42. Kapitel


42. Kapitel

Wie Mr. Jonas‘ und seines Freundes Unternehmen ablief

Die Prophezeiung des Doktors in bezug auf die Nacht ging bald in Erfüllung. Wenn auch der Himmel nicht zu Joblings Patienten zählte und diesen auch keine dritte Person aufgefordert hatte, ein Gutachten über den Fall abzugeben, so lieferte er dennoch auch diesmal einen Beweis von der Richtigkeit seiner Diagnosen – wenn auch das bedrohliche Aussehen des Abends eine solche nicht besonders schwierig machte. Es war eine jener stillen schwülen Nächte, wo die Leute am Fenster sitzen, auf den Donner horchen und mit jedem Augenblick auf das Losbrechen des Gewitters warten – eine der Nächte, in denen man sich gern unheimliche Geschichten von Orkanen und Erdbeben, von einsamen Wanderern auf freier Ebene und von Schiffen auf der See, die vom Blitz getroffen werden, erzählt. Da und dort flammte bereits ein Blitz an dem schwarzen Horizonte auf, und der Wind heulte hohl in der Ferne, wie als Träger des Echos des Donners weit hinter den Wolken. Immer rascher zog sich das Unwetter zusammen, und die Stille wurde um so feierlicher, als die Luft voll Ahnung eines fernen Tosens schien.

Es war sehr dunkel, und an dem düstern Himmel zeigten sich Wolkenmassen von fahlem Licht, wie ungeheure Kupferklumpen, die nach dem Erhitzen im Ofen allmählich erkalten. Langsam und unaufhaltsam waren sie heraufgezogen und standen jetzt fast regungslos wie eine Mauer, und als der Vierspänner an den Straßenecken vorüberrasselte, kam er überall an Menschengruppen vorbei, die – meistens ohne Hut auf dem Kopf – aus ihren nahen Wohnungen herausgekommen waren, um sich die Wolkengebilde zu betrachten. Dann fingen einige große schwere Tropfen an zu fallen, und der Donner grollte in der Ferne.

Jonas saß in einer Ecke im Wagen und hielt die Flasche auf seinen Knien so fest in der Hand, als wolle er ihren Hals zerbrechen. Unwillkürlich in die dunkle Nacht hinausblickend, hatte er das Paket Karten auf den Polstersitz gelegt, als sein Begleiter aus einem unbestimmten Drange heraus die Lampe auslöschte. Die Vorderfenster waren herabgelassen, und so blieben die beiden stumm sitzen und sahen schweigend auf die unheimliche Landschaft hinaus.

Sie hatten London im Rücken – das heißt so gut wie im Rücken, da sie sich noch auf der ersten Station nach Westen zu befanden. Hin und wieder begegneten sie einem Fußgänger, der dem nächsten schützenden Dache zueilte, oder einem schwerfälligen Frachtwagen, der in starkem Trabe demselben Ziele zustrebte. Kleine Gruppen solcher Fuhrwerke umstanden die Ställe oder Fütterungsplätze jedes Gasthauses an der Straße, während die Kutscher an offenen Fenstern und Türen das Wetter beobachteten oder drinnen in den Wirtsstuben zechten. Überall legten die Menschen die Neigung an den Tag, sich zusammenzuschließen, so daß ganze Gruppen Gesichter vor fast jedem Hause den vorüberfahrenden Vierspänner mit neugierigen Blicken verfolgten.

Es klingt vielleicht sonderbar, daß dies Jonas störte, aber dennoch war es der Fall. Er brummte jedesmal dabei etwas vor sich hin und rückte unruhig auf seinem Sitze hin und her. Dann wieder zog er den Fenstervorhang herunter und lehnte sich mürrisch an die Seitenwand. Dabei blickte er jedoch weder seinen Reisegefährten an, noch unterbrach er durch ein Wort das Stillschweigen, das zwischen ihnen herrschte.

Der Donner rollte, die Blitze leuchteten, und der Regen strömte gleich einer Sintflut hernieder. Eine Sekunde lang von blendender Helle umgeben, dann wieder in pechfinstere Nacht getaucht, setzten sie noch immer ihre Reise fort. Als sie das Ende der Station erreichten, wollten sie nicht bleiben, sondern bestellten sofort neue Pferde. Es war nicht etwa deshalb, weil das Ungewitter fünf Minuten lang den Anschein hatte, als ob es vorübergehen wolle, sondern, sozusagen, aus innerem Zwange heraus. Obgleich sie keine zwölf Worte miteinander wechselten und ganz gut hätten irgendwo einkehren können, so schienen sie doch instinktiv zu fühlen, daß sie vorwärts mußten.

Lauter und lauter grollte der Donner, nachhallend, als rolle er durch Myriaden von Säulengängen irgendeines Riesentempels am Firmament, und ungestümer und blendender zuckten die Blitze, und immer schwerer prasselte der Regen hernieder. Die Pferde – sie reisten jetzt nur noch mit einem einzigen Paar – stutzten alle Augenblicke und bäumten sich vor den Bächlein zitternden Feuers, die sich auf der Erde in den Pfützen vor ihnen wie Schlangen fortzubewegen schienen, aber wortlos blieben die beiden sitzen, und fort ging’s, als würde der Wagen durch einen unsichtbaren Zauber fortgezogen.

Beim jedesmaligen Aufzucken der Blitze sahen sie in einer einzigen Sekunde eine Menge von Gegenständen, die sie am hellen Mittag nicht in fünfzigmal so langer Zeit auf einmal hätten überblicken können: die Glocken, wie sie in den Kirchtürmen hingen mit Seil und Rad, struppige Vogelnester in Ritzen und Spalten, bestürzte Gesichter in den leinwandbedachten Wagen, die sich vorüberschleppten und deren erschrockenes Gespann entsetzt Lärm schlug, was aber die Stimme des Donners sofort übertönte; – Egge und Pflug, stehengelassen auf den Feldern –, meilenweite Strecken von heckendurchzogenem Land, mit Baumreihen in weiter Ferne, die ebenso deutlich zu sehen waren wie die Vogelscheuche in dem Bohnenfeld dicht daneben, alles stand in zitterndem, blendendem, flüchtigem Nu deutlich und klar vor ihnen. Erst ging der gelbe Lichterglanz in ein feuriges Rot über, dann wieder wurde es blau, weiß, hell und grell, daß man gar nichts mehr sehen konnte als das blendende Licht, und dann war wieder alles in tiefste Finsternis gehüllt.

Ein Blitz in seiner zackigen, blendenden Gestalt schien einen Augenblick lang eine seltsame optische Täuschung vor Mr. Montagues Augen erzeugt zu haben. Gleich darauf war wieder alles vorüber. Er vermeinte eine Sekunde lang Jonas‘ aufgehobene Hand gesehen zu haben, die Flasche wie einen Hammer umkrallend, als wolle er sie auf seinen Kopf niedersausen lassen; zugleich bemerkte er – oder glaubte zu bemerken –, daß in Jonas‘ Gesicht ein Ausdruck voll so furchtbarer Aufregung, voll so grimmigen Hasses und blinder Furcht lag, daß er unwillkürlich einen Schrei ausstieß und dem Kutscher zurief zu halten.

Offenbar mußte er sich getäuscht haben, denn, obgleich er kein Auge von seinem Begleiter verwandt hatte, konnte er doch keine Bewegung an diesem wahrnehmen. Jonas Chuzzlewit saß in seiner Ecke zurückgelehnt wie zuvor.

»Was gibt’s?« fragte Jonas. »Schreien Sie immer so auf, wenn Sie erwachen?«

»Ich möchte darauf schwören«, brummte Mr. Tigg, »daß ich meine Augen die ganze Zeit über offen hatte.«

»Nun, wo Sie’s jetzt beschworen haben«, sagte Jonas kühl, »so glaube ich, wäre es vielleicht das beste, wir fahren wieder weiter; vorausgesetzt, daß das der einzige Grund ist, weshalb Sie haltgemacht haben.«

Damit entkorkte er die Flasche mit den Zähnen, setzte sie an den Mund und tat einen langen Zug.

»Ich wollte, wir hätten diese Reise nicht angetreten«, stöhnte Mr. Montague, sich instinktiv in seine Ecke drückend, und mit einer Stimme, die deutlich seine innere Aufregung verriet, »das ist keine Nacht zum Reisen.«

»Donnerwetter noch mal, da haben Sie recht«, krächzte Jonas, »und wir wären auch gar nicht hier, wenn Sie nicht darauf gedrungen hätten. Würden Sie mich nicht den ganzen Tag hingehalten haben, so könnten wir jetzt ganz behaglich in Salisbury in einem guten Hotelbett schlafen. Warum machen Sie denn schon wieder halt?«

Mr. Tigg hatte den Kopf einen Augenblick zum Fenster hinausgesteckt und sagte, als er ihn wieder hereinzog, der Grund sei, daß der Junge bis auf die Haut durchnäßt sein müsse.

»Geschieht ihm ganz recht«, brummte Jonas. »Freut mich nur. Was, zum Teufel, brauchen Sie da halten zu lassen? Wollen Sie ihn vielleicht zum Trocknen aufhängen?«

»Ich hätte eigentlich Lust, ihn herein in den Wagen zu nehmen«, bemerkte Mr. Montague zögernd.

»Na, dafür bedanke ich mich bestens«, sagte Jonas. »Weiter fehlte uns gerade nichts. Den durchnäßten Burschen auch noch hier zu haben! Lassen Sie ihn nur, wo er ist; er fürchtet sich nicht vor dem bißchen Donnern und Blitzen, dächte ich, wenn auch andere sich fürchten. Fahren Sie nur zu, Kutscher – oder möchten Sie vielleicht auch den hereinnehmen?« höhnte er. »Und die Pferde dazu?«

»Fahren Sie nicht wieder so toll drauflos wie vorhin«, ermahnte Mr. Montague den Kutscher, »und geben Sie ein bißchen acht. Sie waren verwünscht dicht am Graben, als ich Sie vorhin anrief.«

Davon war nicht ein Wort wahr, und Jonas sagte es auch brüsk heraus, als sie wieder weiterfuhren. Mr. Montague nahm jedoch wenig oder gar keine Notiz davon, sondern wiederholte bloß, es sei »keine Nacht zum Reisen«. Und sowohl jetzt wie auch später verriet er ununterbrochen eine große Ängstlichkeit.

Jonas hingegen hatte seine frühere gute Laune wiedergewonnen, wenn man diese Bezeichnung auf den Zustand anwenden kann, in dem er die Stadt verlassen hatte. Immer wieder führte er die Flasche zum Mund, sang einzelne Strophen aus Liedern, mißtönend und ohne auf die Melodie Rücksicht zu nehmen, und nötigte dadurch seinen stummen Freund, in seine Lustigkeit mit einzustimmen.

»Sie sind der beste Gesellschafter von der Welt, lieber Freund«, sagte Mr. Montague mit gepreßter Stimme, »und im allgemeinen unwiderstehlich. Aber diese Nacht – – haben Sie jetzt gehört?«

»Donnerwetter noch mal, natürlich höre ich’s und sehe es obendrein«, rief Jonas, vor dem Blitz, der in diesem Augenblick das ganze Firmament durchzuckte, sich die Augen beschattend. »Aber was weiter? Geht das Sie oder mich oder unsere Angelegenheiten an, was? Chorus! Chorus!

Soll es blitzen durch den Sturm,
Bis es treibt den roten Wurm
Aus dem Feld, draus Galgen ragen.
Toten hat der Blitz nichts an;
Retten kann sich nicht der Mann,
Dessen letzte Stund geschlagen.

Famoses altes Lied«, schloß er mit einem Fluch, als er, fast über sich selbst verwundert, in seinem Gesange innehielt. »Ich hab’s seit meiner Knabenzeit nicht mehr gehört. Weiß der Teufel, wie’s mir gerade jetzt in den Kopf kommt. Vielleicht hat mir’s der Blitz hineingejagt. ›Den Toten hat der Blitz nichts an‹, nein, nein, und ein Entrinnen gibt’s auch nicht, selbstverständlich nicht. Hahaha.«

Seine Fröhlichkeit hatte etwas so seltsam Schauerliches und paßte so unbeschreiblich gut zu dem Schrecken der Nacht, die sie roh verhöhnte, daß Mr. Montague, der ohnedies eine Memme von Haus aus war, vor ihm förmlich zurückbebte. Statt daß Jonas sein Werkzeug gewesen wäre, waren jetzt die Rollen vertauscht. Aber auch das ließe sich beruhigend erklären, dachte Mr. Montague. Das Bewußtsein der Erniedrigung mußte einen solchen Menschen antreiben, sich mit lärmender Ausgelassenheit zu betäuben, um seine wirkliche Lage zu vergessen. Für solche Dinge hatte Mr. Montague aus Erfahrung einen scharfen Blick, und er zögerte daher nicht, dieses Argument in seiner ganzen Gewichtigkeit anzuerkennen. Dennoch wollte ihn ein gewisses unheimliches Gefühl nicht verlassen, und er fühlte sich verzagt und unruhig.

Geschlafen hatte er nicht – das wußte er gewiß. Aber eine optische Täuschung war immerhin möglich, und, wenn er jetzt Jonas in einem von Blitzlicht erhellten Moment ansah, so war es ihm ein leichtes, sich seine Gestalt in jeder Haltung, die dem Zustand seines Geistes entsprach, vorzustellen. Andererseits war er sich klar darüber, daß Jonas natürlich keinen Grund haben konnte, ihn zu lieben, und selbst im Falle, daß er sich die Pantomime, die er gesehen zu haben glaubte, nicht als die Ausgeburt seiner Phantasie, sondern als wirklich stattgefundene Gebärde dachte, so mußte er immerhin sagen, daß sie tatsächlich im Einklang stand mit Mr. Chuzzlewits offenkundig diabolischer Stimmung und den Anschein von Wahrheit in sich trug.

»Wenn er mich mit seinem bloßen Wunsche töten könnte«, dachte Mr. Tigg, »würde ich wohl am längsten gelebt haben.«

Er nahm sich daher vor, Jonas die Kandare so fest wie möglich anzuziehen, wenn er ihn einmal gehörig ausgenutzt haben werde; vorläufig jedoch konnte er nichts Besseres tun, als ihn seinen eigenen Weg gehen zu lassen und seine seltsame Heiterkeit nicht zu stören; und es war kein besonders großes Opfer, ihn vorläufig gewähren zu lassen. »Wenn er mir die Kastanien aus dem Feuer geholt hat«, sagte sich Mr. Montague, »gehe ich sowieso übers große Wasser und habe die Lacher auf meiner Seite und den Gewinn in der Tasche obendrein.«

Mit derartigen Betrachtungen vertrieb er sich Stunde um Stunde, denn er befand sich in jenem gewissen Gemütszustand, wo dieselben Gedanken immer wieder von neuem ihren Kreislauf beginnen. Jonas hingegen, der alles Grübeln aufgegeben zu haben schien, vertrieb sich die Zeit wie bisher. Sie waren übereingekommen, nach Salisbury und am nächsten Morgen zu Mr. Pecksniff hinüberzufahren, und bei der Aussicht, seinen vortrefflichen Schwiegervater übers Ohr hauen zu können, wurde Jonas womöglich noch ausgelassener als früher.

Weiter rückte die Nacht vor, immer seltener dröhnte der Donner, nur mehr dumpf und traurig in der Ferne grollend. Auch die Blitze, wenn auch noch ziemlich hell und häufig, waren im Vergleich zu früher harmloser geworden; bloß der Regen strömte so heftig wie anfangs.

Zu ihrem Unglück hatten sie gegen Morgengrauen und auf der letzten Station ein Paar schlecht eingefahrene Pferde bekommen. Die Tiere waren bereits im Stall durch das Ungewitter nervös geworden und erwiesen sich jetzt, wo sie in das schaurige Zwielicht herausgeführt wurden und der Glanz der Blitze vom Tageslicht noch nicht gedämpft war und alle Gegenstände sich in undeutlichen und vergrößerten Formen zeigten, noch unlenkbarer. Es kam so weit, daß sie schließlich vor jedem Baum oder Balken am Wege scheuten, endlich wild einen steilen Hügel hinunterjagten, den Kutscher aus dem Sattel warfen, den Wagen an den Rand eines Grabens hinschleppten und ihn dann mit einem Krach umwarfen. Die Reisenden hatten sofort den Kutschenschlag aufgerissen und waren herausgestürzt oder herausgesprungen. Jonas war der erste, der wieder auf den Beinen stand. Halb ohnmächtig und schwindlig taumelte er gegen ein fünffach versiegeltes Tor, an dem er sich anlehnte. Die ganze Landschaft drehte sich vor seinen Augen im Kreise, aber nach und nach kehrte sein Bewußtsein wieder, und sogleich nahm er wahr, daß Mr. Montague ein paar Schritte von den Pferden entfernt bewußtlos auf der Straße lag.

Sofort eilte er, wie von einem Dämon beseelt, zu den Pferden, zerrte mit aller Macht an ihren Zügeln und drängte die wütend ausschlagenden Tiere mit ihren Hinterhufen immer näher und näher zu dem Kopf des bewußtlos Daliegenden hin.

Dabei kämpfte er mit den Pferden mit voller Besonnenheit und machte sie durch seine Zurufe immer wilder und wilder.

»Hö!« rief er. »He, hö! Nochmal, nochmal zurück. Hallo, ho«, und als der Kutscher, der sich inzwischen erhoben, herbeigeeilt kam und ihm zurief, innezuhalten, steigerte sich noch seine Heftigkeit.

»Hallo, ho«, rief er in einem fort.

»Um Gottes willen«, heulte der Kutscher, »der Herr dort – liegt im Weg – er wird zertreten!«

Dasselbe Geschrei und die gleichen Anstrengungen waren Jonas‘ einzige Antwort. Mit Gefahr seines eigenen Lebens stürzte der Kutscher herbei und rettete Mr. Montague gerade noch im letzten Augenblick, indem er ihn durch den Straßenschmutz aus dem Bereich der Pferdehufe zerrte. Sodann eilte er auf Jonas zu. Mit Hilfe seines Messers hatte er bald die Pferde von dem zerbrochenen Wagen losgeschnitten und sie, wenn auch verletzt und blutend, wieder zur Ordnung gebracht. Dann erst hatten er und Jonas Muße, sich gegenseitig anzublicken, was bisher noch nicht der Fall gewesen.

»Ja, ja, Geistesgegenwart, Geistesgegenwart«, schrie Jonas, seine Arme wild emporwerfend, »was würden Sie ohne mich wohl angefangen haben?«

»Ich weiß nur, daß der andere Herr ohne mich bös davongekommen wäre«, brummte der Mann kopfschüttelnd. »Sie hätten ihn zuerst aus dem Wege bringen sollen! Ich habe schon gedacht, er sei verloren.«

»Geistesgegenwart, Sie Schafskopf, Geistesgegenwart«, rief Jonas und lachte gellend wie ein Verrückter. »Glauben Sie, er ist verwundet?«

Dann wandten sie sich dem noch halb ohnmächtigen Mr. Montague zu. Jonas brummte etwas vor sich hin, als er ihn unter der Hecke aufrecht sitzen und wie geistesabwesend um sich blicken sah.

»Was gibt’s?« lallte Mr. Tigg. »Ist jemand verwundet?«

»Donnerwetter nochmal«, knurrte Jonas, »es scheint nicht. Gebrochene Beine scheint’s nicht zu geben.«

Mr. Tigg richtete sich mühsam auf und versuchte ein paar Schritte zu gehen. Er schwankte zwar hin und her und zitterte heftig, aber mit Ausnahme einiger Beulen und Schrammen hatte er weiter keinen Schaden genommen.

»Risse und Quetschungen«, murrte Jonas, »haben wir alle. Wenn’s weiter nichts ist.«

»Wenn sich’s auch jetzt nur um Beulen und Quetschungen handelt«, mischte sich der Kutscher ein, »so hätte ich doch vor ein paar Sekunden keinen Pfifferling für den Kopf des Gentlemans gegeben. Wenn Ihnen je wieder ein solcher Unfall zustößt, was hoffentlich nicht der Fall sein wird, Sir, so zerren Sie gefälligst nicht an den Zügeln eines daliegenden Pferdes, wenn jemand seinen Kopf in der Nähe hat. So etwas geschieht nicht zweimal, ohne daß es nicht ein Menschenleben kostet, und so sicher, wie Sie geboren sind, wäre es auch diesmal zu etwas Derartigem gekommen, wenn ich nicht noch rasch zugesprungen wäre.«

Jonas riet ihm mit einem Fluch, den Mund zu halten und sich nach einem gewissen unterirdischen Orte zu verfügen, der wahrscheinlich mit seinen Wünschen nicht im Einklang stehe. Mr. Montague, der gespannt zugehört und sich jedes Wort genau gemerkt hatte, gab jetzt dem Thema eine andere Richtung und fragte, wo Mr. Bailey sei.

»Donnerwetter nochmal, den Affen habe ich ja ganz vergessen«, rief Jonas, »was mag wohl aus dem geworden sein?«

Sie brauchten nicht lange zu suchen.

Der unglückliche Mr. Bailey war über die Hecke oder über das fünffach verriegelte Tor hinweggeschleudert worden und lag jetzt allem Anschein nach tot in dem Felde dahinter.

»Wußt ich’s doch, es ist eine unglückselige Fahrt. Ich wünschte, ich hätte diese Reise nie angetreten!« jammerte Mr. Montague. »Ich hatte gleich eine böse Ahnung. Da sehen Sie jetzt den Jungen.«

»Na und weiter?« brummte Jonas. »Wenn Sie das das Resultat einer bösen Ahnung nennen –«

»Na, wie soll ich es denn sonst nennen?« fragte Mr. Montague aufgeregt. »Was meinen Sie übrigens damit?«

»Ich meine«, erklärte Jonas, sich über den Körper des Knaben beugend, »daß ich nie gehört habe, Sie seien sein Vater oder hätten besondere Ursache, sich um ihn so zu kümmern. Hallo! Auf da, Bursche!« Aber bei Mr. Bailey war von Aufstehen oder Sichaufrichten keine Rede mehr. Außer einem matten Schlagen des Herzens war von Leben nichts mehr an ihm zu bemerken. Nach kurzer Beratung kamen sie daher überein, daß der Postillion das am wenigsten beschädigte Pferd besteigen und den Knaben, so gut er könne, in die Arme nehmen solle, während Mr. Montague und Jonas zusammen, den Koffer tragend und das andere Pferd am Zügel neben sich, nach Salisbury zumarschieren sollten.

»Sie können in ein paar Minuten dorten sein und uns Hilfe entgegenschicken«, rief Jonas. »Halten Sie Ihr Pferd nur flott im Trab.«

»Nein, nein«, flüsterte Mr. Montague hastig, »wir wollen doch lieber beisammenbleiben.«

»Gott, was Sie für ein Hasenfuß sind. Fürchten Sie vielleicht, beraubt zu werden – was?« höhnte Jonas.

»Ich fürchte mich vor nichts«, stotterte Mr. Montague, wobei jedoch sein Blick und ganzes Wesen direkt im Widerspruch mit seinen Worten standen. »Aber wir wollen beisammenbleiben.«

»Sie hatten doch noch vor einer Minute gewaltige Besorgnisse wegen des Jungen«, wendete Jonas ein. »Sie sehen doch, daß er jeden Augenblick sterben kann.«

»Ja, ja«, gab Mr. Montague zu, »ich weiß das. Aber wir wollen trotzdem zusammenbleiben.«

Es lag auf der Hand, daß er sich nicht von seinem Entschlusse abbringen zu lassen gedachte; Jonas schwieg daher, und so eilten sie zusammen, so rasch es ging, vorwärts. Sie hatten noch drei oder vier gute Meilen vor sich, und die Beschaffenheit des Weges und der Umstand, daß sie eine schwere Last zu tragen hatten, machte ihnen den Marsch nicht leichter, aber schließlich langten sie doch an einem Wirtshause an, klopften die Leute – es war noch sehr früh am Morgen – aus den Federn, schickten Boten ab, die nach dem Wagen sehen sollten, und weckten einen Wundarzt, damit er Bailey seine Hilfe angedeihen lasse. Der Mann tat sein Bestes, gab aber sein Gutachten dahin ab, daß der Knabe eine schwere Gehirnerschütterung erlitten habe und daß seine Erdenlaufbahn wohl für immer vorüber sei.

Wäre Mr. Montagues tiefe Teilnahme bei dieser Erklärung des Arztes wirklich uneigennützig gewesen, so hätte einen das mit seinem sonst nicht gerade schätzenswerten Charakter ein wenig aussöhnen können, allein es war nicht schwer zu sehen, daß er aus irgendeinem bestimmten anderen Grunde einen besonderen Wert auf die Gesellschaft und Nähe des jungen Menschen legte. Nachdem er sich selbst von dem Wundarzt hatte verbinden lassen, zog er sich, trotzdem es bereits hellichter Tag war, in ein Schlafzimmer zurück und brütete beständig vor sich hin, offenbar von der Affäre Bailey sehr in Unruhe versetzt.

»Lieber hätte ich tausend Pfund verloren als gerade jetzt diesen Jungen«, brummte er. »Ich muß nach Hause reisen, das steht fest. Chuzzlewit soll vorausfahren, und ich werde ihm später bei gelegener Zeit nachfolgen. So wie es jetzt ist, paßt’s mir nicht«, murmelte er, sich den Schweiß von der Stirne wischend. »Noch vierundzwanzig Stunden in dieser Gesellschaft, und ich habe graue Haare.«

Trotzdem es, wie bereits gesagt, hellichter Tag war, untersuchte er mit ungewöhnlicher Vorsicht das Zimmer, schaute unters Bett, in die Wandschränke, sogar hinter die Gardinen, und dann verriegelte er die Tür, durch die er eingetreten war, und begab sich zur Ruhe.

Es war aber noch eine zweite Türe da, die von außen geschlossen war, und wohin sie führte, das wußte er nicht.

