Kapitel 9

 

Noch ein Herbst auf dem Lande, noch einmal die Weihnachtszeit in Dornach, die Gräfin Agathe bei ihren Kindern zubrachte, im Anblick ihres Enkels schwelgend. Nach dem Neuen Jahre trennte man sich. Hermann und Maria fuhren zum Winteraufenthalte nach Wien, Gräfin Agathe kehrte in ihre Einöde zurück, nicht ohne die jungen Leute gemahnt zu haben, daß es auch gegen die Gesellschaft Pflichten zu erfüllen gibt. Während des langen Witwenstandes der Gräfin war kein Fest gefeiert worden im alten Dornachischen Palast, den ein prachtliebender Ahnherr der Gastfreiheit seiner Nachkommen erbaut. Allabendlich nur hatte sich das schwere Tor vor der soliden Equipage einer Familienmutter oder der ehrwürdigen Stiftskarosse geöffnet und Glock zehn hinter ihr wieder geschlossen unter den tiefen Bücklingen des gähnenden Portiers, der nach und nach zu der Überzeugung gelangt war, der Zweck des Lebens sei auszuruhen.

Das sollte nun anders werden, viel gründlicher anders, als die Gebieter des Hauses beabsichtigt hatten. Ihr Vorsatz, sich frei zu erhalten von dem Zwange, alles mitzumachen, erwies sich als unausführbar; in kurzer Zeit waren sie von dem Wirbel erfaßt. Die Welt sprach zu ihnen wie zu allen ihren Kindern: Gib dich mir ganz, eine Halbheit kann ich nicht brauchen. Und Maria wenigstens tat der Welt den Willen, und diese bereitete ihr dafür Triumphe von berauschender und von denen, die sie als junges Mädchen gefeiert hatte, ganz verschiedener Art.

Wenn sie früher die Summe dessen zog, was sie sollte, was von ihr verlangt wurde, so lautete das Resultat: gefallen. Jetzt hingegen schienen alle Menschen nur einen Wunsch, nur einen Ehrgeiz zu haben, den: ihr zu gefallen. Ein Lächeln, ein freundliches Wort von ihr beglückte, die geringste Bevorzugung des einen machte hundert Neider.

Der erste Ball bei Dornach hatte ungeteiltes Lob geerntet, ein zweiter Enthusiasmus erregt. Nun sollte ein dritter am vorletzten Faschingstag stattfinden.

Zu dem eine Einladung zu erhalten, bemühte sich jemand, der bisher die Nähe Marias sorgfältig gemieden hatte: Felix Tessin. Sie war ihm anfangs dankbar gewesen für seine Zurückhaltung; doch sagte sie sich endlich, daß in dieser etwas viel Auffälligeres liege als in den banalen Huldigungen, die ihr von jung und alt dargebracht wurden.

Mit welchem Rechte machte er eine Ausnahme? War zwischen ihnen das geringste vorgefallen, das ihm erlaubte, sich anders als alle anderen gegen sie zu benehmen?

Fast freute sie sich, als sie eines Tages seine Karte fand und ihm eine Einladung zum Ball senden konnte. Es war Zeit, daß er seine Sonderstellung aufgab. Erst unlängst hatte Hermann gesagt: »Tessin hat seine Niederlage noch nicht verschmerzt, er grollt«, und als Maria ihn staunend und bestürzt angeblickt, ganz ruhig hinzugefügt: »Vor einem braven Manne, den du mir vorgezogen hättest, wäre ich zurückgetreten, vor Tessin nicht. Ich hätte ihn eher niedergeschossen als zugegeben, daß er dich heimführt.«

Maria zwang sich mühsam eine gleichgültige Miene ab: »Wie – du hast etwas entdeckt von dem mißlungenen Versuch des Grafen Tessin, sich auf die einfachste Weise den Einfluß meines Vaters zu sichern? – Allen Respekt! Außer dir ist dieser kleine diplomatische Fehlgriff niemandem aufgefallen.«

»So war auch ich einmal scharfsichtig«, hatte Hermanns Antwort gelautet. »Die Liebe tut Wunder.«

An dieses Gespräch erinnerte sich Maria oft, als die Stunde immer näher kam, in der sie Tessin als Gast in ihrem Hause sehen sollte. Und welche Vorsätze faßte sie nicht! Mit welcher Unbefangenheit wollte sie ihm entgegentreten und sogleich den kühl freundlichen Ton anstimmen, der von nun an zwischen ihnen herrschen sollte.

