Kapitel 15

 

Das Fest in Dornach rief eine Reihe mehr oder minder glücklicher Nachahmungen hervor. Es gab Bälle auf allen Schlössern der Umgebung, sogar bei Wilhelms wurde getanzt, zum ersten Male, seitdem sie Haus hielten. Später kam der Eissport in Aufschwung, und man huldigte ihm auf das eifrigste. Da zeigte sich Gustav Wonsheim in seinem Glanze.

»Wenn’s friert«, sagte Carla, »dann kommt mein Mann in Feuer.«

Er fuhr wie ein Norweger auf dem Schneeschuh bergab und bergan; er verstand die Eispike zu gebrauchen wie ein Holländer; auf dem Eislaufplatz beschämte er den Amerikaner Haynes. Seine Unermüdlichkeit im Veranstalten immer neuer Wintervergnügungen im Freien war erstaunlich.

Im Dezember dieses Jahres gewann er, ohne Notiz davon zu nehmen, die Herzen von sechzehn benachbarten Damen;doch wandten sie sich im Februar fast alle von ihm ab, als ihn Hermann bei einem tollkühnen Schlittenrennen glorreich besiegte.

Die Zeit verrann. Von Woche zu Woche wurde in Dornach und in Rakonic die Abreise nach Wien verschoben und endlich ganz aufgegeben. Die Balzjagden hatten begonnen, die Herrschaften fuhren fort, sich auf dem Lande prächtig zu unterhalten.

Maria führte ein eigentümliches Doppelleben. Heute eine zweite Elisabeth von Thüringen, morgen eine Vollblut-Sportslady, die das starke Geschlecht oft übertraf an Kühnheit und »Schneid«.

»Ein Mordsweib, die Dornach«, sagte Clemens seufzend zu seinem Bruder. Und Gustav erwiderte zwischen zwei Zügen seiner Zigarette: »Das weiß der Teufel!«

Clemens ließ sich in seinem Fauteuil hinabgleiten, streckte die Beine weit aus und legte den Kopf zurück. »Wie sie gestern so scharf hereingfahren is!« sprach er. »Auf einmal ruft die Betty sie an. Ein Ruck – und die Braun’ stehn wie die Mauern.«

»Ich sag’s ja, als four-in-hand-Kutscher kommt ihr keiner nach.«

»Das Aug, die Hand und – die Ruh.«

»Der Kerl, der Hermann, der hat ein Mordsglück mit der Frau.«

Dem Beneideten indessen schien das, was die hohe Zustimmung der Nachbarn erweckte, ein unheimliches Wunder. Er suchte sich die leidenschaftliche Zerstreuungssucht Marias als einen Rückschlag gegen ihre frühere Melancholie zu erklären. Pendelschwingungen der Seele, von dem Äußersten zu jenem, die nichts sind als Vorbereitungen zur Rückkehr in ihre schöne, wohltuende Gleichmäßigkeit.

Eines Morgens kam Maria heim nach wildem Ritte durch die kaum wegsam gewordenen Wälder. Aus ihren schweren Flechten, die sich nicht völlig unter den Hut hatten zwängen lassen, standen die Spitzen der Haare hervor, glänzend wie Seide; unbändige Löckchen kräuselten sich über den aufgeregt funkelnden Augen, die schlanken Nasenflügel zitterten, zwischen den leicht geöffneten Lippen blinkten die weißen Zähne hervor. Hastig berichtete sie von einer neuen Verabredung mit Wonsheims für den Abend.

Eine Regung der Eifersucht durchzuckte das Herz ihres Mannes; doch machte er sich sogleich einen Vorwurf daraus. »Du hast dich unterhalten?« fragte er.

»Oh, königlich!« gab sie zur Antwort, und er strich leise über ihre geröteten Wangen: »Den nächsten Winter verleben wir in der Stadt, wenn es dir recht ist. Auf dem Lande haben wir zu wenig Ruhe, was meinst du?«

»Was du meinst«, gab sie zur Antwort, und seine unausgesprochene Rüge verfehlte nicht ihre Wirkung.

Maria besann sich auf sich selbst. Ein Wort Hermanns hatte sie aus dem Rausche geweckt, in dem sie eine Art von Frieden gefunden.

Nun wollte sie mehr als seinen Schein, sie wollte ihn selbst wiedergewinnen, den echten Frieden, ohne den das Leben nutzlos und töricht ist.