Furcht oder böses Gewissen machten, daß ihn diese Türe noch bis in den Traum verfolgte. Es war ihm, als stehe ein schreckliches Geheimnis damit irgendwie in Verbindung, ein Geheimnis, das er kannte und doch wieder nicht kannte, trotzdem er dafür verantwortlich und dabei beteiligt war. Zu diesem Traum trat noch eine zweite Vision, die ihn die Türe als Versteck eines Feindes – eines Schemens –, eines Phantoms ansehen ließ und es ihm zur Lebensaufgabe machte, das schreckliche Geschöpf eingeschlossen zu halten und daran zu hindern, daß es über ihn herfalle. In dieser Absicht arbeiteten sich Nadgett, er und ein fremder Mann mit einem blutigen Fleck auf dem Kopf, der ihm sagte, er sei sein Spielgefährte gewesen, und ihm auch den wahren Namen seines bisher vergessenen Schulkameraden nannte, mit eisernen Riegeln und Nägeln ab, um die Türe fest zu verschließen. Aber wie eifrig sie sich auch bemühten, alles war vergeblich. Die Nägel zerbrachen oder wandelten sich zwischen ihren Fingern in weiche Holzstifte oder sogar in Würmer um. Das Holz der Türe splitterte, bröckelte, so daß kein Nagel halten wollte, und die eisernen Riegel rollten sich wie Papier zusammen. Dadurch gewann das Geschöpf auf der anderen Seite der Türe, von dem er weder wußte noch zu erfahren suchte, ob es die Gestalt eines Menschen oder eines wilden Tieres habe, immer mehr Oberhand über sie. Aber in den allergrößten Schrecken versetzte es ihn, als der Mann mit dem blutigen Fleck auf dem Kopf ihn fragte, ob er den Namen des fürchterlichen Geschöpfes kenne, sonst wolle er ihm ihn zuflüstern. Daraufhin fiel er im Traum auf die Knie, das Blut erstarrte ihm in den Adern vor unerklärlicher Angst, und er hielt sich die Ohren zu. Als er dabei die Lippen des Sprechenden ansah, bemerkte er, daß sie sich zu dem Aussprechen des Wortes formten, und er erwachte mit dem lauten Ausruf, das Geheimnis sei entdeckt und er selbst verloren.

Als er die Augen aufschlug, stand Jonas an seinem Bett, und die Türe war weit offen.

Als sich ihre Blicke begegneten, wich Jonas um ein paar Schritte zurück und Montague sprang auf.

»Donnerwetter nochmal«, rief Jonas, »Sie sind ja verdammt lebhaft heute morgen.«

»Lebhaft?« stammelte Mr. Tigg und riß von Furcht gepeitscht an der Klingelschnur. »Was wollen Sie hier?«

»Es ist das doch wohl Ihr Zimmer«, versetzte Jonas. »Sagen Sie mir nur, was wollen Sie denn eigentlich mit dem Läuten? Mein Zimmer liegt auf der anderen Seite dieser Türe, und niemand hat mir verboten, sie aufzumachen. Ich dachte, sie führe in den Flur, und kam heraus, um mir mein Frühstück zu bestellen. Es ist – es ist keine Klingel in meinem Zimmer.«

Inzwischen war der Hausknecht mit heißem Wasser und den geputzten Stiefeln eingetreten und bestätigte, als er diese Worte hörte, daß tatsächlich eine Klingel drüben vorhanden sei, und zwar, wie er ihnen sogleich zeigte, gerade zu Häupten des Bettes.

»Na, auch recht«, brummte Jonas, »ich habe sie eben nicht gesehen. Soll ich das Frühstück bestellen?«

Mr. Montague bejahte. Als Jonas pfeifend durch sein Zimmer hinausgegangen war, machte Mr. Tigg die Verbindungstüre auf, um den Schlüssel abzuziehen und sie von seiner Seite aus zuzuschließen. Aber der Schlüssel war bereits abgezogen!

In seiner Angst schleppte er daher einen Tisch herbei, stellte ihn gegen die Türe und setzte sich nieder, um die noch immer lastende Nachwirkung des beängstigenden Traumes abzuschütteln.

»Eine schlimme Reise!« murmelte er immer wieder und wieder vor sich hin. »Eine böse Reise. Ich will allein nach Haus zurückfahren; das halte ich nicht länger mehr aus.«

Die böse Vorahnung und das Gefühl, daß die Reise noch schlimme Folgen nach sich ziehen werde, schreckten ihn jedoch keineswegs ab, das Schurkenstück zur Ausführung zu bringen, um dessentwillen er und Jonas die Reise unternommen hatten.

Er kleidete sich deshalb noch sorgfältiger als gewöhnlich an, um auf Mr. Pecksniff einen günstigen Eindruck zu machen, und faßte, ermutigt durch sein vornehmes Aussehen im Spiegel, die Schönheit des Morgens und den schimmernden Glanz der nassen Zweige, die vor seinem Fenster im herrlichen Sonnenschein rauschten, wieder so weit guten Mut, daß er ein paar Flüche ausstoßen und den Refrain eines fröhlichen Liedchens summen konnte. Nur von Zeit zu Zeit murmelte er noch beklommen vor sich hin:

»Aber nach Hause fahre ich doch allein!«

43. Kapitel


43. Kapitel

Betrifft das Glück mehrerer Personen. Mr. Pecksniff zeigt sich in der Fülle seiner Macht und handhabt sie mit ebensoviel Ritterlichkeit wie Großmut

An dem Abend des Unwetters saß Mrs. Lupin, die Wirtin zum Blauen Drachen, allein in ihrem Schenkstübchen. Ihre einsame Lage oder das schlechte Wetter, vielleicht auch beides zusammen, stimmte sie gedankenvoll, um nicht zu sagen, wehmütig. Das Kinn auf die Hand gestützt, blickte sie durch ein niedriges Hinterfenster hinaus, das selbst am hellen Mittag, durch schattiges Weinlaub verdunkelt, kein Licht hereinließ, schüttelte von Zeit zu Zeit den Kopf und jammerte: »O mein Gott! Mein Gott! Mein Gott!«

Sogar in dem sonst so gemütlichen Drachenschenkstübchen war es jetzt höchst melancholisch. Die reichen Korn- und Weizenfelder, die grünen wellenförmigen Wiesen mit ihren glitzernden Bächen, ihren vielen Heckenreihen und dem schönen Baumbestand, alles war schwarz und düster. Von den kleinen Fensterscheiben des Rückgebäudes an bis zum fernen Horizont, wo der Donner längs der Berge hinzurollen schien. Schwer schlug der Regen die zarten Zweige des Jasmins und Weinstockes nieder, sie in seiner Wut zerstampfend, und wenn der Blitz flammte, konnte man die betränten Blätter sich schaudernd gegen das Fenster drücken sehen, als flehten sie um Schutz vor dem nächtlichen Ungewitter.

Zum Zeichen ihres hohen Respektes vor dem Blitz hatte Mrs. Lupin die brennende Kerze auf den Kamin gestellt. Ihr Strickkörbchen stand unbeachtet neben ihr auf dem Seitentischchen, ihr Abendessen auf einem runden Tisch nicht weit davon war noch gänzlich unberührt, und die Messer hatte sie aus Furcht, sie könnten den Blitz anziehen, versteckt. So hatte sie bereits geraume Zeit dagesessen, das Kinn in die Hand gestützt und zuweilen die Worte ausstoßend: O mein Gott! Mein Gott! Mein Gott!

Sie war soeben im Begriff, diesen Stoßseufzer noch einmal zu wiederholen, als die Haustüre, die des Regens wegen geschlossen worden, sich geräuschvoll in ihren Angeln drehte und einen Reisenden hereinließ, der gleich darauf auf die Halbtüre des Schenktürchens zukam und mürrisch ausrief:

»Eine halbe Maß vom besten alten Bier, das Sie haben!«

Der Mann hatte allerdings Ursache, mürrisch zu sein, denn selbst wenn er den ganzen Tag über unter einem Wasserfall zugebracht haben würde, hätte er unmöglich durchnäßter sein können. Bis an die Augen in einen groben blauen Matrosenmantel eingehüllt, trug er einen Hut aus Wachstaffet, von dessen breitem Rand ihm die Regentropfen auf Brust, Rücken und Schulter niederträufelten. Er hatte den Hut tief ins Gesicht gezogen und zum Schutz gegen das Unwetter den Kragen aufgeschlagen, so daß man nur sein Kinn sehen konnte, und selbst das bedeckte er, als die Wirtin ihn ansah, mit dem nassen Ärmel seines zottigen Mantels. Dennoch erriet sie nach dem ganzen Eindruck, den sie von ihm empfing, sofort einen gutmütigen Menschen in ihm.

»Eine schlimme Nacht heute«, sagte sie freundlich.

Der Fremde schüttelte sich wie ein Neufundländer und brummte, es sei allerdings etwas böses Wetter.

»Es ist Feuer in der Küche«, sagte Mrs. Lupin, »und auch eine recht fröhliche Gesellschaft dort. Was meinen Sie, wenn Sie sich dort trocknen wollten?«

»Nein, ich danke«, lehnte der Fremde ab und warf einen Blick nach der Richtung, wo die Küche lag, und offenbar schien er zu wissen, wie das Haus gebaut war.

»Sie können sich noch den Tod holen bei so einem Wetter«, bemerkte die Wirtin.

»Ach was, ich komm nicht so leicht um«, erwiderte der Fremde, »sonst wäre ich schon lang verdorben und gestorben. Prosit, Frau Wirtin!«

Mrs. Lupin dankte, aber schon im Begriff, die Kanne an den Mund zu setzen, besann sich der Mann eines Besseren und stellte sie wieder hin. Dann lehnte er sich zurück und sah sich unbeholfen um, wie es eben nur einem Menschen möglich ist, der, wie er, so stark eingemummt war und den Hut so tief ins Gesicht gedrückt hatte.

»Wie heißt dieses Wirtshaus?« fragte er. »Heißt es nicht der ›Drachen‹?«

»Jawohl, es ist der ›Drachen‹«, antwortete Mrs. Lupin freundlich.

»So! Dann haben Sie ja eine Art Verwandten von mir im Hause. Einen jungen Menschen namens Tapley. Na also, Mark, mein Junge! Habe ich dich endlich erwischt!«

Diese Worte berührten eine zarte Saite in Mrs. Lupins Herzen, sie drehte sich um, putzte die Kerze auf dem Kamin und sagte, mit dem Rücken gegen den Fremden gewendet:

»Niemand wäre mir im ›Drachen‹ wohl willkommener, Sir, als jemand, der mir eine Nachricht von Mark bringen könnte. Es sind jetzt schon viele Monate her, seit er dieses Haus und England verlassen hat. Ob er noch lebt oder tot ist, der arme Junge, das weiß nur Gott im Himmel.«

Sie schüttelte den Kopf, und ihre Stimme zitterte. Mit ihrer Hand mußte wohl das gleiche der Fall gewesen sein, wenigstens brauchte sie auffallend lange, bis die Kerze geschneuzt war.

»Wohin ist er denn gegangen, Madame?« fragte der Reisende ein wenig besänftigt.

»Nach Amerika«, entgegnete Mrs. Lupin mit zunehmender Betrübnis. »Er hat so ein gutes braves Herz gehabt, und wer weiß, ob er nicht jetzt vielleicht im Gefängnis schmachtet, zum Tode verurteilt, weil er möglicherweise mit irgendeinem armen Nigger Mitleid gehabt und ihm zur Flucht verholfen hat. Nein, wie konnte der Mensch nur nach Amerika gehen! Warum ist er nicht in eines von den Ländern gegangen, die doch nicht ganz so barbarisch sind und wo die Wilden einander ehrlich auffressen und jeder die gleiche Chance hat!«

Ganz überwältigt von ihrem Schmerz, schluchzte Mrs. Lupin laut auf und war eben im Begriff, sich abseits in einen Lehnstuhl zu setzen, um ihrem Kummer freien Lauf zu lassen, als der Fremde plötzlich auf sie zusprang und sie umarmte.

Im Augenblick erkannte sie ihn und stieß einen Freudenschrei aus.

»Ja, ich bin’s!« rief Mark Tapley. »Noch einen Kuß! Noch einen! Noch zwanzig! Daß Sie mich nicht in diesem Hut und Mantel erkannt haben!? Ich habe gedacht, Sie würden mich sofort in jeder Verkleidung erkennen – noch zehn!«

»Aber natürlich hätte ich Sie erkannt, wenn ich nur ein bißchen von Ihnen hätte sehen können, aber das war unmöglich, und Sie haben so unfreundlich gesprochen! Ich hätte wirklich nicht geglaubt, daß Sie mit mir so unfreundlich sprechen könnten, Mark! Und noch dazu beim ersten Wiedersehen!«

»Noch ein Dutzend!« rief Mr. Tapley. »Nein, wie jung und hübsch Sie aussehen! Noch ein halbes Dutzend! – Das letzte halbe Dutzend war nicht gut gezählt und muß wiederholt werden. Gott im Himmel, was das für eine Lust ist, Sie anzuschauen – noch ein paar, weil man ja hier sowieso mit Fidelität keine Ehre einlegen kann.«

Wenn Mr. Tapley in seiner einfachen Additionsrechnung innehielt, so geschah es nicht, weil er sich satt, sondern weil er sich atemlos geküßt hatte. Die Zwischenpause erinnerte ihn jetzt an andere Pflichten.

»Mr. Martin Chuzzlewit ist draußen«, sagte er, »ich habe ihn unter dem Wagenschuppen warten lassen, um erst mal nachzusehen, ob jemand da ist; wir möchten nämlich nicht, daß man uns heute abend hier sieht, bevor wir nicht von Ihnen erfahren haben, wie die Sachen stehen und was wir wohl am besten tun sollen.«

»Es ist keine Seele im ganzen Hause außer den Gästen in der Küche«, versicherte die Wirtin. »Allerdings, wenn die wüßten, daß Sie zurück sind, Mark, so würden sie ein Freudenfeuer auf der Straße anzünden, so spät es auch ist.«

»Sie dürfen’s um Gottes willen nicht erfahren, liebste Mrs. Lupin«, rief Mark. »Lassen Sie das Haus schließen und ein ordentliches Feuer anmachen, und wenn alles fertig ist, stellen Sie ein Licht ins Fenster zum Zeichen, daß wir kommen können. So, und noch einen! Ach, wie sehne ich mich, von den alten Freunden zu hören! Sie werden mir alles genau erzählen, nicht wahr? Von Mr. Pinch, von dem Fleischerhund, von dem Dackel gegenüber, von dem Wagnermeister, kurz von allem und jedem. Als ich heute abend die Kirche zum erstenmal wieder zu Gesicht bekam, glaubte ich, der Turm falle mir um den Hals; – meiner Seel. Noch einen, nicht? Aber einen ordentlichen.«

»Sie haben sich aber jetzt schon mehr als nötig ist genommen«, lachte Mrs. Lupin. »Ach, gehen Sie mir mit Ihren ausländischen Manieren.«

»Gott behüte, das ist doch nicht ausländisch«, protestierte Mark. »Nein, einheimisch wie die Austern. Noch einen, weil’s so einheimisch ist – und als Zeichen der Achtung vor England. Und das kommt weiter nicht auf die Rechnung, denn ich küsse nicht Sie, sondern als Patriot mein Vaterland.«

Es wäre sehr unbillig, den patriotischen Demonstrationen, die Mark Tapley dieser Erklärung folgen ließ, Lauheit oder Temperamentlosigkeit nachzusagen. Nachdem er seinem Nationalgefühl Luft gemacht, eilte er fort, um Martin zu holen, während Mrs. Lupin in größter Aufregung alles zu ihrem Empfang vorbereitete.

Bald darauf kamen die Gäste herausgestolpert und beteuerten, die Uhr im Drachen müsse mindestens um eine halbe Stunde vorausgehen, und wahrscheinlich habe der Donner die Wirtin von Sinnen gebracht. So ungeduldig, durchnäßt und müde Mark und Martin auch waren, so empfanden sie doch eine maßlose Freude, als sie auf dem Wege zum Wirtshaus alle die wohlbekannten Gesichter an sich vorbeigehen sahen, und blickten ihnen entzückt nach, wie sie aus dem Hause kamen und dicht an ihnen vorübermarschierten.

»Das ist der alte Schneider, Mark«, flüsterte Martin.

»Ja, da geht er, meiner Seel. Ein alter Ziegenbock, wie’s bald nicht wieder einen gibt, Sir. Seine Gestalt hat sich noch ein wenig vervollkommnet; mir scheint, man könnte ihm jetzt, wenn er so daherkommt, bequem einen Schubkarren zwischen den Beinen durchrollen. Und da kommt jetzt Sam heraus, Sir.«

»Ja, ja, ich sehe«, sagte Martin. »Sam, der Stallknecht. Ich möchte ganz gern wissen, ob Pecksniffs Gaul noch am Leben ist.«

»Daran ist doch kein Zweifel«, versetzte Mark. »Das ist überhaupt ein merkwürdiges Tier, Sir. Wird sich noch eine endlose Reihe von Jahren halten und zuletzt noch in der Zeitung stehen unter der Überschrift: ›Seltenes Beispiel von Lebenszähigkeit bei einem Vierfüßler.‹ Der Gaul war doch sein Lebtag eigentlich nicht lebendig. – Sehen Sie mal, da kommt der Küster, Sir, beschwipst wie gewöhnlich.«

»Ja, ich sehe«, sagte Martin lachend. »Aber Donnerwetter, wie naß Sie sind, Mark.«

»Bin ich’s? Und wie glauben Sie wohl, steht’s mit Ihnen, Sir?«

»Ach, bei mir ist’s nicht halb so schlimm«, sagte Martin beinahe ärgerlich. »Ich habe Ihnen doch gleich gesagt, Sie sollten sich nicht immer an der Wetterseite halten, Mark, sondern bisweilen mit mir abwechseln. Von Anbeginn des Marsches an haben Sie mir sozusagen den Regen abgefangen.«

»Sie glauben gar nicht, was es mir für Freude macht, Sir«, fing Mark nach einer kleinen Pause an, »– wenn ich so frei sein darf, geradeheraus zu sprechen, was es mir für eine Freude macht, Sie so ungemein rücksichtsvoll und gütig reden zu hören; das heißt, ich meine nicht, daß es mir gegenüber irgendwie angebracht wäre, aber ich habe es an Ihnen bemerkt, seit der Zeit, wo mich das Fieber in Eden beinahe unter die Erde gebracht hat.«

»Ach, Mark«, seufzte Martin, »je weniger wir davon reden, desto besser ist es wohl. – Sagen Sie übrigens, sehen Sie nicht ein Licht dort?«

»Ja, das ist das Licht«, rief Mark. »Gott segne sie, wie rasch sie das alles wieder zuwege gebracht hat. Also jetzt hinein, Sir! Guten Wein, gute Betten und famose Verpflegung für Mensch und Tier.«

Das Kaminfeuer in der Küche brannte hell und rot, der Tisch war gedeckt, der Kessel brodelte. Pantoffel und Stiefelzieher lagen bereit, Schnitten einer Hammelkeule schmorten auf dem Bratrost, und ein halbes Dutzend Eier zischten in der Pfanne. Eine dickhalsige Kirschgeistflasche winkte neben einem schäumenden Bierkrug auf dem Tisch, und prächtige Schinken baumelten von den Balken herab, so daß man nur den Mund hätte zu öffnen brauchen, um sich irgendeine besondere Delikatesse zu Gemüte zu führen. Aus Rücksicht für ihre Gäste hatte Mrs. Lupin sogar die Köchin, die Hohepriesterin des Tempels, zu Bette geschickt und bereitete das Mahl mit eigenen Händen.

Sie war unwiderstehlich; sogar ein Steinbild hätte ihr um den Hals fallen müssen. Martin umarmte sie auf der Stelle.

Mr. Tapley folgte seinem Beispiel, als sei ihm diese überraschende Idee nie zuvor eingefallen, mit soviel Würde wie ein neugebackener Bürgermeister.

»Meiner Seel, ich hätte mir nie gedacht«, sagte Mrs. Lupin errötend und rückte herzlich lachend ihre Haube zurecht, »sooft ich auch immer gesagt habe, Mr. Pecksniffs junge Gentlemen seien das Leben und die Seele des ›Drachen‹ selbst und ohne sie sei das Leben überhaupt langweilig – aber wahrhaftig, ich hätte nie gedacht, daß einer von ihnen sich je solche Freiheiten herausnehmen würde, wie Sie, Mr. Martin – noch weniger aber, daß ich nicht einmal böse darüber sein könnte, sondern mich von ganzem Herzen freuen würde, die erste zu sein, die Sie nach Ihrer Heimkehr von Amerika bewillkommt und noch dazu Mark Tapley, Ihren – – –«

»Meinen Freund, Mrs. Lupin!« fiel ihr Martin hastig ins Wort.

»Ihren Freund«, wiederholte die Wirtin, sichtlich erfreut über diese Auszeichnung, dabei aber Mr. Tapley mit aufgehobener Gabel ermahnend, sich in respektvoller Entfernung zu halten. »Wirklich, ich hätte mir das nie träumen lassen – noch weniger aber, daß ich je Gelegenheit haben würde, von Veränderungen zu berichten, wenn das Nachtessen vorüber ist, wie Sie sie wohl kaum glauben werden.«

»Gott im Himmel«, rief Martin und verfärbte sich. »Was für Veränderungen?«

»Ach, sie ist ganz wohl und wohnt jetzt bei Mr. Pecksniff. Um ihretwillen brauchen Sie keine Unruhe zu haben. Sie ist ganz so, wie Sie sich nur wünschen können. – Wozu ein Geheimnis daraus machen, was?« sagte Mrs. Lupin. »Wie Sie sehen, weiß ich doch alles.«

»Meine liebe gute Frau«, rief Martin, »Sie sind wahrhaftig ganz die Person, die darum wissen darf. Ich freue mich von Herzen, daß Sie in das Geheimnis eingeweiht sind. Aber was für Veränderungen meinen Sie? Ist vielleicht ein Todesfall eingetreten?«

»Nein, nein«, versicherte die Wirtin. »So schlimm ist’s nicht. Aber ich erkläre Ihnen, ich werde kein Wort weiter sprechen, bevor Sie nicht Ihr Nachtessen zu sich genommen haben. Nein, ich gebe nicht einmal eine Antwort mehr, und wenn Sie fünfzig Fragen an mich stellten.«

Sie sprach mit solcher Entschiedenheit, daß offenbar nichts anderes übrigblieb, als das Nachtessen so bald wie möglich zu beseitigen, und dazu brauchten sich die beiden jungen Männer keinen besonders großen Zwang anzutun, da sie viele Meilen weit gewandert waren und seit Mittag nichts genossen hatten.

Trotzdem dauerte es länger, als sie anfangs erwartet hatten, denn sie glaubten wohl sechsmal bereits zu Ende gekommen zu sein, aber jedesmal bewies Mrs. Lupin triumphierend die Irrigkeit einer derartigen Annahme. Schließlich aber, wie es eben im Lauf der Zeit und der Natur liegt, war das Abendessen doch vorüber. Die beiden streckten die bepantoffelten Füße gegen die Stangen am Küchenherd, was außerordentlich behaglich war, da es inzwischen rauh und kalt geworden, und schickten sich in aller Behaglichkeit an, auf die Neuigkeiten zu hören, zu deren Erzählung Mrs. Lupin denn auch, neckische Grübchen im Kinn und das Gesicht vom Lichte des Feuers, das sich auch in ihren Augen und auf ihrem rabenschwarzen Haar widerspiegelte, bestrahlt, sogleich anschickte.

Mit den Ausrufen größter Überraschung wurde von ihren Zuhörern nicht nur die Geschichte von der Trennung zwischen Mr. Pecksniff und seinen Töchtern, sondern auch ganz besonders die zwischen Mr. Pinch und ihm aufgenommen. Doch das war noch nichts, verglichen mit dem Ausbruch von Entrüstung von seiten Martins, als er erfuhr, es sei allgemein bekannt, daß Mr. Pecksniff vollkommen Gewalt über den Willen des alten Mr. Chuzzlewit gewonnen habe und Mary eine besonders hohe Ehre zudenke. Kaum hatte er diese Kunde vernommen, da schleuderte er sofort seine Pantoffeln von sich und begann seine nassen Stiefel wieder anzuziehen – natürlich in der Absicht, sofort irgendwohin zu gehen und irgend jemandem etwas anzutun –, ein Beginnen, das bekanntlich als erstes Sicherheitsventil eines hitzigen Temperaments funktioniert.

»Er?!« rief Martin. »Dieser glattzüngige Schurke! Er soll sich unterstehen! Geben Sie mir mal den anderen Stiefel her, Mark.«

»Wohin wollen Sie denn eigentlich, Sir?« fragte Mr. Tapley, die Sohle des Stiefels am Feuer trocknend und sie so kaltblütig betrachtend, als wäre sie ein Stückchen Toastschnitte.

»Wohin?« wiederholte Martin. »Sie werden doch nicht annehmen, daß ich hierbleiben werde?«

Mark Tapley, in seiner unverwüstlichen Seelenruhe, gab zu, daß er allerdings dieses Glaubens sei.

»Wirklich?« versetzte Martin wütend. »Da bin ich Ihnen aber recht sehr verbunden für Ihre gute Meinung. Wofür halten Sie mich eigentlich?«

»Ich halte Sie für das, was Sie in Wirklichkeit sind, Sir«, sagte Mark gelassen, »und ich bin daher vollkommen durchdrungen, daß alles, was Sie tun, recht und verständig sein wird. Hier haben Sie den Stiefel, Sir.« – Martin warf ihm einen ungeduldigen Blick zu, nahm aber den Stiefel nicht, sondern ging rasch mit einem bestiefelten und einem bestrumpften Fuß ein paarmal in der Küche auf und ab. Seines Vorsatzes aus Eden her gedenk, hatte er schon so manchen Sieg über sich selbst gewonnen, wenn Mark dabei im Spiele war, und er nahm sich auch jetzt vor, wieder zu siegen. Er ergriff daher den Stiefelknecht, stützte sich mit einer Hand auf Marks Schulter, zog den Stiefel wieder aus, die Pantoffeln wieder an und setzte sich. Nur die Hände tief in die Taschen zu stecken und dabei zu murmeln, konnte er sich nicht verwehren: »Nein, dieser Pecksniff, dieser Schuft, meiner Seel – was man da noch alles zu hören bekommen wird« usw.