Der Faschingmontag kam heran. Es war neun Uhr; Maria hatte ihre Toilette beendet und sich noch in das Kinderzimmer begeben, um dem Kleinen gute Nacht zu sagen. Er erwachte, als sie sich über ihn beugte, stieß ein freudiges Lachen aus und griff mit beiden Händen nach dem glitzernden Diadem auf ihrem Haupte. Sie wehrte ihm, küßte ihn, schläferte ihn wieder ein und flüsterte ihm zu: »Du bist doch mein Höchstes und Liebstes.«

Dann begab sie sich hinüber nach den taghell erleuchteten, blumendurchdufteten Festräumen … Alles noch leer und still. Nur im Wintergarten, in dem soupiert werden sollte, der Obergärtner aus Dornach und seine Leute mit dem Ordnen einer Palmengruppe beschäftigt. Und in der Galerie der Haushofmeister, der mit so feierlichem Ernste, als ob er einem Ministerrate präsidierte, den schwarzbefrackten Kammerdienern und den goldbetreßten, perückengeschmückten Lakaien seine Befehle erteilte.

Im kühlen Ballsaale ging Hermann mit dem Direktor der Kapelle, einem berühmten und liebenswürdigen Künstler, in lebhaftem Gespräch auf und ab. Als Maria sich näherte, blieben beide stehen, und der Musiker rief unwillkürlich aus: »Wie schön Sie sind, Frau Gräfin!«

»Nicht wahr?« erwiderte sie, seine Bewunderung ebenso unbefangen hinnehmend, wie er sie geäußert hatte: »Diese Spitzen – eine geklöppelte Symphonie; das Diadem, ein Meisterstück unseres Köchert, prächtig und doch leicht, ich spüre es kaum – lauter Geschenke meines Mannes …« Und seine geringsten, dachte sie. Hatte er sich ihr nicht selbst völlig zu eigen gegeben? Sein erster und letzter Gedanke gehörte ihr, und was ihr Leben schmückte und schön und reich machte, vom Größten bis zum Kleinsten, war das Werk dieses Mannes, der im Besitz ihres Selbst noch sehnsüchtig nach ihrer Liebe rang.

Von unendlicher Dankbarkeit ergriffen, freute sie sich, so schön zu sein, freute sich, daß ihn heute viele glücklich preisen würden. Strahlenden Auges blickte sie in den Spiegel … Sie konnte zufrieden sein mit sich. Nie hatte ein Kleid ihr besser gestanden als dieses farbig-farblose, eine Mischung von Grau und Lila, für die die Sprache keine Bezeichnung hat. Das kostbare, goldgestickte Spitzengewebe, das eben von ihr gerühmt worden, umgab die herrlich geformte Büste, bildete eine schmale Spange zwischen der Schulter und dem Oberarm und wallte, kunstvoll gerafft, vom Gürtel nieder bis zu der langen, mit schwerem Goldbrokat gefütterten Schleppe. Die edle, in zarter Fülle prangende Gestalt war wie von einer goldenen Wolke umschimmert, und eine Wonne für das Auge die gelassene und stolze Anmut ihrer Bewegungen.

Allmählich füllten sich die Säle. Übermütig oder abgespannt, mit vergnügten, erwartungsvollen oder mit gelangweilten Mienen wogten die Ankommenden herein. Die paar hundert Menschen, welche die sogenannte große Welt ausmachen, trafen einmal wieder an einem und demselben Orte zusammen – Blüte des Adels, Häupter und Angehörige uralter Geschlechter, die ihr Blut rein erhalten hatten von jeder Vermischung mit dem nicht Ebenbürtiger.

Da stehen sie, eine große Gruppe bildend, die in ihrer Art einzigen, die berühmten Wiener Komtessen. Die Reden einiger sind so frei und so derb, daß es nicht leicht ist, die Harmlosigkeit zu ermessen, mit welcher sie geführt werden. »Slang« und nichts weiter, das fliegt sie so an. Die spricht’s ihrem Vater und jene ihrem Bruder und eine der anderen nach. In Wahrheit aber sind sie sorgfältig betreut worden, von ihrem ersten Atemzuge an behütet vor dem Anblick des Häßlichen und Schlechten, aufgewachsen in Unkenntnis des Elends und der Schuld. Und jetzt führt man sie ein in das Leben, zu welchem das vergangene nur eine Vorbereitung war; sie nähern sich seiner Schwelle, als wäre sie diejenige der Himmelspforte, und klopfen herzhaft an.

