Maslans Frau

Michael Vanka, der alte Doktor von Raudnowitz, saß auf der Bank vor seinem kleinen, ebenerdigen Hause, las eine tschechische Kampfzeitung und kränkte sich. Soviel Haß, Verdächtigung, Verleumdung! Wer nicht zu meiner Partei gehört, ist ein Schuft, sprach mehr oder weniger deutlich aus jeder Zeile.

Seufzend legte der Doktor das Blatt zusammen, schob es auf das Fenstergesimse und überließ sich der Betrachtung seines Gärtchens und des anstoßenden Hühnerhofes. Vanka war stark im Auffinden überraschender Vergleiche und verglich denn jetzt den edlen Frieden, der zwischen den verschiedenen Nationalitäten der Tauben, Enten, Gänse, der Kotschinchina – und der gemeinen Haushühner herrschte, mit dem tollwütigen Kampf, den die vielerlei Volksstämme in seinem Vaterlande gegeneinander führten.

»Da nehmt euch ein Beispiel«, murmelte er, schon halb im Schlafe. Er war müde, hatte bis zum Morgengrauen beim Müller Matej Mašlan gewacht. Wenn einer Pflege so dringend braucht wie der Mann und keine hat, bleibt dem Arzt nichts übrig, als den Krankenwärter zu machen.

»Armer Teufel! Dummer Teufel!« Der Alte lehnte sich zurück und schloß seine kleinen, blauen Augen, die immer in Tränen zu schwimmen schienen. Seine eingesunkene Brust begann sich in tieferen Atemzügen zu heben, seine Hände verschränkten sich im Schoße, sein faltenbedecktes, juchtenfarbiges Gesicht nahm den traurigen Ausdruck an, den alte Leute meistens im Schlafe haben.

Plötzlich fuhr er auf. Jemand war an den Gartenzaun getreten und hatte gerufen: »Guten Nachmittag, Herr Doktor!«

»Guten Nachmittag«, erwiderte er mechanisch, fügte aber rasch hinzu: »Ah, der neue Herr Pfarrer sind’s!« und sah gleich wieder so würdevoll freundlich aus, wie es sich für einen Mann seines Standes gehört. »Belieben einzutreten. Woher, wohin?«

Der ›neue‹ Pfarrer, ein noch junger, großer, breitschultriger Herr im langen Priesterrocke, öffnete das Gitterpförtchen. Ein paar Schritte nur, und er stand in seiner ganzen energischen und imponierenden Erscheinung vor dem kleinen, verschlafenen Doktor: »Woher, fragen Sie? Aus der Waldmühle. Wohin? Ins Dorf. Unterwegs wollte ich mich aber bei Ihnen aufhalten. Es ist mir lieb, daß ich Sie finde, Herr Doktor. Sagen Sie mir, wie steht’s mit Ihrem Patienten, dem Müller Matej Mašlan?«

»Schlecht, Hochwürden.«

»Ist Gefahr? Dringende Gefahr?«

»Je nun, wissen«, er zog die Augenbrauen in die Höbe, daß sie beinahe an die Wurzeln der starken, stahlgrauen Haare stießen, die ihm tief in die niedere Stirn wuchsen, »das ist, wie wenn einer auf einer geborstenen Planke über den Abgrund geht. Trägt sie ihn, werd ich mich wundern; trägt sie ihn nicht, werd ich mich nicht wundern. Aber vielleicht trägt sie ihn.«

»Der Mann ist verheiratet, wie ich höre«, versetzte der Priester, »und in seiner schweren Krankheit auf fremde Leute angewiesen. Wie kommt das? Orientieren Sie mich. Warum ist seine Frau nicht bei ihm?«

»Sind Hochwürden über die Sachlage nicht in Kenntnis gesetzt worden, bevor der alte Herr Kanonikus sich von uns verabschiedete? Er war noch da, wie ich zum Kranken gerufen wurde, gleich nach Ihrer Ankunft hier im Orte. Aber, aber kann’s mir denken; er wird nichts gesagt haben, er hat von der Geschichte so ungern gesprochen wie der Kaiser Napoleon von der Schlacht bei Aspern.«

»So? Dann bitte ich Sie um Aufklärung. Hat die Frau nicht hier im Orte ein großes Bauerngut?«

»Das größte nach dem vom Bürgermeister; doch das ihre ist mir lieber. Wegen der Bewirtschaftung. Wer ihre Felder nicht gesehen hat, hat nichts gesehen. Die Stallungen, und dann das Haus. Wenn ich die Wahl hätte zwischen dem und dem zugigen Schloß…«

»So«, unterbrach ihn der Geistliche. »Warum lassen Sie also den Mann nicht hierherbringen, fort aus der kalten, feuchten Mühle?«

»Hierherbringen? Das geht nicht, Hochwürden.«

»Warum?« Dieses Wort fuhr ziemlich barsch heraus, und Doktor Vanka gab sich einen Ruck, saß jetzt gerade aufgerichtet, und sein dunkles Gesicht nahm etwas Wehmütig Trotziges an.

»Das kann nicht sein«, sagte er noch einmal.

Der Pfarrer stimmte den Ton herab: »Er ist wohl nicht transportabel? Dann soll also seine Frau ihn pflegen kommen.«

»Das kann sie nicht tun, Hochwürden.«

»Kann nicht? Will nicht. Die Leute leben schlecht, mögen einander nicht.«

»Ich glaube eher, daß sie einander noch gern haben, besonders sie ihn.«

»So? Sie geben mir Rätsel auf. Das ist mir völlig unbegreiflich.«

»Unbegreiflich nicht«, sagte Vanka mit einer Art schonender Überlegenheit. »Aber vertrackt, verrückt, wie heutzutage alles. Ja, ja, wenn man die Lampe zu hoch hinaufschraubt, raucht sie.«

»Da heißt’s also zurückschrauben.«

»Das ist nicht immer möglich. Beim Müller Mašlan und seiner Frau ist’s nicht möglich. Herr Pfarrer lächeln, meinen: Wird doch möglich sein.«

»Sie erraten meine Gedanken. Ich aber kann nicht erraten, wie eine Frau, die ihren Mann gern hat, es übers Herz bringen kann, ihn sterben zu lassen, ohne sich um ihn zu kümmern.«

»Was das Kümmern betrifft, Hochwürden, da fehlt nichts. An Kummer fehlt’s der Frau so wenig wie dem Büßer an Geißelhieben. Dürfen sie nicht für eine ordinäre Person halten, o bei weitem! Ihre Eltern schon waren brave, tüchtige, sehr wohlhabende Leute und die Evi das einzige Kind. Was das heißt bei reichen Bauern, ich weiß nicht, ob Hochwürden das wissen.«

»Nehmen Sie’s an, Herr Doktor.«

»Dann brauch ich Hochwürden nicht zu versichern: keine Prinzessin wird so verwöhnt. Bei den hohen Herrschaften gibt’s freilich alles, schöne Kleider, gutes Essen, prächtiges Wohnen, aber – das eiserne Komment, die vielen Zierlichkeiten und Amabilitäten, zu denen sie angehalten werden – lauter Kappzäume. Die Evi hat nie etwas von einem Kappzaum gewußt; es ist immer alles nach ihrem Kopf gegangen. Es war im Grund ein ganz guter Kopf, sie ist in der Schule immer die Erste gewesen; daß sie’s auf dem Tanzplatz war, versteht sich von selbst. Bei der Arbeit brauchte sie nur anzufassen, wenn es ihr beliebte, ich muß aber sagen, daß es ihr immer beliebt hat. Freilich wußte sie: Wohin ich schau, gehört einmal alles mir, und dem, was ihr gehörte, sollte nichts anderes gleichkommen können.«

»Hochmut«, murmelte der Pfarrer.

»Und was für einer! Ihr Vater – die Mutter ist früh gestorben –, dem war das recht. So will ich sie, sie kann gar nicht genug auf sich halten.«

»Auf sich halten ist doch etwas anderes.«

»Gewiß, Hochwürden, gewiß; ich sag auch nur, wie er zu sagen pflegte. Als der Mašlan angefangen hat, sich um sie zu bewerben, da hat der Alte gewettert: Der soll mir kommen, ich schmeiß ihn zur Tür hinaus! Und der Mašlan, das war auch so ein Verwöhnter und auch ein einziges Kind, der Sohn des Schloßgärtners, wissen, und auch bei ihm hat in der frühen Jugend die heilsame Massage gefehlt.« Der Doktor streckte den Arm aus und machte langsam und bedächtig die Gebärde des Fuchtelgebens: »Diese Massage da, richtig angewendet: ein Prachtmittel, die Gesundheit eines ganzen Lebens, das ganze Glück der Zukunft bekommt dadurch ein tüchtiges Fundament. Wenn die Eltern das nur glauben wollten – aber die verstehen gewöhnlich vom Erziehen soviel wie die Kuh vom Seiltanzen. Übrigens hat auch der Mašlan sein Gutes gehabt; in seinem Dienst – er war Büchsenspanner beim alten Grafen – soll er unvergleichlich gewesen sein, und die Equipage hat er aufgeputzt…«

»Was hat der Büchsenspanner mit der Equipage zu tun?« unterbrach ihn der Pfarrer.

»Oben zu sitzen, Hochwürden, auf dem Bock neben dem Kutscher. Ich hab ihn einmal in Wien gesehen bei einer feierlichen Auffahrt der Toisonisten, in seiner reichen, grünen Uniform, mit dem Bandelier, dem Hirschfänger, den goldenen Epauletten, dem goldbordierten Dreispitz, auf dem der schneeweiße Federbusch bei jeder Bewegung des Wagens ein wenig geflattert und geatmet hat, wie eine Lunge. Darunter sein schönes, braunes Gesicht… und die Haltung von dem Menschen, die prächtige Gestalt… Die Weiber haben alle zu ihm hinaufgeguckt, und er – die Arme gekreuzt und getan, als ob er dächte: Guckt ihr, ich scher mich den Teufel um euer Gucken!

In Wirklichkeit hat er sich aber nur viel zu sehr um die Weiber geschoren, um nichts so sehr wie um sie. Und war ihnen gegenüber ganz gewissenlos und hat sich damit eine miserable Berühmtheit gemacht. Werden ja wissen, daß Unmoralität bei uns nicht gang und gäbe ist, wie in den Gebirgsländern; man kennt’s den Leuten an den Gesichtern an; sieht einmal einer vertiert aus, ist der Branntwein schuld, nicht die Unzucht. Die Leute heiraten früh, bekommen eine Menge Kinder und bleiben einander treu. Matej Mašlan war eine Ausnahme mit seiner Nichtsnutzigkeit und ist auch immer bei uns als ein Halbfremder betrachtet worden. Mit Recht. Die Mutter war aus Welschtirol, von der hat er das heiße Blut und vom slawischen Vater den Stützkopf.«

»So? Also wird seine Frau den ihren von Vater und Mutter haben?«

»Jawohl, Hochwürden.«

»Stützköpfe bringt man zurecht, Herr Doktor.«

Vanka strich mit der Hand über den heute sehr unvollkommen rasierten unteren Teil seines Gesichtes, um das Lächeln zu verbergen, das ihm diese Bemerkung entlockte: »Ja, Hochwürden, so hat damals der Vater der Evi gesprochen. Nachdem er zwanzig Jahre lang ihren Willen getan hat, versuchte der Mann auf einmal, seinen eigenen durchzusetzen. Das hat sie empört, und sie hat…«

»Ich kann mir denken, was sie hat«, fiel ihm der Pfarrer mit Entrüstung ins Wort. »Sie hat den Vater dahin gebracht, ihren Geliebten noch bitten zu müssen: Nimm sie!«

»O nein, nein! entschuldigen Hochwürden, da irren. Die Evi – da hat’s nur einer probieren sollen, die ist wie Hermelin gewesen, o die! Hat sich eine ganz andre Art ausgedacht, den Vater für seine Weigerung zu strafen. Eine viel ärgere. Sterben wollte sie, und der Mašlan mit ihr. Da sie nicht miteinander leben durften…«

Abermals unterbrach ihn der Pfarrer: »Wollten sie miteinander sterben. Nur so ohne weiteres. Was liegt an der Todsünde, an der ewigen Verdammnis!«

Der Doktor schüttelte mit leiser Mißbilligung den Kopf: »Alles, Hochwürden, alles liegt daran. Aber so junges Blut ist wie Brausepulver… Der Allmächtige muß Veranlassung zur Gnade gefunden haben; sie hat sichtbarlich über den beiden gewaltet. Sie hatten alles klug eingerichtet und geheimgehalten. Ein Wunder muß man es nennen, daß ihnen das Verbrechen erspart blieb. Ein Wunder hat den Herrn Grafen an die Stelle im Wald geführt, die sie sich zum Schauplatz ihres aberwitzigen Entschlusses ausgesucht hatten. Er ist gerade noch zurechtgekommen, um dem Mašlan die Pistole aus der Hand zu schlagen, mit der er zuerst die Evi und dann sich erschießen wollte. Er hatte schon den Finger am Drücker, der Schuß ist losgegangen, und die Kugel hat der Evi die Stirnhaut aufgerissen. Der rote Streifen war noch deutlich unter dem Brautkranz zu sehen, wie sie am Altar gestanden ist. Dem Herrn Grafen ist es nämlich nachher gelungen, die Heirat seiner Geretteten, wie er die jungen Leute nannte, beim Vater durchzusetzen. Das hat sich 1867 begeben, ein Jahr, nachdem die beiden Söhne des Grafen im Feld geblieben waren; der eine am 24. Juni in Italien, der andere am 3. Juli in Böhmen. Ihre Mutter ist ihnen bald nachgestorben. Im Schloß herrschte eine unbeschreibliche Traurigkeit. Den Herrn Grafen hat nach dem Tod seiner Kinder und seiner Frau rein nichts mehr gefreut, nicht einmal die Jagd. So war der Büchsenspanner immerwährend auf Ferien. Hat sich zu Haus gehalten bei seiner Evi und, besonders nachdem ihr Vater das Zeitliche gesegnet hatte und sie unumschränkte Herrin des Hofes geworden war, sich fleißig in der Wirtschaft umgetan. Hat auf dem besten Weg geschienen, ein tüchtiger Landwirt zu werden.

Ein Kindlein ist auch gekommen, freilich nur ein Mädchen. Und er hatte die ganze Zeit über renommiert: Mein Bub soll… Mein Bub muß.. ›Mašlan‹, sagte ich einmal, ›wenn’s aber ein Mädel wird?‹-›Dann ist’s nicht das meine‹, schreit er, ›dann verleugn’ ich’s.‹

Nur ein Spaß, ein dummer. Seine Frau ist aber doch bös geworden und hat ihm zugerufen: ›Versündig dich nicht.‹ – Das sind kleine Wolken gewesen, solche, die einen schönen blauen Himmel nur noch schöner machen. Bei der Geburt des Kindes war die Frau einen halben Tag lang zwischen Leben und Tod und Matej vor Verzweiflung völlig außer sich. Dann wieder, als das Kind endlich erschien, außer sich – vor Glück. Fragte nicht einmal, ob Bub oder Mädel. Daß er’s nur hatte, daß es da war, bildhübsch, frisch und gesund. Und trieb’s mit der Kleinen mehr als die Mutter. Leider ist das Kind, kaum ein Jahr alt, gestorben. Schlimm für die Leute, ein erster Nagel zum Sarg ihres Glückes. Wer weiß, ob nicht alles anders gekommen wäre, wenn das herzige Dirnlein gelebt hätte.

Im Spätherbst 1869 ist etwas Unerwartetes geschehen. Der Herr Graf hat den Bitten der Verwandten nachgegeben und sich entschlossen, den Winter einmal wieder in Wien zuzubringen. Daß der Büchsenspanner ihn begleitet, haben Herr und Diener selbstverständlich gefunden. Beileibe aber nicht die Frau des Büchsenspanners. Sie hat nicht anders gedacht, als daß der alte Herr sich von Raudnowitz nie wieder fortrühren werde. Geschieht es aber, dann muß er ihren Mann beurlauben. Ihr Mann bleibt bei ihr. Mašlan wieder sagt: ›Umgekehrt ist auch gefahren: meine Frau bleibt bei mir. Ich bin kein freier Mensch, ich steh im Dienst des Grafen und kann meinen Herrn nicht verlassen.‹

Hochwürden, ich bin just dazugekommen, wie der Streit losgebrochen ist. Das Vorspiel zu dem, was sich später ereignen sollte. Es war mir arg fatal. Helfen konnt ich nicht, nur zusehen, wie die zwei immer mehr in Zorn gerieten, er in heftigen, sie in stillen. ›Seinen Herrn kann er nicht verlassen‹, sprach Evi mit einer furchtbaren Bitterkeit an ihm vorüber zu mir. ›Aber seine Frau, die wohl. Was liegt ihm an der? Was liegt ihm daran, daß sie wieder ein Kind erwartet, daß sie wieder einer schweren Stunde entgegengeht?‹

Mir blieb nichts übrig, als mich einzumischen, und ich gab eigentlich ihr recht und meinte, er hätte dazubleiben. Es schien mir auch geraten, einen kleinen Scherz einzuflechten. Ein Scherz beschwichtigt manchmal erregte Gemüter, wirkt wie ein kühles Lüftchen an heißen Tagen. So droht ich ihm: ›Sie sehnen sich halt danach, wieder zu paradieren auf dem Bocke bei den Auffahrten.‹ Er wurde rot und brach aus: ›Komm mit, Evi! Du bist in der Stadt besser dran als hier; ich kann meinen Herrn nicht verlassen, aber ich kann auch nicht ohne dich sein.‹ Mit ausgebreiteten Armen ist er auf sie zugegangen und sie ihm ausgewichen, förmlich scheu, wie einem Irrsinnigen. Hat er denn gänzlich den Kopf verloren? Sie mit ihm gehen, fort von ihrer Wirtschaft, wo man sie nicht einen Tag entbehren kann; betrunken oder verrückt muß sein, der ihr so etwas zumutet. Aber sie weiß sich zu helfen, sie geht zum Grafen. Er natürlich der Frau auf dem Fuße nach, und so stehen sie vor dem alten Herrn. In früherer Zeit hätte der gleich ein Machtwort erlassen: Das geschieht! Jetzt sucht er nur zu beschwichtigen und es soviel wie möglich den andern und – sich selbst recht zu tun.

›Kinder, Kinder, das hättet ihr früher miteinander ausmachen müssen‹, so beiläufig soll er gesprochen haben. ›Als ich dem Mašlan erlaubt habe zu heiraten, hat es sich mir von selbst verstanden, daß er bei seiner Frau bleibt. Wenn er aber durchaus mit will nach Wien… Meine liebe Evi, ich bin alt, ich gewöhne mich nicht leicht an ein neues Gesicht, und um meinetwillen werden Sie sich von Ihrem Mann nicht mehr oft zu trennen brauchen. Sehr bald tret ich eine Reise an, auf der mich niemand begleiten wird – dahin.‹ Er deutete nach der Richtung, in der die Gruft liegt.. ›Also tut, was ihr wollt.‹

An dem Tag muß noch ein heftiger Auftritt zwischen den Eheleuten stattgefunden haben, denn am Abend, da ich Mašlan im Gasthaus traf, das er seit seiner Verheiratung nur in Gesellschaft seiner Frau betreten hatte, glühte er noch wie ein angeblasener Hochofen. Ausgesprochen hat er sich mir gegenüber nicht, obwohl wir allein waren im Honoratiorenzimmer, nur im allgemeinen gewettert über den Eigensinn der Weiber und über Bauernstolz.

Sie hingegen ist auch damals immer die Ruhe, die Würde selbst geblieben, und mit ihm war sie freundlich; freilich nur, sozusagen – beiläufig, so gewiß wie die Wintersonne um vier Uhr nachmittags, und zu den Leuten hat sie gesprochen: ›Mein Mann geht ungern fort; es bleibt ihm aber nichts anderes übrig. Was soll er tun? Der arme, alte Herr entbehrt ihn gar zu schwer, er möcht sich völlig verlassen vorkommen ohne den; Matej.‹

Knapp vor der Abfahrt ist der noch zu mir gelaufen und hat mich gebeten, ihn zu avisieren, sobald es Ernst werden sollte bei seiner Frau. Lieber natürlich wäre es ihm, erst zur Taufe gerufen zu werden. Wenn seine Anwesenheit seiner Evi aber ein Trost ist – nu denn! soll ich halt schreiben oder telegraphieren.

Nicht drei Wochen sind vergangen, und schon war ein Brief von ihm da. Sie hat mir ein paar Stellen daraus vorgelesen. Lauter Liebe und Sehnsucht – eine fressende Sehnsucht. Ungeschickt ausgedrückt, sogar ungern, ist einem vorgekommen, wie wenn sich einer schämt, nicht eingestehen möchte, was ihm in der Seele brennt, und sich doch verrät, widerwillig verrät!

›Wenn ich ihn besuchen ginge für einige Tage, was wär’s?‹ fragte sie.

›Ein Unsinn‹, mußt ich ihr antworten, ich konnte sie nicht reisen lassen. Es ist ihr ja durchaus nicht gut gegangen. Der hinuntergeschluckte Kummer und Zorn – sowas rächt sich. Was sie im stillen durchgemacht haben mag, hat wohl nicht einmal ihr Beichtvater erfahren. Ihr Zustand dazu… Ich machte ihr einen Vorschlag: ›Ich weiß was, Mašlan soll sich für eine kurze Zeit Urlaub ausbitten beim Herrn Grafen.‹ Aber damit bin ich abgeblitzt. Das ging nicht, daran war nicht zu denken. Sollte sie sich Lügen strafen? Hatte sie doch selbst den Leuten versichert, der Herr Graf könne nicht sein ohne den Matej, nicht einen Tag! Das also nicht. Und wie sie ihn kennt, täte Matej es auch nicht, aber – und dabei hat sie mich seltsam angesehen: ›Wer weiß, ob es nicht ein größeres Unglück ist, daß ich jetzt nicht zu ihm darf, als wenn ich ums Kind käme.‹

Bald darauf ist, trotz aller Vorsicht, was ich fürchtete, doch eingetreten. Ich habe dem Mašlan schreiben müssen, daß seine Frau eine Fehlgeburt getan hat (diesmal wär’s ein Bub gewesen), konnte ihm aber zugleich versichern, daß er keine Sorge um sie zu haben brauche. Sie hat sich rasch und vollständig erholt, war wieder so tätig wie je in ihrer Wirtschaft und ist beim Herannahen des Frühlings im schönsten Flor gestanden; ein bißchen blaß noch – eine gesunde Maiglockenblässe, und auch sonst ganz Maiglocke, so frisch und hold und ernst. Ich mußt oft denken, ob das ein Unglück wäre, wenn ihrem Mann etwas zustieße. Es wäre kein Unglück, nur ein Schmerz. Sie würde ihn betrauern, ihn im besten Andenken behalten und sich vielleicht mit der Zeit entschließen, einen andern zu nehmen, der besser für sie gepaßt hätte.«

Der Doktor seufzte, und über das energische Gesicht des Geistlichen blitzte ein Lächeln. Er sah zu dem kleinen Alten, der in sich zusammengesunken neben ihm kauerte und eben von neuem das bunte Taschentuch zog und bedächtig entfaltete, mitleidig erstaunt nieder und sagte nur: »So, so?«

»Statt Ende April, wie bestimmt war«, fuhr Vanka fort, »ist der Herr Graf schon anfangs März zurückgekommen. Die ganze Beamtenschafe und Dienerschaft war im Hof versammelt, um ihn zu erwarten; auch Frau Evi war da. Als der Wagen vor dem Schloßtor hielt, stürzten ihm die Lakaien entgegen, um den Schlag zu öffnen, und Mašlan sprang mit einem Satz vom Kutschbock herunter und eilte auf Evi zu. Sprechen konnte er nicht, aber die Augen funkelten ihm – ach Gott, was für ein schöner Mensch war er! Und sie, stehengeblieben und ihn erwartet und ihn angesehen, so freudig, so selig, so stolz und so bescheiden, Hochwürden – wie eine Braut. Jedem ist’s aufgefallen – wie eine Braut.«

Vanka rieb sich die Nase mit dem Zeigefinger, den ein breiter goldener Siegelring schmückte. »Die Freude hat nicht lang gedauert«, sprach er nachdenklich. »Viel länger die Mißstimmung, die nachher eingetreten ist, von der keines der beiden etwas merken lassen wollte und die sich doch verraten hat, wie sich das Fieber durch die Hitze verrät. – Das kam so: Eine von der Dienerschaft konnt es nicht unterlassen, die Evi zu necken, zu fragen, ob sie den Mašlan auch tüchtig ins Gebet genommen, sich erkundigt habe, ob er ihr treu gewesen sei den ganzen Winter? Evi lachte dazu, war ihres Mannes sicher! Aber die andre gab so lang keine Ruhe mit ihren Sticheleien, bis die Frau endlich stutzig wurde. Jetzt war’s aus. Sie wollte wissen, wie’s steht, sie hat in ihn gedrungen, ihr die Wahrheit zu sagen. Und er, ein Gemisch von Ehrlichkeit und Falschheit, wie er von jeher war, hat gestanden. Was für eine Demütigung das gewesen ist für das stolze Weib, können Hochwürden sich vorstellen. Da ist also dann die lange Zeit der Mißstimmung eingetreten. Aber auch die hat ein Ende genommen, und dann war’s, als ob die gestaute Liebe mit verzehnfachter Gewalt wieder hervorbräche. Zu viel, zu heftig, mir ist die Sache gleich nicht geheuer vorgekommen. Die Frau hat, um nur ganz ihm zu Gefallen zu leben, ihren eigenen Geschmack verleugnet, ihre zweite Natur – ihre Solidität. Sie hat sogar die Wirtschaft vernachlässigt. Und Mašlan die Freiheit, die der Graf ihm spendierte, ausgenützt, zeigen wollen, wie gut es ihm geht und wie glücklich er ist. Die größte Gastfreundlichkeit ausgeübt, eingeladen, traktiert und auch mit seiner jungen Frau alle Unterhaltungen mitgemacht, die es in der Gegend gegeben hat. Sie wird wohl gehofft haben, daß sie ihn auf die Art herumkriegt und daß er sie nicht mehr verlassen wird. Weit gefehlt! Im Spätherbst ist es genauso gegangen wie im vorigen Jahr. Er wieder: ›Komm mit! Wenn ich dich hab, denk ich an keine andre.‹ Und sie: ›Ich kann nicht; es ist ohnehin die höchste Zeit für uns beide, zum Rechten zu sehen.‹

Verzeihen Hochwürden, daß ich so ausführlich bin«, unterbrach sich Doktor Vanka, als der Pfarrer unwillkürlich ein Zeichen der Ungeduld gegeben hatte. »Mit der Geschichte dieses einen Jahres erzähl ich zugleich die der folgenden Jahre. Es war immer dasselbe, nur – verstehen Hochwürden, die Dimension ist gewachsen. Nach jeder Trennung hat Mašlan; seiner Frau Schwereres abzubitten gehabt, und so wurde ihr denn natürlich auch das Verzeihen immer schwerer.« Er hielt inne, seine Brust hob sich zu einem langen, tiefen Atemzuge. »Nun, ihre Liebe hat auch das Schwerste aufgewogen; es war eine magnifique Liebe; sie ist gewachsen mit dem Kummer, den sie um den Taugenichts erdulden mußte, und glorreich aus jeder Prüfung hervorgegangen.

Arme Evi!

Zuletzt machte der liebe Mašlan gar keinen Anspruch mehr auf ihre Begleitung. Das Leben, das er sich eingerichtet hatte, paßte ihm ja wie auf den Leib geschnitten. Im Winter lustig in Wien, in der schönen Uniform glänzen und prunken, im Sommer wieder lustig im Haus der Frau, den Herrn spielen und Gnaden austeilen. Beim letzten Abschied hatte er ihr ganz heiter zurufen: ›Auf Wiedersehen im Frühjahr!‹

Das war im Schloßhof bei der Abfahrt des alten Herrn. Alles voll Leut und alle sich um den Wagen gedrängt. Ich habe ich hinter Frau Evi gestellt, weil ich dachte, sie könnt zusammenbrechen. Wirklich ganz danach hat sie ausgeschaut. Wie der Mann ihr denn sagt: ›Auf Wiedersehen im Frühjahr!‹ gibt eine herbe Antwort: ›Oder auch nicht; es kommt auf dich an.‹ Er ist förmlich zurückgefahren und hat mit großer Zärtlichkeit, ja, ja, ich muß es sagen, und völlig schmerzlichem Vorwurf ausgerufen: ›Evi! …‹ Da erblickt er aber mich und merkt, daß ich ihre Worte gehört habe, wirft sogleich den Kopf in den Nacken, lacht auf, küßt sie und springt auf den Bock.

Ein paar Monate sind vergangen; mit Schreiben hat sich Mašlan in der Zeit nicht angestrengt, wie ich glaube. Alle Sonntage, wenn ich seine Frau am Ausgang der Kirche traf, nach der eiligen Messe, sprach ich sie an: ›Gute Nachrichten aus Wien, Frau Mašlan? Was schreibt Ihr Mann?‹ – und immer dieselbe Antwort: ›Jetzt eine Weile nichts. Morgen erwarte ich einen rief von ihm.‹ Wie oft so ein erwarteter Brief gekommen ist, reiß ich nicht; daß auf einmal einer da war, den sie nicht erwartet hatte, haben nachträglich nur zuviel Leute erfahren. Es war ein Brief von einem Frauenzimmer, Hochwürden, von einem jungen Mädchen, das der Mašlan niederträchtig betrogen hatte. Es scheint, daß die Person bis dahin brav und unschuldig gewesen ist. Aber dem Mašlan widerstand nicht leicht eine. In diesem Falle wendete er überdies eine falsche Vorspiegelung an, ab sich für ledig aus und versprach seiner Geliebten das Heiraten. Wie sie hinter den Betrug gekommen ist, war schon alles hin, Ehr’ und Reputation und ihre Stelle in einem guten Haus. Eingestellt aber haben sich die Folgen von dem Verhältnis. Was hat die Unglückliche anfangen sollen? Mašlan war der letzte, bei dem sie Rat und Hilfe gefunden hätte. In ihrer Verzweiflung, was tut sie? Sie schreibt an die Frau – eben den rief, von dem ich Hochwürden sagte. Am Tag drauf, das hab vom Postboten erkundschaftet…«

»Erkundschaftet? So, so«, fiel hier der geistliche Herr ein mit einer Nuance von Wegwerfung, und der Doktor seufzte einmal wieder tief auf.

»Ja, Hochwürden, die Sache hat mich interessiert. Und auch andre als ich dürften gewußt haben, daß einen Tag nach der Ankunft des Briefes aus Wien mit der fremden Schrift ein dicker, mit viel Geld beschwerter von Frau Evi dem Boten übergeben worden ist. An diesem Tag war sie nirgends zu sehen, nicht auf einem ihrer Felder, nicht im Hof, nirgends. Der nächstfolgende dann war ein Sonntag, und sie ist in die Kirche gekommen. Mir wäre nichts an ihr aufgefallen; nur größer hat sie mir geschienen. Sie muß sich ganz besonders gerade gehalten haben. Nach der heiligen Messe sprach ich sie an, stelle meine gewöhnliche Frage, erhalte aber nicht die gewöhnliche Antwort, vielmehr die: ›Ich erwarte keinen Brief von ihm‹, wendet sich und läßt mich ganz verblüfft stehen.

Einen Frühling haben wir in dem Jahr in unserer Gegend gehabt, ich denk keinen schönern. Auch war der März noch nicht zu Ende, und schon ist die Rückkehr des Herrn Grafen angekündigt worden. Er wußte, wie es mit ihm stand, und wollte in seinem Raudnowitz sterben. Ich habe geholfen, ihn aus dem Wagen zu heben, und mir gleich gedacht: Zur nächsten Ausfahrt heben wir ihn im Sarg auf den Leichenwagen.

Verzeihen, Hochwürden, wenn ich eine Reflexion mitteile, die ich um die Zeit herum und auch später mehrmals gemacht habe. Die Menschen sterben – der eine zu früh, der andre zu spät und nur die wenigsten im richtigen Moment, so denn auch unser Herr Graf. Wäre der Tod, nach dem er sich aufs innigste sehnte, statt im Frühjahr 1874 im Herbst 1873 bei ihm eingetreten, viel Unglück wäre verhütet worden. Mašlan hätte keinen Grund oder keine Ausrede mehr gehabt, nach Wien zu fahren, wäre bei seiner Frau geblieben, und, das muß man ihm lassen, solang er bei ihr gewesen ist, hat er keine andre angeschaut. Die Ehe hätte sich mit der Zeit ganz glücklich gestalten können, und die arme Person in Wien wäre vielleicht heute noch auf ihrem Platz oder hätte einen braven Mann gefunden…«

»Hätte! hätte! Die Menschen sterben, wann es dem Herrn gefällt, sie abzurufen«, versetzte der Pfarrer. »Sie möchten Vorsehung spielen, Herr Doktor, scheint mir.«

»Gott soll mich behüten, Hochwürden – eine Reflexion habe ich mir erlaubt mitzuteilen, ohne jeden Neben- und Hintergedanken. Nun, es kam, wie es mußte: Zum erstenmal war Evi nicht unter denen, die das Hereinfahren der gräflichen Equipage vor dem Schloß erwarteten. Mašlan guckte, guckte, wandte sich an mich: ›Ist ihr was, Herr Doktor?‹ -›Meines Wissens nicht.‹ Er zuckte die Achseln und lächelte hochmütig und kümmerte sich um nichts mehr als um seinen alten Herrn. Wieder – alles, was recht ist: Ein liebreicher Sohn kann seinen Vater nicht sorgfältiger betreuen, als er den Greis betreut hat. Der litt ihn aber nicht lang da. ›Geh zu deiner Frau‹, befahl er und entließ uns beide; er wollte allein sein. Mašlan und ich hatten denselben Weg. Der meine führte am Hause seiner Frau vorbei. Im Anfang des Dorfes begegnete uns der Herr Kanonikus, der von dem, was sich begeben hatte, mehr wußte als wir, und zwar aus der ersten Quelle. ›Ihr! Ihr!‹ sagte er zu dem Ankömmling, ›Ihr habt wieder schöne Sachen getrieben!‹ Mašlan lächelte auch ihn an wie früher mich; nicht so hochmütig vielleicht. Ich weiß nicht, mir hat manchmal geschienen, als ob er so wenig Gewissen hätte und die Reue so wenig kennen würde wie ein Tier. Das hat ihm denn auch eine Art Unschuld gegeben, eine Tierunschuld. Ihm ahnte nichts Böses, er dem geistlichen Herrn die Hand geküßt und weitergeeilt, immer schneller, immer ungeduldiger, und als wir ankommen, was finden wir? – Die Tür versperrt.

Er klopft: ›Evi, Evi, mach auf, ich bin’s.‹ Keine Antwort. ›Ich bin’s, Matej! ich, dein Mann!‹ Ein paar Kinder sind ihm nachgelaufen, andre kommen dazu, er ist ja die populärste Persönlichkeit bei der Dorfjugend, wird immer sehnsüchtig erwartet und jubelnd begrüßt. ›Ist meine Frau nicht da?‹ fragt er einen der Buben. ›Habt ihr meine Frau nicht gesehen?‹ Doch, der eine hat sie gesehen, den Augenblick ist sie aus dem Garten herübergekommen und ins Haus gegangen. Nun fängt die Sache an, ihm befremdlich zu werden, er tritt an eines der Fenster, blickt hinein, und richtig, er sieht sie – mitten im Zimmer stehen.

Nun hat er ans Fenster geklopft und gerufen: ›Evi, Evi! Bist taub? bist blind? … Oder am End gar bös? Ich glaub’s nicht, Evi, ich frag nur… Evi, Evi, ich mach dich wieder gut, hör mich nur an…‹ So sagt er und dergleichen noch vieles und hat dann angefangen, zornig zu werden, sich zur Türe zurückbegeben und an ihr gerüttelt. Es waren nach und nach eine Menge Leute zusammengekommen, sie haben ihn angesprochen, wollten wissen, was es gibt. Er niemanden angeschaut, niemandem geantwortet, sich an die Tür gepreßt, als ob er mit ihr verwachsen wollte, und gerufen, geschrien, zuletzt geweint: ›Evi, Evi, so bös bist du, daß du mir nicht einmal erlauben willst, dich zu bitten: Verzeih mir, Evi, meine Evi!‹

Vor dem halben Dorfe hat er sich so gedemütigt, der eitle Mensch, sich in der Raserei seiner Verzweiflung auf die Knie geworfen und mit der Stirn an die Tür geschlagen.

Allerlei Stimmen haben sich erhoben, der kleine Schuhmachermeister zu singen angefangen:

 

Bauer, steh auf,

Futter dein’ Schimmel,

Prügel dein Weib,

So kommst in’ Himmel.

 

Ein Gemeinderat stopft seine Pfeife und sagt: ›Das könnt mir einfalln, und wenn ich in Wien fünfe ausgehalten hätt, vor meiner eigenen Tür zu betteln und zu flennen.‹ Der Schmied schaut herunter zu seinen Riesenfüßen und flucht: ›Der Teufel soll mich holen, wenn ich die Tür nicht eintreten tät und die durchwichsen, die dahinter steht.‹

All das Gerede war dem Mašlan wie Blätterrauschen. Aber plötzlich ist er aufgesprungen, hat sich neuerdings an die Tür gelehnt, den Mund an den Spalt gedrückt und gerufen, gar nicht sehr laut, aber durch Mark und Bein ist’s einem gegangen. ›Evi, hör zu, du hörst mich, ich weiß, daß du mich hörst. Wenn du nicht aufmachst, gleich – verstehst mich, gleich? –, komm ich über diese Schwelle nimmer, und wenn du auf den Knien liegen tätest, wie ich vorhin gelegen bin, und wenn du mich mit ausgebreiteten Armen bitten tätest: Komm! Das schwör ich, Evi, bei Gott dem Allmächtigen, und mög er mich in meiner letzten Stund verlassen, wenn ich den Schwur breche.‹

In dem Augenblick hat man den Riegel zurückschieben gehört, ganz langsam ist die Tür aufgegangen, daß Mašlan Zeit hatte, auszuweichen. Da wurde gelacht: ›Aha, aha, die Evi! Sie gibt nach, so muß man ihr kommen!‹

Mašlan stößt einen Freuden- und Triumphschrei aus – zu früh Die auf die Schwelle getreten ist, die Frau, denkt nicht dran, klein beizugeben. Statt ihr entgegenzustürzen, erschrickt er und taumelt vor ihr zurück. Sie hat ausgesehen wie eine eiche mit lebendigen Augen; und entsetzlich war, wie sie mit einer erloschenen, aber sehr festen Stimme gesprochen hat: ›Schwur gegen Schwur. So heilig wie du, im Angesicht Gottes wie du, schwör ich, daß ich mein Haus lieber mit eigener Hand anzünden werde als zu dir sagen: Tritt ein.‹

Da waren viele Männer entrüstet: ›Hoho!‹ hat man durcheinanderrufen gehört, ›du hast nicht zu schwören, du hast zu gehorchen, und der Mann hat zu befehlen, so steht’s im Gesetz.‹ Mašlan achtete nicht auf die Einmischung, und, ich bitte Hochwürden, das Gesetz war doch wohl das letzte, auf das sich der berufen hat, wenn er Weibern gegenüber seinen Willen durchsetzen wollte. So höhnte er auch jetzt: ›O du! Davor keine Angst! Von mir aus bist du assekuriert. Bleib du allein in deiner Bauernbaracken. Und wenn die Reu dich packt, schluck sie! Untersteh dich nie, zu mir aufs Schloß zu kommen. Bei mir gibt’s kein Verzeihen; ich tät dich jagen wie einen bissigen Hund!‹

Wer sie kennt, weiß, daß jedes Wort ihr eine giftige Wunde ins Herz gerissen hat. Sie verriet sich aber nicht, sie kreuzte die Arme, sah ihn an und sprach: ›Matej, Matej, vielleicht kehrt die Reu früher bei dir ein als bei mir, dann wirst du mich schon rufen.‹

Er, rot geworden wie glühendes Eisen und getobt und gewettert: ›Ich dich rufen? lieber in die Hölle fahren! … Ich ruf dich nicht… und wenn der Satan die Hand nach mir ausstrecken tät und niemand als du mich retten könnt – ich ruf dich nicht! …‹«

»Was für Reden! was für Reden!« murmelte der Priester unwillig.