Auch konnte er sich’s nicht versagen, mit drohender Miene die Faust gegen den Kamin zu schütteln, aber der Anfall ging bald vorüber, und schließlich ließ er Mrs. Lupin, wenn auch nicht gefaßt, so doch jedenfalls ohne sie zu unterbrechen, weiter berichten.

»Was endlich Mr. Pecksniff selbst betrifft«, schloß die Wirtin ihre Erzählung, strich sich mit beiden Händen über ihr Kleid und nickte mehrmals mit dem Kopf dazu, »so weiß ich wirklich nicht, was ich sagen soll. Jemand muß seine Seele vergiftet oder auf sonst irgendeine unerhörte Weise ihn verhext haben. Ich kann’s mir gar nicht erklären, daß ein Herr, der immer so edel spricht, aus freien Stücken hergeht und schweres Unrecht begeht. Sehen Sie mal zum Beispiel Mr. Pinch. Wenn es je einen lieben, guten, ehrenhaften Menschen auf der Welt gegeben hat, so war das Mr. Pinch. Aber was wissen wir; vielleicht war der alte Mr. Chuzzlewit schuld an dem Streit zwischen ihm und Mr. Pecksniff. Genaues können eben nur die Beteiligten wissen. Mr. Pinch ist bei aller Sanftmut seines Herzens so stolz, daß man ihn gar nicht fragen darf. Und als er fortging und höchst betrübt aussah über sein Scheiden, suchte er nicht einmal mir gegenüber sich als unschuldig bei der Geschichte hinzustellen.«

»Der arme alte Tom«, klagte Martin mit einem Seufzer, der fast wie Reue klang.

»Es ist nur ein Trost«, fing die Wirtin wieder an, »daß er jetzt seine Schwester bei sich hat und es ihm gutgeht. Erst gestern schickte er mir per Post eine –« sie wurde plötzlich rot bis über die Ohren – »eine Kleinigkeit zurück, die ich so frei war, ihm beim Abschied als Darlehen heimlich in die Tasche zu stecken. Er schrieb dabei unter vielen Danksagungen, er habe jetzt eine gute Anstellung und brauche das Geld nicht. Es war noch dieselbe Banknote; er hatte sie nicht einmal gewechselt. Ich hätte nie geglaubt, daß es einem so wenig Freude machen kann, eine Banknote in seine Tasche zurückkehren zu sehen, wie es diesmal bei mir der Fall war.«

»Wacker gesprochen, brav!« rief Martin. »Nicht wahr, Mark?«

»Sie kann überhaupt kein Wort sagen, das nicht diese Eigenschaft besäße«, stimmte Mr. Tapley eifrig bei. »Das gehört ebensogut zum ›Drachen‹ wie die Schankgerechtigkeit. Und jetzt, wo wir wieder einen kühlen Kopf haben, sagen Sie, was gedenken Sie also jetzt zu tun, Sir? Wenn Sie nicht zu stolz sind und sich entschließen könnten, das auszuführen, was Sie mir auf dem Weg hierher gesagt haben, so wäre es wohl das gescheiteste. Wenn Sie Ihrem Großvater gegenüber unrecht gehabt haben, und das – mit Verlaub zu sagen – scheint mir allerdings der Fall zu sein, dann, Sir, fassen Sie sich ein Herz und gehen Sie zu ihm und sprechen Sie frei von der Leber weg. Spreizen Sie sich nicht lange, er ist ein gutes Teil älter als Sie, und wenn er ein bißchen hitzig war, so waren Sie’s schließlich auch. Geben Sie nach, Sir, geben Sie nach!«

Mr. Tapleys Beredsamkeit verfehlte nicht ihre Wirkung auf Martin, obgleich dieser immer noch zögerte und allerlei Gründe aufs Tapet brachte.

»Das ist ja alles recht gut und schön«, meinte er, »und es handelt sich auch gar nicht darum, sich vor ihm zu demütigen. In diesem Falle würde ich mich keinen Augenblick besinnen, aber Sie müssen einsehen, daß ich, wo er jetzt ganz unter der Gewalt dieses Heuchlers steht, wie ich höre, und gar keinen eigenen Willen mehr hat, nicht ihm, sondern Pecksniff das Opfer bringe. Wenn ich dann mit Verachtung zurückgewiesen werde«, fuhr Martin, schon bei dem Gedanken blutrot werdend, fort, »so geht das nicht von ihm aus – das Blut steigt mir zu Kopf, wenn ich nur daran denke –, sondern von Pecksniff – von Pecksniff, Mark!«

»Gut, aber wir wissen ja im voraus«, hielt ihm Mr. Tapley politisch entgegen, »daß Pecksniff ein Vagabund, ein Schurke und ein Heuchler ist.«

»Ein ganz heilloser Schurke«, bekräftigte Martin.

»Der heilloseste Schurke unter der Sonne! Wir wissen dies ganz genau, Sir. Was ist das also weiter für eine Schande, wenn Pecksniff einem etwas tut oder nicht. Hole der Teufel den Kerl überhaupt«, rief Mr. Tapley im Überschwang seiner Beredsamkeit. »Wer ist er eigentlich? Nehmen wir mal wirklich den Fall, er erlaubte sich irgendeine Frechheit. Gut, so sagen wir ihm unsere Meinung auf gut englisch. – Pecksniff!!« wiederholte er mit unaussprechlicher Verachtung, »was ist Pecksniff, wer ist Pecksniff, wo ist Pecksniff, daß man seinetwegen soviel Rücksichten zu nehmen brauchte? Wir denken doch nicht bloß an uns« – er legte einen besonderen Nachdruck auf das letzte Wort und sah dabei Martin fest in die Augen – »wir tun es doch auch für das liebe gnädige Fräulein, das auch ihr Teil Leiden getragen hat. Und wenn wir noch so wenig Aussicht haben, der Pecksniff da sollte uns nicht im Wege stehen, dächte ich. Ich habe mein Lebtag noch von keinem Parlamentsakt gehört, zu dem man diesen Kerl zu Rate gezogen hätte. – Pecksniff! Lächerlich! Nicht einmal anschauen möchte ich den Halunken – ihn nicht einmal anhören. Ich würde es mir aus dem Gedächtnis reißen, daß er überhaupt auf der Welt ist. Ich kratzte meine Schuhe vor seiner Tür ab und ginge meinetwegen in sein Haus hinein, aber weiter würde ich mich zu nichts herablassen.« Mrs. Lupins Erstaunen über diesen plötzlich so leidenschaftlichen Erguß Marks war nicht gering. Auch Martin blickte eine Weile gedankenvoll in das Feuer und sagte dann:

»Sie haben vollständig recht, Mark. Soll es nun gut oder böse ausfallen – es muß geschehen; ich werde es tun.«

»Nur noch ein Wort, Sir«, fiel ihm Mark in die Rede. »Nehmen Sie bloß insoweit an, daß er überhaupt auf der Welt ist, als daß Sie ihm keine Handhabe gegen sich geben. Unternehmen Sie keinen geheimen Schritt, den er berichten könnte, bevor Sie hingehen. Sie dürfen morgen früh nicht einmal Miss Mary vorher sehen wollen. Überlassen Sie das Arrangement diesbezüglich unserer braven Freundin hier« – Mr. Tapley blinzelte der Wirtin zu – »lassen Sie sie vorbereiten und einen schönen Gruß von Ihnen bestellen. Mrs. Lupin weiß schon, wie sie’s gut zu machen hat.«

– Die Wirtin lachte und nickte. –

»Und dann gehen Sie frank und frei hin, wie sich’s für einen Gentleman geziemt. Ich habe nichts heimlich unternehmen wollen, sagen Sie; ich bin vorher nicht ums Haus geschlichen, sondern direkt hineingegangen. Verzeihen Sie mir, ich bitte Sie um Verzeihung, und Gott segne Sie.«

Martin lächelte zwar, fühlte aber doch, daß der Rat gut war, und beschloß, danach zu handeln. Nachdem sie sodann noch von Mrs. Lupin erfahren hatten, daß Pecksniff bereits von der großen Zeremonie der Grundsteinlegung zurückgekehrt sei, bei der er soviel Ehre eingelegt, besprachen sie noch weiter, wie die Sache eingeleitet werden sollte, und gingen hierauf in gespannter Erwartung der Dinge, die sich am nächsten Tage abspielen sollten, zu Bett.

Wie verabredet, begab sich am Morgen gleich nach dem Frühstück Mr. Tapley nach Mr. Pecksniffs Wohnung, um einen Brief von Martin zu bestellen, in dem dieser seinen Großvater bat, ihn für ein paar Minuten besuchen zu dürfen. Mit einem Gesicht, so unbeweglich, daß nicht einmal der geübteste Physiognom hätte entziffern können, an was er denke oder ob er überhaupt an etwas denke, klopfte er ein paar Minuten später unverfroren an Mr. Pecksniffs Tür an.

Einem Menschen von seiner Beobachtungsgabe konnte es nicht lange verborgen bleiben, daß gleich darauf Mr. Pecksniff an einer Scheibe des Besuchszimmers seine Nasenspitze breitdrückte, um aus einer Ecke heraus zu entdecken, wer an die Tür geklopft habe. Er beschloß daher sofort, dieses Manöver des Feindes zu vereiteln, indem er sich auf die oberste Stufe stellte und nur die Krempe seines Hutes hervorgucken ließ. Immerhin war es möglich, daß ihn Mr. Pecksniff bereits gesehen hatte, wenigstens hörte er bald darauf Schritte und erkannte aus dem Knarren der Stiefel, daß der Gentleman sich näherte, um mit höchsteigenen Händen die Tür zu öffnen.

Mr. Pecksniff war so wohlgelaunt wie nur je und trällerte ein Liedchen im Flur.

»Wie geht’s Ihnen, Sir«, überraschte ihn Mark mit einer Frage, als die Tür aufging.

»Oh!« rief Mr. Pecksniff, »Mr. Tapley, nicht wahr? Was sehe ich. Der verlorene Sohn zurückgekehrt? Nein, nein, wir brauchen jetzt kein Bier, lieber Freund.«

»Besten Dank, Sir«, sagte Mark, »aber ich könnte auch nicht damit dienen, wenn Sie welches brauchten. Ich habe nur einen Brief abzugeben, Sir, und warte auf Antwort.«

»An mich?« rief Mr. Pecksniff. »Warten auf Antwort? So?«

»Ich glaube nicht, daß er an Sie ist, Sir«, sagte Mark, auf die Adresse deutend. »Hier steht ›Chuzzlewit‹, wenn ich nicht irre.«

»So – hm«, brummte Mr. Pecksniff, »ich danke Ihnen. Richtig. Und von wem ist der Brief, mein lieber Freund?«

»Der Herr, von dem er ist, hat seinen Namen inwendig unterzeichnet, Sir«, entgegnete Mr. Tapley außerordentlich höflich. »Ich habe genau gesehen, wie er ihn unten hingeschrieben hat, während ich wartete.«

»Und er sagte, er wolle Antwort haben, nicht wahr?« fragte Mr. Pecksniff mit süßlicher Miene.

Mark bejahte.

»Nun gut, er soll eine Antwort haben«, höhnte Mr. Pecksniff, zerriß den Brief in kleine Stücke und machte ein so freundliches Gesicht dazu, als erweise er dem Briefschreiber die allerhöchste Aufmerksamkeit. »Haben Sie die Güte, ihm dies mit meinem Kompliment zu übergeben. Guten Morgen.«

Mit diesen Worten händigte er Mr. Tapley die Fetzen ein, zog sich zurück und schloß die Türe.

Mark hielt es für das richtigste, seine persönliche Aufregung zu unterdrücken und Martin sogleich wieder im ›Drachen‹ aufzusuchen. Sie waren auf einen derartigen Empfang nicht vorbereitet gewesen und ließen ungefähr eine Stunde verstreichen, ehe sie einen zweiten Versuch machten. Als diese Frist verstrichen war, begaben sie sich zusammen zu Mr. Pecksniffs Hause. Diesmal klopfte Martin, während Mark sich bereithielt, mit Fuß und Schulter die Tür gewaltsam offenzuhalten, sobald jemand käme, und sie, nachdem er sie erblickt, wieder zuschlagen wollte. Die Vorsichtsmaßregel war jedoch überflüssig, denn diesmal kam das Dienstmädchen öffnen. Martin drückte sich rasch an ihr vorüber, wie er es sich für einen solchen Fall vorgenommen hatte, dicht hinter sich den treuen Bundesgenossen, und eilte auf die Tür des Zimmers zu, das ihm das richtige zu sein schien. Er öffnete und stand einen Augenblick später vor seinem Großvater.

Mr. Pecksniff war ebenfalls zugegen. In dem kurzen Augenblick plötzlichen Erkennens sah Martin, wie der alte Herr sein graues Haupt sinken ließ und sein Gesicht mit den Händen bedeckte.

Es zerschnitt ihm das Herz. Selbst in den Tagen seiner rücksichtslosesten Selbstsucht würde dieser letzte Abglanz von des alten Mannes früherer Liebe, dieser letzte Pfeiler eines zerfallenen Tempels, der in verklungenen Zeiten mit so stolzen Hoffnungen aufgebaut worden, ihn tief gerührt und aufs äußerste ergriffen haben. Aber jetzt, wo er, gebessert und anders geworden, seinen früheren Beschützer anblickte, den Behüter seiner Kinderjahre, so gebeugt und gebrochen, schwanden Stolz, Gekränktsein und Ärger, Hochmut und Starrsinn dahin beim Anblick der Tränen, die er über die welken Wangen rollen sah. Er konnte ihren Anblick nicht ertragen – konnte den Gedanken nicht ertragen, daß sie um seinetwillen flossen, konnte nicht ertragen, die unwiederbringliche Vergangenheit daran zu erkennen. Er wollte zu ihm eilen, um seine Hand zu ergreifen, aber sein alter Feind trat dazwischen.

»Nein, junger Mann«, rief Mr. Pecksniff, schlug sich auf die Brust und streckte den linken Arm aus wie einen schirmenden Schild, um den alten Herrn zu beschützen, »nein, Sir, nichts derart; stoßen Sie hierher, Sir – hierher! Richten Sie gefälligst Ihre Pfeile auf diese Brust und nicht auf ihn.«

»Großvater«, rief Martin, ohne auf ihn zu achten, »hör mich an! Ich beschwöre dich, lasse mich reden.«

»So, weiter wünschen Sie nichts, Sir«, höhnte Mr. Pecksniff und drängte sich vor, um die beiden Verwandten auseinanderzuhalten. »Ist es nicht genug, Sir, daß Sie eindringen in mein Haus wie ein Dieb in der Nacht oder besser gesagt wie ein Dieb bei Tag und Ihren liederlichen Gefährten mit sich bringen, damit er sich mit dem Rücken gegen die Stubentüre drückt, um das Aus- und Eingehen von Personen in meinem eigenen Haushalt zu verhindern« – tatsächlich hatte Mark diese Stellung eingenommen und blieb, ohne sich zu rühren, ruhig dort stehen. – »Ist das noch nicht genug? Wollen Sie auch noch die Tugend in eigener Person anfallen? Wie? Nun gut, so sollen Sie denn wissen, daß sie nicht ohne Verteidiger dasteht. Ich werde ihr Schild sein, junger Mann. Stoßen Sie zu, Sir! Nur zu!«

»Pecksniff«, sagte der alte Mann mit matter Stimme, »beruhigen Sie sich. Bleiben Sie ruhig.«

»Ich kann nicht ruhig bleiben«, rief Mr. Pecksniff, »und ich will es nicht. Mein Wohltäter und mein Freund, soll Ihnen denn nicht einmal mein Haus eine Zuflucht für Ihr greises Haupt sein?«

»Treten Sie ein wenig zur Seite«, murmelte der alte Mann und streckte die Hand aus, »und lassen Sie mich den noch einmal sehen, der mir einst so teuer war.«

»Es ist recht, daß Sie es sehen, dieses Geschöpf, mein Freund«, rief Mr. Pecksniff, »es ist gut, daß Sie es sehen, mein wertgeschätzter Herr. Es ist sogar wünschenswert, daß Sie es in seiner wahren Beschaffenheit erkennen. Betrachten Sie es immerhin. Hier steht es, Sir, hier steht es.«

Martin hätte kein Mensch von Fleisch und Blut sein müssen, um nicht in seinen Mienen etwas von dem Zorn und der Verachtung auszudrücken, die die Anwesenheit des Heuchlers ihm einflößte. Aber, davon abgesehen, tat er, als ob Pecksniff Luft sei und gar nicht existiere. Er hatte ihn wohl beim Eintreten ein einziges Mal flüchtig angeblickt, und zwar mit der größten Verachtung, sonst aber nahm er so wenig Notiz von ihm, als ob er überhaupt nicht anwesend wäre.

Zögernd gehorchte Mr. Pecksniff der Aufforderung des alten Herrn und zog sich ein wenig zurück, um Martin Platz zu machen. Der alte Mr. Chuzzlewit hatte Mary Grahams Hand gefaßt und flüsterte ihr freundlich zu, wie um sie zu beruhigen, sie habe keinen Grund zu erschrecken, und zog sie dann sanft hinter seinen Stuhl. Dann sah er seinen Enkel offen und gerade an.

»Da also steht er vor mir«, murmelte er, »ja, er ist es. Sprich, was du mir zu sagen hast, aber komme mir nicht näher.«

»Sein Edelmut ist so außerordentlich«, flötete Mr. Pecksniff, »daß er selbst ihn noch anzuhören gedenkt, wo er doch im voraus wissen muß, was dabei herauskommen wird. O Herz voll Großmut!«

Er wandte sich bei diesen Worten nicht unmittelbar an irgendeine Person, sondern vertrat vielmehr die Stelle des Chors in einer griechischen Tragödie, der jedesmal einen Kommentar über das, was sich soeben abgespielt hat, gibt.

»Großvater«, begann Martin mit tiefem Ernst, »von einer mühseligen Reise und einem schweren, entbehrungsreichen Leben, von Krankenbett, Entbehrung und Not, von bitter enttäuschten Erwartungen und aus gänzlicher Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung kehre ich zu dir zurück.«

»Derartige Landstreicher«, bemerkte Mr. Pecksniff als Chor, »kommen stets wieder zurück, wenn sie finden, daß ihr liederliches Leben nicht den erhofften Erfolg gefunden hat.«

»Nur diesem treuen Menschen hier«, fuhr Martin auf Mark deutend fort, »den ich hier kennenlernte und der freiwillig als Diener mit mir ging, sich aber dabei stets als eifriger, aufopfernder Freund bewies – nur ihm habe ich es zu danken, daß ich nicht in der Fremde gestorben bin. Fern von der Heimat, fern von jedem Beistand oder Trost, fern sogar von der Wahrscheinlichkeit, daß mein elendes Geschick nur irgend jemandem bekannt werden würde, nicht einmal dir vielleicht – bin ich jetzt zurückgekehrt.«

Der alte Mann sah Mr. Pecksniff an, und Mr. Pecksniff erwiderte den Blick.

»Sagten Sie etwas, mein verehrter Herr?« fragte Mr. Pecksniff lächelnd.

Der Greis verneinte.

»Aber ich weiß, woran Sie denken. Lassen Sie ihn nur weitersprechen, wertgeschätzter Freund. Die Selbstsucht des menschlichen Herzens bleibt stets ein interessantes Studium. Lassen Sie ihn nur fortfahren, Sir.«

»Fahre fort«, sagte der alte Mann, wie es schien, ganz unter dem Banne Mr. Pecksniffs.

»Ich war so arm und elend«, fuhr Martin fort, »daß ich einem barmherzigen Fremden drüben in Amerika noch das Geld für meine Heimfahrt schuldig bin. Alles dieses wird bei dir gegen mich sprechen. Du wirst denken, daß nur die äußerste Not und nicht Reue oder Neigung mich hierher zurückgetrieben haben. Als ich fortging, Großvater, verdiente ich diesen Verdacht. Jetzt verdiene ich ihn nicht – nein, gewiß nicht mehr.«

Der Chor steckte seine Hand in die Weste und lächelte spöttisch. »Lassen Sie ihn nur fortfahren, mein wertgeschätzter Herr. Ich weiß, was Sie denken, möchte es aber nicht vorzeitig aussprechen.«

Der alte Martin erhob seine Blicke zu Mr. Pecksniffs Gesicht, offenbar, um aus dessen Blicken und Winken sich Rat zu holen, und sagte dann wieder mechanisch:

»Sprich weiter.«

»Ich habe nichts mehr hinzuzufügen«, schloß Martin, »und setze wenig oder gar keine Hoffnung auf deine Antwort, Großvater, wie sehr ich auch beim Eintritt in dieses Zimmer gehofft haben mag. Schenke mir Glauben; glaube mir, daß es wahr ist, was ich gesagt habe. Das eine bitte ich dich nur.«

»O Wahrheit, Wahrheit!« rief der Chor, mit einem Blick gen Himmel, »wie wird doch dein Name von den Ruchlosen entweiht! Nicht in der reinen Quelle des Herzens wohnest du, heiliges Prinzip, sondern auf den Lippen der Falschen. Wahrlich, es ist schwer, mit den Menschen Nachsicht zu üben, werter Herr« – er wandte sich an den alten Chuzzlewit – »aber sei es drum. Es ist unsere Pflicht, immer wieder zu glauben. Lasset uns zu den wenigen gehören, die ihre Pflicht tun, wenn wir uns auch unaufhörlich enttäuscht sehen werden.«

»Was die betrifft«, fuhr Martin fort, dem alten Mann ruhig ins Gesicht sehend und nur einen einzigen Blick auf Mary werfend, die ihr Gesicht jetzt in beide Hände vergraben hatte – »was die betrifft, die die Ursache der Spaltung zwischen uns wurde, so ist mein Herz auch jetzt noch nicht fähig, anders zu fühlen. Was ich seit jener unglückseligen Zeit gelitten, hat mich in dieser Hinsicht nur bestärkt. Ich will und kann nicht vorschützen, daß ich in dieser Hinsicht jetzt Reue und Unentschlossenheit empfände. Auch weiß ich, daß du selbst dies nicht wünschen kannst. Soviel aber haben mich Betrachtung, Einsamkeit und Mißgeschick gelehrt, daß ich auf deine Liebe bauen und mich mannhaft darauf hätte stützen sollen. Ich hätte deine Liebe mit Leichtigkeit wieder zurückgewinnen können, wenn ich einsichtiger, nachgiebiger und rücksichtsvoller gewesen wäre und mehr an dich als an mich gedacht hätte. Ich kam mit dem Entschluß hierher, dir dies zu sagen und dich um Verzeihung zu bitten, viel weniger aus Hoffnung für die Zukunft als aus Reue wegen dessen, was geschehen ist. Ich will dich um weiter nichts bitten als um deine Beihilfe, jetzt, wo ich ein neues Leben beginnen will. Hilf mir, daß ich mich durch ehrliche Arbeit ernähren kann; an meinem Eifer soll es gewiß nicht fehlen. Ich weiß, daß meine jetzige Lage mich in ein höchst unvorteilhaftes Licht dir gegenüber setzt und daß es den Anschein haben muß, als sei ich abermals selbstsüchtig. Aber stelle mich auf die Probe, ob es der Fall ist oder nicht. Überzeuge dich, ob ich noch der frühere eigenwillige und hochmütige Mensch bin oder ob ich mich durch die rauhe Schule des Lebens habe läutern lassen. Lasse die Stimme der Natur zwischen uns sprechen, Großvater, und verstoße mich nicht wegen eines einzigen Fehlers, wenn dieser auch das Gepräge der Undankbarkeit trug.«

Der alte Mann ließ abermals sein graues Haupt sinken und verbarg sein Gesicht in beiden Händen. »Mein wertgeschätzter Herr«, rief Mr. Pecksniff und beugte sich über ihn; »Ihr Gefühl ist sehr natürlich und verrät große Liebe, aber Sie dürfen sich nicht durch das schamlose Benehmen eines Menschen, von dem Sie sich schon längst losgesagt, so weit irreführen lassen. Raffen Sie sich auf! Denken Sie« – setzte er eindringlich hinzu – »denken Sie an mich, mein Freund!«

»Ja, das will ich«, murmelte der alte Herr. »Ihre Worte geben mich mir wieder. – Ja, das will ich.«

»Ja, was«, rief Mr. Pecksniff, ließ sich in einen Stuhl nieder, den er zu diesem Zweck herbeiholte, und klopfte dem Greis scherzhaft auf die Schulter; »ja, was geht denn eigentlich vor in meinem so geistesstarken Freund und Genossen, wenn ich mir die Freiheit nehmen darf, Sie bei diesem vertrauten Namen zu nennen. Wie? Soll ich mich wirklich gezwungen sehen, mit meinem Geistesbruder ins Gericht zu gehen und mit einem Verstande wie dem seinigen zu rechten? Oh, das will ich doch nicht hoffen?«

»Nein, nein, es ist gewiß kein Grund dazu vorhanden«, murmelte der alte Mann, »nur eine augenblickliche Schwäche, weiter nichts.«

»Wohl vermag«, hob Mr. Pecksniff belehrend an, »die Entrüstung heiße Zähren dem Redlichen in die Augen treiben, ich weiß« – er wischte seine eigenen ab – »aber wir haben höhere Pflichten zu erfüllen. Ermannen Sie sich, Mr. Chuzzlewit! Wünschen Sie vielleicht, daß ich Ihren Gedanken Worte leihe, mein Freund?«

»Ja, tun Sie es«, seufzte der alte Herr, lehnte sich in seinen Stuhl zurück und blickte ihn halb gedankenverloren, halb bewundernd und wie gebannt an. »Ja, reden Sie für mich. Sprechen Sie in meinem Namen. Ich danke Ihnen, Sie sind mir treu; ich danke Ihnen.«

»Greifen Sie mir nicht zu sehr ans Herz, Sir«, schluchzte Mr. Pecksniff und schüttelte ergriffen die Hand; »ich könnte meiner Aufgabe sonst nicht gewachsen sein. Es widerstrebt mir tief, mein werter Herr, den Menschen anzureden, der jetzt vor uns steht, denn als ich aus Ihrem Munde vernahm, wie unnatürlich und undankbar er sich gegen Sie benommen, da jagte ich ihn aus meinem Hause und wies für immer jede Gemeinschaft mit ihm von der Hand. Aber Ihr Wunsch genügt mir, mich jetzt davon absehen zu lassen. – Junger Mann, die Türe befindet sich unmittelbar hinter dem Genossen Ihrer Schmach. Erröten Sie, wenn Sie das noch können, und wenn nicht, so gehen Sie ohne Erröten fort.«

Fest und ruhig, als habe er nicht ein Wort der ganzen Rede gehört, blickte Martin seinen Großvater an. Aber ebenso unverwandt blickte der alte Mann auf Mr. Pecksniff.

