Kapitel 10

 

»Entschuldigen Sie, Gräfin«, sagte er, am Eingang erscheinend und stehenbleibend, »daß ich Ihnen nicht Zeit lasse, mich fortzuschicken. Ich hörte aber, daß Sie heute reisen, und habe noch dringend mit Ihnen zu sprechen.«

Es war unmöglich, ihn abzuweisen in Gegenwart des Dieners. Maria ging dem Besucher in den Salon entgegen und nahm Platz an einem Tischchen, auf dem ihre Arbeit lag. Sie bot alle ihre Kräfte auf, um eine unbefangene Haltung zu bewahren, und wies Tessin einen Sessel ihrem Kanapee gegenüber an.

Gott im Himmel, wie fassungslos fühlte sie sich, wie seltsam war ihr zumute! Die Zunge klebte ihr am Gaumen, eine eiserne Faust schnürte ihr die Kehle zu, ihr Herz klopfte, ihre Pulse flogen – und diesen tollen Aufruhr ihres ganzen Wesens brachte – Schmach und Verbrechen! – seine Nähe hervor.

Er hatte das Wort genommen, und sie, nur mit sich selbst beschäftigt, hörte, ohne zu verstehen, ohne sich Rechenschaft von dem zu geben, was er sagte. Er bat für jemanden um Nachsicht und Schonung, er tat es in seiner eindringlichen, bestrickenden Weise. So warm, so sanft, so bescheiden hatte ihn wohl noch niemand bitten gehört. Nichts Einschmeichelnderes auf Erden als der Klang seiner Stimme. Der Name, der immer wieder auf seine Lippen kam, war der Almas.

Plötzlich raffte Maria sich auf aus ihrem schweren Kampfe. »Was wollen Sie eigentlich?« fragte sie rauh. »Was soll ich für Alma tun?«

»Was ich für sie erflehe.«

»Und das ist?«

»Oh – Sie schenken mir nicht einmal soviel Aufmerksamkeit als dem ersten besten Bettler, der Sie auf der Straße anspräche«, rief Tessin vorwurfsvoll. »Woran denken Sie? Immer nur an den Glückseligen, der durch Sie der Erste unter den Menschen geworden ist. Ja, ja, ja! der ist der Erste, der sich rühmen darf, das höchste Erdengut zu besitzen, eine Frau wie Sie.«

»Er rühmt sich nicht«, wandte sie ein.

Tessin lachte: »Es wäre menschlich – und er hat die Verpflichtung, eine Vollkommenheit zu sein, und wird ihr gerecht. Aber auch ein anderer, ein Geringerer, dem sein Glück zugefallen wäre, hätte verstanden, sich dessen ebenso würdig zu machen … Gräfin, Gräfin! – Mir selbst traue ich zu, daß ich an Ihrer Seite nicht nur gut, daß ich sogar ein Vorkämpfer des Guten hätte werden können.«

Maria neigte sich über ihre Arbeit und sprach: »Man tut das Gute um des Guten willen. Aus einem anderen Grunde getan ist es wertlos.«

»Sie leugnen die Bekehrungen durch Heilige, durch Propheten«, entgegnete Tessin, »die hinreißende Macht des Beispiels? – Ich gehöre nicht zu den Auserwählten, die am Urquell schöpfen. Ich bedarf einer Freundeshand, großmütig genug, es für mich zu tun und mir dann etwas mitzuteilen von der herrlichen Labe … Der Wohltäter des Menschen ist immer nur der Mensch. Ich gäbe jeden göttlichen Schutz und das sogenannte Walten und Vorsehen einer unendlichen Weisheit um die Treue eines Herzens, das mich liebt, und beneidenswert wäre ich, wenn es mir freistände den Tausch einzugehen … Gräfin«, begann er nach kurzem Schweigen wieder, »so unwichtig ich Ihnen auch bin, haben Sie vielleicht doch bemerkt, daß eine große Veränderung mit mir vorgegangen ist in der kurzen schönen Zeit, in der ich gewagt habe, die Augen zu Ihnen zu erheben … So voll Ehrfurcht, so demütig und – so töricht kühn … Oh, wenn ich noch erröten könnte, bei dem Geständnisse müßte ich’s« – und eine dunkle Blutwelle stieg ihm ins Gesicht –, »denn ich hoffte, Sie zu erringen … Kindisches Wagnis, nach solchem Ziele zu streben. – Ein Verwandter Alma Tessins darf nicht der Schwiegersohn des Grafen Wolfsberg werden. Ich hätte es wissen und auf das gefaßt sein sollen, was geschah.«

