester.«

»In bestem Wohlbefinden, Mrs. Rouncewell.«

»Mylady sieht ausgezeichnet wohl aus«, sagt Mrs. Rouncewell mit einem zweiten Knicks.

Mylady gibt, ohne viel Worte zu verschwenden, zu verstehen, daß sie sich so langweilig wohl befinde, wie sie nur hoffen kann.

Rosa steht im Hintergrund hinter der Wirtschafterin, und Mylady, die eine schnelle Beobachtungsgabe nicht verlernt hat, was sie auch sonst alles überwunden haben mag, fragt:

»Wer ist das Mädchen?«

»Eine junge Schülerin von mir, Mylady – Rosa.«

»Kommen Sie her, Rosa!« Lady Dedlock winkt ihr fast mit einem Schein von Interesse. »Wissen Sie, wie hübsch Sie sind, mein Kind?« fragt sie und berührt die Schulter des Mädchens mit zwei Fingern.

Sehr beschämt sagt Rosa: »Nein, wenn Sie erlauben, Mylady!« und blickt empor und blickt wieder zu Boden, weiß nicht, wohin schauen, und sieht dadurch noch hübscher aus.

»Wie alt sind Sie?«

»Neunzehn, Mylady.«

»Neunzehn«, wiederholt Mylady gedankenvoll. »Nehmen Sie sich in acht, daß man Ihnen nicht mit Schmeicheleien den Kopf verdreht.«

»Ja, Mylady.«

Mylady berührt das Grübchen in der Wange des Mädchens mit ihren zarten behandschuhten Fingern und geht weiter bis an den Fuß der Treppenflucht, wo Sir Leicester ritterlich ihrer harrt. Ein alter Dedlock stiert aus einem Bilde, so groß wie im Leben und ebenso schläfrig, ratlos herunter, als ob er nicht wüßte, was er sich denken sollte… Wahrscheinlich ist das sein gewöhnlicher Geisteszustand gewesen schon in den Tagen der Königin Elisabeth.

Den ganzen Abend weiß Rosa in dem Zimmer der Wirtschafterin weiter nichts zu tun als das Lob Lady Dedlocks zu singen. Sie sei so leutselig, so anmutig, so schön, so elegant, habe eine so süße Stimme, und ihre Berührung durchzucke einen, daß man das Gefühl gar nicht los werden könne. Mrs. Rouncewell bestätigt das alles nicht ohne Stolz und ist nur hinsichtlich des Punktes Leutseligkeit nicht so ganz derselben Meinung. Mrs. Rouncewell weiß das nicht so ganz gewiß. Gott behüte, daß sie nur eine Silbe zum Nachteil irgend eines Mitglieds dieser hervorragenden Familie sagen sollte, und vor allem nicht über Mylady, der die ganze Welt zu Füßen liegt, aber wenn Mylady nur ein wenig freier sein wollte, nicht gar so kalt und zurückhaltend, meint Mrs. Rouncewell, würde sie leutseliger sein.

»Es ist fast schade«, setzt Mrs. Rouncewell hinzu, – fast, denn es würde an Gottlosigkeit grenzen, zu denken, es könnte in einer so ausdrücklich von der Vorsehung geschaffenen Einrichtung wie den Dedlocks etwas besser sein, als es ist – »daß Mylady keine Familie hat. Wenn sie eine Tochter hätte, eine erwachsene junge Dame, für die sie Interesse fühlte, so glaube ich, besäße sie die einzige Eigenschaft, die ihr zur Vollkommenheit noch fehlt.«

»Wäre dann vielleicht ihr Stolz nicht noch größer, Großmutter?« fragt Watt, der inzwischen zu Hause gewesen, aber gleich wieder zurückgekehrt ist, ein so guter Enkel ist er.

»Größer und am größten, mein Lieber«, verweist ihn die Haushälterin mit Würde, »sind Worte, die ich mir auf Mylady anzuwenden nicht erlauben darf, nicht einmal angewendet hören will.«

»Ich bitte um Entschuldigung, Großmutter. Aber sie ist doch stolz, nicht wahr?«

»Wenn sie stolz ist, so hat sie allen Grund dazu. Die Familie Dedlock hat stets Grund dazu.«

»Nun, so hoffe ich«, sagt Watt, »daß sie aus ihrem Gebetbuch eine gewisse Stelle, die wohl nur die gewöhnlichen Leute angeht, über Stolz und Hoffart ausstreicht. Entschuldige, Großmutter! Es war nur ein Spaß.«

»Sir Leicester und Lady Dedlock, mein Lieber, sind keine passenden Zielscheiben für Spaße.«

»An Sir Leicester ist jedenfalls nichts Spaßiges«, sagt Watt. »Er ist kein Springinsfeld, und ich bitte ihn demütig um Verzeihung. Ich hoffe, Großmutter, daß die Anwesenheit der Familie und ihrer Gäste für mich kein Hindernis bildet, noch ein paar Tage wie jeder andre Reisende im Gasthof zu bleiben.«

»Natürlich, nicht im mindesten.«

»Das freut mich, weil ich – weil ich ein unwiderstehliches Verlangen fühle, meine Bekanntschaft mit dieser schönen Nachbarschaft zu erweitern.«

Er sieht dabei zufällig Rosa an, die deshalb die Augen senkt und wirklich sehr verlegen ist.

Aber nach dem alten Aberglauben sollten Rosas Ohren brennen und nicht ihre frischen Wangen, denn Myladys Kammerzofe hält in diesem Augenblick mit erstaunlicher Energie eine lange Rede über sie.

Myladys Kammerzofe ist eine Französin von zweiunddreißig Jahren aus den südlichen Provinzen zwischen Avignon und Marseille; ein großäugiges, braunes Frauenzimmer mit schwarzem Haar, die ganz hübsch wäre ohne einen gewissen katzenhaften Zug um die Lippen und eine gewisse unangenehme Gespanntheit des Gesichtes, die den Mund zu gierig erscheinen und die Stirn zu sehr hervortreten läßt. Ihr Körperbau hat etwas unbeschreiblich Scharfes und Hageres und sie selbst eine eigne Art, lauernd aus den Augenwinkeln zu schielen, ohne den Kopf zu drehen, die sie sich besser schenken könnte, besonders, wenn sie bei übler Laune und in der Nähe von Messern ist. Trotz des guten Geschmacks in ihrer Kleidung und sonstigen Toilette stechen diese Eigenschaften so hervor, daß sie wie eine zwar sehr saubere, aber doch nicht vollständig gezähmte Wölfin herumzugehen scheint.

Sie ist in allen für ihre Stellung nötigen Kenntnissen wohl bewandert und spricht überdies die englische Sprache fast wie eine Engländerin, und es fehlt ihr daher nicht an Worten, um ihrem Zorn darüber, daß Rosa Myladys Aufmerksamkeit erregt hat, ausgiebig Luft machen zu können, und sie entströmen ihr während des Essens mit so ingrimmigem Hohn, daß der zärtliche Bediente, der ihr Gesellschaft leistet, sich geradezu erleichtert fühlt, als sie bei der Mehlspeise das Messer weglegt und wieder zum Löffel greift.

Hahaha! Sie, Hortense, ist seit fünf Jahren in Myladys Diensten, und diese hat sie sich immer zehn Schritt vom Leibe gehalten; aber die Puppe wird geliebkost!… Jawohl, geliebkost!… Kaum, daß Mylady angekommen ist! Hahaha! »Und wissen Sie, wie hübsch Sie sind mein Kind?« – »Nein, Mylady!« – Da hat sie Recht! »Und wie alt sind Sie, mein Kind?« »Und nehmen Sie sich in acht, daß man Ihnen nicht mit Schmeicheleienden Kopf verdreht.« O wie drollig! Es ist wirklich überwältigend.

Kurz, Mademoiselle Hortense kann es nicht verwinden, gibt sich tagelang bei Tisch selbst unter ihren Landsleuten und den Zofen, die mit der Schar von Gästen kommen, dem stillen Genuß dieses scherzhaften Themas hin – einem Genuß, der sich in der ihr eigentümlichen gemütvollen Weise durch eine noch größere Gespanntheit des Gesichts, noch schärfer zusammengepreßte Lippen und schielenden Blick ausdrückt. Ihre Vorliebe für solche Art Humor reflektiert sich häufig in Myladys Spiegeln, wenn Mylady nicht zugegen ist.

Sämtliche Spiegel im Hause sind übrigens jetzt in Tätigkeit. Viele von ihnen nach langer Ruhe. Es sehen aus ihnen schöne Gesichter hervor, albern lächelnde Gesichter, junge Gesichter, Gesichter von siebzig Jahren, die durchaus nicht alt sein wollen, die ganze Gesellschaft von Gesichtern, die ein oder zwei Januarwochen in Chesney Wold zubringen wollen und denen die fashionable Zeitung, dieser gewaltige Nimrod vor dem Herrn, mit Adlerblick von dem Tage an, wo sie in St. James in Sicht kommen, bis zu dem, wo sie der Tod niederhetzt, auf den Fersen ist.

Der Edelsitz in Lincolnshire ist lauter Leben. Bei Tage hört man Schüsse und Stimmen in den Wäldern, Reiter und Wagen beleben die Parkwege, Lakaien und Diener füllen das Dorf und das Wirtshaus. Des Nachts sehen die Fensterreihen, wenn man sie von fernen Waldlichtungen in dem langen Salon, wo Myladys Bild über dem großen Prachtkamin hängt, erblickt, aus wie eine Reihe Juwelen in schwarzer Fassung. Sonntags wird die kleine, kalte Kirche fast erwärmt von so viel hoher Gesellschaft, und der dumpfige Geruch des Dedlockstaubes geht ganz in zartem Parfüm unter.

Der glänzende und vornehme Kreis umfaßt nicht wenig Aufwand an Erziehung, Verstand, Mut, Ehre, Schönheit und Tugend, aber dennoch leidet er an einem kleinen Mangel – trotz seiner unermeßlichen Vorzüge. Was kann das sein?

Etwa Dandytum? Es ist kein König Georg IV. mehr da – wie schade –, um in der Dandymode den Ton anzugeben. Die steifgestärkten weißen Halsbinden, die Röcke mit kurzen Taillen, die falschen Waden, die Schnürleiber sind verschwunden. Es gibt keine Karikaturen solch weiblicher Exquisiten mehr, die in der Opernloge im Übermaß von Entzücken in Ohnmacht fallen und von andern zeremoniösen Geschöpfen vermittelst langhalsiger Riechfläschchen wieder zum Leben erweckt werden, kein Beau ist mehr da, der vier Männer braucht, die ihn in seine Buckskins schütteln, der zu allen Hinrichtungen geht, aber von Selbstvorwürfen gepeinigt wird, wenn er einmal eine ganze Erbse gegessen hat.

Aber ist vielleicht doch Dandytum in dem glänzenden und vornehmen Kreise vorhanden? Dandytum von einer schädlicheren Art als das von der Oberfläche verschwundene und mit weniger harmlosen Dingen beschäftigt, als mit gestärkten weißen Halstüchern wundervolle Knoten zu schürzen und die eigne Verdauung einzuschränken, Dinge, die einen vernünftigen Menschen eigentlich nichts angehen.

Jawohl, es ist nicht zu leugnen. Es sind in Chesney Wold in dieser Januarwoche einige Damen und Herren da von der neuesten Mode – in der Religion zum Beispiel –, eine Gesellschaft, die in geziert ergriffener Sehnsucht nach Gemütsbewegung im Verlauf einer kleinen oberflächlichen Plauderei ein für allemal festgestellt hat, daß es dem gemeinen Volk an Glauben überhaupt fehle.

Es gibt auch Damen und Herren hier von einer andern Mode, die nicht so neu, aber sehr elegant ist, und die überein gekommen sind, einen glatten Firnis über die Welt zu streichen, damit die rauhe Wirklichkeit nicht so in die Augen steche. Für sie muß alles nett sein und unaufdringlich. Sie haben herausgefunden, wo es beständig fehlt. Sie dürfen über nichts weinen und über nichts lachen. Sie dürfen sich nicht durch Ideen stören lassen – sogar die schönen Künste müssen ihnen in Puder und rückwärtsschreitend wie der Lordkammerherr aufwarten –, müssen die Putzmacher- und Schneidermodelle früherer Jahrhunderte anziehen und ganz besonders Sorge tragen, daß sie sich nicht von dem lebendigen Geist der Zeit beeinflussen lassen.

Da ist zum Beispiel Lord Boodle, der bei seiner Partei großen Ruf genießt, der erfaßt hat, was Staatsdienst heißt, und Sir Leicester Dedlock nach dem Diner ernsthaft versichert, er wisse wirklich nicht, wo die gegenwärtige Zeit hinaus wolle. Eine Debatte sei nicht mehr, was sie in früherer Zeit gewesen; das Unterhaus sei nicht mehr, was es früher gewesen. Selbst ein Kabinett sei jetzt ganz anders als früher. Er nehme mit Erstaunen wahr, daß, im Fall das gegenwärtige Ministerium gestürzt werden sollte, die Krone bei der Bildung eines neuen Kabinetts in ihrer Wahl auf Lord Coodle und Sir Thomas Doodle beschränkt sei – vorausgesetzt, daß der Herzog von Foodle nicht in einem Kabinett mit Goodle sitzen könne, was man nach dem Bruch infolge der Affäre Hoodle annehmen müsse. Wenn man nun das Ministerium des Innern und die Führung des Oberhauses Joodle überlasse, die Schatzkammer Koodle, die Kolonien Loodle und das Auswärtige Amt Moodle, was bleibe dann für Noodle? Den Vorsitz im Ministerrat könne man ihm nicht anbieten, der sei für Poodle reserviert. Die Domänen und Liegenschaften könne man ihm nicht anvertrauen, die langten kaum für Quoodle. Was folge daraus? Daß das Vaterland zugrunde geht. Und das leuchtet dem Patriotismus Sir Leicester Dedlocks ein, weil man keine Stelle für Doodle hat.

In andrer Hinsicht beweist Hochwohlgeboren William Buffy, Parlamentsmitglied, einem ihm gegenüber Sitzenden, daß der Untergang des Vaterlandes – über die Tatsache ist gewiß kein Zweifel, es handelt sich nur um die Form – Cuffy zuzuschreiben ist. Wenn man Cuffy, als er zuerst ins Parlament gewählt wurde, gebührend behandelt und ihn verhindert hätte, zu Duffy überzugehen, so würde man ihn mit Fuffy haben alliieren können, hätte die gewichtige Unterstützung eines so gewiegten Redners wie Guffy sich gesichert, wäre bei den Wahlen durch den großen Einfluß und Reichtum Huffys unterstützt worden, hätte für drei Grafschaften Juffy, Kuffy und Luffy ins Parlament gebracht und das Kabinett durch die Amtserfahrung und das geschäftliche Talent Muffys gekräftigt. Das wäre alles geschehen, anstatt daß man jetzt von der bloßen Laune Cuffys abhinge.

Über diesen Punkt und einige untergeordnete Fragen herrschen Meinungsverschiedenheiten. Aber es ist dem glänzenden und vornehmen Kreis vollkommen klar, daß es sich nur um Boodle und seinen Anhang und um Buffy und seinen Anhang handeln kann. Das sind die großen Schauspieler, für die allein die Bühne da ist. Allerdings ist auch noch das Volk da – eine gewisse große Menge von Überzähligen, die gelegentlich angeredet werden und für die Vivats und Hochs und den Chor wie auf der Theaterbühne reserviert sind –, aber Boodle und Buffy, ihre Anhänger und Familien, ihre Erben, Exekutoren, Administratoren und Kuratoren sind die gebornen ersten Helden, Direktoren und Regisseure, und sonst darf niemand auf den Brettern erscheinen.

Auch darin liegt vielleicht mehr Dandytum in Chesney Wold, als dem glänzenden vornehmen Kreis auf die Dauer guttun wird. Es ist bei den ruhigsten und höflichsten Kreisen genau so wie mit dem Kreise, den der Nekromant um sich zieht – man sieht sehr seltsame Erscheinungen sich außerhalb desselben bewegen. Aber mit dem Unterschied, daß Wirklichkeiten leichter als Phantome den Kreis durchbrechen können.

Chesney Wold ist jedenfalls übervoll; so voll, daß im Busen der schlechter untergebrachten Kammerzofen ein brennendes Gefühl der Zurücksetzung glimmt, das nicht auszulöschen ist.

Nur ein Zimmer steht leer. Es ist ein Turmzimmer der dritten Verdienstklasse, einfach aber behaglich ausgestattet, von altmodischem geschäftsmäßigem Aussehen. Es ist Mr. Tulkinghorns Zimmer, das niemals einem andern eingeräumt wird, da er zu jeder Zeit kommen kann.

Vorläufig ist er noch nicht da. In seiner stillen Art pflegt er bei schönem Wetter von dem Dorfe her durch den Park zu gehen, in diesem Zimmer zu erscheinen, als wenn er es nie verlassen hätte, einen Diener zu beauftragen, Sir Leicester seine Ankunft zu melden, falls man seiner bedürfen sollte, und zehn Minuten vor dem Diner im Schatten der Bibliothekstür aufzutauchen. Er schläft in seinem Turm mit dem klagenden Flaggenstock über denn Haupte, und vor seinem Fenster dehnt sich ein flaches, bleigedecktes Dach, wo man bei schönem Morgenwetter vor dem Frühstück seine schwarze Gestalt herumspazieren sehen kann wie eine gigantische Krähe.

Jeden Tag vor dem Diner sieht sich Mylady nach ihm in der Dämmerung der Bibliothek um. Aber er ist nicht da. Jeden Tag beim Diner wirft Mylady einen Blick nach dem untern Ende der Tafel und sucht den leeren Platz, der ihn erwarten würde, wenn er schon angekommen wäre; aber es ist kein leerer Platz da. Jeden Abend fragt Mylady gelegentlich ihre Zofe:

»Ist Mr. Tulkinghorn angekommen?«

Jeden Abend lautet die Antwort:

»Nein, Mylady, noch nicht.«

Eines Abends, während sich Mylady das Haar aufbinden läßt, versinkt sie nach dieser Antwort in tiefes Grübeln, bis sie im Spiegel neben ihrem sinnenden Gesicht ein paar scharf beobachtende dunkle Augen erblickt.

»Wollen Sie sich gefälligst um Ihre Obliegenheiten kümmern«, sagt Mylady zu dem Spiegelbild Hortenses. »Sie können ihre Schönheit bei einer andern Gelegenheit bewundern.«

»Pardon! Ich bewundere Myladys Schönheit.«

»Die brauchen Sie gar nicht zu bewundern«, sagt Mylady verweisend.

Endlich, eines Nachmittags, kurz vor Sonnenuntergang, als die bunten Gruppen, die während der letzten paar Stunden den Geisterweg belebten, sich zerstreut haben und nur Sir Leicester und Mylady noch auf der Terrasse verweilen, erscheint Mr. Tulkinghorn. Er nähert sich mit seinem gewohnten gemessenen Schritt, der niemals schneller und niemals langsamer wird. Er trägt seine übliche ausdruckslose Maske und verbirgt Familiengeheimnisse in jedem Glied seines Körpers und jeder Falte seines Anzugs. Ob wirklich seine ganze Seele den Großen der Erde gewidmet ist oder sich nur auf die Dienstleistungen, die er sich bezahlen läßt, beschränkt, ist sein persönliches Geheimnis. Er bewahrt es, wie er die Geheimnisse seiner Klienten bewahrt; er ist in dieser Sache sein eigner Klient und wird sich nie verraten.

»Wie geht es Ihnen, Mr. Tulkinghorn?« fragt Sir Leicester und streckt seine Hand aus.

Mr. Tulkinghorn befindet sich vollkommen wohl.

Sir Leicester und Mylady befinden sich ebenfalls sehr wohl. Alles höchst zufriedenstellend. Der Advokat geht, die Hände auf dem Rücken, neben Sir Leicester auf der Terrasse auf und ab. Mylady auf der andern Seite.

»Wir erwarteten Sie schon früher«, sagt Sir Leicester. Eine sehr gnädige Bemerkung. Das heißt soviel wie: Mr. Tulkinghorn, wir denken an Sie, selbst wenn Sie nicht hier sind und uns durch Ihre Anwesenheit an Ihre Existenz erinnern. Sie sehen, Sir, wir widmen Ihnen einen Teil unsrer Gedanken.

Mr. Tulkinghorn weiß das; er neigt das Haupt und sagt, er fühle sich außerordentlich verbunden.

»Ich wäre eher gekommen, wenn mich nicht die Prozesse zwischen Ihnen und Boythorn so sehr in Anspruch genommen hätten.«

»Ein sehr zügelloser Charakter«, bemerkt Sir Leicester mit Strenge. »Ein außerordentlich gefährlicher Mann für die menschliche Gesellschaft. Ein Mann von sehr niedriger Denkungsweise.«

»Er ist starrköpfig«, bestätigt Mr. Tulkinghorn.

»Ganz natürlich ist ein solcher Mensch starrköpfig«, sagt Sir Leicester und macht ein entsprechendes Gesicht. »Das wundert mich gar nicht.«

»Die einzige Frage ist nun«, fährt der Advokat fort, »ob Sie in einer Hinsicht nachgeben wollen.«

»Nein, Sir. Ausgeschlossen. Ich, nachgeben?«

»Ich meine keinen Punkt von Wichtigkeit. Natürlich würden Sie darin nicht nachgeben. Ich meine in einem nebensächlicheren Punkt.«

»Mr. Tulkinghorn«, erwidert Sir Leicester, »es kann zwischen mir und Mr. Boythorn keinen nebensächlichen Punkt geben. Wenn ich noch weiter gehe und sage, daß ich nicht begreife, wie irgendeins meiner Rechte ein nebensächlicher Punkt sein kann, so spreche ich nicht von mir allein, sondern in Bezug auf die Familientradition, die aufrecht zu erhalten mir obliegt.«

Mr. Tulkinghorn neigt wieder das Haupt.

»Ich bin jetzt instruiert«, sagt er. »Mr. Boythorn wird uns viel Ungelegenheiten machen.«

»Es liegt in der Natur eines solchen Charakters, Mr. Tulkinghorn, Unannehmlichkeiten zu bereiten. Ein ausnehmend übeldenkender, rebellischer Mensch. Ein Mensch, der vor fünfzig Jahren wahrscheinlich in Old-Bailey wegen demagogischer Umtriebe vor Gericht gestellt und streng bestraft worden wäre… Wenn man ihn nicht«, fügt Sir Leicester nach einer kurzen Pause hinzu, »gehenkt und gevierteilt hätte.«

– Sir Leicester scheint seine stolze Brust von einer Last zu befreien, indem er dies Todesurteil ausspricht. Das Aussprechen scheint ihm nach der wirklichen Vollstreckung des strengen Spruchs noch das beste zu sein. –

»Aber es wird Abend«, sagt er, »und Mylady könnte sich erkälten. Wollen wir vielleicht hineingehen?«

Als sie sich der Türe der Halle zuwenden, redet Lady Dedlock Mr. Tulkinghorn an:

»Sie ließen mir etwas über die Person sagen, nach deren Handschrift ich mich gelegentlich erkundigt habe. Es sieht Ihnen sehr ähnlich, daß Sie die Sache im Gedächtnis behielten; ich hatte sie schon ganz vergessen. Ihr Brief erinnerte mich wieder daran. Ich weiß nicht mehr, welche Ideenassoziation ich mit der Handschrift verbunden haben mag. Aber jedenfalls hatte ich eine dabei.«

»Wirklich?«

»O ja«, sagt Mylady leichthin. »Ich glaube, es muß irgendein Gedanke damit verbunden gewesen sein. Und Sie haben sich also wirklich die Mühe gegeben, den Schreiber dieses Dinges ausfindig zu machen…

Was war es gleich… Des Affidavits?«

»Ja.«

»Wie komisch!«

Sie treten in ein düsteres Frühstückszimmer im Erdgeschoß, das während des Tages von zwei tiefnischigen Fenstern erhellt wird. Es ist jetzt Zwielicht. Das Feuer glänzt hell an der getäfelten Wand und blaß auf den Fensterscheiben, hinter denen durch sein kaltes Spiegelbild die noch kältere Landschaft im Winde draußen zittert und ein grauer Nebel langsam einherkriecht: Der einzige Wanderer außer dem Wolkenheer.

Mylady ist in einem großen Lehnstuhl in der Kaminecke hingegossen, und Sir Leicester nimmt in einem andern großen Sessel ihr gegenüber Platz. Der Advokat steht vor dem Feuer und hält die Hand auf Armlänge vor, um sein Gesicht zu beschatten. Er blickt über den Arm auf Mylady.

»Ja«, sagt er, »ich erkundigte mich nach dem Mann und fand ihn. Und was das Seltsamste ist, ich fand –«

»– daß er durchaus keine ungewöhnliche Person ist, fürchte ich«, unterbricht ihn Lady Dedlock schmachtend.

»Ich fand ihn tot!«

»O Gott«, wehrt Sir Leicester Dedlock ab. Nicht so sehr von der Tatsache erschüttert als darüber, daß dergleichen hier erwähnt wird.

»Man wies mich nach seiner Wohnung – einem elenden, armseligen Ort –, und ich fand ihn tot.«

»Sie werden entschuldigen, Mr. Tulkinghorn«, bemerkt Sir Leicester, »ich glaube, je weniger von so etwas gesprochen wird –«

»Bitte, Sir Leicester, lassen Sie mich die Geschichte zu Ende hören«, unterbricht ihn Mylady. »Die Geschichte paßt vortrefflich für die Dämmerstunde. Wie schrecklich! Tot?«

Mr. Tulkinghorn bestätigt es abermals durch ein Kopfnicken. »Ob durch eigne Hand –«

»Auf Ehre!« ruft Sir Leicester. »Wahrhaftig –«

»Bitte lassen Sie mich die Sache zu Ende hören«, sagt Mylady.