»Der bare Aberwitz, Hochwürden. Auch Evi scheint das gefunden zu haben und ist immer ruhiger geworden, und als er wie ein Toller noch einmal schrie: ›Gott ist mein Zeuge, ich ruf dich nicht!‹ hat sie langsam und feierlich den Arm erhoben, die Schwurfinger ausgestreckt und so laut gesprochen, daß der letzte, der da gestanden ist, es hören mußte: ›So wahr Gott lebt, ich komm nicht ungerufen.‹

Kalt ist es einem über den Rücken gelaufen, und die Worte haben mehr Eindruck gemacht als alles Toben Mašlans. Er wollte noch etwas sagen, konnt nicht, die Wut würgte ihn, hatte ihn am Hals gepackt wie eine Beißzange. Von dem Tag an haben die Eheleute nicht mehr miteinander geredet.«

»Nicht mehr? und müssen einander doch sehen, begegnen.«

Der Doktor setzte eine neuerliche Entfaltung des karierten Taschentuches ins Werk, bediente sich seiner umständlich und lärmend und erwiderte: »Sehen und begegnen einander, ganz recht, Hochwürden. Zum Beispiel waren sie schon bald nach dem großen Auftritt beide zugleich in der Gruftkapelle bei der Beerdigung des Herrn Grafen. Mašlan derart in Schmerz aufgelöst, daß er sogar denen leid tat, die ihn am wenigsten mögen. Evi eiskalt und eher trotzig dreingeschaut. Sie wird wohl gedacht haben: Um mich würdest du nicht weinen wie um deinen toten Herrn. Zehn Jahre sind seitdem vergangen. In seinem Testamente bestimmte der Herr Graf, daß Mašlan die herrschaftliche Mühle in Pacht haben soll, unter Bedingungen, bei denen er leicht ein wohlhabender Mann hätte werden können. Er hat sich aber seiner Sach im Anfang wenig angenommen. Erst in letzter Zeit ist er ordentlicher geworden. Wer weiß warum – vielleicht die Jahre, vielleicht, weil seine Gesundheit ausspannt…«

»Warum sagen Sie nicht einfach: durch die Gnade Gottes?« fragte der geistliche Herr.

Der Doktor reagierte nicht darauf. »Ich betrachte mir die zwei Leute, wenn sie am Sonntag in die Kirche kommen«, fuhr er fort. »Er in der ersten Bank rechts, sie in der ersten Bank links. Früher haben sie vermieden, einander zu treffen, beim Eingang oder beim Ausgang; jetzt nicht einmal mehr das…«

»Und wohnen dem heiligen Liebes- und Versöhnungsopfer unversöhnten Herzens bei?«

»Äußerlich unversöhnt wohl, aber wer weiß, was in ihren Herzen vorgeht!«

»Ich will suchen, es zu erforschen«, versetzte der Priester und erhob sich. »Wenn die Frau wirklich noch einen Funken Liebe für ihren Mann, übrig hat, wird sie auch Erbarmen mit ihm haben. Ich werde ihr Erbarmen mit dem Sterbenden anrufen, und hoffentlich nicht umsonst… Sie zweifeln?« unterbrach er sich mit einem mißbilligenden Blick auf Vanka, der die Achseln zuckte.

»Leider kann ich nicht zweifeln, Hochwürden, weil ich weiß, daß hier nichts mehr zu hoffen ist.«

»Davon will ich mich selbst überzeugen.«

Er verabschiedete sich, und der Doktor sah dem stattlichen Herrn nach, der, rasch und energisch ausschreitend, den Weg ins Dorf einschlug.

 

Das Haus Frau Mašlans lag auf dem ziemlich großen und ziemlich gut gehaltenen Platze des Dorfes, dem Teiche gegenüber, zu dem hin das Terrain sich senkte. Als Seitenstück zum siebenhügeligen Rom durfte Raudnowitz sich die siebenbucklige nennen, denn nicht weniger Erhöhungen bildete der Boden, auf dem die Ortschaft erbaut war. Den höchsten von allen krönte das stattlichste Gehöft. Sein mit Schieferplatten gedecktes Dach überragte alle, sogar die ansehnlichsten Bauernhäuser, die den Platz nach rechts und links im unregelmäßigen Halbkreis umschlossen.

Der Pfarrer trat in das Vorgärtchen. Es war von einem grün angestrichenen Lattenzaun umgeben, und am Eingang standen zwei riesige Sonnenblumenstauden wie ein paar Wächter. Ein breiter, gut besandeter Weg führte zwischen Gemüsebeeten geradehin zu den gemauerten Stufen der Haustür, teilte sich dort und lief dem Obstgarten hinter dem Hause zu. Junge Birn und Aprikosenbäume, an Traillagen gezogen, breiteten ihre mit Früchten behangenen Zweige zwischen den sechs Fenstern der Fronte aus. Große Fenster mit blinkenden Scheiben und vorspringenden Simsen, auf denen ein farbenheiterer Flor von Rosen, Geranien und Nelken duftete und prangte.

Eine kleine, alte Person, die, mit Unkrautjäten beschäftigt, auf dem Boden gekauert hatte, wendete beim Eintreten des Geistlichen den Kopf, schob das Tuch, das ihr über das halbe Gesicht gefallen war, zurück und kam auf den Besucher zu mit einem freundlich-demütigen: »Gelobt sei Jesus Christus!«

»In Ewigkeit, Amen«, erwiderte er, und sie legte die schmutzigen Hände auf den Rücken, streckte den Hals und küßte, ohne sich bücken zu müssen, die herabhängende Hand des Priesters.

»Ich möchte mit der Frau sprechen«, sagte er. »Ist sie da?«

»Zu dienen, hochwürdiger Herr, die Bäuerin ist da; wo sollt Sie sein? Im Garten ist sie, in den Erbsen. Ich werd sie gleich rufen.«

Der Pfarrer wehrte ab: »Nein, führen Sie mich zu ihr.«

»Wie befehlen – wie der hochwürdige Herr befehlen«, und die Kleine lief vor ihm her um das Haus, in den Garten, und rief aus allen ihren Kräften: »Bäuerin! Bäuerin! der hochwürdige Herr Pfarrer will Euch besuchen!«

Er folgte ihr und war bald von Bienen umschwärmt, von Tauben umflogen, von Hühnern umgackert; Schafe, die auf den Wiesenplätzen weideten, blökten ihn offenbar fragend an; schöne, weiße Ziegen hoben die Köpfe über die Einfassung ihres Pferches und betrachteten ihn mit ihren großen, friedlichen Augen. Drei ganz junge Hündlein trotteten ihm entgegen, schnüffelten, erhoben ein schrilles, törichtes Gebell, in dem sich Neugier und Verwunderung, aber nicht die geringste Böswilligkeit kundgab.

Der Pfarrer ging zwischen den Obstbäumen, über das Gras, einem kleinen Wald von Stangen zu, an denen schlanke Erbsenstauden ihre zierlichen, hellgrünen Ranken emportrieben. Auf dem schmalen Wege, der sie von einer ansehnlichen Baumschule trennte, kam die Hausfrau geschritten. Eine hohe, harmonische, ebensowenig zur Fülle wie zur Hagerkeit neigende Gestalt. Sie trug halbstädtische Kleidung. Eine schwarze, eng anliegende Jacke mit weißem Umschlagkragen, einen dunkeln, faltigen Rock und eine blaue Arbeitsschürze, die sie im Gehen abnahm und über den Arm hängte. Von der bäuerlichen Tracht hatte sie nichts beibehalten als die Schaftstiefel an den schlanken Füßen und das künstlich geknüpfte Kopftuch. Es war aus schwarzer Seide mit bunten Bändern und Fransen, schloß sich eng um den Hinterkopf, bildete einen schmalen Wulst um die dunkelblonden, dichten Scheitel und einen reichen Knoten im Nacken.

Dem Priester fiel die tiefe Ruhe auf, die über der Erscheinung dieses Weibes lag, die Festigkeit, mit der die klaren blauen Augen sich auf ihn hefteten, der sanfte Ernst, den die regelmäßigen, fast klassischen Züge atmeten. Eine im völligsten Gleichgewicht, in völliger Einigkeit mit sich selbst hinlebende Frau kam da heran, langsam, als ob sie ihm und sich Zeit lassen wollte zur Vorbereitung auf eine erste, wie sie voraussah, bedeutungsvolle Zusammenkunft.

»Euer Hochwürden erweisen mir eine große Ehre mit Ihrem Besuch«, sprach sie den Geistlichen an, der seinen Hut leicht vor ihr lüpfte. »Belieben Euer Hochwürden ins Haus zu treten?« »Wir wollen da bleiben«, erwiderte er, »im Freien, unter ihren Schützlingen. Ein hübscher Anblick, all dieses Getier; es scheint sich seines Lebens zu freuen und ist so zutraulich.«

»Jawohl, zutraulich sind sie schon; warum sollen sie’s nicht sein? Es tut ihnen ja niemand nichts.«

Sie geleitete ihn zu einem Birnbaum von seltener Größe und Schönheit, in dessen Schatten ein länglicher Tisch zwischen zwei Bänken in den Boden eingerammt war, lud den Gast ein, sich zu setzen, und nahm Platz ihm gegenüber, nachdem sie der Jagd, die in respektvoller Entfernung gefolgt war, einen kurzen Befehl gegeben hatte.

Eine kleine Pause entstand. Der Priester bemerkte wohl, laß die äußere Gelassenheit Frau Evis eine wachsende Erregung verbarg. Ihre schmale, gerade Nase, ihre Stirn hatten sich mit kalkiger Blässe bedeckt, den Mund umspielte ein kaum merkliches Beben, als sie gedämpften Tones und mit einer Stimme, die etwas eigentümlich Einschmeichelndes hatte, begann: »Hochwürden sind schon bei meinem Mann gewesen?«

Aha, dachte der Pfarrer, sie kommt dem Angriff zuvor! »Ich bin am Tag nach meiner Ankunft hier im Orte zu ihm gerufen worden«, sprach er, »und habe ihm die letzten Tröstungen der Kirche gespendet.«

»Ja, ich weiß, er ist krank.«

»Vielleicht sterbend; wissen Sie das auch? Der Doktor gibt wenig Hoffnung.«

Sie fuhr mit der Hand über ihr Gesicht und schloß einen Moment die Augen: »Es wird nicht so arg sein. Der Herr Doktor muß es nur ärger machen, als es ist; das ist so der Brauch, er muß es tun wegen der anderen Doktoren.«

»So – wieso? Das versteh ich nicht.«

»Nicht? Oh, ich bitte untertänig, Hochwürden haben mich zum besten; Sie wissen schon selbst, daß die Doktoren übertreiben müssen; das ist unter ihnen ausgemacht. Warum kann man sich an den Fingern abzählen. Unser Herr Doktor ist ja sehr brav, aber – Klappern gehört zum Handwerk, hat er mir ins Gesicht gesagt…«

»Im Scherz, nun ja, im Spaße…«

»Im Spaß, Hochwürden, da verrät sich der Mensch, geradesogut wie im Rausch und im Zorn.«

Der Pfarrer war erstaunt – ein seltsames Gemisch von Vorurteil und von Vernunft in der Frau. Aber, sagte er sich, die hält was aus, und war entschlossen, sie ohne Schonung zu behandeln. »Ich bin auch heute bei Ihrem Manne gewesen«, sprach er, »und habe ihn viel elender gefunden als vorgestern. Er selbst, das darf ich Ihnen nicht verhehlen – er fühlt sich sterben.«

Frau Evi machte genau dieselbe Bewegung wie früher: »Ach er! Er ist immer kindisch ängstlich gewesen, wenn ihm das geringste gefehlt hat. Alle Leute, die ihr Lebtag gesund waren, sind so. Beim kleinsten Übel meinen sie schon, es bringt sie ins Grab.«

Der Pfarrer richtete einen festen und strengen Blick auf sie: »Sie weichen aus. Wenn Sie dem Arzt nicht glauben und nicht dem Kranken, glauben Sie doch mir. Ich sage Ihnen: Ihr Mann ist übel dran, braucht Pflege, und Sie, seine Frau, gehören an sein Krankenbett.«

Sie erwiderte nichts, sie stand auf. Die kleine Magd war herangekommen, einen Korb am Arme, und die Bäuerin half ihr, seinen Inhalt auf dem Tisch ordnen: blanke Teller und Gläser, eine Flasche mit Wein, ein Laib Brot, ein schönes Stück Butter und herrlichen Lindenhonig in hellgelber Wabe. Die Magd entglitt wie ein fliehender Schatten, die Bäuerin nahm ihren früheren Platz wieder ein und sprach, das Aufgetragene gleichsam vorstellend: »Eine kleine Jause, Hochwürden. Was so aus der Wirtschaft kommt. Geruhen Sie, vorliebzunehmen, obwohl Sie’s zu Hause besser haben.«

Der Geistliche ließ das ohne innere Überzeugung vorgebrachte Kompliment unberücksichtigt; er betrachtete den tauklaren, goldgelben Wein, den seine Wirtin ihm ins Glas schenkte, und fragte lächelnd: »Kommt der auch aus Ihrer Wirtschaft?«

»Nein, Hochwürden, es ist Vöslauer. Mein Mann hat ihn gern getrunken, so halt ich ihn bis heut im Keller.«

Ein langgedehntes: »Deshalb?« kam von den Lippen des Pfarrers. »Und Sie selbst? Es ist kein Glas für Sie da, Sie tun mir nicht Bescheid?«

»Entschuldigen Hochwürden, ich mag den Wein von jeher nicht. Früher hab ich manchmal einen Schluck getan, meinem Mann zulieb, wenn er’s durchaus wollte. Seitdem es aus ist zwischen uns, nie mehr.«

»Aus?« rief der Geistliche, »das sollten Sie nicht sagen. Sie haben Ihrem Manne Liebe, Treue, Gehorsam gelobt bis in den Tod, Sie sind durch ein heiliges Sakrament mit ihm verbunden…«

»Gewesen, Hochwürden«, unterbrach sie ihn leise, aber mit großer Entschiedenheit.

Er bemeisterte seinen Unwillen und sah ihr zu, wie sie das Brot vom Tische nahm und rasch und mechanisch, bevor sie es zu schneiden begann, mit der Messerspitze das Zeichen des Kreuzes über die untere Fläche machte. »Sie befolgen da einen ehrwürdigen Brauch«, sprach der Pfarrer, und als sie einen fragenden Blick auf ihn richtete: »Ja so, Sie tun’s gedankenlos. Frau Mašlan! Frau Mašlan! ich fürchte, Sie führen Ihre religiösen Übungen vielleicht überhaupt gedankenlos aus.«

»Was meinen Sie damit, Hochwürden?«

Der Priester steigerte sich: »Ich meine, Sie beten, Sie besuchen die heilige Messe, Sie verrichten Ihre Andacht zur vorgeschriebenen Zeit, alles gedankenlos.«

Mit stolzem Erstaunen wies Frau Evi diese Anklage zurück: »Sie kennen mich nicht, Hochwürden.«

»Ich kenne Ihre Geschichte und habe offene Augen«, fiel er rasch ein. »Sie waren heute in der Frühmesse. Haben Sie andächtig gebetet, Bäuerin?«

Die Frage kam ihr seltsam vor. »Ich habe für meinen Mann gebetet«, erwiderte sie.

»So, so – und nicht für sich? nicht darum, daß der Herr Mitleid und Erbarmen in Ihrer Seele erwecke? Ihr Mann hat schwer an Ihnen gesündigt. Ich weiß. Ist aber Verzeihen nicht Christenpflicht, vor allem Pflicht des christlichen Weibes? Was soll Ihr Gebet, was sollen Ihre guten Werke, wenn Sie mitleidslos bleiben gegen einen Sterbenden? … Ein großer Heiliger lehrt, daß keine Andachtsübung und kein gutes Werk uns am Tage des Gerichts vom geringsten Nutzen sein wird, wenn wir die Erinnerung an erlittene Unbill nicht aus unserem Herzen getilgt haben.. ›Erst gehe hin und versöhne dich mit deinem Feinde‹… spricht unser göttlicher Heiland…« Er stockte, er fühlte, daß die Ungeduld ihn hingerissen und daß er nicht so gesprochen hatte und nicht in dem Zusammenhang, wie er sprechen wollte.

»Mein Mann ist nicht mein Feind, Hochwürden«, nahm sie mit ihrer unerschütterlichen, verwirrenden Gelassenheit das Wort, »und – versöhnen… ich trag ihm nichts nach, ich habe ihm alles verziehen.«

»Sie ihm? Und er Ihnen? Hat er Ihnen nichts zu verzeihen?«

Sie schüttelte langsam und sinnend das Haupt: »Daß ich nicht wüßte, Hochwürden.«

»Haben Sie sich keine Härte gegen ihn vorzuwerfen, keinen Mangel an Nachsicht mit seinen Schwächen, seiner Fehlbarkeit?«

»Nein, Hochwürden.«

»Sie fühlen sich ihm gegenüber schuldlos?«

»Ja, Hochwürden.«

Die lüge des Priesters verfinsterten sich. Welche Hoffart! dachte er, sprach es aber nicht aus. Er rief in eindringlicher Rede die Langmut der Gerechten für den armen Sünder an und schloß: »Soviel Barmherzigkeit wir geübt haben, soviel werden wir erfahren. Glauben Sie der Barmherzigkeit Gottes nicht zu bedürfen?«

»O Hochwürden, wie sollt ich? … so frevelhaft, das zu glauben, ist kein Mensch.«

»Gut also. Geben Sie also, was Sie empfangen wollen. Gehen Sie hin zu Ihrem Kranken, reichen Sie, die Beleidigte, zuerst die Hand zur Versöhnung. Tun Sie’s aus Liebe zu Gott, in seinem allerheiligsten Namen.«

Evi hatte die Augen gesenkt gehalten und erhob nun ihren sanften Blick zu dem geistlichen Herrn: »Hochwürden kennen meine Geschichte, sagen Sie, dann müssen Sie auch wissen, daß ich nur darauf warte, daß mein Mann mir sagen läßt: Komm. Will er lieber selbst kommen – mir ist es auch recht. Zu jeder Stund ist alles für ihn bereit. Alles ganz so, wie er’s gern hat.«

Der Pfarrer betrachtete sie aufmerksam Sie hatte mit dem vollen Akzent der Wahrhaftigkeit gesprochen, und doch erweckten ihre Worte ihm nicht die rechte Zuversicht: »Ich seh Ihren Mann heute noch; soll ich ihm das alles sagen?«

»Wenn Sie die Gnade haben wollen, Hochwürden.«

»Soll ich es ihm als von Ihnen kommend, als Ihre Botschaft sagen?«

Sie zögerte, sie hatte einen Kampf mit sich zu bestehen, sprach aber: »Wenn Hochwürden es wünschen, und weil er jetzt so krank sein soll – auch das.«

»So! – Ihr tut recht, Bäuerin«, rief er freudig, zum ersten Male ihr gegenüber das feierliche »Sie« mit dem gebräuchlichen »Ihr« vertauschend. Er stand auf und sah um sich: »Ich will ihm erzählen, wie gut er’s hier hätte. Es ist schön bei Euch, Bäuerin. Und eine große Tierfreundin scheint Ihr zu sein.«

Die drei Hündlein, die im Grase geschlafen hatten, kamen heran, als der Pfarrer sich erhob, beschnüffelten seine Schnallenschuhe und machten Abschiedskapriolen.

»Ich möcht mir nicht soviel aus Tieren machen«, erwiderte Frau Evi, »aber Matej hat sie so gern, besonders Hunde. Die drei hab ich aus dem Teich gezogen, der Halter wollte sie ertränken. ›Sind Hunde genug im Dorf‹, meinte er. Ja, Hochwürden, zweibeinige. Aber – ich bitte! …« Sie blickte plötzlich erschrocken zum Tische nieder. »Hochwürden haben keinen Tropfen getrunken, keinen Bissen gegessen. Das ist eine Schande für mich, Hochwürden.«

»So sollt Ihr’s nicht nehmen; ich komme wieder, und wenn ich das Haus nicht mehr ohne seinen Herrn finde, will ich von Eurem Weine trinken und von Eurem Brote essen.«

Sie erwiderte nichts, sie hatte bei seinen Worten traurig zur Seite geblickt und ging nun mit ihrem Gast durch den Garten. Er lobte und bewunderte die Ordnung, die überall herrschte, den guten Stand der Gebäude, die tadellose Reinlichkeit.

»Ja, Hochwürden, meine Wirtschaft ist mein Leben«, sagte Evi. »Gut halten würd ich sie immer, aber so schön doch nicht, wenn es nur für mich allein wäre. Aber dem Matej ist ja nie etwas schön genug.«

»Das sind lauter gute Worte, und die soll er alle hören«, sprach der Geistliche.

Sie waren beim Hause angelangt, und er wollte sich verabschieden; sie gab ihm aber noch ein Stück Weges das Geleite. Sie hatte noch etwas auf dem Herzen.

»Wenn er mir also nicht sagen lassen will, daß ich kommen soll – er ist ja stützig, Hochwürden –, braucht nur er kommen. Und wenn er nicht gehen kann – eingespannt ist gleich, und Polster und Decken sind auch gleich in den Wagen gelegt… Also, Hochwürden, ich warte und danke Ihnen, Hochwürden.«

»Ich danke Euch, Frau Mašlan. Ich habe Euch anders gefunden, als ich erwartete, viel besser.« Er reichte ihr die Hand, die sie küßte. Dann wendete sie sich wieder ihrer Behausung zu.

In ihren Augen war ein stilles, freudiges Leuchten, ihre Züge hatten sich wunderhell belebt: »Vielleicht, vielleicht doch!« flüsterte sie vor sich hin.

 

Die Mühle lag am Ausgang des Waldes, in einer breiten, grünen Schlucht, die der wasserreiche Bach munter durchrauschte. Heute hatte er’s gut, brauchte das schwere Rad nicht zu treiben, die Arbeit war eingestellt. Am Himmel neigte die Sonne sich zum Untergang und hauchte einen rosigen Schimmer über das einsame Haus mit den kahlen Mauern und den dicht geschlossenen Fenstern. Auf einer Bank neben dem Tor lag der Länge nach ausgestreckt ein feister Müllerbursche. Er hatte das Gesicht mit dem Hute bedeckt, schlief sanft in den Abend hinein. Der Pfarrer war im Begriff, ihn zu wecken, um ihn nach seinem Herrn zu fragen, als das Tor geöffnet wurde und eine hinkende Alte heraushumpelte. Sie gab sich als eine Verwandte Mašlans zu erkennen, sie hatte den Herrn Pfarrer kommen gesehen und war ihm entgegengeeilt. Kriechend freundlich empfing sie ihn und führte ihn die stöhnende hölzerne Freitreppe hinauf, durch den mit Ziegeln gepflasterten Flur, ins Krankenzimmer. Ein weißgetünchter, unwohnlicher Raum.

Das Bett stand mit dem Kopfende gegen das Fenster an einer feuchtfleckigen Wand, an der zwei Jagdgewehre, eine Waidtasche und ein schöner Hirschfänger – Erinnerungen an glänzende Tage! – hingen. Unter diesen Trophäen war ein Bild des verstorbenen Grafen, ein kleines, schwarzes Kruzifix mit silbernem Heiland, und die völlig verblichene Photographie Evis als junges Mädchen befestigt. Die halb geöffnete Tür eines Schrankes gewährte den Einblick in ein wirres Durcheinander von Kleidern, Wäschestücken und Schuhzeug. Es waren auch noch ein paar Sessel vorhanden und zwei Tische; einer trug das Waschzeug, ein zweiter, den man in die Nähe des Bettes gerückt hatte, eine Wasserflasche, ein Glas und eine Tasse voll Suppe, neben der ein paar Zigarrenstummel lagen. Es roch nach kalt gewordenem Tabakrauch und nach Feuchtigkeit; dumpfe Luft erfüllte die Stube.

Der Pfarrer öffnete eines der Fenster und trat an das Bett Matejs, der mit dem Gesicht gegen die Wand gelegen hatte und sich nun jäh emporrichtete. Schlaftrunken starrte er den Besucher an und murmelte: »Herr Doktor… Grüß Gott, Herr Doktor.«

»Ich bin’s, Mašlan, ich, der Pfarrer.«

»Der Pfarrer und – wer?« Sein düsterer, zuckender Blick glitt an dem Geistlichen vorbei und blieb erwartungsvoll an der Tür haften.

Der Priester betrachtete ihn mitleidig. Soviel Kraft und Schönheit vorzeitig aufgezehrt und verwelkt. Armes, verpfuschtes Leben, armes, verwüstetes Menschenkind! dachte er und nahm Platz auf dem Sessel, den die alte Frau an das Bett gerückt hatte. »Es ist niemand da als Ihre Verwandte und ich. Ich bin allein gekommen.«

Jetzt erst schien Matej aus seiner Betäubung völlig erwacht, legte sich aufs Kissen zurück und brummte halblaut: »Wozu? Was wünschen Sie noch, geistlicher Herr? Versehen bin ich schon.«

»Ich will Euch Trost bringen, Mašlan.«

»Brauch keinen, kränke mich nicht.«

»So? Gut also, keinen Trost. Aber einen Vorschlag möcht ich Euch machen. Ihr seid hier nicht gut dran, habt auch keine rechte Pflege, ich möchte Euch besser versorgt haben.«

»Oh, ich weiß schon«, erwiderte Mašlan wegwerfend, »ich weiß schon, was das heißt: ins Spital möchten Sie mich schicken.«

»Durchaus nicht. In einem guten, netten Hause säh ich Euch gern, einem schönen, hellen Hause mit einem großen Garten…«

»Ich versteh – Sie meinen den Himmel.«

»Nicht doch! nicht doch! Seht, Mašlan…«

Die stocktaube Alte hatte den Pfarrer nicht aus den Augen gelassen, mit wahrer Gier beobachtete sie jede seiner Mienen, jede seiner Bewegungen und mischte sich nun auf einmal ins Gespräch: »Oh, Hochwürden, er ist hier so gut aufgehoben, der Matej; besser aufgehoben als hier kann er nirgends sein. Tag und Nacht geb ich acht auf ihn, und was er sich wünscht, bekommt er. Grad früher hat er Suppe haben wollen, da steht sie. Zigarren hat er auch verlangt.«

»Ihr raucht, Mašlan?« fragte der Pfarrer vorwurfsvoll, »ein Unsinn bei Eurem Zustand! Der Doktor sagt, daß Ihr knapp an einer Lungenentzündung vorbeigekommen seid.«

»Sie sind kein Raucher, geistlicher Herr, sonst wüßten Sie: einem Raucher schadet das Rauchen nicht, und solang der Tabak ihm schmeckt, ist noch alles gut.«

»Sprecht nicht, vor allem widersprecht nicht! Auf diese Art kommen wir nicht weiter. Ohne Umschweife also, Mašlan. Ihr sollt zu Eurer Frau. Sie wartet auf Euch, mit offenen Armen wartet sie, hat alles zu Eurem Empfang vorbereitet, und wie vorbereitet! Eine Freude, es zu sehen.« – Er machte die lockendste Beschreibung des Hauses, des Gartens, der Wirtschaft und schloß: »Ich will Euch nicht mehr verraten, will Euch die Überraschung nicht verderben, ich sage bloß: wie Ihr’s gern habt, so ist es, und was Ihr gern habt, ist alles da – Tauben, Schafe, Hunde…«

»Ja, Hunde, freilich«, wiederholte Mašlan.

»Da ist ein so gescheiter, kleiner, weißer und hat ein braunes Ohr…«

»Wie der Bili«, sagte Mašlan, und der Schimmer eines Kinderlächelns glitt über sein abgemagertes Gesicht, sofort aber verzerrte es sich im Zorne: »Die alte Hex dort leidet keinen Hund – mag nur Katzen, vergiftet mir die Hunde, die böse Hexe!«

Er ballte die Faust gegen sie, und sie beeilte sich, dem Pfarrer zuzuflüstern: »Er ist nicht recht im Kopf, wissen. Es kommt vom Fieber. Was ich oft von dem anhören muß!« –

In die augenblickliche Stille, die nun eintrat, tönte das Getrappel von Pferden – ein Wagen war herangerollt, hielt vor dem Hause, und man vernahm ein ankündigendes, dreimaliges Peitschenknallen.

Mašlan horchte auf, der Pfarrer begab sich an das Fenster, die Alte folgte, beugte sich hinaus und kreischte in hellem Schrecken: »Herr Jesus Christus – das Wägelchen vom Hof. Es ist schon leer, sind schon ausgestiegen. – Herr Jesus Christus, am End sind es gar die Bäuerin!«

Aus der Brust des Kranken rang sich ein fast tierischer Laut, ein Winseln, ein Stöhnen wonniger Erwartung, an Schmerz grenzenden Entzückens. Freudig bewegt, Worte des Willkomms auf den Lippen, schritt der Pfarrer aus dem Zimmer auf den Flur.

Aber die zu begrüßen er gehofft hatte, war nicht gekommen; der Knecht allein trampelte in seinen schweren Stiefeln die Treppe herauf und meldete: Die Frau schicke das Wägelchen. Für alle Fälle, lasse sie sagen, wenn der Herr vielleicht fahren möcht.

Der Geistliche befahl ihm zu warten und kehrte in die Stube zurück, seine Enttäuschung so gut wie möglich hinter einer freundlichen Miene verbergend.

»Seht nur, seht«, sagte er, »jetzt schickt Eure Frau gar das Wägelchen um Euch. Ja, da hilft nichts, da müßt Ihr fahren. Wir bringen Euch hinunter, der Knecht und ich, wickeln Euch gut in Decken ein; es wird Euch nicht schaden, es ist ein so schöner, warmer Sommerabend Nun, Matej, nun rafft Euch auf.«

Aber Mašlan hatte sich steif auf den Rücken gelegt, die Anne über der Decke fest an den Leib geschlossen. »Es kann nicht sein«, sagte er, »ich kann nicht zu ihr, ich hab’s verschworen.«

»Mit Eurem Schwur, Matej, was Ihr nur denkt! Ein Schwur, der keine Geltung hat. Keine Geltung!« wiederholte er lauter, als Mašlan ihn unterbrechen wollte, »denn Ihr habt ihn getan in sinnloser Wut… Mit Eurem Schwur! … Als ob wir Gott zum Zeugen einer ungerechten Handlung anrufen dürften! … Ein Frevel – betet zu Gott, daß er Euch Euren Frevel verzeihe!«

»Das hat der Herr Kanonikus mir alles gesagt«, versetzte Mašlan trotzig, »nicht einmal, hundertmal, das hilft alles nichts bei mir, ich kann’s nicht tun, ich hab’s verschworen. Und wenn ich’s nicht verschworen hätte« – er erhob die Stimme und schrie zwischen zwei Hustenanfällen und kläglich mit Atemnot ringend: »Ich tät’s doch nicht. Ich bin der Herr!«

Der Priester betrachtete ihn von neuem mit einem langen, wehmütigen Blick und dachte: Ich habe dich ernst genommen, ich hatte unrecht. Dein bißchen Geist ist umnachtet, du armer »Herr«, du Knecht deiner Launen und Triebe. Er bat, besänftigte, gab zu: »Ja, ja, Ihr seid der Herr; und weil Ihr es seid und durchaus nicht zu Eurer Frau gehen wollt, so laßt sie denn herkommen. Wenn sie nur einen Tag da wäre, es würde anders aussehen bei Euch.«

»Freilich«, sagte Mašlan.

»Ihr seid der Herr – befehlt ihr zu kommen.«

»Befehlen? … Freilich könnt ich, wenn ich wollt.«

»So, Matej, also so! Laßt ihr durch mich befehlen, daß sie kommen soll. Ich übernehme die Botschaft.«

»Botschaft?« wiederholte der Kranke mißtrauisch, und der Pfarrer beeilte sich zu berichtigen: »Den Befehl. Sie würde so gern gehorchen. Sie sorgt sich um Euch, sehnt sich nach Euch.«

»Wirklich?« Wieder flog über seine Züge der verjüngende Glanz.

»Wahr und wirklich, und so geh ich zu ihr oder fahre vielmehr. Ich will den Wagen benützen, den Eure Frau geschickt hat.«

Er erhob sich mit kurzem Abschiedsgruß und schritt der Tür zu, entschlossen, keinen Einwand mehr anzuhören. Ein in Zorn und Angst ausgestoßener Schrei gellte ihm nach, seufzend blieb er stehen und sah sich um. Mašlan, auf den Ellbogen gestützt, halb sitzend in seinem Bette, das Gesicht verzerrt, rief ihn an: »Halt! Halt! Was wollen Sie ihr sagen? Wie soll’s heißen? Wenn es heißen soll: Komm! sag ich’s nicht! Ich nicht. Sie soll von selbst kommen. Ich ruf sie nicht – ich laß sie nicht rufen, ich hab’s verschworen, ich käm in die Höll!«

Einem Kranken gegenüber kannte des Pfarrers Langmut keine Grenzen. Er ging wieder auf ihn zu, beschwichtigend, beruhigend. Mašlan streckte die Hand abwehrend aus und schrie aus allen seinen Kräften immer von neuem: »Ich sag es nicht, nie, nie, nie! Ich hab’s verschworen.«

Inzwischen war jemand langsam und bedächtig die Treppe heraufgestiegen und nun eingetreten. Der Doktor stand da und schüttelte in seiner sanft mißbilligenden Art den Kopf: »Mašlan, ich fürchte, Ihr seid übergeschnappt, kullert wie ein beleidigter Truthahn. Wenn Ihr’s so treibt, steh ich für nichts. Wollt Ihr Euch töten?«

Mašlan hatte gar nicht zugehört. Er lag jetzt still und erschöpft mit geschlossenen Augen. Plötzlich schlug er sie zu dem Priester auf und sprach, als ob zwischen seinen letzten Worten und diesen keine Unterbrechung stattgefunden hätte: »Aber – daß ihr Bild noch da hängt, das können Sie ihr sagen, hochwürdiger Herr.«

 

Bis zum grauenden Morgen hatte der Pfarrer keine Ruhe gefunden, in rastloser Aufregung gewacht, gebetet. Wie ein Dorn im Fleische saßen ihm die Worte Mašlans: »Das hat der Herr Kanonikus mir alles schon gesagt.« Er hatte die Empfindung eines Arztes, der ein neues Heilmittel gereicht zu haben meint und entdeckt, daß er zu einem verbrauchten griff, gegen das der Organismus des Kranken längst abgestumpft ist. Was tun? Um was handelte es sich denn? – Zwei Eheleute, die einander liebten, sich nacheinander sehnten, waren getrennt durch ein Hirngespinst. Es war nur ein Hirngespinst. Nicht Hochmut nicht Unversöhnlichkeit von Seite der Frau, wie er anfangs gedacht hatte, nicht Gleichgültigkeit von Seite des Mannes. Wirklich nur ein Hirngespinst. Und das sollte er nicht zerreißen können? Die Aufgabe, die so leicht schien, sollte unlösbar sein?

Je länger er darüber nachsann, desto mehr wuchs seine Zuversicht. Es mußte gelingen, sich selbst gab er schuld an seinem ersten Mißerfolg. Wenn er sein Gespräch mit Frau Evi überdachte, kam ihm vor, daß er nicht warm genug an ihr Herz appelliert, nicht ein gewichtiges, ergreifendes, erschütterndes Wort zu ihr gesprochen. Er hatte ja nicht gewußt, wie glühend sie ersehnt wurde. Nun wollte er es ihr sagen und ihre schlummernde Liebe und Zärtlichkeit wecken.

Bei der Frühmesse sah er sie an ihrem gewohnten Platz in der Kirche, versunken in inbrünstiges Gebet, und als er eine Stunde später in das Gärtchen vor ihrem Hause trat, kam sie ihm entgegen, und in ihren Augen, in ihrem ganzen Wesen lag etwas wie eine bange Frage, die auszusprechen sie zögerte.

»Das ist ein Tag, Frau Mašlan«, sagte der Priester nach der ersten Begrüßung, »ein Gottesgeschenk. Auch Euch muß die Sonne bis ins tiefste Herz hinein scheinen und jede Härte darin schmelzen.«

Sie bat ihn, ihr die Ehre eines Besuches in ihrem Hause zu schenken, und führte ihn in eine geräumige, für bäuerliche Verhältnisse luxuriös eingerichtete Stube. Der Boden gedielt, die Wände bemalt und mit drei großen Farbendrucken geschmückt ein Muttergottesbild, vor dem ein Flämmchen in einer Lampe aus rotem Glase flackerte, die Bildnisse des Kaisers und der Kaiserin. Ein mächtiger Schrank mit gewundenen Säulen nahm die Tiefe, ein Tisch, auf dem eine buntgestickte Decke lag, die Mitte des Zimmers ein. Dunkle, geschnitzte Holzsessel waren längs der Wände und in den Fenstervertiefungen aufgestellt. Auf einen von diesen deutete Frau Evi.

»Ist’s gefällig, Platz zu nehmen, Hochwürden?« fragte sie gepreßt, und es war, als ob sie hervorbrechende Tränen niederzukämpfen suche. Schon als er ihrer Aufforderung, ins Haus zu treten, entsprochen, hatte eine schmerzliche Enttäuschung sich ihrer zu bemächtigen geschienen; die wurde herber und herber, steigerte sich zu einem Ausdruck frostiger Trostlosigkeit in der Miene des stolzen Weibes. Der Priester verstand sie, und was sie niederbeugte, erhöhte seine Siegeszuversicht.

»Ich will Euch nur den Schlaf nicht forttragen«, sagte er, ihrem einladenden Wink folgend, »Euch nicht etwa einen so langen Besuch machen wie gestern. Ich bin da, um Euch abzuholen nach der Mühle.«

»Sie waren dort«, versetzte sie und sah ihn fest und forschend an. Der Pfarrer überlegte einen Moment und sprach dann entschlossen: »Gebt jeden Zweifel auf, Euer Mann ist sterbend.«

»Ich habe es durch den Herrn Doktor erfahren«, erwiderte sie leise.

»So? Nun also, folgt mir, kommt!«

»Hat er mich rufen lassen?« brachte sie stockend und mühsam hervor.

»Er hat Euch nicht rufen lassen, und trotzdem werdet Ihr zu ihm gehen, weil Ihr sollt, weil es Eure Pflicht ist, weil Ihr nie wiedergutmachen könntet, was Ihr heute versäumt.«

Er erzählte, wie schlecht versorgt und lässig betreut er den Kranken gefunden hatte, er berichtete den kleinsten Umstand seiner Unterredung mit ihm, freute sich über den erschütternden Eindruck, den seine Schilderung auf die Bäuerin machte. Als er von dem Entzücken Mašlans sprach, da ihm die Hoffnung auf einen Besuch seiner Frau aufleuchtete, von seiner schmerzvollen Erbitterung bei dem Schwinden dieser Hoffnung, stöhnte Evi, beugte sich vor und vergrub ihr Gesicht in ihre Hände.