Und die jungen Herren – sämtlich studierte Leute, wenn auch nicht immer viel mehr, als nötig ist, um die Offiziersprüfung zu machen. So mancher von ihnen hat auf der Schulbank neben dem Sohn des Schneiders oder des Branntweinbrenners gesessen und manche sauer erworbene gute Klasse dem Ehrgeiz zu verdanken gehabt, sich nicht regelmäßig von einem Plebejer überflügeln zu lassen. Ob sie jedoch gedenken, das Erlernte baldmöglichst wieder zu vergessen und nur noch ihrem Vergnügen zu leben, oder ob sie sich fühlen als angehende Marschälle, Botschafter, Minister: dieselbe Zuversicht, daß es die Welt nur gut mit ihnen meinen könne, beseelt alle, und sie treten hinein wie junge Könige in ihr Reich.

»Schau, wie sie grüßen«, sagte Hermann zu seinem Schwiegervater. »Da hat sich eben ein blühender Schwarm frischgebackener Leutnants und Attachés durch die Menge gedrängt, um der Hausfrau seine Reverenz zu machen. Sie stehen unbeweglich, nur die Arme werden noch etwas mehr geründet, die Schultern noch ein wenig höher emporgehoben als gewöhnlich. Ein leichter Ruck, der Kopf neigt sich – beileibe nicht zu tief! – eine Viertelsekunde lang – der Gruß ist abgefertigt.«

»Modern«, sprach Wolfsberg. »Die Bursche sind alle nach demselben Rezept eingetunkt und steif glaciert in Eleganz.«

»Und soviel Gutes, das sich hinter den Faxen verbirgt, soviel Bravheit, Tüchtigkeit, Mut und – wie oft – Talent!«

»Wenn sie nur damit etwas anzufangen wüßten … Guten Abend, Fürstin«, unterbrach er sich, das freundliche Kopfnicken einer wohlerhaltenen stattlichen Dame mit tiefer Verbeugung erwidernd.

»Ich suche einen Platz auf der Estrade zwischen ein paar Nachbarinnen, die nicht gar zu arg besessen sind vom mütterlichen Ballwahnsinn. Einen Mauerfliegenplatz, mein lieber Graf«, sagte sie lachend und in bester Laune, obwohl sie wußte: Beim ersten Geigenstrich wird es sie erfassen mit fast unbezwinglicher Lust, sich noch einmal – ein allerletztes Mal – im Reigen zu schwingen … Ach! wenn sie sich nicht schämte vor ihrer siebzehnjährigen Tochter …

Die Ankunft des Hofes wurde gemeldet; Hermann eilte den hohen Gästen auf die Treppe entgegen, und bald darauf eröffnete Maria den Ball am Arme eines jungen Erzherzogs.

Während der ersten Tänze, umringt und umdrängt, in Anspruch genommen von ihren Hausfrauenpflichten, hatte sie ihn noch nicht gesehen, an den sie seit dem Beginn des Festes fortwährend dachte. Plötzlich meinte sie seine Anwesenheit zu fühlen. – Er ist da, sagte sie sich und erblickte ihn. Eine entsetzliche Verwirrung bemächtigte sich ihrer. Seine dämonische Schönheit fiel ihr wie etwas Neues auf.

Er stand neben dem Fauteuil Gräfin Dolphs, in eifrigem Gespräch mit ihr. Eifrig ihrerseits, sie war lebhaft angeregt, ein leichtes Rot färbte ihre welken Wangen, ein heiter satirisches Lächeln umspielte ihre Lippen, ihre scharfen Züge waren von dem Ausdruck der Zufriedenheit erhellt, die sie nur im Verkehr mit wirklich gescheiten Männern empfand. Tessin sprach wenig, aber jeder der kurzen Sätze, die er vorbrachte, schien eine Welt von Gedanken in dem verständnisvollen Geiste der Gräfin zu wecken.

Er brach das Gespräch ab, als sein suchender Blick dem Marias begegnete, und kam auf sie zugeschritten. Sie wechselten einige Redensarten, er bat um die nächste Polka.

»Ich gebe Ihnen die dritte – mit meiner Kusine Wolfsberg; sie hat, wie mir eben anvertraut wurde, keinen Tänzer«, antwortete Maria.