»Als ich Ihnen das letztemal mein Haus verbot und Sie mit Schmach und Schande entließ«, fuhr Mr. Pecksniff fort, »empört durch Ihr schamloses Betragen gegen diesen edlen Greis, und Ihnen zurief: ›Hebe dich hinweg‹, da sagte ich Ihnen auch, daß ich über Ihre Ruchlosigkeit Tränen vergösse. Denken Sie nun aber nicht, daß die Träne, die jetzt in meinem Auge steht, für Sie vergossen wird! Sie fließt für ihn, junger Mann. Nur für ihn fließt diese Träne!«

– Bei diesen Worten ließ Mr. Pecksniff die Träne, von der er sprach, wie zufällig auf Mr. Chuzzlewits kahlen Scheitel fallen, und zog sein Taschentuch heraus, wischte sie ab und murmelte eine Entschuldigung. –

»Sie ist für den vergossen worden, Sir, den Sie zum Opfer Ihrer Ränke machen wollen, den Sie auszuplündern, zu hintergehen und irrezuführen gedenken. Ich habe sie vergossen aus Teilnahme und Bewunderung für ihn, denn meines Mitleides bedarf er nicht, weiß er doch zum Glück, woran er mit Ihnen ist. – Nein, solange ich lebe, sollen Sie ihm kein Unrecht mehr zufügen.« – Mr. Pecksniff erhob voller Enthusiasmus seine Stimme. – »Der Weg zu ihm führt nur über meinen Leichnam. Wohl kann ich mir denken, daß eine Gesinnung wie die Ihrige sich darüber freuen würde, wenn ich stürbe, aber solange Gott mich noch leben läßt, Sir, stehe ich als Schranke zwischen ihm und Ihnen. Jawohl. Und solange ich lebe, junger Mann, sollen Sie eine harte Nuß an mir zu knacken finden.«

Immer noch blickte Martin unverwandt und geduldig seinen Großvater an.

»Willst du mir denn keine Antwort geben?« fragte er nach einer längeren Pause. »Hältst du mich nicht eines Wortes für würdig?«

»Du hast gehört, was ich zu sagen hatte«, erwiderte der Greis, ohne ein Auge von Mr. Pecksniff zu wenden, der ihm ermunternd zunickte.

»Ich habe weder deine Stimme vernommen, noch glaube ich, daß dein Geist aus diesen Worten sprach, Großvater!«

»So sagen Sie es ihm noch einmal«, wendete sich der Greis an Mr. Pecksniff.

»Ich höre nur auf das«, fuhr Martin fort, immer fester in seinem Vorsatze werdend, je mehr er sah, wie sich Mr. Pecksniff unter seiner Verachtung innerlich wand und krümmte. »Ich höre nur auf das, was du mir sagst, Großvater.«

Es war gut für Mr. Pecksniff, daß Mr. Chuzzlewit nur ihn ansah, denn hätte er nur ein einziges Mal zufällig seinen Blick abgewandt, um die Haltung seines Enkels mit der dieses uneigennützigen Ehrenmannes zu vergleichen, so würde ihm dieser wohl nicht vorteilhafter erschienen sein als an jenem denkwürdigen Nachmittag, an dem er Tom Pinchs letzte Quittung »für geleistete Dienste« entgegengenommen.

»Nicht eines Wortes hältst du mich für würdig?« fragte Martin abermals.

»Es fällt mir ein, daß ich noch etwas zu sagen habe, Pecksniff«, murmelte der Greis. »Nur ein Wort. – Du sagtest vorhin, daß du einem mildtätigen Fremden verpflichtet seiest. Wer ist er – und wieviel hat er dir geliehen?«

Obgleich Mr. Chuzzlewit diese Frage an Martin stellte, so hielt er dennoch dabei seine Augen wie gebannt auf Mr. Pecksniff gerichtet. Er schien sich daran gewöhnt zu haben, nicht nur im figürlichen, sondern auch im buchstäblichen Sinn zu ihm aufzublicken.

Martin zog einen Bleistift heraus, riß ein Blatt aus seinem Notizbuch und schrieb hastig die Summe auf, die er Mr. Bevan schuldete. Der alte Mann nahm mit ausgestreckter Hand das Papier entgegen, verwandte aber noch immer kein Auge von Mr. Pecksniffs Antlitz.

»Es wäre wohl ein armseliger Stolz und eine falsche Demut«, sagte Martin mit gedämpfter Stimme, »wenn ich behaupten wollte, ich wünschte die Schuld nicht getilgt zu sehen oder ich hätte augenblicklich Hoffnung, sie selbst tilgen zu können, aber nie habe ich meine Armut wohl so tief gefühlt wie in diesem Augenblick.«

»Lesen Sie mir vor, was er geschrieben hat, Mr. Pecksniff«, sagte der alte Mann.

Mr. Pecksniff nahm das Blatt mit einer Miene zur Hand, als wäre es das Bekenntnis einer Mordtat, und las es vor.

»Ich danke Ihnen, Pecksniff«, murmelte der Greis. »Ich glaube, man sollte die Sache begleichen. Ich möchte nicht, daß der Fremde zu Schaden komme, wo er keine Gelegenheit hatte, Erkundigungen einzuziehen, und sich so mildtätig benommen hat.«

»Das nenne ich ehrenwert gedacht, mein werter Herr«, rief Mr. Pecksniff. »Ihre Handlungsweise entspricht wieder einmal vollständig Ihrem edlen Geist – aber es ist ein gefährliches Beginnen«, setzte er hinzu, »es ist ein böser Anfang.«

»Es soll kein Anfang sein«, entgegnete der alte Herr, »es ist das einzige und letzte, was ich für ihn tun werde. Doch wir werden später noch darüber reden. Ich muß mir diesbezüglich Ihren Rat erbitten. – Sonst ist nichts da?«

»Sonst nichts«, sagte Mr. Pecksniff, innerlich frohlockend. »Sie müssen sich jetzt erholen von Ihrem Schrecken über diese freche Zudringlichkeit und der schnöden Kränkung Ihrer Gefühle, und zwar so bald wie möglich, damit ich Sie wieder lächeln sehen kann.«

»Haben Sie mir sonst weiter nichts zu sagen?« fragte Mr. Chuzzlewit mit ungewöhnlichem Ernst und legte seine Hand auf Mr. Pecksniffs Arm.

Mr. Pecksniff hatte nichts weiter zu sagen, denn Vorwürfe, meinte er, wären ja nutzlos.

»Wissen Sie wirklich nichts mehr? Sind Sie davon überzeugt, gleichgültig, worum es sich handeln mag? So reden Sie nur frei heraus. Was Sie auch vorzubringen hätten, ich würde es Ihnen nicht abschlagen.«

Das Gefühl überwältigte Mr. Pecksniff so sehr bei diesem Beweis unbeschränkten Vertrauens, das ihm sein Freund schenkte, daß er sich kaum zu fassen vermochte vor Schluchzen und innerlicher Erregung. Als er seine Sprache wiedergefunden, konnte er nur immer und immer wieder sagen, er hoffe es noch zu erleben, sich dieses Vertrauens würdig zeigen zu können, und bemerkte, daß er wirklich nichts weiter hinzuzufügen habe.

Eine Weile lang blieb der Greis noch stumm sitzen und sah seinen Freund und Berater mit jener starren nichtssagenden Miene an, die man so häufig bei Leuten findet, die anfangen, alters- und geistesschwach zu werden. Dennoch erhob er sich schließlich mit Festigkeit und schritt zur Türe, wo ihm Mark sofort höflich Platz machte.

Mit demutsvoller Miene reichte ihm Mr. Pecksniff den Arm und führte ihn hinaus. Auf der Schwelle drehte er sich noch einmal um und sagte zu Martin, mit der Hand auf die Tür deutend:

»Sie haben gehört. Gehen Sie. Entfernen Sie sich.«

Dann murmelte er noch einige ermunternde und teilnehmende Worte, die seinem Freunde galten, und verließ mit ihm das Zimmer.

Langsam erwachte Martin aus seiner Betäubung, und als die Türe sich schloß, eilte er auf Mary zu und drückte sie an sein Herz.

»Mein liebes, gutes Mädchen«, rief er, »dich hat er wenigstens nicht zu verändern vermocht! Was für ein ohnmächtiger, erbärmlicher Schurke dieser Pecksniff doch ist.«

»Und du hast dich so beherrscht und meinetwegen so viel über dich ergehen lassen, Martin«, schluchzte Mary.

»Mich beherrscht?«, rief Martin heiter. »Du warst doch hier. Ich wußte doch, daß du deinen Sinn nicht geändert hast. Mußte mir das nicht eine Stütze sein? Mein bloßer Anblick war für den Elenden Gift, und für mich bedeutete es den größten Triumph, daß er meinen Anblick dulden mußte. Aber, sage mir jetzt, Geliebte – die wenigen Augenblicke, die uns bleiben, sind kostbar –, was sind das für Gerüchte hier im Dorf? Ist es wirklich wahr, daß der Schurke dich mit Anträgen verfolgt?«

»Ja, er hat es getan, Martin, und tut es zum Teil noch immer. Aber die Hauptquelle meines Elends war die Angst und Sorge um dich. Warum hast du uns denn in so schrecklicher Ungewißheit gelassen?«

»Meine Krankheit, die weite Entfernung, die Furcht, meine wirkliche Lage zu verraten, die Unmöglichkeit, sie anders als durch Stillschweigen vor dir zu verbergen, das Bewußtsein, daß die Wahrheit dich noch unendlich mehr geschmerzt haben würde als Ungewißheit und Zweifel«, sagte Martin, hielt Mary auf Armesweite von sich, um ihr besser ins Gesicht sehen zu können, und drückte sie dann wieder an sein Herz, »das alles war die Ursache, daß ich dir nur ein einziges Mal schrieb. Aber was ist das mit Pecksniff? Scheue dich nicht, mir alles zu erzählen; du hast ja selbst gesehen, wie ich mich ihm gegenüber zusammengenommen habe und seine Worte anhörte, ohne ihn an der Gurgel zu packen. Also, was hat er sich unterstanden, und weiß mein Großvater darum?«

»Ja.«

»Und er unterstützt ihn darin?«

»Nein«, antwortete Mary hastig.

»Gott sei Dank«, rief Martin aufatmend, »daß sein Geist wenigstens nicht so weit getrübt ist.«

»Ich glaube nicht, daß er gleich anfangs darum wußte«, erklärte Mary. »Pecksniff bereitete ihn zuerst gehörig vor und enthüllte ihm dann allmählich seine Wünsche. Wenigstens vermute ich das, wenn ich es auch mit Bestimmtheit nicht sagen kann; und zuletzt sprach er allein mit mir.«

»Wer? Mein Großvater?«

»Ja. – Er sprach mit mir und teilte mir mit –«

»Was dieser Hund gesagt hat«, ergänzte Martin. »Bestätige mir das bitte.«

»Er sagte, ich müsse sehen, was Pecksniff für Eigenschaften besitze – daß er ein rechtschaffener und angesehener Mann sei und sein volles Vertrauen genieße. Als er jedoch meine Betrübnis bemerkte, beruhigte er mich und sagte, er werde meinen Neigungen unter gar keinen Umständen irgendwelchen Zwang antun, sondern er begnüge sich damit, mir die Tatsache an und für sich mitzuteilen. Da er sehe, daß er mir damit wehe tue, wolle er nie wieder darauf zurückkommen. Und er hat getreulich Wort gehalten.«

»Und der Elende, was hat er getan?« »Er hatte bis jetzt nur wenig Gelegenheit, seine Werbungen nochmals anzubringen. Ich bin niemals allein ausgegangen und ihm immer sorgfältig ausgewichen. – – – Lieber, lieber Martin, ich muß dir nochmals sagen«, fuhr Mary fort, »daß dein Großvater in seiner Güte gegen mich sich völlig gleich geblieben ist. Noch immer bin ich um ihn und seine Gefährtin. Ein unbeschreibliches zärtliches Mitleid scheint noch zu seiner früheren Liebe zu mir dazugekommen zu sein. Wäre ich sein leibliches Kind, ich könnte keinen zärtlicheren Vater haben. Was für Empfindungen in ihm noch fortleben, nachdem sein Herz so kalt gegen dich geworden, ist und bleibt mir ein Geheimnis, das ich nicht durchdringen kann. Aber begnügen wir uns jetzt mit der Tatsache, daß ich mich glücklich schätze, bei ihm ausgeharrt zu haben. Und sollte er wirklich noch einmal aus seinem Wahn erwachen, und wenn es auch erst in der Todesstunde wäre – so bin ich da, Geliebter, um ihn an dich zu erinnern.«

Voller Bewunderung blickte Martin auf ihr in edlem Eifer erglühendes Gesicht und drückte einen Kuß auf ihre Lippen.

»Ich habe oft gehört und gelesen«, fuhr Mary fort, »daß Leute, deren Geist durch das Alter schwach geworden und deren Leben längst zu einem dumpfen Traum herabgesunken ist, plötzlich vor dem Tode aufzuwachen pflegen, um nach denen zu verlangen, die ihnen einst teuer gewesen, trotzdem sie sie in der Zwischenzeit vergessen haben und ihnen entfremdet waren. Denke dir, wenn er einst plötzlich erwachte, ganz mit seinen früheren Ansichten, und plötzlich keinen andern Freund um sich hätte als ihn – wie schrecklich!«

»Ich würde dich auch niemals drängen, ihn zu verlassen, Geliebte«, rief Martin, »wenn ich auch voraussehe, daß noch viele Jahre uns trennen werden. Nur fürchte ich, daß der Einfluß, den dieser Schurke auf ihn ausübt, noch im Wachsen begriffen ist.«

Mary mußte dies leider mit Bedauern zugeben. Unmerklich, aber unaufhaltsam sei Mr. Pecksniffs Einfluß bis jetzt gestiegen. Sie selbst habe gar keinen mehr, aber dennoch behandle sie Mr. Chuzzlewit mit größerer Liebe als jemals.

»Hat er vielleicht Furcht vor ihm?« fragte Martin. »Scheut er sich vielleicht, ihm gegenüber seine eigenen Ansichten laut werden zu lassen? Es kam mir beinahe so vor.«

»Auch ich glaubte oft Ähnliches zu bemerken«, sagte Mary »Wenn wir wie früher allein beisammensaßen und ich ihm aus seinen Lieblingsbüchern vorlas oder mit ihm plauderte, bemerkte ich nicht selten, daß bei Mr. Pecksniffs Eintritt sofort sein ganzes Benehmen umschlug. Er brach dann plötzlich ab und wurde so, wie du ihn heute gesehen hast. Als wir das erstemal hierher zogen, hatte er häufig seine ungestümen Ausbrüche wie früher, und sogar diesem Pecksniff wurde es trotz seiner großen Geschmeidigkeit nicht leicht, ihn zu beschwichtigen. Aber die Zeit ist längst vorüber; er unterwirft sich ihm jetzt in allem und jedem und hat niemals eine andere Ansicht als die, die ihm von diesem hinterlistigen Menschen aufgezwungen wird.«

So lautete der Bericht, den Mary Martin – hier und da im Flüstertone – erstattete, und der trotz seiner Kürze wiederholt durch einen Lärm draußen, als komme Mr. Pecksniff zurück, unterbrochen wurde. Martin erfuhr auch die Geschichte von Tom Pinch und Jonas, in der auch er selbst wiederholt vorkam.

Ein Wink von Mr. Tapley, ein hastiges Lebewohl – – Mary reichte Mark ihr weißes Händchen, das dieser mit der Andacht eines fahrenden Ritters küßte, ein weiteres Lebewohl und zum Abschied das Versprechen von Seiten Martins, er wolle von London aus schreiben und dort Gott weiß was für große Dinge verrichten – an deren Verwirklichung er übrigens nicht einen Augenblick zweifelte –, und dann befanden sich die beiden Freunde außerhalb des Pecksniffschen Heiligtums.

»Ach, ein kurzes Wiedersehen nach so langer Trennung!« seufzte Martin bekümmert. »Aber es ist trotzdem gut, daß wir das Haus im Rücken haben. Wir wären vielleicht nur in ein schiefes Licht gekommen, wenn wir noch länger geblieben wären, Mark.«

»Wir? Nicht daß ich wüßte«, rief Mark. »Aber ein anderer hätte vielleicht in ein – schiefes Licht geraten können, wenn er zufälligerweise während unserer Anwesenheit zurückgekommen wäre. Ich hätte ihn bestimmt zwischen die Tür eingeklemmt. Wäre nur einen Augenblick Mr. Pecksniffs Kopf erschienen, ich hätte ihn geknackt, wie der Nußknacker eine Nuß. – – Ich glaube, er müßte sich ganz gut quetschen lassen«, fügte er nach einer Pause nachdenklich hinzu.

In diesem Augenblick schritt ein Fremder, offenbar in der Richtung auf Mr. Pecksniffs Haus zu, an ihnen vorüber. Erstaunt blickte er auf, als er den Namen des Architekten nennen hörte, und blieb nach einigen Schritten stehen, um ihnen nachzusehen. Mr. Tapley und Martin drehten sich gleichfalls um, denn der Fremde hatte sie schon im Vorübergehen merkwürdig scharf ins Auge gefaßt.

»Wer mag das nur sein?« murmelte Martin, »das Gesicht kommt mir bekannt vor. Aber trotzdem kenne ich den Menschen nicht.«

»Er scheint den liebenswürdigen Wunsch zu hegen, uns mit seiner Visage näher bekannt zu machen«, sagte Mark. »Er glotzt uns höchst ungeniert nach. Übrigens täte er besser, mit seiner Schönheit sparsamer umzugehen, denn viel hat er nicht davon zu verschwenden.«

Als sie vor dem »Drachen« anlangten, erblickten sie einen Reisewagen vor der Tür.

»Und einen Salisburywagen noch dazu«, brummte Mr. Tapley. »Da ist jeder Irrtum ausgeschlossen, der Bursche ist in dem Wagen gekommen, verlassen Sie sich darauf. Woher da wohl wieder der Wind wehen mag? Wahrscheinlich ein neuer Schüler oder vielleicht ein Auftrag für eine neue Elementarschule nach dem Muster der letzten.«

Ehe sie noch in die Tür traten, eilte ihnen Mrs. Lupin entgegen, winkte sie zum Wagen und deutete auf einen Mantelsack, auf dem der Name »Chuzzlewit« stand.

»Der Gatte von Miss Pecksniff«, erklärte sie. »Ich wußte nicht, auf welchem Fuß Sie mit ihm stehen und war deshalb recht in Sorgen, bis Sie wieder zurück waren.«

»Er und ich haben noch nie im Leben ein Wort miteinander gewechselt«, sagte Martin. »Da ich mich nach seiner Bekanntschaft weiter auch nicht sehne, so ist es ganz gut, daß wir nicht mit ihm zusammentreffen. Wir sind ihm auf dem Wege hierher begegnet. Gut, daß er in unserer Abwesenheit hier ankam. Aber wahrhaftig, Miss Pecksniffs Gatte reist verwünscht vornehm.«

»Es ist ein sehr feiner Herr mit ihm angekommen – er hat das beste Zimmer bezogen«, flüsterte Mrs. Lupin und blickte, während sie in das Haus traten, nach dem Fenster hinauf. »Er hat alles mögliche zum Dinner bestellt und hat den glänzendsten Schnurrbart, den man sich nur denken kann.«

»So?« rief Martin. »Nun, da wollen wir auch ihm ausweichen und hoffen, daß wir die nötige Selbstverleugnung dazu aufbringen werden. Wir haben übrigens nur noch ein paar Stunden Zeit«, setzte er hinzu und warf sich erschöpft in einen Stuhl hinter dem kleinen Wandschirm des Schenkstübchens. »Unser Besuch ist nicht sehr glücklich verlaufen, liebe Mrs. Lupin, und wir müssen jetzt nach London.«

»O Gott, o Gott!« jammerte die Wirtin.

»Ja, leider. Übrigens macht eine Schneeflocke noch keinen Winter und eine Schwalbe noch keinen Sommer. Ich will mein Glück noch einmal versuchen. Tom Pinch hat ja auch sein Auskommen gefunden, und durch seinen Rat wird mir wohl ein gleiches möglich werden. Früher habe ich ihn unter meinen Schutz genommen – Gott verzeihe mir die Sünde – und ihm versprochen, ich wolle für sein Fortkommen sorgen. Vielleicht nimmt er mich jetzt unter seinen Schutz und lehrt mich, wie ich mir mein Brot verdienen kann.«

44. Kapitel


44. Kapitel

Mr. Jonas und sein Freund setzen ihr Vorhaben ins Werk

Zu den vielen wunderbaren Eigenschaften Mr. Pecksniffs gehörte auch die, daß er in seiner Heuchelei um so raffinierter wurde, je mehr man auf seine Schliche kam. Wurde er in einer Richtung geschlagen, so erholte sich gleich darauf durch einen neuen Schachzug auf einer andern Seite; wurden sein Treiben und seine Schleichwege von »A« durchschaut, sah er darin um so mehr Grund, sie ohne Zeitverlust an »B« zu versuchen. Noch nie hatte er vielleicht als so musterhaftes Beispiel gewirkt und ein so erhabenes Schauspiel für seine ganze Umgebung geboten wie damals, als Tom Finch ihn durchschaut hatte, und noch nie so viel Humanität und zugleich Tugendstrenge an den Tag gelegt, wie damals, wo noch die Verachtung des jungen Martin ihm frisch auf der Seele brannte. Bei seinem unerschöpflichen Lager an Sentimentalität und Moral hatte er kaum von der Ankunft seines Schwiegersohnes gehört, als er sofort begriff, es ließe sich hier wiederum ein großer Posten von diesem Vorrat an Tugend abstoßen. Rasch eilte er ins Empfangszimmer hinab, umarmte den jungen Mann und rief, mit Blicken und Gebärden seine Besorgnis bekundend:

»Jonas – doch nicht meine Tochter? – Sie ist doch wohl, es ist doch nichts vorgefallen?«

»Ach was, dummes Zeug!« brummte der zärtliche Schwiegersohn, »lassen Sie wenigstens mir gegenüber diesen Blödsinn bleiben.«

»Sagen Sie mir nur das eine, befindet sie sich wohl?« rief Mr. Pecksniff. »Sagen Sie mir, daß ihr nichts fehlt, lieber Schwiegersohn!«

»Ach was, gar nichts fehlt ihr«, rief Jonas, sich aus der Umarmung losmachend. »Nicht das geringste fehlt ihr.«

»Dir fehlt nichts!« jubelte Mr. Pecksniff und sank in den nächsten Stuhl, sich erleichtert über die Stirne fahrend. »O Gott, diese Schwäche. Aber ich kann nicht anders, Jonas. Ich danke Ihnen. – So, jetzt ist mir wieder leichter. Und was macht meine zweite – meine Erstgeborene, mein Cherrychen?«

»Was sie gewöhnlich macht«, brummte Mr. Jonas, »ein Essiggesicht. Sie wissen doch, Sie hat sich einen Verehrer beigebogen!«

»Ja, ich weiß es aus erster Hand, nämlich von ihr selber«, sagte Mr. Pecksniff. »Ich kann nicht in Abrede stellen, daß ich mit einer gewissen Angst dem Verluste auch meiner zweiten Tochter entgegensehe, Jonas; – wir Väter sind eben egoistisch, fürchte ich. Ja, ja. – Hm. Aber ich habe stets gestrebt, sie für den häuslichen Herd zu erziehen. Es ist das eine Sphäre, der Cherry stets zur Zierde dienen wird.« »Ach, Blech, ziert sich was«, bemerkte der zärtliche Schwiegersohn mit berückender Freimütigkeit. »Die hat’s nötig, sich – zu zieren.«

»Wenigstens sind meine Mädchen versorgt«, frohlockte Mr. Pecksniff, »glücklich versorgt, und ich habe nicht umsonst gearbeitet.«

Dasselbe würde er wahrscheinlich auch gesagt haben, wenn eine seiner Töchter den Haupttreffer gemacht und die andere eine wertvolle Börse auf der Straße gefunden haben würde. In beiden Fällen hätte er wahrscheinlich mit großer Feierlichkeit seinen patriarchalischen Segen auf ihr glückliches Haupt herniedergefleht und sich selbst unendlich viel darauf zugute getan haben, sie für ein so günstiges Los – erzogen zu haben.