Der Pfarrer stand auf. »Kommt«, sagte er, ihren Scheitel mit der Rechten sanft berührend, »und wenn noch ein Zweifel in Euch lebt, ob Ihr dürft, so wisset, ich löse Euren Schwur, er besteht nicht, er hat nie bestanden. Gott hat ihn nicht gehört.«

Sie hob den Kopf, ihr Gesicht war weiß bis auf die Lippen; die Augen blickten erschreckend starr: »Er hat ihn gehört«, sprach sie mit schwacher, aber klarer Stimme. »Ich weiß es, denn ich hab es gefühlt. Ich werde nie vergessen, Hochwürden, wie ich’s gefühlt habe: Gott ist nah und hört dich. Matej hat im Zorn geschworen; sein Schwur ist vielleicht nicht hinauf bis zu Gott gedrungen, barmherzige Engel haben ihn unterwegs vielleicht abgelenkt, wie sie den Blitzstrahl ablenken oder eine andere Gefahr. Ich, Hochwürden« – sie machte eine kleine Pause und fuhr dann fort mit ihrer weichen, klangvollen Stimme, aus der eine eiserne Überzeugung sprach: »Ich, Hochwürden, war ganz bei mir, ich war wie jetzt. Fragen Sie ihn, ob er sich besinnt, was er gesprochen hat, ob er noch jedes Wort weiß – er weiß es nicht. Ich kann jedes Wort, das ich gesagt habe, wiederholen. Und wenn ich dran denke und es mir recht vorstelle, wie ich damals meine Hand aufgehoben und Gott angerufen habe, läuft es mir wieder aus den Spitzen meiner Finger durch alle meine Glieder: Gott hört dich. Und deshalb…« Sie richtete sich empor, ein seltsamer, fremdartiger Zug, etwas wie ein weltverschmähendes Lächeln prägte sich in den strengen Linien ihres Mundes aus. »Wenn mein Mann stirbt – wie Gott will. Ich bin eine Witfrau seit vielen Jahren. Dieses Leben haben wir uns verdorben, aber es gibt ein andres, ein besseres, das wollen wir uns nicht verderben. Ich hoffe darauf, und ich weiß – auch er hofft darauf.«

»Frau! Frau!« rief der Priester ihr zu. »Seid Ihr mit Blindheit geschlagen? Seht Ihr nicht, daß Ihr Euch von dem Wege abkehrt, den Ihr zu wandeln meint? Frau! Frau! der Tag der Reue wird kommen, und er wird furchtbar sein… Und dennoch bet ich zu Gott um diesen Tag, denn das furchtbarste wäre, wenn er zu spät käme!« Seine Augen ruhten drohend auf ihr: das Unüberwindliche blickte ihm aus ihren starren, wie vereisten Zügen entgegen. Ja, dieses Weib hätte man foltern können, sie in ihrer Überzeugung erschüttern – nimmermehr.

Er hatte einige Schritte dem Ausgange zu gemacht, blieb plötzlich stehen und sprach: »Euer Bild hängt noch immer über seinem Bette. Das läßt Euch der Sterbende sagen.«

»Hochwürden!« Sie schrie es fast, sie bebte am ganzen Leibe. »Aber: Komm! – hat er mir doch nicht sagen lassen!«

 

Oft noch wanderte der Seelsorger von der Mühle zum Hof, vom Hof zur Mühle. Er ruhte nicht, er kämpfte seinen aufreibenden und nutzlosen Kampf mit den Verblendeten treulich bis ans Ende. Und eines Sommerabends gellte der klangarme Schall des Zügenglöckleins durchs Dorf. Die Frauen blieben aufhorchend stehen, die Männer lüfteten die Hüte, jeder sprach ein Gebet für die scheidende Seele. Alle wußten, Matej Mašlan liegt im Sterben. Matej Mašlan, dem so viele viel zu verzeihen haben. Der Matej, dem keine widerstand, um die er sich ernstlich bemühte, dem die Kinder zuliefen, den die bissigsten Hunde anwedelten. Der Matej stirbt, geht hinüber, Rechenschaft abzulegen vor Gott dem Herrn und Richter. Seit Morgengrauen waren der Pfarrer und der Doktor bei ihm, und im schönsten Hause des Ortes lag ein Weib auf den Knien und rang die Hände, und der Angstschweiß floß über ihre Stirn und netzte ihre trockenen, glühenden Augen.

Sie betete und horchte dazwischen auf jeden Laut, auf jeden Schritt, der von der Straße herübertönte. Keiner hielt vor ihrem Hause, niemand verlangte Einlaß; und als endlich gegen Mitternacht an die Tür gepocht und nach der Bäuerin gefragt wurde, da war’s ein vom Arzte Abgesandter, der die Todesbotschaft brachte.

Mit dem frühesten war Bewegung im Hause, herrschte ein geschäftiges Regen. Vorbereitungen zum Empfang des toten Herrn wurden so leise getroffen, als ob er schon daläge in der stillegebietenden Ruhe des Todes.

Die Dorfbasen männlichen und weiblichen Geschlechtes liefen zusammen. Die Neugierigen litten Folterqualen. »Was geschieht? Was wird sie jetzt tun, die Evi?« Und als es hieß: »Sie läßt ihn einholen!« da bemächtigte sich der meisten Leute eine unerklärliche Begeisterung. Die Kinder liefen in Scharen zur Mühle, um die Leiche ihres Freundes zu sehen und dabeizusein, wenn sie auf den Schragen gelegt und fortgetragen wurde. Auch Erwachsene schlossen sich an, und als die irdische Hülle Mašlans beim Dorfteich anlangte, hatte sie ein großes Geleite. Langsam kam der Zug die Anhöhe herauf, und durch die Menge, die sich, immer anwachsend, um den Hof versammelt hatte, lief ein Geflüster: »Sie bringen ihn! Sie bringen ihn!«

Aus dem Innern des Hauses aber drang ein gellender Schrei, von einer alten, zitternden Stimme ausgestoßen: »Frau! sie bringen ihn!«

Eine Sekunde atemloser Spannung, Evi war auf die Schwelle getreten, ging auf die Gartentür zu und öffnete beide Flügel. Die schwarz behangene Bahre kam immer näher, und die bleiche Frau am Gittertor breitete ihr die Arme entgegen, ihre zuckenden Lippen murmelten einen Namen. Nun – glaubten alle –, nun wird sie ihm entgegenstürzen, sich über ihn werfen und weinen und sich die Haare raufen.

Nichts von alledem geschah. Der Blick Evis war über die Menge geglitten, über neugierige, teilnehmende, schadenfrohe und traurige Gesichter. An ihr Ohr war leises Gekicher, lautes Stöhnen gedrungen. Sie nahm sich zusammen, stand gerade aufgerichtet und blickte zu der Bahre, die an ihr vorbei ins Haus getragen wurde, stumm und tränenlos nieder. Erst als man den Toten hingestellt unter das Muttergottesbild in der großen Stube und sie mit ihm allein gelassen hatte, zog sie das Bahrtuch herab, sank in die Knie, küßte seinen Mund und die Hand die noch den Trauring trug, und sprach zärtlich und liebevoll zu ihm: »Hast mich nicht gerufen, hast deinen Schwur halten wollen. Hast recht gehabt. Es war kein so heiliger Schwur wie der meine, aber ein Schwur! Mein Matej, hast dich nach mir gesehnt? Nicht so, wie ich mich nach dir, o lang, lang nicht, aber doch gesehnt; und jetzt bin ich dein und bist du mein für die Ewigkeit.«

Kapitel 19

Kapitel 19

 

Maria hielt allein die erste Nachtwache bei ihren Toten. Man hatte die Hand des Kindes aus der seines Vaters nicht zu lösen vermocht, und so ruhten sie nebeneinander auf einem Lager und sollten auch in einem Sarge ruhen. Ihre bleichen Gesichter trugen keine Spur des letzten schweren Kampfes. Maria hielt die beiden umfangen. Sie lag an sie geschmiegt, bleich und stumm wie sie, aber ohne ihren Frieden. Einen Trost nur hatte sie in ihrer Vernichtung und empfand ihn, während sie ihr Haupt an das stille Herz drückte, an dessen lebensfreudigem Schlag all ihr Glück gehangen.

Wohl ihr, daß ihm das Bitterste erspart, daß sein Glaube an sie unerschüttert geblieben war bis ans Ende. Dank der geheimnisvollen Kraft, die das Wort, das ihn elend gemacht hätte, sooft sie es aussprechen wollte, zurückgedrängt in ihre Brust. Nun war er eingegangen zur ewigen Ruhe, unerschüttert in seiner seligen Zuversicht.

Im anstoßenden Zimmer befand sich Lisette und unterdrückte ihr Schluchzen, um von der Herrin nicht gehört und fortgewiesen zu werden. Einmal wagte sie sich leise bis zur Tür heran und spähte durch das Schlüsselloch.

Maria saß neben dem Bette, unbeweglich in den Anblick der Ihren versunken, mit einem Ausdruck von so herzzerreißender Trauer, daß Lisette zurückfuhr. – Nein, das ertrug sie nicht, das konnte sie nicht sehen …

Am Morgen endlich pochte sie und trat, als nach einer Weile keine Antwort kam, ungeheißen bei ihrer Gebieterin ein, rief sie an und sagte: »Es ist Tag!«

Maria schreckte auf: »Schon Tag?«

»Ja, mein armes Kind; und du mußt fort. Die Herren sind da … Du weißt – und der Graf Wilhelm.«

Der hatte mit Helmi an der Tür gestanden. Seine Augen waren rot und geschwollen, seine Lippen zuckten. Er konnte nicht sprechen und lehnte sich hilflos an seine Frau. Der Doktor und Willi kamen, und hinter ihnen trat schüchtern Erich ein, der mit beiden Händen einen großen Strauß weißer Rosen festhielt.

»Der Gärtner hat mir gesagt, ich soll das dem Hermann bringen«, sprach er zu seiner Mutter. »Hermann, da hast du.«

Er legte die Blumen auf das Bett, und auf dessen Rand gestützt, hob er sich, so hoch er konnte, und streckte den Hals und spitzte die Lippen, um seinen Bruder zu küssen. Doch erreichte er ihn nicht und fragte: »Warum hast du heute nicht bei mir geschlafen?« – Jetzt erblickte er den Vater, der sich auch nicht rührte, dessen Augen auch geschlossen waren …

Ganz bestürzt trat er zurück. »Warum schlafen sie so lange?« rief er plötzlich aus. »Sie sollen aufwachen, Mutter, sag ihnen, daß sie aufwachen sollen!«

Maria beugte sich zu ihm nieder und schloß ihn in ihre Arme. Die ersten Tränen, die sie seit gestern geweint hatte, fielen auf das Haupt ihres Söhnchens.

 

Wilhelm nahm es auf sich, Gräfin Agathe die Kunde des furchtbaren Verlustes, den sie erlitten hatte, selbst mitzuteilen. Helmis Bitten brachten ihn dazu. Sie wollte ihn fort haben von der Unglücksstätte, ihn zwingen, in der Ausübung einer schweren Pflicht Herr seines Schmerzes zu werden.

Früher, als man gedacht hatte, kehrte er zurück. Er war Tag und Nacht gefahren, teils Lokalbahnen benutzend, teils mit Bauernpferden, und meldete die Ankunft der Gräfin für den nächsten, den Morgen der Beisetzung an.

»Wie hast du sie gefunden?« fragte Maria abgewandten Blickes.

»Rätselhaft – eine Heilige oder ein Stein«, erwiderte Wilhelm und erzählte, daß die Gräfin noch in der Kirche war, als er um neun Uhr früh in Dornachtal ankam. Der neue Beichtvater, ein junger, hochgewachsener, streng aussehender Herr, empfing ihn und nahm seine Unheilsbotschaft mit kaltem Erstaunen auf. Er hatte den Herrn Grafen nicht gekannt, nur von ihm gehört. In dem Moment haßte ihn Wilhelm; im nächsten hätte er ihm um den Hals fallen mögen, weil er sich anbot, die alte Dame auf die Nachricht des Unglücks, das sie getroffen hatte, vorzubereiten. Wilhelm wartete im Zimmer des Geistlichen, der ihn rufen lassen sollte, sobald es Zeit war … Das geschah nach einer halben Stunde … Großer, guter Gott! – Sie saß ruhig in einem hochlehnigen Fauteuil, der Geistliche auf einem Sessel neben ihr, die Augen gesenkt, ein triumphierendes Lächeln auf seinen kargen Lippen. Die Gräfin, weiß wie ein Linnen, hielt einen Rosenkranz zwischen ihren Fingern, die völlig leblos aussahen.

»Dank«, sprach sie, »daß du dich selbst hierherbemüht hast«, ließ Maria bitten, sie zu erwarten, und ersuchte ihn, sich nicht aufzuhalten, sie wisse, wie notwendig er in Dornach sei. Ihr Wagen, der ihn nach dem Frühstück zur Bahn bringen solle, sei bereit.

Kein Wort von ihrem Sohne, von ihrem Enkel. Erst als Wilhelm Abschied nahm, fragte sie nach Erich und flüsterte mit einem dankbaren Aufschlagen der Augen zum Himmel: »Den hat mir Gott gelassen!«

Bei diesen Worten zuckte Maria zusammen und schlug die Hände vor das Gesicht.

Bald nach Wilhelm war Graf Wolfsberg eingetroffen, gebeugt, gealtert. Wenige Menschen durften sich rühmen, seine Liebe zu besitzen; die beiden, die morgen begraben werden sollten, hatte er geliebt. Aber auch die Veränderung, die mit seiner Tochter vorgegangen war, ergriff und erschütterte ihn. Er hörte nicht auf sie angstvoll zu betrachten, erwies sich hilfreich, stand ihr bei in ihrem traurigen Totendienst. Einmal zog er sie plötzlich an sein Herz, so zärtlich wie am Tage vor ihrem Scheiden aus dem Vaterhaus: »Lebe«, sprach er, »du hast auf Erden noch etwas zu tun.«

Sie erhob den Blick zu ihm und erwiderte entschlossen: »Ja, Vater, ja!«

 

Gräfin Agathe wurde von Wolfsberg und Maria unter dem Portal erwartet. Sie stieg aus dem Wagen und nach stummer Begrüßung, jede Unterstützung abwehrend, die Treppe hinauf. Oben wandte sie sich geradenwegs dem Kapellenzimmer zu, in dem seit Jahrhunderten die Grafen von Dornach ihre letzte Rast hielten.

Der schwarz ausgeschlagene Raum war dicht gefüllt mit weinenden, schluchzenden Menschen. Als die alte Dame eintrat, war’s, als ob ein Eishauch die Luft durchwehe; alle Tränen stockten, nicht eine Klage mehr wurde laut.

Aufrechten Ganges, hoheitsvolle Ergebung in den strengen Zügen, wohnte die Gräfin den Trauerfeierlichkeiten bei. Erstarrt in ihrem Gram, klagte sie nicht, verlangte nicht nach einer Schilderung des Ereignisses, das ihr den Sohn und den Enkel geraubt hatte. »Der Herr hat sie gegeben, der Herr hat sie genommen, der Name des Herrn sei gelobt«, war alles, was sie sich und ihrer Schwiegertochter zum Troste sagte. Aber sie setzte hinzu: »Der gleiche Schmerz verbindet.« Sie ließ Maria fühlen, daß die geliebte Gattin ihres Sohnes ihr auch nach dessen Tode wert geblieben war.

Tante Dolph hatte sich in den jüngstverflossenen Tagen unsichtbar gemacht. Doktor Weise mußte ihr absolute Ruhe und Luftveränderung verordnen.

In ihr ging etwas Ungewöhnliches vor – sie wurde bei der Erinnerung an den kleinen Hermann von Wehmut erfaßt, nicht heftig allerdings, aber doch beängstigend für die alte Egoistin, wie ein Unwohlsein für einen Menschen, der immer gesund war. Sie gestand es ihrem Bruder und verhehlte ihm auch nicht ihren leisen Groll gegen Maria, deren Unglück das Mitleid herausforderte – ein der Gräfin unbequemes Gefühl.

»Mich mitzufreuen, nicht mitzuleiden bin ich da. Warum soll die Traurigkeit sich ausbreiten?… Ich weiche ihr aus. Wenn das abscheulich gefunden wird, muß ich mich darein fügen. Kann ich für meine Natur? Die Rebe weint, die Distel nicht«, sagte sie und reiste ab.

In dem schwer heimgesuchten Hause, dem sie den Rücken gekehrt, gab es aber doch einen Glücklichen. Das war Erich; selig ging er umher wie ein aus der Verbannung in das ersehnte Heimatparadies Zurückgekehrter. Seine Mutter liebte ihn jetzt, wie sie den armen Hermann liebte, der noch immer schlafen mußte. Sie hob ihn auf ihren Schoß und überhäufte ihn mit Zärtlichkeiten.

Und das Kind, in wonniger Überraschung, ein wenig verlegen, ließ in stillem Entzücken all diesen Liebessegen über sich ergehen.

Einmal nahm sie ihn mit in die Gruft, und vor der mit Kränzen behangenen Nische, die den Sarg ihres Mannes und ihres Erstgeborenen barg, kniete sie nieder.

»Erich«, sprach sie, seine beiden Händchen in ihre Hände fassend, »Erich, du wirst groß werden und gut und gescheit. Dann sollst du an deine Mutter denken und an das, was sie dir heute sagt.«

Der Kleine lehnte seine Stirn an ihre Wange: »Was sagt sie?«

»Sieh dich um. Wo sind wir?«

»In der Gruft.«

»Und wer schläft in der Gruft?«

»Mein Vater und mein Bruder.«

»Und noch viele, viele ihnen verwandte, gute Menschen. Merke dir, Erich, vergiß es nicht, erinnere dich, wenn du groß sein wirst, wo und wann deine Mutter dir gesagt hat: Verzeih mir, mein Kind … verzeihe mir! – Wirst du dir das merken, Kind?«

Erich schlang seine Arme um ihren Hals und antwortete fest und zuversichtlich: »Er merkt sich’s.«

Als sie ins Schloß zurückkehrten, kam Wolfsberg ihnen entgegen.

»Es ist Zeit«, sagte er zu Maria. »Deine Schwiegermutter und Wilhelm erwarten dich. Wenn du aber nicht stark genug bist …«

Sie unterbrach ihn: »Ich habe mir Stärke geholt«, übergab den Knaben der seiner harrenden Wärterin und ging mit ihrem Vater nach den Zimmern der Gräfin.

Das Testament des Verstorbenen war vor der Beerdigung in Gegenwart Wilhelms und Wolfsbergs mit den üblichen Förmlichkeiten eröffnet worden. Sein Hauptinhalt war eine Huldigung für Maria, und Wolfsberg hatte gezögert, ihr den ergreifenden Wortlaut dieser letzten Botschaft mitzuteilen. Heute, am dritten Tage nachdem Hermann zur ewigen Ruhe bestattet worden, sollte es geschehen. Seine Mutter hatte den Wunsch ausgesprochen, Zeugin zu sein.

Die Gräfin empfing Maria und Wolfsberg im Salon ihrer Witwenwohnung im Schlosse. Ein hohes Gemach mit gelblichen Stuckwänden, großen Marmorkaminen, bis zur Decke reichenden Spiegeln in kannelierten Goldrahmen und steifer Empireeinrichtung. Die Fenster, die einen weiten Ausblick über den Park gewährten, standen offen, und hereindrang das Licht der untergehenden Sonne und die würzige Luft, die vom Walde hergestrichen kam.

Einen düsteren Gegensatz zu diesem freundlichen Raume bildete die alte Dame mit ihren schwarzen schleppenden Gewändern, mit dem aschfahlen Angesicht, dem die Leiden und Seelenkämpfe der letzten Tage tiefe Spuren eingeprägt hatten.

Sie erhob sich ein wenig aus ihrer Sofaecke, als Maria auf sie zukam, und streifte dabei ein kleines Bauer mit einem ausgestopften Vögelchen auf den Boden hinab. Ehe jemand ihr zuvorkommen konnte, hatte sie sich danach gebückt und das Spielzeug wieder auf seinen früheren Platz gestellt.

»Erich hat es herübergebracht«, sprach sie, »und vergessen, als du ihn rufen ließest.«

Maria ergriff die Hand, die sie ihr reichte, beugte sich tief, küßte sie innig und heiß und zog sie immer wieder an ihre Lippen, als ob es ein schweres Scheiden gelte.

»Nun, mein Kind, nun«, ermahnte die Gräfin, »Fassung, ich bitte dich. Wir wollen die Worte des teuern Vorangegangenen hören, standhaft wie Glaubende und Hoffende.«

Wilhelm hatte die Zeit über stumm dagesessen, in das Schriftstück vertieft, das er vorlesen sollte.

»Beginne«, sagte die Gräfin.

Er rückte seinen Sessel näher zu ihr. Ihm gegenüber hatte sich Maria niedergelassen. Ihr Vater nahm Platz an ihrer Seite.

Wilhelm las mit bewegter, leiser Stimme, und der greisen Zuhörerin neben ihm bemächtigte sich allmählich ein lange nicht mehr gekanntes Gefühl, eine sanfte und wehmütige Rührung.

Vor vielen Jahren hatte ein Unvergessener in seinem Letzten Willen so von ihr gesprochen, wie Hermann von dem Weibe seines Herzens sprach. Mit dem gleichen Vertrauen hatte er sie geehrt, indem er ihr so viele Rechte über den Sohn, soviel Freiheit in der Verwaltung des Vermögens gewahrt, als das Gesetz nur irgend zuließ. Fast mit den Worten seines Vaters schrieb Hermann:

 

»Weil ich das wahre Wohl meiner Kinder im Auge habe, unterwerfe ich sie in allem und jedem den Bestimmungen ihrer Mutter. Sie sind damit einer Vorsehung anbefohlen, die weise ist, gerecht und treu.«

 

Ein qualvolles Wimmern rang sich aus Marias Brust.

Wilhelm hielt inne.

»Weiter«, sagte die Gräfin nach einer kleinen Pause.

Mit erstickter Stimme fuhr er im Lesen fort und warf von Zeit zu Zeit einen verstohlenen Blick nach Maria. Sie rang die Hände auf ihren Knien, aus ihren marmorblassen Zügen sprach rettungslose Verzweiflung.

Wilhelm war zu Ende gekommen. Am Schlusse hieß es:

 

»Je besser und tüchtiger meine Kinder werden, mit je hellerem Blick sie die Welt und die Menschen beurteilen lernen, desto festere Wurzeln wird in ihnen die Überzeugung schlagen: Es gibt auf Erden eine höchste Einsicht und Güte – in unserer Mutter hat sie sich verkörpert.

Ich lebe gern und hoffe noch lange zu leben und zu meinen Söhnen noch manches Wort sprechen zu können. Dir aber, Maria, ob ich jung, ob alt sterbe, dir werde ich immer nur eines zu sagen haben: Ich danke dir!«

 

Die Augen Gräfin Agathens hatten sich leicht gerötet; teilnehmend wandte sie sich Maria zu.

Die Frau, die eine solche Liebe besessen und verloren hatte, stand ihr nahe und sollte ihr immer nahestehen. »Meine Tochter«, sagte sie zu ihr, »ich teile den Glauben meines Hermann. Sein teuerstes Vermächtnis, sein liebes Kind, ist geborgen in deiner Hut. Gott stärke dich und segne unsern kleinen Majoratsherrn.« Sie streckte die Rechte aus, um sie auf den Scheitel Marias zu legen.

Diese sprang auf. »Was tust du? Ich verdien es nicht … Behandelt mich, wie ich es verdiene«, rief sie leidenschaftlich aus, stockte einen Augenblick und setzte dann herben Klanges hinzu: »Erich ist nicht erbfähig.«

»Maria!« – stießen die anderen hervor. Derselbe Gedanke war allen zugleich gekommen …

»Nein, nein, ich bin nicht wahnsinnig, ich weiß, was ich rede. Ich kann die Lüge nicht mehr ertragen. Der ist tot, dem zuliebe ich es getan habe.«

Außer sich faßte Wolfsberg ihre Schulter mit eisernem Griff: »Was getan?«

»Geheuchelt – mich halten lassen für das, was ich nicht war:für treu.«

Er stieß sie von sich und sprang auf; auch die Gräfin stand da, emporgerichtet in ihrer ganzen Höhe.

»Nicht treu? eine Dornach nicht treu?… Nein, keine Dornach. Du bist nicht aus unserem Blut – Ehebrecherin!« schleuderte sie Maria zu und führte unwillkürlich das Taschentuch an ihre Lippen, die sie beschmutzt fühlte, nachdem sie das Wort ausgesprochen hatten … »Erich nicht der Sohn meines Sohnes … und ich – und ich!…« Mit einem grellen, kurzen Lachen sank sie in die Kissen zurück, halb ohnmächtig, stumm und starr.

»Du lügst, Maria!« rief Wilhelm. Bebend vor Wut trat Wolfsberg vor seine Tochter hin: »Deine Entschuldigung?« fuhr er sie an.

Sie sah ihm ruhig in die zornig flammenden Augen, und aus den ihren sprach eher ein Vorwurf als eine Abbitte. Ich hatte mich gerettet aus eigener Kraft, hätte sie ihm antworten können. Da riß mich die Hand deines Sohnes ins Verderben.

»Deine Entschuldigung?« rief er von neuem, dieses Mal leiser, dringender, sehr betroffen über ihre wunderbare Gelassenheit. »Du hast eine Entschuldigung.«

»Keine«, erwiderte sie.

»Unmöglich«, fiel Wilhelm ein. »Wenn du gefehlt hast, hätte ein Engel gefehlt und …« plötzlich hielt er inne.

Die Tür neben dem Sofa war geöffnet worden. Aus dem Zimmer Gräfin Agathens kam Erich heraus und auf sie zugelaufen. »Großmutter, wo ist der kleine Vogel?« fragte er und legte seine gekreuzten nackten Ärmchen auf ihren Schoß.

In ihrem Herzen erglomm ein letzter Funken der Liebe zu diesem holdseligen Kinde, sie sah ihn mitleidsvoll an; dann wies sie ihn hinweg.

Er aber forderte ungestüm: »Den kleinen Vogel! Großmutter, gib! gib!« und klammerte sich an sie.

Da schüttelte sie ihn ab, wie wenn etwas Unreines sie berührt hätte. »Geh!« befahl sie hart. Ihr Gesicht war verzerrt, ihre Hände ballten sich krampfhaft: »Geh!«

Erich, erstaunt, bestürzt, wurde über und über rot; seine Mundwinkel zogen sich herab; er sah noch von der Seite nach dem Vogelbauer und rang mit dem Weinen, in das man ihn ausbrechen hörte, sobald er das Zimmer verlassen hatte.

Maria blieb regungslos. Ihr Vetter Wilhelm beobachtete sie in unsäglicher Spannung und wartete sehnlich, daß sie sprechen und die Verleumdung zurücknehmen werde, die sie gegen sich selbst ausgestoßen hatte … Aus welchem Grunde? was bezweckte sie damit?… Die Gedanken wirbelten durcheinander in seinem brennenden Kopf, es hämmerte in seinen heißen Schläfen. Nach Kühlung ringend, trat er ans Fenster.

Lau strömte die Luft ihm entgegen und weckte ein flüsterndes Geräusch in den Wipfeln der Bäume. Schwalben umkreisten das Haus. Weiße Tauben schwangen sich von einem Pilasterkapitäl schwirrenden Fluges auf und verschwammen im Blau wie Flöckchen.

»Wilhelm!«

Er sah sich um, die Gräfin hatte seinen Namen gerufen.

»Der alte Stamm Dornach ist erloschen«, sprach sie feierlich und erbleichte unter dem Eindruck, den ihre eigenen Worte in ihr hervorriefen. »Gott schütze den jüngeren Stamm und vor allem dich, dessen Haupt.«

Er taumelte zurück: »Ich!… Ich?…«

»Du hast den nächsten Anspruch. Ist dir das neu?« fragte Wolfsberg voll Bitterkeit.

»Ich werde ihn nicht geltend machen, nie!«

»Als ob du die Wahl hättest.«

»Du wirst tun, was deine Pflicht ist und was du tun mußt«, sagte die Gräfin.

»Muß?« erwiderte er heftig, »und was wir jetzt gesprochen haben, muß weltbekannt werden – und zu der Erklärung, die hier abgegeben worden ist, muß das Gesetz seinen Segen geben –« Er hielt inne, ein erlösender Gedanke war in seinem Geiste aufgestiegen: »Das Gesetz gibt ihn nicht!… Vor dem Gesetz ist das in der Ehe geborene Kind rechtmäßig und sein Erbe unantastbar.«

Gräfin Agathe fuhr auf: »Sein Erbe?… das Gesetz?… Es gibt ein Gesetz, welches das Kind der Sünde beschirmt, wenn es die Hand ausstreckt nach fremdem Gut?«

»Ohne Sorge!« fiel Wolfsberg ein. Er war blaß geworden, Schweißtropfen perlten auf seiner Stirn. »Das Kind wird Dor-nachisches Eigentum nie berühren, es wird erzogen werden, wie es ihm zukommt, und einst, mündig geworden, seine Verzichtleistung unterschreiben mit dem Bewußtsein, es vollziehe eine leere Förmlichkeit. Dafür steh ich.«

»Und ich«, sprach Maria, und Wilhelm rief ganz außer sich:»Und du!… So gibst du deinen Namen der Lästerung preis. Hast du das auch bedacht?«

Sie hatte ein trostloses Lächeln: »Guter Wilhelm, du wirst doch mich nicht schonen wollen – eine Schuldige, die mehr als überwiesen, die geständig ist … Ich habe jahrelang Liebe und Ehrfurcht erduldet mit dem Bewußtsein meines Unwerts – – das war schwerer …«

»Worte, leere Worte«, versetzte starr, unerbittlich die Gräfin. »Wenn es dem Ewigen gefallen hätte, meinen Sohn zu erhalten, würdest du weitergelebt haben in Lüge und Trug.«

»Nicht mehr lange«, sprach Maria mit sanftem, eindringlichem Beteuern, »glaube mir. Der kleinste dem – – dem unrechtmäßigen Kinde gewährte Anspruch hätte mir die Zunge gelöst, und dann wäre ich vor Hermann gestanden, wie ich jetzt vor seiner Mutter stehe, und hätte gefragt –« ihre Stimme wurde fast unhörbar: »Darf ich dir Lebewohl sagen?«

Eine ablehnende Gebärde war die Antwort der Gräfin, Wilhelm aber ging auf Maria zu und sagte vorwurfsvoll: »Lebewohl? Du willst uns verlassen; was fällt dir ein? – Wir lieben dich – meiner Helmi bist du wie eine Tochter – bleibe bei uns, zieh zu uns in unser schlichtes Haus – bleibe bei uns!« Er klopfte auf seine Brust. »Du hast einen Freund, der dich verehrt und noch mit seinem letzten Hauche wiederholen wird: Wo die gesündigt hat, da wäre ein Engel gefallen.«

Maria drückte dankbar seine Hand. »Wir sehen uns wieder«, brachte sie mühsam hervor, »in Wolfsberg, wo mein Vater mich und das Kind aufnehmen wird. Nicht wahr, Vater?«

»Ich komme nicht mehr nach Wolfsberg«, erwiderte er rauh. In dieser Stunde verleugnete sich seine Liebe zu ihr.

»Maria!« rief Wilhelm, »wir werden jeden Tag segnen, den du uns schenkst. Bleibe bei uns!«

»Es kann nicht sein – du wirst das einsehen«, sagte sie. Ihre Wangen hatten sich langsam gefärbt und glühten nun fieberhaft.

Zum zweiten Male wandte sie sich an ihren Vater: »Nimm uns dennoch auf!«

Er zuckte mit den Achseln und antwortete: »Was bleibt mir anderes übrig?«

Kapitel 20

Kapitel 20

 

Das Stammschloß Wolfsberg war ein schwerfälliges steinernes Bauwerk mit düsteren Bogenhallen, feuchten Gängen, klafterdicken Mauern. Der Graf hatte es einst mit großem Aufwand bewohnbar machen und einen Teil davon in altertümlichem Stile einrichten lassen, während der andere allen Anforderungen entsprechen sollte, die heutzutage an den Landaufenthalt reicher und gastfreier Leute gestellt werden. Später, nach dem Tode seiner Frau, bereute er die romantische Laune, die ihn verleitet hatte, seinen Wohnsitz in einer unwirtlichen Gegend zu nehmen, in der Nachbarschaft einer Dorfbevölkerung, der alle Laster der Armut anhafteten. Er ließ Dolph und Maria monatelang allein; seine Besuche wurden immer kürzer, und nach der Verheiratung seiner Tochter kam er überhaupt nicht mehr nach Wolfsberg.

Das Schloß erhob sich auf einem stumpfen Hügel, der noch zu Anfang des Jahrhunderts dicht bewaldet gewesen war. Ein geldbedürftiger Vorfahr hatte die Bäume fällen und den Grund nicht mehr aufforsten lassen. Wasserrisse bildeten sich, die fruchtbare Erde wurde von Regengüssen fortgeschwemmt und der tonige Sandstein, der nun zutage kam, allmählich von einer kümmerlichen Vegetation bedeckt. Hie und da ragte der schiefe und narbige Stamm einer Föhre mit graugrünen Nadelbüscheln an den dürren Zweigen aus dem Gestein hervor, und wo ein Quellchen rieselte, gab es üppig wuchernde Moose. Wurzeltriebe der uralten Steineichen, die oben vor dem Pförtnerhause standen, schmückten sich mit Blättern. Kampanellen und Eriken wuchsen aus dem Schutt.

Daß die Wasseräderchen nicht ganz versiegten, dankte man dem Baumreichtum des Schloßgartens. Hinter seiner weitläufigen, vieleckigen Einfassungsmauer, die sich stellenweise bis zur halben Höhe des Hügels zog, breiteten sich herrliche Wiesen, und sogar von Blumen und von Gewächshäusern, in denen sie überwinterten, erzählte man im Dorfe. Ein Verkehr zwischen diesem und dem Schlosse bestand nicht. Unfrieden herrschte zwischen beiden, seitdem die Gemeinde die ersten Wohltaten, die der Graf ihr erwiesen, mit Undank gelohnt hatte. Was sich an Nörgeleien erdenken läßt, das tat man einander an.

Dem Grafen, in dessen Sinne die Gutsverwaltung sich dem Volke gegenüber benahm, weihte es seinen vollsten Haß, während das Andenken der verstorbenen Herrin in Ehren gehalten wurde. Ein Gemisch von Wahrheit und von böswilliger Erfindung hatte sich als Tradition in der Gegend erhalten. Niemand bezweifelte, daß die Gräfin den Mißhandlungen erlegen war, die sie von ihrem Gatten erdulden mußte, und jetzt wandelte sie als Gespenst durch die Gänge, schlich an seine Tür und lauschte. Eines Nachts hatte er ihr geisterhaftes Auge gesehen, wie es durchs Schlüsselloch spähte. Nun verfolgte ihn dieses Auge und starrte ihm entgegen aus jedem Winkel des Hauses. Kein Wunder, daß er es nicht aushielt in Wolfsberg; kein Wunder, daß seine frechen Diener sich nach und nach gebärdeten als Herren im fremden Eigentum.

Das Telegramm des Grafen, welches das Eintreffen Marias zu längerem Aufenthalte ankündigte, entthronte mit einem Schlage ein halbes Dutzend Usurpatoren und entfesselte einen Sturm von unwilligen Fragen: »Was hat sie hier zu suchen? Warum bleibt sie nicht dort, wohin sie gehört?«

Keinem willkommen, kehrte Maria mit Erich und ihrem kleinen Gefolge in die Heimat zurück.

Die windbrüchige Akazienallee, die zum Schlosse führte; das Muttergottes-Kapellchen daneben am Fuße der Anhöhe, von vier Winterlinden umgeben; den weiten Ausblick, den man im Steigen über die Felder und Hutweiden gewann, bis zu dem Steinbruche, und tief im Hintergrunde den dunkeln Nadelwald – das alles hatte sie geliebt. – Und wie kahl, welch ein Ausbund von Traurigkeit erschien es ihr jetzt!

»Wo sind denn die Wiesen, wo sind denn die Berge?« rief Erich, als er am Morgen nach der Ankunft aus dem Fenster blickte. Er ging mit Lisette in das Dorf und kehrte ganz entrüstet zurück.

»Sie sind hier sehr unartig«, erzählte er, »sie geben keine Antwort, wenn man sagt: Guten Morgen, und ein Bub hat mir«, er senkte die Stimme und flüsterte seiner Mutter ins Ohr: »die Zunge herausgestreckt.«

»Sie kennen dich noch nicht«, erwiderte sie ihm; »warte nur, bald werden sie so freundlich mit dir sein wie die Kinder in Dornach.«

Aber diese Prophezeiung erfüllte sich nicht. Im Gegenteil; als der Grund der Entfernung Marias aus Dornach bekannt wurde, ließen es auch die Erwachsenen, besonders die Weiber, an Gehässigkeiten gegen das Kind nicht fehlen. Ein Schimpfwort wurde ihm zugerufen, sooft er sich zeigte, nach dessen Bedeutung er zu Hause vergeblich fragte, und als er mit seiner Mutter davon sprach, traten Tränen in ihre Augen. Sie hatte gemeint, nach dem Scheiden von Dornach könne ihr nichts mehr weh tun, und nun gab es doch noch Stacheln, die vermochten, ihr ins Herz zu dringen.

Als sie nach Geringschätzung gedürstet, hatte sie nicht bedacht, daß ihr schuldloses Kind sich mit ihr darein werde teilen müssen.

Sie begann zu werben um die Gunst der Elenden und Mitleidlosen. Sie brachte Hilfe und ließ sich nicht abschrecken durch das Mißtrauen und durch den kaum verhehlten Hohn, mit dem ihre Gaben aufgenommen wurden. Wenn Erich über die Bauernkinder klagte, wies sie ihn ab: »Sie können nicht dafür, bedauere sie; niemand sagt ihnen: seid gut.«

»Wär auch schad drum, mit denen müßt man eine andere Sprache reden!« fiel Lisette zornschnaubend ein. – Sie hätte so gern jede Beleidigung, die Maria oder das Kind erfuhren, mit Feuer und Schwert gerächt. – Ihres Respekts vor dem Grafen Wolfsberg entledigte sie sich nach und nach vollständig und äußerte ungescheut, wie es sie empöre, daß er nicht kommt, sich seiner Tochter anzunehmen und »dem schlechten Beamten- und übrigen Volk den Standpunkt klarzumachen – mit der Hundspeitsche!« schrie sie und schlug auf den Tisch.

Es war ihr unfaßbar, daß die flehentlichen Bitten Wilhelms und seiner Frau, Maria besuchen zu dürfen, von ihr unerhört blieben, und sie wurde nicht müde, ihren Unwillen darüber kundzutun.

»Glaube mir«, erhielt sie endlich zur Antwort, »es würde mich verwöhnen, mich weich machen.« Maria preßte die flachen Hände an ihr Gesicht, dann hob sie den Kopf in ihrer alten stolzen Weise. »Ich aber muß standhaft bleiben.«

Sie bewahrte einen unerschütterlichen Gleichmut; sie schien blind und taub, wenn sie herausfordernden Mienen begegnete, wenn sich bei ihrem Anblick ein beleidigendes Zischeln erhob.

Eines Tages im Spätherbste führte ihr Weg sie zu einer einzeln stehenden Hütte, deren uralte Bewohnerin von aller Not befreit war seit der Anwesenheit der Gräfin in Wolfsberg. Gekrümmt wie ein Bogen saß sie auf der Bank an ihrer Tür und lud Maria ein, neben ihr Platz zu nehmen. Sie begann damit, sich zu beklagen, daß die Kleidungsstücke, die sie aus dem Schloß erhalten hatte, nicht ganz nach ihrem Geschmack ausgefallen waren, sagte aber zuletzt doch einige Worte des Dankes.

Auf ihren Stock gestützt, blickte sie zu Maria hinauf, die, von Abscheu ergriffen vor der affenartigen Häßlichkeit der Alten, unwillkürlich die Augen schloß.

»Ja, was Sie jetzt anders geworden sind, daß Sie sich um uns kümmern«, sprach die Greisin; »wie Sie noch zu Haus waren, ist Ihnen so was nicht eingfallen …« Sie lächelte schadenfroh. »Na, wir werden Ihnen schon losbeten, meine Tochter und ich; den anderen können Sie schenken, soviel Sie wollen, die beten doch nicht für Sie … die schimpfen nur … Was die aber selber tun, das sollen Sie von mir hören, hochgräfliche Gnaden, damit, wenn sich einer getraut, Ihnen etwas ins Gesicht zu sagen, Sie ihm’s tüchtig zurückgeben können.«

Sie erzählte. Sie lieferte die Geheimnisse der Bewohner ihres Dorfes aus. Es war eine haarsträubende Sittengeschichte, und die alte Sibylle erfand nicht. Ihre Enthüllungen trugen das Gepräge der Wahrheit, einer Wahrheit freilich, die Schritt hielt mit den dunkelsten und ausschweifendsten Phantasiegebilden.