Sie begann ihn zu suchen im Buch der Bücher, in den Worten der Schrift, die sich nicht an die kalte Tugend wenden, die für den reuigen Sünder gesprochen sind. Ihm gelten diese Verheißungen, dem armen Zöllner, der büßenden Magdalena öffnen sich Vaterarme.

Maria erflehte und erhielt Entsühnung durch den Mund eines ehrwürdigen Priesters und blieb vor sich selbst – unentsühnt.

»Was hilft Ihre Verzeihung, mein Vater, wenn ich mir nicht verzeihen kann?« fragte sie, und der alte Seelenhirt erwiderte:

»Hat meine Tochter vergessen, daß es die Verzeihung des Allbarmherzigen ist und nicht die meine, die sie in der heiligen Beichte empfängt?«

»Wenn es die Verzeihung Gottes ist, warum fühle ich ihre Segnungen nicht? Warum trete ich von dem Tische des Herrn mit so schwerem Herzen hinweg, als ich ihm nahte?«

Ihr Gewissensrat holte vergeblich Trostgründe ohne Ende aus dem unerschöpflichen Born des Glaubens hervor, dessen treuer Bekenner er war.

Sie lag vor ihm auf den Knien im Beichtstuhl der Schloßkapelle, das Angesicht mit den Händen bedeckt, und schluchzte.

Der Priester ließ einen Blick voll Wehmut über die Ringende gleiten und sagte nach langem Besinnen: »Die Wege des Herrn sind unerforschlich. Es ist schon vorgekommen, daß ein reiner Mensch mit Zulassung Gottes in der Versuchung unterlegen ist. Das geschieht, damit dieser Mensch sich nicht überhebe in seiner Tugend. Er fiel, ja, aber – dem Allgütigen zu Füßen, dessen er im Frevelmute vergessen und zu dem die Reue ihn zurückgeführt. Dort liegt er fortan in Demut und Zerknirschung, einer von denen, die dem Herzen des Ewigen näherstehen als hundert Gerechte.«

Er gab ihr seinen Segen. Sie erhob sich stumm, und nie wieder klagte sie ihm ihr Leid.

Der alte Geistliche aber beugte seinen kahlen Scheitel in frommer Einfalt vor dem Bilde des Gekreuzigten bis zur Erde und sprach ein heißes Dankgebet: Sei gepriesen, daß du auf die Lippen deines unwürdigen Dieners die Worte legtest, die eine Seele vor der Verzweiflung gerettet haben.

Maria ging von nun an ihren Weg allein und suchte nicht mehr nach Betäubung oder Stütze. Äußeren Gleichmut hatte sie endlich errungen, der half ihr die schwere Seelenpein verbergen, ja, er wuchs mit ihrem Streben nach Vervollkommnung. Sie war nachsichtslos gegen sich selbst, wenn es die Erfüllung auch der geringsten Pflicht galt – und hatte gegen ihre erste und höchste gesündigt. Sie trug das verfeinertste Rechtsgefühl in der Brust, und – neben ihr wuchs die Frucht des Unrechts auf; ein Eindringling, ein kleiner Dieb, der genoß, was ihm nicht zukam. Über ein schmerzliches Mitleid ging die Empfindung Marias für das Kind nicht hinaus.

Aber Hermann, Vater und Sohn, schienen ihm die Zärtlichkeit ersetzen zu wollen, die seine Mutter ihm versagte. Der vierjährige Majoratserbe, ein großer, stämmiger Junge, der so kühn und stolz einherging, als ob die Erde ihm gehörte, zerschmolz vor dem »Kleinen« in Liebe und Ergebenheit. Seiner Natur nach kriegerisch und immer aufgelegt, zum Schlage auszuholen mit seinen Fäustchen, entfaltete er jeder Laune seines Nachgeborenen gegenüber eine erstaunliche Geduld. Er parierte seine hölzernen Pinzgauer im sausendsten Galopp, wenn Erich mit Tränen in der Stimme rief: »Genug, die Pferde sind schon müd.«

Überlegen lächelnd sah Hermann zu, wie sein Bruder die Gäule unter einer Gartenbank vor ihm versteckte, sie fütterte und sie zudeckte mit dem Taschentuch.

Der Große beschützte den Kleinen bei hundert Gelegenheiten; dieser beschützte die Hunde vor Hermanns derben Zärtlichkeiten. In solchen Fällen gab es Püffe; doch immer war’s der Schwache, der sie versetzte.