»Ich dächte, wir sprächen jetzt mal von was anderem«, bemerkte Jonas trocken. »Wissen Sie, nur der Abwechslung wegen. Oder wollen Sie noch weiter Süßholz raspeln?«

»Nein, nein«, säuselte Mr. Pecksniff. »O Sie Schalk, Sie nichtsnutziger. Sie machen sich natürlich über einen armen alten zärtlichen Vater lustig. Nun wohl, er verdient es auch; aber er macht sich nichts daraus, daß Sie so reden. Seine Gefühle sind sein eigener Lohn. – Gedenken Sie bei mir zu bleiben, Jonas?«

»Nein. – Ich habe einen Freund bei mir.«

»So bringen Sie ihn doch mit«, rief Mr. Pecksniff in einem Anfall von Gastfreundschaft. »Bringen Sie so viele Freunde mit, wie Sie wollen.«

»Das ist kein Mann, der sich so leicht mitbringen läßt«, sagte Jonas sehr von oben herab. »Besten Dank, aber der sitzt ein bißchen zu hoch auf dem Baume, Pecksniff.«

Der Ehrenmann spitzte die Ohren. Sein Interesse erwachte. Hoch oben auf dem Baume sitzen war bei Mr. Pecksniff soviel wie Tugend, Größe, Herz, Verstand und Genie besitzen, oder besser gesagt, noch viel mehr, nämlich Geld. Zu einem Manne, der imstande war, auf ihn herabzusehen, konnte er niemals mit zu viel Ehrfurcht und Demut emporschauen. Das ist die Eigenschaft jedes großen Geistes und war daher auch seine.

»Ich will Ihnen aber sagen, was Sie tun könnten, wenn Sie wollen«, fing Jonas wieder an. »Kommen Sie und speisen Sie mit uns im ›Drachen‹. Wir mußten gestern abend in Geschäftsangelegenheiten über Salisbury fahren, und ich habe ihn überredet, mich diesen Morgen in seinem Wagen herüberzufahren – es war zwar nicht sein eigener, sondern eine Mietkutsche, denn der seinige ist in der letzten Nacht zerbrochen, aber das ist ja schließlich gleichgültig; – also, merken Sie jetzt gut auf, wie Sie sich ihm gegenüber zu benehmen haben. Er verkehrt nicht mit dem ersten Besten und ist an den feinsten Umgang gewöhnt.«

»Wohl irgendein junger Kavalier, dem Sie Geld geliehen haben – auf hohe Interessen, was?« scherzte Mr. Pecksniff und wackelte frohgelaunt mit dem Zeigefinger. »Es wird mich unendlich freuen, den lockeren Zeisig kennenzulernen.«

»Geliehen?« höhnte Jonas. »Ich ihm Geld geliehen? Wenn Sie den zwanzigsten Teil von dem besäßen, was er wegwerfen kann, dann würden Sie sich sofort zur Ruhe setzen. Wir könnten froh sein, wenn wir zusammen soviel hätten, wie seine Möbel, sein Silberservice und seine Gemälde wert sind. Das wäre mir der Rechte, um sich Geld von uns auszuborgen! Mr. Montague! Seit ich so glücklich – na, ich darf wohl sagen, so schlau war, mich bei der Versicherungsanstalt zu beteiligen, deren Vorsitzender er ist, habe ich mir schon – na, ist ja gleichgültig, wieviel ich verdient habe – es geht Sie nichts an«, brach Jonas seine Rede ab und tat wieder so zurückhaltend, wie er sonst in Geschäften zu sein pflegte. »Sie wissen, ich rede nicht gern von solchen Dingen, aber ein paar Schäfchen habe ich mir bereits ins trockne gebracht.«

»Wirklich, mein lieber Jonas?!« rief Mr. Pecksniff voller Wärme. »Aber einem solchen Herrn muß man doch Aufmerksamkeiten erweisen! Vielleicht hat er Lust, die Kathedrale zu besichtigen – woran ich nach der Schilderung, die Sie mir von ihm gaben, nicht zweifle; – oder wenn er Geschmack an den schönen Künsten findet, könnte ich ihm ein paar Bilder schenken; – eine Abbildung der Salisburykathedrale, lieber Jonas«, fuhr Mr. Pecksniff fort, in seinem Verlangen, sich in seinem besten Lichte zu zeigen, auf sein Steckenpferd geratend, »es ist ein Gebäude voll ehrwürdigster Erinnerungen und erweckt die erhabensten Gefühle. Wir sehen die Werke vergangener Jahrhunderte vor uns erstehen, wir lauschen den Tönen der Orgel, während wir durch das hallende Kirchenschiff wandeln, wir haben hier die Zeichnungen dieses berühmten Gebäudes von Norden, von Süden, von Osten, von Westen, von Südosten, von Nordwesten –«

Während dieses Redestromes hatte sich Jonas, die Hände in den Taschen und den Kopf schlau auf die Seite gelegt, auf seinem Stuhle hin und her geschaukelt; jetzt blinzelte er seinen Schwiegervater so listig an, daß dieser plötzlich innehielt und fragte, was das zu bedeuten habe.

»Ach Gott«, versetzte Jonas, »ach Pecksniff, wenn ich wüßte, wem Sie mal ihr Geld hinterlassen, so würde ich Ihnen vielleicht einen Rat geben, wie Sie es im Handumdrehen verdoppeln können. Es wäre ganz hübsch, wenn so ein Geschäftchen in der Familie bliebe, aber Sie sind mir ein viel zu durchtriebener –«

»Jonas, Jonas!« rief Mr. Pecksniff bewegt. »Sie wissen, ich bin kein Diplomat. Das Gefühl geht immer mit mir durch. Bei weitem der größere Teil von den unbedeutenden Ersparnissen, die ich – wie ich hoffen will – in einem nicht unehrenhaften oder nutzlosen Leben gesammelt habe, ist testamentarisch bereits jemandem vermacht, den ich Ihnen wohl nicht zu nennen brauche.« Und er drückte seinem Schwiegersohn die Hand so warm, als wolle er hinzusetzen: Gott beschütze dich, mein liebes Kind, und halte nur das Geld zusammen, das du einmal kriegen wirst.

Mr. Jonas jedoch schüttelte nur den Kopf, lachte höhnisch und sagte mit einer Miene, die zu bedeuten schien, er habe etwas Besseres im Sinn: nein, er wolle die Sache doch lieber für sich selber reservieren. Nach einer Weile meinte er, sie könnten vielleicht einen Spaziergang machen, und da Mr. Pecksniff daraufhin direkt darauf bestand, ihn zu begleiten, machten sie sich sofort auf die Beine. Unterwegs beobachtete Jonas dieselbe Zurückhaltung, mit der er das Zwiegespräch vor einer Weile abgeschlossen hatte, und da er durchaus keinen Versuch machte, einzulenken, sondern sich im Gegenteil nur noch roher und ungeschliffener als gewöhnlich benahm, so ahnte Mr. Pecksniff nicht im entferntesten seine wahre Absicht und gab sich immer mehr und mehr Blößen. Der Schurke urteilt stets nach sich selbst und glaubt, jeder verfahre auf dieselbe Weise wie er, und so schloß Mr. Pecksniff: wenn der junge Mann mich zu seinen Zwecken brauchte, würde er höflicher und schmeichlerischer sein.

Je weniger Jonas auf seine Fragen einging, desto angelegentlicher bewarb sich Mr. Pecksniff um das Glück, in das goldene Geheimnis eingeweiht zu werden, in das er bisher nur einen ganz unbestimmten Blick hatte tun können. »Wozu diese kalte, eigennützige Geheimniskrämerei unter Verwandten?« rief er. »Was wäre das Leben ohne Vertrauen, wenn der erkiesene Gatte seiner Tochter, der Mann, dem er sie mit soviel Stolz und Hoffnung und so überwältigt vor Freude gegeben, – wenn dieser Mann nicht einmal einen grünen Fleck in der öden Wüste des Lebens bedeuten sollte! Wo würde sich eine solche Oase sonst finden lassen?!«

Er ahnte nicht im entferntesten, auf was für einen grünen Fleck er in diesem Augenblick seinen Fuß gesetzt hatte, und wie wenig sah er voraus, als er sagte: »Alles ist vergänglich«, daß sich dieses Wort in kurzer Zeit an ihm selbst bewahrheiten sollte.

Jonas gedachte, ihm an jenem zarten Punkte, wo er selbst so empfindlich war, zu Leibe zu gehen, und fand eine boshafte Freude an seinen eigenen Schlangenwindungen, die er hämisch verfolgte, indem er vorsichtig Zoll für Zoll die blendenden Aussichten des anglobengalischen Institutes preisgab, statt sie in voller Pracht und auf einmal vor dem gierigen Auge seines Zuhörers zu entfalten. Ebenso tropfenweise ließ er seinen Schwiegervater ahnen, er halte es für gefährlich, jemanden, der wie Mr. Pecksniff, im Gegensatz zu ihm selbst, so redegewandt war, einem Manne wie Mr. Montague vorzustellen. Lieber, brummte er, wolle er sich seinen geliebten Schwiegervater drei Schritte vom Leibe halten, als ihn in die Karten gucken zu lassen.

In so kunstgerechter Weise geködert, erschien Mr. Pecksniff zum Dinner mit einem Aufwand von Sanftmut, Wohlwollen, Heiterkeit, Höflichkeit und philanthropischer Gesinnung, wie er es vielleicht noch nie in seinem Leben zustande gebracht. Die Freimütigkeit des Gentlemans vom Lande, die feine Bildung des Künstlers, die vornehme Nonchalance des Weltmannes, die ölige Mischung von Menschenfreundlichkeit und Nachsicht, Frömmigkeit und Duldung, alles vereinigte sich in ihm, als ihm der große Spekulant und Kapitalist, Mr. Montague, die Hand schüttelte. »Willkommen, hochverehrter Herr«, rief er, »in unserm bescheidenen Dorfe! Wir sind wohl nur schlichte Leute – sozusagen Naturmenschen, Mr. Montague, allein wir wissen die Ehre Ihres Besuches zu würdigen, wie mein teurer Schwiegersohn hier mir gewiß gerne bezeugen wird. – Sonderbar, höchst sonderbar«, rief er, die Hand Mr. Tiggs ehrfurchtsvoll drückend, »fast kommt es mir vor, als ob ich Sie kenne. Diese hochgewölbte Stirn, diese üppigen Haarlocken – wahrhaftig, mein hochverehrter Herr, ich glaube Sie schon einmal irgendwo in der vornehmen Welt gesehen zu haben.«

»Nichts wäre natürlicher«, war die einstimmige Antwort Jonas Chuzzlewits und Mr. Montagues.

»Es wäre die größte Ehre für mich«, säuselte Mr. Pecksniff weiter, »wenn ich Sie einem älteren Gaste unseres Hauses, dem Oheim unseres gemeinsamen Freundes hier, vorstellen dürfte. – Mr. Martin Chuzzlewit würde bestimmt stolz darauf sein, Ihnen die Hand drücken zu dürfen.«

»Weilt dieser Herr momentan hier?« fragte Mr. Montague sich verfärbend.

»Jawohl.«

»Aber Sie haben mir gar nichts davon gesagt, Mr. Chuzzlewit!«

»Ich nahm an, es wäre Ihnen gleichgültig«, knurrte Jonas. »Übrigens kann ich Ihnen sagen, es verlohnt sich nicht der Mühe, ihn kennenzulernen.«

»Aber Jonas, mein lieber Jonas!« rügte Mr. Pecksniff. »Wie sprichst du nur?«

»Ja, ja, natürlich; ich verstehe; Sie reden ihm jetzt das Wort«, brummte Jonas, »weil Sie ihn sich hübsch eingefädelt haben und auf die Erbschaft spekulieren.«

»Oho, daher bläst der Wind«, lachte Mr. Montague. »Haha!«

Schwiegersohn und Schwiegervater stimmten in das Gelächter ein; besonders der letztere.

»Aber, aber!« rief der Architekt, Jonas scherzhaft auf die Achseln klopfend. »Mr. Montague, Sie dürfen nicht gleich alles glauben, was mein lieber Schwiegersohn sagt. In Geschäftssachen können Sie ihm ja Glauben schenken und ihm auch vertrauen, aber seinen phantastischen Einfällen dürfen Sie kein Gewicht beilegen.«

»Meiner Seel, Mr. Pecksniff«, rief Mr. Montague, »ich lege seiner Bemerkung sogar das größte Gewicht bei und hoffe nur, daß sie auch wahr sein möge. So auf die gewöhnliche übliche Weise läßt sich nicht schnell Geld verdienen, Mr. Pecksniff; viel gescheiter ist’s, wenn man die Wurst richtig nach der Speckseite zu werfen weiß.«

»O pfui, o pfui!« rief Mr. Pecksniff. – Dann aber lachten sie wieder – besonders er.

»Wir wenigstens tun es, mein Ehrenwort«, sagte Mr. Montague.

»O pfui, pfui«, wiederholte Mr. Pecksniff. »Sie belieben zu scherzen. – Ich weiß bestimmt, es ist nicht der Fall – bin fest davon überzeugt. Gar bei Ihnen ist so etwas ausgeschlossen.« – Und wieder lachten sie zusammen – und Mr. Pecksniff am lautesten.

Die größten Meisterwerke der Kochkunst, die der »Drache« je geliefert, kamen jetzt auf den Tisch. Die besten und ältesten Weine im Keller des »Drachen« erblickten wieder einmal das Licht der Welt, und tausend kleine Anekdoten, die sämtlich auf Mr. Montagues Reichtum und hohe Stellung hinausliefen, wurden so ganz nebenbei aufgetischt. Mr. Pecksniff betonte immer wieder, es sei wirklich schade, daß Montague eine so geringe Meinung von den Menschen und ihren Schwächen habe. Er nahm es sich geradezu zu Herzen und kam ohne Unterlaß wieder darauf zurück, galt es doch, wie er sagte, seinen hochgeehrten Wirt zu bekehren. Und sooft Mr. Montague seinen Satz über das Spekulieren auf die Schwächen der Menschheit wiederholte und stets freimütig hinzusetzte: »Wir wenigstens tun es«, ebensooft wiederholte Mr. Pecksniff: o pfui, o pfui, das wäre ja eine Schande; ich weiß genau, Sie denken anders.

Kurz, des Scherzens und der Ausgelassenheit waren kein Ende. Nachdem diese Scharmützel eine Weile gedauert hatten, wurde Mr. Pecksniff plötzlich beinahe bis zu Tränen ernst. Er bemerkte, wenn Mr. Montague es erlaube, wolle er die Gesundheit seines jungen Verwandten, Mr. Jonas Chuzzlewit, ausbringen und sich selbst zu diesem neugeschlungenen Verwandtschaftsbande Glück wünschen. Dabei konnte er nicht umhin, zuzugestehen, daß er ihn beneide, seinen Nebenmenschen so nützlich werden zu können, denn wenn er die Zwecke des Instituts, mit dem Jonas jetzt so vorteilhafterweise in Verbindung getreten, richtig erfasse – er kenne sie freilich nur unvollkommen –, so seien sie darauf berechnet, Gutes zu wirken, und er selbst würde glauben, mit Sicherheit dereinst selig entschlummern zu können, falls er imstande wäre, ihren Plänen in was immer für einer Weise dienlich sein zu dürfen.

Der Übergang zu dieser zufällig hingeworfenen Bemerkung – denn das war sie natürlich, entsprang sie doch aus Mr. Pecksniffs übersprudelnder Herzlichkeit – bis zur Besprechung des Themas in Form einer wirklichen Geschäftssache war äußerst leicht. Bald lagen Bücher, Papiere, Tabellen und Berechnungen aller Art auf dem Tische ausgebreitet, und da sie nur zu einer bestimmten Absicht vorbereitet waren, so kann man sich leicht denken, daß sie samt und sonders auf das eine Ziel hinausliefen. Sooft sich übrigens Mr. Montague hinsichtlich des Gewinnes des Geschäftes näher ausließ und die Versicherung abgab, es müsse herrlich gedeihen, solange es noch einfältige Leute auf der Welt gebe, rief Mr. Pecksniff jedesmal mit Milde: o pfui! und wäre aus ganzem Herzen bestimmt geneigt gewesen, dem Sprecher allerlei Vorstellungen zu machen, hätte er nicht gewußt, daß das alles natürlich zum Scherz war. Innerlich wußte der Treffliche natürlich auch, daß ihm mit seinen eigenen Einwendungen nicht im geringsten ernst war.

Die Gelegenheit war günstig, und er begriff sofort, er würde lange warten müssen, bis eine ähnliche wiederkehre, um eine beträchtliche Summe anzulegen, denn je höher die Einlage, desto größer natürlich die Vorteile. Zwar mischte sich Jonas des öfteren ins Gespräch, zeigte sich grämlich und mürrisch oder fand da und dort Bedenken oder Fehler und riet dem Schwiegervater brummend, sich die Sache ja genau zu überlegen, aber Mr. Pecksniff – durchschaute das natürlich. Die Summe, die zu einer Teilhaberschaft an dem famosen Geschäft berechtigen konnte, betrug beinahe soviel wie die Höhe seiner sämtlichen Ersparnisse – Mr. Martin Chuzzlewits zukünftige Erbschaft nicht mit eingerechnet, wenn dieser sie auch im Geiste bereits als sein eigen betrachtete; und wie die Sachen standen – wenigstens nach den bücherlichen Aufzeichnungen –, mußte das Geld binnen Kürze mit ungeheurem Gewinne wieder zurückströmen. Kurz, die Unterhaltung schloß damit, daß Mr. Pecksniff einwilligte, der letzte Teilhaber an der anglobengalischen Kompagnie zu werden, und es wurde beschlossen, daß er übermorgen mit Mr. Montague in Salisbury dinieren und den Kontrakt unterzeichnen solle.

Immerhin dauerte es noch eine geraume Zeit, bis die Sache so weit gediehen war, und es schlug bereits Mitternacht, als sich das edle Kleeblatt trennte.

Als Mr. Pecksniff die Treppe hinunterging, sah er Mrs. Lupin an der Türe stehen und hinausblicken.

»Oh, meine liebe Freundin«, rief er, »noch immer nicht zu Bett? Stellen Sie vielleicht astronomische Beobachtungen an, Mrs. Lupin?«

»Es ist eine so schöne sternenhelle Nacht, Sir.«

»Eine schöne sternenhelle Nacht«, bekräftigte Mr. Pecksniff und blickte zum Firmamente auf. »Sehen Sie nur, wie hell diese Planeten leuchten. Betrachten Sie sie – – – Übrigens, Mrs. Lupin, die beiden jungen Leute, die heute morgen hier waren, haben doch hoffentlich Ihr Haus schon verlassen.«

»Jawohl Sir, sie sind abgereist«, war die Antwort.

»Freut mich zu hören«, rief Mr. Pecksniff. »Bitte, betrachten Sie nur einmal diese Wunder des Firmamentes. Wahrhaft ein glorreicher Anblick. Sooft ich zu diesen schimmernden Welten aufblicke, deucht es mir, als ob eine der andern zublinzele, als wollten sie sich gegenseitig auf die Eitelkeit des menschlichen Tuns aufmerksam machen. Oh, ihr lieben Mitmenschen«, Mr. Pecksniff schüttelte mitleidig den Kopf, »wie sehr seid ihr in Irrtum befangen! Ihr wandelt in der Täuschung, ihr lieben, den Würmern verfallenen Brüder. Wie zufrieden sind dagegen die Sterne in ihren Sphären! Warum lasset ihr euch dies nicht zum Beispiel dienen? O lasset ab, meine verblendeten Freunde, mit euerm Ringen und Kämpfen um Reichtum und Ruhm! Lasset ab und blicket mit mir zum Himmel auf.« Mrs. Lupin schüttelte den Kopf und seufzte; es war gar zu rührend.

»Blicket mit mir gen Himmel auf«, wiederholte Mr. Pecksniff, die Hand enthusiastisch ausstreckend – »mit mir, einem demütigen Erdenmenschen, der gleichfalls nur ein Insekt ist wie ihr selbst. Können Gold, Silber und kostbare Steine funkeln wie diese Sterne? Nein fürwahr. Also dürstet nicht nach Silber, Gold oder Juwelen, sondern blicket auf mit mir gen Himmel.«

Damit tätschelte er Mrs. Lupins Hand, als wolle er hinzusetzen: »Prägen Sie sich dies wohl ein, meine liebe Frau«, und ging dann, den Hut unter dem Arm, verzückt von dannen.

Jonas war inzwischen sitzen geblieben, genau wir ihn Mr. Pecksniff verlassen hatte, und blickte jetzt finster auf seinen Freund, der, von einem Haufen Akten umgeben, eine Zahlenreihe auf einem langen Papierstreifen durchrechnete.

»Sie wollen also bis übermorgen in Salisbury warten?« fragte er.

»Sie haben doch gehört, wobei wir verblieben sind«, versetzte Mr. Montague, ohne aufzublicken. »Ich hätte übrigens auch sowieso so lange gewartet; schon des Jungen wegen.«

Die beiden schienen wieder einmal ihre Rollen gewechselt zu haben: Mr. Montague war sehr aufgeräumt und Jonas düster und trüb.

»Sie brauchen mich jetzt natürlich nicht mehr?« fragte Jonas nach einer Pause.

»Ich brauche nur noch Ihre Unterschrift hier«, erwiderte Mr. Tigg mit einem spöttischen Lächeln. »Ich muß nur noch den Stempel hier oben ausfüllen, für das Extrakapital – weiter nichts. Wenn Sie übrigens nach Hause reisen wollen, so kann ich Pecksniff ganz gut allein weiter bearbeiten. Es herrscht ja das beste Einverständnis zwischen uns.«

Jonas sah seinen Kompagnon düster an, während dieser stumm weiterschrieb. Als er zu Ende gekommen und das Blatt auf dem Löschpapier seines Reisepultes abgetrocknet hatte, blickte er auf und schob seinem Associé die Feder zu.

»Also nicht einen Tag Frist?« rief Jonas bitter. »Trotz der Mühe, die ich mir heute abend gegeben?« »Das Werk dieser Nacht gehörte mit zu unserm Vertrage«, versetzte Mr. Montague gelassen. »Dasselbe ist mit diesem Kontrakt hier der Fall.«

»Sie pressen mich aus wie eine Zitrone«, knirschte Jonas und trat an den Tisch. »Geben Sie her!«

Montague reichte ihm das Papier. Nachdem Jonas noch eine Weile gezögert, seinen Namen unter den Kontrakt zu setzen, tauchte er hastig die Feder in das nächste Tintenfaß und fing an zu unterschreiben. Kaum hatte er jedoch begonnen, als er wie in panischem Schrecken zurückfuhr.

»Zum Teufel noch mal, was ist das?« rief er. »Das ist ja Blut.«

Wie er im nächsten Augenblick erkannte, hatte er die Feder in rote Tinte getaucht. Er schien diesen Irrtum merkwürdig ernst aufzufassen, als lege er ihm irgendeine geheime Bedeutung bei. Erregt fragte er, wo die rote Tinte hergekommen sei, wer sie gebracht habe und zu welchem Zweck sie hier stünde. Dabei sah er Mr. Montague lauernd an, als vermute er, dieser habe ihm einen Possen spielen wollen; sogar, als er eine andere Feder und die schwarze Tinte benützte, machte er zuerst auf einem Papierstreifen ein paar Striche, als fürchte er immer noch halb und halb, die blutähnliche Farbe zu sehen.

»Na, diesmal ist sie schwarz«, knurrte er und reichte das Blatt Mr. Tigg hin. »Gute Nacht.«

»Schon fort? Sie wollen doch noch nicht abreisen?«

»Noch ehe Sie aus dem Bette sind, werde ich zeitig früh auf der Landstraße warten, um die Post abzupassen. Adieu.«

»Sie sind aber pressiert!«

»Ich habe allerlei zu tun«, brummte Jonas. »Adieu.«

Erstaunt sah Mr. Montague dem Forteilenden nach, aber dann drückten seine Mienen Freude und Beruhigung aus.

»Desto besser«, murmelte er. »So fügt sich’s von selber, wie ich’s wünsche. Ich werde allein nach Hause reisen.«

45. Kapitel


45. Kapitel

Tom Pinch und seine Schwester leisten sich ein kleines Extravergnügen; selbstverständlich in den bescheidensten Grenzen

Als sich Tom Pinch und seine Schwester unmittelbar nach der Szene auf dem Kai ihrer verschiedenen Geschäfte wegen trennen mußten, dachten Tom, in seiner einsamen Arbeitsstube angelangt, und Ruth in ihrem dreieckigen Salon den ganzen Tag über an nichts anderes als an das, was vorgefallen, und als die Stunde ihres nachmittäglichen Zusammentreffens herannahte, hatten sie immer noch den Kopf ganz voll davon.

Es war eine Art stummen Einverständnisses zwischen ihnen, daß Tom jedesmal ein und denselben Weg einschlug, wenn er aus dem Tempel wegging. Dieser Weg führte an der Fontäne vorüber durch den Fontänenhof, und dabei warf er jedesmal einen Blick über die Stufen, die nach dem Gartenhofe hinunterführten, und sah sich einmal in der Runde um. War dann Ruth gekommen, so fand er sie verabredungsgemäß hier, nicht etwa gemächlich herumschlendernd – der Kommis wegen, die sie sonst wahrscheinlich zudringlicherweise angeredet hätten –, sondern ihm munter und fröhlich entgegeneilend, mit einem Glanz auf dem Gesichtchen, der den der Fontäne wohl tausendmal übertraf. Fünfzig gegen eins war dann zu wetten, daß Tom jedesmal auf die unrechte Seite blickte und sie schon gar nicht mehr erwartete, während sie ihm bereits schnurstracks entgegenkam und mit den Schlüsseln in ihrer kleinen Retiküle klingelte, um seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.