»Wie Sie wünschen, Mylady, aber ich muß sagen –«

»Nein, Sie dürfen nichts sagen… Fahren Sie fort, Mr. Tulkinghorn.«

Sir Leicester gibt in seiner Galanterie nach, obgleich er innerlich fühlt, daß solche Unsauberkeiten den obern Klassen vorzusetzen – wahrhaftig –

»Ich wollte sagen«, fängt der Advokat mit unerschütterlicher Ruhe wieder an, »daß ich außerstande bin, Ihnen zu berichten, ob er durch eigne Hand gestorben ist oder nicht. Eigentlich müßte ich einen andern Ausdruck gebrauchen, denn er ist unzweifelhaft durch eigne Hand gestorben, wenn es sich auch nicht aufklären ließe, ob er vorsätzlich oder unabsichtlich gehandelt hat. Die Totenschau sprach sich dahin aus, daß er sich zufällig vergiftet habe.«

»Und was für eine Art Mensch war der Beklagenswerte?« fragt Mylady.

»Das ist sehr schwer zu sagen«, gibt der Advokat kopfschüttelnd zur Antwort. »Er hatte in so herabgekommenen Verhältnissen gelebt und sah mit seiner zigeunerhaften Gesichtsfarbe und seinem wirren schwarzen Haar und Bart so vernachlässigt aus, daß man ihn für den Gemeinsten der Gemeinen hätte halten mögen. Der Arzt jedoch war der Meinung, daß er früher etwas Besseres gewesen sein müßte.«

»Wie hieß der Unglückliche?«

»Er hieß so, wie er sich selbst nannte, aber niemand wußte seinen wirklichen Namen.«

»Auch keiner von denen, die ihn gepflegt haben?«

»Es hat ihn niemand gepflegt. Man fand ihn tot. Vielmehr ich fand ihn tot.«

»Gab es keinen Anhaltspunkt, etwas über ihn zu erfahren?«

»Nein; es war«, sagt der Advokat nachdenklich, »ein alter Mantelsack da, aber… Nein, es fanden sich keine Papiere vor.«

Während dieses ganz kurzen Zwiegesprächs sehen sich Lady Dedlock und Mr. Tulkinghorn ohne die geringste Veränderung in ihrem gewöhnlichen Verhalten zueinander unverwandt an – wie es vielleicht bei der Besprechung eines so ungewöhnlichen Themas natürlich ist. Sir Leicester hat mit dem typischen Ausdruck des Dedlocks auf der Treppe ins Feuer gestarrt. Als die Geschichte zu Ende ist, protestiert er wieder vornehm und betont, da es ganz klar sei, daß der arme Teufel in Myladys Seele unmöglich Erinnerungen erwecken könne – wenn er nicht etwa Bettelbriefe geschrieben habe –, er hoffe nichts mehr von einem Thema zu hören, das Myladys Stellung so fern liege.

»Allerdings eine Schauergeschichte«, sagt Mylady und sammelt ihre Mäntel und Pelze um sich, »aber man fühlt für einen Augenblick ein Interesse dafür. Haben Sie die Güte, Mr. Tulkinghorn, mir die Türe zu öffnen.«

Mr. Tulkinghorn gehorcht ehrerbietig und hält sie offen, während Mylady hinausgeht. Sie geht mit ihrer gewöhnlichen abgespannten Miene und gleichgültigen Grazie dicht an ihm vorüber. Sie sehen sich wieder beim Diner – auch am nächsten Tag – und später Tag für Tag. Lady Dedlock ist immer dieselbe erschöpfte Göttin, umgeben von Anbetern und der furchtbaren Gefahr ausgesetzt, zu Tode gelangweilt zu werden, selbst, wenn sie auf ihrem eignen Altar thront.

Mr. Tulkinghorn ist immer noch dieselbe stumme Schublade für hochadlige Vertrauensmitteilungen, so gar nicht an seinem Platz und doch so vollkommen zu Hause. Sie scheinen so wenig Rücksicht aufeinander zu nehmen, wie nur zwei Leute, die in ein und demselben Haus wohnen, aufeinander nehmen können; aber ob jeder den andern beobachtet, belauert und im Verdacht hat, daß er einen wichtigen, geheimen Gedanken verberge; ob jeder immer gerüstet ist, sich nie vom andern überrumpeln zu lassen, was jeder darum geben würde, um zu wissen, wieviel der andre weiß, – alles das liegt in ihrem tiefsten Herzen verborgen.

13. Kapitel


13. Kapitel

Esthers Erzählung

Wir berieten viel, was Richard werden sollte; zuerst ohne Mr. Jarndyce, wie er gewünscht hatte, und dann mit ihm; aber es dauerte sehr lange, ehe wir nur einigermaßen vorwärts gekommen waren.

Richard sagte, er sei zu allem bereit. Wenn Mr. Jarndyce fürchtete, er könne für den Flottendienst schon ein bißchen zu alt sein, sagte Richard, er habe sich das auch schon gedacht und es sei leicht möglich. Wenn Mr. Jarndyce ihn fragte, was er von der Armee halte, sagte Richard, er habe auch schon daran gedacht und es sei keine üble Idee. Wenn Mr. Jarndyce ihm den Rat gab, sich selbst einmal ernstlich die Frage vorzulegen, ob seine alte Vorliebe für die See nur eine gewöhnliche knabenhafte Neigung oder ein echter, innerer Impuls sei, so gab Richard zur Antwort, er habe sich die Frage schon oft vorgelegt, könne darüber aber nicht ins reine kommen.

»Wieviel an dieser Unschlüssigkeit in seinem Charakter«, sagte Mr. Jarndyce zu mir, »die unglaubliche Häufung von Ungewißheit und Indielängeziehen, mit der er von seiner Geburt an zu tun hatte, die Schuld trägt, wage ich nicht zu sagen, aber daß der Kanzleiprozeß außer seinen übrigen Sünden auch für einen Teil dafür verantwortlich ist, sehe ich deutlich. Es hat in ihm eine Gewohnheit erzeugt oder genährt, alles hinauszuschieben und sich auf Zufälle aller Art zu verlassen oder alles halbfertig und verwirrt liegen zu lassen. Selbst der Charakter älterer und gesetzterer Personen kann durch Verhältnisse und Umgebung Veränderungen erleiden. Es hieße übers Ziel schießen, wenn man von einem Jüngling, dessen Charakter noch in der Ausbildung begriffen ist, das Gegenteil verlangen wollte.«

Ich fühlte, wie richtig das war, obgleich es mir innerlich beklagenswert schien, daß Richards Erziehung diesen Einflüssen nicht entgegengewirkt und nicht mehr für die Ausbildung seines Charakters getan hatte. Er war acht Jahre in die Schule gegangen und konnte lateinische Verse aller Art auf die bewunderungswürdigste Weise machen. Aber niemals schien sich jemand die geringste Mühe gegeben zu haben, zu erfahren, zu welchem Beruf er am meisten hinneige, welcher Art seine Schwächen seien oder welche Wissenschaft am besten für ihn passe. Ich dachte mir, es würde Richard mehr genützt haben, wenn jemand ihn etwas fleißiger studiert hätte, anstatt ihn die Fähigkeit, Verse so außerordentlich gründlich zu drechseln, zu lehren.

Allerdings verstand ich nichts von der Sache und weiß auch bis heute noch nicht, ob die jungen Herren des klassischen Rom oder Griechenland auch solche Massenverse gemacht haben – oder ob es die Lieblingsbeschäftigung der jungen Herrn irgend eines andern Landes jemals gewesen ist.

»Ich habe nicht die leiseste Idee«, sagte Richard gelegentlich eines Gesprächs nachdenklich eines Tages, »was ich eigentlich werden möchte. Außer, daß ich ganz genau weiß, daß ich nicht Geistlicher werden will, ist es mir übrigens einerlei.«

»Du hast wohl keine Neigung für Mr. Kenges Beruf?« fragte Mr. Jarndyce.

»Das weiß ich nun eben nicht«, antwortete Richard. »Ich rudere sehr gern, und Jurisstudenten betreiben viel Wassersport. Es wäre vielleicht ein ganz kapitaler Beruf.«

»Chirurg –?« schlug Mr. Jarndyce vor.

»Ja, das ist das Wahre!« rief Richard begeistert aus.

– Ich glaube kaum, daß er vorher ein einziges Mal daran gedacht hat. –

»Das ist das Richtige. Jetzt haben wir’s: M. R. C. S.«

Er ließ sich durch unser Lachen nicht davon abbringen, obgleich er selbst herzlich mitlachen mußte.

Er sagte, er habe jetzt seinen Beruf gewählt, und je mehr er darüber nachdenke, desto mehr fühle er, daß die Heilkunst sein wahrer Beruf sei.

Ich konnte mich des Gedankens nicht erwehren, daß er nur deshalb zu diesem Entschluß gekommen war, weil er, innerlich froh, der unangenehmen Mühe des Nachdenkens enthoben zu sein, immer Geschmack an dem neuesten Einfall fand, und fragte mich, ob das Studium der lateinischen Verse häufig so ende oder ob Richard nur ein vereinzelter Fall sei.

Mr. Jarndyce gab sich große Mühe, mit ihm die Sache ernst durchzusprechen und ihm die Wichtigkeit eines so entscheidenden Entschlusses vor Augen zu führen. Richard war nach solchen Unterredungen immer etwas ernster als gewöhnlich, sagte aber stets Ada und mir, die Sache sei in schönster Ordnung, und fing von etwas anderm an zu sprechen.

»Bei Gott!« rief Mr. Boythorn, der sich für die Angelegenheit natürlich sehr stark interessierte, denn er tat nichts halb. »Es freut mich, daß ein junger Mann von Herz und Verstand sich diesem edlen Berufe widmet. Mit je mehr Geist er betrieben wird, desto besser für die Menschheit und desto schlimmer für die feilen Handwerker und Schwindler, die sich ein Vergnügen daraus machen, diese hohe Kunst der Welt in schlechtem Lichte zu zeigen. Bei allem, was niedrig und abscheulich ist, die Behandlung der Chirurgen bei der Marine ist derart, daß ich jedem Mitglied der Admiralität einen doppelten Knochenbruch an beiden Beinen beibringen lassen und es zu einem mit Deportation zu bestrafenden Verbrechen stempeln möchte, sie wieder einzurichten, wenn die Sache nicht in achtundvierzig Stunden anders würde.«

»Würdest du ihnen nicht wenigstens eine Woche Frist einräumen?« fragte Mr. Jarndyce.

»Nein, unter keinen Umständen! Achtundvierzig Stunden. Und was Korporationen, Kirchspielbehörden, Gemeinderatssitzungen und ähnliche Zusammenkünfte von Dickschädeln betrifft, die sich nur versammeln, um zu faseln, so sollten sie, bei Gott, verurteilt werden, sich den schäbigen Rest ihres elenden Lebens in Quecksilberbergwerken zu schinden, geschähe es auch nur, um zu verhindern, daß ihr greuliches Englisch irgendeine schöne Sprache, die im Sonnenlicht gesprochen wird, beflecke. Was diese Kerle betrifft, die die Selbstlosigkeit anständiger Gentlemen, die sich den Wissenschaften zuwenden, gemein ausnützen, indem sie die unschätzbaren Leistungen der besten Lebensjahre, die langen Studien und die kostspielige Erziehung mit einem Lumpengeld, zu klein für einen Kopierjungen, bezahlen, so sollte man jedem von ihnen den Hals umdrehen und ihre Schädel im chirurgischen Saal zur Erbauung der ganzen Hörerschaft aufstellen lassen, damit die Jüngern Studenten schon früh im Leben durch direkte Messung lernen, wie dick Schädel überhaupt werden können.«

Nach diesem heftigen Gefühlserguß sah sich Mr. Boythorn mit höchst liebenswürdigem Lächeln im Kreise um und fing plötzlich an zu donnern: »Hahaha!« und konnte sich kaum beruhigen.

Da Richard auch nach längerer Bedenkzeit immer noch der Ansicht war, seine Wahl stehe fest, und in derselben entschiedenen Weise Ada und mir immer wieder versicherte, es sei daran nicht zu rütteln, so wurde es notwendig, Mr. Kenge zu Rate zu ziehen.

So kam denn Mr. Kenge eines Tags zum Mittagessen, lehnte sich in seinen Stuhl zurück, drehte sein Augenglas zwischen den Fingern, redete mit sonorer Stimme und benahm sich genau so, wie ich mich erinnerte, ihn als kleines Mädchen gesehen zu haben.

»Wahrhaftig«, sagte er. »Ja. Hm. Ein sehr guter Beruf, Mr. Jarndyce, wirklich, ein sehr guter Beruf.«

»Das praktische und theoretische Studium verlangt anhaltenden Fleiß«, bemerkte mein Vormund mit einem Blick auf Richard.

»Ohne Zweifel«, nickte Mr. Kenge. »Großen Fleiß.«

»Aber da dies schließlich mehr oder weniger bei allen Berufsarten, die in Betracht kommen, der Fall ist, so ist das ein Punkt, den man auch bei jeder andern Berufswahl berücksichtigen müßte.«

»Sehr wahr«, bestätigte Mr. Kenge. »Und Mr. Richard Carstone, der sich so ausgezeichnet hat – darf ich sagen, unter dem Himmel des klassischen Altertums, unter dem er seine Jugend verlebt hat? –, wird ohne Zweifel die erworbene Fertigkeit, wenn auch nicht die Prinzipien und die Praxis des Versemachens in einer Sprache, in der, wie es heißt, ein Dichter geboren und nicht gemacht wird, auf den wesentlich praktischeren Wirkungskreis, in den er jetzt eintritt, anwenden.«

»Sie können sich darauf verlassen«, fiel Richard in seiner leichtherzigen Weise ein, »daß ich es ordentlich angehen und mein Bestes tun werde.«

»Sehr gut, Mr. Jarndyce.« Mr. Kenge nickte milde. »Wirklich, wenn uns Mr. Richard versichert, er wolle es angehen und sein Bestes tun«, – er nickte wieder milde und voll Gefühl – »so möchte ich Ihnen nahe legen, daß wir uns nur nach der besten Art, ihm das Ziel seines Ehrgeizes näher zu rücken, umzusehen haben. Wir haben also weiter nichts zu tun, als Mr. Richard bei einem möglichst berühmten Chirurgen unterzubringen. Hat man schon jemand im Auge?«

»Ich wüßte nicht, Rick.«

»Ich auch nicht, Sir.«

»Also gut«, bemerkte Mr. Kenge. »Also zur Sache. Haben Sie diesbezüglich besondere Wünsche?«

»N-nein«, antwortete Richard.

»Also gut.«

»Ich hätte nur gern ein wenig Abwechslung, ich meine, genügend Gelegenheit, Erfahrungen zu sammeln.«

»Allerdings sehr wünschenswert«, stimmte Mr. Kenge zu. »Ich glaube, dies ließe sich leicht machen, Mr. Jarndyce? Wir haben vor allen Dingen einen geeigneten Chirurgen ausfindig zu machen, und wenn wir darauf hingewiesen haben, daß wir eine gewisse Summe als Lehrgeld zu zahlen bereit sind – nicht wahr, Mr. Jarndyce? –, wird unsre einzige Schwierigkeit sein, eine entsprechende Auswahl zu treffen. Dann bleiben uns nur noch die kleinen Formalitäten zu beobachten übrig, die durch unser Alter und den Umstand, daß wir unter der Vormundschaft des Kanzleigerichts stehen, bedingt sind. Wir werden bald – wenn ich mich Mr. Richards eigner leichtherziger Worte bedienen darf – die Sache angehen, und unser Herzenswunsch ist befriedigt… Es ist ein merkwürdiger Zufall«, fügte Mr. Kenge mit einem Anflug von Melancholie hinzu, »einer jener Zufälle, die unsre irdischen, so beschränkten menschlichen Fähigkeiten nicht erklären können, daß ich selbst einen Vetter habe, der Mediziner ist. Vielleicht paßt er für Sie und ist geneigt, auf Ihren Vorschlag einzugehen. Ich kann für ihn so wenig stehen wie für Sie, aber vielleicht ist er der richtige.«

Da dadurch die Sache in greifbare Nähe rückte, kam man überein, Mr. Kenge solle mit seinem Vetter reden.

Mr. Jarndyce hatte uns schon früher vorgeschlagen, auf ein paar Wochen nach London zu gehen, und so wurde am nächsten Tag beschlossen, die Reise so bald wie möglich anzutreten.

Mr. Boythorn verließ uns innerhalb der nächsten acht Tage, und wir schlugen unser Quartier in einer reizenden Wohnung in der Nähe von Oxfordstreet über dem Laden eines Möbelhändlers auf.

London erschien uns wie ein großes Wunder, und wir waren jeden Tag stundenlang unterwegs, um uns die Sehenswürdigkeiten zu besichtigen, die weniger leicht zu erschöpfen waren als wir selbst. Wir machten auch mit großem Genuß durch alle größeren Theater und sehenswerten Stücke die Runde. Ich erwähne es, weil es im Theater war, wo Mr. Guppy mich wieder zu belästigen anfing.

Ich saß eines Abends mit Ada vorn in einer Loge, und Richard hatte, wie er es gerne tat, sich hinter sie gesetzt, als ich zufällig unten im Parterre Mr. Guppy erkannte, der, das Haar in die Stirn gebürstet, mit einer Miene unsäglichen Leides zu mir emporblickte.

Ich fühlte das ganze Stück hindurch, daß er immer nur auf mich statt auf die Schauspieler sah, und zwar beständig mit einem offenbar sorgfältig einstudierten Ausdruck tiefsten Schmerzes und äußerster Niedergeschlagenheit.

Der Vorfall verdarb mir für den Abend die ganze Freude, da er mich natürlich in Verlegenheit setzte und gar so lächerlich war; aber nicht genug daran, von diesem Tag an konnten wir nie mehr ins Theater gehen, ohne daß nicht Mr. Guppy im Parterre auftauchte, immer mit zerrauftem Haar, aufgeschlagnem Kragen und deutlich zur Schau getragner Hinfälligkeit. Wenn er bei unserm Eintreten noch nicht da war und ich bereits zu hoffen anfing, er werde dies Mal nicht kommen, und mich für kurze Zeit ganz der Darstellung zuwendete, konnte ich sicher sein, seinen schmachtenden Augen zu begegnen, wo ich es am wenigsten erwartete, und sie von der Zeit an den ganzen Abend nicht mehr los zu werden.

Ich kann gar nicht sagen, wie mich das verstimmte. Wenn er sich nur das Haar melancholisch gekämmt oder den Kragen aufgeschlagen hätte, so wäre es schon schlimm genug gewesen, aber das Bewußtsein, daß dieser lächerliche Mensch mich immer anstarrte und stets mit einer gewissen theatralischen Verzweiflung, machte mich derart beklommen, daß ich mich gar nicht mehr getraute, über das Stück zu lachen oder mich ergriffen zu fühlen, darüber zu sprechen –, mich auch nur zu bewegen.

Ich verlor förmlich die Fähigkeit, mich natürlich zu benehmen. Ich hätte mich vor Mr. Guppy retten können, wenn ich mich in den Hintergrund der Loge gesetzt hätte, aber dazu konnte ich mich nicht entschließen, weil ich wußte, wie sehr es Ada und Richard in ihrer Unterhaltung gestört haben würde, wenn ein Fremder neben ihnen zu sitzen gekommen wäre.

So saß ich denn da und wußte nicht, wohin schauen – denn wohin ich immer blickte, ich fühlte, daß mir Mr. Guppys Augen folgten –, und war nur mit dem Gedanken beschäftigt, welche schrecklichen Ausgaben der junge Mann sich meinetwegen machte.

Manchmal dachte ich daran, es Mr. Jarndyce zu sagen. Dann fürchtete ich wieder, es könne den jungen Mann seine Stelle kosten. Und es Richard anzuvertrauen, hielt mich wieder der Gedanke an die Möglichkeit ab, er könne mit Mr. Guppy einen Streit anfangen und ihm ein blaues Auge schlagen. Soll ich, wenn er mich ansieht, die Stirn runzeln und mit dem Kopf schütteln? dachte ich mir. Nein, sah ich ein, das am allerwenigsten.

Ich überlegte mir, ob ich nicht an seine Mutter schreiben sollte, kam aber bald zur Überzeugung, daß ein Briefwechsel die Sache nur verschlimmern würde. Und immer wieder kam ich zu dem Schluß, daß ich rein gar nichts tun könnte.

Mr. Guppys Ausdauer ließ ihn nicht nur regelmäßig in jedem Theater, das wir besuchten, erscheinen, er zeigte sich auch im Gedränge, wenn wir hinausgingen, und zuweilen kam es vor, daß er sich hinten auf unsern Wagen stellte, wo ich ihn des öftern im Kampf mit den Wagenspeichen erblickte.

Waren wir zu Hause angekommen, pflegte er in solchen Fällen unsrer Wohnung gegenüber an einem Pfeiler Posten zu fassen. Da das Haus des Möbelhändlers das Eck zweier Straßen bildete und mein Schlafzimmer nach vorne ging, so fürchtete ich mich jedes Mal, ans Fenster zu treten, wenn ich oben war, um ihn nicht, wie es einmal in einer Mondnacht geschehen, an den Pfeiler gelehnt, klappernd vor Kälte stehen zu sehen.

Wenn er nicht zum Glück den ganzen Tag über beschäftigt gewesen wäre, ich glaube, ich hätte überhaupt keine Ruhe mehr vor ihm gehabt.

Während wir unsern Zerstreuungen nachgingen, an denen Mr. Guppy in so außerordentlich intensiver Weise teilnahm, wurde die Angelegenheit, derentwegen wir in die Stadt gekommen waren, nicht vernachlässigt.

Mr. Kenges Vetter war ein gewisser Mr. Bayham Badger, der eine große Praxis in Chelsea hatte und außerdem noch einer großen öffentlichen Anstalt vorstand. Er erklärte sich gern bereit, Richard in sein Haus aufzunehmen und dessen Studien zu beaufsichtigen. Und da diese, wie es schien, in seinem Haus erfolgreich betrieben werden konnten und er Gefallen an Richard fand und Richard sagte, auch er »passe ihm soweit«, so wurde ein Kontrakt gemacht, des Lordkanzlers Zustimmung eingeholt, und bald war alles in schönster Ordnung.

Am Tage der Kontraktunterzeichnung lud uns Mrs. Badger zum Essen ein. Es sollte nur ein Familienessen sein, wie ihres Gatten Brief besagte; und außer uns und der Hausfrau waren keine Damen zugegen.

Mrs. Badger erwartete uns im Salon, von verschiedenen Dingen umgeben, die verrieten, daß sie ein wenig male, ein wenig Klavier spiele, ein wenig Gitarre und ein wenig Harfe, ein wenig singe, ein wenig sticke und lese, ein wenig dichte und ein wenig botanisiere. Sie war, wie ich schätzte, ungefähr fünfzig Jahre alt, jugendlich gekleidet und hatte einen schönen Teint. Wenn ich zu dem kleinen Verzeichnis ihrer Kunstfertigkeiten noch hinzusetze, daß sie sich auch ein wenig schminkte, so will ich ihr damit nichts Böses nachgesagt haben.

Mr. Bayham Badger war ein roter, lebhaft gefärbter, geschniegelt aussehender Herr mit einer dünnen Stimme, weißen Zähnen, blondem Haar und verwundert dreinschauenden Augen. Er schien ein paar Jahre jünger zu sein als Mrs. Bayham Badger. Er bewunderte seine Gattin ausnehmend, aber merkwürdigerweise hauptsächlich deswegen, weil sie drei Männer gehabt hatte. Schon nach den ersten Begrüßungsworten sagte er triumphierend zu Mr. Jarndyce:

»Sie würden gewiß nicht glauben, daß ich Mrs. Bayham Badgers dritter bin.«

»In der Tat?«

»Ihr Dritter, jawohl. Mrs. Bayham Badger, glauben Sie nicht auch, Miß Summerson, sieht nicht wie eine Dame aus, die schon zwei Mal verheiratet war?«

»O, durchaus nicht.«

»Und zwar mit sehr bemerkenswerten Männern. Kapitän Swosser von der königlichen Marine, Mrs. Badgers erster Gatte, war ein hervorragender Offizier. Der Name Professor Dingos, meines unmittelbaren Vorgängers, genießt in ganz Europa einen großen Ruf.«

Mrs. Badger hörte lächelnd zu.

»Ja, meine Liebe«, bekräftigte Mr. Badger. »Ich bemerkte vorhin bereits zu Mr. Jarndyce und Miß Summerson, daß du schon zwei Mal verheiratet warst –, beide Male mit hervorragenden Männern. Und sie wollten es kaum glauben. Ja, ja, so geht es den meisten Leuten.«

»Ich war kaum zwanzig, als ich Kapitän Swosser von der königlichen Marine heiratete«, erklärte Mrs. Badger. »Ich war mit ihm im Mittelländischen Meer und bin ein richtiger Seemann geworden. Am zwölften Jahrestag meiner Hochzeit wurde ich die Gattin Professor Dingos.«

»Von europäischem Ruf«, schaltete Mr. Badger halblaut ein.

»Und als Mr. Badger und ich getraut wurden, wählten wir wieder denselben Tag zur Hochzeit. Ich hatte das Datum liebgewonnen.«

»So daß Mrs. Badger drei Männer geheiratet hat – zwei von ihnen höchst ausgezeichnete Personen –«, sagte Mr. Badger, die Tatsachen zusammenfassend, »und jeden an einem 21. März früh elf Uhr.«

Wir drückten alle unsere Bewunderung aus.