»Was geschah?«

»Ich wurde gestrichen aus den Reihen Ihrer Bewerber …« »Meiner Bewerber?… Sie hätten um mich geworben?«

»Sie wissen es nicht? Ihr Vater hat es Ihnen verschwiegen!« rief Tessin bitter und ironisch aus. »Das ist Wolfsbergische Politik! Weder offenherzig noch gerecht, aber klug. Warum Sie vor eine Wahl stellen, da man doch entschlossen ist, Ihnen keine Wahl zu lassen? – Über Sie war verfügt; Sie waren, ehe Sie es ahnten, dem Grafen Dornach versprochen.« »Versprochen?« rief Maria mit Entrüstung aus.

»Sagen wir denn: bestimmt. Über mich schritt Ihr Vater einfach hinweg, nachdem ich entwurzelt worden in Ihrer guten Meinung … durch ihn – ich bitte, leugnen Sie nicht –, durch ihn. Auf welche Weise, frage ich nicht. Das Leben eines Weltmannes, der jede Mode berufsmäßig mitmacht, bietet Blößen genug. Und ich trage keinen Harnisch. Jeder gegen mich abgesandte Pfeil trifft meine unbeschützte Brust … Sie aber, Gräfin, – so weise, so gerecht, so hochherzig, Sie hatten für mich nicht eine Entschuldigung, nicht einen milden Gedanken. Sie wandten sich von mir ab, stumm und verächtlich – ich werde die Art nie verschmerzen, in der Sie sich von mir abgewandt haben!«

Sie war erschüttert von seiner Anklage, sah ihn an und sprach, alle Geistesgegenwart verlierend: »Auch Sie blieben stumm – hätten Sie damals gesprochen. Jetzt ist es zu spät.«

»Zu Ihnen gesprochen?« fragte er rasch, ihre letzten Worte überhörend, »zu Ihnen, in deren Herzen nichts für mich sprach? Nichts, sonst würden Sie mich nicht so leicht aufgegeben haben. Auch ist ein Verschmähter nicht immer aufgelegt, sich zu rechtfertigen. Ein Verschmähter ist leicht gekränkt, ist reizbar. Nein, ich wollte warten, bis ich Ihnen zugleich sagen konnte: Leben Sie wohl, und Ihnen wenigstens meine Uneigennützigkeit beweisen. Unglaublich albern, nicht wahr? Es ist zum Lachen. Das nennt man doch Torheit um Torheit begehen … Wahrhaftig, ich hätte es anders angefangen, wenn ich nicht das Unglück haben würde – Sie zu lieben.«

Was sollte sie erwidern? Sie gab ihm recht im stillen. Ihr gegenüber hatte er seine Verführungskünste nicht ausgeübt. Der Mann, von dem es hieß, daß er sich nie vergeblich um Frauengunst bemüht habe, nie von denen, die er verließ, vergessen worden sei, ihr war er nie anders als bescheiden genaht. Sie konnte ihm nicht widersprechen, als er von neuem begann:

»Sagen Sie mir, ob ein Gymnasiast sich gegen die stumm und heiß Vergötterte ungeschickter, blöder hätte benehmen können, als ich mich gegen Sie benahm?… Vorbei! Mein ›freudenreiches‹ Leben bleibt leer, ist nichts. Nun will ich’s mit dem Ehrgeiz versuchen«, fuhr er mit einem tiefen Seufzer fort, »dem Auskunftsmittel so manches Gescheiterten. Wenn Sie einmal hören, daß ich irgend etwas ›geworden‹ bin, das zu sein der Mühe wert scheint, dann erinnern Sie sich dieser Stunde und wägen die Bedeutung ab, die äußerer Glanz des Daseins für mich haben kann.«

Er hielt inne, er wartete, Maria schwieg. Schüchtern beinahe kam Tessin nach einer Weile auf seine erste Bitte zurück, sprach wieder von Alma: »Haben Sie Mitleid mit einer Unglücklichen, ein wenig Mitleid, Gräfin. Sie selbst wagt es nicht, Sie anzuflehen. Sie glaubt nicht einmal, an einem Orte mit Ihnen wohnen zu dürfen; sie vergräbt und verzehrt sich auf dem Lande in Einsamkeit und Reue …«