Tessin verneigte sich und ging, um die Komtesse zu engagieren, eine der Unbegabtesten ihres Geschlechts, für die jeder Ball eine Übung im Sitzen war.

Der Kotillon, den Tessin mitmachte, bot ihm endlich die ersehnte, glücklich wahrgenommene Gelegenheit zu einer Entschädigung. Scheinbar zufällig führte ihn eine Wahltour mit Maria zusammen. Mit leidenschaftlicher Hast umschlang er sie. »Einmal wieder!« sagte er so laut, daß sie erschrak, und schon flogen sie dahin, und ihr Atem mischte sich mit dem seinen, und sein Mund streifte ihre Haare, und er drückte sie an sich und sprach: »Ich habe Sie gemieden, Gräfin – aus Sorge für meine Seelenruhe«, und sie erwiderte mit einer Stimme, die ihr selbst fremd klang und herb und unsicher war … Nein, nein, so hatte sie ihm nicht begegnen wollen: »Und was sichert sie Ihnen jetzt?«

»Nichts, aber ich will sie zu gewinnen – das heißt zu befestigen suchen – fern von Ihnen.«

Sie lachte: »An welchem Ende der Welt?«

Statt zu antworten, flüsterte er ihr zu, rasch und überstürzt: »Es wäre schön gewesen, auch jetzt noch zu schweigen, wie ich geschwiegen habe, als man mich bei Ihnen verleumdete – leugnen Sie doch nicht«, kam er dem Einwande zuvor, den sie erheben wollte –, »verleumdete und Sie die Frau eines anderen wurden … Es wäre heldenhaft gewesen, ich weiß, schweigend in die Verbannung zu gehen – aber zu so hoher Tugend vermag ich mich nicht aufzuschwingen, und Sie sollen wissen …«

»Also wirklich in die Verbannung«, unterbrach sie ihn; »da bedaure ich ja sehr die kleine Nicolette.«

Das hätte sie nicht sagen dürfen! Oh, wie sie das wußte, als es zu spät, als es schon gesagt war und spöttischer Triumph aus den Augen des Herzenskundigen leuchtete, der in ganz verändertem und leichtfertigem Tone fragte: »Die Kleine – Sie erinnern sich ihrer? War sie nicht nett?«

Sie sprach ihn nicht mehr an diesem Abend, den er ihr, den sie selbst sich vergällt hatte, den sich ins Gedächtnis zurückzurufen ihr peinlich wurde. Sie hörte, daß er einen »exotischen« Posten angenommen hatte und Österreich und Europa für Jahre verlassen sollte, sehr bald wahrscheinlich, vielleicht schon in einigen Wochen; der Zeitpunkt war noch nicht genau bestimmt.

Fast täglich führte die ruhelose Geselligkeit, in der sie lebten, sie zusammen. Sie trafen einander auf dem Eise, im Prater, bei Diners, in Soireen. Und er, mit großer Geschicklichkeit, mit steter Beherrschung seiner selbst, wußte immer da zu sein, wo sie war, und sich dann mit allen außer mit ihr zu beschäftigen. Er machte auf das eifrigste der und jener koketten Frau in Marias Gegenwart den Hof, er verschwendete die Schätze seines Geistes und seines Witzes an irgendeine hübsche Dutzend-Komtesse.

Das war so seltsam, so unerwartet nach seinem kühnen Versuch einer Erklärung auf dem Balle. Sie belächelte es, fand es kindisch, ihrer und seiner unwürdig und nahm den Kampf dennoch auf, den er ihr bot. Allerdings beschäftigte sie sich dabei mehr als billig mit ihm, dachte an ihn – immer und immer! Anfangs rang sie gegen diese törichte Besessenheit, dann erinnerte sie sich des großen Wortes: »Wir befreien uns von unseren Leidenschaften, wenn wir sie denken.« – Von unseren Leidenschaften – um wieviel eher denn von einer Marotte. Überdies stand Tessin am Morgen seiner Abreise; er einmal fort, und der kleine Krieg, den sie miteinander geführt, und die Laune, die ihn heraufbeschworen hatte, waren vergessen.

Gräfin Dolph, zu deren, wie sie selbst sagte, senilen Eitelkeiten es gehörte, mit der Marquise du Deffand verglichen zu werden, nannte Tessin, der sich regelmäßig in ihrem auswattierten, vor jedem Zuglüftchen sorgfältigst verwahrten Salon einfand, ihren Horace Walpole. Sie sang sein Lob in allen Tonarten, und ein Massenchor von schönen Damen stimmte ein. Tessin war nie so ausschließend und siegreich in der Mode gewesen wie jetzt, da sein Nimbus dadurch noch erhöht wurde, daß er einen Scheidenden umgab.