»Wenn Mr. Badger nicht gar so bescheiden wäre«, nahm Mr. Jarndyce das Wort, »so würde ich mir erlauben, ihn zu verbessern und zu sagen: drei ausgezeichnete Männer.«

»Ich danke Ihnen, Mr. Jarndyce; das sage ich auch immer«, bemerkte Mrs. Badger.

»Und, meine Liebe«, rief ihr Gatte, »was sage ich immer? Ich sage ohne falsche Bescheidenheit hinsichtlich meines Rufes, den ich in meinem Fache mir erworben habe – was unser Freund Mr. Carstone im Lauf der Zeit Gelegenheit haben wird zu erfahren –, daß ich nicht so eingebildet bin, nein, wahrhaftig, nicht so unverständig, um meinen Namen auf gleiche Höhe mit so ausgezeichneten Männern, wie Kapitän Swosser und Professor Dingo waren, zu stellen. Vielleicht interessiert Sie das Porträt Kapitän Swossers, Mr. Jarndyce?«

Mr. Bayham Badger führte uns in das anstoßende Zimmer. »Es wurde nach seiner Rückkehr aus Afrika gemalt, wo er sehr von dem Fieber des dortigen Klimas gelitten hatte. Mrs. Badger meint, es sei zu gelb. Aber es ist ein sehr schöner Kopf, ein sehr schöner Kopf!«

Wir alle stimmten ein: »Ein sehr schöner Kopf!«

»Wenn ich ihn ansehe«, fuhr Mr. Badger fort, »fühle ich, daß er ein Mann ist, den ich im Leben gern gekannt haben möchte. Das Gesicht drückt so recht den ausgezeichneten Menschen aus, der Kapitän Swosser in so hervorragendem Maße war. Dort hängt Professor Dingo. Ich kannte ihn sehr gut – behandelte ihn in seiner letzten Krankheit… Ein Bild von sprechender Ähnlichkeit. Und über dem Piano Mrs. Bayham Badger, damals Mrs. Swosser. Über dem Sofa sehen Sie Mrs. Bayham Badger als Mrs. Dingo. Von Mrs. Bayham Badger in esse besitze ich das Original, aber keine Kopie.«

Man meldete jetzt, daß gedeckt sei, und wir gingen hinunter. Es war ein sehr feines Diner, und sehr hübsch serviert. Aber der Kapitän und der Professor spukten Mr. Badger immer noch im Kopf herum, und da Ada und ich die Ehre hatten, neben ihm zu sitzen, so konnten wir sie ausgiebig genießen.

»Wasser, Miß Summerson? Sie gestatten! Nicht in diesem Glase, wenn ich bitten darf. Bringen Sie das Ehrenglas des Professors, James!«

Ada bewunderte einen Strauß künstlicher Blumen unter einem Sturz.

»Wunderbar, wie sie sich halten«, sagte Mr. Badger. »Mrs. Bayham Badger erhielt sie als Geschenk, als sie im Mittelländischen Meer weilte.«

Er lud Mr. Jarndyce ein, ein Glas Claret mit ihm zu trinken.

»Nicht diesen Wein! Sie gestatten! Heute ist eine besonders festliche Gelegenheit, und bei solchen Veranlassungen möchte ich einen ganz besonderen Bordeaux, den ich zufällig im Keller habe, auf dem Tisch sehen. James, Kapitän Swossers Wein! – Mr. Jarndyce, das ist eine Marke, die der Kapitän selbst importiert hat. Ich weiß nicht, vor wieviel Jahren. Sie werden sie sehr bemerkenswert finden. Meine Liebe, ich würde mich glücklich schätzen, wenn du ein Glas von diesem Wein mittrinken würdest. Schenken Sie Madame von Kapitän Swossers Bordeaux ein! Deine Gesundheit, meine Liebe!«

Als wir Damen uns zurückzogen, nahmen wir Mrs. Badgers ersten und zweiten Gatten mit uns. Sie entwarf uns im Salon eine biographische Skizze des Lebens und des militärischen Dienstes Kapitän Swossers vor seiner Verheiratung und einen mehr auf die Einzelheiten eingehenden Bericht von der Zeit an, wo er sich an Bord des »Crippler« auf einem Ball, den die Offiziere dieses Schiffs im Hafen von Plymouth gaben, in sie verliebte.

»Der liebe alte ‚Crippler‘!« seufzte sie und schüttelte tiefsinnig den Kopf. »Er war ein schönes Schiff. Schmuck, seetüchtig, und alle Schoten belegt, wie der Kapitän zu sagen pflegte. – Sie müssen mich entschuldigen, wenn ich zuweilen einen nautischen Ausdruck gebrauche, ich war damals ein halber Seemann. – Kapitän Swosser liebte das Schiff meinetwegen. Als es ins Trockendock kam, sagte er oft zu mir, wenn er reich genug wäre, die alte Holke zu kaufen, so würde er in die Spannen des Quarterdecks, wo wir im Kontertanz einander gegenüberstanden, eine Inschrift anbringen lassen, um die Stelle zu bezeichnen, wo er fiel – wie er zu sagen pflegte –, der Breitseite nach bestrichen, von dem Kreuzfeuer meiner Toplichter, so nannte er in seiner Seemannssprache meine Augen.«

– Mrs. Badger schüttelte den Kopf, seufzte und warf einen Blick in den Spiegel. –

»Von Kapitän Swosser zu Professor Dingo war ein großer Sprung«, fing sie wieder, mit einem trüben Lächeln, an. »Ich fühlte es anfangs tief. Eine so vollständige Umwälzung in meiner Lebensweise. Aber Gewohnheit, vereint mit Wissenschaft – vor allem mit Wissenschaft –, machte es mir mit der Zeit erträglich. Da ich des Professors einzige Begleiterin auf seinen botanischen Exkursionen war, vergaß ich fast, daß ich jemals auf See gewesen, und wurde eine Gelehrte. Es ist merkwürdig, daß der Professor der Antipode von Kapitän Swosser war und Mr. Badger keinem der beiden auch nur im geringsten gleicht.«

Wir gingen dann auf eine Schilderung des Todes Kapitän Swossers und Professor Dingos über, die alle beide schwer gelitten haben mußten. Im Verlauf der Erzählung deutete Mrs. Badger an, daß sie nur ein Mal wahnsinnig geliebt habe und der Gegenstand dieser ersten Leidenschaft, die bekanntlich niemals wiederkehren könne, Kapitän Swosser gewesen sei. Der Professor sei zollweise auf die schrecklichste Weise gestorben. Mrs. Badger machte uns gerade vor, wie er geächzt hatte: »Wo ist Laura? Laura, gib mir Wasser und Zwieback«, als der Eintritt der Herren ihn für diesmal wieder in seine Gruft zurückversenkte.

Ich bemerkte an diesem Abend, wie überhaupt schon seit einigen Tagen, daß Ada und Richard noch mehr aneinander hingen als sonst. Es war nur natürlich, da sie sich so bald von einander trennen sollten, und es überraschte mich daher nicht allzusehr, als wir nach Hause kamen und Ada und ich uns hinaufbegaben, Ada stiller als gewöhnlich zu finden, obgleich ich nicht darauf gefaßt war, daß sie ihre Arme um mich schlang, ihr Gesicht an meiner Brust verbarg und schluchzte:

»Meine geliebte Esther! Ich habe dir ein großes Geheimnis mitzuteilen.«

– Es mußte offenbar ein schreckliches Geheimnis sein! –»Was ist es denn, Ada?«

»Ach, Esther, du wirst es nie erraten.«

»Soll ich es versuchen?«

»O nein! Nein! Bitte nicht«, rief Ada sehr erschrocken bei dem bloßen Gedanken.

»Ich möchte wirklich gerne wissen, was es wohl sein könnte«, sagte ich und stellte mich nachdenklich.

»Es handelt sich«, flüsterte Ada, »es handelt sich um meinen Vetter Richard.«

»Nun, mein Liebling«, fragte ich weiter und küßte ihr goldenes Haar, das einzige, was ich von ihr sehen konnte, »und was ist mit ihm?«

»O Esther, du wirst es nie erraten!«

– Wie sie sich an mich schmiegte und ihr Gesicht verbarg und selbst nicht wußte, daß sie aus Freude, Stolz und Hoffnung und nicht aus Schmerz weinte, war so reizend, daß ich ihr unmöglich heraushelfen konnte. –

»Er sagt – ich weiß, daß es sehr töricht ist, wir sind beide noch so jung – aber er sagt – sie war ganz aufgelöst in Tränen –, er liebe mich von Herzen, Esther.«

»Sagt er das wirklich? So etwas hab ich mein Leben lang noch nicht gehört! Aber, mein allerliebster Schatz, das hätte ich dir schon vor vielen, vielen Wochen sagen können.«

– Zu sehen, wie Ada mit glühenden Wangen freudig überrascht aufsah und mich umarmte und lachte und weinte und errötete und lachte, war entzückend. –

»Aber, Liebling, für was für eine Gans mußt du mich halten. Dein Vetter Richard ist so offenkundig wie nur möglich in dich verliebt, ich weiß nicht, wie lange schon.«

»Und du hast mir nie ein Wort davon gesagt!« rief Ada und küßte mich.

»Nein, liebes Kind, ich wartete, bis du es mir selbst sagen würdest.«

»Aber jetzt, meinst du nicht, daß es unrecht von mir ist?« Sie hätte mir ein Nein abschmeicheln können, auch wenn ich die hartherzigste Duenna in der Welt gewesen wäre, so aber sagte ich ganz offenherzig: »Nein.«

»So, jetzt weiß ich ja das Schlimmste von der Sache.«

»O, das ist noch nicht das Schlimmste, liebe Esther«, rief Ada und zog mich noch fester an sich und verbarg ihr Gesicht schon wieder an meiner Brust.

»Nicht? Nicht einmal das?«

»Nein, nicht einmal das«, murmelte Ada und schüttelte den Kopf.

»Was, du willst doch nicht etwa sagen…« fing ich scherzend an.

Ada blickte auf und lächelte unter Tränen.

»Ja, es ist so, Esther. Du weißt, du weißt, es ist so.« Und dann schluchzte sie: »Von ganzem Herzen liebe ich ihn! Von ganzem Herzen, Esther!«

Ich sagte ihr lachend, daß ich auch das ebenso genau gewußt habe wie das andre.

Und wir saßen vor dem Feuer, und ich mußte eine Zeitlang ganz allein reden, wenn es auch nicht allzu lange dauerte, denn Ada war bald wieder ruhig und glücklich.

»Meinst du, daß es Vetter John weiß, Mütterchen?«

»Wenn Vetter John nicht blind ist, Herzblatt, so sollte ich meinen, dürfte er es ungefähr so genau wissen wie wir beide.«

»Wir müssen mit ihm sprechen, ehe wir uns von Richard trennen«, gestand Ada schüchtern. »Und wir möchten gern, daß du uns einen Rat gibst und es ihm sagst. Vielleicht hast du nichts dagegen, wenn Richard hereinkommt, Mütterchen?«

»So, so, Richard ist draußen. Was du sagst!«

»Ich weiß es nicht ganz gewiß«, stammelte Ada mit einer verschämten Einfalt, die mein Herz hätte gewinnen müssen, wenn sie es nicht schon längst besessen hätte, »aber ich glaube, er wartet vor der Tür.«

Selbstverständlich wartete er draußen.

Sie stellten auf jede Seite neben mich einen Stuhl und setzten mich zwischen sich und schienen sich wirklich mehr in mich als in einander verliebt zu haben, so vertrauensvoll, aufrichtig und zärtlich waren sie zu mir. Sie ließen mich eine Weile gar nicht los, und ich freute mich viel zu sehr darüber, um ihnen zu wehren. Dann wurden wir allmählich ernster und fingen an zu bedenken, wie jung sie noch waren und daß manches Jahr vergehen müßte, ehe ihre taufrische Liebe zum Ziele kommen könnte, und daß sie nur zum Glücke führen würde, wenn sie wirklich und dauernd sei und sie zur Beständigkeit, tapferm Ausharren und Pflichttreue begeistere. Richard schwor, daß er sich die Finger bis auf die Knochen abarbeiten wolle für Ada, und Ada sagte, daß sie sich die Finger bis auf die Knochen abarbeiten wolle für Richard, und sie gaben mir alle möglichen Kosenamen, und wir saßen beratend und plaudernd die halbe Nacht beisammen. Schließlich, bevor wir von einander schieden, versprach ich ihnen, morgen darüber mit ihrem Vetter John zu reden.

Gleich nach dem Frühstück begab ich mich zu meinem Vormund in das Zimmer, das uns in der Stadt das Brummstübchen ersetzte, und sagte ihm, ich hätte den Auftrag, ihm etwas mitzuteilen.

»Nun, Mütterchen«, meinte er und klappte sein Buch zu. »Wenn du es übernommen hast, kann es nichts Schlimmes sein.«

»Ich hoffe nicht, Vormund. Jedenfalls kann ich mich dafür verbürgen, daß es sich nicht um Heimlichkeiten handelt, denn es geschah erst gestern.«

»So. Und was ist es denn, Esther?«

»Vormund, erinnerst du dich an den schönen Abend unsrer Ankunft in Bleakhaus, wo Ada in dem dunkeln Zimmer sang?«

– Ich wünschte, ihm den Blick, den er mir damals zugeworfen hatte, ins Gedächtnis zurückzurufen. Wenn ich mich nicht sehr irre, erinnerte er sich sogleich daran. –

»Weil…« begann ich nach einigem Zögern.

»Ja, mein Kind!« sagte er. »Laß dir nur Zeit.«

»Weil… Weil Ada und Richard sich ineinander verliebt haben und es einander gestanden haben.«

»So bald schon?« rief mein Vormund ganz erstaunt.

»Ja. Und, um dir nur die Wahrheit zu sagen, Vormund, ich erwartete es fast.«

»Den Kuckuck auch!«

Ein paar Minuten lang saß er mit einem gewinnenden gütigen Lächeln in dem lebhaft den Ausdruck wechselnden Gesicht nachsinnend da und bat mich dann, sie wissen zu lassen, daß er sie zu sehen wünsche. Als sie kamen, schlang er den Arm um Ada in seiner väterlichen Weise und wandte sich mit heiterm Ernst an Richard.

»Richard, es freut mich, Euer Vertrauen gewonnen zu haben. Ich hoffe, es mir zu erhalten. Wenn ich über die Beziehungen zwischen uns vieren, die mein Leben so aufhellen und ihm soviel neuen Inhalt und Genuß gegeben haben, nachdachte, hielt ich es allerdings in einer spätem Zeit für möglich, daß du und deine hübsche Kusine hier – sei nicht verlegen, Ada, sei nicht verlegen, liebes Kind – Lust bekommen könntet, miteinander durchs Leben zu gehen. Ich sah und sehe heute noch manchen andern Grund, der das wünschenswert erscheinen läßt, aber ich dachte dabei an eine spätere Zukunft, Rick, an eine spätere Zukunft.«

»Auch wir denken an eine spätere Zukunft«, entgegnete Richard.

»Gut. Das ist recht und vernünftig. Aber jetzt hört mich an, liebe Kinder. Ich könnte euch sagen, daß ihr euch selbst noch nicht genau kennt, daß tausend Dinge geschehen können, euch einander zu entfremden, daß es gut ist, daß die Blumenkette, die ihr euch angelegt habt, so leicht zu lösen ist, da sie sonst vielleicht zu einer Kette von Blei werden könnte. Aber das alles will ich euch nicht vorhalten. Solche Weisheit kommt früh genug, wenn sie überhaupt kommt. Ich will annehmen, daß ihr Jahre später einander noch im Herzen dasselbe sein werdet, was ihr euch heute seid. Alles, was ich euch jetzt sagen will, ist, schämt euch nicht, wenn ihr andern Sinnes werden solltet, wenn ihr entdeckt, daß ihr in reiferem Alter mehr in dem Verhältnis gewöhnlicher Verwandter zueinander steht als jetzt in euren blutjungen Jahren – du entschuldigst schon, Rick –, schämt euch nicht, es mir anzuvertrauen, denn es ist nichts Ungeheuerliches oder Ungewöhnliches daran. Ich bin nur euer Freund und entfernter Verwandter. Ich habe keinerlei Macht über euch. Aber ich wünsche und hoffe, mir euer Vertrauen zu erhalten, wenn ich nichts tue, um es mir zu verscherzen.«

»Ich bin überzeugt, lieber Vetter«, entgegnete Richard, »daß ich auch zugleich für Ada spreche, wenn ich sage, daß du die größte Macht über uns hast, die es gibt, nämlich die, die aus Verehrung, Dankbarkeit und Liebe entspringt und jeden Tag stärker wird.«

»Lieber Vetter John«, fiel Ada ein, an Mr. Jarndyces Schulter gelehnt, »meines Vaters Stelle kann nie wieder leer werden. Alle die Liebe und der Gehorsam, den ich jemals hätte geben können, gelten jetzt dir.«

»Also kommt«, sagte Mr. Jarndyce. »Was ist nun unser erster Schritt? Schauen wir um uns und blicken wir hoffnungsfroh in die Ferne! Rick, die Welt liegt vor dir, und es ist höchst wahrscheinlich, daß sie dich so aufnehmen wird wie du sie. Verlaß dich auf niemanden als auf die Vorsehung und deine eigne Kraft. Trenne nie diese beiden wie der heidnische Wagenlenker in der Geschichte. Beständigkeit in der Liebe ist eine gute Sache, aber sie wiegt nichts ohne Beständigkeit in allen andern Dingen. Wenn du die Fähigkeiten aller toten und lebendigen großen Männer hättest, so könntest du nichts vollbringen, ohne es aufrichtig zu meinen und mit ganzem Herzen zu tun. Wenn du glauben solltest, daß in großen oder kleinen Dingen irgendein Erfolg dem Geschick durch ruckweise oder spontane Versuche abgerungen werden könnte oder je abgerungen wurde, so gib diese Ansicht auf oder laß deine Kusine Ada lieber da.«

»Da lasse ich lieber die Ansicht hier«, gab Richard lächelnd zur Antwort, »wenn ich sie mit hergebracht haben sollte – was ich nicht hoffe –, und will mir meinen Weg zu meiner Kusine Ada in eine hoffnungsreiche Zukunft bahnen.«

»Recht so«, sagte Mr. Jarndyce. »Wenn du sie nicht glücklich machen kannst, warum solltest du nach ihr streben.«

»Ich möchte sie nicht unglücklich machen, selbst nicht, wenn es mich ihre Liebe kosten sollte«, gab Richard stolz zur Antwort.

»Gut gesprochen. So ist’s recht. Sie bleibt bei mir in ihrem Heim. Habe sie lieb, Rick, in deinem Berufsleben nicht weniger als hier in ihrem Hause, wenn du uns besuchen kommst, und alles wird gut gehen. Damit endigt meine Predigt. Vielleicht möchtest du mit Ada jetzt ein bißchen spazieren gehen?«

Ada umarmte Mr. Jarndyce zärtlich, und Richard schüttelte ihm herzlich die Hand. Und dann verließen sie beide das Zimmer, sahen sich aber gleich wieder um, um mir zuzurufen, daß sie auf mich warten wollten.

Die Tür stand offen, und wir blickten ihnen nach, wie sie durch das anstoßende, von der Sonne beschienene Zimmer und zur andern Tür hinausgingen. Richard, das Haupt geneigt und Adas Arm in seinem, sprach sehr angelegentlich mit ihr, und sie blickte zu ihm empor und hörte zu und schien für nichts sonst Augen zu haben.

So jung, so schön, so hoffnungsfreudig gingen sie leichten Schrittes dahin durch die Sonnenstreifen, wie ihre eignen glücklichen Gedanken jetzt vielleicht über die Jahre der Zukunft hinschweiften und sie zu Jahren der Freude machten. Dann traten sie in den Schatten und verschwanden. Nur wenige Augenblicke war das Licht so strahlend durchgebrochen. Das Zimmer wurde dunkler, als sie hinausgingen, und die Sonne versteckte sich wieder hinter den Wolken.

»Habe ich recht, Esther?« fragte mein Vormund, als sie fort waren.

– Er, der so gut und weise war, fragte mich, ob er recht habe. –

»Rick erwirbt sich vielleicht dadurch die Eigenschaft, die ihm zu den vielen guten, die er schon hat, noch fehlt«, sagte Mr. Jarndyce und wiegte nachdenklich den Kopf. »Ich habe Ada nichts gesagt, Esther. Hat sie doch ihre Freundin und Beraterin stets bei sich.« Und er legte die Hand liebevoll auf mein Haupt. Ich konnte meine Rührung nicht verbergen, obgleich ich mein möglichstes tat.

»Still, still!« sagte er. »Aber wir müssen auch Sorge tragen, daß das Leben unsres kleinen Mütterchens nicht ganz allein von der Sorge um andre ausgefüllt wird.«

»Sorge? Aber lieber Vormund, ich glaube, ich bin das glücklichste Geschöpf unter der Sonne.«

»Ich glaube das auch«, sagte er, »aber jemand findet vielleicht, was Esther niemals tun wird, daß man an das kleine Mütterchen vor allen andern Menschen denken muß.«

Ich habe früher zu erwähnen vergessen, daß noch jemand bei dem Familiendiner zu Gaste war. Es war keine Dame. Es war ein Herr. Ein Herr von dunkelm Teint und schwarzem Haar – ein junger Chirurg. Er war ein wenig reserviert, schien mir aber ein sehr gescheiter und angenehmer Mensch zu sein. Wenigstens fragte mich Ada, ob ich nicht dieser Meinung sei, und ich bejahte.

14. Kapitel


14. Kapitel

Anstand

Richard verließ uns schon am nächsten Abend, um seine neue Lebenslaufbahn anzutreten, und empfahl Ada vertrauensvoll meiner Obhut. Es rührte mich damals und rührt mich noch jetzt, wenn ich zurückdenke, wie sie selbst in jener ihr gesamtes Denken in Anspruch nehmenden Zeit meiner gedachten. Ich spielte eine Rolle in allen ihren Plänen für Gegenwart und Zukunft. Ich sollte Richard jede Woche getreulich über Ada berichten, die ihm jeden zweiten Tag zu schreiben versprach. Er wollte mich von allen seinen Erfolgen und Studien eigenhändig unterrichten; ich sollte sehen, wie entschlossen und ausdauernd er sei, sollte Adas Brautjungfer sein, wenn sie heirateten, später bei ihnen wohnen, alle Schlüssel im Hause bekommen, und sie wollten mich ganz und gar und auf ewig glücklich machen.

»Und wenn wir durch den Prozeß reich werden sollten, Esther, was doch sein kann…« fing Richard an, um seinen Luftschlössern die Krone aufzusetzen.

Ein Schatten flog über Adas Gesicht.

»Liebste Ada«, unterbrach sich Richard, »warum nicht?«

»Es wäre besser, der Prozeß erklärte uns gleich für arm«, meinte Ada.

»Oh, das weiß ich nun gerade nicht«, entgegnete Richard. »Aber jedenfalls wird er nichts gleich erklären. Er hat, Gott weiß, seit wieviel Jahren, überhaupt nichts erklärt.«

»Nur zu wahr«, sagte Ada.

»Ja, aber«, wendete Richard ein und sah ihr mehr in die Augen, als er auf ihre Worte hörte, »je länger er dauert, liebe Kusine, desto näher muß er seinem Ende sein. Ist das nicht ganz vernünftig?«

»Du mußt das am besten wissen, Richard. Aber ich fürchte, wenn wir auf den Prozeß bauen, macht er uns unglücklich.«

»Aber liebe Ada, wir bauen doch gar nicht darauf!« rief Richard fröhlich. »Wir sagen nur, wenn er uns reich machen sollte, haben wir nichts dagegen. Das Gericht ist durch feierlichen Richterspruch unser gestrenger alter Vormund, und wir müssen denken, daß das, was er uns zuspricht – wenn er uns überhaupt etwas zuspricht –, eigentlich unser gutes Recht ist. Wir haben nicht nötig, uns mit unserm Recht herumzuzanken.«

»Nein, aber es ist vielleicht besser, wir vergessen die Sache ganz und gar.«

»Also gut! Dann wollen wir sie ganz und gar vergessen. Begraben wir die ganze Geschichte. Mütterchen macht ein billigendes Gesicht dazu, und die Sache ist abgetan.«

»Mütterchens billigendes Gesicht«, sagte ich und blickte aus dem Koffer auf, in den ich seine Bücher einpackte, »war gar nicht sichtbar; aber sie billigt es und meint, es sei wirklich das beste so.«

»Also, die Sache ist abgemacht«, sagte Richard, begann aber sofort wieder auf ganz demselben Thema soviel Luftschlösser zu bauen, daß man die chinesische Mauer damit hätte besetzen können. Er schied von uns in zuversichtlicher Stimmung. Ada und ich, darauf gefaßt, ihn sehr zu vermissen, lenkten damit in eine wesentlich ruhigere Lebenslaufbahn ein.

Bei unsrer Ankunft in London hatten wir mit Mr. Jarndyce Mrs. Jellyby aufgesucht, sie aber nicht zu Hause getroffen. Sie war ausgegangen, zu einem Tee, und hatte Miß Jellyby mitgenommen. Es sollten dort verschiedne Reden gehalten und viele Briefe geschrieben werden über die Hauptvorzüge der Kaffeestrauchkultur für die Eingebornen in den Ansiedlungen von Borriobula-Gha.