»Sie tut recht«, unterbrach ihn Maria kalt und leise. »Mit welcher Stirn vermochte sie es früher, mit mir zu verkehren und – es ist unfaßbar – mit hundert Menschen, die alle in Kenntnis waren von ihrer unsühnbaren Schuld.«

»Unsühnbar? Ich meine, sie sühnt.«

»Möge sie es versuchen.« Damit erhob sie sich, und er sprang auf: »Sie entlassen mich?«

»Leben Sie wohl.«

»Ihre Hand!… Reichen Sie mir zum Abschied die Hand. Ein paar Duellanten reichen sich die Hand, wenn einer den anderen entwaffnet hat. Gräfin Maria, ich habe die grausamste Niederlage erfahren, ich habe alles verloren, Hoffnung, Mut, Kraft. Sie haben sogar den elenden Stolz gebrochen, der mich noch aufrecht hielt – aus Erbarmen, geben Sie mir die Hand!« Seine Zähne knirschten, sein edles stolzes Gesicht war leichenblaß.

Maria machte eine verneinende Bewegung mit dem Haupte. Nach einem letzten fragenden, beschwörenden Blick verneigte er sich und trat aus dem Zimmer.

Maria blickte ihm nach. Da war ja ein vollständiger Sieg über sich selbst von ihr errungen worden; denn wahrlich, das Erbarmen, um das er gebeten hatte, füllte ihre Brust zum Zerspringen, und süß und wonnig wäre es ihr gewesen, die Hand zu erfassen, die er beim Abschied nach ihr ausstreckte, und ihm zu sagen: Sie leiden nicht allein. Nehmen Sie diesen Trost mit sich.

Aber sie hatte ihm die Hand nicht reichen dürfen. Er würde gefühlt haben, daß sie zitterte und eisig war, weil alles Blut zu dem aufrührerischen Herzen strömte, das ihm so toll entgegenschlug.

 

Knapp vor der Abfahrt des Zuges trafen Hermann und Maria auf dem Bahnhofe ein, und wenige Minuten später dampfte die Lokomotive durch die Halle.

»Ist das nicht Tessin?« fragte Hermann, auf eine dunkle Gestalt deutend, die im Schatten eines Pfeilers stand und den fortrollenden Wagen nachblickte.

Maria hatte ihn längst gesehen: »Ja, es ist Tessin.«

»Mit dem Gesicht eines Selbstmörders«, versetzte Hermann. »Er ist mir unheimlich seit einiger Zeit.«

Es war wieder eine laue, schöne Frühlingsnacht wie vor zwei Jahren, als sie ihre Hochzeitsreise nach Dornach angetreten hatten. Maria drückte sich in eine Ecke und schloß die Augen, und wieder, wenn sie sich öffneten, begegneten sie dem treuen, liebevollen Blick des Mannes, der über ihr wachte.

Ihre Verstimmung war ihm sogleich aufgefallen. Er schrieb sie der überstürzten Abreise zu, die allen eben jetzt besonders reichlich gebotenen Vergnügungen der Stadt ein plötzliches Ende machte, fand sie sehr begreiflich und bedauerte, Marias Opfer egoistisch angenommen und zugegeben zu haben, daß sie ihn nach Dornachtal begleitete.

»Wenn wir meine Mutter getrost verlassen können«, sagte er, »fahren wir im Mai nach Wien zurück zu den Rennen.«

Maria widersprach: »Das wollen wir nicht tun, du hast kein Interesse daran, und ich, glaube mir, ich sehne mich nach der Ruhe in Dornach. Dorthin wollen wir, sobald die Mutter unserer nicht mehr bedarf. Nach Dornach, Lieber – dort wird alles gut werden.« Unwillkürlich, mehr zu sich selbst als zu ihm, waren die letzten Worte gesprochen, und nicht mit Zuversicht – mit peinvollem Zweifel.

Hermann ergriff ihre Hände: »Was soll erst gut werden? was ist nicht gut?… Sprich, sag es mir, du mein alles, mein Kind und meine Gottheit. Beglückerin! was fehlt dir zum Glücke?«

Sie entzog ihm ihre Hände, um sie auf seine Schultern zu legen, und sah tief in seine friedlichen Augen hinein: »Mein Freund … Mein Freund«, wiederholte sie und dachte daran, ihm alles zu gestehen, ihm zu sagen: Hilf – befreie mich – ich ringe in entsetzlichen Banden. Es frißt mir am Herzen, es ist ein sündiges Mitleid, eine verbrecherische Sehnsucht. Hilf, hilf, rette mich vor dem Wirrsal, in das ich geraten bin!