Die aus Überzeugung Unwissenden, die geschworenen Feindinnen der Geographie begannen diese verachtete Wissenschaft zu pflegen. Landkarten von Asien fanden nie dagewesenen Absatz in aristokratischen Häusern, die Wege, die Tessin nehmen sollte oder konnte, wurden mit farbigen Stiften auf denselben eingezeichnet. Eine unerhörte Wanderlust regte sich plötzlich in hundert jungen weiblichen Herzen.

Es versteht sich von selbst, daß die Abende bei der Gräfin Dolph, die sonst wenig Anziehungskraft besaßen, bis zum Ende der Fastenzeit besucht wurden wie ein Gnadenort. Die gastlich geöffnete Zimmerreihe der großen Wohnung, welche die Gräfin im Hause ihres Bruders beibehalten hatte, stand fast leer, während das Gelaß, in dem die Hausfrau ihren Günstling empfing, immer überfüllt war.

Der Graf mied diese Gesellschaften, weil Tessin ihr Mittelpunkt war, und Maria fand sich so selten ein, als unauffälligerweise geschehen konnte. Einmal aber kam sie nach der Oper, begleitet von Hermann, und bald nach ihnen erschien Wolfsberg. Er befand sich in schlechter Stimmung; um seinen Mund lagerte der böse Zug, den Maria einst gefürchtet hatte und der ihr jetzt noch unangenehm war, weil er eine Härte verriet, zu welcher ein Überlegener wie er sich gegen Geringere nicht hinreißen lassen durfte. Er schritt durch das Gedränge bis in die Nähe der Gräfin Dolph, die in ihrem kissenreichen Lehnstuhl am Ende des Zimmers ruhte und mit dem auf einem Taburett neben ihr sitzenden Tessin scherzte. Ein kleiner Hofstaat von besonders eifrigen Anhängern umgab sie und mischte sich gelegentlich in ihr Gespräch.

»Begum Somru und Dyce«, sagte Wolfsberg im Vorübergehen zu seiner Tochter, und sie versetzte: »Nein, Stuwer & Nachfolger – sie sprechen ein Feuerwerk.«

Der Graf reichte seiner Schwester die Hand, würdigte einige der Damen seiner freundlichen Beachtung und bemerkte erst nach einer Weile, daß Tessin aufgestanden war und der Erwiderung seines Grußes harrte.

Nun sah er ihn. Die Blicke beider Männer kreuzten sich wie blanke Schwerter. Der jüngere senkte seine Augen nicht, und Wolfsberg sprach: »Sind Sie reisefertig?« »Seit vier Wochen, Exzellenz.«

»Um so besser, denn Sie werden wohl kaum noch ebenso viele Tage hier zubringen. Was meinen Sie?«

»Immer das, was Euer Exzellenz meinen.« »In all und jedem«, fiel die kleine Gräfin Felicitas Soltan, genannt Fee, ein, die zu den ausgesprochenen Lieblingen Wolfsbergs gehörte. Er lauschte gern dem reichen Quell des Unsinns, der aus ihrem hübschen Mund sprudelte, und fand, ihr Plaudern sei ein höchst anmutiges Geräusch, bei dem er ausruhe. – Fee war reich und elternlos zu sechzehn Jahren durch ihre Verwandten an einen viel älteren Mann verheiratet worden, der sie zwei Jahre später zur Witwe machte. Jetzt genoß sie ihr junges Dasein und das sich selbst erteilte Privilegium, alles zu sagen, was ihr durch den Kopf fuhr. Es hatte viel Staub aufgewirbelt in diesem Fasching, daß sie sieben Heiratsanträge ausgeschlagen, weil sie, ihrer eigenen Behauptung nach, seit ihrer Kindheit in Tessin verliebt war »bis über die Ohren«. Jüngst hatte er sich einige Tage lang auffallend mit ihr beschäftigt und vernachlässigte sie jetzt wieder ebenso auffallend.

Maria durchschaute sein Spiel. Sie wußte wohl, wessen Befremden es erregen sollte, und daß es ohne weiteres eingestellt worden, als es seinen geheimen Zweck verfehlt hatte.