Maria unterbrach das Weib im schönsten Fluß ihrer Rede und erhob sich. – Welche Greuel, dachte sie; nein, so hättet ihr nicht werden müssen, ihr Bejammernswerten! Ihr hättet nicht in diesen Sumpf zu geraten brauchen, in dem ihr jetzt versinkt. Nur wenige Einsichtige und Barmherzige unter denen, die durch Jahrhunderte unumschränkt über euch geherrscht, und sie würden euch zur Erkenntnis des Guten geführt haben. Sie besaßen die Macht, warum nicht auch die Gerechtigkeit, die Uneigennützigkeit, das liebreiche Herz?

Als ein Kind ihres Stammes fühlte Maria sich mitschuldig an dem himmelschreienden Versäumnis und war doch die letzte, die Ersatz dafür zu leisten vermochte. Sie konnte schenken – raten, belehren, bessernd einwirken konnte sie, die Bemakelte, nicht. Um die Menschen zu ihrem wahren Heile zu führen, bedarf es einer reinen Hand.

Sie eilte hinweg wie gejagt und durchwachte die Nacht ruhelos und fiebernd. In dem großen, kapellenartig gewölbten Schlafgemach, das sie mit Erich bewohnte, hingen zwei Meisterwerke Benczurs, die Bilder Hermanns und seines Sohnes. Gräfin Agathe hatte sie für ihre Schwiegertochter malen lassen, und sie waren das erste gewesen, das Wilhelm seiner verehrten Base nachzuschicken befahl aus Dornach. Die geliebten Gestalten schienen lebendig aus ihren Rahmen zu treten; ihre treuen, freundlichen Augen die Augen Marias zu suchen und ihr zu folgen, wohin sie sich wandte. Sie sank an ihrem Bette zusammen; ihre ganze Seele flammte auf in der verzehrenden, ewig empfundenen, ewig vergeblichen Sehnsucht all der Unglücklichen, die ihr Liebstes überleben: Einmal nur noch deine Stimme hören, einen Kuß auf deine Lippen drücken, nur einmal noch.

Oh, dieses immer geforderte, nie erlangte, nie verschmerzte eine letzte Mal!

Alles still im Haus und auch draußen alles still. Ausnahmsweise hatte der Sturm seine Flügel gefaltet und sein wildes Lied verstummen lassen. An dem Geiste Marias zogen die stillen Tage ihres ersten, noch unbewußten Glückes vorbei. Sie versenkte sich in die Erinnerung an jede im Verkehr mit ihrem Gatten, ihrem Freunde, verlebte Stunde.

Er hatte sein bei der Verlobung gegebenes Wort treulich gehalten, was sie für ihn tat, immer als Gnade angesehen, was er für sie tun durfte, als sein bestes Glück. Und seine Art und Weise gegen sie war nur der höchste Grad dessen, was er allen Menschen zuteil werden ließ. Sie erhob ihre Augen und ihre Hände zu seinem Bilde und tat einen stummen Schwur: Die Welt soll dich nicht ganz verloren haben, deine Güte, deine Langmut sollen fortleben; ich will dienen um das Recht, sie auszuüben in deinem Sinn; ich will mir das Vertrauen der Leidenden und Irrenden verdienen.

In diesem Jahre kam der Winter besonders früh und streng mit seinen kurzen Tagen, seinem dämmerigen Lichte, mit Eis und Schnee. Wochenlang von dem Verkehr mit der Außenwelt abgeschnitten, suchte Maria, wenn ein Postpaket endlich ins Schloß befördert werden konnte, immer zuerst nach Briefen von ihrem Vater – und nicht selten umsonst. Fürstin Alma, Carla und Betty schrieben voll Zärtlichkeit; Wilhelms wiederolten immer inniger ihre stehende Bitte, sprachen immer wärmer ihre Sehnsucht nach einem Wiedersehen aus. Tante Dolph sandte unpassend schneidige Berichte über das Treiben in der Gesellschaft, während Wolfsbergs Briefe so unpersönlich als möglich nur Fernliegendes berührten.

Am Abend, wenn Sturm und Frost Maria im Hause ge-fangenhielten, setzte sie sich ans Klavier und spielte, und sehr oft kam Erich, rückte einen Sessel herbei, stieg hinauf und hörte unendlich aufmerksam zu. Das Kind schien eine Ahnung zu haben von der Schönheit der Phantasien, die unter den Fingern seiner Mutter hervorquollen. Sein dunkler, leuchtender Blick ruhte mit ehrfurchtsvollem Staunen auf ihr und senkte sich fast scheu, wenn sie zu ihm hinsah.

Einmal plötzlich hielt sie inne, nahm ihn auf ihren Schoß und drückte ihn an sich. Er streichelte und küßte ihre Wangen, wollte sprechen, würgte aber die Frage, die ihm schon auf den Lippen schwebte, wieder hinunter.

»Was hast du? Was willst du?« sprach Maria.

»Ich möcht so gern … so gern möcht ich …« er stockte wieder und fuhr nach einer Weile zögernd fort: »Ich weiß, Mutter, wie man nach Dornach geht. Vom Schlafzimmer sieht man den Weg, Lisette hat mir ihn gezeigt … Sie hat gesagt, das arme Dornach ist ganz verlassen und wird noch lang verlassen bleiben. Ist es weit nach Dornach, liebe Mutter?«

Sie nickte schweigend: »Ja.«

»Ich möcht aber doch nach Dornach«, begann er wieder, entschlossener werdend. »Hermann wird mir von den Löwen erzählen. Dornach ist nicht so weit wie die Löwen.«

»Doch!« rief sie mit schneidendem Schmerzensklang. »Dornach ist weiter als alles, ist unerreichbar!«

Am folgenden Morgen, da Lisette beim Eintreten in das Zimmer der Gebieterin ausrief: »Wie blaß du bist, wie übel du aussiehst!« mußte Maria eingestehen, daß sie sich müde und unwohl fühlte.

Lisette bemerkte nur: »Es muß arg sein, wenn du’s selber sagst«, aber sie setzte etwas ins Werk, was sie schon seit längerer Zeit geplant hatte, und vertraute im Laufe des Tages dem Stubenmädchen, daß sie heute »einen Coup« ausgeführt, einen ausgezeichneten »Coup«.

Die Kränkung Marias über das Wegbleiben des Grafen, die wenigstens sollte ein Ende nehmen. Lisette wußte recht gut, was sie zu tun hatte, um ihn ins Bockshorn zu jagen.

In der Stunde, in der Maria ihr schweres Geständnis abgelegt, hatte ihrem Vater ein schreckliches Bild von dessen möglichen Folgen vorgeschwebt. Der Name seiner Tochter der Schmach preisgegeben, nie wieder genannt, ohne die Erinnerung an einen Skandal zu wecken … Und er mit hineingerissen in die Schande, seine glänzende Stellung vernichtet.

Aber siehe! als er sich anschickte, die große Welt als ein Ausgestoßener zu fliehen, kam sie ihm entgegen, huldvoller denn je. Seltsamerweise hatte Maria die öffentliche Meinung gewonnen durch die heroische Geringschätzung, die sie ihr bewies. Die große Welt verzieh, statt zu verdammen, sie tat ein übriges – sie bewunderte. Tonangebende Damen erklärten, Gräfin Dornach werde stets in ihrem Hause willkommen sein.

»Was der Teufel, willkommen!« rief Betty Wonsheim aus, »kniend würde ich sie auf meiner Schwelle empfangen.«

Und wie stimmte Carla ihr bei! und welches unaussprechliche Mitleid erfüllte die Seele Fürstin Almas und wagte nicht, sich laut zu äußern, aus Furcht vor dem Schein einer begreiflichen Sympathie mit der Schuldigen und mit der Schuld. Fee, die sich einen famosen Reisewagen hatte bauen lassen – Gott weiß, wo, Gott weiß, wann man ihn brauchen wird! –, konnte es nicht erwarten, ihn zu probieren. Eine Fahrt über Land, mit eigenen Pferden, mit vielmaligem Einkehren und wunderbarem Schlußeffekt: plötzlichem Sturz in die Arme ihrer überraschten, ihrer liebsten, ihrer angebetenen Freundin – das wäre etwas gewesen, recht nach dem Herzen der kleinen Fee.

Die strengsten Richter fand Maria in ihrer Familie.

»Bei mir hat sie abgewirtschaftet«, sagte Gräfin Dolph geradeheraus zu Fräulein Nullinger.

Die Gesellschafterin erwiderte nicht ohne geistlichen Hochmut: »Darüber wird sie sich trösten – im Himmel, der die große Büßerin erwartet.«

»Was Sie sagen – der Himmel?… Kann sein übrigens. Es gibt ja einen für die Einfältigen. Sie hat eine Dummheit gemacht, um einen Fehler zu reparieren; das mag dort Anerkennung finden.«

Das Fräulein spielte alle Farben von Dunkelrot bis zu Violett: »Mein ganzes Innere ist empört …«

»Gegen mich?« fragte Gräfin Dolph mit souveränem Lächeln. »Oh, wie grausam! – nein, ich bitte Sie, kein Wort mehr, haben Sie Erbarmen, ich weiß ja, daß meine Empfindungen nur Hunde sind gegen die Ihrigen.«

So scharf ihr eigenes Urteil über Maria war, die Härte ihres Bruders suchte sie zu mildern, weil er darunter litt. »Was nimmst du ihr im Grunde übel?« sagte sie einmal – »daß dein Blut und das Blut ihrer Mutter in ihren Adern rinnt. Nun, Verehrtester, ich kann den Gebrauch, den sie davon gemacht, nicht unbescheiden finden. Sie hat geheiratet, überlege nur, mit der Neigung zu Tessin im Herzen, sie hat – ich kenne sie – jeden Gedanken an ihn von sich gewiesen. Aber die abgewiesenen Erinnerungen und Gefühle, das ist bei Leuten eueres Schlages wie zurückgeschobener Sand oder Schnee; es häuft, es häuft sich, es wird ein Berg und stürzt euch bei der ersten Gelegenheit über dem Kopf zusammen.«

»Diese Frau«, murmelte Wolfsberg, »und – dieser Mann!«

Gräfin Dolph verzog den Mund mit unbeschreiblichem Spotte:

»Soll ich alte Jungfer dir sagen, daß die Krone der Liebe nicht wie die von Mazedonien ›dem Würdigsten‹ bestimmt ist? – Das wäre eine langweilige Welt, in der nur Tugendhelden Eroberungen machen würden. Ich bitte dich, hör auf dich zu quälen. Ewig zürnen kannst du nicht, und einen Groll, den man endlich doch fahren lassen muß, soll man je eher je lieber aufgeben.«

Die Zeit verfloß, die ersten Frühlingstage kamen, der Verkehr zwischen Vater und Tochter beschränkte sich immer noch auf einen spärlichen Briefwechsel.

Da erschien eines Vormittags Gräfin Dolph im Arbeitszimmer ihres Bruders. Ihr linkes Auge war zusammengezogen und zwinkerte trüb und matt. Sie hatte ihre März-Rheumatismen, die ganz besonders bösen, in der Stadt herumkutschiert und kam von einem Abschiedsbesuch bei Wonsheims. Es ging nicht gut in dem Hause. Auf den dringenden Rat ihrer Ärzte verreisten die zwei Ehepaare für längere Zeit. Clemens brauchte Zerstreuung um jeden Preis. Der Arme war seit dem entsetzlichen Unglück, das er verschuldet, als er sinn- und gedankenlos den Ehrgeiz eines Kindes zum unseligsten Wagnis aufgestachelt, in ernster Gefahr, gemütskrank zu werden.

»Er denkt natürlich nicht daran, Maria vor Augen zu treten, die beiden Frauen aber möchten unbeschreiblich gern Abschied von ihr nehmen. Geht das, was meinst du?« fragte die Gräfin.

»Ich weiß nicht«, gab er zur Antwort.

»Sie ist etwas unwohl.«

»Wer?«

»Nun, Maria.«

»Hat sie geschrieben?«

»Nicht sie. Lisette, der alte Angstwurm, hat hinter ihrem Rücken einen Brief an Doktor Hofer ergehen lassen, und der ist sofort nach Wolfsberg abgereist.«

Der Graf saß an seinem Schreibtisch, hielt eine Feder in der Hand und tippte heftig mit der Spitze auf ein bereits ausgefertigtes Schriftstück: »Was das für Übertreibungen sind!«

»Er hat sich nicht lange aufgehalten, war heute schon bei mir und voll Ingrimm über die schlechten Verkehrsmittel bei uns zulande.« Sie rückte näher an den Kamin, in dem ein Holzfeuer brannte. »Drei Patienten haben mit dem Sterben auf ihn gewartet; sobald sie expediert sind, kommt er zu dir.«

»Er hätte gleich kommen sollen«, versetzte Wolfsberg ungeduldig. »Warum bin ich der letzte, der von alledem etwas erfährt?«

»Damit du dir nicht unnötige Sorge machst … ganz unnötige! Es ist nichts von Bedeutung.« Die Hälfte von dem, was der Arzt ihr gesagt, hatte sie vergessen, vergessen wollen, und von der anderen Hälfte verschwieg sie ihrem Bruder das meiste. Ihre Schmerzen waren fast unleidlich geworden. »Leb jetzt wohl«, sprach sie, »ich muß anticipando ausruhen, habe Gesellschaft heute abend, die ganze Menagerie, wie Madame de – de, wie hieß sie nur? sage, nun, die im 18. Jahrhundert, als Paris noch an der Spitze der Kultur stand und das Kaffeehaus Europas war – die … ich hab vergessen, wie sie hieß, mein Gedächtnis geht flöten. Auch eines der vielen Anzeichen des hereinbrechenden Greisentums. – Ja, mein Lieber, halte dich an die Nachkommen, die Zeitgenossen sterben einem weg. Du kannst über Nacht ein Bruder ohne Schwester sein.«

Sie fand für gut, das zu sagen, wäre jedoch sehr erstaunt gewesen, wenn man ihr geglaubt hätte.

Als sie fort war, fuhr Wolfsberg ins Ministerium, präsidierte einer Sitzung, empfing Besuche – alles wie immer. Und dabei hatte er unaufhörlich die Empfindung eines Zusammenpressens der Kehle. Gegen Abend kam er heim, begann rastlos auf und ab zu wandern in seinem Zimmer und horchte jedem Glockenzeichen. Eine schwere, alt machende Stunde verschlich. Da endlich wurde die Tür vor dem Herrn Professor aufgerissen.

Er war ein Mann in den Fünfzigen, kräftig und untersetzt, mit ansehnlicher Glatze, aber noch dunklen Haaren. Der treuherzige Ausdruck seines schönen, glattrasierten Gesichtes, sein gerades Wesen gewannen ihm auf den ersten Blick ein Vertrauen, das er durchs Leben hindurch zu rechtfertigen wußte.

Der Graf ging ihm entgegen und reichte ihm beide Hände: »Lieber Herr Professor, Sie Getreuer – Sie waren dort – ich danke Ihnen.«

»Nix z’danken«, erwiderte Hofer trocken – er bediente sich manchmal durchaus ernsthaft des Wiener Dialekts – und seine kleinen braunen Augen fest auf Wolfsberg richtend, fuhr er fort: »War meine verdammte Schuldigkeit, mich nach ihr umzusehen, wäre – mit Verlaub – auch die Ihre, Herr Graf. Sie und ich, wir kennen sie gleich lang, und wir könnten es wissen, daß die Frau einige Aufmerksamkeit verdient.«

Wolfsberg wischte sich die Stirn. »Es hat sich viel verändert, Freund. – Zur Sache! Wie geht es ihr?« Er lehnte mit dem Rücken am Fenster, der Arzt stand vor ihm.

»Merkwürdige Frage«, sagte er. »Nein, daß auch für Sie die alte Regel paßt: Willst du Genaues erfahren über deine Allernächsten, so frage nur bei fremden Leuten an. Hm, hm! – Hat zuviel ausgestanden, die Frau. Wissen Sie was, Herr Graf? Hören Sie jetzt auf zu schmollen, es könnte Sie sonst reuen«, er klopfte ihm auf den Arm.

»Doktor, Herr Professor … mich reuen … Sie sehen zu schwarz … Ihr einziger Fehler.«

»Ich sehe, was Sie sehen werden. Reisen Sie morgen, machen S’ a bisserl an Ordnung auf Ihrem Rittergschloß, bleiben Sie aber nicht lang und kommen Sie dann nicht zu bald wieder hin. Auch Ihre Besuche würden die Kranke …«

»Die Kranke?«

»… aufregen, und jede, selbst die geringste Gemütsbewegung kann von den schlimmsten Folgen für sie sein. Es ist ja ganz gut, sie so hinduseln zu lassen und zu beschränken auf den Umgang mit ihrem Kind. Wenn sie recht haushält mit ihren Kräften, wird es vielleicht möglich werden, sie im Herbst nach dem Süden zu bringen. Aber«, er erhob drohend den Zeigefinger, »das Bewußtsein muß sie haben, daß ihr niemand etwas nachträgt. Ihr gebührt Bewunderung. Wer die Frau kränkt, begeht eine Todsünde. Das sage ich Ihnen.«

Eine halbe Stunde später kündigte der Graf seiner Schwester an, daß er mit dem Nachtzuge nach Wolfsberg abreise, und ließ packen. Das Essen, das ihm in seinem Zimmer serviert wurde, blieb unberührt. Er schickte einige Zeilen an seine Behörde und warf die Antwort ungelesen auf den Tisch. In seinem Sessel zurückgelehnt, starrte er vor sich hin. Da, auf dieser Stelle hatte sie gekniet, den Kopf an seinem Herzen … Plötzlich, unwillkürlich falteten sich seine Hände. Der Mann, dem der Glaube nur als ein Kappzaum galt für die Menge und als unentbehrlicher Trost für die Enterbten dieser Erde, betete zu dem Gott der Liebe und des Erbarmens, dessen er in Jahren nicht gedacht. Erhalte sie mir, schrie er zu ihm empor. Das war alles, was er zu sagen wußte in seiner Pein – Anfang und Ende seiner Beredsamkeit: Allmächtiger, erhalte sie mir!

Am nächsten Tage traf er in Wolfsberg vor dem Telegramm ein, das ihn ankündigen sollte. Die Überraschung der Dienerschaft, das Geschrei Lisettens, die eben in den Hof trat, als er hereinfuhr, belehrten ihn darüber.

»Der Herr Graf! das ist aber etwas!« rief die Alte, tat aufs äußerste verwundert und beantwortete seine Frage nach Maria mit den hastig gesprochenen Worten: »Bei den Pinien … im Garten … ich muß nur bitten … ich will sie vorbereiten …«

Er hörte sie nicht an. Während im Schloß und im Beamtenhaus alles durcheinanderrannte und die feindlichsten Elemente sympathisch zusammentrafen in dem Verdruß über seine Ankunft, schritt er eilig der großen Baumgruppe am südlichen Ende des Gartens zu. – Wie war alles verwildert! Die Wege grasüberwuchert, die Wiesen von Unkraut zerfressen, die Gebüsche unbeschnitten; ihre kahlen, schwachen Stämmchen in die Höhe gewachsen, lauter Lichtungen statt der ehemaligen schattigen Gänge. Von weitem schon erblickte er seine Tochter. Sie saß auf einer Moosbank unter den mächtigen Stämmen – durchsichtig blaß, schmal in ihrem schwarzen, eng anliegenden Kleide – und sah dem Kinde zu, das sich eifrig mit dem Bau einer kleinen Grotte beschäftigte. Ihr Vater war schon nahe bei ihr, als sie seine Schritte knistern hörte auf dem mit dichten Schichten abgefallener Nadeln bedeckten Grunde und den Kopf erhob.

»Maria!« rief er aus, und Tränen traten ihm in die Augen.

Sie stand auf, wollte sprechen, auf ihn zueilen, sank aber stumm zurück mit einem unendlich dankbaren Lächeln.

Er neigte sich zu ihr herab und drückte einen langen Kuß auf ihre Stirn. Sie flüsterte etwas Unverständliches, ihre Nasenflügel bebten, ihre Lippen waren halb geöffnet, sie zogen die Luft hörbar atmend ein.

Wolfsberg setzte sich zu ihr. »Hätte ich doch gewußt …« sagte er, »warum nicht ein Wort schreiben … Wie unrecht.« Von Rührung übermannt, zog er ihre Hände an seinen Mund und küßte sie und sprach leise: »Niemand liebt dich, wie ich dich liebe, und niemand hat dir so weh getan.«

Alles war ihm Vorwurf, ihr abgehärmtes Aussehen, ihr verwahrloster Wohnort, das Fremdtun Erichs, der sein Spiel unterbrochen hatte und ihn ernst und fragend ansah, ohne ihn zu begrüßen.

Auf einmal blitzte es freudig auf in den Augen des Knäbleins. Er trat an seine Mutter heran. »Schau dorthin«, sagte er, legte sein Händchen flach an ihre Wange und zwang sie, den Kopf zu wenden. Die Sonne ging unter; ihre letzten waagerechten Strahlen schimmerten durch die Stämme der Bäume, das Angesicht des Kindes flammte in ihrem Widerschein; goldene Lichter spielten auf seinen dunkeln, leicht gelockten Haaren.

Wolfsberg betrachtete ihn mit schmerzlicher Bewunderung. »Nun, was ist mit dir?« begann er. »Du siehst mich ja gar nicht an. Kennst du mich nicht mehr?«

»O ja – o ja!« gab Erich zur Antwort, senkte den Kopf und wandte seine ganze Aufmerksamkeit einem Käfer zu, der an einem Grashalm emporzuklimmen suchte.

Auch Maria wagte nicht aufzublicken. Die Erinnerung an den Abscheu, mit dem Gräfin Agathe das Kind von sich gestoßen hatte, durchzitterte sie, und sie murmelte: »Verzeih ihm, er ist so scheu geworden in der Einsamkeit.«

»Wir wollen ihn schon zutraulich machen«, sagte ihr Vater und streckte dem Knäblein die Rechte entgegen. »Schlag ein, kleiner Wolfsberg, schlag ein, mein Enkel. Auf gute Freundschaft!«

Der Graf blieb einige Zeit daheim, und alle, die in seinem Dienste standen, erfuhren, wie begründet ihr Schrecken über seine Ankunft gewesen war. Er ging streng ins Gericht; seinen unverschämtesten Ausbeutern, seinen aufgeblasensten Würdenträgern brach der Angstschweiß aus, als er, ohne die Stimme zu erheben, mit geschlossenen Zähnen zu ihnen sprach: »Weh euch, wenn ich bei meiner Wiederkehr nicht jedes Versäumnis eingebracht finde, hundertfach.«

Seine Abreise verschob er von Tag zu Tag. Er hatte Erich liebgewonnen; er beschäftigte sich mehr mit ihm, als er mit Maria getan, da sie noch in so zartem Alter stand. Halbheit war seine Sache nicht. Er wollte den Enkel, den er anerkannt, von aller Welt anerkannt sehen und ihn für eine glänzende Zukunft erziehen. Als er jedoch seine ehrgeizigen Pläne vor Maria entwickelte, traf er auf Widerstand. Sie strebte für Erich das Gegenteil von allem an, was ihrem Vater wünschenswert erschien; ja, sie forderte von ihm das feierliche Versprechen, daß ihr die entscheidende Verfügung über ihr Kind bewahrt bleibe im Leben und im Tode.

Zweifelnd und erschrocken sah er sie an, aber eine andere Antwort als »ja« hatte er auf einen von ihr geäußerten Wunsch nicht mehr.

Ihre unerschütterliche Gelassenheit bewegte ihn in allen Seelentiefen. Es schien ihm die Gelassenheit einer halb Abgeschiedenen, die nicht mehr wünscht noch hofft. Ihre Mutter, in ihrem letzten Lebensjahre, hatte in ruhigen Stunden denselben Ausdruck stiller Trostlosigkeit gehabt. Maria war jetzt das vollkommene Ebenbild der unglücklichen Frau, und Wolfsberg schauerte manchmal zusammen, wenn sie ihm unerwartet entgegentrat.

Am Abend vor seiner Abreise waren sie aus dem Salon, in dem der Tee genommen worden, in den anstoßenden Erker getreten. Aus seinen hohen schmalen Fenstern sah man über die Bäume des Gartens, über das Dorf hinweg auf eine von Trümmern, die aus dem Steinbruch herabgerollt, teilweise bedeckte Hutweide. Die Dämmerung war eingebrochen, und in ihrem täuschenden Scheine meinte man einen ungeheuren Friedhof vor sich zu sehen. Wolfsberg blickte lange gedankenvoll hinaus. Ein letztesmal suchte er Maria zu überreden, ihren düstern Aufenthalt mit dem auf einem seiner Güter in Tirol oder in Österreich zu vertauschen: »Wo du mir leichter erreichbar wärest und auch Tante Dolph, der die Reise hierher zu beschwerlich ist, dich besuchen könnte. Und die anderen, die vielen, die dich lieben. Was mir nur die kleine Fee alles aufgetragen hat! Sie droht, wenn du ihr durchaus nicht erlaubst zu kommen, es ohne deine Erlaubnis zu tun.«

»Gib es nicht zu!« rief Maria flehend aus. Eine tiefe Röte spielte auf ihren Wangen. »Ich kann niemanden sehen, lieber Vater. Laß mich hier vergraben, tot für alle sein, nur so ertrage ich das Leben.«

Zur Abfahrt Wolfsbergs versammelten sich seine Angestellten mit ihren nicht immer »besseren« Hälften im Schloßhofe. Auch der Vorsteher der Gemeinde war da. Der Graf hatte derselben einen Teil ihrer Schulden abgenommen, gegen seine Überzeugung, aber auf Marias Fürbitte. – Er kam mit ihr und mit Erich die Treppe herab, beantwortete die devoten Kratzfüße und Knickse der seiner Harrenden mit einer ablehnenden Gebärde, umarmte seine Tochter, küßte und segnete seinen Enkel und sprang in den Wagen.

Maria blieb regungslos stehen und sah ihm nach. Plötzlich bemerkte sie, daß auch die übrigen sich nicht vom Flecke gerührt, sondern in untertäniger Haltung erwarteten, von ihr entlassen zu werden. – Die freche Feindseligkeit hatte sich in eine kriechende verwandelt.

 

Ein Jahr nach dem Tode Hermanns schrieb Tessin an Maria. Seine Versetzung auf einen höheren, wieder überseeischen Posten sollte noch im Laufe des Jahres erfolgen; er kam, bevor er ihn antrat, für einige Zeit in die Heimat zurück. In bewegten, tiefe, unwandelbare Liebe atmenden Zeilen bat er um die Gunst eines Wiedersehens und knüpfte daran eine Hoffnung, die vielleicht zu kühn war, um in Erfüllung zu gehen. Doch lebe er von ihr, und auf sie verzichten müssen wäre sein Untergang.

Maria las mit Schrecken und Grauen. So war die Vergangenheit nicht begraben? So streckte sich die Hand des Urhebers ihrer unsühnbaren Schuld noch immer nach ihr aus? Die Stunde der Erniedrigung stieg wieder auf vor ihrem geistigen Auge – unfaßbar, ein höllisches Rätsel … Ihr Herz stand still, ihre Zähne schlugen zusammen … Mit dem Aufgebot aller ihrer Kraft trat sie zum Schreibtisch und richtete hastig einige Zeilen an ihren Vater:

 

»Antworte für mich – du weißt alles … Hilf, rette mich vor diesem Menschen, schütze mich vor der Gefahr, jemals wieder von ihm zu hören.«

 

Sie schloß den Brief Tessins in den ihren und schickte damit einen Reitenden, dem sie selbst die größte Eile auftrug, nach der Post.

In Gedanken begleitete sie ihren Boten. Jetzt konnte er beim Steinbruch sein und jetzt an der Brücke, und wenn er tüchtig jagte, kam er noch zurecht zur Abfahrt des Postkarrens. – Und der brauchte dann vier Stunden, bis er zur Eisenbahnstation gelangte. Vier volle Stunden … Wenn nur die vorüber wären, sie würde leichter atmen.

Jetzt also, dachte sie, ist der Brief auf der Bahn, als die Schloßuhr zehn schlug.

Sie hatte die Leute zur Ruhe geschickt und ging nun rastlos in ihrem Schlafzimmer auf und ab, bis sie endlich todmüde auf ihr Lager sank, neben dem das kleine Bett Erichs stand. Er schlief fest und sah gescheit und lieblich aus. Seine Mutter schöpfte Mut und Kraft aus seinem Anblick, ihre Besorgnisse schienen ihr mit einem Male töricht. Was lag daran, ob die Antwort auf den Brief, der ihr zugeflogen war wie ein Pfeil aus dem Busche, einen Tag früher oder später kam? – – Was lag daran? – Sie sprach sich Vernunft zu; sie schalt die Schwäche des Willens, der nichts vermochte über das Treiben aufgeregter Nerven, über das tolle Pochen des Herzens. Gegen Morgen fiel sie in leisen, durch wirre Träume gestörten Schlaf und erwachte, in kalten Schweiß gebadet. Sie stand mühsam auf und schickte Erich mit seiner Wärterin in den Garten. Zu Mittag kam er wie gewöhnlich zur Unterrichtsstunde in das Erkerzimmer, wo Maria ihn erwartete.

»Mutter«, rief er, »es ist jemand angekommen, ein Herr, mit den Schimmeln vom Postmeister, und der eine hinkt.«

Sie war aufgefahren, hatte einen raschen Blick nach der Tür geworfen, als ob sie entfliehen wollte, und war dann auf ihren Platz zurückgesunken. »Jemand angekommen«, wiederholte sie. »Weißt du wer?«

Nein, er wußte es nicht.

Aber sie wußte es … Tessin hatte ihre Antwort nicht abgewartet – er war gekommen.

Die Tür, die vom Gang in das Nebenzimmer führte, wurde aufgerissen. Man vernahm Lisettens kreischenden Ausruf: »Jesus! Herr Jesus!« – »Ich darf niemanden vorlassen«, sprach ein Diener laut.

»Mutter«, rief Erich, »warum schreien sie so da draußen?« Er breitete seine Arme aus und stellte sich schützend vor sie hin:

»Fürchte dich nicht!«

Und jetzt polterte sehr aufgeregt Lisette herein: »Nein, denk dir nur … Graf Tessin nennt er sich, und ich schwöre darauf, es ist derselbe … Aber was ist dir denn?…«

Maria war aufgestanden; ihr Gesicht hatte einen fremden Ausdruck angenommen. Finster und kalt sah sie den eintretenden Tessin an, der bei ihrem Anblick totenblaß wurde.

Erich stürzte ihm entgegen: »Fort, du, fort, wir wollen dich nicht …« und drohend erhob er die Faust.

Die Lippen Tessins verzogen sich; er lächelte das Kind an mit einem Gemisch von Verlegenheit und Spott; er wünschte sich weit weg von hier, er verfluchte seine Ungeduld.

In liebevoll gehegter Erinnerung hatte er Maria immer nur so vor sich gesehen, wie sie war in der süßesten und siegreichsten Stunde seines Lebens. Er hatte die schönste Frau in Gedanken tausend- und tausendmal in seinen Armen gehalten. Das wahnsinnige Verlangen nach ihr, das ihn oft in der Fremde ergriffen, wuchs von Minute zu Minute, seitdem er den Boden der Heimat betreten hatte. Er zweifelte nicht – sie liebte ihn noch; sie hatte immer nur ihn geliebt; sie wartete seiner mit ebender Sehnsucht, mit der er ihr entgegengestrebt – –

Und nun war’s erreicht; er stand am Ziel, und was es ihm bot, war eine grausame Enttäuschung, die zu verbergen ihm die Fassung fehlte. Langsam trat er näher und verbeugte sich stumm.

Maria winkte Lisetten, den Knaben fortzuführen. Er sträubte sich, mußte aber gehorchen. Am Ausgange noch wandte er sich um und warf einen Blick voll Trotz und Mißtrauen auf Tessin.

Kapitel 21

Kapitel 21

 

Maria sah dem Kinde nach. Funken flimmerten vor ihren Augen; ihr war, als ob die Wand, an der sie lehnte, schwankte; als ob die kleinen runden Scheiben der Erkerfenster wie Kreisel wirbelten, platzten wie Seifenblasen … Sie biß sich in die Lippen, sie wollte standhaft bleiben, sie wollte die Herrschaft behaupten über ihre schwindenden Sinne. – Einmal wieder rief ihr die Erinnerung das alte Zauberwort zurück: Nur ruhig!

»Wie dürfen Sie es wagen?« stieß sie plötzlich hervor. »Was wollen Sie?… Warum haben Sie meine Antwort nicht abgewartet?«

»Welche Frage …« erwiderte er, betroffen über diesen unerwarteten Empfang. »Aus Ungeduld, aus Sehnsucht.«

»Nach dem, was Sie hier erwartet?… Oh!«

»Was mich hier erwartet? Sie meinen den Schmerz, Sie leidend zu finden« – und furchtbar verändert, setzte er in Gedanken hinzu.

Die widersprechendsten Gefühle kämpften in ihm, Mitleid, Groll, Trotz und Wehmut. Ihm schien jede Gunst erreichbar und jedes Glück – sollte er das seine nun suchen im Besitz einer verwelkten Frau?… Aber – es war doch sie! sie, die ihm die heftigste Leidenschaft seines Lebens eingeflößt hatte … Er fühlte von neuem ihren bestrickenden Einfluß und überließ sich ihm. Das Bewußtsein eines begangenen Frevels an diesem armen Weibe erwachte und zugleich – nur Lügner behaupten, daß er großmütiger Regungen unfähig sei – der Vorsatz, seine Schuld wiedergutzumachen.

Noch immer hatte er dagestanden, den Hut in der Hand, und nahm jetzt unaufgefordert Platz, Maria gegenüber. Allmählich fand er die Züge, die ihm so teuer gewesen, in diesem bleichen Gesichte wieder. Es trug die Spuren von schweren Seelenqualen, die um ihn erduldet worden … ein nicht geringes Genüge für seine Eitelkeit. – Tessin sprach einige Worte der Rührung und des Bedauerns; sich selbst jedoch sagte er: Sie ist jung, sie wird genesen, sie wird wieder aufblühen in meinen Armen; ich will der Gott sein, unter dessen Hauch ihre Wangen sich von neuem färben, ihre Lippen lächeln werden, der sie auferweckt und zurückführt zu allen Daseinswonnen.

Er begann ihr seine unveränderte Liebe zu beteuern; er erzählte von der Kunst, die er angewendet hatte, um sich immer in Kenntnis von allem zu erhalten, was sie betraf. So wußte er denn auch von ihrer »hochherzigen Verzichtleistung« und schwur, daß er den Anspruch, der ihm daraus erwuchs, geltend machen werde.

Mit einer Art stumpfer Ergebung ertrug Maria seine Nähe, seinen unverwandt auf sie gerichteten Blick. Der ihre blieb so abwesend, so leer, daß sich Tessin eines Zweifels an der leichten Ausführbarkeit seiner göttlichen Sendung nicht erwehren konnte. In gereiztem, unwillkürlich herausforderndem Tone schloß er: »Sie haben Ihrem Sohne den Namen genommen, der ihm vor dem Gesetz zukam; das kann nur in der Absicht geschehen sein, ihm dafür den Namen zu geben, der ihm in Wahrheit gehört – den meinen.«

Jetzt machte sie eine heftig abwehrende Bewegung: »Ihm Ihren Namen geben und Ihnen dadurch ein Recht auf das Kind – Ihnen?« Sie beugte sich vor. In ihren Augen hatte sich eine Flamme der Verachtung entzündet, die ihn traf wie ein glühender Pfeil.

Er zuckte zusammen, er rang nach Fassung und rief dennoch fassungslos aus: »Gräfin … Maria, Sie haben mich geliebt!«

Sie neigte den Kopf, eine brennende Röte flog über ihre Wangen: »Ich habe geglaubt, Sie zu lieben, und Sie – sind schlau gewesen, Sie haben es verstanden, einen Brand des Schuldbewußtseins gegen Sie in meine Seele zu werfen … Dann haben Sie sich einen Spießgesellen geworben, und mit seiner verräterischen Hilfe sind Sie gekommen und haben mich überrascht, gemeiner, ehrloser als ein Dieb, und ich habe mich an Sie weggeworfen … Und nachdem das Unwiderrufliche geschehen, nachdem die Schuld begangen war … eine Schuld, die von den Tränen der Reue so wenig weggespült werden kann wie der Fels von der Welle, die zu seinen Füßen brandet … dann ist mir der Mann, neben dem ich bisher hingegangen war wie eine Blinde, teurer geworden von Tag zu Tag … Er hat mich die Liebe kennengelehrt, die ewig ist; er, in dessen Seele die reinste Güte und Treue vereinigt waren … Und diese Empfindung in einem Herzen, das seiner unwürdig geworden … Das seltenste, köstlichste Glück vergeudet – um welchen Preis!« Ein Schauer des Ekels durchrieselte ihre Glieder.

Im Innersten entrüstet, äußerlich jedoch starr und unbeweglich, hatte Tessin ihr zugehört. Wie er sie jetzt haßte, die Törin, die sich – um ein geringes zu spät – in ihren Mann verliebt hatte; wie er sie lächerlich fand mit ihrer Sentimentalität und ihrer krankhaften Reue! Eine kleine Abkühlung tat not, und so murmelte er denn höhnisch: »Wie müssen Sie mir geflucht haben.«

»Nur mir … Sie sind ohne Rechtsgefühl; ich hatte es und täuschte dennoch das edelste Vertrauen, betrog – – um Sie!«

Ihr Blick glitt über ihn hin, und er spürte ihn wie etwas Körperliches, das von ihm herunterwischte: allen Wert, alles Selbstbewußtsein, alle eingebildete Herrlichkeit … Er knirschte, er meinte Notwehr üben zu müssen, und dazu war ihm jedes Mittel gut.

»Sie regen sich auf«, sprach er frostig. »Wollen Sie sich töten?«

»Nein, ich will leben, um mein Kind zu erziehen … Ich will es lehren, rechtschaffen sein und wahr und stark; ein Feind alles dessen, was glänzt und scheint und lügt … Er soll …« ihr keuchender Atem stockte.

»Sagen Sie es doch kurz heraus«, rief Tessin mit bitterem Lächeln. »Er soll das Gegenteil von dem werden, wofür Sie mich halten … Glück auf, Gräfin – möge die Erziehung gelingen. Nur rate ich Ihnen: seien Sie nicht zu rüde – manche Lektion schlägt deshalb nicht an, weil sie in gar zu schonungsloser Weise gegeben wurde.«

Maria hatte ihr Haupt gesenkt, sah vor sich hin und nickte nur zerstreut zu seinen Worten. – »Er soll auch –« begann sie, »nie erfahren, daß Sie sein, sein –« es war ihr unmöglich, es auszusprechen. »Sie bleiben immer für ihn ein Fremder!… Das fordere ich, darüber werde ich wachen, dabei muß es bleiben, wenn ich nicht mehr da bin, ihn zu beschützen vor Ihrem Einfluß, Ihrem Beispiel … Ein Fremder. Schwören Sie mir – – oder nein – versprechen Sie mir … Aber nicht, wie euresgleichen einer Frau etwas verspricht, einer Frau, der gegenüber Ehrlosigkeit nicht entehrt … Warum? warum? – Vielleicht weil sie euch nicht zur Rechenschaft ziehen kann.« Sie zitterte und bebte, und es schien, daß er eine gewisse Befriedigung empfand über ihre maßlose Aufregung. Er war die gelassene, kaltblütige Überlegenheit selbst, er war kräftig und gesund, seine Nerven waren von Stahl.