Sollte sie so zu ihm sprechen?

Eines Augenblicks Dauer, und sie staunte, wie der Einfall ihr hatte kommen können. War denn nicht jede Gefahr vorbei? Was galt es noch zu bekämpfen? – Einen Sturm von Empfindungen, dessen sie allein Herr werden wollte.

»Mir fehlt nichts«, sagte sie, »es sind Launen, Bester, die jeder Sterbliche hat, du allein ausgenommen. Ich kann nur wiederholen, was ich dir schon als Braut sagte: Habe Geduld mit mir.«

 

Gräfin Agathe empfing ihre Kinder, als sie am nächsten Tage kurz vor dem Mittagessen bei ihr eintrafen, mit sehr absichtlich betonter Überraschung. Sie befand sich zwar noch zu Bette, aber nur aus Rücksicht für die viel zu weit getriebene Ängstlichkeit ihres Hausarztes. Es sei ihr höchst unangenehm, versicherte sie, den Kleinen allein in Dornach zu wissen – noch dazu ihretwegen. Eine Einwendung ließ sie nicht gelten und blieb dabei: »Ohne seine Mutter ist ein so junges Kind immer allein. Nur um mich keine Sorgen! Was der Herr beschließt, haben wir in Demut hinzunehmen. Aber ich hoffe von seiner Gnade, daß er mein Gebet erhören und mich noch hier lassen wird, um meinen dritten Enkel zu segnen. Drei müssen es sein. Einer für Dornach, einer für Gott, einer für den Kaiser.«

»Majoratsherr, Priester, Soldat«, murmelte Pater Schirmer, nickte dreimal dazu, kreuzte seine kleinen Hände über dem Magen und guckte aus winzigen Augen über die runden Polster der Wangen mit einer wahren Fülle von Wohlwollen und Freundlichkeit vor sich hin.

Die Gräfin beruhigte sich erst, als Maria ein Telegramm nach Dornach abgesandt hatte, in dem sie ihr Eintreffen für den drittnächsten Tag ankündigte. Hermann wurde gebeten, länger zu bleiben. Es geschah auf Veranlassung Pater Schirmers, der, mit dem Amte eines Sekretärs betraut, infolge seines Bestrebens, »jede Störung der Harmonie zwischen Gutsbesitzer und Gutsverwaltung hintanzuhalten«, einen verderblichen Schlendergang in der Leitung der Geschäfte geduldet hatte. Mit Schrecken war er sich des Unheils bewußt worden, das seine Ohnmacht angerichtet. Das Eingreifen der festen Hand Hermanns war notwendig.

So kam denn Maria allein in Dornach an.

Auf der Station wartete Wilhelm und empfing seine Base bewegt wie ein Liebhaber. Er bestellte ein Willkomm-Lallen von seinem »Prachtneffen«, die wärmsten Grüße Helmis und Handküsse der Rangen. Er konnte die schriftlichen Nachrichten über das Befinden Wolf Forsters, die Doktor Weise im Laufe des Winters nach Wien geschickt hatte, bestätigen. Der Patient war wohl genug, um Dornach verlassen und die Fahrt nach einem Jagdschlößchen Hermanns, das ihm zum bleibenden Aufenthalt angewiesen wurde, unternehmen zu können. Er selbst freue sich sehr darauf und spreche nur noch von seiner lang gehegten und mühsam gebändigten »Passion« für das lustige Waidwerk.

»Lauter Gutes, lieber Wilhelm, du bringst lauter gute Botschaft«, sprach Maria, und Tränen traten ihr in die Augen.

»Das Beste bringen Sie«, rief er aus, »Sie bringen sich.«

»Wie sagst du? Sie!?«

»Entschuldige! das macht der Respekt … Nach so langer Trennung kommt es mir ordentlich keck vor …« Er wurde verlegen und schwieg.

Sie rollten im raschen Trabe der Pferde dahin.

Durchsichtig blau und wolkenlos wölbte sich über ihnen der Himmel. Im Westen, in einer Einsattelung der Bergkämme, bildete die untergehende Sonne einen blendenden Feuerherd und sandte ihre Strahlengrüße über die keimende, knospende, blühende Welt, die sie zu neuem Leben erweckt hatte.