Das bedeutete zweifellos einen Aufwand von Tinte und Federn, der den Freudenanteil ihrer Tochter an dem Feste zu nichts weniger als einem Feiertag machen mußte.

Da jetzt die Zeit gekommen war, wo Mrs. Jellyby zurückkommen sollte, hofften wir sie dies Mal zu treffen. Sie war jedoch wieder nicht zu Hause, da sie unmittelbar nach dem Frühstück in irgendwelchen Borriobula-Geschäften in eine Gesellschaft, genannt Zweighilfssubkomitee, London-Ost, nach Mile-End hatte gehen müssen. Da ich bei unserm ersten Besuch Peepy nicht gesehen hatte – er war nirgends zu finden gewesen, und die Köchin meinte, er sei wahrscheinlich mit dem Kehrichtmann fortgelaufen –, fragte ich jetzt wieder nach ihm. Die Austernschalen, mit denen er ein Haus gebaut hatte, lagen noch im Hausflur, aber er selbst war nirgends zu entdecken, und die Köchin meinte, er sei wahrscheinlich – »den Schafen nachgelaufen«. Als wir erstaunt fragten: »Den Schafen?« sagte sie: »O ja. Am Markttag läuft er ihnen manchmal bis vor die Stadt hinaus nach und kommt dann in einem schrecklichen Zustande wieder nach Hause.«

Ich saß am nächsten Morgen mit meinem Vormund am Fenster, und Ada schrieb eifrig – natürlich an Richard –, als Miß Jellyby angemeldet wurde und mit Peepy eintrat, den sie sich einigermaßen präsentabel zu machen bemüht hatte, indem sie ihm den Schmutz in die Winkel seines Gesichts und seiner Hände gewischt und das Haar begossen und mit den Fingern heftig frisiert hatte.

Alles, was das arme Kind an sich trug, war ihm entweder zu groß oder zu klein. Unter andern widerspruchsvollen Ornamenten hatte er einen Bischofshut und Baby-Fäustlinge an. Die Stiefel waren kleinere Ausgaben von Ackerknechtstiefeln, während seine Beine, so der Kreuz und Quer mit Schrammen und Kratzwunden bedeckt, daß sie wie Landkarten aussahen, unterhalb seiner sehr kurzen Plaidhose, die man mit einer Spitzenkante von ganz verschiednem Muster an jedem Bein besetzt hatte, vom Knie abwärts bloß waren. Die fehlenden Knöpfe an seinem Plaidfrack stammten offenbar von Mr. Jellybys Gehrock, denn sie waren aus Messing und viel zu groß. An verschiednen Stellen seiner Kleidung, wo sie hastig befestigt worden, offenbarten sich ganz merkwürdige Entartungen der Nähkunst, und dieselbe kundige Hand verriet sich an Miß Jellybys Kleidung. Ihre Erscheinung machte übrigens einen weitaus bessern Eindruck als früher, und sie sah wirklich sehr hübsch aus.

Sie fühlte offenbar recht gut, daß der arme kleine Peepy trotz all ihrer Bemühungen doch mißlungen war, und verriet dies durch den verzweifelten Blick, den sie beim Eintritt ins Zimmer zuerst ihm und dann uns zuwarf.

»O mein Gott«, brummte mein Vormund. »Scharfer Ost.«

Ada und ich hießen sie herzlich willkommen und stellten sie Mr. Jarndyce vor. Sie nahm Platz und sagte:

»Mama läßt sich bestens empfehlen und bittet, sie zu entschuldigen, da sie die Korrektur zu den Plänen lesen muß. Sie ist im Begriff, fünftausend neue Zirkulare zu versenden, und weiß, daß Sie das interessieren wird. Ich habe eins mitgebracht. Mama läßt sich empfehlen.«

Damit reichte sie ihm das Papier mit mürrischer Miene hin.

»Danke schön«, sagte mein Vormund. »Ich bin Mrs. Jellyby sehr verbunden. O Gott! Ist heute aber Ostwind!«

Wir machten uns mit Peepy zu schaffen, nahmen ihm seinen Geistlichenhut ab, fragten ihn, ob er uns noch kenne, und anderes mehr. Anfangs flüchtete er sich hinter seinen Ellbogen, ließ sich aber durch den Anblick von Baumkuchen erweichen und erlaubte mir, ihn auf den Schoß zu nehmen, wo er dann friedlich kauend sitzen blieb. Mr. Jarndyce hatte sich in das Ersatzbrummstübchen zurückgezogen, und so konnte Miß Jellyby die Unterhaltung mit ihrer gewohnten Schroffheit eröffnen.

»Es geht so schlecht wie je in Thavies Inn. Ich kann in meinem Leben nicht zur Ruhe kommen. Immer und immer Afrika! Es könnte mir nicht schlimmer gehen, wenn ich selber so ein Dingsda wäre – ein ‚Mensch und ein Bruder‘.«

Ich suchte nach Worten, um ihr etwas Tröstliches zu sagen.

»Ach, das hilft gar nichts, Miß Summerson! Obgleich ich Ihnen für Ihre freundliche Absicht dankbar bin. Ich weiß ganz gut, wie ich behandelt werde, und lasse mir das nicht ausreden. Sie ließen sich’s auch nicht ausreden, wenn Sie an meiner Stelle wären. Peepy, geh und spiel wildes Tier unter dem Piano.«

»Ich will nicht«, sagte Peepy.

»O du undankbarer, nichtsnutziger, hartherziger Junge!« rief Miß Jellyby mit Tränen in den Augen. »Nie wieder werde ich mir soviel Mühe geben, dich anzuziehen.«

»Ja, ja, ich will gehen, Caddy!« rief Peepy, der ein herzensgutes Kind war und den jetzt der Kummer seiner Schwester so rührte, daß er auf der Stelle folgte.

»Es ist kein Grund zu weinen«, entschuldigte sich die arme Miß Jellyby, »aber ich bin ganz abgerackert. Ich habe bis heute früh zwei Uhr Adressen für die neuen Zirkulare geschrieben. Ich hasse die ganze Geschichte so, daß mir schon beim Gedanken daran der Kopf weh tut, bis ich nicht mehr aus den Augen schauen kann. Und sehen Sie nur das arme Kind an! Haben Sie schon jemals eine solche Vogelscheuche gesehen?«

Glücklicherweise sich der Mängel seiner äußern Erscheinung nicht bewußt, saß Peepy auf dem Teppich und sah aus seiner Höhle hinter einem Pianobein friedlich hervor und aß seinen Kuchen.

»Ich habe ihn in die andre Ecke des Zimmers geschickt«, erklärte Miß Jellyby und rückte ihren Stuhl näher an uns heran, »damit er nicht hört, was wir miteinander sprechen. Diese Knirpse sind so gescheit. Ich wollte vorhin sagen, es geht wirklich bei uns schlimmer zu als je. Papa wird demnächst bankrott sein, und dann, hoffe ich, ist Mama zufrieden. Und wem werden wir es zu danken haben? Ma!«

Wir sagten, wir hofften, Mr. Jellybys Verhältnisse würden sich gewiß nicht so verschlimmert haben.

»Das ist alles sehr freundlich von Ihnen, aber hoffen nützt nichts«, entgegnete Miß Jellyby und schüttelte den Kopf. »Pa sagte mir erst gestern morgen – und er ist schrecklich unglücklich – daß er den Sturm diesmal nicht überstehen könnte. Es würde mich auch wirklich wunder nehmen. Wenn uns die Lieferanten all ihren Mist ins Haus schicken und das Gesinde macht, was es will, und ich keine Zeit habe, es besser einzurichten, selbst wenn ich es verstünde, und Ma sich um gar nichts kümmert, so möchte ich wissen, wie Pa den Sturm diesmal aushalten sollte. Ich erkläre, wenn ich Pa wäre, ich liefe davon.«

»Liebes Kind«, sagte ich lächelnd, »Ihr Papa denkt jedenfalls an seine Familie.«

»Ja, natürlich. Familie ist wunderschön, Miß Summerson, aber welche Bequemlichkeit bietet ihm seine Familie? Seine Familie besteht aus Rechnungen, Schmutz, Verschwendung, Lärm, Treppenhinunterfallen, Durcheinander und Herabgekommenheit. Seine kopfüber treibende Häuslichkeit ist von Samstag zu Samstag ein einziger großer Waschtag, nur wird dabei nichts gewaschen.«

Sie stampfte mit dem Fuß auf den Boden und wischte sich die Augen.

»Pa tut mir so leid, und ich bin so wütend auf Ma, daß ich keine Worte finden kann, um mich auszudrücken. Aber ich lasse es mir nicht länger gefallen, dazu bin ich entschlossen. Ich will nicht mein ganzes Leben lang ein Sklave sein und von Mr. Quale um mich werben lassen. Das könnte mir so passen, einen Philantropen zu heiraten. Als ob ich nicht schon genug von dem Zeug hätte.«

Ich muß zugeben, daß ich selbst recht böse auf Mrs. Jellyby war, als ich dieses vernachlässigte Mädchen vor mir sah und anhörte und wußte, wieviel bittere Wahrheit in allem war, was sie sagte.

»Wenn wir nicht so vertraut geworden wären, als Sie uns damals besuchten«, fuhr Miß Jellyby fort, »würde ich mich geschämt haben, heute hierher zu kommen, denn ich weiß, was für eine Figur ich in Ihrer beider Augen abgebe; aber ich habe mich entschlossen, Sie zu besuchen, zumal ich Sie wahrscheinlich nicht wiedersehen werde, wenn Sie nächstens wieder nach London kommen.«

Sie sagte dies so bedeutsam, daß Ada und ich einander einen Blick zuwarfen, ahnend, daß noch mehr kommen werde.

»Nein«, rief sie und schüttelte den Kopf. »Durchaus unwahrscheinlich. Ich weiß, ich kann mich auf Sie beide verlassen. Sie werden mich nicht verraten. Ich bin verlobt.«

»Ohne Wissen Ihrer Eltern?« fragte ich.

»Aber, du lieber Gott im Himmel, Miß Summerson«, rechtfertigte sie sich in leidenschaftlichem, aber keineswegs unfreundlichem Ton. » Kann es denn anders sein ? Sie wissen doch, wie Ma ist, und ich darf den armen Papa doch nicht dadurch noch unglücklicher machen, daß ich es ihm jetzt schon mitteile.«

»Aber wird es ihn denn nicht noch unglücklicher machen, wenn Sie ohne sein Wissen und seinen Willen heiraten?«

»Nein. Ich hoffe nicht. Ich würde alles aufbieten, es ihm bei mir behaglich zu machen, wenn er mich besuchte. Und Peepy und die andern könnten auch abwechselnd zu mir kommen, und dann würden sie doch ein wenig Aufsicht und Pflege haben.«

Die arme Caddy hatte wirklich ein liebevolles anhängliches Herz. Sie wurde immer weicher und weicher gestimmt, während sie uns das erzählte, und weinte so sehr, wie sie uns das kleine Bild einer ungewohnten Häuslichkeit ausmalte, daß es Peepy in seiner Höhle unter dem Piano tief ergriff und er sich laut jammernd auf dem Rücken wälzte. Erst, als ich ihn hervorholte, damit er seine Schwester küsse, ihn wieder auf den Schoß nahm und ihm zeigte, daß Caddy – die nur so tat – wieder lache, konnten wir ihn beruhigen, und selbst dann nur, indem wir ihm erlaubten, uns alle der Reihe nach am Kinn fassen und uns die Wangen streicheln zu dürfen. Da selbst das ihn noch nicht genügend stärkte, um es unter dem Piano auszuhalten, stellte ich ihn auf einen Stuhl, damit er aus dem Fenster schauen könnte, und Miß Jellyby hielt ihn an einem Bein fest und setzte ihre Erzählung wieder fort.

»Die Ursache war Ihr Besuch bei uns.«

Wir fragten natürlich: »Wieso?«

»Ich war mir meiner linkischen Manieren so bewußt geworden, daß ich mich entschloß, mich darin zu bessern und tanzen zu lernen. Ich sagte Ma, ich schämte mich über mich selbst und müßte tanzen lernen. Ma machte ihr maliziöses Gesicht und sah über mich hinweg, als ob ich Luft wäre, aber ich war fest entschlossen, Tanzstunden zu nehmen, und ließ mich daher in Mr. Turveydrops Tanzakademie in Newman-Street einschreiben.«

»Und dort war es, mein Kind…?« fing ich an.

»Ja, dort war es, und ich bin mit Mr. Turveydrop verlobt. Es gibt zwei Mr. Turveydrop – Vater und Sohn. Mein Mr. Turveydrop ist natürlich der Sohn. Ich wünschte nur, ich wäre besser erzogen und könnte ihm eine bessere Frau werden, denn ich habe ihn sehr gern.«

»Es tut mir wirklich sehr leid, daß Sie so reden«, sagte ich.

»Ich verstehe nicht, warum es Ihnen leid tun sollte«, erwiderte sie ein wenig ängstlich. »Aber ich bin nun einmal mit Mr. Turveydrop verlobt, so oder so, und er hat mich sehr gern. Er muß es selbst auch geheim halten, weil der alte Mr. Turveydrop mit im Geschäft ist und es ihm das Herz brechen oder ihn sonstwie niederschmettern könnte, wenn man es ihm unvorbereitet mitteilte. Der alte Mr. Turveydrop ist ein großer Gentleman – ein sehr großer Gentleman.«

»Weiß es seine Frau?«

»Des alten Mr. Turveydrops Frau, Miß Clare?« fragte Miß Jellyby erstaunt und riß die Augen auf. »Die gibt es doch gar nicht. Er ist Witwer.«

Hier wurden wir von Peepy unterbrochen, an dessen Beinchen seine Schwester jedes Mal unbewußt gerissen hatte wie an einem Klingelzug, wenn sie in Eifer geraten war, und er fing jetzt laut über sein Mißgeschick an zu jammern. Da er sich an mich um Hilfe wendete und ich nur zuzuhören brauchte, übernahm ich es, ihn zu halten. Miß Jellyby bat ihn mit einem Kuß um Verzeihung, versicherte ihm, daß es nicht absichtlich geschehen wäre, und fuhr dann fort.

»So liegen die Sachen. Wenn ich mir jemals einen Vorwurf machen muß, so trägt Ma die Schuld. Wir wollen heiraten, sobald wir können.

Und dann besuche ich Pa im Bureau und schreibe von dort an Ma. Es wird sie nicht sehr aufregen; ihr bin ich ja nur Feder und Tinte. Ein großer Trost ist«, seufzte sie, »daß, wenn ich verheiratet bin, ich niemals mehr etwas von Afrika hören werde. Der junge Mr. Turveydrop haßt es meinetwegen, und wenn der alte Mr. Turveydrop überhaupt weiß, daß es so ein Land gibt, ist es viel.«

»Das ist der Mr. Turveydrop, der ein so großer Gentleman ist, nicht wahr?«

»Ein sehr großer Gentleman, gewiß. Er ist überall wegen seines Anstandes berühmt.«

»Gibt er Unterricht?« fragte Ada.

»Nein. Er gibt nicht direkt Unterricht, aber seine Manieren sind fabelhaft.«

Nach vielem Zögern und Stocken brachte Caddy heraus, sie habe uns noch etwas anzuvertrauen und fühle, daß wir es wissen müßten, und hoffe, wir würden es nicht übel aufnehmen. Sie habe nämlich ihre Bekanntschaft mit Miß Flite, der kleinen verrückten Alten, erneuert und gehe frühmorgens zu ihr, um ihren Verlobten vor dem Frühstück ein paar Minuten zu sprechen – nur für ein paar Minuten. »Ich besuche sie auch noch zu andern Zeiten«, sagte sie, »aber Prince kommt dann nicht. Des jungen Mr. Turveydrops Vorname ist nämlich Prince; es ist eigentlich schade, denn er klingt wie ein Hundename, aber er hat ihn sich doch nicht selbst ausgesucht! Der alte Mr. Turveydrop hat ihn zur Erinnerung an den Prinzregenten so taufen lassen. Der alte Mr. Turveydrop verehrte den Prinzregenten so sehr wegen seines Anstandes. Ich hoffe, Sie verübeln es mir nicht, daß ich diese kleinen Besuche bei Miß Flite mache. Ich habe das arme Ding um ihrer selbst willen lieb, und auch sie hat mich gern. Wenn Sie den jungen Mr. Turveydrop sehen würden, so bin ich überzeugt, daß Sie gut von ihm denken müßten… Wenigstens weiß ich ganz gewiß, daß Sie nichts Böses von ihm denken würden. Ich gehe jetzt hin, um meine Tanzstunde zu nehmen. Ich darf Sie nicht bitten, Miß Summerson, mitzukommen…« – Caddy hatte dies alles mit feierlichem Ernst und bebender Stimme gesagt – »…aber wenn Sie es doch täten, würde es mich sehr, sehr freuen.«

Es traf sich, daß wir uns mit meinem Vormund verabredet hatten, gerade heute Miß Flite zu besuchen. Wir hatten ihm von unserm früheren Besuch bei ihr erzählt, und unsere Schilderungen schienen ihn sehr interessiert zu haben. Aber immer wieder war irgend etwas dazwischen gekommen, wenn wir hingehen wollten. Da ich mir genügend Einfluß auf Miß Jellyby zutraute, um sie von einem übereilten Schritt abhalten zu können, schlug ich ihr vor, daß sie und ich und Peepy nach der Tanzakademie gehen und dann meinen Vormund und Ada bei Miß Flite – deren Namen ich jetzt zum ersten Mal hörte – treffen wollten. Ich knüpfte daran die Bedingung, daß Miß Jellyby und Peepy nachher zum Essen mit uns nach Hause kommen sollten. Nachdem beide mit großer Freude auf diesen letzten Vertragspunkt eingegangen waren, putzten wir Peepy mit Hilfe einiger Stecknadeln, etwas Seife und Wasser und einer Haarbürste ein wenig heraus und lenkten unsere Schritte in die Newmanstreet, die ganz in der Nähe war.

Die Akademie befand sich in einem ziemlich verrußten Gebäude mit Büsten in allen Treppenfenstern an der Ecke einer Durchfahrt. In dem Hause wohnten noch, wie ich aus den Schildern an der Tür entnahm, ein Zeichenlehrer, ein Kohlenhändler und ein Lithograph. Auf dem Schilde, das durch seine Größe und seinen Platz alle andern überragte, las ich: Mr. Turveydrop.

Die Tür stand offen, und die Vorhalle war mit einem großen Piano, einer Harfe und verschiednen andern Musikinstrumenten verbarrikadiert, die alle fortgeschafft werden sollten und jetzt bei Tag einen etwas liederlichen Eindruck machten. Miß Jellyby sagte mir, daß die Akademie am Abend vorher zu einem Konzert gedient habe.

Wir gingen die Treppe hinauf – es mußte früher ein recht schönes Haus gewesen sein, als es noch jemand obgelegen, es rein und sauber zu halten, und niemand, den ganzen Tag darin zu rauchen – und traten in Mr. Turveydrops großen Saal, der hinten an einen Pferdestall stieß und von Oberlicht erhellt wurde. Es war ein kahler, widerhallender Saal, der nach Stall roch, mit Rohrbänken an der Wand, die Wände in regelmäßigen Abständen mit gemalten Lyras und drei gläsernen Armleuchtern mit altmodischen Tropfen gleich Herbstblättern verziert. Mehrere junge Schülerinnen von dreizehn oder vierzehn Jahren bis zu zwei- oder dreiundzwanzig waren bereits versammelt, und ich sah mich unter ihnen nach ihrem Lehrer um, als Caddy mich in den Arm kniff und mich vorstellte: »Miß Summerson – Mr. Prince Turveydrop.«

Ich verneigte mich vor einem kleinen, blauäugigen, hübschen Mann von jünglingshaftem Aussehen mit in der Mitte gescheiteltem Flachshaar, das sich rings um seinen Kopf lockte. Er hielt eine Violine unter dem linken Arm und den Bogen in der Hand. Seine Tanzschuhe waren auffallend klein, und er legte ein unschuldiges, frauenhaftes Benehmen in einer gewissen liebenswürdigen Weise mir gegenüber an den Tag, das die eigentümliche Vorstellung in mir erweckte, er müsse seiner Mutter sehr ähnlich sehen und sie selbst sei nicht sehr hochgehalten oder gut behandelt worden.

»Ich schätze mich unendlich glücklich, Miß Jellybys Freundin kennen zu lernen«, sagte er und verbeugte sich tief vor mir. »Ich begann bereits zu fürchten«, fuhr er mit schüchterner Zärtlichkeit fort, »daß Miß Jellyby nicht mehr kommen werde, da der Unterricht schon begonnen hat.«

»Ich muß Sie bitten, mir das zugute zu halten und mich zu entschuldigen, da ich es war, die sie abgehalten hat, Sir.«

»O Gott«, sagte er.

»Und bitte, lassen Sie mich nicht die Ursache einer weiteren Verzögerung sein.«

Mit diesen entschuldigenden Worten zog ich mich auf einen Sitz zwischen Peepy, der, schon an die Situation gewöhnt, bereits einen Stuhl in der Ecke erklommen hatte, und einer alten Dame mit einem kritischen Blick zurück, deren zwei Nichten an den Tanzstunden teilnahmen und die sich sehr über Peepys Stiefel ärgerte. Prince Turveydrop klimperte sodann mit den Fingern in den Saiten seiner Fiedel, und die jungen Damen traten zum Tanze an. In diesem Augenblick erschien in einer Seitentür der alte Mr. Turveydrop, strahlend wie ein Gott.

Er war ein fetter alter Herr mit geschminktem Teint, falschen Zähnen, gefärbtem Backenbart und einer Perücke. Er trug einen Pelzkragen, und die Brust seines Fracks, dem nur ein Stern oder ein breites blaues Band fehlte, um vollständig zu sein, war auswattiert. Er war geschnürt, ausgestopft, hergerichtet und zusammengeschnallt, wie er es nur irgend aushalten konnte. Sein Halstuch drosselte ihn so, daß es ihm die Augen förmlich aus den Höhlen drängte, und sein Kinn und selbst seine Ohren waren so tief hineinversunken, daß es aussah, als müßte er aus dem Leim gehen, wenn er es ablegte. Unter dem Arm trug er einen großen, schweren Hut, der vom Kopf zum Rande zu sich abschrägte, und in der Hand ein Paar weiße Handschuhe, mit denen er ihn von Zeit zu Zeit abstaubte, wie er auf einem Beine ruhend in unübertrefflicher, hochschulteriger, ellbogengerundeter Eleganz dastand. Er hatte einen Stock, ein Augenglas, eine Schnupftabaksdose, er hatte Ringe, er hatte Manschetten, er hatte alles, nur keine Spur von Natur; er war nicht Jugend, er war nicht Alter, er war nichts als ein Modell unübertrefflichen Anstandes.

»Vater! Ein Besuch! Eine Freundin Miß Jellybys – Miß Summerson!«

»Ich fühle mich hochgeehrt durch Miß Summersons Anwesenheit«, begrüßte mich Mr. Turveydrop. Wie er mir eingeschnürt eine Verbeugung machte, schien fast das Weiße seiner Augen Falten zu bekommen.

»Mein Vater ist eine gefeierte Größe«, sagte der Sohn zu mir halblaut mit einem wahrhaft rührenden Glauben im Ton. »Man bewundert meinen Vater allgemein.«

»Fahre fort, Prince! Fahre fort!« sagte Mr. Turveydrop, mit dem Rücken gegen den Kamin und herablassend mit den Handschuhen winkend. »Fahre fort, mein Sohn!«

Auf diesen Befehl oder, besser gesagt, auf diese gnädige Erlaubnis nahm der Unterricht seinen Anfang. Prince Turveydrop spielte manchmal tanzend die Violine, manchmal stehend das Piano, manchmal summte er die Melodie mit dem bißchen Atem, das er noch übrig hatte, wenn er einer Schülerin Anweisungen gab, machte stets mit der Ungeschicktesten jeden Schritt und jeden Teil einer Tanzfigur gewissenhaft durch und war keinen Augenblick unbeschäftigt. Sein berühmter Vater tat gar nichts, sondern stand nur am Kamin, ein Bild vornehmen Anstandes.

»Er tut nämlich nie etwas anderes«, bemerkte die alte Dame mit dem kritischen Blick zu mir. »Und möchten Sie glauben, daß sein Name an der Türe steht?«

»Der Name seines Sohnes ist doch ganz derselbe«, sagte ich.

»Am liebsten ließe er seinem Sohn gar keinen Namen! Sehen Sie sich nur den Rock des jungen Turveydrop an!« – Der war allerdings recht gewöhnlich und fadenscheinig, fast schäbig. – »Aber der Herr Vater muß natürlich herausgeputzt und gestriegelt sein«, sagte die alte Dame, »wegen seines – Anstandes. Ich möchte ihn schon Anstand lehren. Ich möchte ihn schon zur Schau stellen – aber anderswo.«

Ich war begierig, mehr zu erfahren, und fragte daher: »Gibt er jetzt Unterricht in Anstand?«

»Jetzt!!« gab die alte Dame kurz zur Antwort. »Hat es nie getan.«

Nach einer kurzen Pause des Nachdenkens fragte ich, ob er vielleicht Fechtstunden gebe.

»Ich glaube nicht, daß er überhaupt fechten kann, Miß.«

Ich machte ein überraschtes und wißbegieriges Gesicht. Die alte Dame wurde mit jedem Wort erzürnter über den Meister des Anstands und erzählte mir gewisse Einzelheiten aus seinem Leben mit der lebhaftesten Versicherung, daß sie durchaus nicht übertreibe.