Ob die kümmerliche Vegetation im Fontänenhof den armen berußten Bäumen und Sträuchern genug Leben ließ, so daß sie imstande gewesen wären, die Anwesenheit des hübschesten und herzigsten Mädchens unter der Sonne zu fühlen, das ist eine Frage für Gärtner oder für die, die mit dem Seelenleben oder den Herzensbedürfnissen von Pflanzen näher bekannt sind. Aber daß es sich auf dem gepflasterten Hofe recht hübsch ausnahm, wenn die zarte kleine Gestalt darüber hinhuschte und wie ein Lächeln an den düsteren alten Häusern und über die abgetretenen Steinfliesen hinglitt, um sie dann in Öde und Langeweile wieder zurückzulassen, das ist Tatsache. Am liebsten wäre die Tempelfontäne wohl zwanzig Fuß hoch emporgesprungen, um den Lenz hoffnungsvoller Jungfräulichkeit zu begrüßen, der in Ruths kleiner Persönlichkeit sich strahlend durch die dürren staubigen Kanäle dieses Heimes der Rechtsprechung stahl. Die zwitschernden Sperlinge, in den Spalten und Ritzen des Londoner Tempels geboren, schwiegen dann gerne, wie um den unsichtbaren Lerchen zu lauschen, die aus der Höhe des Himmels herab die Anwesenheit des so lieblichen Kindes besangen, und die dürren bestaubten Äste, nicht mehr gewohnt, sich herabzuneigen, seit sie kleine Pflänzchen gewesen, bemühten sich, sich freundlich herabzusenken, um mit Blätterrauschen ihren Segen über Ruths anmutiges Haupt zu gießen. Alte Liebesbriefe, in eisernen Kisten eingeschlossen, in den Bureaus ringsum und unter den alten Familiendokumenten, zwischen die sie geraten waren, unbeachtet und vergessen, hätten sich am liebsten rühren mögen und aufrauschen, um sich einen Augenblick an ihre alten Zärtlichkeiten zu erinnern, wenn Ruth so mit leichtem Schritt vorüberging. Alles das und noch viel mehr hätte in der belebten und leblosen Natur Ruth zuliebe geschehen können.

An diesem Nachmittage ereignete sich aber außerdem noch etwas. Zwar nicht ihr zuliebe, sondern rein zufällig, und ohne im geringsten durch sie veranlaßt zu sein.

Entweder war sie zu früh gekommen, oder Tom kam zu spät – sie war sonst in der Regel so pünktlich, daß sie es gewöhnlich auf die halbe Sekunde traf –, doch wer nicht kommen wollte, war Tom. Aber statt seiner war jemand anders da, und sie errötete so tief, als sie sich umsah und ihn erblickte, daß sie mit ungewöhnlicher Hast die Stufen hinabtrippelte.

Der Zufall hatte nämlich gefügt, daß in diesem Augenblick gerade Mr. Westlock vorüberging. Der Tempel ist eine öffentliche Passage, und mag auch hundertmal auf die Tore geschrieben stehen: »Kein Durchgang« – solange die Tore offenstehen, geht jeder durch. Warum hätte es sich da gerade Mr. Westlock versagen sollen? Aber weshalb lief Ruth davon? Sie war doch nicht schlecht gekleidet, vielmehr so sauber und niedlich wie immer; warum lief sie also davon? Ihre braunen Locken, die unter ihrem Hütchen hervorquollen mit einer einzigen gottlosen falschen kleinen Rose darin, die sich ihrer Frechheit vor aller Welt rühmte, konnten doch nicht die Ursache sein? Also warum lief sie davon?

Lustig glitzerte die schlanke Fontäne, und lustig strahlten die Grübchen auf Ruths sonnigem Antlitz. John Westlock eilte ihr nach. Unter murmelndem Flüstern fiel und brach sich die Fontäne, und die Grübchen zuckten schelmisch, als John Ruth nacheilte.

Warum tat sie nur, als merke sie sein Kommen nicht? Warum wünschte sie sich so weit weg und zitterte doch vor Seligkeit?

»Wußte ich es doch, daß Sie es sein mußten«, sagte John, als er sie im Heiligtum des Gartenhofes einholte. »Ich wußte gleich, daß ich mich nicht täuschen konnte.«

Ruth war außerordentlich überrascht.

»Sie warten wohl auf Ihren Bruder?« fragte John. »Wenn Sie erlauben, werde ich Ihnen Gesellschaft leisten.«

Die Berührung ihres kleinen Händchens war so leicht, daß er niederschaute, um sich zu überzeugen, ob sie seinen Arm auch wirklich angenommen habe. Sein Blick wurde für den Moment von den leuchtenden Augen des Mädchens festgehalten, und er vergaß daher seine erste Absicht und blieb eine Sekunde stehen.

Dann schlenderten sie wohl drei- oder viermal auf und ab und unterhielten sich über Tom und seine geheimnisvolle Beschäftigung. Das war gewiß ein sehr natürliches und unschuldiges Thema, warum senkte also Ruth, sooft sie aufblickte, sogleich ihre Augen wieder und betrachtete das Pflaster des Hofes so sorgsam? Ihre Augen hatten gewiß das Licht nicht zu scheuen, sie brauchten nicht Verstecken zu spielen, um an Reiz und Schönheit zu gewinnen. Ruth war viel zu lieb und ursprünglich, um solcher kleinen Künste zu bedürfen. Fühlte sie vielleicht, daß John sie nicht aus den Augen ließ?

Endlich entdeckten sie Tom, und zwar schon in der Ferne. Er blickte wie gewöhnlich nach allen Richtungen, nur nicht in der, auf die es ankam, und vermied diese so hartnäckig, rein als ob er es mit Absicht täte. Als sie sich schließlich klar waren, daß er imstande wäre, direkt nach Hause zu eilen, wenn man ihn nicht daran verhinderte, eilte John Westlock auf ihn zu.

Das mußte die arme kleine Ruth natürlich abermals in größte Verlegenheit bringen. Tom zeigte auch richtig das größte Erstaunen, denn Geistesgegenwart war nicht seine starke Seite, aber John rettete die Situation oder trachtete sie wenigstens zu retten, indem er mit höchst unnötiger Beredsamkeit ihr Beisammensein erklärte. Ruth fühlte glühendes Rot in ihre Wangen steigen, suchte aber möglichst gleichgültig die Augenbrauen in die Höhe zu ziehen und ihre rosigen Lippen aufzuwerfen, als gehe sie die ganze Sache gar nichts an.

»Was für ein höchst außerordentliches Zusammentreffen!« rief Tom. »Ich hätte mir nichts weniger träumen lassen, als euch beide hier zusammen zu sehen.«

»Es war ganz zufällig«, stotterte John.

»Natürlich«, sagte Tom. »Ich wollt es gerade bemerken, denn wenn es nicht zufällig wäre, läge nichts Merkwürdiges darin.«

»Natürlich«, stammelte John.

»Nein, daß ihr euch an einem Ort, der so ganz außer Johns Wege liegt, treffen müßt«, fuhr Tom ganz entzückt fort. »Und noch dazu an einem so ungewöhnlichen Platz.«

John bestritt das. Im Gegenteil, meinte er, der Platz sei gar nicht so ungewöhnlich. Er pflege hier übrigens immer auf und ab zu gehen und er würde sich gar nicht wundern, wenn sich Ähnliches wiederum begeben sollte. Er seinerseits sei nur erstaunt, daß es nicht schon früher geschehen.

Indessen hatte Ruth den Arm ihres Bruders genommen und drückte ihn jetzt, um ihm zu verstehen zu geben, er solle doch nicht den ganzen Tag hier stehen bleiben.

»John«, sagte Tom, »wenn du meiner Schwester deinen Arm reichen willst, so können wir sie in die Mitte nehmen und zusammen weitergehen. Ich habe dir übrigens von einem höchst seltsamen Umstand zu berichten. Wirklich ausgezeichnet, daß wir uns heute getroffen haben.«

Lustig hüpfte und tanzte die Fontäne, und Grübchen bildeten sich in dem Becken und barsten wie in lautem Lachen. »Tom«, sagte John Westlock, als sie in eine belebte Straße einbogen, »ich hätte dir einen Vorschlag zu machen. Ich würde mich riesig freuen, wenn du und deine Schwester – falls sie die Wohnung eines alten Junggesellen mit ihrer Gegenwart beehren will – mir heute beide das Vergnügen machtet, bei mir zu speisen.«

»Wie? Heute?« rief Tom.

»Jawohl, heute. Du weißt, ich wohne ganz in der Nähe. Ich bitte, Miss Pinch, bestehen Sie doch darauf. Freilich wird es eine sehr uneigennützige Hilfe von Ihnen sein, denn ich kann Ihnen nicht viel vorsetzen.«

»Das darfst du natürlich nicht glauben, Ruth«, fiel Tom ein, »er ist ein ganz wüster Bursche. So etwas von einer Junggesellenwirtschaft habe ich überhaupt noch nicht gesehen. Beim Bürgermeister von London könnte es nicht höher hergehen. Also was meinst du? Wollen wir zu ihm gehen?«

»Ganz wie du glaubst, Tom«, entgegnete Ruth gehorsam.

So wurde denn die Einladung angenommen.

»Hätte ich früher gewußt, daß es sich so treffen wird«, sagte John, »so würde ich eine andere Art von Pudding besorgt haben. Nicht, um mit Ihnen zu rivalisieren, Miss Pinch, sondern bloß des Gedächtnisses wegen an Ihren famosen Pudding von damals; keinesfalls hätte ich ihn mit Rindsfett gemacht.«

»Warum denn nicht?« fragte Tom.

»Es steht zwar so im Kochbuch«, sagte John, »aber bei euch war er aus Mehl und Eiern. Haha!«

»Was? Unserer war aus Mehl und Eiern bereitet?« rief Tom. »Ein Beefsteakpudding aus Mehl und Eiern! Da hört sich doch alles auf.«

Es ist unnötig hervorzuheben, daß Tom, der doch bei der Bereitung des Puddings zugegen gewesen war, andächtig an ihn glaubte, aber er fand eine gewisse Freude daran, seine geschäftige kleine Schwester ein wenig zu necken, und immerfort rief er daher mit unverwüstlicher Fröhlichkeit: »Mehl und Eier! Ein Beefsteakpudding aus Mehl und Eiern!«, bis John Westlock und Ruth ihn allein stehen ließen und mitsammen vorausgingen. Dann kam er ihnen langsam nach mit von so zärtlicher Freude strahlendem Gesicht, daß sicher schönes Wetter geworden wäre, wenn nicht schon sowieso die Sonne geschienen hätte.

Die Inns, in denen die Junggesellen in London leben, haben ganz prächtige Zimmer aufzuweisen. Es ist erstaunlich, wie gut sich dieses Gesindel fortbringt, trotzdem es sich jedesmal und überall über Einsamkeit beklagt. Auch John erging sich pathetisch in allerhand Klagen über sein trauriges Dasein und über die kläglichen Notbehelfe, auf die er angewiesen sei. Aber trotz alledem schien es ihm recht gut im Leben zu gehen. Seine Zimmer waren äußerst reinlich und bequem, und wenn es ihm darin nicht wohl war, sie traf gewiß keine Schuld.

Kaum hatte er Tom und Ruth in seine beste Stube geführt, wo eine schöne kleine Vase mit frischen Blumen stand – rein als ob man eine Dame erwartet hätte, meinte Tom –, als er auch schon wieder nach seinem Hut griff und geschäftig hinauseilte. Gleich darauf sah ihn das Geschwisterpaar in Begleitung einer Matrone mit glühend rotem Gesicht und einem zerknüllten Hut, dessen auffallend lange Bänder ihr über den Rücken hinunterflatterten, wieder zurückkehren. Sofort begann er sodann unter Beihilfe dieser äußerst tüchtigen Person das Tischtuch für das Dinner zurechtzulegen, eigenhändig die Weingläser zu polieren, den Deckel einer Pfefferbüchse an seinem Rockärmel blank zu reiben, Flaschen zu entkorken und die Getränke mit auffallendem Geschick in Karaffen zu füllen. Rein, als ob es Aladins Wunderlampe sei, die er da rieb und polierte, erschien mit einem Mal, wenn auch nicht eine Schar von zwanzigtausend übernatürlichen Sklaven, so doch ein Wesen mit einer weißen Weste, das eine Serviette unter dem Arme trug, begleitet von einem anderen Wesen mit einer ovalen kleinen Schüssel auf dem Kopf, aus der sogleich ein dampfendes Gericht zum Vorschein kam. Lachs, Lammbraten, Erbsen, ganz unschuldige junge Kartoffeln, ein Salat, kühl bis ans Herz hinan, Gurkenschnitten, ein zartes Entchen und eine Torte, alles stand im Nu auf dem Tisch und alles zu rechter Zeit. Woher es kam, das wußte niemand, aber unaufhörlich ging die ovale Schüssel aus und ein und verkündete das Wesen mit der weißen Weste ihre Ankunft vor der Türe draußen durch ein bescheidenes Klopfen – denn nachdem es sich zum erstenmal kühn gezeigt, wagte es offenbar nicht mehr im Zimmer zu erscheinen. Das Wesen in der weißen Weste war niemals sonderlich überrascht in solchen Fällen und schien sich auch nicht im geringsten über diese außerordentlichen Vorgänge oder über die Schätze zu wundern, die man dann in der Truhe fand, denn es nahm sie stets mit der gelassensten Miene von der Welt heraus und stellte sie auf den Tisch. Das Wesen war überhaupt ein sehr freundlicher Mann, sanft in seinem ganzen Gehaben und außerordentlich für den Gaumen der Gesellschaft besorgt. Es war auch ein gelehrter und sehr erfahrener Mann, kannte genau John Westlocks Lieblingssaucen und pries sie leise und gefühlvoll an, wenn es die kleinen Kännchen herumreichte. Und es war auch ein ernster und stiller Mann, denn kaum war das Dinner vorüber und der Wein mit dem Obst auf dem Tische erschienen, so verschwand es mitsamt der Wundertruhe wie ein Geist.

»Hab ich’s nicht gleich gesagt: John ist ein wüster Bursche?« rief Tom. »Sollte man so etwas überhaupt für möglich halten!?«

»Ach, Miss Pinch«, klagte John, »das sind eben so die einzigen Sonnenblicke in dem traurigen Leben, das man als Junggeselle hier führt. Ich hätte es kaum mehr länger ertragen, wenn es sich nicht heute, Gott sei Dank, aufgehellt hätte.«

»Glaub ihm doch kein Wort!« rief Tom, »er lebt wie ein Fürst hier und möchte nicht um alles in der Welt mit irgend jemandem tauschen. Er spielt jetzt nur absichtlich den Leidenden.«

Aber John schien durchaus nicht zu scherzen; es schien ihm vielmehr sehr ernst mit seinem Wunsch, man möge ihm glauben, welch trauriges, einsames, unbehagliches Leben er für gewöhnlich hier führe. Es sei ein elendes, unglückliches Leben, sagte er, und er denke an nichts anderes, als das Quartier so bald wie möglich loszuwerden. – Morgen schon wolle er es zum Vermieten ausschreiben lassen.

»Na«, meinte Tom Pinch, »ich wüßte wahrhaftig nicht, wo du hinziehen solltest, um es besser zu haben. Mehr sag ich nicht. Was meinst du dazu, Ruth?« Ruth spielte mit den Kirschen auf ihrem Teller und sagte, sie glaube, Mr. Westlock müsse ganz glücklich sein; sie könne unmöglich daran zweifeln.

Wie schüchtern sie das hervorbrachte.

»Aber du vergißt ja ganz, daß du uns erzählen wolltest, Tom, was dir heute früh passiert ist«, schloß sie hastig den Satz.

»Ja richtig«, rief Tom; »vor lauter Geschwätz über alles mögliche kam ich gar nicht dazu und hatte es schon ganz und gar vergessen. Ich werde dir gleich jetzt alles erzählen, John, damit ich’s nicht wieder vergesse.«

Als er dann den Vorgang auf dem Kai erzählte, wurde John Westlock plötzlich sehr nachdenklich und legte ein Interesse an der Geschichte an den Tag, das Tom geradezu unbegreiflich schien. Er sagte, er kenne die alte Frau, deren Bekanntschaft sie gemacht hätten, oder glaube es wenigstens, und wolle wetten, daß sie nach Toms Beschreibung »Gamp« heißen müsse. Was es aber für eine Nachricht gewesen sei, mit deren Überbringung Tom so unerwarteterweise beauftragt worden, und warum sie gerade ihm anvertraut worden, und wieso so ganz verschiedene Personen darin verwickelt seien, und was überhaupt für ein Geheimnis der ganzen Sache zugrunde liege, das sei ihm ein Rätsel. Tom war von vornherein überzeugt gewesen, daß die Erzählung seinen Freund interessieren würde, aber auf ein so warmes Interesse hatte er nicht gerechnet, denn John Westlock hörte gar nicht auf, immer wieder darauf zurückzukommen, selbst nachdem Ruth das Zimmer verlassen hatte, und behandelte das Thema mit viel größerer Wißbegierde, als zu erwarten gewesen war.

»Ich werde natürlich mit meinem Hauswirt darüber sprechen«, schloß Tom, »wenn er auch ein höchst auffallend geheimnisvoller Mensch ist und mir voraussichtlich nicht viele Auskünfte geben wird – angenommen, daß er überhaupt weiß, was in dem Briefe stand.«

»Daß das der Fall ist, darauf möchte ich schwören«, fiel ihm John ins Wort.

»So? Meinst du?«

»Ich bin überzeugt davon.« »Also gut«, sagte Tom, »wenn ich ihn zu Gesicht bekomme – allerdings geht er in etwas seltsamer Weise in seinem Hause ein und aus, aber trotzdem will ich’s versuchen, ihn morgen früh abzufangen – also, wenn ich ihn sehe, werde ich ihm meine Meinung sagen, wieso er mich zu einem so unangenehmen Auftrag mißbrauchen konnte. Ich habe mir übrigens schon gedacht, John, ich könnte eigentlich morgen früh zu Mrs. ––– wie heißt sie doch nur? – ja richtig – zu Mrs. Todgers gehen, vielleicht treffe ich dort die arme Gratia Pecksniff. Ich könnte mich dann bei ihr rechtfertigen und ihr erklären, wieso ich in die ganze Sache verwickelt wurde.«

»Da hast du ganz recht, Tom«, rief John Westlock nach kurzer Überlegung. »Es ist wohl das Beste, was du tun kannst. Sei’s übrigens, wie es wolle, es steckt gewiß nichts Gutes dahinter, und es kann nur wünschenswert für dich sein, jeden Schein zu vermeiden, als hättest du mit Vorsatz die Hand in der Angelegenheit gehabt. Ich würde dir sogar raten, womöglich ihren Gatten aufzusuchen und ihn von deiner Unschuld zu überzeugen, indem du ihm schlicht den Hergang dieser Sache erzählst. Mir schwant, es ist da irgendeine Schurkerei im Werke. Ich werde dir ein andermal die Gründe, die mich dazu veranlassen, mitteilen. Ich muß aber selbst erst gewisse Erkundigungen einziehen.«

Das alles klang für Tom Pinch höchst geheimnisvoll. Da er jedoch wußte, daß er sich in allen Stücken auf seinen Freund verlassen konnte, so entschloß er sich, dessen Rat unbedingt zu befolgen.

Höchst ergötzlich anzusehen, wie sich inzwischen die kleine Ruth in John Westlocks Räumen, während dieser und Tom beim Weine plauderten, benahm. Voller Sanftheit versuchte sie, mit der Matrone mit dem roten Gesicht und dem verknitterten Hut, die zu ihrer Bedienung dageblieben war, nachdem sie einen verzweifelten Versuch gemacht, sich etwas stattlicher herauszuputzen, und einen ausgewaschenen gelben Rock mit ebensolchen Blumen darin, die wie zerlassene Butterstücke in der Pfanne aussahen, angezogen hatte, ein Gespräch anzuknüpfen, aber mit grimmiger, drachenartiger Unbeugsamkeit wies die alte Dame jeden Annäherungsversuch zurück, rein, als ob sie von einer feindlichen und gefährlichen Macht kämen, die nichts weniger im Schilde führe, als ihr einen Kunden abspenstig zu machen oder das Rätsel aufzuklären, wieso es komme, daß Tee und Zucker von selbst verschwänden, und ähnliches mehr. Mit verschämter und entzückender Neugierde guckte die kleine Ruth, als die Dame mit dem roten Gesicht schließlich fort war, in die verstreut umherliegenden Bücher und andere Siebensachen und zerbrach sich den Kopf, wer wohl die hübschen Nippesfiguren auf dem Kaminsims entworfen und zusammengestellt haben möge. Es war ein entzückendes Bild, wie sie mit zögernder Hand ihre Blumen zusammenband, sie an ihren Busen steckte und beinahe errötend über ihr hübsches Gesicht im Spiegel sich mit seitwärts geneigtem Kopf ansah, halb entschlossen, sie wieder fortzutun, dann aber wieder, sie zu belassen, wo sie waren.

John schien förmlich wonnetrunken zu sein, denn als er mit Tom zum Tee hereinkam, nahm er ganz befangen und wie verzaubert sofort neben Ruth Platz. Als schließlich das Teeservice abgetragen worden war und Tom sich ans Klavier setzte und sich in seine alten Orgelmelodien vertiefte, saß er immer noch am offenen Fenster neben ihr und blickte stumm hinaus in die Dämmerung.

In Furnivals Inn gibt es im allgemeinen wenig genug zu sehen. Es ist ein schattiger, geruhsamer Ort, der nur das Echo der vorübereilenden Schritte nachhallen läßt und an Sommerabenden sogar einen eintönigen und düsteren Eindruck macht. Was mochte dem Orte plötzlich einen solchen Zauber gegeben haben, daß Ruth und John am Fenster stehen blieben und so wenig auf den Flug der Zeit achteten wie Tom, der Träumer, der sich inzwischen ganz in die Melodien verloren hatte, die so oft seine Seele ruhig gestimmt? Welche Zaubermacht lag in dem langsam entschwindenen Dämmerlicht und der sich immer mehr ansammelnden Dunkelheit – in den da und dort aufblitzenden Sternen – in der Abendluft, in dem fernen Gesumme der City und dem Zusammenklingen der alten Kirchturmuhren? Die göttlichste und herrlichste Landschaft, die es auf Erden gibt, hätte die beiden mit ihrer Schönheit wohl nicht stärker zu fesseln vermocht. Immer tiefer und dunkler wurden die Schatten, und das Zimmer lag bereits in schwarzer Finsternis. Immer noch wanderten Toms Finger über die Tasten, und immer noch standen die beiden am Fenster.

Endlich fühlte Tom die Hand seiner Schwester auf seiner Schulter und ihren Arm auf seiner Stirn; – er erwachte aus seinen Träumereien.

»O Gott«, rief er, plötzlich auffahrend, »ich fürchte, ich bin sehr rücksichtslos und unhöflich gewesen.« – Er hatte keine Ahnung, wieviel Rücksicht er im Gegenteil geübt hatte. – »Singe uns doch etwas, Liebste«, lud er Ruth ein, »komm, laß uns deine Stimme hören!« Und in so eindringlicher Weise vereinigte John Westlock seine Bitten mit den seinigen, daß nur ein Herz von Stein hätte widerstehen können. Sie aber hatte kein Herz von Stein. O Gott, nichts weniger als das. Sie setzte sich also nieder und begann mit süßer einschmeichelnder Stimme eine von Toms Lieblingsballaden zu singen, alte Romanzen mit hie und da einer Pause für ein paar einfache Akkorde, wie sie die Harfeniere in alter Zeit erklingen ließen, um sich den Gang einer halbvergessenen Sage ins Gedächtnis zu rufen, Texte aus den Liedern alter Dichter, mit so passenden Melodien zusammengefügt, daß die Musik wie der Atem des Poeten war, und dann wieder eine Melodie, so fröhlich und leicht beschwingt, daß man glauben mußte, die, die sie da sang, könne nie und nimmer traurig sein oder eines wehmütigen Gedankens fähig – bis sie wieder in gottloser Flatterhaftigkeit zu melancholischen Tönen zurückkehrte und ihren Zuhörern das Herz brach; – das waren so die kleinen einfachen Künste, mit denen Ruth die Herzen ihrer beiden Zuhörer verzauberte. Und daß diese harmlosen Künste ihre volle Macht bewiesen, ließ sich daraus schließen, wie lange die Stube noch dunkel blieb und wie spät man erst das Licht anzündete.

Endlich wurden die Kerzen hereingebracht, aber es war bereits die höchste Zeit, nach Hause zu gehen. Es dauerte noch geraume Zeit, bis sorgfältig Papier zurechtgeschnitten war, um es um die Stengel der Blumen, die Ruth mitnehmen sollte, zu wickeln, aber auch das kam endlich zustande, und das junge Mädchen war bereit.

»Gute Nacht«, sagte Tom. »Es war wirklich ein entzückender Nachmittag und Abend, John. – Gute Nacht.«

John schickte sich an, sie zu begleiten.

»Nein, nein, bleibe doch nur«, wehrte ihm Tom, »was für ein Unsinn! Wir können doch wirklich ganz gut allein nach Hause gehen. Ich kann es unmöglich zugeben, daß du dich so inkommodierst.«

John versicherte nur, daß es ihm im Gegenteil ein großes Vergnügen sei.

»Ist es wirklich wahr, daß es dir ein Vergnügen macht?« fragte Tom harmlos. »Ich fürchte, du sagst es nur aus Höflichkeit.«

Aber John versicherte ihm aufs eindringlichste, daß es ganz und gar gewiß wahr sei, bot Ruth seinen Arm und führte sie hinaus.

Die Dame mit dem roten Gesicht, die wieder zur Bedienung bereitstand, bedankte sich für die Begrüßung der Gäste mit einem so kalten Knicks, daß ein sehr scharfes Auge dazu gehörte, ihn wahrzunehmen. Von Tom nahm sie überhaupt keine Notiz.