Ein festes Band zwischen den Geschwistern war die Freude am Erzählen des einen, die Freude am Zuhören des andern. Es glänzte etwas wie Verehrung in Erichs Augen, wenn er den Geschichten seines Bruders lauschte. Diese hatten eine merkwürdige Ähnlichkeit untereinander und handelten immer wieder von der Wüste, vom Sturm und von den Löwen. Manchmal, wenn sich die Wüste so unermeßlich dehnte, daß sie größer wurde als die Wiese drüben hinter dem Bach, und wenn der Sturm es zu wild trieb und die Löwen zu blutdürstig wurden, da überlief’s den Kleinen; sein Gesichtchen zog sich in die Länge, er verschränkte seine Finger krampfhaft über den Knien und ließ den Kopf auf die Brust sinken.

Glücklich über den Erfolg seiner Erzählungskunst, warf Hermann den Kopf in die Höhe und rief: »Und ich werd hingehen und die Löwen totschießen!«

Das war der Höhepunkt seines Triumphes, und er genoß ihn ungestört, bis eines Tages der Kleine aufsprang, die Arme ausbreitete und völlig begeistert sprach: »Und Erich wird zuerst hingehen und wird den Löwen zu essen geben.«

Von Stund an begann er, den Gedanken an die Reise zu den Löwen mit einer weit über seine Jahre gehenden Beharrlichkeit nachzuhängen. Der Richtung zugewandt, die Hermann als diejenige bezeichnet hatte, in der die Löwen wohnen, konnte er ganz in Gedanken versinken und still und freudig lächeln, als ob die schönsten Bilder vor ihm auftauchten.

Seine Mutter bekämpfte den Hang zur Träumerei in dem Knäblein. Sie lehrte ihn spielen; sie zürnte, wenn sie ihn müßig fand. Doch selbst ihr Zürnen war ihm Glück und Gnade, sie beschäftigte sich ja mit ihm. Er hörte ihr zu, stand wie ein Bildsäulchen und blickte mit seinen strahlenden Augen andächtig zu ihr empor.

Maria hielt den liebewerbenden Blick des Kindes nicht lange aus.

Sie trat fort von ihm, sie fragte sich schaudernd: Sieht denn niemand außer mir diese entsetzliche Ähnlichkeit? – Niemand, antwortete ihr die Unbefangenheit der Ihren, der Fremden, eines jeden, der dem Kinde nahte und in Bewunderung des reizumwobenen Geschöpfchens ausbrach.

Sein besonderer Verehrer war der Doktor, obwohl er sonst gesunden Kindern keine Beachtung schenkte. »Der Herr Graf Erich soll, wie ich höre, geistlich werden«, sagte er zu Lisette, die lange mit ihm geschmollt, es aber zuletzt aufgegeben hatte, weil er so gar nichts davon bemerkte. »Da prophezeie ich Ihnen, aus dem macht man keinen Domherrn. Der bleibt nicht im Lande – der wird ein heiliger Reisender, ein Missionär. Schon jetzt ein Menschen- und Tierfreund und dazu einen unwiderstehlichen Zug hinaus ins Universum.«

Die gute Helmi und Wilhelm sagten oft, daß sie sich einen Neunten gefallen ließen, wenn er ein Seitenstück zu Erich wäre: »So poetisch schöne Kinder sind gewöhnlich kränklich, dieser aber sieht aus und befindet sich wie ein Cherub.«

Den Vergleich hatte zuerst Gräfin Agathe angewendet. Sie entriß sich des bevorzugten Enkels wegen früher als sonst ihrer klösterlichen Einsamkeit. Den scherzenden Vorwurf Hermanns, er hätte nie geahnt, daß sie so schwach und nachsichtig sein könne, wie sie es gegen seinen zweiten Sohn war, ließ sie sich gern gefallen. – Er erinnerte eben an seinen Großvater.

Die Gräfin hatte das festgestellt, und es blieb für die Mitglieder der beiden Häuser Dornach ein Familiendogma, was soviel heißt als ein Satz, an dem der gesunde Menschenverstand und die tiefste Einsicht zuschanden werden.