»Gräfin«, sagte er in ermahnendem Tone, »Sie wollen etwas von mir und hören nicht auf, mich zu beleidigen. Ist das klug?«

Maria griff mit beiden Händen an ihre Stirn. »Unklug!« jammerte sie, »ganz töricht und unklug … Verzeihen Sie mir …« Es klang schrill, wie ein der innersten Natur, dem widerstrebenden Willen mit übermächtiger Gewalt abgerungener Schrei: »Verzeihen Sie mir und erfüllen Sie meine Bitte.«

Er tat, als wenn er sich besänne, und sagte nach einer Weile:

»Es soll geschehen.«

Maria fiel rasch ein: »Bei allem, was Ihnen – – aber was ist Ihnen heilig?« setzte sie entmutigt hinzu.

Jetzt wurde seine Miene ernst und überzeugt: »Die Erinnerung an die Stunde, die Sie aus Ihrem Leben tilgen möchten und die ich nicht tauschen würde gegen alle Erdengüter. Bei dieser Erinnerung verspreche ich’s.« Er stand langsam auf. Ein wilder Wunsch, sie an sich zu reißen, sie noch einmal an seine Brust zu pressen, ergriff ihn.

Da erhob sich auch Maria, und sie standen Aug in Auge.

Später, als er alles, was er je angestrebt, errang, das Glück sich an seine Fersen heftete, Unternehmen und Gelingen für ihn eins geworden schien, gedachte er manchmal jenes seltsamen, stummen, kurzen Kampfes zwischen ihm und einer zarten, sterbenden Frau – in dem er unterlegen war.

Sie hatte nach der Tür gewiesen, und er hatte sich bezähmt und Gehorsam geleistet.

Maria blieb aufrecht … sie mußte aufrecht bleiben. – Wenn sie sich jetzt verriete, sie sich selbst, welche Torheit wäre das … Nein, sie tut es nicht, sie will nicht, sie ist stark.

Die Tür öffnet sich wieder, Erich kommt hereingelaufen. »Mutter!« ruft er, »der Herr ist schon fortgefahren.«

»Ja – jawohl – –«

Und jetzt spricht Lisette, die dem Kind gefolgt ist: »Merkwürdig, nein, wie merkwürdig!… Felix Tessin – den Namen kenn ich nicht, aber den Menschen … Was hat der nur gewollt? Ich möcht darauf schwören, daß es derselbe ist, der zuletzt beim armen Wolfi war.«

»Es wird so sein –« stammelte Maria unverständlich –, »Bruder und Schwester durch ihn gemordet –« und sie stürzte leblos zusammen.

Lange Zeit verging, bevor ihr Bewußtsein wiederkehrte. Im jähen Schrecken hatte Lisette an den Professor, an Wolfsberg, an Wilhelm telegraphieren lassen: »Gräfin erkrankt, gleich kommen.« Halb sinnlos raufte sie sich die Haare und hörte nicht auf zu schreien: »Sie ist tot, mein Kind ist tot!« Bei dem ersten Zucken jedoch, das durch den Körper der Ohnmächtigen lief, bei dem ersten Aufschlagen ihrer Augen machte Lisettens Verzweiflung der unerschütterlichsten Zuversicht und Hoffnungsfreudigkeit Platz.

Mit Mühe sprach Maria einige Worte: »Laß Wilhelm und Helmi kommen, gleich, hörst du? – gleich!« Eine erdrückende Angst schien auf ihr zu lasten: sie verlangte nach dem Kinde, und als man es ihr brachte, erkannte sie es nicht und hielt es für den kleinen Hermann. »Da bist du«, murmelte sie, »das war ein tiefer Schlaf … Oh, wie habe ich mich nach meinem Erstgeborenen gesehnt!«

Es wurde Nacht; die Kranke lag regungslos Ein Eiskübel war an ihr Bett gestellt worden; Lisette und Klara erneuerten abwechselnd die Umschläge auf ihrer Stirn.

»Sie sieht uns nicht, seien Sie sicher, Fräulein«, flüsterte das Kammermädchen. »O Gott, und ihre Augen! – wie blaue Flammen mit Schleiern davor.«

Auf dem Tische stand eine verdeckte Lampe; der schwache Lichtkreis, den sie an die Decke warf, fesselte den Blick Marias. In dem bleichen Schimmer bildeten sich flutende Wellen, und ein weißer Schwan zog über sie hin, und in den Lüften erklang eine liebliche Musik. Die verstummte plötzlich; ein Stern war vom Himmel gefallen, und der Stern war ein Weib, und entsetzliche Ungeheuer zerfleischten es … Hunderte von Fratzen, Köpfe ohne Leiber schwebten heran, Augen ohne Köpfe, die vielen Augen, die sich in die ihren bohrten. Sie fürchtete sich nicht, sie fand das alles natürlich. Natürlich auch, daß sie auf ihrem Bette lag und zugleich dort oben stand in dem webenden Schein an der Seite Hermanns. Er deutete auf sie und sagte: Ich seh dein Herz, es blutet, und es hat einen schwarzen Fleck, einen kleinen, kleinen Fleck, der verfinstert die Welt.

Draußen heulte der Sturm, umpfiff das Haus, schleuderte Regengüsse gegen die Scheiben der Fenster, rüttelte an den Angeln, warf sich gegen das Tor, das stöhnend Widerstand leistete.

Lisette sprach: »Das verwünschte Wetter! Es hält dich wach, mein armes Kind!«

»In Dornach ist es still«, versetzte Maria – und nach einer Pause: »Glaubst du? – glaubst du es, liebe Alte?«

»Was soll ich glauben? was wünschest du, das ich glauben soll?«

»Daß sie mich dort dulden werden in der Gruft?«

»Wie du nur sprichst!«

»Staub bei Staub, aber – wie wunderbar …« Sie machte einen Versuch, sich zu wenden: »Der eine ist gekommen –«

»Wer denn? ich verstehe dich nicht.«

»Du hast ihn doch selbst gebracht«, erwiderte sie leise mit einem Schatten von Ungeduld, »sein Vater schickt ihn, er soll mich nach Dornach führen … meinem lieben Dornach –« sie lächelte glückselig, als sie den Namen nannte –, »zu meinem Hermann … dahin, wo er jetzt ist … Wir werden liegen, Hand in Hand, hinter den Steinen. Nicht ein Laut wird zu uns dringen, nicht eine Stimme … nicht einmal die Stimme des Gewissens …«

»Sie phantasiert, und ich sage Ihnen, man muß um den Geistlichen schicken«, flüsterte Klara Lisetten zu. Von der wurde sie rauh angelassen.

»Ja, just phantasieren wird sie! das fällt ihr ein. – Sie spricht aus dem Schlaf, hat’s von klein auf getan.«

Maria versank in einen dumpfen Halbschlummer, aus dem sie von Zeit zu Zeit auffuhr, um nach Wilhelm und Helmi zu rufen. Gegen Morgen wurde sie ruhiger, und so fand sie der herbeigeholte Bezirksarzt. Als er hörte, daß Professor Hofer stündlich erwartet werde, äußerte er den Wunsch, mit dem berühmten Arzt zusammenzutreffen, und nahm sich vor, später wiederzukommen. Seine Meinung über den Zustand der Kranken behielt er für sich; etwas zu verordnen, fand er überflüssig.

Lisette triumphierte. Gab dieses Benehmen des Doktors ihr recht oder nicht? Wäre er so fortgegangen, ohne sich auszusprechen, ohne nur ein Rezept aufzuschreiben, wenn er die geringste Besorgnis hätte?

Sehr gelegen kam ihr in dieser Stunde ein Antworttelegramm aus dem Hause des Professors, welches meldete, er sei für drei Tage verreist. So hatte sie noch Zeit, ihre Aufforderung zu widerrufen, und brauchte sich nicht wieder von ihm »die alte Furchtputzen« schelten zu lassen.

Der Optimismus Lisettens besaß eine mitteilende Kraft. Im ganzen Schlosse herrschte Fröhlichkeit. Der Kastellan setzte die unterbrochenen Singlektionen seines Zeisigs wieder fort und werkelte ihm unermüdlich das Liedchen vor: »Wenn ich am Morgen früh aufsteh …« Die Männer traten wieder fest auf, die Frauen schlugen lärmend die Türen zu; alles kehrte ins alte Geleise zurück.

Maria hatte sich auf das Ruhebett tragen und dieses an das Fenster rücken lassen. Sie war erschöpft und halb betäubt und glaubte immer den Wagen, der Wilhelm und Helmi brachte, hereinrollen zu hören.

»Nimm doch Vernunft an«, ermahnte Lisette, »sie können noch nicht da sein, trotz der Relais, die der Verwalter geschickt hat; außer es wäre ein Wunder geschehen, oder – sie hätten einen Extrazug genommen.«

Eine dieser Möglichkeiten mußte eingetreten sein, denn gegen Abend waren die Ersehnten da, begleitet von Doktor Weise. Mit heiteren Mienen liefen ihnen die Diener entgegen und verkündeten, es gehe besser, es gehe gut.

Lisette kam die Treppe herabgestürzt; sie warf sich beinahe auf die Knie vor dem Ehepaar und umarmte beinahe den Doktor. »Das vergelte der liebe Gott den Herrschaften, daß Sie sich so beeilt haben … Jetzt wird sie glücklich sein.« Unablässig zum Vorwärtsschreiten anspornend, machte sie den Wegweiser über die Treppen und Gänge.

»Sie gehen zuerst«, sprach Wilhelm zum Doktor, »und bestimmen, ob die Gräfin uns sehen darf.«

Er ließ die Einwendungen Lisettens nicht gelten; sie mußte sich bequemen, Weise anzumelden, der auch sofort vorgelassen wurde, während Wilhelm und Helmi im Nebenzimmer warteten. Er völlig verstört, sie sorgenvoll, gebeugt, mit blassen Wangen. Die tröstlichen Versicherungen, mit denen sie empfangen worden, flößten ihnen wenig Vertrauen ein. Sie erbebten, als Lisette endlich erschien.

»Nur kommen, nur kommen! Sie fragt nach den beiden Herrschaften und nach niemandem sonst«, rief sie und entfernte sich diskret.

»Nun denn in Gottes Namen«, sagte Wilhelm, und Helmi legte sachte die Hand auf die Klinke. Da trat ihnen Weise aus der Tür entgegen.

»Nichts zu machen«, flüsterte er tief betrübt, »eine Herzruptur, worunter man sich freilich nicht vorstellen darf – nun, mit einem Wort: es ist aus.«

Wilhelm taumelte, wie wenn ihn jemand vor die Brust gestoßen hätte.

»Aber – sie lebt noch …«

»Noch, ja, noch«, und Weise schob den Türflügel zurück.

Maria lag gerade ausgestreckt. Das letzte Tageslicht warf seinen bleichen Glanz über ihre von der erhabenen Majestät des Todes schon verklärten Züge. Umflossen von der goldigen Pracht ihrer Haare ruhte ihr Haupt in den Kissen, und sie machte eine vergebliche Anstrengung, es zu heben, als Wilhelm und Helmi eintraten. Diese strich mit zitternden Fingern über die Hand der Kranken.

»Dank, daß ihr kommt … Dank und eine Bitte –« sprach Maria. »Ihr seht, ich darf nicht leben für das Kind … ich darf auch nichts abtragen von meiner Schuld …«

»Du hast sie gesühnt, o Gott im Himmel, wie gesühnt!« rief Helmi.

»Gebüßt, nicht gesühnt – das hätt ich nie gekonnt … Schwer ist mit solchem Bewußtsein das Leben … und schwer der Tod …«

Wilhelm begann leise, dann brach es wie ein Schrei aus seiner Brust: »Nein, nein, du wirst nicht sterben!«

»Doch – und ihr, gute Eltern, ihr habt um einen Sohn mehr – den meinen … Ja?« Beide schluchzten: »Ja.«

Helmi bettete den Kopf der Kranken etwas höher, und Marias Blick ruhte auf ihr mit einem Ausdruck wie aus einer andern Welt.

Und nun ließ sich durch die tiefe Stille das Herannahen eines Wagens vernehmen. Hufschlag und Peitschenknall erschallten vor dem Tor; es wurde zurückgeschoben in seinen eisernen Schienen, und dröhnend rollte ein wuchtiges Gefährt herein.

Maria hatte aufgehorcht. »Der Vater … mein armer Vater«, sagte sie. Angst und Sorge malten sich in ihrem sterbenden Gesichte, ein banges Flehen war in ihrer Stimme: »Wilhelm, Helmi – in meinem Schreibtisch – ein Brief an euch – enthält mein Testament … das Kind bewahren vor jedem anderen Einfluß – vor jedem … Schwört mir –«

»Sei ruhig«, sprach Wilhelm, und jetzt klang sein Ton sicher und fest, »wir übernehmen, wir allein, die Verantwortung für diese Seele.«

»Mein armer Vater!« wiederholte Maria. »Das Glück ist nicht, wo er es sucht. Gut sein ist Glück, einfach, selbstlos und gut, wie Hermann, wie ihr … Erich soll dereinst in Wolfsberg das Werk fortsetzen, das ich hier im Geiste meines Hermann begonnen habe … in dem ich unterbrochen ward … er soll … Wo ist Erich?« fragte sie laut.

Da erscholl ein helles Lachen. »Er kommt, und wer noch?« sprach jemand, die Schwelle überschreitend – und ins Zimmer flatterte Fee, Erich an der Hand: »Da ist sie, da ist deine kleine Fee; jetzt wirf sie hinaus, wenn du’s übers Herz bringst.« Sie war an das Ruhebett herangetreten, prallte plötzlich zurück und stöhnte: »Oh! – Oh!«

Maria sah sie an, ein mattes Lächeln irrte um ihren Mund und begrüßte diese Abgesandte des Lebens, die da hereingedrungen war, so lieblich, so frisch und rosig mit ihrem Lachen wie Lerchenschlag.

Von einer feigen Regung ergriffen, wollte Fee entfliehen, aber sie bemeisterte sich, sie blieb, hob Erich zu seiner Mutter empor, nahm sanft und zärtlich ihren Arm, legte ihn um den Hals des Kindes und stammelte: »Du hast ihn gerufen.«

»Kleine Fee«, sagte Maria, »leb wohl, liebe kleine Fee.«

Nun war es vorbei mit der Fassung der jungen Frau. Sie warf sich ungestüm an Marias Brust und brach in einen Sturm von Klagen und Tränen aus. Wilhelm machte die Sterbende frei von ihr, er wollte Fee hinwegführen; sie riß sich los, sank auf ein Kissen am Ende des Zimmers, wo sie sich wand in krampfhaften Bemühungen, ihr Schluchzen zu unterdrücken.

Lisette kam, Erich zu holen, und empfing den Dank ihrer Herrin »für lange Treu. – Auch du bist diesen edlen Menschen empfohlen … sie werden dich nicht trennen von dem Kinde … Hab es nicht zu lieb … wie du dein großes Kind gehabt hast, arme Alte.«

»Niemanden mehr so lieb«, und sie küßte die teure Hand ihrer einen und einzigen mit heißen, bebenden Lippen. Jeder Nerv an ihr zuckte; sie hielt es nicht aus, nahm Erich, der, stumm und bestürzt, kaum zu atmen wagte, und trug ihn fort.

Helmi war niedergekniet: »Maria, Vielgeliebte«, flehte sie leise, »geh nicht unversöhnt aus dem Leben, erfülle deine Christenpflicht … Bereite dich vor, an das Herz des Allgütigen zu sinken.«

»Des – Allgütigen?«

»An den du glaubst – –«

»An den ich glaube?…« sehnsüchtig hauchte sie es nach. – »Alles verloren, Helmi – den Glauben an die Vorsehung … den Glauben selbst an meinen freien Willen … Und doch nur einen Wunsch …« Ihre letzte Kraft erschöpfte sich in den Worten: »Oh, hätte ich nie ein Unrecht getan!«

 

Das an Wolfsberg abgesandte Telegramm wurde ihm nach dem Gute Gräfin Dolphs, wo er sich zu kurzem Besuche eingefunden hatte, nachgeschickt. Dort traf es ihn am späten Abend. Er reiste sofort ab. Ein Schnellzug brachte ihn auf die erste Station der Lokalbahn, die ihn weiterbefördern sollte. Da begann die Qual des Wartens von einem Bettelzug zum andern, des Einherhumpelns hinter einer kriechenden Lokomotive. – Wolfsberg kam in Versuchung, hinauszuspringen und nebenherzulaufen, um wenigstens das Gefühl zu haben: Es geht vorwärts!… Dann wieder griff es ihm wie mit eisernen Klammern in die Brust: Warum so eilig? Wonach hastest du? – Er hatte die Gewißheit, daß ihn ein Leid erwartete, dem er nicht gewachsen war. Gefoltert von Angst und Ungeduld, kam er mittelst einer elenden Fahrgelegenheit auf der letzten Post vor Wolfsberg an. Dort konnte ihm nur noch ein abgejagter Reitgaul zur Verfügung gestellt werden. Auf den schwang er sich, trieb ihn wütend an und ließ an dem unglücklichen Tier seine zornige Verzweiflung aus.

Es dunkelte, als er im Dorf ankam. Das einförmige Gebimmel des Totenglöckleins schallte ihm entgegen. Leute standen in Gruppen beisammen, ein ganzer Zug wandelte über den Feldweg dem Schlosse zu … Noch ein Stockhieb auf die Flanke des erschöpften, keuchenden Pferdes; es griff aus, fiel, sprang auf und brach im nächsten Augenblick völlig nieder. Der Reiter machte sich los aus den Bügeln. Ein stechender Schmerz am Fuße hemmte seine Schritte, er schleppte sich dem Zuge nach. Vier Lichter schwankten an dessen Spitze, und weißliche Rauch-wölkchen umqualmten sie. Wolfsberg verbiß seinen Schmerz, strebte weiter mit grimmigem Bemühen und rief: »Halt! halt! Komm einer und helfe mir!«

Seine Stimme blieb ungehört von den ihre Kirchengebete murmelnden Wallern. Am Gartentor waren die Lampen entzündet worden. Der Geistliche im Ornat, Kirchendiener und Chorknaben mit Laternen und Weihrauchfässern schritten vorüber in den Hof.

»Wartet! Helft mir!« röchelte Wolfsberg todesbang.

Dieses Mal wurde er gehört. Der Zug hielt, die Leute sahen sich um; sie konnten lange nichts unterscheiden in der Dunkelheit, bis plötzlich ein Bursche sprach: »Es is der Graf, dort beim Feldstein steht er, dem is was gschehn.«

Einer flüsterte es dem andern zu – doch mehr tat keiner. Endlich erbarmte sich ein alter, krüppelhafter Mensch, ging hin und stützte und führte ihn.

Beinahe zugleich mit dem Priester trat Wolfsberg in das Sterbezimmer. Die Zimmer waren weit geöffnet. Am Himmel schwebte eine finstere Wolke; sie glich einem riesigen Vogel mit weit ausgespreizten Flügeln. Der von ihr verhüllte Mond warf eine Fülle silbernen Lichtes über eine Stelle am Horizont. Auf dieser ruhten Marias schon gebrochene Augen. Dort, wo es hell war, wo der verklärende Schimmer sich breitete – lag Dornach.

Kapitel 11

Kapitel 11

 

Die Hilferufe, die aus dem Gartenhause drangen, wurden zuerst von dem Kind eines Arbeiters gehört; es wagte sich nicht näher, holte aber Leute herbei. Diener rannten nach dem Arzt. Als er kam, fand er die Gräfin mit blutbespritztem Kleide halb ohnmächtig zusammengesunken an der Leiche Wolfis. Sie war nicht zu bewegen, von der Stelle zu weichen, bevor jeder denkbare Wiederbelebungsversuch unternommen worden.

Wie Doktor Weise vorausgesagt hatte, blieb alles vergeblich. Er durfte sich auf seinen Fräulein Lisette gegenüber oft getanen Ausspruch berufen: eine heftige Erhitzung und dergleichen oder einer der Zornanfälle, denen Herr Forster unterworfen war und bei denen er zu schreien pflegte wie besessen, könne einen Blutsturz herbeiführen, während er vielleicht ein alter Mann geworden wäre, wenn er sich nur entschlossen haben würde, jetzt schon den »Duktus« eines solchen anzunehmen. Das Gelächter, mit dem der Patient diese Verheißung zu beantworten pflegte, hatte den Doktor immer gekränkt.

»Und kränkt mich noch«, sagte er zu den Herrschaften Wilhelm, denen er am Nachmittag in seinem Einspänner ein Stück Weges entgegengefahren war, um ihnen pflichtgemäß zuerst von dem traurigen Ereignis in Dornach und den Umständen, unter welchen es stattgefunden, Mitteilung zu machen. Auch legte er ihnen die Frage zur Entscheidung vor, ob nicht an die telegraphische Berufung des Herrn Grafen gedacht werden solle, und zwar aus Rücksicht für die Frau Gräfin, die sich infolge des ausgestandenen Schreckens in einem Zustande hochgradiger Aufregung befände.

»Sehr irritiert, wenn auch bemüht, Selbstbeherrschung zu üben. Ich habe unvermerkt den Puls gegriffen – kaum zu zählen. Es wäre nicht unmöglich, daß sich da etwas entwickelte«, sprach er mit dem traditionellen ärztlichen Kopfschütteln.

»Daß sich was entwickelte?« fragte Wilhelm, in höchster Bestürzung aus dem Wagen springend, ergriff den Arm des Doktors und blickte angstvoll zu ihm empor.

»Je nun«, versetzte dieser mit wichtiger Miene, »ein leichter Typhus oder etwa Entzündung – cordis basis – cordis conus …«

»Ist das gefährlich? – – Hol der Kuckuck diese Namen, die niemand versteht und die einem nur bang machen«, wandte er sich an seine Frau. Sie war gleichfalls ausgestiegen, an seine Seite getreten und suchte ihn zu trösten.

»Fasse dich, es wird nicht so schlimm sein. Aber die Buben« meinte sie, »müssen wir nach Hause schicken.«

»Freilich«, und Wilhelm überblickte die Häupter seiner Lieben, die aus dem weitläufigen Jagdwagen hervorguckten wie aus einem Pferche. »Wenn ihrer zwei waren oder drei, es ginge noch. Acht Stück in einem solchen Moment – unmöglich. Fahr sie heim«, sprach er zu dem alten Kutscher, der sein ganzes Vertrauen besaß, weil er selbst zehn Kinder hatte.

Eine Revolution, die im Wagen ausbrechen wollte, wurde durch wenige Machtworte des Vaters und die sanften Vorstellungen der Mutter unterdrückt. Willi, der Älteste, erhielt die Erlaubnis, sich auf den Bock zu setzen und zu kutschieren, die andern überließ man ihrer Enttäuschung.

Wilhelmine nahm den Platz nicht an, den ihr der Doktor neben sich in seiner auf Räder gesetzten Muschel anbot. Sie schritt, ein immer treuer Kamerad, an der Seite ihres tief bekümmerten Gatten dem Schlosse zu. In der Halle trafen sie Lisette. Sie fahndete auf den Doktor, sie begriff ihn heute zum erstenmal nicht ganz. Wie konnte er das Haus verlassen während eines sorgenerregenden Unwohlseins Marias und eine so schöne Gelegenheit versäumen, sich unentbehrlich zu machen. – Und wo blieb er denn jetzt?

»Ins Dorf ist er gefahren«, antwortete Wilhelm und eilte die Treppe hinauf.

Seine Frau folgte ihm und hatte Mühe, ihn zu bewegen, im Salon zu warten, bis sie ihm Nachricht bringen würde, ob die Kusine ihn sehen könne.

Maria war in ihrem Schlafzimmer, das sie seit Stunden rastlos, mit raschen, regelmäßigen Schritten durchmaß. Beim leisen Pochen Wilhelminens blieb sie stehen und rief, als diese sich genannt hatte: »Komm, komm! nach dir habe ich mich gesehnt, deine Nähe ist mir ein Trost.«

»Wär es so, vermöcht ich dich zu trösten, armes, armes Kind!« Sie faßte ihre Hand, drückte sie liebreich und kämpfte mit dem Bedauern und dem Schmerz, die sie beim Anblick der Vernichtung und Trostlosigkeit im Gesichte Marias überwältigen wollten.

Ihrer mütterlichen Zärtlichkeit und Überredungskunst gelang es endlich, die Erschöpfte zu bewegen, sich in einem Fauteuil niederzulassen und sogar etwas Nahrung zu nehmen.

»Der heute gestorben ist, war mein Bruder«, sprach Maria plötzlich. »Weißt du es?«

Wilhelmine antwortete einfach: »Jawohl, es ist ja kein Geheimnis daraus gemacht worden.«

»Und ich bin hart und stolz gegen ihn gewesen, begreifst du? – ich!« Sie brach in Tränen aus, sie schluchzte, die furchtbare Spannung ihrer Seele hatte sich gelöst.

Allmählich wurde sie wieder Herrin ihrer selbst, verlangte Wilhelm zu sehen und geriet nur vorübergehend in heftige Aufregung, als er den Vorschlag machte, an Hermann zu telegraphieren.

»Unter keiner Bedingung! – er würde kommen.«

»Und soll er nicht?«

»Nein, die Mutter bedarf seiner. Ich schreibe ihm«, setzte sie hastig hinzu, »verlaßt euch auf mich. – Niemand sonst schreibt ihm. Gebt mir euer Wort darauf.«

»Welche Frau!« sagte Wilhelmine im Nachhausefahren zu ihrem Manne. »Sie beweist mir von neuem, daß der ganz edle und gute Mensch sich nie genugtut. Ist nicht das Außerordentliche für den unglücklichen Forster geschehen? Nun, Maria macht sich noch Vorwürfe. Dergleichen gibt einen Maßstab für den Wert einer Seele. Welche Frau! Ich habe sie wie ein neuntes Kind in mein Herz geschlossen.«

Der Brief Marias an Hermann mußte mit Ruhe und Überlegung geschrieben worden sein, denn in dem ausführlichen Telegramme, das Wilhelm am folgenden Abend von seinem Vetter erhielt, sprach dieser nicht die leiseste Besorgnis um seine Frau aus. Er bat Wilhelm, Anordnungen zur würdigen Bestattung Wolfis zu treffen, und hoffte, zu Ende der nächsten Woche in Dornach sein zu können.

Die Leiche Forsters war kaum der Erde übergeben, und schon tauchten allerlei Gerüchte über die unmittelbare Ursache seines Todes auf. Ein Jäger behauptete, ihn kurz zuvor gesehen zu haben, nahe an der Waldgrenze auf einem Fußsteig, der nach der Nordbahnstation führte. Er befand sich im Streite mit einem langen Schwarzen, den der Jäger aus der Entfernung für den Adjunkten gehalten. Der Adjunkt wurde zur Rede gestellt, konnte aber leicht nachweisen, daß er sich am selben Tage, zur selben Stunde im benachbarten Städtchen befunden, wohin der Herr Oberförster ihn geschickt hatte, Grassamen einzukaufen. Offenbar irrte der Jäger in der Person des Individuums, mit dem Wolfi jüngst in einer für ihn verhängnisvollen Weise verkehrt. Daß es einen solchen Menschen gab, das bezweifelte niemand.

»Es könnte«, meinte der Doktor, wie immer vorbehaltlich, »wohl ein Pascher gewesen sein, durch welchen sich mein Patient hinter meinem Rücken vielleicht Zigarren verschaffen wollte. Oder vielleicht ein Gläubiger, der einen Versuch machte, sein Geld einzutreiben.«

Lisette hingegen erklärte, bei ihr stände es fest, daß es derselbe Schwindler gewesen, der – sie merkte ihm gleich etwas Verdächtiges an – »den armen, guten Jungen« am Tage vorher ganz offenkundig besucht hatte und dann, Gott weiß warum, im geheimen wiedergekehrt sein dürfte. Damit war aber noch immer nicht Klarheit in die Sache gebracht. Und trotz aller Nachforschungen blieb das Rätsel, wer der Fremde gewesen, in welchen Beziehungen er zu Forster gestanden, ungelöst.

Maria hatte sich in eine an Stumpfheit grenzende Ergebung eingesponnen. Möchten sie doch auf die Wahrheit kommen! – sie würde nicht leugnen, sie würde sterben. In vermessener Zuversicht baute sie auf die Gnade des Allbarmherzigen. Er wird sie zugrunde gehen lassen an dem Gefühl ihrer Schuld, sie büßen, sühnen lassen durch den Tod. Es war ihr ein Trost, sich das zu wiederholen. Mit einem Gefühl der Schmach wie dasjenige, das sie in ihrer Brust trägt, kann man ja nicht leben … Ihr steht etwas bevor, unfaßbar, das nicht auszudenken ist – das Wiedersehen mit ihrem Manne. Sie wird seinen Blick nicht ertragen können, sie wird ihn empfangen mit dem Geständnis: Ich habe dich betrogen, einmal in einer fluchenswerten Stunde, in schnödem Taumel. Aber dich wieder betrügen, mit Bewußtsein und Berechnung; meinen entweihten Mund deinem Kusse bieten – das werde ich nie.

Er kam und war unsagbar glücklich, wieder da zu sein, und sie stand regungslos vor ihm – und schwieg.

Wie die anderen schrieb er ihr übles Aussehen, ihre düstere Stimmung dem fürchterlichen Eindruck zu, den der Tod Wolfis auf sie hervorgebracht hatte. Der Doktor beglückwünschte ihn zu der Richtigkeit dieser Ansicht und gebrauchte dabei viele Fremdwörter, wie es sich geziemt für einen Landarzt, der eine vornehme Patientin behandelt.

Fräulein Lisette nahm zu jener Zeit etwas Gehaltenes und Siegreiches in ihrem Gang und ihren Gebärden an. Ihr Herz, das nie eine heißere Neigung gekannt hatte als die zu dem »Kinde«, machte im Spätherbste Frühlingsrechte geltend. Sie liebte, sie schmeichelte sich, geliebt zu werden; scharenweise umflogen ihre Gedanken den teuren Gegenstand, und nur hier und da stellten sich einzelne von ihnen bei der einst ausschließlich Verehrten und Verhimmelten ein. Lisette fand es überflüssig, ihre Leidenschaft zu verhehlen, und sprach unbefangen von dem, der sie ihr einflößte.

»Er schwebt halt immer auf meinen Lippen«, sagte sie einmal schalkhaften Tones zu der Gebieterin mitten in einem Bericht über die Ankunft einer Sendung Tischzeugs, in den sie den Doktor ungemein kunstvoll eingeflochten hatte.

»Wer?« fragte Maria.

Und nun legte die alte Jungfrau ihr längst angekündigtes Geständnis ab, und die geringe Aufmerksamkeit, die ihr anfangs geschenkt wurde, steigerte sich allmählich, und plötzlich geschah das Außerordentliche – Maria lachte.

Hermann, der eben eintrat, hörte es, und seine Freude kannte keine Grenzen. »Wer hat dich lachen gemacht? – Sie, Lisette? Goldene Lisette! – was soll ich für Sie tun?… Ich gründe ein Kammerdamenstift, und Sie werden Oberregentin.« Er stürzte auf sie zu und küßte sie auf jede Wange, daß es schallte. »Was hat sie dir vorgebracht?« wandte er sich an seine Frau, rückte einen Sessel neben das Kanapee, auf dem sie saß, und nahm Platz. »Ich will es wissen, ich will Unterricht bei ihr nehmen.«

Maria fragte: »Darf ich antworten, Lisette?« und diese, ein klein wenig verschämt, erwiderte: »Ich bitt.«

»Mit deiner Erlaubnis also. – Sie möchte den Doktor heiraten.«

Die Betroffenheit Hermanns, die Anstrengung, die er machte, sie zu verbergen, die fröhliche, unendliche Güte, die aus seinen Augen sprach und aus dem unbezwinglichen und harmlosen Lächeln, das seinen Mund umspielte, erregten von neuem Marias Heiterkeit.

– So war es möglich, noch – ja, schon so bald konnte sie sich vorübergehend zerstreuen lassen aus ihrer lastenden, berechtigten, ihrer gebotenen Seelenpein?

Einmal lag sie des Nachts, wie so oft, wachend auf ihrem Lager, lauschte den ruhigen Atemzügen ihres Mannes und sann und sann.

Und jetzt drang durch die Stille aus dem Zimmer nebenan, in dem das Kind schlief, ein heiserer Ton, ein lautes, rauhes Husten aus kleiner Brust an ihr Ohr. Sie erhob sich sachte, warf ihr Morgenkleid um, glitt mit nackten Füßen, die Pantoffel in der Hand, über den Teppich, trat bei dem Kleinen ein und schob den Vorhang seines Bettchens zurück. Der Schein der Nachtlampe flackerte auf dem glühenden Gesicht des Knäbleins, es röchelte schwer im Fieberschlafe. Maria weckte ihn und die Wärterin und leistete die erste Hilfe, während jene auf ihren Befehl das Kindermädchen aufrüttelte und nach einem Diener läutete, der den Doktor herbeiholte. Dieser kam, sprach kein Wort, sondern handelte still und energisch; er war in dieser Nacht ein Held an Mut und Besonnenheit. Vorübergehend nur brachte ihn die Wärterin in Zorn, weil sie fassungslos herumstürzte und durchaus den Grafen rufen wollte.

»Alberne Person«, rief Weise, sich der Höflichkeit begebend, die ihn sonst auszeichnete. »Der Doktor verbietet es, der Doktor braucht keine Leute, die Angst haben, im Krankenzimmer … Da – so eine Ruhe! Das ist das Richtige, da nehmen Sie sich ein Beispiel.« Er deutete auf Maria, die das Knäblein auf dem Schoß hielt.

Weiß in ihren schneeweißen Gewändern, unverwandten Blickes jede Veränderung beobachtend und anzeigend, welche bei dem Kleinen vorging, führte sie des Doktors Anordnungen selbst aus und hielt ein stummes Gespräch mit ihrem Kinde. -Willst du voran – mich drüben zu erwarten? Ich folge dir bald nach. – Aber dein armer Vater, soll ihm beides zugleich genommen werden – ein echtes Gut: du! und ein wertloses, falsches, das er in seinem lauteren Glauben betrauern wird, als wäre es wirklich ein köstlicher Besitz gewesen?… Bleibe bei ihm, mein Liebling, biete ihm überreichen Ersatz. – Sie drückte ihn an ihre Brust, und er richtete seine großen Augen auf sie und murmelte: »Liebe Mutter.«

»Es geht besser, Doktor, nicht wahr?« fragte Maria.

»Wenn nicht alle Zeichen trügen«, gab er zur Antwort.

Sie verstand ihn. Er gebrauchte wieder eine bedingte Redeweise; die ernste Sorge, die ihn seiner kleinlichen Vorsicht untreu gemacht hatte, war geschwunden.

Am Morgen erst erfuhr Hermann, daß sein Söhnchen in Lebensgefahr gewesen sei und daß es gerettet war.

Dir gerettet, dachte Maria, zu deinem Troste, wenn ich nicht mehr bei dir sein werde. Sie war im reinen mit sich. Gott erhörte sie nicht, überantwortete sie der Verzweiflung, so faßte sie denn einen Entschluß der Verzweiflung.

Ein schöner Spaziergang im Walde führte bequem zu einer Burgruine hinan, welche die Felsenspitze eines bis weit über die Mitte mit Schmuck-Edeltannen bewachsenen Berges krönte. Man konnte jedoch von der entgegengesetzten Seite auf einem viel kürzeren Wege zu der Ruine gelangen. Dieser ging über einen schmalen, geländerlosen Steg und mündete am Fuße des beinahe senkrecht abfallenden Felsens, unweit von halbzerbröckelten, in den Stein gehauenen Stufen. Ein kühner und geschickter Kletterer durfte sie immerhin noch benützen, um zur Kuppe zu gelangen; wenn er nämlich schwindelfrei war. Sonst konnte ihm ein Blick zurück in die Tiefe gefährlich werden. Dasselbe Flüßchen, das einige hundert Schritte weiter zwischen Wiesen dahinglitt als friedliches, mit Kähnen befahrbares Gewässer, wurde in der Enge zum Wildbach. Kochend und brausend stob der Gischt, bildete Wirbel, drehte und drehte sich kreisförmig, trichterförmig, stieg auf in Säulen aus Schaum, warf sich wieder wie toll in sein steiniges Bett und lockte herab zur Teilnahme an seiner sprudelnden, unerschöpflichen Lebenslust.

In ihrem ersten Ehejahre hatte Maria die Ruine besucht. Angewandelt von einer Regung der unbezähmbaren Freude an der Gefahr, von der sie in früher Jugendzeit gar oft ergriffen worden, war sie die Felsentreppe herabgestiegen und hatte den Steg festen und sicheren Ganges überschritten.

Hermann, dem sie ihr Wagnis eingestanden, war erst durch ihr förmliches Versprechen, es nie zu wiederholen, zu beruhigen gewesen. – Nun mußte das gegebene Wort gebrochen werden.

Mit peinlich erfinderischer Genauigkeit malte Maria sich alles aus, sah sich den Fuß setzen auf den Steg und wandern und langsam mit Bedacht ausgleiten an der rechten Stelle … wanken, sinken, zerschellt werden an den ewig blanken, ewig feucht glänzenden Klippen, die aus dem Wasser herausragten. Vorahnend gab sie sich Rechenschaft von dem Schmerze Hermanns, er würde nicht frei sein von Groll – und das war recht. Ein reines Andenken zu hinterlassen, hatte die Schuldige nicht verdient.

Sie bereitete sich vor auf die entsetzliche Trennung von ihrem kleinen Kinde, das der Mutter noch so sehr bedurfte, nahm Abschied von ihm Tag um Tag. Morgen geschieht’s, sagte sie sich, bis der Morgen kam, an dem sie begriff, daß sie nicht sterben könne, ohne einen zweifachen Mord zu begehen.

Und davor schauderte sie zurück. Wohl lohte es in ihr auf: Begrabe die Frucht des Frevels mit dir!… Aber töten, um zu sühnen? – Noch war sie fromm und gläubig und fragte in ihrer Seelenqual: Wie würdest du die Kindesmörderin empfangen, ewiger Richter, Herr, mein Gott?

Der mächtigste Instinkt im Weibe erhob seine gewaltige Stimme … Vielleicht auch rang der nun verzweifachte Lebenstrieb – ihr unbewußt – gegen die Vernichtung.

Sie kam wieder auf den Ausweg zurück, der ihr zuerst als der selbstverständliche, der einzige erschienen war: Hermann alles zu gestehen, ihm zu sagen: So bin ich, behandle mich, wie ich es verdiene. Ich ertrage deine Güte nicht mehr, ich lechze nach Strafe, nach Buße. Die strengste wird die beste sein, gönne sie mir, gönne mir das Labsal, zu büßen. Sei unbarmherzig, nur verehre mich nicht mehr.

Und während sie in Gedanken also zu ihm sprach, rief ihr Verstand ihr zu: Phrasen, hohle Worte! Du weißt es wohl, daß er dich nicht verstoßen, dich nicht der Geringschätzung preisgeben wird; er wird, auch wenn sein Glück den Todesstreich durch dich empfangen, den Fuß nicht auf deinen Nacken setzen, Gesunkene. Er wird unerschütterlich bleiben in seiner Langmut. Von dir getrennt, dir im Innersten entfremdet, wird er von anderen noch Achtung für dich verlangen. Dann hast du eine neue Last der Dankbarkeit auf dich geladen und vergeblich das Beste zerstört, woran sein Herz sich erquickt und seine Seele sich erbaut. Du hast nichts zu verlieren, er alles. Du hättest ihn umsonst unselig gemacht … Du darfst es nicht! – So tat sie das, wogegen alles Frühere nicht zählte. Sie vollzog den Betrug, der die Schande zu bemänteln hatte. Hermann mußte getäuscht werden. Das war so leicht und darum gar so schlecht … Und geschah, und Maria duldete die Erniedrigung, die sie für unausdenkbar gehalten hatte, die ganze! Nichts ward ihr geschenkt – nicht der Freudenausbruch, mit dem der hintergangene Mann die in tiefdunkler Nacht gestammelte Kunde aufnahm, nicht seine erhöhte Zärtlichkeit, nicht Wilhelms gutmütige Scherze, nicht Helmis treue Teilnahme, nicht Gräfin Agathens feierliche Segenswünsche.