Er hätte eine sanfte kleine Tanzlehrerin mit einer leidlichen Kundschaft – er selbst habe in seinem Leben nie etwas anderes als Anstand gepflegt – geheiratet und sie zu Tode geplagt oder, gelinde gesagt, zugelassen, daß sie sich zu Tode plagte, um ihm das Geld für die Ausgaben zu verschaffen, die für seine Stellung unentbehrlich waren. Um seinen Anstand an den besten Vorbildern schulen zu können und die besten Modelle beständig vor Augen zu haben, habe er es für notwendig gefunden, alle öffentlichen Zusammenkunftsorte der modischen und vornehmen Welt zu frequentieren, zur fashionablen Zeit in Brighton zu sein und ein müßiges Leben in den allerbesten Kleidern zu führen. Um ihm das zu ermöglichen, habe sich die gutmütige kleine Tanzlehrerin geplagt und geschunden und würde sich heute noch plagen und schinden, wenn ihre Kräfte ausgereicht hätten, denn der Kernpunkt der Sache wäre gewesen, daß seine Frau, von seinem Anstand geblendet, trotz seiner unermeßlichen Selbstsucht an ihn geglaubt und auf ihrem Sterbebett ihn in den rührendsten Worten ihrem Sohne ans Herz gelegt hätte, als ob dieser ihm eine untilgbare Schuld abzuzahlen habe und nie mit zuviel Stolz und Ehrerbietung zu ihm aufsehen könnte. Der Sohn, der seiner Mutter Glauben geerbt und den Anstand seines Vaters stets vor Augen gehabt habe, sei mit diesen Ansichten aufgewachsen und arbeite jetzt im dreißigsten Lebensjahr zwölf Stunden täglich für ihn und blicke mit Verehrung auf zu dem alten eingebildeten Götzen.

»Das Air, das sich der Kerl gibt!« sagte die alte Dame und schüttelte in sprachloser Entrüstung den Kopf gegen den alten Mr. Turveydrop, dem diese Huldigung ganz und gar entging, da er gerade seine engen Handschuhe anzog. »Er bildet sich wahrscheinlich ein, er gehöre zum Adel, und tut so herablassend gegen den Sohn, daß man ihn für den trefflichsten aller Väter halten möchte, während er ihn in Wirklichkeit jämmerlich ausnützt. O!« sagte die alte Dame mit unendlicher Heftigkeit, »beißen möchte ich dich!«

Die Sache belustigte mich eigentlich, obgleich ich aus der Erzählung wirkliche Teilnahme heraushörte. Es war schwer, an der Wahrheit des Gehörten zu zweifeln, wenn man Vater und Sohn vor sich sah. Meine Augen schweiften noch von dem jungen Mr. Turveydrop, der sich so abmühte, zu dem alten Mr. Turveydrop, der sich lediglich auf die Schaustellung seiner Allüren beschränkte, als letzterer zu mir trat und mich ins Gespräch zog.

Er fragte mich, ob ich London das Glück und die Auszeichnung angedeihen lassen wollte, hier zu leben. Ich hielt es nicht für notwendig, zu erwidern, ich wisse recht wohl, daß das durchaus keine Auszeichnung bedeute, sondern sagte ihm bloß, wo ich wohnte.

»Eine so reizende und vollendete Dame«, sagte er, indem er seinen rechten Handschuh küßte und dann mit ihm auf die Schülerinnen deutete, »wird die Mängel hier mit Nachsicht beurteilen. Wir tun, was wir können, um Politur zu geben – Politur – Politur!«

Er setzte sich neben mich und gab sich offenbar Mühe, die Haltung seines erlauchten Modells auf dem Kupferstich über dem Sofa nachzuahmen. Und wirklich, es gelang ihm so ziemlich.

»Politur – Politur – Politur«, wiederholte er, nahm eine Prise und schnippte leise mit den Fingern. »Aber wir sind nicht – wenn ich so zu einer Dame, in der sich Natur und Kunst so anmutig vereinen, sprechen darf«, sagte er mit einer hochschultrigen Verbeugung und zog dabei die Brauen in die Höhe und schloß die Augen. »Wir sind nicht mehr, was wir früher im Punkte des Anstands waren.«

»Wirklich, meinen Sie, Sir?«

»Wir sind entartet.« Er schüttelte den Kopf, soweit ihm das seine Halsbinde erlaubte. »Eine alles nivellierende Epoche ist der Entwicklung des Anstandes nicht förderlich. Sie begünstigt das Vulgäre. Ich bin vielleicht ein wenig parteiisch. Es schickt sich vielleicht nicht für mich, wenn ich sage, daß man mich seit Jahren den Gentleman Turveydrop nennt – oder daß Seine königliche Hoheit mir die Ehre erwies, zu fragen, als ich den Hut zog, während sie aus dem Pavillon in Brighton – übrigens ein prächtiges Gebäude! – fuhr: Wer ist das? Wer zum Teufel ist das? Warum kenne ich ihn nicht? Warum hat er nicht dreißigtausend Pfund jährlich?… Aber das sind Anekdoten – in aller Mund, Maam, und hie und da immer noch unter den obern Zehntausend Gesprächsthema.«

»In der Tat?«

Er antwortete mit seiner hochschultrigen Verbeugung:

»Wenn von dem, was von Anstand noch übrig ist, die Rede ist. England – o mein Vaterland – ist sehr entartet und sinkt von Tag zu Tag. Es sind nicht viel Gentlemen mehr übrig geblieben. Unser sind nur noch wenige. Nach uns sehe ich nichts kommen als ein Geschlecht von Webern.«

»Man sollte doch glauben, daß das Geschlecht der Gentlemen hier wenigstens nicht ausgestorben ist«, sagte ich.

»Sie sind sehr gütig«, lächelte er, wieder mit einer hochschultrigen Verbeugung. »Belieben zu schmeicheln. Aber nein… nein! Ich bin nie imstande gewesen, meinem armen Jungen diesen Teil seiner Kunst einzuimpfen. Der Himmel sei vor, daß ich über mein liebes Kind etwas Nachteiliges sagen sollte, aber er hat keine – keine – Allüren.«

»Er scheint aber ein vortrefflicher Lehrer zu sein.«

»Verstehen Sie mich recht, meine Gnädige, er ist ein vortrefflicher Lehrer. Alles, was man sich aneignen kann, hat er sich angeeignet. Alles, was man lehren kann, kann er lehren, aber es gibt gewisse Dinge…« Er nahm abermals eine Prise und verbeugte sich wieder, als ob er hinzusetzen wollte: »Das da zum Beispiel.«

Ich warf einen Blick in den Saal, wo Miß Jellybys Verlobter, jetzt die Schülerinnen einzeln vornehmend, sich ärger plagte als je.

»Mein liebenswürdiges Kind«, murmelte Mr. Turveydrop und richtete sich die Halsbinde.

»Ihr Sohn ist unermüdlich.«

»Das von solchen Lippen zu hören, ist ein Lohn für mich. In mancherlei Hinsicht tritt er in die Fußstapfen seiner seligen Mutter. Sie war voll Hingebung und Aufopferung. Ja, die Frauen, die lieblichen Frauen«, sagte er mit einer widerwärtigen Galanterie. »Man kann sie nicht genug hochhalten.«

Ich stand auf und ging zu Miß Jellyby, die jetzt ihren Hut aufsetzte. Da die für eine Lektion festgesetzte Zeit reichlich um war, fand ein allgemeines Hutaufsetzen statt. Wann je Miß Jellyby und der unglückliche Prince Gelegenheit gefunden haben mochten, sich miteinander zu verloben, weiß ich nicht, aber jedenfalls fanden sie jetzt keine, auch nur ein Dutzend Worte miteinander zu sprechen.

»Lieber Sohn«, fragte Mr. Turveydrop herablassend, »weißt du, wie spät es ist?«

»Nein, Vater!«

Der Sohn hatte keine Uhr. Der Vater zog eine schöne goldne mit einer Miene, die der Menschheit zum Beispiel dienen konnte, heraus.

»Mein Sohn, es ist zwei Uhr. Vergiß nicht deine Stunde in Kensington um drei.«

»Da habe ich noch Zeit genug, Vater«, sagte Prince. »Ich kann ein paar Bissen Mittagbrot im Stehen essen und dann gleich gehen.«

»Mein lieber Junge«, entgegnete der Vater, »da mußt du aber rasch machen. Kalten Hammelbraten findest du auf dem Tisch.«

»Ich danke, Vater. Gehst du jetzt, Vater?«

»Ja, mein Sohn. Vermutlich.« Mr. Turveydrop schloß die Augen und zog die Schultern in die Höhe. »Ich muß mich jetzt wie gewöhnlich in der Stadt zeigen.«

»Wäre es nicht am besten, du diniertest irgendwo außer Haus, Vater?«

»Ja, liebes Kind, das beabsichtige ich auch. Ich werde mein kleines Mahl im französischen Restaurants in der Opera-Kolonnade einnehmen.«

»Das ist recht. Adieu Vater!« sagte Prince und schüttelte ihm die Hand.

»Adieu, mein Sohn. Gott segne dich!«

Mr. Turveydrop sprach diese Worte fast in einem frommen Ton, die seinen Sohn, der beim Abschied so ehrerbietig und so stolz auf ihn war, daß es mir fast wie eine Unfreundlichkeit vorgekommen wäre, wenn man nicht unumschränkt ebenfalls an seinen Vater geglaubt hätte, sehr zu freuen schienen.

Die wenigen Augenblicke, die Prince dem Abschiednehmen von uns widmen konnte – und vorzüglich von einer von uns, wie ich als Mitwisserin sehr gut merkte –, vermehrten den günstigen Eindruck, den sein harmlos kindliches Benehmen auf mich gemacht hatte. Er gefiel mir sehr, und ich sah fast mit einem Mitleid, das mich beinahe noch mehr gegen seinen Vater aufbrachte als die alte Dame mit dem kritischen Blick, wie er seine kleine Violine in die Tasche steckte – und mit ihr seinen Wunsch, noch ein klein wenig mit Caddy beisammen bleiben zu können – und resigniert zu seinem kalten Hammelfleisch und zu seiner Tanzlektion in Kensington ging.

Der alte Mr. Turveydrop öffnete uns die Zimmertür und verneigte sich vor uns mit einer Grandezza, die, wie ich anerkennen muß, seinen glänzenden Allüren durchaus würdig war. In demselben Stil stolzierte er gleich darauf an der andern Seite der Straße vorüber und schlug den Weg nach dem aristokratischen Viertel der Stadt ein, wo er sich unter den wenigen noch lebenden Gentlemen zeigen wollte.

Eine Zeitlang war ich so in Gedanken über das in Newmanstreet Gehörte und Gesehene verloren, daß ich gänzlich außerstande war, mit Caddy zu sprechen oder dem, was sie mir erzählte, meine Aufmerksamkeit zuzuwenden. Besonders, als ich mich innerlich fragte, ob es jemals andre Gentlemen als Tanzlehrer gegeben habe, die nur von Anstand gelebt und ihren Ruhm darauf begründet hätten. Das verwirrte mich so sehr und enthüllte mir die Möglichkeit der Existenz so vieler Mr. Turveydrops, daß ich zu mir sagte: »Esther, weg mit diesen Gedanken. Du mußt jetzt auf Caddy hören.« Und das tat ich, und wir plauderten den ganzen Weg bis Lincoln’s-Inn.

Sie erzählte mir, ihres Verlobten Erziehung sei so vernachlässigt worden, daß es ihr manchmal schwer falle, seine Briefe zu entziffern. Sie sagte, wenn er wegen seiner Orthographie nicht so ängstlich wäre und sich weniger Mühe damit gäbe, täte er besser, aber er brächte oft so viel unnötige Buchstaben in kurzen Wörtern an, daß sie manchmal ganz ihr englisches Aussehen verlören.

»Er tut es in der besten Absicht«, bemerkte sie. »Aber es hat nicht die Wirkung, die er beabsichtigt; der arme Junge.«

Sie erging sich sodann in Erklärungen, daß man von ihm doch auch keine Bildung verlangen könne, da er sein ganzes Leben in der Tanzschule zugebracht und nichts andres getan habe als lehren und sich abplagen, sich abplagen und lehren von morgens früh bis abends spät! Und was läge schließlich daran! Sie könne Briefe genug für beide schreiben, sie habe es auf ihre Kosten erfahren, und es sei viel besser für ihn, liebenswürdig als gelehrt zu sein.

»Übrigens bilde ich mir auch nicht ein, ein gebildetes Mädchen zu sein, das ein Recht hätte, darüber die Nase zu rümpfen«, sagte sie. »Ich weiß wahrhaftig selbst wenig genug, dank meiner Erziehung.«

»Etwas muß ich Ihnen noch erzählen, solange wir allein sind«, fuhr sie unterwegs fort, »was ich Ihnen nicht gern gesagt hätte, bevor Sie Prince gesehen haben, Miß Summerson! Sie wissen, wie es bei uns zu Hause zugeht. Bei uns etwas lernen zu wollen, was für mich als Princes Frau von Nutzen sein könnte, ist unmöglich. Bei uns herrscht ein solches Durcheinander, daß es einfach nicht geht. Und ich war immer noch mehr entmutigt, wenn ich es versucht habe. So übe ich mich jetzt ein wenig … bei wem glauben Sie wohl?… bei der armen Miß Flite! Ganz früh am Morgen helf ich ihr das Zimmer aufräumen und die Vögel besorgen; dann koche ich ihr den Kaffee – sie hat es mich natürlich lehren müssen –, und ich habe ihn so gut kochen gelernt, daß Prince behauptet, es sei der allerbeste, den er jemals gekostet hat, und würde sogar den alten Mr. Turveydrop, der hinsichtlich Kaffee sehr eigen ist, in Entzücken versetzen. Ich kann auch kleine Puddings machen und weiß schon, wie man einen Hammelrücken, Tee und Zucker und Butter und andre zum Haushalt gehörige Dinge einkauft. Mit der Nadel bin ich noch nicht besonders geschickt«, sie warf einen Blick auf die Ausbesserungen an Peepys Frack, »aber vielleicht kann ich mich darin noch vervollkommnen. Seit ich mit Prince verlobt bin und mich mit allen diesen Dingen beschäftige, glaube ich besser aufgelegt und Ma gegenüber versöhnlicher gestimmt zu sein. Heute morgen packte es mich wieder, als ich Sie und Miß Clare so nett und hübsch aussehen fand und mich über Peepy und mich selbst schämen mußte, aber im großen ganzen, glaube ich, bin ich besserer Laune als früher und versöhnlicher gegenüber Ma.«

Es rührte mich tief, zu hören, wie sehr sich das arme Mädchen bemühte.

»Liebe Caddy«, sagte ich, »ich fühle mich sehr zu Ihnen hingezogen und hoffe, wir werden bald die besten Freundinnen sein.«

»Ach wirklich?« rief Caddy. »Wie glücklich mich das machen würde.«

»Liebe Caddy, wir wollen gleich von jetzt an Freundinnen und du und du sein und recht oft über diese Sachen plaudern und versuchen, uns darin zurechtzufinden, ja?«

Caddy war außer sich vor Freude. Ich sagte ihr in meiner altmodischen Weise alles Mögliche, um sie zu trösten und zu ermutigen, und hätte es an diesem Tage nicht übers Herz gebracht, etwas Nachteiliges über den alten Mr. Turveydrop zu sagen.

Wir hatten jetzt Mr. Krooks Haus erreicht und sahen den Privateingang offen stehen. Am Türpfosten klebte ein Zettel des Inhalts, daß im zweiten Stock ein Zimmer zu vermieten sei. Caddy erzählte mir, während wir die Treppe hinaufgingen, man habe einen plötzlichen Todesfall im Hause gehabt und Totenschau, und unsre kleine Freundin sei vor Schrecken krank geworden.

Da Tür und Fenster des leeren Zimmers offen standen, blickten wir hinein. Es war das Zimmer mit der dunkeln Tür, auf die Miß Flite bei meiner letzten Anwesenheit im Haus so geheimnisvoll meine Aufmerksamkeit gelenkt hatte.

– Was für ein trauriger und unwohnlicher Raum es war; ein düsterer, trauervoller Ort, der in mir ein seltsames Gefühl von Leid und sogar von Furcht erweckte. –

»Du siehst blaß aus«, sagte Caddy, als wir heraustraten. »Ist dir kalt?«

– Mich hatte tatsächlich im Zimmer ein Schauer überlaufen.

Wir waren bei unsern Gesprächen so langsam gegangen, daß mein Vormund und Ada schon vor uns angekommen waren. Wir fanden sie in Miß Flites Dachstübchen. Sie besahen sich die Vögel, während ein Arzt, der so gutherzig war, Miß Flite mit großer Teilnahme und Sorgfalt zu behandeln, freundlich mit ihr am Kamin sprach.

»Meine ärztliche Behandlung ist zu Ende«, sagte er und trat vor. »Miß Flite befindet sich bereits viel besser und kann morgen wieder im Gericht erscheinen, wenn ihr soviel daran liegt. Wie ich höre, hat man sie dort sehr vermißt.«

Miß Flite nahm das Kompliment wohlgefällig auf und machte uns einen gemeinsamen Knicks.

»Sehr geehrt, abermals die Mündel in Sachen Jarndyce bei mir zu sehen!« sagte sie. »Se-hr glücklich, Jarndyce von Bleakhaus unter meinem bescheidnen Dach zu empfangen!« Sie knickste. »Meine liebe Fitz-Jarndyce«, – diesen Namen hatte sie sich für mich ausgedacht – »seien Sie mir doppelt willkommen.«

»Ist sie sehr krank gewesen?« fragte Mr. Jarndyce den Arzt. Sie antwortete selbst, obgleich mein Vormund nur leise flüsternd gesprochen hatte.

»Oh, entschieden unpäßlich! Oh, sehr unpäßlich«, sagte sie vertraulich. »Kein Schmerz, Sie verstehen… Aufregung! Nicht so sehr körperlich, als nervös – nervös! Die Sache ist«, erklärte sie uns mit unterdrückter, bebender Stimme, »wir hatten einen Todesfall hier. Es war Gift im Hause. Ich bin solchen schrecklichen Dingen gegenüber außerordentlich empfindlich. Es entsetzte mich. Nur Mr. Woodcourt weiß, wie sehr. Mein Arzt, Mr. Woodcourt«, stellte sie mit großer Förmlichkeit vor, »die Mündel in Sachen Jarndyce – Jarndyce von Bleakhaus – Fitz-Jarndyce.«

»Miß Flite«, sagte Mr. Woodcourt mit ernster, wohlwollender Stimme, als wende er sich an sie, während er zu uns sprach und seine Hand sanft auf ihren Arm legte. »Miß Flite beschreibt ihre Krankheit mit ihrer gewohnten Akkuratesse. Ein Vorfall im Hause hat sie erschüttert, der eine stärkere Person als sie hätte stark mitnehmen müssen. Und sie wurde vor lauter Aufregung und Trübsal krank. In der ersten Hast der Entdeckung brachte sie mich hierher. Leider zu spät, um dem Unglücklichen noch helfen zu können. Ich habe mich für diese Enttäuschung dadurch entschädigt, daß ich seitdem hierher kam und ihr ein wenig nützlich gewesen bin.«

»Der freundlichste Arzt vom ganzen Kollegium«, wisperte mir Miß Flite zu. »Ich erwarte ein Urteil am Tag des Gerichts. Und dann werde ich Güter verschenken.«

»Miß Flite wird in ein paar Tagen wieder gesund und wohlauf sein«, sagte Mr. Woodcourt und sah sie mit einem prüfenden Lächeln an. »Mit andern Worten, wieder ganz auf dem Damm. Haben Sie gehört, welches Glück sie gehabt hat?«

»Ein ganz außerordentliches Glück«, bestätigte Miß Flite mit strahlendem Gesicht. »Denken Sie nur, jeden Samstag übergibt mir Konversations-Kenge oder Guppy – bei Konversations-K. – ein Kuvert mit Schillingen – mit Schillingen! Ja, ja, Sie dürfen mir’s glauben! Immer die gleiche Anzahl ist im Kuvert. Immer einer für jeden Tag in der Woche. Jetzt wissen Sie es. Und gerade zur rechten Zeit gekommen, nicht wahr? Jaaaa! Woher, glauben Sie wohl, kommen diese Kuverts? Das ist die große Frage. Natürlich. Soll ich Ihnen sagen, was ich glaube? Ich glaube«, sie trat mit einem schlauen Blick zurück und hielt den rechten Zeigefinger höchst bedeutsam in die Höhe, »daß der Lordkanzler in Hinblick auf die Länge der Zeit, wo das Große Siegel geöffnet ist – denn es ist schon sehr lange geöffnet –, das Geld schickt. Bis das Urteil, das ich erwarte, erfolgt. Das ist sehr anerkennenswert, sehen Sie. Auf diese Weise einzugestehen, daß der Prozeß sich wirklich etwas langsam für das irdische Leben abwickelt. So zartfühlend! Als ich neulich im Gerichtssaal war – ich wohne den Sitzungen regelmäßig bei mit meinen Dokumenten –, stellte ich ihn zur Rede, und er gestand fast. Das heißt, ich lächelte ihn von meiner Bank aus an und er lächelte mich von seiner Bank aus an. Aber ist es nicht ein großes Glück, wie? Und meine junge Freundin verwendet das Geld für mich so vorteilhaft. Oh, ich versichere Ihnen, außerordentlich vorteilhaft!«

Sie hatte sich an mich gewendet, und ich wünschte ihr Glück und weitere Vermehrung ihres Einkommens und eine recht lange Dauer desselben. Ich brauchte mir nicht den Kopf zu zerbrechen, aus welcher Quelle es kam und wer so menschenfreundlich war. Mein Vormund stand vor mir und besah sich die Vögel, und ich brauchte nicht weit zu suchen.

»Und wie heißen die kleinen Burschen, Maam?« fragte er mit seiner sympathischen Stimme. »Haben sie Namen?«

»Ich kann für Miß Flite bejahen«, sagte ich, »denn sie versprach uns neulich, sie uns zu nennen. – Ada, weißt du noch?«

Ada erinnerte sich noch sehr gut.

»So, tat ich das?« sagte Miß Flite. »Halt! Wer ist dort an meiner Tür? Was horchen Sie an meiner Tür, Krook?«

Der Alte stieß die Türe auf und erschien, die Pelzmütze in der Hand, begleitet von seiner Katze, auf der Schwelle.

»Ich hab nicht gehorcht, Miß Flite. Ich wollte eben klopfen, aber Sie geben so scharf acht.«

»Jagen Sie Ihre Katze hinaus. Fort!« rief die alte Dame heftig aus.

»Bah, bah. Es besteht keine Gefahr, meine Herrschaften«, beruhigte sie Mr. Krook und sah uns alle der Reihe nach lange und scharf an. »Sie wird, wenn ich hier bin, auf die Vögel nicht losgehen – wenn ich sie nicht hetze.«

»Sie müssen meinen Hauswirt entschuldigen«, flüsterte Miß Flite mit würdevoller Miene. »Ver-, ganz ver-! Was wollen Sie denn, Krook? Sie sehen doch, daß ich Gesellschaft habe.«

»Hi«, sagte der Alte. »Sie wissen, ich bin der ‚Kanzler‘.«

»Nun, und? Was weiter?«

»Daß dem Kanzler«, kicherte der Alte, »ein Jarndyce unbekannt bleiben sollte, wäre seltsam, nicht wahr, Miß Flite? Darf ich mir nicht die Freiheit nehmen? Ihr Diener, Sir. Ich kenne ‚Jarndyce kontra Jarndyce‘ fast so genau wie Sie selbst, Sir. Ich kannte den alten Squire Tom, Sir, aber soviel ich mich erinnern kann, habe ich Sie noch nie gesehen. Nicht einmal im Gerichtshof. Und ich bin doch unendlich oft im Lauf des Jahres dort.«

»Ich gehe nie hin«, entgegnete Jarndyce. »Ich würde lieber – ich weiß nicht wohin gehen.«

»Wirklich?« grinste Krook. »Sie sind schlecht auf meinen vornehmen und gelehrten Bruder zu sprechen, Sir; wenn das auch vielleicht bei einem Jarndyce ganz natürlich ist. Ein gebranntes Kind, Sir!… Was, Sie sehen sich die Vögel meiner Mieterin an, Mr. Jarndyce?« Er war ganz langsam immer weiter ins Zimmer hereingekommen und berührte jetzt meinen Vormund mit dem Ellbogen und sah ihm mit seinen bebrillten Augen scharf ins Gesicht.

»Es ist eine ihrer Wunderlichkeiten, daß sie niemals die Namen dieser Vögel nennt, wenn sie es vermeiden kann. Aber jeder einzelne hat seinen Namen!« Er sagte das leise flüsternd. »Soll ich sie herzählen, Flite?« fragte er dann laut, zwinkerte uns zu und deutete auf sie, während sie sich hastig abwendete und sich stellte, als kehre sie den Herd.

»Wenn Sie wollen«, gab sie hastig zur Antwort.

Der Alte warf uns wieder einen Blick zu, spähte zu den Käfigen hin und ging dann die Liste durch.

»Hoffnung, Freude, Jugend, Friede, Ruhe, Leben, Staub, Asche, Verschwendung, Mangel, Ruin, Verzweiflung, Wahnsinn, Tod, List, Torheit, Faselei, Perücke, Pergament, Plunder, Präzedenz, Jargon, blauer Dunst und Larifari – das ist die ganze Reihe. Alle von meinem vornehmen und gelehrten Bruder zusammen in einen Käfig gesperrt.«

»Ein böser Wind!« murmelte mein Vormund.