Als der Fasching heranrückte, mahnte die Mutter Hermanns ihn und Maria von neuem an ihre Pflichten gegen die Gesellschaft. Graf Wolfsberg, mit Geschäften überhäuft und dadurch an Wien gebunden, sehnte sich nach seiner Tochter. Gräfin Dolph schrieb:

 

»Ihr seid noch zu jung, um ganz zu verlandeln. Kommt, obwohl hier nicht viel los ist. Die Menschen werden immer dümmer und ihre Manieren immer schlechter. Früher wußte ich genau, ob ich mit einem Fiaker rede oder mit einer Komteß, jetzt irre ich mich alle Augenblick. Ob es noch junge Herren gibt, werdet wohl Ihr erfahren; eine alte Frau, bei der man etwas Geist, den Erbfeind dieser Rasse, vermutet, kann sie für ausgerottet halten. – Ich gehe mit dem Gedanken um, literarische Abende zu veranstalten, aber – die Literaten sind sämtlich Atheisten – meine Nulle ist dagegen. Um diese Seele sind wir im Streite, der liebe Gott und ich. Ich glaube, ich werde sie ihm überlassen.

Euere Wonsheim haben mich besucht. Beide Männer sind in Dich verliebt, Maria, zwei Waschbären, die den Morgenstern anschmachten. Sobald von Dir gesprochen wird, schnappen ihre Gesichter in die Falten der Demut ein.

Die besseren Hälften Wonsheim fangen an sich zurückzuziehen. Aus Gründen, die man – wahrscheinlich um über ihre bitterliche Prosa hinwegzutäuschen – interessante nennt.

Liebes Kind, mein Horace Walpole beschämt sein Urbild;er schreibt mir nicht nur bewunderungswürdige und ergötzliche, sondern auch liebevolle Briefe. Freilich wagt er nicht viel dabei, auf diese Entfernung. Das ist mein Schicksal. Der einzige gescheite Junggeselle auf Erden und – Meere zwischen uns. Immer die alte Geschichte, alles Wiederholung auf dieser Erde, die ja selbst keine Originalschöpfung des lieben Herrgotts, sondern nach einem vom Teufel verfertigten Modell ausgeführt ist. Ich hab’s aus sicherer Quelle.

Und nun sage ich Euch nochmals: kommt! reißt Euch los von Eueren Iffländern, Wilhelm und Helmi, die ich grüße, und von Euerem Euer Geld, Euere warmen Suppen und Jacken liebenden Volke.

Zuletzt die Tagesneuigkeit: Alma ist in Wien. Wir hörten, daß sie einschrumpfe vor Langeweile auf ihrer Burg im Wald. Da schrieb ihr Dein Vater die Barmherzigkeitslüge: ›Ihre Freunde vermissen Sie, warum halten Sie sich fern?‹ Sie antwortete: ›Ich werde mich ewig fernhalten‹, und – war da.«

 

»Wirst du sie sehen?« fragte Hermann.

Maria errötete bis an die Stirnhaare: »Ja.«

»So kannst du ihr verzeihen?«

»Ich?… Wie käme es mir zu … Und irgendwem?« verbesserte sie sich, in Verlegenheit gebracht durch sein Befremden über diese Worte. »Wer ist so rein, wer steht so hoch, daß er sich anmaßen dürfte zu sagen: Ich verzeihe fremde Schuld.«

Wenige Wochen später begegnete sie Alma auf einem Balle, begrüßte sie zuerst, empfing am folgenden Tage ihren Besuch und erwiderte ihn.

Fürstin Tessin dankte mit Tränen in ihren noch immer schönen Augen.

Die Freundschaft Marias war der stolze Besitz gewesen, auf den sie sich berufen konnte in ihrem Kampfe zwischen ihrer Furcht vor der Meinung der Welt und ihrer Liebe zu Wolfsberg. Zwei starke Empfindungen in einem schwachen Herzen, das nicht vermochte, der einen zu trotzen oder die andere aufzugeben. So hatte sie sich durchs Leben gewunden, überaus höflich, überaus gütig, in jedem, der ihr nahte, einen Richter sehend, den sie zu bestechen suchte. Als Maria begonnen hatte sie zu meiden, da war ihr, als ob die letzte Hülle gerissen worden wäre von ihrem durchsichtigen Geheimnisse. Jetzt aber hatte ihre Beschützerin sich wieder eingefunden, und sie fühlte sich nach Möglichkeit neu hergestellt in den Augen der Menschen, deren Urteil bei ihr die Stelle des Gewissens vertrat.

Graf Wolfsberg äußerte sich über die Wiederanknüpfung des Verkehrs zwischen seiner Tochter und Alma weder zustimmend noch mißbilligend. Man geriet langsam in die alten Geleise zurück. Wolfsberg spöttelte zeitweilig ein bißchen über »die gute Fürstin«; Maria verteidigte sie, wenn auch nicht so warm wie einst.