Maria spielte eine jammervolle Komödie, heuchelte Interesse an gleichgültigen Dingen, Freude an den harmlosen Vergnügungen, den Landpartien und Waldfesten, die Hermann und Wilhelm veranstalteten, um sie zu zerstreuen. Nicht immer, aber doch meistens ließ Hermann sich täuschen. All sein Glück ging von dem Bilde aus, das er sich von ihrem Glücke machte.

Sie aber lebte in der Liebe zu ihrem Kinde, pflegte eifrig ihre Kunst, die sie nie schöner und hinreißender als jetzt ausgeübt hatte, und grübelte sich allmählich in eine eigentümliche Sophistik hinein. Die Sühne, nach der sie rief, lag gewiß in der Einsicht, daß es ihr verwehrt sei zu sühnen. Der verdammende Schicksalsschluß, der über sie gefällt war, lautete: Du liebst die Wahrheit, wandle in der Lüge.

Kapitel 12

Kapitel 12

 

Im Sommer kamen Graf Wolfsberg und seine Schwester mit ihrer Gesellschaftsdame, Fräulein Annette Nullinger, nach Dornach. Beinahe auf dem Fuße folgte ihnen, ohne eingeladen zu sein, ohne sich angesagt zu haben, die kleine Gräfin Felicitas Soltan. Sie kam, um zu fragen, ob Tessin, wie er vor seiner Abreise versprochen, an Gräfin Dolph geschrieben habe, wie es ihm gehe, und besonders – ob er sie grüßen lasse.

Aber noch war kein Brief von ihm eingetroffen, und nur durch Zeitungstelegramme wußte man, daß er auf seinem Posten angelangt und festlich empfangen worden war.

An einem schwülen Sonntagnachmittag hatten sich die Schloßbewohner in einem breiten offenen Zelte am Ufer des Teiches versammelt. Dichtes Buschwerk umgab ihn ringsum, und hinter diesem ragten das hellgrüne malerische Gezweig einzelner Tulpenbäume und aus weiterer Entfernung die dunkeln Gipfel eines Balsamtannenhaines in das gleichförmige, ruhig leuchtende Himmelsblau empor.

Alle im Zelte Anwesenden, Fräulein Nullinger und Hermann junior ausgenommen, rauchten. Annette hatte nach und nach ihren Sessel bis zum Eingang vorgerückt; dennoch schwebte tückischer Tabaksqualm ihr nach und machte sie hüsteln, was Gräfin Dolph unabweislich rügte. Sie saß in der Tiefe des Zeltes in einem ausgefütterten Strandsessel und hatte eine Haube auf, die ungemein an die häusliche Kopfbedeckung der französischen Könige im 15. Jahrhundert erinnerte.

»Nulle«, sprach sie – »Ich heiße Nullinger«, berichtigte das Fräulein, ohne sich umzuwenden.

»Nun denn, Nullinger, zwingen Sie sich doch nicht zu husten – aus purer Affektation.«

Annette zuckte die Achseln und preßte die Flächen ihrer feuchten Hände aneinander; ihre roten aufgeworfenen Lippen hatten das ihnen eigentümlich nervöse Beben.

Fee nickte ihr bedauernd zu und seufzte: »Ach, welche Hitze! Ist es immer so heiß bei Ihnen, Graf Dornach?« Sie wiegte sich in ihrem Schaukelstuhle, hatte die Augen halb geschlossen und ließ wie todmüde die Arme an beiden Seiten ihres schlanken und zierlichen Körpers herabhängen.

Graf Wolfsberg, den zu amüsieren sie sich vorgenommen, war heute ein undankbares Publikum. Er hatte nicht einmal bemerkt, daß sie sein Lieblingskleid angezogen, das weiße, gestickte, mit der rosafarbigen Bébéschleife. Bei Tische, als sie, nur um ihm Spaß zu machen, die heiligsten Geheimnisse ihres Herzens auskramte, von ihren unbezahlten Rechnungen gesprochen, von ihrem Glauben an die Zukunft des Spiritismus als Staatsreligion, von allerlei Skrupeln, die sie sich machte – intim, ganz intim! –, hatte er kaum zugehört. Und nun saß er seit einer Stunde ernst und schweigsam neben ihr, und sie verzweifelte endlich daran, ihn seiner üblen Laune zu entreißen.

Hermann und Maria kannten den Grund seiner Verstimmung. Er war, indes die anderen sich in der Kirche befanden, auf den Friedhof gegangen und hatte Wolfis Grab besucht.

»Wozu? warum tut er solche Sachen, die ihn viel zu sehr angreifen?« hatte Dolph ihrer Nichte geklagt. Auch sie trachtete ihn zu zerstreuen und suchte dabei die wirksamste Unterstützung, die des kleinen Hermann; sie war aber in diesem Augenblick nicht zu haben. Das Knäblein mühte sich gar eifrig, Steinchen, die es gesammelt und auf den Schoß seiner Mutter gelegt hatte, mit ihrer Hilfe ins Wasser zu werfen. Seine Antwort auf die Einladung der Großtante, zu ihr zu kommen, lautete entschieden verneinend, und die aufrichtigste Abneigung sprach aus dem raschen Blicke, den er der alten Frau von unten herauf zuwarf.

Gräfin Dolph machte ihrem Unmut über die Vergeblichkeit der Liebesmüh, die sie seit langem an dieses schöne und entzückende Kind verschwendete, dadurch Luft, daß sie plötzlich von den Unannehmlichkeiten zu sprechen begann, die das Landleben für sie mit sich brächte.

»Etwas Schreckliches zum Beispiel«, sagte sie, »ist die Kontrolle, unter der man mit seinen Kirchenbesuchen steht. Man kann sich keinen einzigen schenken, und ich sag euch, noch ein Hochamt wie das heutige, und ihr könnt mich gleich dabehalten in eurer Familiengruft. Und Sie, Nulle, das bitte ich mir aus, placieren Sie sich am nächsten Sonntag nicht wieder in das Oratorium uns gegenüber. Sie stören mich, Sie rauben mir das bißchen Andacht, das ich noch habe, mit Ihren Ekstasen, vermischt mit Übelkeiten.«

Dieser Ausfall wurde von Fräulein Annette mit ungewohnter Kaltblütigkeit zurückgeschlagen. Wenn eine Andacht durchaus unter der anderen leiden müsse, sagte sie, möge es nur immerhin die minderwertige – die der Gräfin sein.

Fee klatschte ihr Beifall zu und gab ihr die Versicherung, sie sei die gescheiteste Nullinger, die jemals hienieden gewandelt; dann stieg die kleine Frau, von Hermann, der herbeitrat, unterstützt, in den am Ufer befestigten Kahn. Losgemacht durfte er nicht werden. Sie wollte da bleiben, sich schaukeln auf der kühlen Flut und hören, wie sich die Konversation des Grafen Wolfsberg – von weitem macht.

Er ließ sich endlich herbei, ihr einen Scherz zuzurufen, den sie ebenso schlagfertig wie unpassend erwiderte. Der von ihrer Seite munter geführte Kampf, der sich nun zwischen ihnen entspann, wurde durch das Eintreffen des Postpakets unterbrochen.

Maria verteilte die Zeitungen und die Briefe.

»Ist etwas für mich da?« – »Für mich?« fragten Fee und Gräfin Dolph.

»Ja.« Maria schob der letzteren ein großes Schreiben zu.

»Von Tessin«, sprach die Gräfin. »Von Tessin«, wiederholte sie lauter und schwenkte den Brief in der Luft. »Fee, sieh her.«

»Für Fee«, sagte Maria, und Hermann übernahm aus ihrer Hand eine ganze Ladung Modejournale und Zeitschriften, die er in den Kahn reichte.

»Das sind Ihre unbezahlten Rechnungen«, rief Wolfsberg. »Geben Sie acht, Gräfin, Ihr Dampfer versinkt unter der Last.«

Felicitas war beim Nennen des Namens Tessin so rasch aufgesprungen, daß ihr kleines Fahrzeug in bedenkliches Schwanken geriet. Sie sank zurück, schrie und warf sich so ungestüm von einer Seite zur andern, als ob sie es darauf abgesehen hätte, den Kahn umkippen zu machen.

Hermann zog ihn mit der breiten Seite dicht ans Land und sagte, halb lachend, halb verdrießlich: »Ihr Leben ist gerettet, steigen Sie aus.«

Die Übermütige sträubte sich: »Noch nicht! noch nicht! – ich will, daß man Tessin schreibt, ich sei fast ertrunken vor Freud, wie es geheißen hat, daß ein Brief von ihm gekommen ist. Sie sind Zeuge, Fräulein Nullinger, schwören Sie darauf, ich bitte um einen ordentlichen Eid – ich bitte!«

»Ei, ei, Frau Gräfin, einen Spaß mit so heiligen Dingen verstehe ich nicht«, rügte das Fräulein.

»Nicht? – o weh! dann schwören also Sie, Graf Wolfsberg.«

Mechanisch antwortete der Graf: »Ja, ja.« Seine ganze Aufmerksamkeit war von Maria in Anspruch genommen.

Sie hatte einen Brief vor sich hingelegt, einen zweiten Brief von Tessin, noch größer und gewichtiger als der an Gräfin Dolph gerichtete, und war in der Betrachtung der kräftigen, leicht geformten Züge der Aufschrift versunken. In ihrem Gesichte malte sich starres Entsetzen. Wenn diese wenigen Zeilen Tod und Verderben verkündet hätten, sie würde nicht anders auf sie niedergeblickt haben.

Nun schien sie zu fühlen, daß die Augen ihres Vaters auf ihr ruhten, erhob die ihren, sah ihn an – und senkte langsam das Haupt.

Dieses kurze stumme Gespräch zwischen Vater und Tochter wurde von niemandem beobachtet. Gräfin Dolph schwelgte im Genusse der geistvollen Epistel ihres Horace Walpole; Fräulein Nullinger verfolgte teilnehmend das Schauspiel der »Rettung« Fees durch Hermann. Trotz aller Possen, die dessen Heldin trieb, kam es glücklich zum Abschluß.

Hermann trat ins Zelt, blieb hinter dem Sessel Marias stehen, und über ihre Schulter blickend, las er von seinem Platze aus die Adresse des zweiten Briefes Tessins: »Herrn Wolfgang Forster«.

Es entspann sich eine Verhandlung darüber, was mit dem Briefe zu geschehen habe.

»Er ist so dick«, meinte Fee, »es stecken gewiß noch ein paar andere drin, die der Herr Forster hat übergeben sollen. Man muß ihn aufmachen.«

Gräfin Dolph bestätigte: »Man muß ihn aufmachen, natürlich.«

Hermann jedoch erklärte, so gar natürlich käme ihm das nicht vor. »Was sagst du, Maria?« fragte er und strich mit der Hand über ihren Scheitel.

Sie wandte sich, ergriff diese Hand und drückte sie an ihre Lippen. Das war genug, um die heftigste Eifersucht des kleinen Hermann auf den großen zu wecken. Das Kind schrie und strebte zu ihr empor, und sie hob es auf ihre Knie und drückte ihr Gesicht an das seine.

Noch hatte sie ihn, noch hatte sie eine Liebe, deren ganzen Wert sie zu erkennen begann, nachdem sie sich ihrer unwert gemacht – die Liebe des besten Mannes. Noch hatte sie die Achtung aller guten Menschen … Eine kleine Weile, ein Riß durch die dünne papierne Hülle da auf dem Tische – und alles ist vorbei, und vor ihr öffnet sich die Hölle der Schande.

Ihr Knäblein schlingt die Arme um ihren Hals und sie die ihren um ihn. Doch diese heiligste Umarmung schützt sie nicht. Sie hört nicht das zärtliche Geflüster der süßen Kinderstimme – sie hört eine andre, entsetzliche, die ihr zuruft: Was schauderst du? – doch nicht vor dem, was im Gefolge der Wahrheit kommt, nach der du geschmachtet hast und gelechzt? Da ist sie – begrüße sie. Tu’s, Armselige … Oder war es doch nicht der Betrug, wovor du am bängsten gezittert hast?… Wo ist jetzt dein Abscheu vor ihm?… Noch empfind ich ihn, dachte Maria, küßte das Kind und stellte es auf den Boden.

»Ich bin dafür«, vernahm sie nun – Gräfin Dolph sprach –, »den Brief aufzubrechen, um nachzusehen, ob er nicht wirklich andere enthält, wie Felicitas glaubt. Wenn ja, verteilt man sie, wenn nein, schicken wir dem Freunde morgen seine zwölf Seiten, ›eng und zierlich, ein kleines Manuskript‹, ungelesen, weil wir schon so hyperdiskret sind, zurück. Einverstanden, Hermann?«

»Nein«, lautete die Antwort, »ich öffne keinen Brief, der nicht an mich gerichtet ist.« Er nahm ihn, reichte ihn dem Grafen Wolfsberg und sagte leise zu ihm: »Nimm ihn zu dir, mache mit ihm, was du willst, nur sei nicht mehr die Rede davon. Alles, was Maria an Wolfi erinnert, greift sie furchtbar an. – Es ist drückend heiß hier im Zelt«, setzte er, an seine Frau gewendet, hinzu. »Komm ins Freie, Maria.«

Er nahm ihren Arm, den sie ihm willenlos überließ, und geleitete sie hinweg.

Nach dem Abendessen las Gräfin Dolph der Gesellschaft das Schreiben Tessins ganz meisterhaft vor. Etwas von allem war darin enthalten, Ernst und Scherz, anschauliche Schilderungen von Land und Leuten, ein kräftiger und rührender Ausdruck des Heimwehs, das ihn peinigte.

Fee zog sich, sobald die Lektüre beendet war, in ihre Gemächer zurück. Kurz darauf begab sich auch Gräfin Dolph, von Hermann und Fräulein Nullinger geleitet, zur Ruhe.

Graf Wolfsberg blieb mit seiner Tochter allein.

»Hermann hat immer recht«, sprach er nach einer langen Pause. »Auch mir hat es widerstrebt, den Brief an den unglücklichen Forster zu öffnen. Ich habe ihn Tessin zurückgeschickt.«

»Ich danke dir, Vater«, erwiderte Maria mühsam und stockend. »Ich hätte aber gewünscht, daß Graf Tessin gebeten würde, es bei diesem Versuch, mir Nachricht von sich zu geben, bewenden zu lassen.«

»Das soll geschehen.«

Sie hatten vermieden, einander anzusehen; nun plötzlich begegneten sich ihre Blicke. Eine große Zärtlichkeit, ein großes Mitleid sprach aus dem seinen. Er streckte ihr die Hand entgegen, er wollte reden.

Marias Mund verzog sich schmerzlich, und sie machte eine flehend abwehrende Gebärde.

Sehr lange hielt es Graf Wolfsberg in Dornach nie aus. Die werktätige Barmherzigkeit, auf die seine Tochter sich ganz verlegte, widerstrebte ihm. Es war ihm zu unangenehm, sagte er, an die Enttäuschungen zu denken, die sie erfahren werde, nicht jetzt, nicht in den nächsten Jahren, doch in fünf, in zehn; und nicht durch den Undank, der unausbleiblich sei – Dank erwarte sie ja nicht –, sondern durch die Erkenntnis, daß ihr Bestreben, das materielle und sittliche Elend der Leute zu verringern, nutzlos und in manchen Fällen schädlich gewesen sei. Jedes Bestreben aber, dessen Resultat negativ bleibt, ist ein unvernünftiges und demoralisierendes.

»Diese Leute« – wenn er die Worte sprach, biß er die Zähne zusammen, und Haß und Grausamkeit blitzten aus seinen Augen – »sind faul, heimtückisch, unverbesserlich. Es ist noch jeder gescheitert, der glaubte, im Guten auf sie einwirken zu können. Ich habe ja nicht von Anfang an die Hände in die Taschen gesteckt und zugesehen, wie einer der Dummköpfe nach dem andern zugrunde geht … Sie haben mich von meiner christlichen Barmherzigkeit kuriert, sie selbst!«

»Weißt du, Vater, warum ihnen das gelang? – Darf ich’s sagen?« fragte Maria.

»Nur zu!«

»Weil du sie nicht liebst und sie das fühlen.«

»Wohl mir und ihnen. So bin ich sicher vor einem Girondistenlose und sie vor einer neuen Gelegenheit, zu zeigen, wie sie Liebe vergelten. Laß es gut sein!« kam er dem Einwand zuvor, den sie erheben wollte, »wir zwei werden einander in dieser Sache nicht überzeugen.«

Der Sommer war vorbei; auch Gräfin Dolph und Felicitas hatten Dornach verlassen. Die Zeit verging still und ereignislos. Maria, oft unwohl, erlaubte nicht, daß Rücksicht darauf genommen werde. Sie wußte, daß ihr nur eines frommte: sich selbst vergessen, ihre Leidenskraft stählen, indem sie die Leiden der anderen milderte. »Meine Wohltäter«, nannte sie die Hilfeheischenden. Das Laster, das Unrecht, die Torheit fanden in ihr eine hartnäckige Bekämpferin. Ihrer unerschöpflichen Langmut fehlte es nie an Gelegenheiten, sich zu üben. Und nicht immer war es die Bürde schweren Ungemachs, die mitzutragen sie eingeladen wurde; es befand sich auch sehr leichtes Gepäck darunter und lächerliche, willkürlich aufgehalste Last.

An einer solchen schleppte Lisette und machte unangemessene Ansprüche an die Teilnahme »des Kindes«. Sie hatte sich in den Kopf gesetzt, was Doktor Weise hindere, um sie anzuhalten, sei die Angst vor einem Korbe.

»Er ist ein so zurückgezogener Mann und kommt zu nichts«, vertraute sie ihrer Gebieterin. »Niemand schaut auf ihn. Seine Manschetten sind immer zerdrückt, und den Hemdkragen hat er neulich gar umgekehrt eingeknöpfelt gehabt.«

Außer dem Wunsche, das Recht zu erwerben, für die Manschetten und Hemdkragen Weises zu sorgen, hatte sie noch den sehr großen, »Frau Doktorin« genannt zu werden. Das ewige »Fräulein Lisette«, Fräulein hin und Fräulein her, war ihr schon so zuwider, sie konnte es nicht mehr hören. »Geh, sprich du mit ihm, leg’s ihm nah, daß ich ihn nehmen möcht«, mit dieser Bitte schloß sie regelmäßig ihre Herzensergießungen und erhielt jedesmal den Bescheid, daß ihr Wunsch unerfüllbar sei.

So blieb Lisetten am Ende nichts übrig, als eigenmächtig einzugreifen in ihr und des Doktors Geschick. Sie ersuchte ihn eines Morgens, sie mitzunehmen in seinem Wagen, in dem er jetzt täglich zu einem Patienten nach dem nahen Städtchen fuhr; sie habe dort einige Weihnachtseinkäufe zu besorgen.

Weise war dazu bereit: »Es ist mir schmeichelhaft«, sagte er, als Lisette im Pelzmantel und Capuchon neben ihm Platz nahm. »Wo darf ich Sie absetzen?« Dabei lächelte er, aber nicht aus Wohlgefallen an ihrer äußeren Erscheinung, sondern über den Einfall, daß ihm noch nie eine Person vorgekommen sei mit einem so ausgesprochenen Jahrmarktspuppengesicht.

Auch Lisette lächelte. »Denken Sie jetzt schon ans Absetzen? Das ist ja gar nicht schön von Ihnen.« Ihre Oberlippe zog sich in die Höhe, und es kamen kleine Mauszähne zum Vorschein, die sehr gut gepflegt, aber ziemlich abgenützt waren. Sie wurde nach und nach ganz deutlich in ihren Anspielungen und der Zaunpfahl, mit dem sie winkte, keulenartig.

Dem Doktor stiegen, wie er sich selbst gestand, gewisse Apprehensionen auf, und er rückte so weit als möglich von ihr fort.

Sie sah darin eine Aufforderung seiner Gastfreundschaft, sich’s recht bequem bei ihm zu machen, lehnte sich zurück und betrachtete sein Profil. Der Rand seines weit hinausragenden Mützenschirms und die Spitze seiner Nase standen in senkrechter Linie. Mund und Kinn hingegen wichen, wie aus Respekt vor dem bedeutenden Gesichtsvorsprung, jäh zurück. Da fand die verwünschte Zaghaftigkeit, mit der Lisette heute einmal fertigwerden wollte, ihren Ausdruck.

Nach einigen einleitenden Reden meinte sie den Streich führen zu dürfen. Sie tat es – der Doktor stellte ihr dieses Zeugnis aus, als er sich von dem erlittenen Angriff erholt hatte – mit hochgradiger Dezenz, indem sie ihn fragte, ob er nie daran gedacht habe, sich zu verändern.

»Doch, doch, vor Jahren einmal«, seufzte er und zog, ohne es zu wollen, die Zügel des lammfrommen Schecken an, der sogleich stehenblieb, sich aber auf den Zuruf: »Allons, Allons!« wieder in Bewegung setzte.

»Und seitdem nicht mehr?… Das ist schad, und dann ist es auch traurig.«

Sie blinzelte schalkhaft zu ihm hinüber, was ihn empörte und beängstigte. Er kam sich so hilflos und ihr preisgegeben vor in unendlicher Einsamkeit. Soweit das Auge reichte, war nichts zu sehen als Schnee und Schnee und nichts Lebendiges wahrzunehmen als der Scheck, einige Krähen und das Frauenzimmer, das ihm »Avancen« machte.

Sie sprach viel, und alles, was sie sagte, war entweder schmeichelhaft für ihn oder für sie, und ihm blieb nichts übrig als entweder: »Das Fräulein sind zu gütig«, zu murmeln oder: »Das Fräulein haben recht.«

»Ein solcher Mann«, sprach sie nun milde, »und hat keinen Herd.«

»Entschuldigen, habe, habe, o einen vorzüglichen, neuester Konstruktion.«

»Einen häuslichen, mein ich. Ein solcher Mann – und hat keine Frau.«

»Oh, bitte, bitte – die habe ich auch.«

Fräulein Lisette neigte sich so rasch zur Seite, daß man es ein Sich-zur-Seite-Werfen hätte nennen können. »Sie – Sie haben – eine Frau?«

»Ja freilich, eine wunderhübsche.«

»Wo?«

»Bei ihren Eltern habe ich sie. Ich habe sie ihren Eltern aufzuheben gegeben.«

»Das heißt«, berichtigte Lisette, der plötzlich alles Zartgefühl abhanden gekommen war, »Sie haben sie fortgejagt?«

»Bitte, bitte!… Eine so undelikate Maßregel ergreift man nicht gegen eine Dame, die man ohnehin unglücklich gemacht hat, indem man ihr etwas höchst Fatales eingeflößt.«

Seine Zuhörerin erschrak tödlich, sie dachte an Gift.

Er aber flüsterte: »Antipatheia.«

»Jesus! was ist denn das?« rief Lisette.

»Ein inkurables und darum so perniziöses Leiden, weil es den Menschen um seine schönste Illusion bringt, um die des freien Willens. – Denken Sie sich eine von den besten Absichten für ihren Eheherrn beseelte Frau, die im Augenblick, in welchem sie dieselben betätigen soll, von der heftigsten Versuchung ergriffen wird, ihm etwas an den Kopf zu werfen … und derselben nur selten zu widerstehen vermag. – Dabei süßer Empfindungen durchaus nicht unfähig – o nein! wenn es auch dem Betreffenden nicht beschieden war, sie zu wecken, außer – auf Distanz. In je weiterer Entfernung er sich von ihr befand, eine desto hingebendere Gattin wurde sie ihm. So sprach er denn eines Tages zu ihr, indem er sich an einen Dichter lehnte: ›Wie gut wäre es, Carissima, wenn du, um mich mehr zu lieben, dich für immer von mir entferntest!‹ – Sie tat es, und seitdem führen wir die musterhafteste Ehe. Haben vor kurzem brieflich unsere silberne Hochzeit gefeiert.«

Das Fräulein wollte ein etwas spöttisches Bedauern über »diese Gattung von Verhältnis« äußern – der Doktor aber meinte: »Ein Gutes ist jedenfalls dabei: dem Manne, der schon im Besitz einer Frau ist, kann niemand mehr zumuten, eine zu nehmen.«

Lisette machte unerhört alberne Augen und sprach nicht ein Wörtchen mehr. Sie war so vernichtet, daß sie ihre sämtlichen Einkäufe in der Stadt besorgte, ohne zu handeln. Drei Wochen mußten vergehen, ehe sie sich von ihrer Enttäuschung erholen konnte. Dann wurde »das Kind« wieder der Mittelpunkt ihrer Interessen und das angebetete Opfer ihrer engherzigen Liebestyrannei.

Wie am vorigen Jahresschlusse fand sich auch an diesem Gräfin Agathe in Dornach ein. Sie half die Christbäume schmücken für jung und alt, für arm und reich, in der Halle und im Saal.

Dem Entzünden der Lichtlein stand aber sie allein vor.

Maria konnte nicht Zeuge der Freude sein, die vorzubereiten seit Wochen und Wochen ihr hauptsächliches Bemühen gewesen war. In der heiligen Weihnacht gab sie einem zweiten Sohne das Leben. Er war so schmächtig und klein, wie der erste groß und stark gewesen. Mit banger, unausgesprochener Besorgnis sah Hermann seine Mutter an, als er mit ihr an die Wiege des Neugeborenen trat.

»Nein«, sagte sie, »er ist nicht schwach, nur zart. Er wird leben – zu meiner Freude. Das wird der meine sein unter deinen Kindern.« Weich, wie man sie nie gesehen, versenkte sie sich in den Anblick des Knäbleins und hielt die Hand segnend über ihn ausgestreckt. »Er hat schwarze Augen, Hermann, die Augen deines Vaters, und soll Erich heißen wie dein Vater.«

Maria kränkelte lange, sie konnte dieses Kind nicht nähren; sie hatte für dasselbe nicht soviel Liebe wie für das ältere. Sie verlangte nicht nach ihm, widersetzte sich nicht, wenn man es forttrug aus ihrem Zimmer, und es beunruhigte doch niemanden und stellte unerhört geringe Anforderungen an seine Umgebung. Es lag oft lange ganz still mit weit geöffneten Augen.

»Fremde Augen hat’s und das Gesicht der Mutter«, entschied die Wärterin, wenn jemand herauszubringen suchte, wem es ähnlich sehe. – Eine Spur von der Seelenpein, die sein Werden begleitet hatte, spiegelte sich wider auf seinem kleinen Angesicht, und traurig staunend schien es zu fragen: So also sieht es aus in eurer Welt?

An Liebe litt es nicht Mangel. Hermann zerfloß vor ihm in überquellendem Erbarmen; alle Frauen im Hause schwärmten für das Kind, das etwas »ganz eigenes« hatte; sein Bruder verteidigte es wie ein kleiner Löwe vor den Ausbrüchen ihrer Zärtlichkeit und brachte es gleich darauf in Gefahr, von dem Ungestüm der seinen erdrückt zu werden.

Der Winter verfloß; Maria blieb müde und erschöpft. Alle herbeigerufenen Ärzte rieten, wie Doktor Weise es längst getan, zu einem Aufenthalt von mehreren Monaten in Italien.

Die Kranke sträubte sich gegen eine Entfernung von daheim, aber zum ersten Male setzte Hermann dem Willen seiner Frau entschiedenen Widerstand entgegen, und sie mußte sich fügen.

Gräfin Agathe kam nach Dornach, um die Kinder in Abwesenheit der Eltern zu betreuen; Hermann und Maria reisten. – Sie hatte schon vor Jahren mit ihrem Vater das Land der Sehnsucht jedes künstlerisch Fühlenden besucht und fand nun im Genusse der Wunder einer märchenhaft reichen Natur und einer Welt, in der »Sterbliche Unsterbliches geschaffen haben«, die Empfindungen ihrer Mädchenzeit wieder. Wie oft atmete sie auf, frei und leicht, und sah ihr eigenes Bild so rein, wie die Seele ihres Mannes es widerspiegelte. Ihre wankende Gesundheit befestigte, ihr erschütterter Mut stählte sich.

Es war krankhaft, dachte sie, zu glauben, die Verirrung eines Augenblicks könne nicht gesühnt werden durch ein ganzes Leben der Rechtschaffenheit und Pflichterfüllung. Fort mit den Gespenstern einer abgeschworenen Vergangenheit. Sie sind die Feinde eines Glückes, das ungetrübt zu erhalten ihre wichtigste Aufgabe war, vor der alles andere zurücktrat, des Glückes Hermanns. Mit hoher Freude erfüllte sie der Anblick der seinen. Ihm aber durchsonnte ihre Heiterkeit die Seele, er lebte von ihrem Leben.

»Wir sind auf unserer Hochzeitsreise«, sagte er.

Die Frau, die Mutter seiner Kinder kam ihm jetzt oft vor wie eine Braut, doch nicht wie die kühle, stolze, die sie einst war – wie eine liebende Braut.

Und da kniete er vor ihr nieder und betete sie an. Einmal rief er aus: »Ich bin zu glücklich, ich verdien es nicht. Ich habe eine Schuld abzutragen, aber statt sie einzufordern, überhäuft mich das Schicksal mit immer neuen Gnadengeschenken.«

»Du hättest eine Schuld abzutragen?« fragte Maria. »Die schwerste – einen Frevel an dir. Ich habe um dich geworben, dein Ja erbettelt, obwohl ich wußte, freudig gibst du es mir nicht. Den ersten Kuß, Geliebteste, hat ein Ungeliebter auf deine Lippen gedrückt. Es war ein Verbrechen an dir – ein unsühnbares.«

Sie schrak zusammen bei diesem Wort. Er nahm ihre Hände zwischen die seinen: »Maria, wann werde ich, wie werde ich dafür bestraft werden?«

»Nie, gar nicht«, stammelte sie verwirrt und drückte ihren Kopf an seine Brust.

 

Sie kehrten zurück. Es war Abend, als sie ankamen. Die Kinder schliefen. Hermann blies die Wangen auf und hatte die Fäustchen fest geballt. Er war groß und stark geworden, ein Knäblein wie ein junger, kräftiger Baum. – Das kleine unechte Reis, auf den reinen Stamm Dornach gepfropft, Erich, lag in leichtem Schlummer, zuckte und öffnete die Augen, als seine Mutter ihm nahte. Sie war betroffen und befangen von dem geheimnisvollen Reiz, der dieses Kind umwob, wandte sich rasch und trat an das geöffnete Fenster.

Würzige Düfte erfüllten die Luft, melodisch rauschte es in den Bäumen, durchsichtige Schleier breiteten sich über die Wiesen, leichter Rauch lag auf den Höhen.

Weit herüber von der Straße, die zum Dorfe führte, vernahm man den Gesang heimkehrender Feldarbeiterinnen. Nah und näher kamen die Klänge einer schwermütigen slawischen Volksweise. Schon konnte man die letzten Worte des Liedes unterscheiden:

 

Schönheit, dein Prangen,

Liebe, dein Glück,

Alles vergangen,

Kehrt nicht zurück.

Ewig treu,

Immer neu

Bleibt die Reu,

Bleibt die eisgraue Reu. –

13

 

In der Nähe von Dornach, auf dem seit langem unbewohnten Gute Rakonic, hatten sich zwei junge Ehepaare angesiedelt. Die Männer waren Brüder, die Frauen Schwestern. Sie gehörten den vornehmsten Gesellschaftskreisen an und betrieben den Sport als Beruf, mit angeborenem und energisch ausgebildetem Talent. Überdies gab es in etwas verwickelten Ehrensachen keinen höheren Richter als die Grafen Clemens und Gustav und im Punkte echter Eleganz keine nachahmungswürdigeren Vorbilder als die Gräfinnen Carla und Betty Wonsheim. Es gab auch in der weiten Welt nicht wieder vier Menschen von so vollkommener Übereinstimmung in ihren Lebensanschauungen, ihren Verhältnissen, ihrer Bravheit, ihrer kindlichen Unwissenheit. Den Brüdern sah man ihre nahe Verwandtschaft sofort an. Beide waren mittelgroß und breitschultrig, ihre Scheitel schon etwas gelichtet; sie hatten ein äußerst gelassenes Wesen, sprachen langsam und in derselben bedächtigen Art. Im Äußeren der Schwestern hingegen herrschte die größte Verschiedenheit. Carla, die ältere, schlank und blond, glich der Schwindischen Melusine. Betty, braun, klein, neigte zur Fülle und unterzog sich infolgedessen einem ziemlich strengen Training. Sie rühmte sich, nie anders als mit dem Springgurt geritten zu sein. »Was hat man denn für einen Rapport mit dem Pferd«, fragte sie, »wenn man auf so einer Maschin von einem Sattel oben sitzt?« Ihre Lebhaftigkeit bildete einen angenehmen Gegensatz zu dem gemessenen Benehmen ihrer Angehörigen. Sie war sehr verliebt in ihren Clemens, und er ließ sich ihre Zärtlichkeit gefallen und hatte, obwohl seit einem ganzen Jahre verheiratet, noch nicht eine Untreue an seiner kleinen Frau begangen. Gustav und Carla hingegen verkehrten miteinander mehr wie zwei gute Gesellen denn als ein junges Ehepaar. Jedes brave eheliche Verhältnis endet mit Freundschaft; sie ersparten sich den Umweg und fingen gleich bei der Freundschaft an.

Sobald die Fahnen auf den Türmen des Schlosses Dornach die Anwesenheit des Herrn und der Frau vom Hause verkündeten, fanden Wonsheims sich dort ein und wurden oft und gern gesehene Gäste. Sie verlangten aber auch Erwiderung ihrer Besuche, Teilnahme an ihren Interessen. Es verdroß alle, wenn eine ihrer Einladungen von Maria ausgeschlagen wurde, weil sie »zu tun« hatte. – Und was? – Krippen errichten, ein Versorgungshaus bauen, ein Spital, »und immer machen, als ob sie dabeistehen müßt – wenn das nicht Affektationen sind«, meinten sie, »dann kennen wir uns überhaupt in solchen Sachen nicht mehr aus«.

Sie waren einmal von einem betrunkenen Taugenichts angebettelt worden, der ihnen auf die Frage, woher er sei, geantwortet hatte: »Aus Dornach.«

»Wie – daher? Gibt’s denn noch arme Leut in Dornach? Dort is ja der Himmel für die Armen.«

Der Taugenichts zwinkerte schlau und sprach in kläglichem Tone: »Für den armen Herrn Spitalsverwalter und Aufseher, und wie die liebe Bagage sich titulieren läßt … für die wird’s wohl der Himmel auf Erden sein, die liegen auf der faulen Haut und fressen sich an. Ein wirklich Armes hat’s in Dornach grad so schlecht wie überall.«

Das war Wasser auf die Mühle der Wonsheim, und sie fragten nicht, ob es aus trüber Quelle floß.

Eines Tages, als wieder eine verneinende Antwort aus Dornach eintraf, schnellte Betty den Brief, der die Absage enthielt, durch das offene Fenster, daß er weithin flog, die Luft mit der Kante durchschneidend. »Der vierte Korb, den die langweilige Person uns gibt!« rief sie, und Clemens versetzte: »Ihr seids aber auch wie die Wanzen. Laßt sie in Ruh!«

»Just nicht! Sie darf nicht fort im Spital sitzen und sich mopsen. Man muß sie ein bissel aufmischen.«

Bettys Meinung drang durch.

»Mischen wirs auf«, erwiderten Gustav und Carla, und schon am nächsten Morgen, in aller Gottesfrüh, kam die Familie in Dornach angesprengt, um Hermann und Maria zu einem Spazierritt aufzufordern.

Es war ein hübscher Anblick, als sie im Schloßhof hielten, die stattlichen Herren und die anmutigen Frauen auf ihren schönen Rossen, an denen jede Sehne Kraft und jeder Blutstropfen Adel war. In ihrer Begleitung befanden sich Flick und Flock, ihre Doggen, die ernsten, klugen, die den Pferden wie angebunden im jeweiligen Tempo dicht an den Hufen folgten. Sie sahen nicht rechts noch links, sie kümmerten sich weder um einen aufschwirrenden Vogel noch um einen aufgescheuchten Hasen; aber einen Blick, einen freundlichen Zuruf ihrer Herren beantworteten sie mit Wonnegeheul und Freudensprüngen. Jetzt waren sie verdrießlich über die Unterbrechung ihres Morgenrennens.

Verdammte Dahockerei! Wie lang soll’s noch dauern? sagte Flick zu Flock.

Riech nur, riech! erwiderte der, da kommen ja schon die Hunde mit ihren Menschen. Den Boxl, den möcht ich durchbeuteln, daß er nicht mehr wüßt, wo sein grauslicher Kopf ihm steht. Er knurrte, seine Haare sträubten sich.

Boxl lief auf ihn zu, klein und frech, der ganze Hund eine impertinente Frage: Was habt ihr bei uns zu suchen?

Die Spuren meiner Zähne in deinem Fell, du Ratte, und Flock wollte auf ihn losfahren. Aber sein Herr befahl: »Kuschen!« So drückte er denn die Augen halb zu, leckte die Schnauze und wandte dem Händelsucher, der nicht aufhörte, ihm die größten Unannehmlichkeiten zuzukläffen, den Rücken.

Flick setzte sich dicht an seine Seite, und die beiden streckten die Hälse, wedelten mit den Schwänzen, öffneten die gewaltigen Rachen und gähnten laut und herausfordernd.

Inzwischen war die Einladung der Wonsheim angenommen worden. Maria ging, sich umkleiden zu lassen, die Pferde wurden vorgeführt: Hermanns brauner Wallach und Marias in letzter Zeit arg vernachlässigter Liebling Hadassa.

Fünfjährig, mit feinem Kopf, schlankem Bug, breiter Brust, breitem Kreuz, – tanzte sie einher auf elastischen, makellosen Füßen. Sie war wie grauer, wolkiger Marmor und rabenschwarz ihre spärliche Mähne und ihr an der Wurzel spitz zulaufender Schwanz. Als sie die fremden Pferde erblickte, warf sie den Kopf empor; ihre dunkelbraunen, aus dem mageren Gesicht vorquellenden Augen sprühten; sie blies die Nüstern auf, wieherte drohend und stieg plötzlich auf den Hinterbeinen in die Höhe, daß der kleine Groom, der sie fest an den Zügeln hielt, in der Luft baumelte wie ein Taschentuch.

Alle lachten. Maria trat heran und streichelte den Hals der Stute. Hadassa jedoch, ihr Gebiß kauend, im Sande scharrend, wich verdrossen vor der Gebieterin zurück.

»Nervos?« fragte die und schwang sich mit Hermanns Hilfe in den Sattel.

Sie hatte nicht daran gedacht, den Tag mit einer Unterhaltung zu beginnen, sich heute besonders viel vorgesetzt, war im ersten Augenblick unzufrieden gewesen mit der eingetretenen Störung. Bald jedoch schien sie ihr eine Wohltat. Erfrischend, belebend wirkte auf sie die rasche Bewegung in der tauigen Kühle des Morgens. Die Nebel sanken, die Sonne stieg hinter den Laubwäldern empor, die der Herbst schon bunt gefärbt hatte, und überglänzte ihr geschminktes Sterben.

Die Reiter nahmen ihren Weg durch den Park. Sie kamen an dem Aussichtspunkte vorbei, wo Marias erste Unterredung mit ihrem Bruder stattgefunden, wo sie die ersten Worte mit ihm getauscht, der dem Verbrechen den Pfad zu ihr gebahnt hatte.

Vorbei – vorbei … Trag mich hinweg, Hadassa! und sie führte unüberlegt einen Streich mit der Gerte über die Schulter des aufgeregten Tieres. Hadassas Empörung war grenzenlos. Sie bockte, schlug und gab ein Beispiel trotziger Unbotmäßigkeit, das bei den anderen Pferden Nachahmung zu finden begann.

»Nichts mit ihr zu machen. Ich muß sie allein haben«, sagte Maria. »Wir treffen uns beim Jägerhause.« Und sich jede Begleitung, auch die Hermanns, verbittend, lenkte sie vom Wege ab auf das nahe Sturzfeld, in dessen weichem, tiefem Boden Hadassa sich müde rennen sollte. Ein grüner Wiesengrund begrenzte das Feld und bildete das Ufer des klaren, wasserreichen Flüßchens. Es war dasselbe, das droben in den Bergen zu Füßen der Burgruine so prächtig übermütig durch die Felsenriffe tobte.