Ewig gelöstes, ewig unlösbares Rätsel, Frühlingswunder! – Still ließ Maria es auf sich einwirken und betete die eine und einzige Kraft an, die webt und treibt im Hälmchen auf der Wiese, widerhallt aus der tönenden Brust der Nachtigall, unwiderstehlich lockt und ringt im Menschenherzen.

Man war vor dem Schlosse angelangt, Wilhelm bestieg seinen Gaul und ritt heim, nachdem er versprochen hatte, sich morgen als Pater familias in Dornach einzufinden.

Maria hielt ihr Kind in ihren Armen; sie küßte und liebkoste es und wiederholte ihr Sprüchlein: »Alles gut – lauter Gutes – –«

Ach, wenn der bittere Vorwurf nicht wäre! der nagende, peinvolle Vorwurf gegen einen Menschen, der nicht in ihrer, nein, in dessen Schuld sie stand, unerbittlich grausam gewesen zu sein. Sie hätte sich überwinden, ihm die Hand reichen und sagen sollen – was hielt sie ab, welche Pflicht verbot es ihr? – : Ich habe Sie geliebt. Dereinst, als ich noch frei war. Die Verhältnisse haben uns getrennt. Nun wollen wir unsere Schuldigkeit als brave Menschen tun und beim Wiedersehen nach Jahren, wenn die Empfindung, die uns jetzt noch bedrückt und verwirrt, erloschen sein wird, einander als alte Freunde entgegentreten.

Hätte sie doch so gesprochen, so sprechen können! Schwäche, Schwäche, daß sie es nicht gekonnt. Jetzt bleibt der Stachel in ihrer Brust, der Tropfen Gift in ihrem Blute. Sie sollte den Blick nie vergessen, den er ihr beim Scheiden zugeworfen.

Als sich Maria in ihr Schlafgemach begeben hatte, erschien Lisette, um gute Nacht zu wünschen und eine Botschaft von Forster zu überbringen. »Er geht also fort«, sagte sie, »und läßt dich bitten, inständig, daß du morgen Klavier spielst und dann hinkommst in den Pavillon. Er möcht sich gar so gern bei dir empfehlen und dir auch den weiten Weg ersparen bis zur Hegerin. Wirst du kommen?«

»Ja.«

»Noch etwas, denk dir. Heut hat er Besuch gehabt, der Wolfi. Ein Freund von ihm, der eine weite Reise macht, hat sich hier aufgehalten von einem Zug zum andern.«

Maria rückte den Schirm, der auf dem Tische stand, vor die Lampe. »Wer?« fragte sie.

»Den Namen weiß ich nicht. So ein hübscher großer; das Gesicht wie von einem Italiener. Hat einen Backenbart, rabenschwarze, etwas gelockte Haare, die Nase gebogen, das Kinn ausrasiert. Vielleicht kennst du ihn. Ich hab ihn zwar nie bei uns gesehen.«

Nachdem die Alte sich entfernt hatte, durchwandelte Maria noch lange das Zimmer und dachte dessen, den jede Minute, jede Sekunde weiter hinwegtrug von ihr und der wohl auch wachte und litt wie sie und ihr grollte und zürnte …

Er war da gewesen, er hatte die Erinnerung an die Stätte, an der sie lebte, mitnehmen wollen in seine freiwillige Verbannung. – Einen Tag nur – nur einen, und sie hätten einander noch gesehen und den Abschied nehmen können, den sie sich in immer holderen, reineren Farben ausmalte.

Der Morgen kam. – Das Kindlein wankte ebenso tollkühn wie unsicher an der Hand der Wärterin in das Schlafgemach herein, dem Bette seiner Mutter zu und jauchzte ihr entgegen …

Maria erhob sich nach wenigen Stunden eines unerquicklichen, durch wüste Träume gestörten Schlafes. Sie wollte ihr Tagewerk beginnen, aber sie hatte Blei in den Gliedern, einen eisernen Reifen um den Kopf. Alles wurde ihr schwer, alles versagte, sogar die getreue Kunst. Sie schloß das Klavier, nachdem sie einige Akkorde angeschlagen hatte, eilte hinab ins Freie, umschritt das Haus und wanderte durch einen Fliedergang dem Pavillon zu. Forster wartete ihrer dort; sie wollte ihn treffen und durch den letzten, der den Scheidenden noch in der Heimat gesprochen, eine Kunde von ihm haben.