Jetzt rief die kleine Fee sie an und zwang sie, neben ihr Platz zu nehmen. »Hörst du«, fragte sie, »wie bald Tessin uns verlassen soll?… Ihr könnts euch um ihn kränken, wenn’s euch freut. Ich kränk mich nicht – ich reis ihm nach.«

Alle lachten, und Tessin sprach achselzuckend: »Sie wären in größter Verlegenheit, Gräfin. Sie haben ja keine Ahnung von dem Wege, den Sie nehmen müßten.«

Fee zog ihr feines Kindergesicht in ernste Falten: »Ich werd halt fragen, ich werd auf die Bahnhöf fahren, ich werd an jeden Stationschef schreiben in die vier Weltteil.«

»Immer schlimmer«, versetzte Tessin, und seine Augen ruhten mit unbarmherzigem Spotte auf ihr, »denn nur im fünften leben Gelehrte, die Ihre Schrift lesen können.«

Sie suchte nach einer Antwort und fand keine. »Schau, wie er mit mir is«, flüsterte sie ihrer Nachbarin zu. Ihr Mund verzog sich zum Weinen; sie sprang auf und sprach mit einem Schluchzen in der Stimme: »Das is hier eine Hitz, nicht zum Aushalten!«

Maria folgte ihr. Sie traten beide ans Fenster; Fee preßte ihre glühende Stirn an die Scheibe. Tränen flossen über ihre Wangen.

Eine halbe Stunde später verließ das Ehepaar Dornach die Gesellschaft und wurde auf der Treppe von Tessin eingeholt.

»Ich begreife nicht«, sagte Hermann zu ihm, »wie du Freude daran finden kannst, eine Frau, die dich liebt, lächerlich zu machen.«

»Mich liebt?« erwiderte Tessin mit einer weder durch diese Worte noch durch den Ton, in dem sie gesprochen waren, gerechtfertigten Gereiztheit. »Ein Wetterfähnchen, das liebt?«

»Der Tausend! – Du wirst doch niemandem aus seiner Unbeständigkeit einen Vorwurf machen?«

»Jedem den schwersten«, sprach Tessin mit großem Nachdruck.

Am folgenden Morgen erhielt Hermann ein Telegramm von dem Gewissensrat seiner Mutter, Pater Schirmer. Er berichtete auf eigene Faust, daß die Gräfin – wenn auch unbedenklich – erkrankt sei.

Der Entschluß, am selben Abend zu reisen, war sogleich gefaßt. Die Anordnungen dazu wurden getroffen, das Kind mit seiner Kamarilla unter der Obhut Lisettens nach Dornach gesandt.

Maria geleitete den Kleinen zur Bahn, nahm Abschied von Tante Dolph und schickte ihrem Vater eine Zeile der Nachricht ins Ministerium. Nach Hause zurückgekehrt, betrat sie das leere Kinderzimmer und verließ es schnell wieder – es machte ihr einen peinlichen Eindruck. Sie ging zu Hermann hinüber; er war zu seinem Geschäftsmanne gefahren und hatte gesagt, man solle ihn nicht vor der Essenszeit, sieben Uhr, erwarten.

Nun lehnte Maria etwas müde in ihrem Fauteuil am Schreibtisch. In dieser ganzen letzten Vergangenheit hatte sie sich geklammert an die Liebe zu ihrem Kinde, hatte jede Stunde, die ihr angestrengtes Weltleben ihr übrigließ, mit Hermann zugebracht. Bald sollte sie nur für diese beiden leben, durch nichts zerstreut, durch nichts in Anspruch genommen sein als durch die berechtigten, die heiligen Empfindungen, die in ihr Dasein getreten waren wie zum Ersatz zweier anderer, völlig verwandelter: der anbetenden Liebe zu ihrem Vater, der innigen Zuneigung zu der einzigen Freundin, die sie jemals zu haben geglaubt.

Ich bin reich genug, sagte sie sich und hatte das Gefühl, daß noch einige Stunden vergehen müßten, ehe sie zu dem vollen Genuß dieses Reichtums kommen könne. Dann würde die unerklärliche Sehnsucht, die ihr jetzt immer und immer die Seele beklemmte, verschwunden, und sie würde frei sein – frei – –

Die Tür des Salons, der an ihr Schreibzimmer grenzte, wurde geöffnet, ein Kammerdiener trat ein und fast zugleich mit ihm derjenige, den er anmeldete: Graf Tessin.