Von weitem schon sah Maria seine glatte Oberfläche blinken. Dort, auf sanfter Bahn, im seichten Bette, hatte es ausgestürmt.

Siehst du, Hadassa, für noch ganz andere Wildheit als die deine gibt’s nach dem Auf- und Abwogen der Hochflut die ruhige Ebbe des Gleichgewichts. Du glaubst nicht an deine Zähmung, du Tolle? Warte nur, du mußt erst müde werden. Vorgeneigt bis auf den Hals der Stute, ließ sie ihr die Zügel. Ein rasender, ein wonniger Ritt, ein Flug über Gräben und Hecken. – Hadassa spürt nicht mehr den Boden unter ihren Hufen. Hadassa ist ein Adler, ist der Sturm; von ihr getragen zu werden und soviel Leben, Kraft, Feuer deiner Laune unterworfen fühlen, dem Drucke deiner Hand – das ist Seligkeit. – Leugne sie, wer sie nicht kennt … Marias Herz öffnete sich ihr mit Entzücken. Sie atmete erquickt und frei; sie war einmal wieder glücklich und ruhig, und in ihrem Innern war Frieden … …

Wo hatte sie den gesucht? – in der Pflichterfüllung, im Wohltun, in ihrer mit Begeisterung ausgeübten Kunst. Alles vergeblich. Der Frieden der Seele ist zu finden auf dem Rücken Hadassas, im wilden Genuß eines sinnlosen Rennens und Jagens. Das schäumende Roß, die glühende Reiterin sind von demselben Rausche erfaßt. Hadassa ist nicht zu ermüden, nur zu erhitzen, Maria ihrer Herrschaft über sie nicht mehr so sicher wie früher. Um so schöner – es lebe die Gefahr! Aug in Aug mit ihr wird das Vergessen am tiefsten …

Da war es gedacht und der Zauber gebrochen. Des Vergessens gedenken heißt ja sich erinnern. Der Brust Marias entstieg ein Schrei und gellte unheimlich durch die Stille. – Aber horch, es kam Antwort. Ein dumpfes, einförmiges Geräusch, das aus der Ferne herüberdrang, gab sie. Dort am Ausgange der Waldschlucht stand eine Mühle, und rastlos drehte sich ihr riesiges Rad, getrieben vom stürzenden Bach … Vorwärts! auf sie zu … Hadassa biegt nicht aus. Ein herbes Lächeln verzog Marias Lippen. – Armselig sogar an Erfindung ist das Leben. Alles wiederholt sich. Das ist ja wie vor Jahren, als sie, fast noch ein Kind, demselben Tod, dem sie jetzt entgegenjagt, entgegengetragen wurde. Einem häßlichen Tod zwischen schwarzen, triefenden Speichen, und damals graute ihr vor ihm – heute graut ihr nur noch vor dem häßlichen Dasein …

Bleich, die Augen weit geöffnet, näherte sie sich mit entsetzlicher Geschwindigkeit ihrem Ziele.

Da erfuhr sie etwas Seltsames. Ist das immer so vor dem Ende? – In alle Seelentiefen fällt unendliches Licht; die Wurzeln des Fühlens und Tuns sind enthüllt. Seines täuschenden Schimmers entäußert, erscheint das Blendwerk der Sinne und der Phantasie als ein häßliches Zerrbild. Aber die reine, von ihm zurückgedrängte Empfindung prangt in herrlichem Glanze.

– Nun wandeln zwei mutterlose Kinder die wohlbekannten Wege entlang, nun ist das Herz des besten Mannes verwaist … Warum? warum? Es hätte nicht sein müssen. – Schade um das vernichtete Glück!

»Maria!« übertönte eine Stimme das Rauschen der Fluten, »Maria!« und sie, plötzlich zurückgerufen in das Bewußtsein der Wirklichkeit, fuhr zusammen und riß die Zügel an.

Hadassa bäumte sich, dann stand sie gestreckt mit rauchenden Nüstern, mit zurückgelegten Ohren. Wo war sie hingeraten in ihrem närrischen Lauf? Was für ein wasserspeiendes Ungeheuer war das, dem sie im Begriff gewesen in den Rachen zu springen?…

Sie erschrak, und zugleich freute sie sich, denn aus dem Winkel, wo das brausende Scheusal sein Wesen trieb, kam ihr guter Kamerad und Stallnachbar, der braune Bob, einher-getrabt.

Auch er war aufgeregt, sein Reiter aber ganz ruhig, und der rief: »Was gibt’s, ist sie durchgegangen?«

Maria stammelte ein undeutliches »nein«. Ihr war zumute wie einem auf der Flucht ereilten Verbrecher. Mitten in fast übermenschlichem Ringen nach Selbstbeherrschung erzitterte sie, von Schauern durchfröstelt. Die Augen desjenigen, dem ihre letzten Gedanken gegolten, ruhten auf ihrem Angesicht. Spiegelte es die Kämpfe wider, die sie eben durchgemacht?…

Hermann hatte sein Pferd gewendet und ritt nun neben ihr an der Mühle vorbei. Er neigte sich zu Maria, legte seine Hand auf die ihre und sagte: »Du bist ganz blaß.«

»Wirklich?« Sie zog ihr Taschentuch und preßte es an ihre Stirn.

»Mir war bang, Hadassa – sie hat heute einen bösen Tag – könnte an der Mühle nicht allein vorüber wollen. So bracht ich einen Begleiter.«

»Aber wie kommst du hierher?«

»Quer übers Feld. Du machtest einen Bogen, ich habe dir den Weg abgeschnitten.«

»Und noch Zeit behalten, mir in erhabener Bedächtigkeit entgegenzutraben? Auch eine Leistung. Bravo, Bob!« Sie klopfte den Hals des schweiß- und schaumbedeckten Pferdes: »Ich liebe dich.«

Hermann lachte sie an: »Der Glückliche, sein Herr beneidet ihn.«

»Hat keinen Grund dazu«, sagte sie ernst und warm.

Er drückte ihre Hand, die er noch immer in der seinen hielt: »Das sagst du ja, als ob es dir leid täte«, versetzte er im früheren Tone. Aus seinem Blicke sprach lautere Seligkeit und weckte einen Widerschein in der Seele Marias.

Was ihr vorhin gedämmert hatte, es durchdrang sie jetzt mit dem Lichte und mit der Kraft sonnenklarer Überzeugung. Das Beste und Höchste an ihr, das, worin alle edlen Eigenschaften ihres Wesens gipfelten, war die langsam gereifte Liebe zu diesem Manne.

Kapitel 14

Kapitel 14

 

Von nun an ließ sich Maria nicht mehr lange bitten dabeizusein, wenn »etwas los« war bei Wonsheim. Aus der Rolle einer Zuseherin ging sie bald zu der einer Mitwirkenden und endlich einer Anführerin über. Schwungvoll wie eine Kunst, nicht mit der Nüchternheit eines Handwerkes wollte sie den edlen Sport betrieben sehen. Den der Jagd zum Beispiel, an dem Carla und Betty leidenschaftlich Anteil nahmen. Was man so vortrefflich auszuüben versteht, soll auch schön ausgeübt werden.

»Machen wir ihnen eine Freude«, sagte sie zu Hermann, »lassen wir für ein paar Tage das Goldene Zeitalter der Jagd wieder aufleben, zaubern wir uns an den Hof Augusts des Starken oder nach dem Jagdschloß Blankenburg. Veranstalten wir ein Fest, bei dem einmal gezeigt wird, was das Haus Dornach vermag; denke nur, daß ich selbst es noch nie in seinem Glanze gesehen habe.«

»Ein schweres Versäumnis«, erwiderte er, »aber wir wollen es gutmachen.«

Die öden, immer verhangenen Prunksäle wurden dem Licht und der Luft geöffnet, und es zog wie ein Erwachen durch die Räume. Ein leises Knistern erhob sich in dem alten Schnitzwerk und Getäfel der Wände, ein plätscherndes Geräusch in den meergrünen, goldbefransten, vom Winde, der durch die Fenster drang, geblähten Vorhängen und Draperien. Die Prismen der kristallenen Kronleuchter schlugen lustig aneinander mit feinem, hellem Klang. Und erst auf dem Orchester im Tanzsaale, wie ging es da zu! Da wurde gestimmt und geübt und Straußische Musik einstudiert. Eine stürmische Auferstehung für die Streich-und Blasinstrumente, die geruht hatten in ihren Särgen, seitdem sie der längst vergessenen Weise eines Menuets à la reine ihre Stimmen geliehen. Der greise, immer mürrische Schloßwärter, der sich als der eigentliche Schloßherr betrachtete, griff ungern genug auf Hermanns Befehl nach seinem Schlüsselbund. Und die eisenbeschlagenen Eichenschränke in der Silberkammer lieferten die Schätze aus, die ihr Hüter sorgsam pflegte und geizig verbarg vor der Neugier der Laien. Da kamen sie hervor und schmückten die Tafel im großen Speisesaal, die phantastischen Aufsätze und Trinkschiffe, die Nautilusschalen, die romanischen Pokale und die gotischen mit ihren kleinen durchbrochenen Türmen, Spitzbogen und Fialen. Kannen, Becher, Schüsseln in bewunderungswürdig getriebener Arbeit, mit Figurenreliefs, eingeschmolzener Emaillierung, eingesetzten Edelsteinen, Triumphe der Goldschmiedekunst, die Hand Jannitzers, Eisenhoidts, Dinglingers verratend, dieser bescheidenen Meister einer Kleinkunst, aus deren Werkstätten so viele große Künstler hervorgegangen sind.

Die Einladungen zu dem Feste waren im Stile des 18. Jahrhunderts verfaßt. Die »Cavaliere und Dames« wurden gebeten, nach dem Kesseltreiben, das an der Stelle des historischen Fuchsprellens abgehalten werden sollte, »in grünsammetener, mit Silber verschamerierter Kleidung« beim Mahle zu erscheinen. Zur Jagd selbst kamen die Gäste natürlich in beliebigem Kostüm: »Je schäbiger, je schickiger!«

Carla und Betty Wonsheim, die das Wort erfunden hatten, brachten es zu Ehren, sahen jedoch nicht vorteilhaft aus in ihren zerdrückten Hüten, ihren alten Paletots, kurzen Röcken und abgetragenen Schnürstiefeln.

Wenn aber die Herren mit ihren ledernen Jagdhosen die Zimmer putzen lassen, um ihnen jeden Schein von Neuheit zu benehmen, dürfen die Damen nicht zurückbleiben, und auch ihre Ausstaffierung muß die Spur von hundert blutigen Schlachten gegen Haar-und Federwild tragen.

Als die Gäste versammelt waren, fand, frei nach Döbel, der Aufzug statt, den Willy, Wilhelms Erstgeborener, mit dem bloßen Hirschfänger in der Rechten anführte. Ein ergötzliches Schauspiel, bei dem weder die Schar der Leute im »wilden Mannshabit« noch der Künstler, der den »pohlnischen Bock« pfeifen konnte, noch der Waidmann fehlte, der das Parforcehorn musikalisch zu blasen verstand.

Die Gesellschaft spendete reichlichen Applaus und bestieg in bester Stimmung die Wagen, die sie nach dem Revier brachten, wo der erste Trieb stattfand. Der letzte sollte die Jäger am Nachmittag in die Nähe des Schlosses zurückführen, und diesen versprach Maria, den Bitten aller nachgebend, mitzumachen.

Zur bestimmten Stunde verließ sie das Haus. Es war kalt, ein scharfer Nord hatte sich erhoben, fegte den dünnen, harten Schnee in die Gräben und Mulden und blies von Zeit zu Zeit einen Schauer feiner Eisnadeln über die Felder.

Still und schweigend kamen die Jäger heran, die flügelführenden an der Spitze. Der Ordner befahl Halt, und nun teilte sich der Zug. In gleicher Entfernung von dem anderen ging je ein Schütze zwischen zwei Treibern seinem Stande zu.

Seit ihrer Kindheit hatte Maria nicht mehr an einem Kesseltreiben teilgenommen und nur einen verworrenen Eindruck davon behalten. Nun schritt sie neben Clemens, dem sie schon am Morgen ihre Begleitung zugesagt hatte und der ihr ganz merkwürdig vorkam. Eine heftige Aufregung spiegelte sich in seinem sonst so phlegmatischen Gesicht; aber er blieb stumm.

Der Kreis war geschlossen, die Jäger begannen vorzurücken.

Alles noch regungslos da drin in dem seichten, leicht beschneiten Ackergrunde, der sich gleichmäßig senkt und dann wieder erhebt bis zur Einhegung des Parkes.

»Die Hasen waren klug«, sagte Maria. »Sind alle fort, im Walde.«

»Sind da, ducken sich nur«, antwortete Clemens.

Die Treiber begannen ihre Klappern zu rühren. Ein zerlumpter Junge in durchlöcherten Socken sprang vor Maria her, offenbar in der Absicht, von ihr bemerkt zu werden. Er jagte auch wirklich einen Hasen auf. Dann rückten drei andere nach, vier, sechs … Der erste Schuß knallte, ein großer, fetter Hase stürzte und blieb auf der Stelle.

»Das war die Betty«, murmelte Clemens, und ein Ausdruck leidenschaftlichen Neides umzuckte seinen Mund. Seine Hände zitterten, er schoß und fehlte, schoß wieder und traf, aber schlecht. Auf drei Läufen sprang sein Opfer dem nächsten Nachbarn in den Schuß. Nun nahm er sich zusammen, nun war er wieder er selbst. Wohl dem Meister Lampe, der ihm kam, er hatte nicht lange zu leiden.

Der Kreis wurde immer enger, es wimmelte von Wild. – Aus der Erde schien es zu wachsen, erhob sich aus jeder Furche, sprang hinter jeder Scholle hervor, wandte alle seine Finten vergeblich an, stürzte herum im Wahnsinn der Angst, schrie, daß es einen Stein erbarmt hätte – und Jägern Vergnügen machte. Und erst dem Volke! Welchen Feiertag begeht heute das Volk!

Das feigste Tier, das völlig wehrlose zusammentreiben auf einen Fleck, damit es dort lustig niedergeknallt werde, nachhelfen mit dem Stock, wenn das Gewehr sein Werk nur halb getan, totmachen, so recht nach Herzenslust und noch Geld dafür kriegen, das ist ein Gaudium für den armen Mann und für sein Kind eine Schule, in der es etwas lernen kann.

Der letzte Trieb, der schönste Trieb. Wer hätte das erwartet! Die meisten Herren und alle Damen wurden von einem Rausch ergriffen. Angesichts solcher Massen Wildbrets wird der kaltblütigste Jäger hitzig. Das Abc der Wissenschaft geht ihm verloren; er zielt kaum mehr, kümmert sich nicht darum, ob »das Material« zuschanden geschossen wird.

Die Strecke bedeckt sich mit totem, verendendem, verstümmeltem Getier. Es düngt den Boden mit seinem Schweiße; es wird geknickt, erwürgt; die Treiber binden ihm die Hinterläufe zusammen und beladen ihre Stöcke mit der noch zuckenden Beute.

Maria hatte weggeblickt. Widerwillen, Ekel, ein großes Staunen erfüllte sie: die sich da ergötzen an den Qualen eines armseligen Geschöpfs, das sind lauter gute Menschen.

»Gräfin, schauen S’ her«, rief Clemens mit seinem heitersten Lachen.

Auf zehn Schritte von ihm hatte ein alter blinder Hase sich hingepflanzt und machte ein Männchen. Beide Löffel waren ihm abgeschossen, und die Farbe lief über seine erloschenen Lichter. Er wischte sie mit den Vorderläufen langsam ab, schüt-telte sich, loste nach rechts und nach links, senkte traurig seinen kugelrunden Kopf und sah unglaublich dumm aus.

»Den Gnadenstoß, ich bitte um den Gnadenstoß für ihn«, sprach Maria.

Clemens gab Feuer. Der Hase lag und – unweit von ihm der kleine Treiber, der aus vollem Halse schrie und ein Bein in die Höhe streckte.

»Patzer!« rief Betty herüber.

Im selben Augenblick gab der Hornist das Zeichen zum Schluß.

Maria war auf den Verwundeten zugeeilt, Clemens folgte ihr langsam nach. Doktor Weise kam mit Riesenschritten heran. Er trug eine Mütze mit Ohrklappen, stak in einem Pelze, der ihm die Form eines Schilderhauses verlieh, und war mit doppelt soviel Jagdrequisiten behangen, als er hätte verwenden können. Mühsam kniete er neben dem Jungen nieder, untersuchte ihn genau und sprach: »Ich konstatiere, daß dieser adolescentulus an der sura des linken Beines von einem Schrot gestreift worden ist.«

»Das ist alles, wirklich alles?«

Weise nickte: »Alles.«

Nun erhob der Bursche ein Geschrei, gegen das sein früheres nur ein Säuseln genannt werden konnte. Er tobte und kreischte: »Ich hab eins, der Herr Doktor vergunnt mir’s nit, der Herr Doktor lugt. Ich hab eins, ich hab ein Schrot und krieg fünf Gulden!«

»Immer die alte Komödie«, sagte Clemens.

Der Doktor aber sprach, nachdem er dem Patienten eine Maulschelle verabreicht und sich mit Hilfe zweier Jäger aufgerichtet hatte: »Verzeihen, das ist Ihre Schuld, Herr Graf. Wenn man jedem angeschossenen Treiber fünf Gulden fürs Schrotkorn bezahlt, darf man dann nicht staunen, daß sich die Leute auf so leichte Art etwas verdienen wollen.«

 

In drei Sälen des Schlosses wurden die Gäste »magnifique traktieret«. Hermann erhob sich und leerte sein Glas »auf aller braven Jäger Gesundheit«. Die Hifthörner bliesen, und zum Finale ließen die Jägerburschen das Waldgeschrei ertönen.

Es war das stilvollste Fest, das man denken konnte, und mit weit mehr historischer Treue ausgerichtet, als der größte Teil der Gesellschaft zu würdigen verstand. Doch freute sich jeder an der entfalteten Pracht, am Reichtum und Geschmack der Kostüme.

Besondere Bewunderung erregte Carla Wonsheim, die entzückend aussah in ihrem grünen, mit weißem Atlas ausgeschlagenen Sammetgewand und dem dunkeln Federbarett auf ihrem hübschen Kopfe. Sie schien in einem Diamantenregen gestanden zu haben, denn sie war vom Scheitel bis zu den Füßen mit einzelnen dieser funkelnden Edelsteine wie übersprüht.

»Wen stellen Sie vor?« fragte eine junge, schlanke Landedel-frau mit auffallend schönen Augen, Baronin Wlasta Wynohrad. Die Damen Wonsheim waren ihr wie Sterne aufgegangen an ihrem beschränkten Horizont, und sie kannte keinen höheren Ehrgeiz, als in der Nähe ihrer Idole geduldet zu werden.

»Wen ich vorstelle? – das weiß die Frau vom Haus«, gab Carla zur Antwort, »die hat unsere Kostüme vorgeschrieben.«

»Das meine nicht! Ich lasse mir nichts vorschreiben. Ich bin die Pfeife, nach der bei mir alles tanzt. 18. Jahrhundert, Jagdkostüm – va bene. Das weitere ist meine Sache.«

Carla ließ einen »unvertrauten« Blick über die Toilette der Baronin gleiten und dachte: Nicht recht präsentabel, die brave Frau.

Diese zog ihre mageren Schultern in die Höhe, streckte den langen Hals und ließ die Freudenbotschaft von ihren Lippen schweben, daß sie den nächsten Winter in Wien zubringen werde.

»So?« sprach Carla.

»Ja, ja, und ich werd schon oft zu Ihnen kommen und Sie bitten, daß Sie sich meiner annehmen. Die Wiener Société ist sehr unfreundlich gegen neue Erscheinungen.«

»Nur, wenn sie un-comme-il-faut sind.«

»Na, das ist natürlich – gegen die bin ich geradeso … Aber je, da schauen Sie her! die Wilhelmischen fangen schon an zu tanzen. Komm … Oh weh!« unterbrach sie sich, »jetzt hab ich mich wieder versprochen, ich bitt um Verzeihung!«

Ihre Entschuldigung wurde mit einem Kopfnicken quittiert. Sie ließ sich dennoch nicht abschrecken. »Gehen wir in den anderen Saal«, sprach sie und schob zutunlich ihren Arm unter den der Gräfin.

»Der Tausend«, lachte die, »wir sind ja sehr intim, wir zwei! Davon hab ich noch gar nichts gewußt.«

Wlasta errötete bis an die Ohren, und Carla fuhr unbarmherzig fort: »Warum denn nicht? als Nachbarn auf dem Lande;das hat keine Konsequenzen – in der Stadt, mein ich. Man ist dort schrecklich in Anspruch genommen. Ich könnt Ihnen, sehen Sie, liebe Baronin, nicht einmal eine Stunde geben, zu der ich zu treffen bin.«

Die Baronin war nahe daran, von einem Herzkrampf ergriffen zu werden. Sie rang nach Atem und brachte mit niedergeschlagenen Augen und gebrochener Stimme die Worte hervor: »Ich bin eine geborene Zastrisl.«

»Nein, was Sie sagen!« erwiderte Carla mit heiterem Erstaunen über diese blendende Enthüllung. Dann ging sie, gefolgt von ihrem sehr düster gewordenen Schatten, auf Maria zu, die, umringt von einigen äußerst beflissenen Herren, auf einem Sofa, der offenen Tür des Tanzsaales gegenüber, saß.

»Die Baronin«, sprach sie, »möchte wissen, wen ich vorstelle.«

»Du bist«, lautete die Antwort, »die lebendige Nachbildung eines Porträts der Gemahlin des Herzogs Rudolf von Braunschweig-Lüneburg.«

»Lüneburg? Hab mein Lebtag nichts von dem Neste gehört.«

»Ich auch nicht, aber jetzt merk ich mir’s«, sprach Betty, die gleichfalls herangetreten war und die Hand auf Marias Schulter legte. »Man wird so gelehrt in Dornach. Es geschieht alles mögliche für die Bildung der Gäste. Das heutige Fest, zum Beispiel, hast du, wett ich, nur arrangiert, um uns hinterrücks etwas aus der Geschichte beizubringen und aus der Geographie.«

»Solche Lektionen kann man sich schon gefallen lassen«, fiel Carla ein, und Betty rief: »Oh, wie hab ich mich unterhalten! Es war furchtbar lustig.«

»Und was denn am lustigsten?« fragte Maria.

»Die Jagd natürlich. Ich hab einunddreißig Hasen geschossen und einen Fuchsen, den mir übrigens mein schußneidiger Mann abdisputieren will. Und du hast dich doch auch unterhalten?«

»Auf der Jagd nicht.«

Die kleine Frau war außerordentlich erstaunt: »Wie kann das sein?«

»Es ist mir eingefallen, daß wir uns an Qualen ergötzen. Der Anblick der jämmerlich zugerichteten Tiere hat mich verstimmt.«

»Entschuldigen Sie, Gräfin, das ist Empfindelei«, sprach ein jugendlicher, etwas affektierter Diplomat.

»Behauptet die Gedankenlosigkeit«, versetzte Maria halblaut, wie zu sich selbst redend.

In ihm aber brodelte es vor Unwillen; fast wäre er aufgefahren. Gestern erst hatten einige seiner hier anwesenden Freunde von Marias Unnahbarkeit gesprochen, und er hatte sich in die Brust geworfen und mit offenkundiger Absicht gesagt: »Ja, ja, ihr zu gefallen ist nicht leicht. Man muß eben geistreich sein.«

Und jetzt, und noch dazu in Gegenwart der Zeugen seiner Prahlerei: Gedankenlosigkeit! Er wollte eine schlagende Antwort geben, da ihm aber nichts besonders Passendes einfiel, entschloß er sich zu schweigen. Die kleine Beschämung, die er erlitten hatte, war verschmerzt, als Carla sich mit den Worten zu ihm wandte: »Ich bin Ihnen noch einen Walzer schuldig vom Fasching her. Soll ich bezahlen?«

Sehr geschmeichelt erhob er sich und wirbelte mit ihr davon.

Vetter Wilhelm aber, der bei Wonsheim in hohen Gnaden stand, mußte mit Betty tanzen, um zu büßen für den schmachvollen Verdacht, den er geäußert hatte, daß sie müde sei.

»Was? müd – ich?… Ich bestell mir ein Pferd her um sechs Uhr früh und mach noch einen Ritt von ein paar Stunden.«

Wilhelm lachte: »Ganz wie ich, damals, als ich noch Leutnant war bei Kaiser Nikolaus-Husaren.«

Maria blickte sinnend, mit immer unbeweglicher werdenden Augen, in das Gewühl fröhlicher, geputzter Menschen, und was sie sah, war seltsam. – Das glänzende Bild goldbetreßter Herren, von Juwelen strotzender Damen, des altertümlichen Prunkgemachs, worin sie sich bewegten, wurde durchscheinend und verschwand schemenhaft von einem tief dunklen Hintergrunde. In dem war ein Brausen und Grollen, wie es dräut im sturmgepeitschten Meer. Die Wellen türmten sich bis zum Himmel, stürzten in unermeßliche Tiefen, stiegen wieder empor, um wieder zu sinken, ein ewiges Auf und Nieder.

Und ein Wehgeheul entrang sich diesem grausen Getümmel gejagter, jagender, verschlingender, verschlungener Wellen: denn sie bestanden aus Tier- und Menschenleibern; sie waren das gequälte Geschlecht der Lebendigen, und der Ozean, der diese Fluten rollte, war ein Ozean des Leidens …

Manchmal erglänzte hoch am Horizont ein blinkender Stern, und Millionen von Menschenherzen erhoben sich, sehnsüchtige Augen tranken lechzend sein zitterndes Licht. Aber nicht lange, und sie wußten: Der ihnen dort erglommen, der verheißende Schein, war nur ein Widerschein des Trostverlangens, der Hoffnung – in ihrer eigenen Brust.

Und weiter rollt der Ozean des Leidens seine stöhnenden Fluten.

Aber sieh! – was kommt auf ihnen dahergeschwommen?… In bewimpeltem Schifflein eine lustige Schar übermütiger Männer und Frauen. Sie scherzen, sie spielen, sie liebeln und fahren sorgenlos hin – demselben Ende zu, das der Gepeinigten wartet …

»Woran denkst du?« fragte plötzlich eine sanfte Stimme. Maria schrak auf wie aus einem Traume. Helmi stand neben ihr.

Und andere kamen, und der Diplomat machte ihr auf Tod und Leben den Hof, und Clemens Wonsheim fühlte mit Mißbehagen, daß er einmal wieder im Begriff sei, sich in die Frau eines seiner Bekannten zu verlieben, und sagte sich selbst: Unsinn, dabei schaut wirklich nix heraus.

Einmal im Laufe dieser Nacht trat Maria an die Glaswand des Altans und schob den Vorhang zurück. Da lag vor ihr die weite, beschneite Landschaft, weißschimmernd, heller als der Himmel. Oh, diese anbetungswürdig schöne und doch peinerfüllte Erdenwelt … Dein Werk, du unbegreiflicher, unbekannter Gott … Sie besann sich eines Spruchs, den sie in einem alten Buch gelesen, und der lautete:

 

Als Vorsehung magst du ihn hassen,

Den Künstler mußt du gelten lassen.

 

Einst hatten diese Worte ihr religiöses Gefühl verletzt … Einst!

Kapitel 15

Kapitel 15

 

Das Fest in Dornach rief eine Reihe mehr oder minder glücklicher Nachahmungen hervor. Es gab Bälle auf allen Schlössern der Umgebung, sogar bei Wilhelms wurde getanzt, zum ersten Male, seitdem sie Haus hielten. Später kam der Eissport in Aufschwung, und man huldigte ihm auf das eifrigste. Da zeigte sich Gustav Wonsheim in seinem Glanze.

»Wenn’s friert«, sagte Carla, »dann kommt mein Mann in Feuer.«

Er fuhr wie ein Norweger auf dem Schneeschuh bergab und bergan; er verstand die Eispike zu gebrauchen wie ein Holländer; auf dem Eislaufplatz beschämte er den Amerikaner Haynes. Seine Unermüdlichkeit im Veranstalten immer neuer Wintervergnügungen im Freien war erstaunlich.

Im Dezember dieses Jahres gewann er, ohne Notiz davon zu nehmen, die Herzen von sechzehn benachbarten Damen;doch wandten sie sich im Februar fast alle von ihm ab, als ihn Hermann bei einem tollkühnen Schlittenrennen glorreich besiegte.

Die Zeit verrann. Von Woche zu Woche wurde in Dornach und in Rakonic die Abreise nach Wien verschoben und endlich ganz aufgegeben. Die Balzjagden hatten begonnen, die Herrschaften fuhren fort, sich auf dem Lande prächtig zu unterhalten.

Maria führte ein eigentümliches Doppelleben. Heute eine zweite Elisabeth von Thüringen, morgen eine Vollblut-Sportslady, die das starke Geschlecht oft übertraf an Kühnheit und »Schneid«.

»Ein Mordsweib, die Dornach«, sagte Clemens seufzend zu seinem Bruder. Und Gustav erwiderte zwischen zwei Zügen seiner Zigarette: »Das weiß der Teufel!«

Clemens ließ sich in seinem Fauteuil hinabgleiten, streckte die Beine weit aus und legte den Kopf zurück. »Wie sie gestern so scharf hereingfahren is!« sprach er. »Auf einmal ruft die Betty sie an. Ein Ruck – und die Braun’ stehn wie die Mauern.«

»Ich sag’s ja, als four-in-hand-Kutscher kommt ihr keiner nach.«

»Das Aug, die Hand und – die Ruh.«

»Der Kerl, der Hermann, der hat ein Mordsglück mit der Frau.«

Dem Beneideten indessen schien das, was die hohe Zustimmung der Nachbarn erweckte, ein unheimliches Wunder. Er suchte sich die leidenschaftliche Zerstreuungssucht Marias als einen Rückschlag gegen ihre frühere Melancholie zu erklären. Pendelschwingungen der Seele, von dem Äußersten zu jenem, die nichts sind als Vorbereitungen zur Rückkehr in ihre schöne, wohltuende Gleichmäßigkeit.

Eines Morgens kam Maria heim nach wildem Ritte durch die kaum wegsam gewordenen Wälder. Aus ihren schweren Flechten, die sich nicht völlig unter den Hut hatten zwängen lassen, standen die Spitzen der Haare hervor, glänzend wie Seide; unbändige Löckchen kräuselten sich über den aufgeregt funkelnden Augen, die schlanken Nasenflügel zitterten, zwischen den leicht geöffneten Lippen blinkten die weißen Zähne hervor. Hastig berichtete sie von einer neuen Verabredung mit Wonsheims für den Abend.

Eine Regung der Eifersucht durchzuckte das Herz ihres Mannes; doch machte er sich sogleich einen Vorwurf daraus. »Du hast dich unterhalten?« fragte er.

»Oh, königlich!« gab sie zur Antwort, und er strich leise über ihre geröteten Wangen: »Den nächsten Winter verleben wir in der Stadt, wenn es dir recht ist. Auf dem Lande haben wir zu wenig Ruhe, was meinst du?«

»Was du meinst«, gab sie zur Antwort, und seine unausgesprochene Rüge verfehlte nicht ihre Wirkung.

Maria besann sich auf sich selbst. Ein Wort Hermanns hatte sie aus dem Rausche geweckt, in dem sie eine Art von Frieden gefunden.

Nun wollte sie mehr als seinen Schein, sie wollte ihn selbst wiedergewinnen, den echten Frieden, ohne den das Leben nutzlos und töricht ist.

Sie begann ihn zu suchen im Buch der Bücher, in den Worten der Schrift, die sich nicht an die kalte Tugend wenden, die für den reuigen Sünder gesprochen sind. Ihm gelten diese Verheißungen, dem armen Zöllner, der büßenden Magdalena öffnen sich Vaterarme.

Maria erflehte und erhielt Entsühnung durch den Mund eines ehrwürdigen Priesters und blieb vor sich selbst – unentsühnt.

»Was hilft Ihre Verzeihung, mein Vater, wenn ich mir nicht verzeihen kann?« fragte sie, und der alte Seelenhirt erwiderte:

»Hat meine Tochter vergessen, daß es die Verzeihung des Allbarmherzigen ist und nicht die meine, die sie in der heiligen Beichte empfängt?«

»Wenn es die Verzeihung Gottes ist, warum fühle ich ihre Segnungen nicht? Warum trete ich von dem Tische des Herrn mit so schwerem Herzen hinweg, als ich ihm nahte?«

Ihr Gewissensrat holte vergeblich Trostgründe ohne Ende aus dem unerschöpflichen Born des Glaubens hervor, dessen treuer Bekenner er war.

Sie lag vor ihm auf den Knien im Beichtstuhl der Schloßkapelle, das Angesicht mit den Händen bedeckt, und schluchzte.

Der Priester ließ einen Blick voll Wehmut über die Ringende gleiten und sagte nach langem Besinnen: »Die Wege des Herrn sind unerforschlich. Es ist schon vorgekommen, daß ein reiner Mensch mit Zulassung Gottes in der Versuchung unterlegen ist. Das geschieht, damit dieser Mensch sich nicht überhebe in seiner Tugend. Er fiel, ja, aber – dem Allgütigen zu Füßen, dessen er im Frevelmute vergessen und zu dem die Reue ihn zurückgeführt. Dort liegt er fortan in Demut und Zerknirschung, einer von denen, die dem Herzen des Ewigen näherstehen als hundert Gerechte.«

Er gab ihr seinen Segen. Sie erhob sich stumm, und nie wieder klagte sie ihm ihr Leid.

Der alte Geistliche aber beugte seinen kahlen Scheitel in frommer Einfalt vor dem Bilde des Gekreuzigten bis zur Erde und sprach ein heißes Dankgebet: Sei gepriesen, daß du auf die Lippen deines unwürdigen Dieners die Worte legtest, die eine Seele vor der Verzweiflung gerettet haben.

Maria ging von nun an ihren Weg allein und suchte nicht mehr nach Betäubung oder Stütze. Äußeren Gleichmut hatte sie endlich errungen, der half ihr die schwere Seelenpein verbergen, ja, er wuchs mit ihrem Streben nach Vervollkommnung. Sie war nachsichtslos gegen sich selbst, wenn es die Erfüllung auch der geringsten Pflicht galt – und hatte gegen ihre erste und höchste gesündigt. Sie trug das verfeinertste Rechtsgefühl in der Brust, und – neben ihr wuchs die Frucht des Unrechts auf; ein Eindringling, ein kleiner Dieb, der genoß, was ihm nicht zukam. Über ein schmerzliches Mitleid ging die Empfindung Marias für das Kind nicht hinaus.

Aber Hermann, Vater und Sohn, schienen ihm die Zärtlichkeit ersetzen zu wollen, die seine Mutter ihm versagte. Der vierjährige Majoratserbe, ein großer, stämmiger Junge, der so kühn und stolz einherging, als ob die Erde ihm gehörte, zerschmolz vor dem »Kleinen« in Liebe und Ergebenheit. Seiner Natur nach kriegerisch und immer aufgelegt, zum Schlage auszuholen mit seinen Fäustchen, entfaltete er jeder Laune seines Nachgeborenen gegenüber eine erstaunliche Geduld. Er parierte seine hölzernen Pinzgauer im sausendsten Galopp, wenn Erich mit Tränen in der Stimme rief: »Genug, die Pferde sind schon müd.«

Überlegen lächelnd sah Hermann zu, wie sein Bruder die Gäule unter einer Gartenbank vor ihm versteckte, sie fütterte und sie zudeckte mit dem Taschentuch.

Der Große beschützte den Kleinen bei hundert Gelegenheiten; dieser beschützte die Hunde vor Hermanns derben Zärtlichkeiten. In solchen Fällen gab es Püffe; doch immer war’s der Schwache, der sie versetzte.

Ein festes Band zwischen den Geschwistern war die Freude am Erzählen des einen, die Freude am Zuhören des andern. Es glänzte etwas wie Verehrung in Erichs Augen, wenn er den Geschichten seines Bruders lauschte. Diese hatten eine merkwürdige Ähnlichkeit untereinander und handelten immer wieder von der Wüste, vom Sturm und von den Löwen. Manchmal, wenn sich die Wüste so unermeßlich dehnte, daß sie größer wurde als die Wiese drüben hinter dem Bach, und wenn der Sturm es zu wild trieb und die Löwen zu blutdürstig wurden, da überlief’s den Kleinen; sein Gesichtchen zog sich in die Länge, er verschränkte seine Finger krampfhaft über den Knien und ließ den Kopf auf die Brust sinken.

Glücklich über den Erfolg seiner Erzählungskunst, warf Hermann den Kopf in die Höhe und rief: »Und ich werd hingehen und die Löwen totschießen!«

Das war der Höhepunkt seines Triumphes, und er genoß ihn ungestört, bis eines Tages der Kleine aufsprang, die Arme ausbreitete und völlig begeistert sprach: »Und Erich wird zuerst hingehen und wird den Löwen zu essen geben.«

Von Stund an begann er, den Gedanken an die Reise zu den Löwen mit einer weit über seine Jahre gehenden Beharrlichkeit nachzuhängen. Der Richtung zugewandt, die Hermann als diejenige bezeichnet hatte, in der die Löwen wohnen, konnte er ganz in Gedanken versinken und still und freudig lächeln, als ob die schönsten Bilder vor ihm auftauchten.

Seine Mutter bekämpfte den Hang zur Träumerei in dem Knäblein. Sie lehrte ihn spielen; sie zürnte, wenn sie ihn müßig fand. Doch selbst ihr Zürnen war ihm Glück und Gnade, sie beschäftigte sich ja mit ihm. Er hörte ihr zu, stand wie ein Bildsäulchen und blickte mit seinen strahlenden Augen andächtig zu ihr empor.

Maria hielt den liebewerbenden Blick des Kindes nicht lange aus.

Sie trat fort von ihm, sie fragte sich schaudernd: Sieht denn niemand außer mir diese entsetzliche Ähnlichkeit? – Niemand, antwortete ihr die Unbefangenheit der Ihren, der Fremden, eines jeden, der dem Kinde nahte und in Bewunderung des reizumwobenen Geschöpfchens ausbrach.

Sein besonderer Verehrer war der Doktor, obwohl er sonst gesunden Kindern keine Beachtung schenkte. »Der Herr Graf Erich soll, wie ich höre, geistlich werden«, sagte er zu Lisette, die lange mit ihm geschmollt, es aber zuletzt aufgegeben hatte, weil er so gar nichts davon bemerkte. »Da prophezeie ich Ihnen, aus dem macht man keinen Domherrn. Der bleibt nicht im Lande – der wird ein heiliger Reisender, ein Missionär. Schon jetzt ein Menschen- und Tierfreund und dazu einen unwiderstehlichen Zug hinaus ins Universum.«

Die gute Helmi und Wilhelm sagten oft, daß sie sich einen Neunten gefallen ließen, wenn er ein Seitenstück zu Erich wäre: »So poetisch schöne Kinder sind gewöhnlich kränklich, dieser aber sieht aus und befindet sich wie ein Cherub.«

Den Vergleich hatte zuerst Gräfin Agathe angewendet. Sie entriß sich des bevorzugten Enkels wegen früher als sonst ihrer klösterlichen Einsamkeit. Den scherzenden Vorwurf Hermanns, er hätte nie geahnt, daß sie so schwach und nachsichtig sein könne, wie sie es gegen seinen zweiten Sohn war, ließ sie sich gern gefallen. – Er erinnerte eben an seinen Großvater.

Die Gräfin hatte das festgestellt, und es blieb für die Mitglieder der beiden Häuser Dornach ein Familiendogma, was soviel heißt als ein Satz, an dem der gesunde Menschenverstand und die tiefste Einsicht zuschanden werden.