»Wenn mein vornehmer und gelehrter Bruder das Urteil fällt, sollen sie freigelassen werden«, sagte Krook und zwinkerte uns wieder zu. »Und dann«, setzte er flüsternd und zähnefletschend hinzu, »wenn das geschieht – es geschieht natürlich nie –, dann werden sie von den andern Vögeln, die niemals in Gefangenschaft gewesen sind, totgebissen.«

»Wenn jemals Ostwind war«, sagte mein Vormund und stellte sich, als sähe er zum Fenster hinaus nach der Wetterfahne, »so haben wir heute welchen.«

Es wurde uns außerordentlich schwer, wegzukommen. Nicht Miß Flite hielt uns auf – das kleine Geschöpf war so verständig in der Berücksichtigung der Wünsche andrer wie nur möglich –, Mr. Krook tat es. Er schien sich gar nicht von Mr. Jarndyce losmachen zu können. Wenn er an ihn angekettet gewesen wäre, hätte er sich kaum dichter an ihn halten können.

Er schlug uns vor, uns seinen Kanzleigerichtshof und das seltsame Durcheinander, das er enthielt, zu zeigen.

Während der ganzen Besichtigung, die er geflissentlich in die Länge zog, blieb er immer dicht neben Mr. Jarndyce und hielt ihn unter allen möglichen Vorwänden auf, bis wir voraus waren, als quäle ihn eine Neigung, von irgendeinem Geheimnis zu sprechen, ohne daß er sich entschließen könnte, davon anzufangen. Ich kann mir kein Gesicht und kein Benehmen denken, das einen deutlicheren Ausdruck von Vorsicht und Unentschlossenheit und dem beständigen Drange trug, irgend etwas, was ihm auf der Zunge lag, zu sagen, als Mr. Krooks Gesicht und Benehmen an diesem Tag.

Ununterbrochen belauerte er meinen Vormund. Er wendete kein Auge von ihm. Wenn er neben ihm ging, betrachtete er ihn mit der Schlauheit eines alten, weißhaarigen Fuchses. Wenn er vorausging, sah er sich um nach ihm. Standen wir still, pflanzte er sich ihm gegenüber auf und fuhr mit der Hand immer wieder langsam über den offenen Mund mit dem seltsamen Ausdruck eines gewissen Machtbewußtseins, rollte die Augäpfel in die Höhe und runzelte die grauen Augenbrauen, bis sie zusammenzustoßen schienen. Jede Linie im Gesicht meines Vormunds schien er zu studieren.

Endlich, nachdem wir überall im Hause gewesen waren, immer von der Katze begleitet, und den ganzen kuriosen Vorrat von allerlei Waren gesehen hatten, führte er uns in den rückwärtigen Teil des Ladens. Hier bemerkten wir auf einem aufrechtstehenden leeren Fasse eine Tintenflasche, ein paar alte Federstümpfe und einige schmutzige Theaterzettel. An die Wand waren mehrere großgedruckte Alphabete in verschiednen Kurrentschriften geklebt.

»Was machen Sie hier?« fragte mein Vormund.

»Versuche lesen und schreiben zu lernen.«

»Und wie kommen Sie damit zurecht?«

»Langsam. Schlecht«, gab Mr. Krook ungeduldig zur Antwort. »Es ist schwer in meinen Jahren.«

»Sie würden sich leichter tun, wenn Sie sich von jemand unterrichten ließen.«

»Ja, aber man könnte es mich absichtlich falsch lehren«, entgegnete der Alte mit einem sonderbar argwöhnischen Aufleuchten in seinen Augen. »Ich weiß nicht, was ich dabei verloren habe, daß ich es nicht früher gelernt habe. Ich möchte jetzt nicht gern dadurch zu Schaden kommen, daß mich’s einer falsch lehrte.«

»Falsch?« fragte mein Vormund mit seinem gutgelaunten Lächeln. »Bitte Sie, wer sollte das tun!«

»Ich weiß es nicht, Mr. Jarndyce von Bleakhaus«, gab der Alte zur Antwort, schob sich die Brille auf die Stirn hinauf und rieb sich die Hände. »Ich glaube nicht gerade, daß es jemand tun würde… Aber ich traue doch lieber mir selbst als einem andern.«

Diese Antworten und sein ganzes Wesen waren seltsam genug, um meinem Vormund Anlaß zu geben, während wir durch Lincoln’s-Inn schritten, Mr. Woodcourt zu fragen, ob Mr. Krook wirklich, wie seine Mieterin behauptete, verrückt sei. Der junge Arzt sagte, er habe durchaus keinen Grund, das anzunehmen. Krook sei nur außerordentlich mißtrauisch wie die meisten ungebildeten Leute und gewöhnlich mehr oder weniger von Gin berauscht. Er trinke ihn in großen Mengen und er und sein Ladenstübchen röchen sehr stark danach, wie wir selbst wohl schon bemerkt hätten, aber für verrückt halte er ihn keineswegs.

Auf dem Nachhauseweg gewann ich mir Peepys Liebe so sehr durch das Geschenk einer Windmühle und zweier Mehlsäcke, daß er sich von niemand anders Hut und Handschuhe abnehmen lassen und beim Essen nur neben mir sitzen wollte. Caddy saß zwischen mir und Ada, der wir die ganze Geschichte unsres Freundschaftsbündnisses gleich nach unsrer Heimkehr mitteilten.

Wir nahmen uns Caddys und auch Peepys so sehr an, daß sie vor Freude strahlten. Mein Vormund nahm an unsrer Fröhlichkeit teil, und wir alle waren heiter und lustig, bis spät abends Caddy in einer Droschke nach Hause fuhr, auf dem Schoße den fest schlafenden Peepy, der immer noch die Windmühle umklammerte.

Ich habe zu erwähnen vergessen – zum mindesten nicht erwähnt –, daß Mr. Woodcourt derselbe dunkelhaarige junge Chirurg war, den wir bereits bei Mr. Badger getroffen –, daß Mr. Jarndyce ihn zu Tisch eingeladen und er die Einladung angenommen hatte, – und auch, daß, als alle fort waren und ich Ada aufforderte: »Nun, Liebling, laß uns ein wenig von Richard plaudern«, sie gelacht und gesagt hatte…

Aber ich glaube, es kommt nicht auf das an, was mein Liebling gesagt hat. Sie war doch immer scherzhaft aufgelegt.

15. Kapitel


15. Kapitel

Bell Yard

Während unsres Aufenthaltes in London war Mr. Jarndyce beständig von der Schar der leicht erregbaren Damen und Herren umlagert, deren Unternehmungslust uns schon in Bleakhaus so in Erstaunen gesetzt hatte. Mr. Quale, der sich bald nach unsrer Ankunft vorstellen kam, kannte alle persönlich. Er schien die zwei glänzenden Beulen von Schläfen in alles hineinzustecken, was vorging, und sein Haar immer weiter und weiter zurückzubürsten, bis sogar die Wurzeln in nicht zu befriedigender Philantropie aus der Kopfhaut zu dringen schienen.

Um was es sich handelte, war ihm ganz gleich, aber ganz besonders bereitwillig zeigte er sich bei Anlässen, wo es darum ging, irgend jemandes Lobeshymne zu singen. Seine Hauptstärke schien in der Gabe zu liegen, andre rückhaltlos zu bewundern. Er konnte mit dem größten Genuß beliebig lang dasitzen und seine Schläfen im Glanze jedes beliebigen großen Lichtes baden. Als ich ihn das erste Mal ganz in Bewunderung der Mrs. Jellyby versunken gesehen, hatte ich geglaubt, sie sei der alles andre verdrängende Gegenstand seiner Verehrung. Aber bald entdeckte ich meinen Irrtum und fand, daß er der Schleppenträger und Herold für eine ganze Prozession von Leuten war.

Mrs. Pardiggle besuchte uns eines Tages wegen einer Subskription für irgend etwas – und mit ihr Mr. Quale. Was auch Mrs. Pardiggle sagte, Mr. Quale wiederholte es. Und wie er uns seiner Zeit Mrs. Jellyby vorgeführt hatte, führte er uns jetzt Mrs. Pardiggle vor.

Mrs. Pardiggle hatte ihrem beredten Freund Mr. Gusher einen Empfehlungsbrief an meinen Vormund mitgegeben. Mit Mr. Gusher kam abermals Mr. Quale. Mr. Gusher, ein sulzartig aussehender Herr mit einem schwitzenden Gesicht und Augen, die, für sein Vollmondantlitz viel zu klein, ursprünglich einem andern gehört zu haben schienen, war auf den ersten Blick nicht einnehmend; aber kaum hatte er sich gesetzt, fragte schon Mr. Quale Ada und mich ziemlich hörbar, ob er nicht ein großer Mann sei – was hinsichtlich seiner Aufgedunsenheit allerdings der Fall war, obgleich Mr. Quale Größe in geistiger Hinsicht meinte – und ob uns nicht der massive Bau der Stirn auffalle.

Kurz, wir hörten von Missionen jeder Gattung unter diesen Leuten sprechen, aber nichts kam uns nur halb so deutlich zum Bewußtsein, als daß es Mr. Quales Mission war, über jedes andern Mission in Ekstase zu geraten, und daß das offenbar die populärste Mission von allen war.

Mr. Jarndyce, in seiner Herzensgüte und immer von dem Wunsch beseelt, alles Gute, was in seiner Macht stand, zu tun, trat diesen Gesellschaften zwar bei, aber er gestand offen zu, daß sie ihm oft als eine recht unzulängliche Institution erschienen, in der die Wohltätigkeit sich in Form von Krämpfen betätige, wobei marktschreierische Philantropen und Spekulanten in billiger Berühmtheit, groß im Wort, ruhelos und eitel im Handeln, kriecherisch nach oben, lobhudelnd gegen einander und unduldsam gegen die, die gern im stillen die Schwachen vor dem Falle schützten, anstatt sie lärmend und mit großem Selbstlob ein wenig aufzuheben, wenn sie schon gefallen waren, – die christliche Barmherzigkeit wie eine Uniform zur Schau trugen.

Als Mr. Gusher ein Ehrengeschenk für Mr. Quale vorschlug, der früher bereits eins für ihn angeregt hatte, und anderthalb Stunden über dieses Thema vor einer Versammlung sprach, der zwei Knaben- und Mädchenklassen aus der Armenschule beiwohnten, die, ein lebendes Beispiel, an das Gleichnis vom Scherflein der Witwe erinnerten, aber nichtsdestoweniger aufgefordert wurden, ihre Halfpence zum Opfer zu bringen, glaubte ich wirklich, der Wind würde drei Wochen lang aus Osten wehen.

Ich erwähne dies, weil ich auf Mr. Skimpole zu sprechen kommen will. Es schien mir, als ob seine ungezwungene Kindlichkeit und Sorglosigkeit im Gegensatz zu allen diesen Leuten ein großer Lichtblick für meinen Vormund wären, der eben dieses Gegensatzes wegen um so bereitwilliger an ihn glaubte. Es mußte ihm Freude machen, unter so vielen Andersgearteten einen so vollkommen arglosen und aufrichtigen Menschen zu finden. Es täte mir leid, wenn ich damit vielleicht den Verdacht erwecken sollte, Mr. Skimpole habe dies durchschaut und sich politisch benommen. Ich habe ihn nie genügend kennengelernt, um das zu wissen. Wie er sich zu meinem Vormund benahm, so benahm er sich bestimmt gegen jedermann.

Er war nicht ganz wohl gewesen und hatte sich, obgleich er in London wohnte, bis dahin noch nicht bei uns blicken lassen. Eines Morgens aber erschien er in seiner gewöhnlichen gewinnenden Art und so heiter wie je.

»Also da bin ich«, sagte er.

Er habe an der Galle gelitten, aber reiche Leute litten daran oft, und deshalb habe er sich eingeredet, er sei vermögend. Und das sei er in gewisser Hinsicht… In seinen großzügigen Absichten nämlich. Er habe seinen Arzt auf die verschwenderischste Weise beschenkt und sein Honorar stets verdoppelt und manchmal sogar vervierfacht. »Mein lieber Doktor«, habe er zu ihm gesagt, »Sie täuschen sich vollkommen, wenn Sie glauben, Sie behandelten mich umsonst. Ich überschütte Sie mit Geld – in Gedanken –, wenn Sie es nur wüßten«, und wirklich, sagte er, sei es ihm damit so ernst, daß er glaube, es käme ganz auf dasselbe heraus, ob er es in Wirklichkeit tue oder anders.

Wenn er die gewissen kleinen Metallscheiben oder die dünnen Papierzettel, auf die das Menschengeschlecht so großen Wert legt, dem Arzt in die Hand hätte drücken können, würde er es selbstverständlich getan haben. Da er sie nicht besäße, setze er den Willen für die Tat. Sehr gut! Wenn er es wirklich wolle, und sein Wille sei echt und wahr – und das sei er –, so scheine ihm das ebensogut wie Geld zu sein, um die Schuld zu tilgen.

»Vielleicht kommt das daher, weil ich den Wert des Geldes nicht kenne«, sagte er. »Aber ich habe das Gefühl. Es kommt mir so vernünftig vor! Mein Fleischer sagte eines Tages zu mir, er wolle seine kleine Rechnung bezahlt sehen. Es liegt eine hübsche unbewußte Poesie in der Natur dieses Mannes, daß er stets von einer kleinen Rechnung spricht, um uns beiden die Bezahlung als etwas Leichtes erscheinen zu lassen. Ich antwortete dem Fleischer: ‚Guter Freund, eigentlich sind Sie schon bezahlt, nur wissen Sie es nicht. Sie hätten sich dann gar nicht erst die Mühe zu machen brauchen, wegen der kleinen Rechnung hierher zu kommen. Sie sind doch eigentlich schon bezahlt.’«

»Aber angenommen«, fragte mein Vormund lachend, »er hätte das Fleisch auch nur im Geiste gebracht?«

»Mein lieber Jarndyce, Sie setzen mich in Erstaunen. Sie denken sich nur in die Lage des Fleischers. Ein Fleischer, mit dem ich einmal zu tun hatte, verfocht dieselbe Ansicht. Er sagte: ‚Sir, warum haben Sie jungen Lammsbraten zu achtzehn Pence das Pfund gegessen?‘ – ‚Warum ich jungen Lammsbraten zu 18 d. das Pfund gegessen habe, mein würdiger Freund?‘ sagte ich, natürlich erstaunt über die Frage. ‚Ich esse eben gern jungen Lammsbraten!‘ Das war soweit überzeugend. – ‚Gut, Sir‘, sagte er, ‚was, wenn ich auch nur vorgehabt hätte, das Lamm zu bringen, so wie Sie, das Geld zu bezahlen?‘ – ‚Guter Mann‘, sagte ich, ‚wir wollen die Sache besprechen wie vernünftige Menschen. Wie hätte das sein können, es war doch unmöglich. Sie hatten das Lamm und ich hatte das Geld nicht. Sie konnten vorhaben, das Lamm zu schicken, denn Sie hatten eins, ich konnte nicht beabsichtigen, das Geld zu zahlen, denn ich hatte keins !‘ Darauf wußte er kein Wort zu erwidern. Damit war die Sache erledigt.«

»Verklagte er Sie nicht?« fragte mein Vormund.

»Ja, er verklagte mich. Aber darin ließ er sich von der Leidenschaft leiten und nicht von der Vernunft. Übrigens, Leidenschaft. Das erinnert mich an Boythorn. Er schreibt mir, daß Sie und die Damen ihm einen kurzen Besuch in seiner Junggesellenwirtschaft in Lincolnshire versprochen hätten.«

»Er hat meine beiden Mädchen sehr gern«, bestätigte Mr. Jarndyce, »und ich habe auch in ihrem Namen zugesagt.«

»Die Natur vergaß bei ihm den mildernden Schatten, glaube ich«, bemerkte Mr. Skimpole, zu Ada und mir gewendet. »Ein wenig zu stürmisch – wie das Meer. Ein wenig zu wild – wie ein Stier, der sich in den Kopf gesetzt hat, alles für scharlachrot zu halten. Aber ich gestehe ihm so eine Art Schmiedehammerverdienst immerhin zu.«

Es würde mich wirklich gewundert haben, wenn die beiden viel von einander gehalten hätten; Mr. Boythorn, der allen Dingen soviel Wichtigkeit beilegte, und Mr. Skimpole, der sich überhaupt um nichts kümmerte. Außerdem war mir nicht entgangen, daß Mr. Boythorn mehr als ein Mal nahe daran gewesen war, seiner Meinung sehr stark Ausdruck zu verleihen, wenn auf Mr. Skimpole die Rede kam. Natürlich hatte ich mich einfach Adas Äußerung angeschlossen, er habe uns gefallen.

»Er hat mich eingeladen«, fuhr Mr. Skimpole fort. »Und wenn sich ein Kind solchen Händen anvertraut, wie es gegenwärtig der Fall ist, wo es die vereinte Zärtlichkeit zweier Engel als Wache neben sich sieht, so ist keine Gefahr dabei. Er erbietet sich, die Hin- und Herreise zu bezahlen. Ich vermute, es kostet Geld! Schillinge wahrscheinlich! Oder Pfunde? Übrigens: Coavinses! Sie erinnern sich doch an unsern Freund Coavinses, Miß Summerson?«

Er fragte mich, wie es ihm gerade in den Kopf kam, fröhlich und unbefangen und ohne die mindeste Verlegenheit.

»Gewiß.«

»Coavinses ist von dem großen Landvogt verhaftet worden. Er wird das Sonnenlicht nie mehr maßregeln.«

Ich war ordentlich betroffen, das zu hören, denn ich hatte mir bereits unwillkürlich das Bild des Mannes, wie er bei uns auf dem Sofa gesessen und sich die Stirne abgewischt, ins Gedächtnis zurückgerufen.

»Sein Nachfolger sagte es mir gestern. Er ist jetzt in meinem Hause – hat darauf Beschlag gelegt, so glaube ich, nennt er es. Er kam gestern zum Geburtstag meiner blauäugigen Tochter. Ich stellte ihm vor, das sei widersinnig und unpassend. ‚Wenn Sie eine Tochter mit blauen Augen hätten, würde es Ihnen gefallen, wenn ich uneingeladen zu ihrem Geburtstag käme?‘ fragte ich ihn. Aber er blieb doch.«

Mr. Skimpole lachte über diese liebenswürdige Absurdität und schlug einige Akkorde auf dem Piano an, an dem er saß.

»Und er sagte mir«, fuhr er fort und griff nach jedem Wort einen Akkord, »daß Coavinses… drei Kinder… keine Mutter… Und da Coavinses‘ Gewerbe – unpopulär ist, sind die kleinen Coavinses sehr schlimm daran…«

Mr. Jarndyce stand auf, fuhr sich durch die Haare und begann ruhelos im Zimmer auf und ab zu gehen. Mr. Skimpole spielte die Melodie eines von Adas Lieblingsliedern. Ada und ich blickten Mr. Jarndyce an und glaubten zu wissen, was in seiner Brust vorging.

Nachdem er auf und ab gegangen, still gestanden und verschiedne Male aufgehört hatte, sich den Kopf zu reiben, und immer wieder damit angefangen hatte, legte er die Hand auf die Tasten und wehrte Mr. Skimpole, weiterzuspielen.

»Ich mag das nicht, Skimpole«, sagte er gedankenvoll.

Mr. Skimpole, der bereits wieder an etwas ganz andres dachte, blickte überrascht auf.

»Der Mann war notwendig«, fuhr mein Vormund fort und ging in dem kleinen Raum zwischen Piano und Wand auf und ab und rieb sich das Haar am Hinterkopf in die Höh, daß es aussah, als habe es der Ostwind emporgeblasen. »Der Mann war notwendig. Wenn wir schon solche Berufe durch unsre Fehler oder durch unsern Mangel an Lebenserfahrung oder durch unsre Unfälle zur Notwendigkeit machen, so dürfen wir den Trägern derselben dann nichts nachtragen. Es war nichts Verwerfliches in seinem Beruf. Er ernährte seine Kinder damit. Man sollte sich da genauer erkundigen.«

»Ach so, Coavinses!« rief Mr. Skimpole, der endlich merkte, worum es sich handelte. »Nichts leichter. Ein Gang nach Coavinses‘ Hauptquartier, und Sie können alles erfahren, was Sie wünschen.«

Mr. Jarndyce nickte uns zu, die wir bloß auf das Signal warteten.

»Kommt! Wir wollen einmal hingehen, liebe Kinder. Warum nicht einmal auch dorthin.«

Wir waren rasch fertig und gingen aus, und Mr. Skimpole begleitete uns und hatte viel Vergnügen an der Expedition. Es sei ein Hauptspaß für ihn, sagte er, einmal seinerseits Coavinses suchen zu gehen, anstatt umgekehrt. Er führte uns zuerst nach Cursitor Street, Chancery-Lane, zu einem Haus mit vergitterten Fenstern, das er Coavinses‘ Raubschloß nannte. Wir klingelten, und ein unglaublich häßlicher Bursche kam aus einer Art Kanzleistube heraus und musterte uns über ein mit Spitzen versehenes Pförtchen hinüber.

»Was wünschen Sie?« fragte er und preßte sein Kinn zwischen zwei Stacheln.

»Es war ein Gerichtsvollzieher hier, der jetzt tot ist«, sagte Mr. Jarndyce.

»Ja. Nun, und?«

»Wir möchten gern seinen Namen wissen.«

»Hieß Necken«, sagte der Bursche.

»Und seine Adresse?«

»Bell Yard. Krämerladen linker Hand. Firma Blinder.«

»War er… Ich weiß nicht, wie ich mich ausdrücken soll«, brummte mein Vormund. »War er fleißig?«

»Neckett? – Na, und ob. War immer auf der Lauer. Blieb auf seinem Posten an einer Straßenecke acht bis zehn Stunden lang in einem Strich, wenn er’s mal übernommen hatte.«

»Er hätte Schlimmeres tun können«, hörte ich meinen Vormund murmeln. »Er hätte es übernehmen können und dann faulenzen. Danke. Weiter brauch ich nichts zu wissen.«

Wir verließen den Burschen, der, den Kopf auf eine Seite geneigt, die Arme auf die Pforte gelegt, die Spitzen des Gitters streichelte, und gingen nach Lincoln’s-Inn zurück, wo Mr. Skimpole, der sich nicht näher an Coavinses herangetraut hatte, auf uns wartete. Dann gingen wir nach Bell Yard, einem schmalen Hof nicht weit davon.

Wir fanden bald den Krämerladen und in ihm eine gutmütig aussehende alte Frau, mit Wassersucht oder Asthma oder beiden Krankheiten zusammen behaftet.

»Necketts Kinder?« wiederholte sie meine Frage. »Jawohl, Miß. Drei Treppen hoch, wenn’s gefällig ist. Die Tür gerade der Treppe gegenüber.« Und sie reichte mir einen Schlüssel über den Ladentisch hinüber.

Ich sah den Schlüssel an und sah sie an; aber sie schien es für selbstverständlich zu halten, daß ich wisse, was ich damit zu tun habe. Da er nur für die Tür der Kinder bestimmt sein konnte, verließ ich den Laden, ohne weiter zu fragen, und ging die dunkle Treppe hinauf voran. Wir traten so leise wie möglich auf, aber da wir zu viert waren, machten wir doch einigen Lärm auf den alten Stufen, und als wir den zweiten Stock erreichten, entdeckten wir, daß wir einen Mann gestört hatten, der jetzt aus seiner Zimmertür schaute.

»Zu Gridley wollen Sie wohl«, sagte er und fixierte uns zornig.

»Nein, Sir. Wir gehen höher hinauf.«

Er sah Ada und Mr. Jarndyce und Mr. Skimpole der Reihe nach, wie sie vorübergingen und mir folgten, mit demselben zornigen Blick an. Mr. Jarndyce wünschte ihm guten Tag.

»Guten Tag!« antwortete er kurz und barsch.

Er war ein langer blasser Mann mit sorgenschwerem Haupt, auf dem nur noch sehr wenig Haar war, mit tief gefurchtem Gesicht und hervorstehenden Augen. Er hatte ein kampfbereites Aussehen und ein heftiges reizbares Wesen, das für mich, wenn ich dabei an seine Gestalt dachte, die trotz vorrückenden Alters noch groß und kräftig war, etwas Beunruhigendes hatte. Er hielt eine Feder in der Hand, und als ich im Vorbeigehen einen Blick durch die halb offene Tür warf, sah ich, daß die Stube voll Papier lag.

Wir ließen ihn stehen und gingen in den obersten Stock. Ich klopfte an die Tür, und eine dünne, helle Kinderstimme rief drinnen: »Es ist zugesperrt. Mrs. Blinder hat den Schlüssel.«

Ich sperrte auf und öffnete die Tür.

In einem ärmlichen Zimmer mit abgeschrägten Wänden und nur sehr spärlichem Hausrat fanden wir einen kleinen Knaben, der ein schweres Kind von ungefähr achtzehn Monaten herumschleppte. Geheizt war nicht, trotz der großen Kälte. Beide Kinder waren in ein paar armselige Tücher und Kragen zum Schutz gegen die niedere Temperatur gewickelt. Aber die Umhüllungen wärmten sie so wenig, daß ihre Nasen rot und sie selbst ganz runzlig vor Kälte aussahen, wie der Knabe auf und ab ging und das Kleine, das den Kopf auf seiner Schulter ruhen ließ, auf dem Arm wiegte.

»Wer hat euch denn hier eingeschlossen?« fragten wir unwillkürlich.

»Charley«, sagte der Knabe, blieb stehen und starrte uns an.