Mr. Westlock bestand unbedingt darauf, seine Gäste den ganzen Weg zu begleiten, und wollte durchaus nichts von seines Freundes Widersprüchen hören.

Glückliche Zeit, glücklicher Spaziergang, glücklicher Abschied, glückliche Träume! Aber dennoch gab es auch für John gewisse süße Träume des Tages, vor denen die Visionen der Nacht zuschanden wurden.

Geschäftig murmelte die Fontäne im Mondlicht, während Ruth schlafend dalag, ihre Blumen neben sich auf dem Kissen – und John Westlock entwarf aus dem Gedächtnis ein Porträt – von wem wohl?

46. Kapitel


46. Kapitel

Miss Pecksniff macht Eroberungen, Mr. Jonas schneidet Gesichter, Mrs. Gamp bereitet den Tee und Mr. Chuffey phantasiert

Tags darauf eilte Tom, nachdem er seine Arbeiten erledigt, unverzüglich nach Hause und brach nach dem Dinner und einer kurzen Mittagszeit mit Ruth sofort wieder auf, um bei Todgers‘ den beabsichtigten Besuch zu machen. Er nahm seine Schwester nicht nur deshalb mit, weil es ihm, wie stets, ein Vergnügen war, sie um sich zu haben, sondern auch deshalb, weil er von Herzen wünschte, sie möge die arme Gratia ein wenig trösten und aufheitern. Auch Ruth ihrerseits wünschte nichts sehnlicher, da sie die Geschichte der unglücklichen jungen Frau von ihrem Bruder gehört hatte.

»Sie war so erfreut, mich wiederzusehen«, sagte Tom, »daß ich überzeugt bin, es wird sie auch freuen, dich zu sehen. Deine Teilnahme wird ihr sicherlich noch viel angenehmer und wohltuender sein als die meinige.«

»Davon bin ich nun nicht so ganz überzeugt, Tom«, wendete Ruth ein. »Du bist überhaupt ungerecht gegen dich. Aber ich hoffe, sie wird mich auch so – immerhin ein wenig leiden mögen.«

»O sicherlich!« rief Tom vertrauensvoll.

»Ach, wieviel Freunde hätte man, wenn alle Welt so dächte wie du; meinst du nicht, lieber Tom?« fragte Ruth und zwickte ihren Bruder scherzhaft in die Wangen.

Tom lachte und meinte, in dieser Beziehung werde er ohne Zweifel in Gratia eine gute Schülerin haben; »denn ihr Frauen«, sagte er, »liebe Ruth, seid überhaupt so gut und zartfühlend und wißt so rücksichtsvoll und wohltuend mit einem umzugehen, ohne es direkt merken zu lassen, daß man sich immer darüber freuen muß. Ihr seid so –«

»Aber, lieber Himmel, Tom«, unterbrach ihn seine Schwester, »du scheinst ja auf dem besten Wege zu sein, dich zu verlieben!«

Tom wies diese Bemerkung zwar gutmütig, aber doch mit gewissem Ernste ab, und bald plauderten sie wieder über ein anderes Thema.

Ziemlich in der Nähe von Mrs. Todgers‘ Etablissement hielt Ruth ihren Bruder einen Augenblick vor dem Fenster eines großen Warenmagazins zurück und machte ihn auf einige wundervolle Sachen aufmerksam, die dem Publikum zur Versuchung ins Ladenfenster gestellt waren. Tom hatte gerade über den Preis dieser Artikel einige sehr irrige Vermutungen aufgestellt und lachte eben mit seiner Schwester herzlich über seine Unkenntnis, als er plötzlich ihren Arm drückte und sie auf zwei in der Nähe stehende Personen aufmerksam machte, die mit tiefstem Interesse einige Kommoden und Tische hinter dem Schaufenster betrachteten.

»Pst«, flüsterte Tom, »das sind Miss Pecksniff und der junge Gentleman, den sie nächstens heiraten wird.«

»Er sieht wahrhaftig eher aus, als ob er sich begraben lassen wollte, Tom«, sagte Ruth ebenso leise.

»Ich glaube, er ist von Natur aus ein bißchen melancholisch«, meinte Tom; »aber jedenfalls ist er ein sehr artiger und harmloser Mensch.«

»Sie besprechen wahrscheinlich, wie sie sich einrichten werden, was glaubst du, Tom?«

»Ja, es scheint so. Ich glaube, wir sollten sie auch nicht anreden.« – Trotz dieses Vorhabens konnte es das Geschwisterpaar jedoch nicht gut vermeiden, den beiden andern ins Auge zu fallen, zumal ein vorüberziehender Menschenstrom sie daran hinderte, nach der andern Seite abzubiegen.

Miss Pecksniff sah ganz danach aus, als habe sie den unglücklichen Mr. Moddle mit einem Lasso eingefangen und führe ihn jetzt zur Betrachtung des Möbellagers wie der Schlächter ein Lamm zur Schlachtbank. Der junge Mann wenigstens leistete nicht den geringsten Widerstand und war tief resigniert. Die Schwermut, die die gesenkte Haltung seines Kopfes und sein ganzes Wesen verrieten, war geradezu auffällig. Im Ladenfenster stand eine große vierpfostige Bettstelle und in seinem Auge – eine große zitternde Träne.

»Augustus, mein Lieber«, flötete Miss Pecksniff, »geh doch einmal hinein und frage nach dem Preis der acht Rosenholzsessel und des Spieltisches.«

»Ach, die werden sicher schon bestellt sein«, redete sich »Augustus« heraus. »Die sind bestimmt nicht mehr verkäuflich.«

»Schadet doch nichts! Man kann doch neue in derselben Art anfertigen lassen«, meinte Miss Pecksniff.

»Nein, nein, das wäre unmöglich«, wendete Mr. Moddle ein, »rein unmöglich.«

Er schien in diesem Augenblick durch die Aussicht auf sein nahe bevorstehendes Glück geradezu betäubt zu sein; aber rasch faßte er sich wieder und trat in den Laden. Als er wieder zurückkehrte, meldete er im Tone der Verzweiflung:

»Vierundzwanzig Pfund, zehn Schillinge.« In diesem Augenblick wendete sich Miss Pecksniff um und gewahrte dabei, daß Tom Pinch und seine Schwester sie beobachteten.

»Ah – oh!« rief sie, verwirrt umherblickend, als sänne sie auf das beste Mittel, in die Erde zu versinken. »Was sehe ich! Ah – oh – in meinem ganzen Leben – wer hätte nur gedacht – erlauben Sie, meine Herrschaften – Mr. Augustus Moddle – Miss Pinch.«

Sie absolvierte die Zeremonie der Vorstellung, was Miss Pinch betraf, sehr gnädig und leutselig, eigentlich sogar mehr als das – sie war sogar freundlich und herzlich; sei es, daß die Erinnerung an den Dienst, den ihr einst Tom geleistet, indem er Mr. Jonas eins über den Kopf gegeben, sie so wohlwollend stimmte, sei es, daß die längere Trennung von ihrem Vater sie bereits mit der Menschheit zu versöhnen begann oder wenigstens mit jenem Teil der Menschheit, der eben auch kein guter Freund von ihm war, oder war es das Entzücken, wieder eine neue weibliche Bekannte gefunden zu haben, der sie ihre Aussichten auf ihr künftiges Glück vorführen konnte – genug, sie war herzlich und wohlwollend. Ja sie küßte Miss Pinch sogar schließlich zweimal auf die Wange.

»Augustus – Mr. Pinch – – doch die Herren kennen sich bereits«, fuhr sie dann die Vorstellung fort. »Ach mein liebes Kind«, flüsterte sie Ruth heimlich zu, »in meinem ganzen Leben habe ich mich noch nicht so geschämt.«

Ruth versicherte, das habe doch gar nichts zu sagen.

»Allerdings geniere ich mich ja vor Ihrem Bruder weniger als vor irgend jemandem sonst«, lispelte Miss Pecksniff. »Aber dennoch liegt etwas gewisses Unzartes darin, unter solchen Umständen einen Gentleman zu treffen. Augustus, mein Lieber, hast du –« Sie flüsterte ihm etwas ins Ohr. Mit Duldermine wiederholte Mr. Moddle:

»Vierundzwanzig Pfund und zehn Schillinge.«

»Ach, du einfältiger Mensch, das meine ich doch nicht«, rief Miss Pecksniff, »ich sprach von den –«

Abermals flüsterte sie ihm etwas ins Ohr.

»Wenn es derselbe bunte Kattun ist wie der im Schaufenster – zweiunddreißig Pfund, zwölf Schillinge, sechs Pence«, antwortete Mr. Moddle mit einem Seufzer. »Sehr teuer.«

Weitere Erklärungen unterband Miss Pecksniff, indem sie ihrem Bräutigam ihre Hand auf die Lippen legte und eine leichte Verlegenheit heuchelte. Dann fragte sie Tom Pinch, wohin er denn gehe.

»Ich wollte sehen, ob ich Ihre Schwester nicht treffen könnte«, antwortete Tom. »Ich habe ihr etwas mitzuteilen. Wir wollen zu Mrs. Todgers, wo ich schon einmal das Vergnügen hatte, sie zu treffen.«

»Dann kann ich Ihnen einen Gang ersparen«, sagte Cherry; »wir kommen eben von dort, und ich weiß, daß sie nicht anwesend ist. Wenn Ihnen übrigens daran liegt, will ich Sie gerne nach Gratias Wohnung bringen. Augustus – pardon, Mr. Moddle wollte ich sagen – und ich sind soeben auf dem Wege dahin begriffen, um unsern Tee bei ihr zu nehmen. Wegen Jonas können Sie unbekümmert sein«, setzte sie aufmunternd hinzu, als sie Toms Zögern bemerkte, »er ist nicht zu Hause.«

»Wissen Sie das sicher?« fragte Tom.

»Natürlich weiß ich das. Ich würde es Ihnen sonst nicht sagen. Es gelüstet mich auch nicht danach, mich zu rächen«, erwiderte Miss Pecksniff stolz. »Aber ich bitte jetzt die Herren, vorauszugehen, ich werde mit Miss Pinch nachkommen. – Also, meine Liebste, was ich sagen wollte, in meinem ganzen Leben war ich noch nie so überrascht und betreten.«

Gehorsam hängte sich Mr. Moddle in Tom ein, während Miss Pecksniff Ruths Arm nahm.

»Es wäre natürlich vergeblich, liebes Kind«, begann Miss Pecksniff abermals, »wenn ich noch weiter verheimlichen wollte, daß ich im Begriffe stehe, mich mit dem Gentleman zu vermählen, der mit Ihrem Bruder vorausgeht. Es wäre unnütz und vergeblich, wenn ich es verheimlichen wollte. Was halten Sie übrigens von ihm? Bitte, lassen Sie mich Ihre aufrichtige Meinung darüber hören.«

Ruth sagte, daß sie Mr. Moddle, soweit sie nach dem ersten Eindruck urteilen können, für einen sehr sympathischen jungen Mann halte.

»Ich bin außerordentlich neugierig«, plauderte Miss Pecksniff mit geschwätziger Offenherzigkeit fort, »ob Sie bereits in dieser kurzen Zeit bemerkt haben oder doch zu bemerken glauben, daß Augustus ein wenig zur Melancholie neigt.«

»Ich kenne ihn dazu wirklich noch zu wenig«, entschuldigte sich Ruth.

»Aber sicherlich mußte es Ihnen doch so scheinen? Nicht?« drängte Miss Pecksniff. »Alle Welt behauptet es wenigstens. Auch Mrs. Todgers und sogar Augustus selbst erzählten mir, daß ihn die Gentlemen im Hause dessentwegen stets aufzögen. Wahrhaftig, wenn ich’s ihm nicht ausdrücklich verboten hätte, ich glaube, es wäre schon öfter als einmal zu einem Duell auf – auf – geladene Pistolen gekommen. Was meinen Sie, mag wohl die Ursache seines melancholischen Wesens sein?«

Ruth riet innerlich so allerlei: auf schlechte Verdauung, seinen Schneider, seine Mutter und dergleichen, ohne natürlich ein Wort darüber laut werden zu lassen.

»Hören Sie, mein Kind«, fuhr Miss Pecksniff fort. »Eigentlich sollte ich nicht darüber reden, aber da ich Ihren Bruder schon seit so vielen Jahren kenne, will ich auch Ihnen gegenüber kein Hehl daraus machen – also, ich hatte Augustus schon dreimal einen Korb gegeben – er ist so liebenswürdig und empfindsam, und man braucht ihn nur anzusehen, so stehen ihm schon die Tränen im Auge, und das steht ihm so entzückend, und bis heute hat er sich von den Folgen meiner Grausamkeit noch nicht ganz erholt. – – Oh, es war wirklich grausam«, setzte sie mit Selbstüberwindung hinzu und mit einer Schlichtheit, die sogar ihres Vaters würdig gewesen wäre – »das will ich mir nicht verhehlen, und ich kann jetzt nur mit Erröten auf mein damaliges Benehmen zurückblicken. Ich habe ihn, offen gestanden, stets geliebt und gefühlt, daß er mir mehr war als so manche junge Leute, die mir Anträge machten; und was hatte ich eigentlich für ein Recht, ihn dreimal zurückzuweisen, nicht wahr?«

»Es war ohne Zweifel eine schwere Prüfung für ihn«, sagte Ruth. – »Nein, mein Kind, mehr als das! Es war sogar Unrecht. Aber das ist eben die Gedankenlosigkeit und Launenhaftigkeit unsres Geschlechts. Lassen Sie sich mein Beispiel zur Warnung dienen und stellen Sie nie die Gefühle eines Mannes zu sehr auf die Probe, der Ihnen Anträge macht – etwa in der Weise, wie ich meinen Augustus geprüft habe –, sondern, wenn Sie jemals für einen Mann empfinden, was ich schon in der Zeit, als ich ihn fast zur Verzweiflung trieb, empfand, so verbergen Sie es nicht, wenn er sich Ihnen zu Füßen wirft, wie sich Augustus Moddle mir zu Füßen warf. Bedenken Sie«, ermahnte sie, »wie mir jetzt sein müßte, wenn ich ihn zum Selbstmord getrieben und alles dann in der Zeitung gestanden hätte!«

Ruth bestätigte, daß sich Miss Pecksniff dann ohne Zweifel schwere Gewissensbisse hätte machen müssen.

»Gewissensvorwürfe?« rief Charitas, sichtlich in Reuegefühlen schwelgend. »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie es mich sogar jetzt noch quält, wo ich meine Härte doch dadurch wiedergutgemacht habe, daß ich seine Werbung annahm. Jetzt, wo ich nüchtern und vernünftig geworden bin und sozusagen am Rande des Ehestandes stehe und auf mein flatterhaftes Benehmen zurückblicke und ins Auge fasse, wie ich war, als ich noch so alt war wie Sie, mein Kind, so schaudre ich. Ja, ich schaudre. Und was ist die Folge meines damaligen Benehmens? Nicht eher, als bis Augustus mich zum Altare führt, weiß er mich seiner sicher. Ich habe sein Herz so gequält und zerrissen, daß er gar keine Zuversicht mehr hat. Ich sehe, es nagt an ihm und seiner Seele. Sie können sich denken, wie es mich quälen muß, den Mann, den ich liebe, in einem solchen Zustand sehen zu müssen.«

Ruth bemühte sich nach Kräften, Miss Pecksniffs unbegrenztes und so schmeichelhaftes Vertrauen einigermaßen anzuerkennen, und stellte die Vermutung auf, die Vermählung werde wahrscheinlich sehr bald vor sich gehen.

»Jawohl, allerdings, sehr bald«, rief Miss Pecksniff. »Sowie wir eingerichtet sind. Wir schaffen uns jetzt in aller Eile unsre Möbel an.« Und mit großer Redseligkeit zählte sie eine ganze Liste von Gegenständen her, die sie bereits gekauft hätten und noch zu kaufen gedächten, in was für Kleidern sie sich würde trauen lassen und wo die Zeremonie stattfinden werde; kurz, sie teilte Miss Pinch, wie sie betonte, weil sie ihr so sympathisch sei, alles und jedes ausführlich mit.

Während sich die Arrieregarde mit diesen Gesprächen beschäftigte, gingen Tom und Mr. Moddle Arm in Arm, aber in tiefstem Stillschweigen voraus, bis Tom endlich einen krampfhaften Anlauf nahm, die Verlegenheitsstimmung zu brechen.

»Es wundert mich«, fing er stockend an, »daß bei diesem Gedränge in den Straßen so selten ein Fußgänger überfahren wird.«

»Die Kutscher sind daran schuld«, versetzte Mr. Moddle in schwermütigem Ton.

»Wie meinen Sie das?« fragte Tom erstaunt.

»Ich glaube, daß es Menschen gibt«, sagte Mr. Moddle mit heiserem Lachen, »die einfach nicht überfahren werden – können. Ihr Leben ist gefeit. Schwere Kohlenwagen halten plötzlich an, wenn man vor der Deichsel steht, und selbst die Fiaker weigern sich, einen zu überfahren. Ach ja«, seufzte er, Toms Erstaunen bemerkend. »Es gibt leider solche Menschen. Ich habe zum Beispiel einen Freund, dem es so geht.«

»Meiner Seel«, dachte Tom, »der junge Herr befindet sich in einem Gemütszustand, der einem in der Tat ernstliche Besorgnis einflößen könnte.«

Er gab jetzt jeden Gedanken auf, ein längeres Gespräch mit diesem seltsamen Menschen anzuknüpfen, sprach nicht ein Wort mehr, hielt aber Augustus desto fester am Arm, damit er ihm nicht etwa entwische und vor den Augen seiner Verlobten vielleicht einen erfolgreichen Versuch machen könne, eine Privatentleibungsszene aufzuführen. Er hatte eine solche Angst vor seinen Verzweiflungsanfällen, daß er förmlich froh war, als er ihn glücklich bis zu Mr. Jonas Chuzzlewits Haus gebracht hatte.

»Bitte, Mr. Pinch, gehen Sie nur voraus«, sagte Miss Pecksniff. – Tom hatte nämlich unschlüssig an der Haustüre haltgemacht.

»Ich weiß wirklich nicht, ob ich willkommen sein werde«, wendete Tom zögernd ein. »Richtiger gesagt, ich fürchte das Gegenteil. Ob es nicht vielleicht besser wäre, ich ließe mich vorher anmelden?«

»Ach, das ist doch Unsinn«, rief Charitas, »ich weiß gewiß, daß Jonas nicht zu Hause ist – ich weiß es. Und Gratia hat nicht die mindeste Idee, daß Sie ihn je –«

»Um Gottes willen«, unterbrach sie Tom. »Sie darf es auch niemals erfahren. Ich kann Ihnen nur versichern, daß ich nichts weniger als stolz auf den damaligen Raufhandel bin.«

»Ach, Sie sind überhaupt immer viel zu bescheiden«, zürnte Miss Pecksniff. »Gehen Sie doch. – Oder gehen Sie voraus, Miss Pinch; bleiben wir nicht länger hier an der Türe stehen.«

Immer noch zögerte Tom, denn er fühlte sich sehr unbehaglich, aber Cherry drängte sich an ihm vorüber und führte seine Schwester die Treppe hinauf. Da fast gleichzeitig die Türe hinter ihnen ins Schloß fiel, so folgte er, immer noch nicht mit sich im reinen, ob er gut daran tue oder nicht.

»Gratia, mein Schatz«, rief Miss Pecksniff, rasch die Türe des Gesellschaftszimmers öffnend; »es ist Besuch für dich angekommen: Mr. Pinch und seine Schwester. – Ah, ich dachte mir gleich, daß Sie hier seien, Mrs. Todgers. – Nun, und wie geht es denn Ihnen, Mrs. Gamp? Und was machen Sie, Mr. Chuffey? – Wenn ich auch weiß, daß man von Ihnen keine Antwort kriegt«, setzte sie halblaut hinzu.

Nachdem sie jeden der Anwesenden mit einem sauern Lächeln beehrt, stellte sie Mr. Moddle vor.

»Ich glaube, du hast ihn früher einmal gesehen«, bemerkte sie scherzend. »Augustus, mein Liebling, bitte, bringen Sie mir einen Stuhl.«

Der »Liebling« tat, wie ihm geheißen, und war eben im Begriff, sich in eine Ecke zurückzuziehen, um wiederum in tiefste Trauer zu versinken, als Miss Charitas ihn mit hörbarem Flüstern ihr »kleines Lämmchen« nannte und ihm die Erlaubnis erteilte, näher zu kommen und sich an ihre Seite zu setzen.

Mr. Moddle war jedoch so trostlos, daß er nicht einmal einen Entzückensschauer zu empfinden schien, als Charitas ihre Lilienhand in die seinige legte und diesen Beweis ihrer Gunst schamhaft dadurch vor den Blicken der Profanen verbarg, daß sie die beiden verschlungenen Hände mit einem Zipfel ihres Schals bedeckte. Er sah sogar womöglich noch melancholischer aus als sonst und blickte, voller Unbehagen und kerzengrade in seinem Stuhle sitzend, die Gesellschaft mit tränenfeuchten Augen an, als wolle er rufen: »Hilfe! Zu Hilfe! Will mir denn keine barmherzige Christenseele zu Hilfe kommen!«

Dagegen war das Entzücken Mrs. Gamps so außerordentlich, daß sie ganz gut ein Dutzend junger Liebhaber damit zur Genüge hätte ausstatten können, und es steigerte sich noch, als sie Tom Pinchs und seiner Schwester ansichtig wurde. Mrs. Gamp gehörte nämlich zu jenen glücklichen Temperamenten, die ohne jeden andern Grund als den bloßen Wunsch, sich einen zahlreichen und einträglichen Bekanntschaftskreis zu verschaffen, in Begeisterung geraten können. Täglich bespannte sie ihren Bogen mit so vielen neuen Saiten, daß allmählich eine vollständige Harfe daraus geworden war, und auf diesem Instrument begann sie jetzt ein ganz allerliebstes Konzert zu improvisieren.

»O mei«, rief sie. »Gnä Frau! Wie hätt i mir denkt, daß i in diesem gesegneten Haus Ihner Fräuln Schwester werd begrüßen können – leider gibt’s net vüll so gsegnete Häuser, und dös is schlimm; denn wenn’s net so war, so war dies Jammertal a Paradies. Und gar zu denken, daß i unter diesem gesegneten Dach Mr. Pinch zu sehn krieg! Und noch obendrein mit dem süßesten Geschöpf, wo mir je vorgekommen is. Sie natürlich ausgnommen, gnä Frau, und die Erwählte Ihres Herzens auch, Mr. Moddle, wenn ich so frei sein darf, das offen auszusprechen. Nix für ungut, meine Herrschaften, aber der Gedanke, daß i dies süße Gschöpf wiedersegn soll, das i kürzlich am Wasser troffen hab – nein, es is wirklich erstaunlich!«

Nachdem Sie auf diese Art glücklich jedes Mitglied der Gesellschaft in ihre Anrede mit einbegriffen hatte, knickste sie einige Male vor Ruth, schüttelte mindestens ein dutzendmal lächelnd den Kopf und nahm den Faden ihres Gesprächs wieder auf.

»Na, dös is der reinste Blumenkranz heut nachmittag. Ich hab a Freindin – i sag’s wie’s is, gnä Frau, und ihr Name is Harris – ihr Schwager war fünf Fuß drei Zoll hoch und hat aufm linken Arm an wilden Ochsen mit Krämpstiefeln eintätowiert ghabt. Weil seine unvergeßliche Mutter von an Ochsen in an Schuhmacherladen gjagt worden is, wie s‘ noch in der Sitawation gwesen is, wo sich a Ehemann Glück wünschen kann, wenn sei Weib drin is, wie i immer zu meinem seligen Mann gsagt hab, wenn’s an Wortwechsel zwischen uns gebn hat – von wegen die Haushaltungskosten –, und mehr als einmal hab i zu der Harris gsagt, liebe Harris, hab i gsagt, na, a Gsicht haben S‘ rein wie a Engel; und wenn s‘ net so viel Pickel und Blatternarben im Gfries ghabt hätt, wär’s wahrhaftig wahr gwesen. – ›Na, liebe Sarah‹, hat s‘ nachher gsagt, ›wenn’s a hart arbeitends und fleißigs Gschöpf gibt, wo schlecht auf der Welt bezahlt wird, so sind Sie’s. Der Harris hat mein Gsicht vor der Hochzeit für vier und a viertel Krone malen lassn‹, hat’s gsagt, ›und hat’s so lang am Herzen tragn, bis d‘ Farb abgangn is, und nachher habns ihm ’s Geld net mehr zrückgeben, und zu an Ausgleich is ’s a net kommen. Aber nie hat er gsagt, daß dös des Gsicht von an Engel is, wenn er sich’s auch leicht dacht haben mag.‹ – Wenn jetzt der Mann von der Harris da war«, fuhr Mrs. Gamp mit einem Blick in der Runde fort und knickste lächelnd, »so möcht er sicher grad raus sagen, dös is a Gsicht von an Engel, und sei liabe Frau war die letzte, wo’s ihm übel nehmen tat; denn wenn’s je a Weib auf Erden geben hat, wo ka Idee hat, was es heißt, zu wünschen, ane, die schöner is, mit an Löffel Wasser zu vergiften, und die nie kann Grund net dazu ghabt hat, weil ihr Mann immer der beste Mensch von der Welt gwesen is, so können S‘ Ihna drauf verlassen, die heißt Harris.«

Mit diesen Worten begab sich Mrs. Gamp, die offenbar im Hause Chuzzlewit vorgesprochen hatte, um sich zu einem Tee einzuladen, und nicht etwa, um als Krankenwärterin zu fungieren, zu Mr. Chuffey, der wie immer in seiner Ecke saß, und rüttelte ihn am Arm.