Als der Fasching heranrückte, mahnte die Mutter Hermanns ihn und Maria von neuem an ihre Pflichten gegen die Gesellschaft. Graf Wolfsberg, mit Geschäften überhäuft und dadurch an Wien gebunden, sehnte sich nach seiner Tochter. Gräfin Dolph schrieb:

 

»Ihr seid noch zu jung, um ganz zu verlandeln. Kommt, obwohl hier nicht viel los ist. Die Menschen werden immer dümmer und ihre Manieren immer schlechter. Früher wußte ich genau, ob ich mit einem Fiaker rede oder mit einer Komteß, jetzt irre ich mich alle Augenblick. Ob es noch junge Herren gibt, werdet wohl Ihr erfahren; eine alte Frau, bei der man etwas Geist, den Erbfeind dieser Rasse, vermutet, kann sie für ausgerottet halten. – Ich gehe mit dem Gedanken um, literarische Abende zu veranstalten, aber – die Literaten sind sämtlich Atheisten – meine Nulle ist dagegen. Um diese Seele sind wir im Streite, der liebe Gott und ich. Ich glaube, ich werde sie ihm überlassen.

Euere Wonsheim haben mich besucht. Beide Männer sind in Dich verliebt, Maria, zwei Waschbären, die den Morgenstern anschmachten. Sobald von Dir gesprochen wird, schnappen ihre Gesichter in die Falten der Demut ein.

Die besseren Hälften Wonsheim fangen an sich zurückzuziehen. Aus Gründen, die man – wahrscheinlich um über ihre bitterliche Prosa hinwegzutäuschen – interessante nennt.

Liebes Kind, mein Horace Walpole beschämt sein Urbild;er schreibt mir nicht nur bewunderungswürdige und ergötzliche, sondern auch liebevolle Briefe. Freilich wagt er nicht viel dabei, auf diese Entfernung. Das ist mein Schicksal. Der einzige gescheite Junggeselle auf Erden und – Meere zwischen uns. Immer die alte Geschichte, alles Wiederholung auf dieser Erde, die ja selbst keine Originalschöpfung des lieben Herrgotts, sondern nach einem vom Teufel verfertigten Modell ausgeführt ist. Ich hab’s aus sicherer Quelle.

Und nun sage ich Euch nochmals: kommt! reißt Euch los von Eueren Iffländern, Wilhelm und Helmi, die ich grüße, und von Euerem Euer Geld, Euere warmen Suppen und Jacken liebenden Volke.

Zuletzt die Tagesneuigkeit: Alma ist in Wien. Wir hörten, daß sie einschrumpfe vor Langeweile auf ihrer Burg im Wald. Da schrieb ihr Dein Vater die Barmherzigkeitslüge: ›Ihre Freunde vermissen Sie, warum halten Sie sich fern?‹ Sie antwortete: ›Ich werde mich ewig fernhalten‹, und – war da.«

 

»Wirst du sie sehen?« fragte Hermann.

Maria errötete bis an die Stirnhaare: »Ja.«

»So kannst du ihr verzeihen?«

»Ich?… Wie käme es mir zu … Und irgendwem?« verbesserte sie sich, in Verlegenheit gebracht durch sein Befremden über diese Worte. »Wer ist so rein, wer steht so hoch, daß er sich anmaßen dürfte zu sagen: Ich verzeihe fremde Schuld.«

Wenige Wochen später begegnete sie Alma auf einem Balle, begrüßte sie zuerst, empfing am folgenden Tage ihren Besuch und erwiderte ihn.

Fürstin Tessin dankte mit Tränen in ihren noch immer schönen Augen.

Die Freundschaft Marias war der stolze Besitz gewesen, auf den sie sich berufen konnte in ihrem Kampfe zwischen ihrer Furcht vor der Meinung der Welt und ihrer Liebe zu Wolfsberg. Zwei starke Empfindungen in einem schwachen Herzen, das nicht vermochte, der einen zu trotzen oder die andere aufzugeben. So hatte sie sich durchs Leben gewunden, überaus höflich, überaus gütig, in jedem, der ihr nahte, einen Richter sehend, den sie zu bestechen suchte. Als Maria begonnen hatte sie zu meiden, da war ihr, als ob die letzte Hülle gerissen worden wäre von ihrem durchsichtigen Geheimnisse. Jetzt aber hatte ihre Beschützerin sich wieder eingefunden, und sie fühlte sich nach Möglichkeit neu hergestellt in den Augen der Menschen, deren Urteil bei ihr die Stelle des Gewissens vertrat.

Graf Wolfsberg äußerte sich über die Wiederanknüpfung des Verkehrs zwischen seiner Tochter und Alma weder zustimmend noch mißbilligend. Man geriet langsam in die alten Geleise zurück. Wolfsberg spöttelte zeitweilig ein bißchen über »die gute Fürstin«; Maria verteidigte sie, wenn auch nicht so warm wie einst.

Die Wahrnehmung Tante Dolphs erwies sich als richtig;beide Wonsheim liebten, gänzlich hoffnungslos, die Frau Nachbarin vom Lande. Diese hatte seit einiger Zeit bedeutend »ausgespannt«, aber trotzdem war und blieb sie – in der Stadt, wo sich unzählige Gelegenheiten zu Vergleichen boten, sah man das erst recht – schön, elegant und sympathisch wie niemand.

Die Brüder gingen einzig und allein ihretwegen in die Welt. Betty und Carla, kürzlich Mütter geworden, hüteten das Haus. Glückwünsche zu ihrer jungen Vaterschaft wiesen die Wonsheim zurück: »Ich bitt Sie, es sind ja nur Mädeln.«

Der gute Kerl, der Hermann, bekam einen Sohn nach dem anderen, und sie bekamen – Mädeln. Sie suchten Trost für dieses klägliche Resultat in allerlei Zerstreuungen.

Zu denen gehörte »der Spaß«, den der Umgang mit Fee ihnen machte. Sie waren ihre Vertrauten, sie erzählte ihnen alles und das übrige. Zum Beispiel, daß sie eine überseeische Korrespondenz führe und das Leben jetzt sehr ernst nehme, ja sogar, wie ein gewisser Jemand, der ihr maßgebend war – von der Schokoladenseite. Daß sie mit dem Gelde umgehen lerne und ihre Rechnungen nicht selten mit eigener – natürlich behandschuhter – Hand bezahle. Den Kurszettel lese sie Tag für Tag. Es könne auf einmal dazu kommen, daß man gezwungen sei, Obligationen zu verkaufen, um die Kosten einer weiten Reise, die vielleicht gar eine Hochzeitsreise sein werde, zu decken.

Gräfin Dolph, bei der Fee den größten Teil ihrer Zeit zubrachte und die ebenso tief in ihre Geheimnisse eingeweiht war wie die Brüder Wonsheim, machte ihr keinen Vorwurf aus ihrer Plauderhaftigkeit.

»In der Welt, die nur eine erweiterte Familie ist, weiß ohnehin jeder alles von jedem«, sagte sie eines Abends zu Fee in Marias Gegenwart.

»Glaubst du das wirklich?« fragte diese. »Ich meine, die Welt und die Familie wissen so gut wie nichts von ihren Mitgliedern. Ich wenigstens«, brach sie plötzlich aus, »habe eine Vorliebe für ihre Zurückgesetzten und eine heilige Scheu vor ihren Vergötterten.«

»Dann mißtraue dir selbst«, erwiderte Dolph.

»Vielleicht tu ich’s«, sprach Maria.

Die Tante zuckte die Achseln, scheinbar gleichgültig, in ihrem Innersten jedoch regte sich ein stiller, immer wieder auftauchender unbequemer Zweifel: Sollte Tessins Liebe nicht unbelohnt geblieben sein?… Pah! wer dem Unwiderstehlichen nicht widersteht, ist entschuldigt, setzte sie in Gedanken hinzu und sprach: »Das sind, verzeih, krankhafte Übertreibungen.«

Selten nur ließ sich Maria zu dergleichen Äußerungen hinreißen. Sie wurden ihr von der Angst ihres Herzens erpreßt, von der verzweifelten Versuchung: Komm der Entdeckung zuvor – jede Stunde kann sie herbeiführen – der Zufall, der geheimnisvolle Weltbeherrscher, den keine Macht der Erde abzuwenden vermag.

Das waren schwere Augenblicke, aber Maria hatte doch auch Zeiten des inneren Friedens – diejenigen, in denen es ihr gelang zu vergessen. Mit weisem Bedacht, mit unendlicher Mühe übte sie sich im Erlernen dieser großen, für so manchen seelenbefreienden Kunst.

Sie lebte in der Gegenwart, der Linderung des Leids, das ihr nahte, der schüchternen Liebe zu ihrem Manne, der mit Wonne und Qual ausgeübten Sorgfalt für ihre Kinder. Oft wiederholte sie sich das Trostwort: Ein ganzes Dasein der Rechtschaffenheit muß eine Stunde der Verwirrung aufwiegen können … Können? – erhob der peinigende Zweifel in ihrer Brust seine Stimme –, vielleicht, wenn dieses Dasein nicht so süß wäre, wenn die Folgen der Verirrung nicht verkörpert atmeten.

Kapitel 16

Kapitel 16

 

Im Laufe des Winters hatte Gräfin Agathe öfters den Wunsch ausgesprochen, ihre Kinder und Enkel unmittelbar nach ihrem Aufenthalt in der Stadt bei sich zu sehen. Sie kamen, und die Gräfin verlangte immer von neuem eine Verzögerung der Abreise ihrer Gäste. Erichs wegen – das Kind hatte es ihr angetan. Oft blickte Hermann ihr nach, wenn sie, viel älter aussehend, als sie war, steif und feierlich dahinschritt, den Kleinen an der Hand, den sie ins Herz geschlossen hatte und dem gegenüber sie es so bitter empfand, daß ihr die Gabe, mit Kindern umzugehen, versagt geblieben.

Dem Kinde war unheimlich zumute bei dieser stummen Liebe. Was sollten die Spaziergänge, die nirgends hinführten und während welcher nicht einmal eine Geschichte erzählt wurde? Erich machte schwache Versuche, seine Hand aus der der Großmutter zu lösen, aber dann sagte sie: »Bist du nicht gern bei mir, Erich?«

Er unterdrückte aus Angst das Nein, das ihm auf den Lippen schwebte, und fragte nach einer Weile ganz verlegen: »Und was werden wir jetzt spielen?« worauf die alte Dame, nach einigen mißlungenen Versuchen, sein Interesse auf einen vorbeischwirrenden Vogel oder auf eine Blume am Wege zu lenken, ihn zur Kinderfrau zurückführte.

Es war schon Sommer, als die Familie endlich in Dornach eintraf. Auf den Wiesen trocknete die erste Mahd. Betäubend fast dufteten die blühenden Linden; die Saaten standen hoch, die Vögel flogen zu Neste.

Aus dem Wagen, in dem die letzte Strecke zurückgelegt wurde, riefen die Kinder jedem Vorübergehenden jubelnd zu: »Wir sind da, wir sind wieder da!«

Ein eggendes Bäuerlein riß sein Gespann zusammen, daß die Kummete den Pferden bis an die Köpfe rutschten, und schwenkte freudig den Hut. Weiber, die Gras sichelten am Raine, richteten sich auf und grüßten unbeholfen: »Kommt ihr einmal nach Haus? – Wir haben schon geglaubt, wir sehen euch nimmer«, sprach eine kleine, schiefe mit langen Armen. Und eine bildhübsche, schlanke zog das Kopftuch über die Augen, stemmte die Fäuste in die Seiten und wand sich vor Lachen – aus lauter Vergnügen. Die Schule spie eben ihren ganzen Inhalt an männlichen und weiblichen Besuchern aus. Ein ohrenzerreißendes Geschrei erhob sich, Mützen flogen in die Luft, am Ausgange des Vorgärtchens entstand ein großes Gedränge. Der Herr Katechet fuhr aus der Haustür wie aus der Mündung einer Bombe mitten hinein in die lärmende Schar. Mit geübter Hand teilte er rechts und links Klapse aus und grüßte dazwischen auf das ehrerbietigste zu den Herrschaften hinüber.

Hermann befahl anzuhalten, man wechselte einige Worte, die ganze Schule wurde für den nächsten Sonntag zu einem Kinderfest im Parke geladen, und die Equipage fuhr davon. In ihrer Begleitung ritt seit der Ankunft auf der Bahnstation ein Einjährig-Freiwilliger vom zwölften Dragonerregimente. Ein schöner, großer Mensch, hellblond, blauäugig, mit gutmütigem Kindergesicht. Es war Willi, Wilhelms Ältester, auf einem mächtigen Braunen, einem Geschenk Hermanns.

Der junge Mann hatte im Vorjahre ein glänzendes Zeugnis der Reife erworben, stationierte jetzt in der Nachbarschaft und sollte im Herbst unter der strengen väterlichen Zucht von der Pike auf anfangen in der Wirtschaft zu dienen. Ihm kam es zu, einzuspringen für seinen Vater, im Falle dem heute oder morgen die Kraft versagen sollte, den Unterhalt zu schaffen für die Seinen. Und mehr als den Unterhalt, nach Wilhelms Begriffen sogar den Wohlstand. Immer waren seine Kinder satt vom Tische aufgestanden, immer ward jedem der acht Rangen Gelegenheit geboten zu lernen, von früh an schon in die Bahn einzulenken, auf die seine Neigung und sein Talent ihn trieben. Und die Urheberin der Möglichkeit, ihnen soviel zu bieten, das war die gute heimatliche Erde, die alles hergab, was ein getreuer Sohn und Pfleger von ihr verlangen durfte.

In schweren Zeiten, die dem Landwirt nicht erspart bleiben, hatte sich Wilhelm manchmal dazu bequemen müssen, die mit erfinderischer Delikatesse dargebotene Hilfe seines Vetters anzunehmen. Aber es geschah so widerstrebend, daß Hermann immer die Geduld verlor: »Was soll das? Du beleidigst mich … Meine brüderliche Liebe nimmt er an, ja; meine armseligen Groschen – ah, Gott bewahr’s, nein, die nicht! da wird protestiert. Warum, möcht ich doch wissen, warum?«

»Weil ich den nicht mag, dem ich etwas schuldig bin«, antwortete Wilhelm und bekam einen blauroten Kopf. »Nicht mag, hol ihn der Kuckuck, ich sag’s, wie’s ist! Wenn mir einer unter die Arme greift, komm ich mir vor wie ein Bub. So bin ich. Mach mich anders, wenn du kannst.«

Das allerdings konnte Hermann nicht, und ganz gut und herzlich wurde Wilhelm erst wieder, nachdem er die bei seinem nächsten Verwandten und besten Freund eingegangene Schuld abgetragen hatte. Ja, er war unverbesserlich und Hermann der letzte, der zum Prediger in der Wüste, zum Prediger überhaupt taugte. Wenn etwas seinen Spott reizte, war’s der Hang zur Hofmeisterei, von dem die meisten Leute erfüllt sind, den sie aber ins Gewand einer Tugend kleiden und für Teilnahme ausgeben. Hermann vermochte nicht einmal einen Fehler, unter dem er litt, an Menschen, die er wert hielt, zu rügen.

So schwieg er auch lange dazu, daß Maria ihr liebliches zweites Söhnchen auffallend gegen den älteren, den selbständigen, von Kraft strotzenden Knaben zurücksetzte, und verbarg ihr sein schmerzliches Befremden bei jedem Zeichen der Ungleichheit in ihrer Empfindung für ihre Kinder.

Sie ahnte vielleicht nichts davon. Die Veränderung in ihrer ganzen Art und Weise, wenn sie sich von dem Kinde zu jenem wandte, ging vor – ihr selbst unbewußt. Wenn aber unbewußt, warum geschah es dann, daß Maria eine manchmal dem Kleinen gespendete Zärtlichkeit wie einen an ihrem Erstgeborenen begangenen Raub anzusehen schien, den sie hundertfach zu vergüten suchte?

Danach fragte er sie endlich doch, und ihre Antwort war ein so peinlich verwirrter Blick, daß Hermann dachte: Sie gibt sich Rechenschaft von ihrer Ungerechtigkeit, bekämpft gewiß das Gefühl, das sie dazu treibt, und wird es auch besiegen.

Um diese Zeit übersiedelte Fee, die sich kürzlich im Gefolge Tante Dolphs in Dornach eingenistet, zu ihren Freunden Wonsheim.

»Prächtige Leut, die da drüben«, sagte sie, »es is aber vor Langerweil bei ihnen nicht auszuhalten. Immer nur die Familie Wilhelm, immer nur Eintracht, immer nur Liebe – und noch dazu eine, bei der man nicht beteiligt is … Nein, ich dank!«

Die Brüder gaben zu überlegen, ob es nicht recht praktisch wäre, abermals aufzumischen. Ein Versuch, der gemacht wurde, fand jedoch wenig Anklang. Es stellte sich bald heraus, daß die amüsanteste Person im Hause Dornach in diesem Augenblicke »die alte Dolph« war. Sie hatte wenigstens eine gehörige Leidenschaft für das Lawn-Tennis, den einzigen Sport, den die »fad« gewordenen Nachbarn nicht aufgehört hatten zu pflegen. Ihre Kopfschmerzen quälten sie auf dem Lande weit mehr als in der Stadt; unter allen Dingen, die sie anfeindete, nahm die Zugluft einen hervorragenden Platz ein, trotzdem aber konnte sie beim Tennis stundenlang ausdauern in ihrer Rolle als Schiedsrichter, als drakonisch strenger Umpire.

Weil sie dabei Gelegenheit findet zu seckieren, dachte Fräulein Nullinger.

Wenn die Gesellschaft Wonsheim in ihrer Stage-coach zum Spiel nach Dornach fuhr, mußte sie sich’s nicht selten gefallen lassen, der unwissenden Bevölkerung zum Gegenstand einer nicht schmeichelhaften Aufmerksamkeit zu dienen. Die Herren in ihren hohen weißen Filzhüten, weißen Jongleuranzügen, weißen Zwirnhandschuhen, die Damen schürzenumgürtet wie die kleinen Schmiede von Demavend, den Brustlatz geschmückt mit grellfarbigen heraldischen Emblemen, wurden oft für eine Truppe Seiltänzer gehalten.

Natürlich waren sie samt und sonders im Tennis von einer Stärke, die sie berechtigt hätte, die englische Partie mitzuspielen. Hermann und Maria gaben ihnen wenig nach, und da kamen denn Serien vor, die kein Ende nahmen. Sogar die Gegner mußten einander bewundern, nur der Umpire war nie ganz zufriedenzustellen.

Trotzdem mit unvergleichlicher Grazie haarscharf über das Netz serviert, mit fast nie fehlender Sicherheit aufgenommen wurde, ein Ball oft dreißigmal hin und her flog, bevor er zu Boden fiel, ließ sich Tante Dolph dennoch nur zu einem bedingten Lobe herbei.

»Recht gut, meine Kinder; für eine einheimische Leistung gar nicht übel. Im Auslande würdet ihr abblitzen … Schreit nur, ich kann euch nicht helfen. Ganz kürzlich hatte ich den Besuch eines Fräuleins van Nieuwenhuis-Kabeljau, die erste Tennisspielerin der Welt. Die trägt einen Handschuh Nr. 61/2 an der linken, einen Handschuh Nr. 8 an der rechten Hand und ist, sage ich euch, so schief wie eine im Umkippen begriffene Treck-Schuite vor lauter Raketenschwingen. Das nenn ich Übung, und nur so erlangt man die Meisterschaft.«

»Und einen Buckel«, erwiderte Fee; »der möcht mich doch genieren.«

»Dilettantin! diese Jufvrouw ist stolzer auf ihn als ein Held auf seine Narben.«

»Hat auch alle Ursach«, erklärte Betti Wonsheim, betrachtete ihre rechte Hand und schmeichelte sich im stillen: Etwas größer als die linke ist sie, Gott sei Dank, doch schon.

Vor der Abfahrt der Gäste wurde noch Verabredung für den morgigen Nachmittag genommen, an dem ein Waldfest stattfinden sollte. Gräfin Dolph gab es am Marienfeiertag im August.

Sie fand nötig, sich dankbar zu erweisen für die vielen Freundlichkeiten, die sie bereits in der Gegend genossen hatte. »Meine Einladung zu einem Pläsierchen, wie man vorzeiten in Wien sagte, ist nichts anderes als eine Retourchaise, meine Herrschaften Wilhelm und Wonsheim; sie soll euch einen kleinen Teil des Vergnügens wieder hereinbringen, das mir eure Liebenswürdigkeit schon bereitet hat.«

Groß und klein versprachen sich Wunder. Das Waldfest – Fee hatte der guten Nullinger das Geheimnis herausgelockt – bildete nur einen Vorwand, um Hermann und Maria für eine Weile vom Schlosse zu entfernen. Bei der Rückkehr wartete ihrer eine großartige Überraschung, zauberhafte Beleuchtung des Schlosses und des Gartens, Feuerwerk, von Stuwer in Person angeordnet.

Ort und Stunde des Stelldicheins wurden bestimmt. Man beschloß, um vier Uhr nachmittags beim ehemaligen Vogelherd zusammenzutreffen. Die meisten wollten einen Umweg durch den Wald nehmen und zuerst die Burgruine ersteigen. Tante Dolph und Helmi zogen es vor, bei den Kindern zu bleiben, die mit ihrer Begleitung direkt zum »Uhuhaus« geschickt werden sollten.

Es war ihr Lieblingsplatz im Walde und zu Wagen in einer halben Stunde leicht erreichbar. Die verlassene, von Schlingpflanzen überwucherte Vogelhütte erweckte das große Interesse Hermanns und Erichs. Sie rüttelten an der verschlossenen Tür, sie guckten mit heißer Neugier und leisem, köstlichem Gruseln durch die winzigen, hinter Drahtgittern halb erblindeten Fensterscheiben. Wer recht lange und recht aufmerksam schaute, wer den Augenblick erwischte, in dem der Wind das Gezweige der Bäume bewegte und ein Sonnenstrahl durch das geborstene Dach in den dunklen Raum dringen konnte – der sah etwas: die Trümmer eines Ofens und eines Lerchenspiegels, Netze, von Mäusen zernagt; sah ein Wiesel, das von einem Loch in der Wand zum anderen huschte, und auf einer morschen Stange einen Uhu. Und der böse Raubvogel hatte nur noch einen Flügel und ein Glasauge, und das war fürchterlich und sandte gelbe Blitze aus, sooft ein Streiflicht darüber hinglitt … Oh, die Hütte unter den Erlen barg Erstaunliches! – nur zum Glück keine Gefahr mehr für Finken und Meisen und Rotkehlchen, und wie sie alle heißen, die kleinen Sänger. Getrost durften sie sich jetzt niederlassen auf die Zweiglein, die auf und ab schaukelten unter der leichten Last. Singt, trillert, jubelt und schwingt euch wieder auf, durchschneidet die Lüfte und kehrt heim zu euren Jungen. Ihr habt nicht mehr den Tod oder die Gefangenschaft zu fürchten.

Die Hütte lag wunderschön, von Waldungen umringt und nur gegen Morgen frei. Da breitete sich ein grüner Wiesengrund, da sah man den klaren, breiten Bach erschimmern und durch die Felsschlucht als Wildbach toben; da stiegen rechts von der Schlucht die bemoosten Steinriesen empor, deren einer die alte Burg trug. Heute noch, in ihrem Verfall, erhob sie sich stolz und herrschend.

Die Wonsheim waren bereits fortgefahren, als Fräulein Nullinger müd und abgehetzt erschien. Sie war zweimal zur Post gelaufen, hatte im Auftrage ihrer Gräfin neun Telegramme gewechselt mit Sacher & Demel und eben erst die Versicherung erhalten, daß alles Bestellte aufgegeben sei und morgen pünktlich eintreffen müsse. Als sie erfuhr, daß eine Partie nach der Burg stattfinden werde, erklärte sie, dabeisein zu wollen.

»Ich habe mich längst gesehnt, das Schloß zu besuchen«, sprach sie zu ihrer Gebieterin, »Sie kennen meine Vorliebe für das Mittelalter.«

»Sagen Sie doch: Schwärmerei. Sie stellen sich das so poetisch vor, wie die edlen Ritter mit wehenden Helmbüschen über reisende Kaufleute herfielen, sie erschlugen und beraubten. Wie sie sengend und brennend das Land durchzogen, dem Bauer die Pferde vom Pfluge wegstahlen und ihm, wenn er sich wehrte, die Haut über den Kopf zogen. Wie sie das Haus des schwächeren Nachbarn zerstörten, sein Weib an den Türpfosten hingen, seine Töchter entführten, wenn sie schön waren natürlich, und in ihr verruchtes … hm, hm«, sie räusperte sich, »schleppten. – Sie wären vielleicht auch entführt und geschleppt worden. Nulle.«

»Frau Gräfin«, fiel ihr diese ins Wort, »ich muß mir verbitten …«

»Nichts da! Sie hätten sich nichts verbeten. Sie hätten Schärpen gestickt für Ihren schwarzgelockten Ritter und hätten an seiner Seite, der Minne pflegend, gesessen vor dem Burgverlies, aus dem das Gewinsel der auf faulem Stroh verfaulenden Gefangenen zu Ihnen gedrungen wäre.«

Das Fräulein erhob sich: »Es ist genug, Frau Gräfin, ich sage sogar, es ist zuviel.«

»Da haben wir’s, jetzt ist sie beleidigt«, seufzte Dolph; »ja, meine Liebe, Sie dürfen nicht schwärmen für die Ritterzeit. Dazu ist die Haut Ihres Herzens zu fein geraten.«

Bei Einbruch dieser Nacht wurde in Dornach und dessen Umgebung gar heiß gebetet.

Lieber Gott, flehte Fee, auf den Knien liegend vor ihrem Bette, lieber Gott, du weißt alles, du weißt auch, daß Tante Dolph heute einen Brief von Tessin bekommen hat. Gib, lieber Gott, daß in dem Briefe steht: Ich hab immer eine Schwäche für die Kleine gehabt und will sie heiraten.

Lieber Gott, murmelte Fräulein Nullinger, knüpfte ihre Nachthaube fest und zog die Decke über die Ohren, lieber Gott, Heilige Jungfrau, alle heiligen Märtyrer, gebt mir Geduld mit meiner Gräfin. Sie ging noch weiter und verlangte, sogar etwas Liebe für ihre Peinigerin empfinden zu können. Aber diese Bitte wurde selbst im Himmel indiskret gefunden und blieb unberücksichtigt.

Inbrünstig gestaltete sich das Abendgebet der Jüngsten im Hause Wilhelm. Der sechsjährige Rudi sprach es vor: Du bist so gut für die Kinder, lieber Gott, gib, lieber Gott, weil du so gut bist, daß morgen ein schöner Tag ist.

Bis in die Nacht hatte drückende Hitze geherrscht; jetzt erhob sich, erst sanft, dann immer kräftiger, eine kühle nördliche Strömung. In den Wipfeln der Bäume begann es zu rauschen, allerlei Stimmen sprachen durcheinander; es stöhnte wonnig und lachte im Geäst und stieß laute Schreie aus. Labung, Labung! flüsterten die wehenden Zweige. Massige Wolken, die sich bequem hingelagert hatten rings am Horizont, stoben plötzlich aus ihrer Ruhe auf. Aus dicken Knäueln in lange Strähne verwandelt, jagten sie zuletzt ganz dünn und durchsichtig davon.

In unbestrittener Herrlichkeit stand der Mond am Himmel, als Willi sich einige Stunden nach Mitternacht der elterlichen Behausung näherte. Er ritt im Schritt über den gepflasterten Hof. In den niederen, mit Schindeln gedeckten Stallungen an beiden Seiten schliefen noch Menschen und Tiere. Ein Hund, der auf einer Schwelle ganz zusammengerollt lag, knurrte im Traume; dann schwieg wieder alles; sogar das Brünnlein vor dem sogenannten Schlosse hatte sein Rauschen eingestellt. Das tat dem jungen Soldaten weh. Hatte er doch die Zulage, die sein Onkel Hermann ihm gab, auf die Anschaffung einer neuen, schönen steinernen Muschel für das Brünnlein verwendet. Und jetzt war’s versiegt. – Die Wasserleitung einmal wieder schadhaft geworden, sagte er zu sich selbst, und kein Geld da, um sie herstellen zu lassen.

Armes Brünnlein, armes, geliebtes Vaterhaus! Selbst im alles verklärenden Mondlicht wollte sich’s nicht hübsch machen mit seinen kahlen Mauern, dürftigen Bogenfenstern und dem steilen, Wellenlinien bildenden Dach. Als einziger Schmuck diente ein hölzerner Balkon, dessen schiefe Säulen und wackeliges Geländer sich unter üppig wucherndem wildem Wein verbargen.

Leise pochte Willi ans Tor, um niemanden außer den auch Portiersdienste versehenden Gärtner zu wecken, übergab ihm das Pferd und trat ein.

Am nächsten Morgen begrüßten seine jubelnden Brüder einen Tag von unerhörter Pracht und wußten wohl, wem zuliebe er so geworden war.

In Dornach lief der kleine Hermann vom Vater zur Mutter und von der Mutter zum Vater. Er hatte nirgends Ruhe und war entzückend in seinem Eifer und seiner Ungeduld. »Weißt du, Erich«, sprach er, ihn stürmisch umarmend, »wir gehen heut so spät schlafen wie die großen Menschen. Wir gehen zum Uhu.« »Und was wirst du dort tun?« fragte Tante Dolph.

»Ich werd halt schauen.«

»Und dann?«

»Dann werd ich laufen, laufen auf der Wiese, so geschwind, daß man mich gar nicht sieht … so geschwind –« er machte große Augen, hob die Arme über den Kopf und strengte sich an, einen drastischen Vergleich zu finden, »so geschwind –«

»Wie der Teufel«, kam die Tante ihm zu Hilfe, er aber machte eine geringschätzige Gebärde und sagte: »Oh, viel schneller!«

Sie klopfte ihm lachend die Wange; sie, die Kinder nicht leiden konnte, weil sie Lärm machen und die Türen offen lassen, hatte eine Schwäche für diesen Großneffen. »Das echte Aristokratenkind«, erklärte sie. »Aus reiner, gesunder Rasse, vom ersten Atemzuge an gut genährt, gut bewohnt, gut gewaschen, weiß nicht, was Furcht ist, und nicht, was Geiz ist, schlägt drein, wenn’s gilt, und gibt, wenn’s gilt, das Hemd vom Leibe. Mut, Wohlwollen, Güte – er hat alle Tugenden, die mir fehlen – darum lieb ich ihn.«

Fräulein Nullinger blickte sie ganz verdutzt an und dachte: Merkwürdig, sie hat doch bisher kein Herz gehabt, sollte ihr eines gewachsen sein?

Kapitel 17

Kapitel 17

 

Am Saume des Kiefernwaldes, durch den ein breiter Weg zur Ruine führte, trafen Hermann und Maria, begleitet von Fräulein Nullinger, die Wonsheim mit Fee und Wilhelm mit Willi und den zwei nächsten Anwärtern. Den letzteren hatten ein paar tüchtige Ackergäule den Gefallen erwiesen, sie hierherzutragen in einem Galopp, der ringsum den Boden lockerte.

Die Damen waren bereits aus dem Wagen gehüpft, Wilhelm und seine Söhne abgestiegen, nur Gustav und Clemens saßen noch zu Pferde und parlamentierten mit ihren Frauen, die es nötig gefunden, als Touristinnen zu erscheinen. Sie trugen leichte Hüte mit blauen Schleiern, fußfreie Kleider aus Sommerloden, Schnürstiefel aus Juchten, dicke Strümpfe aus Ziegenhaaren und über den Schultern Gummimäntel aus lichtgelbem Oriental-India-Cloth.

»Schaun’s her, Gräfin«, sagte Clemens zu Maria, nicht ohne geheimen Stolz, »wie die sich anglegt haben. Und was ihnen nicht wieder einfallt. Jetzt wollens auf dem schlechten Fußsteig zur Burg hinaufkraxeln.«

»Weil man von dort so eine schöne Aussicht hat«, sagte Carla.

»Und weil’s gefährlich ist«, fiel Betty ein.

»Und so poetisch, nicht wahr, Fräulein Nullinger? Das ist etwas für Sie«, sprach Fee mit gutmütigem Scherze. »Ich biet Ihnen meinen Arm, ich bring Sie hinauf, ich schwör’s!«

Fräulein Nullinger machte einen Bückling, so tief, als ob sie sich niedersetzen wollte, und nahm, in nervöser Dankbarkeit zerfließend, den gütigen Vorschlag an.

Der Kutscher mit dem Wagen, die Reitknechte mit den Pferden wurden nach dem Versammlungsplatz geschickt. Wilhelm erteilte seine Befehle in ungewohnt mürrischer Art und brummte dazwischen vor sich hin: »Unsinn! was das für ein verfluchter Unsinn ist … sich einen solchen Weg auszusuchen, das ist keinem anderen eingefallen als dem Willi …«

»Voraus, Einjähriger! Sie führen an«, sprachen die Damen, winkten den Zurückbleibenden einen Gruß zu und traten ihre Wanderung an.

Wilhelm zögerte einen Augenblick, dann folgte er ihnen, um seinen Willi zu überwachen. – Der verdammte Bursch hüpft herum wie auf Springfedern; schneidet, scheint mir, schon die Cour … Und gleich dreien auf einmal. Wart, Kerl, dir geh ich nicht von der Seite.

»Und was machen denn Sie, Gräfin?« fragte Gustav.

»Ich gehe auch zu Fuß, aber auf dem guten Wege«, antwortete Maria heiteren Tons und nahm den Arm ihres Mannes.

»Da werden wir halt langsam vorausreiten.« Und sie setzten sich in Bewegung auf ihren zwei berühmten Vollblutrappen.

»Alle auf und davon. Gibt’s etwas Unhöflicheres als unsere Gäste?« scherzte Hermann.

»Wir sind’s; wir lassen sie gar so ungehindert ziehen.«

»Und bleiben allein, was das Schönste ist auf der Welt«, begann er nach einer kleinen Weile wieder. »Wenn ich denke, daß es Leute gibt, die sagen: die Liebe vergeht – und glauben sie zu kennen, die Narren! Die meine ist heute, was sie in der Stunde war, in der ich dir zum ersten Male begegnete und von dir nichts wußte als deinen Namen.«

Er umschlang sie fest; Seite an Seite schritten sie dahin. Die Reiter waren ihren Blicken entschwunden; eine großartige Einsamkeit herrschte, eine zauberhaft belebte Stille. Über den Häuptern der Bäume webte glühender Sonnenschein, kühle Schatten wallten zu ihren Füßen. Unabsehbar schien der Wald sich zu breiten, ein heiliger, ein geweihter Raum, der, von Liebenden betreten, sie frei macht von dem störenden Gedanken an die Außenwelt, von dem Bewußtsein der verrinnenden Zeit.

Maria hatte sich sanft losgemacht; sie trat vor Hermann hin und blickte ihm ernsthaft in die Augen. »Ich aber«, begann sie plötzlich, »liebe dich alle Tage mehr. Und meine Liebe – sieht.« »Im Gegensatz zu der meinen, die wohl blind ist?«

»Unleugbar«, versetzte sie und zog ihn wieder an sich.

Da rief er aus: »Es lebe meine blinde Liebe! Die Nacht, mit der sie mich umgibt, ist nicht wie eine andere; ‘s ist eine hellschimmernde Nacht. Sie zeigt mir den guten Geist meines Hauses, die Trösterin des Betrübten …«

»Und so weiter!« unterbrach sie ihn mit erzwungenem Lachen. »Lassen wir das, ich bitte dich, Hermann –«

»Nun denn, nein; kein Wort zu deinem Preise. Wie fang ich’s aber an, zu verschweigen, wovon mein Herz voll ist? Du forderst von mir Verstellung, du immer und unverbrüchlich Wahrhaftige!« Er ergriff ihre beiden Hände, sie zitterten in den seinen: »Was bewegt dich so? – sag es deinem besten Freunde … Sieh, manchmal – ich will dir’s gestehen, manchmal ist mir – wenn du wie jetzt meinen Blick vermeidest, bei meiner Berührung erbebst, als ob deine Seele ein Geheimnis berge, ein rätselhaftes Gefühl, eine schmerzliche Erinnerung – was weiß ich?… Ist das Täuschung, Maria, Torheit, Frevel an dir? – – Gib Antwort.«

Sie stand wie versteinert. Aufrecht die königliche Gestalt, den Kopf erhoben, als biete sie ihn dem niederzuckenden Blitzstrahle dar, kaum atmend, die Lider gesenkt, ein unausgesprochenes Wort auf den leise zuckenden Lippen.

Und sie war schön in dieser feierlichen Regungslosigkeit, mit diesem demütig stolzen Ausdruck einer gefolterten Heiligen.

Der Mann, der sie vergötterte, starrte sie beschämt und reuig an. War das nicht ein Zweifel an ihr, den er mit seiner lange unterdrückten und nun unbedacht hingeworfenen Frage ausgesprochen hatte?

»Und wenn du recht hättest?« sagte Maria in einem Tone, so herb gewürgt, als ob er ihr die Kehle zerschnitte.

»Worin? – Du hast mich mißverstanden …«

»Nimm an, daß ich schuldig wäre gegen dich«, fuhr sie fort, mühsam und unterdrückt wie früher. »Nimm es an.«

»Was soll ich annehmen – das Unmögliche?… Erst doch verrückt werden …« Er schlug sich mit der Faust vor die Stirn. »Ich begreife dich nicht … Warum diese unnötige Grausamkeit?… Auf welche entsetzliche Probe stellst du mich?«

»Probe?« wiederholte sie. »Würde deine Liebe sie bestehen, die schwerste, schrecklichste … Und wenn geschehen wäre – wovon ich sprach – was tätest du?«

Sie blickte unverwandt zur Erde nieder; sie fühlte nur, daß er seine Hand mit festem Drucke auf ihren Arm legte. – Und nun sprach er, und seine Stimme hatte wieder ihren tiefen, sanften Klang, und seine Worte kamen aus dem unerschöpflichen Borne seiner Güte: »Wenn geschehen wäre, was du nicht einmal zu nennen vermagst, dann wäre mir genommen, was meinem Dasein den Wert gibt; aber lieben würde ich dich doch, und zu dieser unüberwindlichen Liebe käme noch ein grenzenloses Bedauern. Ich kenne dich und weiß, daß du zugrunde gehen müßtest am Bewußtsein einer Schuld.«

O dieser Glauben, so stark und treu wie das Herz, das ihn hegte und das sie brechen gewollt, um das ihre zu erleichtern! – Du darfst nicht! schrie es in ihr auf. Du hast betrogen – lüge! Dein Recht auf Wahrheit ist verwirkt.

»Komm«, sagte Hermann, indem er sich auf einen moosüber- wachsenen, im weichen Waldboden halb versunkenen Stein niederließ. »Du mußt erst ausruhen und wieder heiter werden, ehe wir den anderen folgen. Da ist eigens für uns ein wunderbares, sammetnes Kissen ausgebreitet. Komm zu mir!«

»Da bin ich«, sagte sie, ließ sich vor ihn hingleiten, legte die gefalteten Hände auf seine Knie und warf sich an seine Brust. »Laß mich, es tut mir wohl, in Demut zu dir aufzublicken.«

»Wir haben einander recht gequält, und ich bin schuld an allem mit meinen törichten Grübeleien«, sagte er. »Verzeih!«

»Ich – dir? Mein Freund, mein guter Engel, daß du mir einmal einen Grund dazu geben könntest! Tu es doch. Lehre mich die Wonne kennen, dir etwas verzeihen zu dürfen.«

»Ich danke dir für die vortreffliche Absicht«, rief er mit komischer Bestürzung; »ich will ihr Gelegenheit geben, sich zu betätigen … will wenigstens einen Versuch machen.«

»Er wird mißlingen.« Sie umfing ihn mit ihren Armen und verschränkte ihre Finger um seinen Nacken. »Sieh mich an, deine Augen sind wie deine Seele. Sieh mich an mit diesem segnenden Blick. Wie fromm bin ich! der Wald wird zum Tempel, und ich bin ein armes Menschenkind, und du bist der Priester, der es zum Heile führt an seiner starken Hand.«