Sie war angelangt und überschritt die Stufen, die zum Pförtchen des kleinen Baues hinaufführten, einer zierlichen und luxuriösen Spielerei aus dem 18. Jahrhundert. Er enthielt zwei durch Rundbogen getrennte Zimmer. Die Wände und die Möbel waren mit gelbem chinesischem Seidenstoff überzogen, die Fenster mit demselben kostbaren Gewebe verhangen.

Als Maria aus dem grellen Tageslicht in die goldige Dämmerung trat, schwamm es ihr vor den Augen, und sie vermochte nicht, einen scharfen Umriß zu unterscheiden. Aus dem Nebenzimmer nahte jemand langsam und zögernd, wie ihr schien. »Forster«, rief sie.

Keine Antwort. Nach einer Weile erst ihr leise geflüsterter Name.

Maria erkannte die Stimme sogleich und schrie auf: »Sie!« Tessin stürzte ihr entgegen mit inbrünstig gefalteten Händen … sie streckte die ihren abwehrend aus: »Fort!… wie können Sie es wagen?… das ist Verrat. Gehen Sie!«

Er schüttelte den Kopf: »So nicht. Ich hab’s versucht – es ist unmöglich.« Entschlossenheit in jeder Bewegung, die Brauen drohend zusammengezogen, trat er näher.

Sie wich schweigend zurück und schritt dem Ausgang zu. Da warf er sich zwischen sie und die Tür, und als Maria ans nächste Fenster rannte und es zu öffnen versuchte mit bebenden Fingern, die den Gehorsam versagten, glitt ein finsteres Lächeln über seine Züge.

»Sie wollen Leute herbeirufen, tun Sie es doch. Der Gewalt muß ich weichen. – Aber nicht lebendig … das sage ich Ihnen – und Sie«, er hob beteuernd die Rechte, »Sie glauben mir das.«

»Wahnsinn«, stammelte Maria, von Furcht und Schrecken durchbebt.

»Nein, Verzweiflung!… Was hab ich Ihnen getan? warum verachten Sie mich? – Ich habe Sie unaussprechlich geliebt.« »Und was haben Sie mir getan? Sie haben mich verschmäht, mißhandelt, wie ich nicht dulde, daß man mich mißhandle. Sie haben die reinste Empfindung meines Lebens verkannt, mir gemeine Beweggründe zugeschrieben, mich verletzt, kalt und berechnend, an der empfindlichsten Stelle meines Herzens -geben Sie mir Genugtuung!« Er sah sie an, verstört, in rasender Erregung … Aber plötzlich, wie durch Zaubergewalt beschwichtigt, sank er auf das Knie.

Was war denn geschehen?

Eine von Angst gefolterte Frau, die mit ihren Tränen kämpfte, stand vor ihm. Ihr Stolz war gebrochen; mit ersterbender Stimme sprach sie: »Sie müssen fort.«

»Ja, ja?« er faßte ihre widerstrebende Hand. »Unter einer Bedingung … Geben Sie mir das Zeichen des Erbarmens, um das ich schon gefleht habe. Ich will als Gnade empfangen, was mein Recht wäre, was Sie mir schuldig sind für alles … auch für den Mord des besseren Menschen, der in mir schlummerte, der erwachen wollte unter Ihrem Einfluß und den Sie getötet haben, als Sie mich aufgaben.«

Immer heißer bestürmte er sie, immer überzeugender strömte die Rede von seinen Lippen, ein berauschender Hauch der Leidenschaft ging von ihm aus: »Was verlange ich denn? Ein Wort des Trostes mit auf den Weg, einen gütigen Blick, einen Händedruck …«

Das durfte sie gewähren, das war es ja, wonach sie sich gesehnt hatte all die Tage lang – vor dem Scheiden auf ewig ein Lebewohl in Frieden und Versöhnung.