Die Wahrnehmung Tante Dolphs erwies sich als richtig;beide Wonsheim liebten, gänzlich hoffnungslos, die Frau Nachbarin vom Lande. Diese hatte seit einiger Zeit bedeutend »ausgespannt«, aber trotzdem war und blieb sie – in der Stadt, wo sich unzählige Gelegenheiten zu Vergleichen boten, sah man das erst recht – schön, elegant und sympathisch wie niemand.

Die Brüder gingen einzig und allein ihretwegen in die Welt. Betty und Carla, kürzlich Mütter geworden, hüteten das Haus. Glückwünsche zu ihrer jungen Vaterschaft wiesen die Wonsheim zurück: »Ich bitt Sie, es sind ja nur Mädeln.«

Der gute Kerl, der Hermann, bekam einen Sohn nach dem anderen, und sie bekamen – Mädeln. Sie suchten Trost für dieses klägliche Resultat in allerlei Zerstreuungen.

Zu denen gehörte »der Spaß«, den der Umgang mit Fee ihnen machte. Sie waren ihre Vertrauten, sie erzählte ihnen alles und das übrige. Zum Beispiel, daß sie eine überseeische Korrespondenz führe und das Leben jetzt sehr ernst nehme, ja sogar, wie ein gewisser Jemand, der ihr maßgebend war – von der Schokoladenseite. Daß sie mit dem Gelde umgehen lerne und ihre Rechnungen nicht selten mit eigener – natürlich behandschuhter – Hand bezahle. Den Kurszettel lese sie Tag für Tag. Es könne auf einmal dazu kommen, daß man gezwungen sei, Obligationen zu verkaufen, um die Kosten einer weiten Reise, die vielleicht gar eine Hochzeitsreise sein werde, zu decken.

Gräfin Dolph, bei der Fee den größten Teil ihrer Zeit zubrachte und die ebenso tief in ihre Geheimnisse eingeweiht war wie die Brüder Wonsheim, machte ihr keinen Vorwurf aus ihrer Plauderhaftigkeit.

»In der Welt, die nur eine erweiterte Familie ist, weiß ohnehin jeder alles von jedem«, sagte sie eines Abends zu Fee in Marias Gegenwart.

»Glaubst du das wirklich?« fragte diese. »Ich meine, die Welt und die Familie wissen so gut wie nichts von ihren Mitgliedern. Ich wenigstens«, brach sie plötzlich aus, »habe eine Vorliebe für ihre Zurückgesetzten und eine heilige Scheu vor ihren Vergötterten.«

»Dann mißtraue dir selbst«, erwiderte Dolph.

»Vielleicht tu ich’s«, sprach Maria.

Die Tante zuckte die Achseln, scheinbar gleichgültig, in ihrem Innersten jedoch regte sich ein stiller, immer wieder auftauchender unbequemer Zweifel: Sollte Tessins Liebe nicht unbelohnt geblieben sein?… Pah! wer dem Unwiderstehlichen nicht widersteht, ist entschuldigt, setzte sie in Gedanken hinzu und sprach: »Das sind, verzeih, krankhafte Übertreibungen.«

Selten nur ließ sich Maria zu dergleichen Äußerungen hinreißen. Sie wurden ihr von der Angst ihres Herzens erpreßt, von der verzweifelten Versuchung: Komm der Entdeckung zuvor – jede Stunde kann sie herbeiführen – der Zufall, der geheimnisvolle Weltbeherrscher, den keine Macht der Erde abzuwenden vermag.

Das waren schwere Augenblicke, aber Maria hatte doch auch Zeiten des inneren Friedens – diejenigen, in denen es ihr gelang zu vergessen. Mit weisem Bedacht, mit unendlicher Mühe übte sie sich im Erlernen dieser großen, für so manchen seelenbefreienden Kunst.

Sie lebte in der Gegenwart, der Linderung des Leids, das ihr nahte, der schüchternen Liebe zu ihrem Manne, der mit Wonne und Qual ausgeübten Sorgfalt für ihre Kinder. Oft wiederholte sie sich das Trostwort: Ein ganzes Dasein der Rechtschaffenheit muß eine Stunde der Verwirrung aufwiegen können … Können? – erhob der peinigende Zweifel in ihrer Brust seine Stimme –, vielleicht, wenn dieses Dasein nicht so süß wäre, wenn die Folgen der Verirrung nicht verkörpert atmeten.