»Ist Charley dein Bruder?«

»Nein. Meine Schwester Charlotte. Vater nannte sie Charley.«

»Seid ihr euer noch mehr außer Charley?«

»Ich«, sagte der Junge, »und Emma«, und streichelte dabei das Mützchen der Kleinen. »Und Charley.«

»Wo ist Charley jetzt?«

»Waschen gangen«, sagte der Junge, fing wieder in der Stube an auf und ab zu gehen und brachte bei seinem Bestreben, uns dabei immerwährend anzusehen, das Mützchen in gefährliche Nähe des Bettpfostens.

Wir sahen noch einander und die beiden Kinder ratlos an, als ein sehr kleines Mädchen, der Gestalt nach selbst noch ein Kind, aber klug und älter aussehend im Gesicht – und auch ganz hübsch –, mit einem viel zu großen hausfrauenhaften Hut auf dem Kopf und ihre bloßen Arme mit einer ebensolchen Schürze abtrocknend, hereintrat. Ihre Finger waren weiß und runzlig vom Waschen, und der Seifenschaum, den sie von ihren Armen abwischte, rauchte noch. Man hätte sie ganz gut für ein Kind halten können, das Waschen spielte und eine arme Arbeitsfrau gut nachahmte. Sie war irgendwoher aus der Nachbarschaft gekommen und mußte sich sehr geeilt haben, denn sie war ziemlich außer Atem und konnte anfangs, wie sie keuchend und sich die Arme abwischend dastand und uns ruhig ansah, kaum sprechen.

»Oh, da ist Charley«, rief der Junge.

Das Kleine streckte der Schwester die Arme entgegen und wollte von ihr genommen sein. Das Mädchen nahm es mit einer frauenhaft gesetzten Zärtlichkeit, die gut zu der Schürze und dem Hut paßte, und blickte uns über das Köpfchen, das sich zärtlich an sie schmiegte, hinweg an.

»Sollte man so etwas für möglich halten«, flüsterte mein Vormund, als wir dem Mädchen einen Stuhl hinschoben und sie aufforderten, sich mit ihrer Bürde niederzusetzen, wobei der Junge immer dicht bei ihr blieb und sich an ihrer Schürze festhielt. »Ist es denn möglich, daß dieses Kind für die übrigen arbeitet? Seht das an! Um Gottes willen, seht euch das an.«

Es war wirklich ein seltsamer Anblick, diese drei Kinder, dicht zusammengedrängt und zwei von ihnen auf das dritte angewiesen und dieses selbst noch so jung und doch von einem gereiften und gesetzten Benehmen, das seltsam von der kindlichen Gestalt abstach, zu sehen.

»Wie alt bist du, Charley?«

»Dreizehn vorbei, Sir.«

»Wirklich! Ein hohes Alter!« sagte mein Vormund. »Wirklich ein hohes Alter, Charley!«

– Ich kann die Zärtlichkeit, mit der er zu dem Kinde sprach, nicht beschreiben; halb scherzend und dadurch nur noch mitleidiger und betrübter. –

»Und du bist ganz allein mit diesen Kleinen, Charley?«

»Ja, Sir«, antwortete das Kind und sah ihm offenherzig und vertrauensvoll ins Gesicht, »seit der Vater tot ist.«

»Und wovon lebst du, Charley?… Nun, Charley«, fragte mein Vormund und wendete einen Augenblick das Gesicht ab. »Wovon lebst du?«

»Seit der Vater starb, bin ich auf Arbeit gegangen. Heute bin ich auf Wäsche.«

»Aber Gott im Himmel, Charley, du bist ja nicht groß genug, um auf das Faß hinaufzureichen.«

»In Holzschuhen doch, Sir«, sagte das Kind rasch. »Ich habe ein Paar sehr hohe von der Mutter.«

»Und wann ist die Mutter gestorben?… Arme Mutter!«

»Die Mutter starb gleich nach Emmas Geburt«, sagte das Kind und sah das Gesichtchen an ihrer Brust an. »Der Vater sagte, ich sollte ihr eine Mutter sein, so gut ich könnte. Und so versuchte ich es. Ich habe zu Haus gearbeitet und das Reinmachen und Kinderwarten und Waschen besorgt, schon lange, bevor ich außer Haus arbeiten ging. Und daher kann ich’s jetzt. Sehen Sie nicht, Sir?«

»Und arbeitest du oft außer Haus?«

»So oft ich kann«, Charley sah auf und lächelte, »weil ich Sixpences und Schillinge verdienen muß.«

»Und schließt du immer die Kleinen ein, wenn du ausgehst?«

»Damit ihnen nichts geschieht, Sir, wissen Sie, Sir. Mrs. Blinder kommt manchmal nachsehen, und manchmal kommt Mr. Gridley herauf, und zuweilen kann ich selbst auch herüberlaufen, und sie können miteinander spielen, und Tom fürchtet sich nicht, wenn man absperrt, nicht wahr, Tom?«

»Nein«, sagte Tom tapfer.

»Und wenn es finster wird, scheinen unten im Hof die Laternen ganz hell herauf – ganz hell. Nicht wahr, Tom?«

»Ja, Charley«, sagte Tom, »fast ganz hell.«

»Und dann ist er so verläßlich wie Gold«, sagte das kleine Geschöpf in einer mütterlichen, frauenhaften Weise. »Und wenn Emma müde ist, legt er sie ins Bett, und wenn er selbst müde ist, geht er auch ins Bett, und wenn ich nach Hause komme und die Kerze anzünde und einen Bissen zu Abend esse, steht er wieder auf und ißt mit. Nicht wahr, Tom?«

»O ja, Charley«, sagte Tom. »Das tu ich.« Und er verbarg sein Gesicht, entweder von dieser Erinnerung an die große Freude seines Lebens oder von Dankbarkeit und Liebe zu Charley, die ihm sein Alles war, überwältigt, in den Falten ihres dürftigen Kleides, und sein Lachen ging in Weinen über.

Das erste Mal seit unserm Eintreten sahen wir eine Träne bei einem dieser Kinder.

Die kleine Waise hatte von Vater und Mutter gesprochen, als ob die Notwendigkeit, mutig zu sein und ihr kindliches Selbstbewußtsein, arbeiten zu können, und ihr rühriges, geschäftiges Wesen jeden Schmerz um den erlittenen Verlust erstickt hätten. Aber jetzt, als Tom weinte, sah ich eine Träne ihr Gesicht herabrinnen, wenn sie auch ruhig dasaß und uns still ansah.

Ich stand mit Ada am Fenster und tat, als betrachtete ich die Dächer und die rauchgeschwärzten Schornsteine und die kümmerlichen Blumen und die Vögel in den kleinen Käfigen vor den Fenstern der Nachbarn, als ich entdeckte, daß Mrs. Blinder, die wahrscheinlich die ganze Zeit dazu gebraucht hatte, die Treppen hinaufzusteigen, aus dem Laden unten heraufgekommen war und mit meinem Vormund sprach.

»Es ist weiter nichts daran. Ich lasse ihnen nur den Zins nach, Sir«, keuchte sie. »Wer möchte denn etwas von ihnen nehmen!«

»Schon gut, schon gut«, sagte mein Vormund zu uns beiden. »Es ist genug, daß einmal die Zeit kommen wird, wo diese gute Frau sieht, daß sehr viel daran war und daß das, was sie an den Geringsten von diesen getan –!… Aber wird das Kind das aushalten können?« setzte er nach einer kurzen Pause hinzu.

»Oh, ich glaube schon«, sagte Mrs. Blinder, schwer und asthmatisch atmend. »Sie ist so anstellig wie nur irgendeine. O mein Gott, Sir, Sie hätten sie nur sehen sollen, wie sie nach dem Tod der Mutter die beiden Kinder wartete! Der ganze Hof sprach davon. Und Sie hätten sie nur sehen sollen, wie er krank wurde! Es war das reinste Wunder! ‚Mrs. Blinden, sagte er mir noch kurz vor seinem Tod- er lag dort –, ‚Mrs. Blinder, was auch mein Beruf gewesen sein mag, ich habe gestern nacht in diesem Zimmer einen Engel neben meinem Kind gesehen, und ich lege sein Schicksal in die Hände unsres Vaters im Himmel.’«

»Hatte er keinen andern Beruf?« fragte mein Vormund nach einer Pause.

»Nein, Sir. Er war bloß Gerichtsvollzieher. Als er hier einzog, wußte ich es noch nicht, und ich gestehe, als ich es erfuhr, kündigte ich ihm. Die Leute im Hofe mochten ihn nicht. Die andern Mieter mieden ihn. Es ist kein anständiges Gewerbe, und die meisten Leute hielten sich darüber auf. Mr. Gridley war sehr gegen ihn, und das ist ein guter Mieter, wenn er auch seine Eigenheiten hat.«

»So kündigten Sie ihm?«

»Ich kündigte ihm. Aber als die Zeit um war und ich nichts Schlimmes an ihm bemerkte, bekam ich so meine Bedenken. Er war pünktlich und fleißig, tat, was er mußte«, sagte Mrs. Blinder und ließ dabei zufällig ihr Auge auf Mr. Skimpole ruhen. »Und es ist immerhin etwas in dieser Welt, wenn man das tut.«

»Und Sie behielten ihn dann doch?«

»Nun ja. Ich sagte ihm, wenn er sich mit Mr. Gridley einigen könnte, so wollte ich es mit den andern Mietern in Ordnung bringen und würde nichts darauf geben, was die im Hof dazu sagten. Mr. Gridley gab seine Einwilligung – etwas barsch -, aber er gab sie. Mr. Gridley war immer barsch gegen ihn, aber er ist seitdem gut gegen die Kinder gewesen. Man lernt jemand nie eher kennen, als bis man ihn auf die Probe gestellt hat.«

»Sind viele Leute gut zu den Kindern gewesen?«

»Na, es geht, Sir. Wenn nur der Beruf ihres Vaters ein andrer gewesen wäre! Der Polizist gab eine Guinee, und die andern Beamten schossen eine kleine Summe zusammen. Einige Nachbarn im Hof, die immer Witze gemacht und auf die Tasche geklopft haben, wenn er vorbeiging, machten eine kleine Subskription… Und so… Na, es war nicht so schlimm. Ähnlich geht’s mit Charlotte. Manche wollen sie nicht beschäftigen, weil sie das Kind eines Gerichtsvollziehers ist, und andre, die sie beschäftigen, werfen es ihr vor, und andre rechnen sich’s hoch an, wenn sie ihr trotzdem Arbeit geben, und bezahlen sie deshalb schlechter und verlangen mehr von ihr. Aber sie ist geduldiger als andre und ist auch geschickt und immer willig und arbeitet gern, soweit es ihre Kräfte zulassen, und noch mehr. Im ganzen ist’s nicht so schlimm, wenn’s auch besser sein könnte.«

Mrs. Blinder, von der langen Rede erschöpft, setzte sich nieder, um wieder frischen Atem zu holen.

Mr. Jarndyce wendete sich zu uns, um mit uns zu sprechen, als ihn der unvorbereitete Eintritt des Mannes, den wir bereits auf der Treppe gesehen, unterbrach.

»Ich weiß nicht, was Sie hier zu tun haben, meine Damen und Herrn«, sagte Mr. Gridley in einem Ton, als ob er über unsre Anwesenheit grolle, »aber Sie werden schon entschuldigen, daß ich eintrete. Ich komme nicht, um herumzuglotzen. Nun Charley? Nun Tom? Nun Kleines? Wie geht’s euch heute?«

Er beugte sich liebkosend über die Gruppe, und offenbar betrachteten ihn die Kinder als Freund, obgleich sein Gesicht sein finsteres Aussehen beibehielt und sein Benehmen gegen uns so grob wie möglich war. Mein Vormund bemerkte und respektierte es.

»Gewiß wird niemand aus bloßer Neugierde hierherkommen«, sagte er mild.

»Schon möglich, Sir«, gab der Mann zur Antwort, nahm Tom auf sein Knie und winkte Mr. Jarndyce ungeduldig mit der Hand ab. »Ich brauche mich nicht mit Damen und Herrn herumzustreiten. Ich habe für ein Menschenleben genug Streit: gehabt.«

»Sie haben wahrscheinlich Grund genug, heftig und reizbar zu sein«, sagte Mr. Jarndyce.

»Da hat man’s wieder!« rief der Mann wütend. »Ich bin streitsüchtig. Ich bin jähzornig. Natürlich! Ich bin nicht höflich.«

»Nicht besonders.«

»Sir!« sagte Gridley, setzte das Kind nieder und trat an meinen Vormund heran, als wollte er ihm einen Schlag versetzen. »Wissen Sie vielleicht etwas vom Kanzleigericht?«

»Vielleicht, zu meinem Kummer.«

»Zu Ihrem Kummer?« Gridley mäßigte seinen Zorn. »Ja, dann! Ich bitte um Entschuldigung. Ich bin nicht höflich, ich weiß… Ich bitte um Entschuldigung, Sir«, fuhr er mit erneuter Heftigkeit fort. »Seit fünfundzwanzig Jahren röstet man mich auf glühendem Eisen, und ich habe mir’s abgewöhnt, auf Samt zu gehen. Gehen Sie einmal in den Kanzleigerichtshof und fragen Sie, was einer von den ständigen Witzen ist, mit denen sie ihr Geschäft dort manchmal aufheitern, und sie werden Ihnen sagen, daß es der ‚Mann aus Shropshire‘ ist. Ich«, sagte er und schlug sich leidenschaftlich mit der Faust in die offene Hand. »Ich bin der Mann aus Shropshire!«

»Ich glaube, ich und meine Familie haben ebenfalls die Ehre gehabt, demselben löblichen Institut eine Unterhaltung zu verschaffen«, sagte mein Vormund gelassen. »Vielleicht haben Sie auch meinen Namen gehört?… Jarndyce.«

»Mr. Jarndyce!« rief Gridley aus und begrüßte meinen Vormund mit bäurischer Rauheit. »Sie tragen Ihr Unrecht ruhiger, als ich es imstande bin. Mehr als das. Ich sage Ihnen – und sag es diesem Gentleman und diesen jungen Damen hier, wenn das Ihre Freunde sind –, ich würde verrückt werden, wenn ich es anders trüge, als ich es tue. Nur, indem ich mein Unrecht anders trage als Sie, kann ich es aushalten, ohne verrückt zu werden. Nur, wenn ich mich darüber ärgere und innerlich gifte und leidenschaftlich die Gerechtigkeit heische, die mir doch nie wird, kann ich meine fünf Sinne beisammenbehalten. Nur dadurch!« wiederholte er in einer gewissen einfachen bäurischen Weise und mit großer Heftigkeit. »Sie werden natürlich sagen, ich solle mich nicht so aufregen. Ich sage Ihnen aber, daß ich nicht anders kann, wenn ich Unrecht leide. Ich muß es tun. Es bleibt mir nur die Wahl zwischen dem und dem Versinken in das blödsinnige ewige Lächeln der armen kleinen verrückten Alten, die im Gerichtssaal herumspukt. Wenn ich es ein einziges Mal geduldiger trüge, würde ich blödsinnig.«

Seine Leidenschaftlichkeit und Hitze und die Art, wie sich seine Mienen verzerrten, und die gewaltsamen Gebärden, mit denen er seine Worte begleitete, boten einen höchst peinlichen Anblick.

»Mr. Jarndyce«, sagte er, »bedenken Sie meinen Fall. So wahr ein Himmel über uns ist, ich rede die Wahrheit. Ich bin einer von zwei Brüdern. Mein Vater, ein Landmann, machte ein Testament und vermachte das Gut und das Inventar und so weiter meiner Mutter für Lebenszeit. Nach dem Tode meiner Mutter sollte alles an mich fallen mit Ausnahme eines Legates von dreihundert Pfund, das ich meinem Bruder auszahlen sollte. Meine Mutter starb. Kurz darauf verlangte mein Bruder sein Legat. Ich und ein paar Verwandte waren der Ansicht, daß er einen Teil davon schon in Kost und Wohnung und anderweitig erhalten hätte. Jetzt geben Sie acht! Darum handelte es sich und um weiter nichts. Niemand bestritt das Testament. Es handelte sich nur darum, ob ein Teil der dreihundert Pfund bereits gezahlt sei oder nicht. Um das festzustellen, reichte mein Bruder eine Klage ein, und ich mußte an das verfluchte Kanzleigericht gehen, weil mich das Gesetz verhinderte, etwas andres zu tun. Siebzehn Personen wurden zu Beklagten in diesem einfachen Prozeß gemacht. Zuerst zog es sich zwei Jahre hin. Dann ruhte das Verfahren zwei Jahre lang, während der Vorsitzende – der Kopf soll ihm abfaulen! – Nachforschungen anstellte, ob ich – meines Vaters Sohn sei, worüber kein sterbliches Wesen je den leisesten Zweifel erhoben hatte. Dann entdeckte er, daß wir noch nicht genug Beklagte wären – man denke, wir waren ja nur siebzehn – und daß noch einer dazukommen müsse, den wir ausgelassen hätten. Und dann fing die Sache wieder von vorne an. Die Kosten betrugen damals schon – als es kaum erst losging – dreimal soviel als das Legat. Mein Bruder hätte seine Ansprüche mit Freuden hingegeben, nur, um nicht noch mehr Kosten bezahlen zu müssen. Mein ganzes mir von meinem Vater hinterlassenes Grundstück ist auf die Kosten draufgegangen. Der immer noch unentschiedene Prozeß ist in einem Schlund von Verfall, Ruin und Verzweiflung wie alles, was damit in Verbindung steht, versunken… Und hier stehe ich heute noch. In Ihrem Prozeß, Mr. Jarndyce, handelt es sich um viele Tausende und bei mir um Hunderte. Ist meiner weniger schwer zu ertragen oder schwerer, da meine ganze Existenz auf dem Spiele stand und schmählich dadurch vernichtet worden ist?«

Mr. Jarndyce versicherte ihn seiner herzlichsten Teilnahme und sagte, daß er seinerseits durchaus kein Monopol beanspruche, unter diesem unglaublichen System Unrecht gelitten zu haben.

»Da haben wir’s wieder«, rief Mr. Gridley mit unverminderter Leidenschaftlichkeit. »Das System! Auf allen Seiten heißt es, es sei das System. Nach den Personen solle man nicht fragen. Es ist das System. Ich darf nicht in den Gerichtssaal gehen und sagen: Mylord! Ich möchte von Ihnen wissen, bin ich im Recht oder im Unrecht? Entschließen Sie sich doch endlich, mir zu sagen, es ist so oder so, und ich sei jetzt entlassen. Mylord weiß natürlich von nichts. Er sitzt dort, um das System zu handhaben. Ich darf nicht zu Mr. Tulkinghorn, dem Solicitor in Lincoln’s-Inn-Fields, gehen und ihm sagen, wenn er mich durch seine Ruhe und Gleichgültigkeit wütend macht – was sie alle tun, denn sie gewinnen dabei, während ich verliere –, ich darf nicht zu ihm sagen, ich will eine Entschädigung dafür haben, daß man mich zugrunde gerichtet hat durch gesetzliche Mittel oder durch Schwindel! Er ist nicht verantwortlich. Es ist das System! Aber wenn ich ihnen nicht noch etwas antue – dann…! Ich weiß nicht, was noch geschieht, wenn ich einmal die Besinnung verliere! Ich werde die betreffenden Werkzeuge dieses Systems Angesicht zu Angesicht vor dem ewigen Richterstuhl anklagen.«

Seine Leidenschaftlichkeit war schrecklich. Ich würde nie eine solche Wut für möglich gehalten haben, wenn ich es nicht selbst gesehen hätte.

»Ich bin fertig«, schloß Gridley, setzte sich nieder und trocknete sich die Stirn. »Mr. Jarndyce, ich bin fertig. Ich bin heftig, ich weiß, oder sollte es wenigstens wissen. Ich habe gesessen wegen Beleidigung des Gerichtshofs. Ich habe gesessen wegen gefährlicher Drohung gegenüber dem Solicitor. Ich war in alle möglichen Ungelegenheiten verwickelt und werde es wieder sein. Ich bin der Mann aus Shropshire, und manchmal gehe ich ihnen doch ein wenig über den Spaß, –wenn sie es auch für einen Jux gehalten haben, mich einzusperren, mich in Haft vor die Schranken zu stellen; und so weiter. Ich täte besser, sagen sie, wenn ich mich mehr beherrschte. Und ich sage ihnen, daß, wenn ich mich beherrschte, ich blödsinnig werden müßte… Ich glaube, ich war früher gutmütig. Die Leute in meiner Heimat sagen, sie hätten mich noch so gekannt. Aber jetzt muß ich mir Luft machen, oder meine fünf Sinne gehen aus dem Leim. ‚Es wäre viel besser für Sie, Mr. Gridley‘, sagte vorige Woche der Lordkanzler zu mir, ‚wenn Sie, anstatt Ihre Zeit hier zu vertrödeln, sich unten in Shropshire nützlich beschäftigen‘

‚Mylord, Mylord, das weiß ich selbst‘, sagte ich zu ihm. ‚Und noch viel besser wäre es für mich gewesen, wenn ich den Namen Ihres hohen Amtes nie gehört hätte, aber leider kann ich die Vergangenheit nicht ändern, und deshalb muß ich hier sein…‘ Außerdem«, setzte Gridley mit einem Wutausbruch hinzu, »will ich mich zu ihrer Schande immer im Gerichtshof sehen lassen. Bis zuletzt. Wenn ich wüßte, wann ich sterben muß, und ich könnte mich hintragen lassen und noch ein Wort sprechen, würde ich ihnen zurufen: Ihr habt mich hierhergebracht und weggeschickt, viele, viele Male. Jetzt schickt mich das letzte Mal hinaus, mit den Füßen voraus.«

Sein Gesicht hatte sich offenbar seit vielen Jahren so an seinen streitsüchtigen Ausdruck gewöhnt, daß es sich selbst jetzt, wo er innerlich ruhiger war, nicht glättete.

»Ich kam her, um die Kleinen eine Stunde herunter in mein Zimmer zu nehmen und sie dort ein wenig spielen zu lassen«, sagte er und ging wieder zu ihnen. »Du fürchtest dich doch nicht vor mir, Tom, nicht wahr?«

»Nein«, sagte Tom. »Mit mir sind Sie nie böse.«

»Da hast du recht, Kind. Du gehst wieder an die Arbeit, Charley ? Ja? Also komm, Kleiner!« Er nahm das Jüngste auf den Arm, und es ließ es sich gern gefallen. »Ich sollte mich gar nicht wundern, wenn – wir einen Pfefferkuchensoldaten unten fänden. Wir wollen ihn einmal suchen gehen.«

Er grüßte Mr. Jarndyce wieder in seiner früheren derben Weise, der es nicht an einer gewissen Achtung fehlte, dann verbeugte er sich flüchtig gegen uns und ging die Treppe hinunter in sein Zimmer.

Zum ersten Mal nach seiner Ankunft fing Mr. Skimpole jetzt wieder in seiner gewohnten lustigen Weise an zu plaudern. Er sagte, es sei wirklich ein angenehmer Anblick, zu sehen, wie sich die Dinge so ganz von selbst ihrem Zweck anpaßten. Hier sei z. B. dieser Mr. Gridley, ein Mann von kräftigem Willen und erstaunlicher Energie, und er könne sich leicht vorstellen, wie dieser Gridley sich Vorjahren im Leben nach etwas umgesehen habe, um seiner überströmenden Kampfeslust Luft zu machen, als ihm der Kanzleigerichtshof in den Weg gekommen sei und ihn genau mit dem versorgt habe, was er brauchte. Von jetzt an seien sie unzertrennlich voneinander. Wer weiß, vielleicht wäre er ein großer General geworden, der allerlei Städte in die Luft gesprengt hätte, oder ein großer Politiker, beschlagen in jedem Zweige parlamentarischer Redekunst. Aber so seien er und der Kanzleigerichtshof auf die angenehmste Weise miteinander bekannt geworden, und niemand führe schlechter dabei; und Gridley sei sozusagen von dieser Stunde an versorgt… Man sehe einmal Coavinses an. Welch prächtiges Beispiel liefere der arme Coavinses, der Vater dieser reizenden Kinder, in gleicher Hinsicht! Er, Mr. Skimpole, habe manchmal selbst über das Dasein Coavinses‘ gemurrt. Coavinses sei ihm im Wege gewesen. Er habe Coavinses wahrhaftig gern missen mögen. Es habe Zeiten gegeben, wo er, wenn er Sultan gewesen wäre und sein Großvezier hätte ihn eines Morgens gefragt: Was verlangt der Beherrscher der Gläubigen von der Hand seines Sklaven ? – sich vielleicht zu der Antwort verstiegen haben würde: »Den Kopf des Coavinses«. Aber wie stelle sich jetzt die Sache dar?

Die ganze Zeit über habe er einem höchst verdienstvollen Mann Beschäftigung gegeben, sei Coavinses‘ Wohltäter gewesen und habe es ihm tatsächlich ermöglicht, diese reizenden Kinder so trefflich zu erziehen. Daher habe ihm eben jetzt das Herz höher geschlagen, und die Tränen seien ihm in die Augen getreten, als er sich im Zimmer umgesehen und gedacht habe: Ich war eigentlich Coavinses‘ Gönner, und seine kleinen Lebensfreuden waren mein Werk.

Die leichte Weise, mit der er diese phantastischen Saiten berührte, hatte etwas so Gewinnendes, und er war ein so fröhliches Kind gegenüber den so viel ernsteren wirklichen Kindern, daß auch mein Vormund über ihn lächeln mußte, als er sich nach einem kleinen Privatgespräch mit Mrs. Blinder wieder zu uns wandte.