Seine Augen flammten zu ihr empor, sie neigte sich, ihr Blick ruhte in dem seinen, und sie flüsterte: »Weil es unsere letzte Begegnung ist, Tessin, so wissen Sie … ich habe nicht leicht verzichtet. Sie sind mir nicht gleichgültig gewesen …«

Da brach er in jubelndes Entzücken aus: »Endlich! Endlich!« – Weich und zärtlich, in wonniger Dankbarkeit preßte er seine Stirn, seine Lippen auf ihre Hand, und Maria, im schwersten Kampfe ringend, flüsterte ihm leise zu: »Nun fort.«

Ganz verwandelt, außer sich, sprang er auf: »Nein, und nein! – Du hast mich geliebt, du liebst mich noch!« Er zog sie in seine Arme und erstickte mit seinen Küssen den Schrei, den sie ausstieß.

Sie wollte sich ihm entziehen – sie wollte sich retten – und lag an seiner Brust, unwiderstehlich hingerissen wie von einer Naturgewalt.

Zwei trunkene Menschen hatten kein Bewußtsein mehr von Ehre, Pflicht und Treue, ihnen versank die Welt und jegliches Erinnern.

 

Die Sonne stand im Scheitel, Maria war allein.

Seit langem, langem – seit einer Ewigkeit … Oder nicht? – war sie eben erst verlassen worden beim Aufschrecken aus einem gräßlichen, seligen, unmöglichen Traum?…

Sie saß da, die Hände auf den Tisch gelegt, das Gesicht in die Hände vergraben, als die Tür geöffnet und ein keuchender, pfeifender Atem hörbar wurde.

Wolfi schleppte sich herein, auf einen Stock gestützt, und fiel schwer auf den Diwan neben Maria hin. Er streckte die Beine aus, lehnte sich zurück und stöhnte: »Da hab ich’s. – Das war ein teurer Spaß.«

Maria starrte ihn an, entsetzt über sein Aussehen. Es war das eines Sterbenden. »Sie sind erschöpft, der Weg hierher war Ihnen zu weit«, sagte sie.

»Der Weg hierher?« Er wollte lachen, doch kam nur eine Art Schluchzen aus seiner Kehle. »Das nicht, aber daß ich Ihren Liebhaber durch den Wald hab führen müssen – damit er sich nicht verirrt. Und dann sein Dank … Mich niederzustechen hat er gedroht, weil ich nicht schwören wollte, mein Maul zu halten. Ihm schwören, dem Menschen ohne Treu und Glauben.«

Maria war versteinert. So war sie in eine Falle gelockt worden. Tessin hatte einen Vertrauten gehabt. Haben müssen. Natürlich – zu Gelegenheiten braucht man Leute, die sie machen, Helfer, Hehler. Einen wie den Niederträchtigen da … Ihr Herz stand still, als diese Gedanken sie so klar, so kalt durchblitzten. Kommt der Tod? – Ach, käme er doch von selbst, daß ich ihn nicht suchen müßte – denn, wie könnte sie jetzt noch leben?

»Müd, müd bin ich«, stöhnte Wolfi, »ich liege schlecht – hilf ein wenig.«

Von Abscheu und Ekel ergriffen, rang Maria mit sich selbst, doch beugte sie sich, er umklammerte ihren Nacken, sie faßte ihn an den Schultern, legte ihn – er kam ihr leicht vor wie ein Kind – der Länge nach auf das Ruhebett und schob Kissen unter seinen Kopf: »Bleiben Sie so. Ich schicke den Arzt.«

»Brauche ihn nicht – nicht ihn – dich allein – mir ist schon besser … Deine Sorgfalt tut mir wohl. – Wärst du immer gütig gegen mich gewesen – ich hätte dir vielleicht erspart – vielleicht … Gewiß weiß man’s nicht – ein Mensch wie ich« – er stockte, schwerer noch rang sich der Atem aus seiner Brust, die roten Flecken auf seinen Wangen färbten sich dunkler. Nun ging eine seltsame Veränderung in seinen Zügen vor; sie nahmen plötzlich einen milden, fast edlen Ausdruck an.

»Du bist nicht mehr stolz«, sprach er kaum vernehmbar, »verachtest niemanden mehr?«

Sie, mit herzzerreißender Klage, antwortete: »Nur mich!«

»Wirst du jetzt Bruder zu mir sagen?«

»Bruder.«

»Triumph …!« Seine letzte Kraft erschöpfte sich in der Anstrengung, mit welcher er dieses Wort hervorbrachte. Aus seinem Munde quoll ein Blutstrom, sein Kopf, den er ein wenig erhoben hatte, sank in die Kissen.

Maria stieß einen Schrei aus: »Zu Hilfe! Zu Hilfe! er stirbt!«