Wir küßten Charley und nahmen sie mit die Treppe hinunter und blieben vor dem Hause stehen, um sie zu ihrer Arbeit laufen zu sehen. Ich weiß nicht, wohin sie ging, aber wir sahen sie, das kleine Geschöpf mit dem Hut und der Schürze einer Hausfrau, durch den gedeckten Flur hinten im Hofe laufen und in dem Kampfgetümmel und Lärm der Stadt wie einen Tautropfen im Ozean verschwinden.

Vorrede


Vorrede

Vor einigen Monaten war ein Kanzleigerichtsbeisitzer so liebenswürdig, bei einer öffentlichen Feier und in einer Gesellschaft von hundertfünfzig Damen und Herren, von denen man nicht gut annehmen kann, daß sie verrückt sind, die Behauptung aufzustellen, das Kanzleigericht sei eine fast fehlerlose Institution, wenn es auch das Lieblingsthema gewisser, in Vorurteilen befangener Leute bilde – bei welcher Äußerung besagter Richter mir einen Seitenblick zuzuwerfen geruhte –, sie herabzusetzen. Es habe vielleicht, gab er zu, kleine unbedeutende Mängel hinsichtlich Schnelligkeit, was Erledigungen beträfe, aber alles andere sei übertrieben und lediglich eine Folge der »Engherzigkeit und Knauserei des Publikums«. In Wirklichkeit hat nun aber das gerügte Publikum noch bis vor kurzem die allerentschiedenste Neigung an den Tag gelegt, die Zahl der Kanzleirichter zu vermehren, die anfänglich, wenn ich nicht irre, Richard II. – es kann geradesogut ein anderer gewesen sein – festgesetzt hat. Dieser Witz schien mir zu gut, um ihn in dieses Buch aufzunehmen, sonst hätte ich ihn Konversations-Kenge oder Mr. Vholes in den Mund gelegt. Ich hätte ihn recht passend mit einem Zitat aus Shakespeares Sonetten verbinden können:

– – – – – Ich werde
dem Stoffe gleich, in dem ich arbeite,
wie eines Färbers Hand,
Beklag mich denn, und wünsche anders mich!

Da es immerhin von Belang ist, wenn das »engherzige und knauserige« Publikum erfährt, wie in dieser Hinsicht die Dinge standen und noch stehen, so stelle ich hier fest, daß alles, was in diesem Buch vom Kanzleigericht handelt, seinem Wesen nach wahr und keineswegs übertrieben ist. Der »Fall Grindley« unterscheidet sich in keinem wesentlichen Punkte von einem tatsächlichen Begebnis, das ein Unbeteiligter, der als Advokat das ganze unerhörte Unrecht von Anfang bis zu Ende kennenlernte, veröffentlicht hat.

Gegenwärtig liegt dem Gerichtshof ein Prozeß vor, der vor fast zwanzig Jahren angefangen hat, in dem einmal dreißig bis vierzig Advokaten bei einer Tagfahrt erschienen und dessen Kosten sich jetzt auf siebzigtausend Pfund belaufen. Er ist ein »Proformaprozeß« und, wie man mir versichert, seinem Schlusse nicht näher als zu Anfang. Noch ein anderer wohlbekannter Kanzleigerichtsprozeß, der vor Beginn des vorigen Jahrhunderts anfing und in dem die Kosten mehr als doppelt soviel verschlungen haben, ist heute noch in Schwebe. Wenn ich noch mehr Belege für »Jarndyce kontra Jarndyce« und »die Knauserei des Publikums« brauchte, so könnte ich Bände damit füllen.

Noch über einen andern Punkt möchte ich mir hier eine Bemerkung gestatten. Man hat seit dem Tode Mr. Krooks die Möglichkeit der sogenannten Selbstverbrennung geleugnet, und mein guter Freund Mr. Lewes (der irrtümlicherweise, wie er bald darauf entdeckte, in dem Glauben lebte, daß alle Autoritäten von Ruf die Sache hätten fallen lassen) schrieb seinerzeit einige geistreiche Briefe an mich, in denen er beweisen wollte, daß Selbstverbrennung ein Unding sei. Ich glaube nicht erst bemerken zu müssen, daß ich meine Leser nicht böswilliger- oder nachlässigerweise irreführe und, ehe ich jenen Todesfall beschrieb, Sorge trug, diesen Dingen nachzugehen. Man kennt ungefähr dreißig Fälle, deren berühmtesten, den der Gräfin Cornelia de Baudi, der Schriftsteller und Stiftsgeistliche in Verona, Signor Cesenate Guiseppe Bianchini, genau untersucht und beschrieben hat. Er veröffentlichte darüber im Jahr 1731 in Verona einen Bericht, den er später in Rom nochmals drucken ließ. Alle bei diesem Fall beobachteten Erscheinungen, die sich vernünftigerweise nicht bezweifeln lassen, sind dieselben wie die bei Mr. Krook geschilderten. Der nächst bekannteste Fall ereignete sich in Reims sechs Jahre früher und wurde von Le Cat, einem der berühmtesten Chirurgen Frankreichs, beschrieben. Es handelte sich dabei um eine Frau, deren Mann wegen angeblichen Mordes angeklagt und verurteilt wurde. Die nächsthöhere Instanz sprach ihn jedoch frei, da aus den Zeugenaussagen hervorging, daß die Frau an Selbstverbrennung gestorben war.

Ich halte es nicht für notwendig, diesen wohlbekannten Tatsachen und den Berichten der betreffenden Autoritäten noch die in verschiedenen Werken niedergelegten Ansichten und Berichte ausgezeichneter französischer, englischer und schottischer Gelehrter aus neuerer Zeit hinzuzufügen, und begnüge mich mit der Bemerkung, daß ich an der Richtigkeit der Tatsachen nicht eher zweifeln werde, als bis nicht auch hinsichtlich aller der Beweise, die Vorfälle im menschlichen Leben als glaubwürdig registrieren, eine umfassende Selbstverbrennung stattgefunden hat.

In Bleakhaus habe ich absichtlich die romantische Seite des alltäglichen Lebens hervorgehoben. Ich glaube, ich habe noch niemals so viele Leser wie bei diesem Buche gehabt. Auf Wiedersehen.

London, im August 1853

1. Kapitel


1. Kapitel

Im Kanzleigericht

London. Der Michaelitermin ist vorüber, und der Lordkanzler sitzt in der Lincoln’s-Inn-Hall. Abscheuliches Novemberwetter. Soviel Schmutz in den Straßen, als ob die Wasser des Himmels sich eben erst von der neugeschaffenen Erde verlaufen hätten und es gar nichts Wunderbares wäre, wenn man einem vierzig Fuß langen Megalosaurus begegnete, wie er gerade – ein Elefant unter den Eidechsen – Holborn-Hill hinaufwatschelt.

Der Rauch senkt sich von den Schornsteinen nieder, ein dichter schwarzer Regen von Rußbatzen, so groß wie ausgewachsene Schneeflocken, die in schwarzen Kleidern den Tod der Sonne betrauern wollen. Hunde, unkenntlich vor Schmutz, Pferde, nicht viel besser dran, bis an die Scheuklappen mit Kot bespritzt. Fußgänger drängen sich, von der allgemeinen Seuche übler Laune angesteckt, mit Regenschirmen aneinander vorbei und glitschen an den Straßenecken aus, wo bereits Zehntausende vor ihnen den trüben Tag über ausgerutscht sind und neue Schichten zu den Schmutzkrusten hinzugefügt haben, die an diesen Stellen zäh am Pflaster kleben und sich anhäufen mit Zinseszinsen.

Nebel überall, Nebel stromauf, wo der Fluß zwischen Buschwerk und Wiesen dahinfließt; Nebel stromab, wo er sich schmutzig zwischen Reihen von Schiffen und dem Uferunrat der großen, unsauberen Stadt durchwälzt. Nebel auf den Sümpfen von Essex und Nebel auf den Höhen von Kent. Nebel kriecht in die Kabusen der Kohlenschiffe; Nebel liegt draußen auf den Rahen und klimmt durch das Tauwerk; Nebel senkt sich auf die Deckverkleidung der Barken und Boote. Nebel dringt in die Augen und Kehlen der alten Greenwichinvaliden, die am Kamin in ihren Kämmerchen husten und keuchen, dringt in das Rohr und den Kopf der Shagpfeife des grimmigen Schiffseigners unten in seiner engen Kajüte und beißt grausam in Zehen und Finger des fröstelnden kleinen Schiffsjungen auf Deck. Passanten schauen von den Brücken herab über die Geländer in einen Nebelhimmel und sind rings von Nebel umgeben, als ob sie in einem Luftballon mitten in grauen Wolken hingen.

Gaslampen stieren in den Straßen trübäugig durch den Nebel wie draußen die Sonne wohl auf den durchweichten Feldern. Die meisten Läden haben zwei Stunden vor der Zeit angezündet, und das Gaslicht scheint es zu wissen, denn es sieht schmal und mürrisch aus.

Am rauhesten ist der Nachmittag; da ist der Nebel am dicksten, die Straße am schmutzigsten in der Nähe jenes dickschädligen steinernen Hindernisses, das so recht eine passende Zier für die Schwelle der dickschädligen alten Korporation – des »Tempels« – ist. Und dicht beim »Tempel« in der Lincoln’s-Inn-Hall, mitten im Herzen des Nebels sitzt der Lord-Oberkanzler in seinem hohen Kanzleigerichtshof.

Nie kann der Nebel zu dick, nie der Schmutz und Kot zu tief sein, um dem versumpften und verschlammten Zustand zu entsprechen, in dem sich dieser hohe Kanzleigerichtshof, dieser schlimmste aller ergrauten Sünder, an einem solchen Tage dem Himmel und der Erde präsentiert.

An einem solchen Nachmittag sitzt der Lord-Oberkanzler da mit einer Nebelglorie um das Haupt, eingehüllt und umgeben von Scharlachtuch und Vorhängen und vor sich einen dicken Advokaten mit starkem Backenbart, einer dünnen Stimme und endlosen Prozeßakten, der seine Blicke auf die Laterne an der Decke richtet, wo er nichts als Nebel sieht.

An einem solchen Nachmittag sitzen ein paar Dutzend Mitglieder des Barreaus, des hohen Kanzleigerichts, hier, beschäftigt mit einem der zehntausend Stadien eines endlosen Prozesses. Sie legen einander Schlingen mit schlüpfrigen Präzedenzien; knietief in technischen Ausdrücken watend rennen sie ihre mit Ziegen- und Pferdehaar geschützten Köpfe gegen Wälle von Worten und führen ein Schauspiel von Gerechtigkeit auf; Komödianten mit ernsthaften Gesichtern.

An einem solchen Nachmittag müssen die verschiedenen Solizitoren in einer Rechtssache, die zwei oder drei von ihren dabei reich gewordenen Vätern geerbt haben, in einer Reihe sitzen in einem mit Strohmatten ausgelegten Brunnen, auf dessen Grund man vergebens nach der Wahrheit suchen würde – zwischen dem roten Tisch des Registrators und den seidenen Talaren –, Repliken, Dupliken, Schlußworte, Dekrete, Eingaben, Informationen und Berge geldverschlingenden Unsinns vor sich aufgehäuft. Kein Wunder, daß der Saal trübe ist, nur hie und da von schmelzenden Kerzen spärlich erhellt, wenn Nebel schwer darin hängt, die bunten Glasfenster die Farbe verloren haben und kein Tageslicht hereinlassen; kein Wunder, wenn die Uneingeweihten auf der Straße, die durch die Glasscheiben in den Türen hereinblicken, sich von dem Eintritt abschrecken lassen durch den lichtscheuen, eulenhaften Anblick und das schläfrige Gesumm, das matt zur Decke hinauftönt von dem gepolsterten Baldachin, von wo der Lord-Oberkanzler zu der Laterne aufblickt, in der kein Licht ist, und wo die Perücken der beisitzenden Richter in Nebeldunst verschwimmen.

Das ist das Kanzleigericht, das Häuser hat verfallen machen und Äcker verwüstet in jeder Grafschaft, seine lebensmüden Wahnsinnigen hat in jedem Irrenhaus und seine Toten auf jedem Kirchhof, das seine Prozessierenden aussaugt, bis sie mit niedergetretenen Absätzen und abgeschabtem Rock bei allen, deren Bekanntschaft sie machen, reihum borgen und betteln gehen; das Kanzleigericht, das dem Reichen Mittel an die Hand gibt, das Recht müde zu hetzen. Das Geld, Geduld, Mut, Hoffnung so erschöpft, Köpfe verwirrt und Herzen bricht, daß kein Advokat, so er ehrenwert ist, anstehen wird zu warnen: »Lieber jedes Unrecht leiden als hierherkommen.«

Wer ist zufällig an diesem trüben Nachmittag in des Lordkanzlers Gericht außer dem Lordkanzler selbst, dem Advokaten in der zu verhandelnden Sache, zwei oder drei Rechtsanwälten, die niemals etwas zu tun haben, und dem eben erwähnten Brunnen voll Solizitoren? Der Registrator, im Range unter dem Richter, in Perücke und Talar, und die Pedelle und Säckelmeister in ihrer Amtstracht. Sie gähnen alle, denn kein Tropfen Witz ist von dem Rechtsfall Jarndyce kontra Jarndyce, der schon seit vielen, vielen Jahren trocken ausgequetscht ist, zu erwarten. Die Stenographen, die Gerichtsschreiber und Zeitungsberichterstatter entfliehen regelmäßig mit dem übrigen Personal, wenn »Jarndyce kontra Jarndyce« an die Reihe kommt. Ihre Plätze sind leer.

Auf einer Bank an der Seitenwand steht, um besser in das mit Vorhängen umschlossene Heiligtum blicken zu können, eine kleine verrückte alte Frau in einem zerdrückten Hut, die jeder Verhandlung von Anfang bis Ende beiwohnt und beständig irgendein unbegreifliches Urteil zu ihren Gunsten erwartet.

Einige sagen, sie sei wirklich Partei in einer Rechtssache oder sei es gewesen; aber niemand weiß es genau, weil sich niemand darum kümmert. Sie trägt in ihrem Strickbeutel ein kleines Paket mit sich herum, das sie ihre Dokumente nennt und das größtenteils aus Papierfidibussen und getrocknetem Lavendel besteht.

Ein blasser Gefangener unter Obhut eines Gerichtsdieners erscheint zum halbdutzendsten Male vor den Schranken, um sich persönlich gegen die Anschuldigung der Unterschlagung zu verteidigen, was ihm schwerlich jemals gelingen wird, da er als letztüberlebender Testamentsvollstrecker mit Rechnungen in Verwicklung geraten ist, von denen er wahrscheinlich nie etwas gewußt oder verstanden hat.

Unterdessen sind seine Aussichten im Leben vernichtet worden.

Ein anderer zugrunde gerichteter Prozessierender trifft periodisch von Shropshire ein und macht am Ende jeder Verhandlung krampfhafte Anstrengungen, den Kanzler anzureden; man kann ihn in keiner Weise überzeugen, daß der Kanzler, obgleich er ihm seit einem Vierteljahrhundert das Leben schwer gemacht hat, gerichtlich nichts von seiner Existenz weiß. Er hat sich einen guten Platz ausgesucht und wendet kein Auge von dem Richter, bereit, jeden Augenblick, wenn sich die Gelegenheit ergeben sollte, in klagendem Baß: »Mylord!« zurufen. Ein paar Advokatenschreiber und andere, die den Mann von Ansehen kennen, bleiben da in der Hoffnung, er werde vielleicht Anlaß zu einem Spaß geben und die Trübseligkeit des abscheulichen Wetters ein wenig unterbrechen.

»Jarndyce kontra Jarndyce« geht seinen schleppenden Gang. Dieses Ungeheuer von Prozeß ist im Verlauf der Zeit so verwickelt geworden, daß sich kein Mensch auf Erden mehr darin zurechtfinden kann. Die Parteien verstehen ihn am wenigsten, und nicht einmal zwei Kanzleigerichtsadvokaten können fünf Minuten davon sprechen, ohne nicht schon über die Vorfragen gänzlich uneinig zu werden. Zahllose Kinder sind in den Prozeß hineingeboren worden, zahllose junge Paare haben hineingeheiratet, zahllose alte Leute sind herausgestorben. Dutzende von Personen sind zu ihrem Schrecken auf einmal Partei in Sachen »Jarndyce kontra Jarndyce« geworden, ohne zu wissen, wie und warum; ganze Familien haben sagenhafte Stammesfeindschaft mit dem Prozeß geerbt.

Der kleine Kläger oder Beklagte, dem man ein neues Schaukelpferd versprochen, wenn »Jarndyce kontra Jarndyce« geschlichtet sein würde, ist darüber groß geworden, hat sich ein lebendes Pferd gekauft und ist in die andere Welt getrabt. Jugendfrische Mündel sind zu Müttern und Großmüttern verwelkt; eine lange Prozession von Kanzlern ist gekommen und gegangen; das Verzeichnis der Parteien in dem Prozeß ist zu einem langen Leichenzettel geworden; vielleicht leben nicht mehr drei Jarndyce auf der Erde, seitdem sich der alte Tom Jarndyce in einem Kaffeehaus in der Kanzleigerichtsgasse aus Verzweiflung eine Kugel durch den Kopf geschossen – aber »Jarndyce kontra Jarndyce« schleppt sich immer noch in unabsehbarer Länge vor dem Gerichtshof hin, und auf ein Ende ist nicht zu hoffen.

»Jarndyce kontra Jarndyce« ist zu einem Witzwort geworden. Das ist das einzig Gute, was jemals dabei herausgekommen ist. Der Fall hat vielen den Tod gebracht, aber den Juristen ist er ein Jux. Jeder Beisitzer des Kanzleigerichts hat darüber zu berichten gehabt. Jeder Kanzler hat, als er noch Anwalt war, darin plädiert. Blaunasige alte Advokaten mit plumpen dicksohligen Schuhen haben in auserlesenen Portweinsitzungen nach dem Essen in der Hall ihre Witze darüber gerissen. Anfänger auf der Juristenlaufbahn haben ihren Scharfsinn daran geübt. Als Mr. Blowers, der ausgezeichnete Advokat, einmal sagte: »Das oder jenes kann nur geschehen, wenn es Kartoffeln vom Himmel regnet«, hatte der letzte Lordkanzler verbessernd bemerkt: »Oder wenn wir mit ‚Jarndyce kontra Jarndyce‘ fertig werden, Mr. Blowers!« – ein Scherz, über den besonders die Pedelle und Gerichtsdiener lachten.

Wie viele mag nicht schon die ansteckende Berührung des Falles Jarndyce kontra Jarndyce korrumpiert haben! Von dem Beisitzer, auf dessen Aktenschrank ganze Stöße von Erlassen in Sachen Jarndyce kontra Jarndyce in formlosen Haufen verstaubten, bis hinab zu dem Abschreiber in dem Bureau der »Sechsschreiber«, der Zehntausende von Kanzleifolioseiten mit dieser ewigen Überschrift kopiert hat, ist keines Menschen Herz dadurch besser geworden.

Aus Überlistung, Ausflüchten, Verschleppung, Ausbeutung und Verwirrung aller Art entspringen Einflüsse, die nie zu irgend etwas Gutem führen können.

Selbst die Laufburschen der Solizitoren, die den unglücklichen Prozessanten seit unvordenklichen Zeiten den Trost vorspiegelten, daß Mr. Chizzle, Mizzle oder sonst wer vormittags dringend beschäftigt wären, haben vielleicht durch den Fall Jarndyce kontra Jarndyce einen krummen Weg mehr gehen gelernt.

Der Sequestrator in der Sache hat ein schönes Stück Geld dabei verdient, aber seiner eignen Mutter mißtrauen und das ganze Menschengeschlecht verachten gelernt. Chizzle, Mizzle und wer sonst noch haben sich allmählich angewöhnt, ihr Gewissen mit dem unbestimmten Vorsatz einzulullen, diese oder jene Kleinigkeit zu regeln oder dies oder das für Drizzle, der unverantwortlich vernachlässigt worden, nachzuholen, bis die Sache »Jarndyce kontra Jarndyce« erledigt sei. Hinausschieben und Vertuschen in ihren mannigfaltig wechselnden Gestalten hat der unglückselige Rechtsstreit in zahllosen Fällen auf dem Gewissen, und selbst diejenigen, die unberührt von diesem Übel seine Geschichte verfolgt haben, sind unmerklich in Versuchung geraten, nie einzugreifen, das Schlechte seinen schlechten Weg gehen zu lassen und zu der Ansicht zu neigen, alles müsse in der Welt schief gehen, weil sie wahrscheinlich schlampigerweise dazu bestimmt sei.

So tagt inmitten dieser Verrottung und im Herzen des Nebels der Lord-Oberkanzler in seinem hohen Kanzleigerichtshof.

»Mr. Tangle«, sagt der Lord-Oberkanzler. – Der Redeschwall dieses gelehrten Herrn hat ihn ein wenig unruhig gemacht.

»Mlord!« sagt Mr. Tangle.

Er weiß mehr von »Jarndyce kontra Jarndyce« als irgend jemand sonst. Er ist deshalb berühmt, und es heißt, er habe nichts anderes gelesen, seitdem er aus der Schule ist.

»Sind Sie mit Ihrem Argument bald fertig?«

»Mlord, nein, – noch massenhaft Punkte –, halte es jedoch für meine Pflicht, mich Ew. Lordschaft Spruch zu unterwerfen«, flüstert Mr. Tangle ehrerbietig.

»Mehrere der Herren Rechtsanwälte wollen heute noch plädieren, glaube ich?« sagt der Kanzler mit einem kaum merklichen Lächeln.

Achtzehn von Mr. Tangles gelehrten Freunden, jeder mit einem kleinen Aktenauszug von achtzehnhundert Bogen bewaffnet, tauchen wie achtzehn Hämmer in einem Pianoforte empor, machen achtzehn Verbeugungen und tauchen wieder in die Dunkelheit auf ihren achtzehn Plätzen unter.

»Wir wollen die Sache Mittwoch über vierzehn Tage weiter hören«, sagt der Kanzler.

Es handelt sich nämlich heute nur um einen Kostenpunkt. Um eine bloße Knospe an dem zu einem ganzen Wald gewordenen Baum des ursprünglichen Prozesses.

Der Kanzler erhebt sich; das Barreau erhebt sich; der Gefangene wird eilig an die Schranken gebracht; der Mann aus Shropshire ruft: »Mylord!« Pedelle und Gerichtsdiener rufen entrüstet: »Still!« und messen den Mann aus Shropshire mit erzürnten Blicken.

»Was das junge Mädchen –« fährt der Kanzler, immer noch in Sachen Jarndyce kontra Jarndyce, fort, »betrifft –«

»Bitte Ew. Lordschaft um Verzeihung – den Knaben«, unterbricht Mr. Tangle voreilig.

»Was das Mädchen«, beginnt der Kanzler mit größerm Nachdruck von neuem, »und den Knaben – die beiden jungen Leute – betrifft –«

Mr. Tangle ist vernichtet.

»– die ich heute vorgeladen habe und die sich jetzt in meinem Privatzimmer befinden, so werde ich selbst mit ihnen sprechen und mich überzeugen, ob es angemessen erscheint, ihnen die Erlaubnis, bei ihrem Onkel zu wohnen, zu erteilen.«

Mr. Tangle erhebt sich wieder.

»Bitte Ew. Lordschaft – Verzeihung – ist tot.«

»Mit ihrem –«, der Kanzler buchstabiert mit seinem zusammengelegten Augenglas in den Papieren auf seinem Pult – »Großvater.«

»Bitte Ew. Lordschaft – Verzeihung – Opfer einer übereilten Tat. Kopf geschossen.«

Plötzlich erhebt sich ein ganz kleiner Advokat mit einer furchtbaren Baßstimme in den rückwärtigen Regionen des Nebels mit großer Wichtigkeit und sagt:

»Will Ew. Lordschaft mir gestatten? Ich vertrete den Mann. Er ist ein Vetter entfernten Grades. Ich bin in diesem Augenblick nicht vorbereitet, dem Gerichtshof Auskunft zu geben, in welchem Verwandtschaftsgrad er steht, aber er ist ein Vetter.«

Der sehr kleine Advokat läßt diese mit Grabesstimme gesprochene Anrede an dem Gebälk der Decke verklingen, taucht unter im Nebel, und weg ist er. Alle suchen ihn mit den Augen. Niemand kann ihn mehr entdecken.

»Ich will mit den beiden jungen Leuten sprechen«, sagt der Lordkanzler abermals, »und mich informieren, wie sich das mit dem Wohnen bei ihrem Vetter verhält. Ich werde die Sache morgen früh bei Eröffnung der Sitzung wieder zur Sprache bringen.«

Der Kanzler will sich gegen das Barreau verneigen, da wird der Gefangene vorgeführt.

Die Sache mit dem Angeklagten kann natürlich keine andere Folge haben, als daß der Mann wieder ins Gefängnis zurückgeschickt wird, was auch sehr rasch geschieht. Der Prozessierende aus Shropshire wagt noch ein bittendes: »Mylord!« aber der Kanzler hat die Gefahr erspäht und ist geschickt verschwunden. Alle übrigen Anwesenden verschwinden ebenfalls rasch. Eine Batterie von blauen Aktenbeuteln wird mit Papier geladen und von Schreibern fortgeschleppt. Die verrückte Alte trippelt mit ihren Dokumenten hinaus, und das Gerichtslokal wird zugeschlossen.

Wenn alle Ungerechtigkeit, die schon hier begangen wurde, und alles dadurch verursachte Elend mit hineingeschlossen und zu Asche verbrannt werden können, um so besser wäre es für alle Parteien, nicht nur für die im Falle Jarndyce kontra Jarndyce.