»Raffen S‘ Eana auf und schaugns amal, wer alles da is«, rief sie. »Segn S‘ denn die Gsellschaft net?«

»Es tut mir leid«, stotterte der Greis und blickte demütig auf, »ich weiß, ich bin überall im Wege, ich bitte um Verzeihung, aber ich weiß nicht, wohin ich mich zurückziehen soll. Wo ist sie?«

Sofort stand Gratia auf und ging zu ihm hin.

»Ah« flüsterte der alte Mann und tätschelte ihr die Wangen, »da ist sie; da ist sie. Sie ist niemals hart gegen den armen alten Chuffey – den armen alten Chuffey.«

Gratia ließ sich auf einen niedrigen Schemel neben den alten Mann nieder, so daß er ihre Hand fassen konnte, und sah dann plötzlich zu Tom auf. Es war ein wehmütiger Blick, den sie ihm zuwarf, wenn auch ein mattes Lächeln über ihr Gesicht huschte. Es war ein sprechender Blick, und Tom verstand, was sie damit sagen wollte:

»Da siehst du, wie mich das Elend verändert hat. Ich bin jetzt imstande, die Leiden eines armen Menschen mitzufühlen, und lege Wert auf seine Liebe.«

»Ja, ja«, rief Chuffey, als wolle er sie beschwichtigen, »ja, ja, lassen Sie es nur gut sein. Es ist hart zu ertragen, aber kehren Sie sich nicht an ihn. Er wird eines Tages sterben. Es gibt dreihundertfünfundsechzig Tage im Jahr – und dreihundertsechsundsechzig, wenn ein Schaltjahr ist – und er kann an einem davon plötzlich sterben.«

»Is dös aber a zwidrer Mensch«, murmelte Mrs. Gamp, Chuffey aus einiger Entfernung mit ungnädigen Blicken betrachtend, während er fortfuhr, vor sich hin zu flüstern. »Auch den Gduldigsten möcht da die gute Laune verlassen.«

»Sein Sohn«, murmelte der alte Mann und erhob seine Hände, »sein Sohn!«

»Na ja, natürlich«, fuhr Mrs. Gamp ärgerlich auf. »Werdn S‘ net bald aufhörn? Was wissen denn Sie von Söhnen und Töchtern? Nächstens werdn S‘ gar noch dummes Zeug über Zwillinge daher reden; da möcht i aber schon bitten.«

Der entrüstete Sarkasmus, den Mrs. Gamp in diese Hohnesworte mischte, ging an dem ahnungslosen alten Buchhalter spurlos vorüber. Es war klar, daß er sie ebensowenig hörte, wie er sich bewußt war, bei ihr Anstoß erregt zu haben. Die hochherzige Hebamme war jedoch nicht so leicht zu beruhigen – empfand sie doch jeden Eingriff in ihre Geschäftssphäre auf das tiefste und bildete sich ein, Mr. Chuffey habe sich Prophezeiungen über künftige Sprößlinge Mrs. Gratias erlaubt, die lediglich von ihr, als der einzigen gesetzlichen Autorität, ausgehen durften, oder wenigstens unter keinen Umständen ohne ihre Sanktion und Zustimmung proklamiert werden sollten. Sie fuhr daher fort, Mr. Chuffey feindselige Blicke zuzuwerfen und ihn mit im gedämpften Tone vorgetragenen ironischen Bemerkungen zu verhöhnen, die ihre nur mühsam unterdrückte Entrüstung bekundeten. Erst, als der Tee serviert wurde, kam sie wieder zu sich und schickte sich an, auf Mrs. Chuzzlewits Bitte an einem Seitentisch für die so unerwartet gekommenen Gäste Tee zu bereiten. Dann lächelte sie wieder und verrichtete ihren Dienst mit ganz besonderer Leutseligkeit.

»Dös is a Familie«,rief sie, »für die man mit Leib und Seele an Tee kochen kann. Heda«, wendete sie sich zu dem Dienstmädchen, »vielleicht hat eins oder das andre Lust, a frischs Ei oder zwei zu versuchen, wenn’s net zu hart gekocht sin; und a paar Platten Brotschnitten mit Butter, ober ohne Krusten, falls eins schwache Zähn hat, möchten a nix schaden.

Ja, ja, gnä Frau, mei Mann hat, wie er noch glebt hat, sich bei so was amal vier Zahn ausbissn – zwoa Backenzahn und zwoa vordere –, und die Harris hat’s zum Andenken mitgnommen und trägt’s noch heutigen Tags in der Taschn und dazu a Stück Ingwer und a kleins Reibeisel, so groß wie a Kinderschuch, und an kleinen Löffel zum Einnehmen von Muskatnuß, dös is das beste, hab i immer gsagt, für a Kraftsuppen.«

Der Privilegien an dem Seitentischchen waren ziemlich viele. Mrs. Gamp hatte nicht nur das Vorrecht, den Butterschnitten am nächsten zu sitzen, zwei Tassen Tee zu trinken, während ein andrer bloß eine trank, sondern sie war auch imstande, die ganze Gesellschaft zu überblicken und wie von einer Rednerbühne herab zu apostrophieren; und dieses ihr anvertrautes Amt verwaltete sie denn auch mit berückender Liebenswürdigkeit und in bester Laune. Die Untertasse auf der ausgestreckten Hand haltend und mit dem Ellenbogen auf den Tisch gestützt, pausierte sie zuweilen mit Teetrinken und beglückte die Gesellschaft mit einem Lächeln, einem Augenzwinkern, einem Kopfschütteln oder andern Zeichen ihrer Gunst, und in solchen Momenten leuchtete ihr Gesicht vor geistiger Regsamkeit, rein als ob sie nicht Tee, sondern Branntwein tränke.

Ohne sie wäre die Gesellschaft mehr als einsilbig gewesen. Miss Pecksniff sprach nur mit ihrem »Augustus« und auch das nur im Flüsterton. Augustus seinerseits sagte überhaupt nichts, sondern seufzte für alle Anwesenden und gab sich gelegentlich einen so schallenden Klaps vor die Stirn, daß Mrs. Todgers jedesmal ängstlich und nervös mit einem leisen Schrei unwillkürlich in die Höhe fuhr. Sie strickte nämlich und sprach ebenfalls sehr selten. Die arme Gratia hielt die Hand der fröhlichen kleinen Ruth in der ihrigen und horchte mit sichtlichem Vergnügen auf alles, was Ruth sagte, obgleich sie selbst nur selten sprach und nur bisweilen lächelte, Miss Pinch auf die Wange küßte oder sich von Zeit zu Zeit abwandte, um die Tränen zu verbergen, die ihr in den Augen standen. Tom empfand die Veränderung, die mit ihr vorgegangen war, so tief und freute sich so sehr, zu sehen, wie zärtlich seine Schwester die arme Frau zu behandeln wußte, daß er nicht den Mut hatte, an einen Aufbruch zu denken, obgleich er längst mit seinem Berichte fertig war, dessentwillen er das Haus Chuzzlewit besucht hatte.

Währenddessen saß der greise Buchhalter in seinem gewöhnlichen Zustand still und stumm da, ganz in Träume versunken, die kaum die Oberfläche seiner trägen Gedanken zu bewegen schienen. Wahrscheinlich brachte er ihren Gang mit dem stummen Schmause, der um ihn her stattfand, in Verbindung, oder irgendein auftauchender Rückblick an ähnliche Verschwendungsszenen der Vergangenheit, deren Zeuge er gewesen, brachte seinen Geist auf eine seltsame Frage, denn er blickte plötzlich umher und rief:

»Wer liegt droben tot?«

»Niemand«, sagte Gratia, »was gibt es denn? Wir sind doch alle hier.«

»Alle hier«, echote der alte Mann, »alle hier! Aber wo ist denn er – mein alter Herr, der nur einen einzigen Sohn hat? Wo ist er?«

»Still, still«, beruhigte ihn Gratia freundlich; »das ist doch längst alles vorüber. Erinnern Sie sich denn nicht?«

»Erinnern«, wiederholte der alte Mann mit einem Weheruf. »Als ob ich’s vergessen könnte! Als ob ich’s je vergessen könnte!«

Einen Augenblick schlug er die Hände vors Gesicht und wiederholte dann wieder, wie vorhin, geistesabwesend umherstarrend:

»Wer liegt oben tot?«

»Niemand«, sagte Gratia abermals.

Ein Zornesblick durchzuckte die Mienen Mr. Chuffeys, grimmig sah er sie an, wie einen Feind, der ihn hintergehen wollte, dann, als er sie erkannte, schüttelte er traurig und mitleidig den Kopf. »Sie glaubt es nicht – aber man sagt es ihr auch nicht«, murmelte er. »Nein, nein. Armes Ding. Man sagt es ihr nicht. Wer sind diese Leute hier und warum sind sie so fröhlich? Wenn nicht ein Toter hier wäre – ein schändliches Spiel – man sehe nach, wo er ist.«

Gratia winkte den übrigen heimlich, man möge nicht mit ihm reden (wozu übrigens niemand Lust hatte), und blieb auch selbst stumm. Chuffey schwieg gleichfalls eine Weile und wiederholte dann seine Frage mit einer Hast, die etwas Grauenhaftes an sich hatte:

»Wer liegt oben tot? Es ist jemand tot oder liegt im Sterben. Ich will wissen, wer es ist. Man sehe nach. Wo ist Jonas?«

»Verreist«, antwortete Gratia leise.

Der alte Mann blickte sie voller Zweifel an, als glaube er ihr nicht oder habe sie nicht verstanden. Dann erhob er sich mühsam von seinem Stuhl, schlich durchs Zimmer und klomm die Treppe empor, immerwährend vor sich hinflüsternd: »Schändliches Spiel.« Man hörte ihn oben nach der Ecke des Zimmers gehen, wo einst das Bett gestanden hatte, in dem der alte Anthony gestorben war. Gleich darauf verrieten seine Fußtritte, daß er wieder herunterkam. Seine Phantasie war offenbar nicht so stark oder nicht so erregt, als daß sie ihn in der leeren Schlafkammer hätte etwas sehen lassen, was nicht dort war, denn er kam viel ruhiger zurück und schien beschwichtigt.

»Ihr sagen sie nichts«, murmelte er mit einem Blick auf Gratia, nahm wieder Platz und strich ihr mit der Hand leise über das Haar. »Man sagt auch mir nichts, aber ich will wachen – ich will wachen. Sie sollen ihr nichts tun. Fürchte dich nicht. Hast du die Nächte aufgesessen und gewacht? Ich auch. – – Ja, ja, das habe ich so manche Nacht getan«, stöhnte er hervor und versuchte mühselig seine schwache abgezehrte Hand zu ballen.

Er sagte dies alles mit so zitternder Stimme, atemlos nach Luft schnappend, und Gratia so dicht ins Ohr, daß die Gesellschaft nichts oder nur wenig davon verstand. Doch hatte man schon genug gesehen und gehört, um immerhin unruhig zu werden. Die Gäste verließen ihre Sitze und sammelten sich um ihn, während Mrs. Gamp, deren abgehärtete Nerven nicht so leicht imitiert werden konnten, die Gelegenheit ersah, ihre ganze Aufmerksamkeit auf die Butterschnitten, den Tee und die Eier zu konzentrieren. Sie hatte schon bisher diesen Speisen gegenüber soviel Energie entfaltet, daß ihre Wangen bereits lebhaft glühten. Als sie dann glücklich das letzte Schlückchen Tee hinuntergestürzt hatte, hielt sie es für angemessen, auch ein Wort mit dreinzureden.

»Sie Sapperlot Sie«, rief sie, »was sind das wieder für Manieren! Sie brauchatn an Krug kalts Wasser übern Kopf, damit Sie zur Besinnung kommen. Wenn die Prig Sie unter die Hand hätt, wär dös schon längst gschegn, dös kann i Ihna versichern. Spanische Fliegen sin des Beste, um Ihna den Unsinn ausm Kopf ztreiben, und wann Ihna jemand wohl will, soll er Ihna a Blasenpflaster aufn Schädel oder an Senfteig aufn Buckel schmieren. Wer is tot, was? Ich glaub, es war ka bsonderer Schadn, wann mer dös von aner gewissen Person sagen möcht.«

»Er ist jetzt ruhig, Mrs. Gamp«, sagte Gratia leise; »stören Sie ihn nicht.«

»Er is a alter Dickschädel, gnä Frau«, rief Mrs. Gamp in ihrem Eifer. »I, für mein Teil, hab ka Geduld mit so was. Sie lassen ihm vüll z‘ vüll seinen Willen. Er is a Dickschädel, sag i.«

Ohne Zweifel in der Absicht, unverzüglich irgendeinen heilsamen Prozeß an dem »Dickschädel« vorzunehmen, ergriff sie Mr. Chuffey am Rockkragen und schüttelte ihn ein paar dutzendmal tüchtig in seinem Stuhl vor- und rückwärts – denn die Anhängerinnen des Prigschen Systems, deren es unter den Damen vom Fach sehr viele geben soll, halten bekanntlich ein derartiges Verfahren für ungemein beruhigend und wohltätig für das Nervensystem. In dem gegebenen Falle äußerte sich die Wirkung dahin, daß der Patient viel zu betäubt und schwindlig wurde, um noch weiterreden zu können, was Mrs. Gamp offenbar als außerordentlichen Erfolg ansah.

»So!« sagte sie und lockerte die Halsbinde des alten Mannes, da er im Gesicht schon blau zu werden anfing. »Jetzt wird er schon wieder ruhiger werden. Wann er in Ohnmacht fallt, bring i ’n scho wieder zum Bewußtsein, dös versprech i Ihna. Man braucht ’n bloß in ’n Daumen beißen oder a bisserl die Finger zu verrenken, glei kommt er wieder zu sich«, erklärte sie im frohen Bewußtsein, medizinische Kenntnisse unter ihren Zuhörern zu verbreiten. Da Mr. Chuffey schon von früher her der Obhut dieser vortrefflichen Krankenpflegerin anvertraut worden, so wagten weder Mrs. Chuzzlewit noch sonst jemand gegen diese kuriose Behandlungsweise Widerspruch zu erheben, obgleich niemand, vor allem aber nicht Tom Pinch und seine Schwester, mit einer solchen Art von Krankenbehandlung einverstanden zu sein schien.

Aber der Laie ist nun einmal schon so: immer führt er Herzensgüte und dergleichen ins Treffen, statt diejenigen walten zu lassen, die in solchen Fällen Erfahrung haben müssen.

»Da sehen Sie, Mr. Pinch«, nahm Miss Pecksniff wieder einmal das Wort, »das sind jetzt die Folgen dieser unglückseligen Heirat. Wäre meine Schwester nicht so übereilt gewesen und hätte sie diesem Elenden nicht ihr Wort gegeben, so gäbe es jetzt keinen Mr. Chuffey im Hause.«

»Still«, flüsterte Tom, »sie könnte es hören.«

»Das täte mir sehr leid, Mr. Pinch«, erwiderte Cherry nur um so lauter, »denn es ist nicht meine Art, jemanden noch mehr betrübt zu machen, als er sowieso schon ist. Ich weiß wahrhaftig, wie ich als Schwester zu handeln habe, Mr. Pinch, und glaube es auch schon bewiesen zu haben. Ach, Augustus, lieber Freund, bitte holen Sie mir doch mein Taschentuch.«

Augustus gehorchte und nahm dann Mrs. Todgers beiseite, um ihr seinen Gram auszuschütten.

»Wahrhaftig, Mr. Pinch«, fuhr Charitas mit einem Blick auf ihren Bräutigam fort und schielte dabei nach ihrer Schwester hin, »wahrhaftig, ich habe allen Grund, dem Himmel dankbar zu sein für mein gegenwärtiges Glück und den häuslichen Segen, der mich noch erwartet. Wenn ich einen Vergleich anstelle zwischen Augustus« – sie tat plötzlich sehr bescheiden und verlegen – »der, vor Ihnen darf ich’s ja sagen, die Sanftmut, Milde und Ergebenheit selbst ist, mit dem abscheulichen Menschen, den meine Schwester geheiratet hat; und wenn ich mir vor Augen halte, Mr. Pinch, wie leicht es gerade umgekehrt hätte kommen können, so habe ich wahrhaftig allen Grund, dankbar, zufrieden und demütig zu sein.«

Zufrieden war sie vielleicht, aber demütig gewiß nicht. Ihr ganzes Wesen bekundete so wenig Demut, daß sogar Tom in seiner Arglosigkeit anfing, ihre ganze Tücke zu durchschauen und zu verachten. Er wendete sich ab und bedeutete Ruth, es sei jetzt höchste Zeit zum Aufbrechen.

»Ich werde Ihrem Gatten schreiben«, wendete er sich an Gratia, »und ihm schriftlich auseinandersetzen – was ich mündlich getan haben würde, wenn ich ihn hier getroffen hätte –, daß die Schuld nicht an mir lag, wenn er durch meine Vermittlung in Ungelegenheiten kam. Ein Postbote kann nicht unschuldiger an der Botschaft sein, die er überbringt, als ich an jenem Brief, den ich ihm damals einhändigte.«

»Ich danke Ihnen«, sagte Gratia. »Schreiben Sie ihm nur. Vielleicht ist es am besten so. – Und der Himmel behüte Sie.«

Sie nahm eben zärtlich Abschied von Ruth, die mit ihrem Bruder das Zimmer verlassen wollte, als man die Haustüre aufsperren und gleich darauf einen raschen Schritt auf dem Gang hörte. Tom blieb verdutzt stehen und blickte Gratia fragend an.

»Es ist Jonas«, sagte sie schüchtern.

»Vielleicht ist es besser, wenn ich ihm nicht auf der Treppe begegne«, sagte Tom, zog den Arm seiner Schwester durch den seinigen und trat einige Schritte zurück. »Ich will hier einige Augenblicke auf ihn warten.«

Kaum hatte er dies ausgesprochen, als Jonas auch schon eintrat. Seine Gattin eilte ihm entgegen, aber er stieß sie von sich und brummte mürrisch:

»Ich habe nicht gewußt, daß du Gesellschaft hast.«

Sofort erhob sich Miss Pecksniff, die er bei diesen Worten entweder zufällig oder absichtlich anblickte, innerlich frohlockend, eine so günstige Gelegenheit zu haben, Unfrieden stiften zu können.

»Ach Gott«, höhnte sie, »wir wollen Sie in Ihrem häuslichen Glück durchaus nicht stören. Das wäre unverantwortlich von uns. Wir haben hier in Ihrer Abwesenheit einen Tee genommen, aber wenn Sie die Güte haben wollten, uns eine quittierte Rechnung über die Kosten zugehen zu lassen, so werden wir uns glücklich schätzen, die Unkosten zu bezahlen. Augustus, lieber Freund, gehen wir vielleicht, wenn es Ihnen gefällig ist. Und auch Sie, Mrs. Todgers, könnten mit uns gehen, außer Sie wünschten, hier zu bleiben. Es wäre höchst unangebracht von uns, das Glück zu stören, das dieser Herr stets um sich verbreitet, besonders in seinem eigenen Heim.«

»Cherry! Cherry!« flehte Gratia in herzzerreißenden Tönen.

»Liebe Gratia, ich bin dir für deinen guten Rat höchst verbunden«, entgegnete Miss Pecksniff spöttisch und hochmütig – »aber ich bin nicht seine Sklavin –«

»Nun ja, weil die Trauben zu sauer waren«, unterbrach sie Jonas; »wir kennen das.«

»Was haben Sie da gesagt, Sir?« rief Miss Pecksniff scharf.

»Haben Sie’s vielleicht nicht gehört«, höhnte Jonas und warf sich in einen Sessel. »Zweimal sagen werde ich’s Ihnen wahrhaftig nicht. Wenn Sie übrigens bleiben wollen, so können Sie’s tun, und wollen Sie gehen, so ist’s auch recht. Aber im ersteren Falle muß ich mir Höflichkeit ausbitten.«

»Elender Kerl«, gellte Miss Pecksniff an ihm vorüberfegend. »Augustus, er ist nicht würdig, daß wir ihm antworten! Kümmern Sie sich nicht um ihn« – Augustus hatte nämlich einen schwachen Versuch geheuchelt, die Fäuste zu ballen. »Kommen Sie, lieber Freund«, kreischte sie im schrillsten Diskant, »ich befehle es Ihnen.«

Augustus hatte sich nämlich zu dem Entschluß aufgerafft, umzukehren und Mr. Chuzzlewit am Kragen zu packen. Aber Miss Pecksniff gab ihm einen Stoß vor die Brust, Mrs. Todgers folgte ihrem Beispiel, und so polterten sie denn alle drei zum Zimmer hinaus, wobei die schöne Braut unentwegt gellende Verwünschungen ausstieß.

Bis jetzt hatte Jonas weder Tom noch seine Schwester erblickt, denn sie standen fast hinter der Türe, als er diese geöffnet hatte, und er war, als er sich niedersetzte, mit dem Rücken gegen sie gekehrt gewesen und hatte während seines Wortwechsels mit seiner Schwägerin seine Blicke absichtlich nach der andern Seite der Straße gerichtet, um durch diese affektierte Gleichgültigkeit den Grimm der jungen Dame noch zu steigern. Gratia stammelte jetzt, Mr. Pinch habe auf ihn gewartet, und Tom trat daraufhin sofort vor.

Mit einem wilden Fluch sprang Jonas von seinem Sessel auf und packte die Lehne, als wolle er seinen Gast damit zu Boden schlagen. Wut und Überraschung lähmten ihn jedoch einen Augenblick, und Tom, der ruhig stehen blieb, hatte dadurch Gelegenheit, zu sprechen.

Jonas war zu wütend, um auch nur ein Wort hervorbringen zu können. Er stampfte mit dem Fuß auf den Boden, deutete zur Türe und murmelte etwas, das so klang wie: »Hinaus!«

»Sie haben durchaus keinen Grund, sich so aufzuregen, Sir«, begann Tom gelassen. »Sie werden es vielleicht nicht glauben wollen, aber dennoch bin ich in der Absicht hier, lediglich einen Vorfall aufzuklären und ein Mißverständnis aus der Welt zu schaffen. Im übrigen ist es mir ganz gleichgültig, wie Sie mich aufnehmen. Wenn Sie nicht ganz von Sinnen sind, so hören Sie mir jetzt zu. – – Also, ich übergab Ihnen neulich einen Brief, während Sie eben im Begriffe standen, England zu verlassen.«

»Jawohl, Sie Hund, das haben Sie getan«, knirschte Jonas, »und ich werde Ihnen schon eines Tages den Botenlohn bezahlen und dabei noch obendrein eine alte kleine Rechnung ausgleichen.«

»Beruhigen Sie sich«, versetzte Tom, »es ist überflüssig, daß Sie solche unnützen Drohungen ausstoßen. Ich wünsche nur, daß Sie mich anhören. Bloß, weil ich mir Sie und alles, was Sie betrifft, drei Schritte vom Leibe halten will, und nicht etwa aus Furcht vor Ihnen. Ich fürchte mich durchaus nicht vor Ihnen. – Ich wollte Ihnen nur sagen, daß ich mit dem Inhalt Ihres Briefes nicht das geringste zu schaffen habe, nichts davon weiß und nicht einmal wußte, daß das Schreiben an Sie adressiert war. Ich habe es von – –«

»Zum Teufel«, fuhr Jonas auf, erhob den Stuhl und schwang ihn drohend über seinem Kopf, »noch ein Wort, und ich schlage Ihnen den Schädel ein.«

Als sich jedoch Tom nicht einschüchtern ließ und sich anschickte, ruhig in seiner Rede fortzufahren, fiel ihn Jonas wie ein Rasender an und hätte ihn sicherlich verletzt, da Tom gänzlich wehrlos und durch seine ängstliche Schwester am Arm nur noch mehr gehindert war, sich zu verteidigen, wenn sich nicht Gratia zwischen die beiden geworfen und Tom um Gottes willen angefleht hätte, das Haus zu verlassen. Die Seelenangst der armen Frau, das Entsetzen Ruths, die Unmöglichkeit, sich verständlich zu machen, und der vergebliche Kampf gegen Mrs. Gamp, die sich, weich wie ein Federbett, auf ihn geworfen hatte und ihn durch das bloße Gewicht ihres Leibes zur Türe drängte, trugen endlich den Sieg davon. Tom schüttelte den Staub dieses Hauses von seinen Schuhen und verließ es, ohne daß Nadgetts Name über seine Lippen gekommen war.

Hätte Jonas diesen Namen gehört und so erfahren, wer ihm insgeheim nachspürte, wäre er wahrscheinlich vor der Missetat bewahrt geblieben, die er seit einiger Zeit im Schilde führte. So grub er sich selbst seine Grube, und die seelische Finsternis, die ihn umgab, war sein eigenes Werk.

Gratia hatte inzwischen die Türe geschlossen und sich vor ihm auf die Knie geworfen. Mit gefalteten Händen bat sie ihn um Verzeihung und flehte ihn an, sie nicht zu mißhandeln; denn nur aus Furcht, es hätte zu Blutvergießen kommen können, habe sie sich eingemischt.

»So«, keuchte Jonas, tief Atem holend, und blickte finster auf sie nieder. »Das also sind deine Freunde und dein Verkehr, wenn ich fort bin! Mit solchem Volk gibst du dich ab, um gegen mich zu intrigieren!«

»Nein, nein, gewiß nicht«, jammerte Gratia, »ich weiß gar nichts von allen diesen Geheimnissen und ahne auch nicht, was da alles vorgeht. Seit ich meine Heimat verlassen, habe ich Pinch, heute ausgenommen, nur ein einziges Mal gesehen. Nein, zweimal, daß ich nicht lüge.«

»Oho«, höhnte Jonas, »ein- oder zweimal, was? Was willst du damit sagen? Zweimal und einmal wahrscheinlich – also vielleicht dreimal? Und wievielmal noch außerdem, du lügenhafte Kröte.«

Hastig wich Gratia zurück, denn er holte zum Schlage aus. Es war eine vielsagende Gebärde voll grausamer Wahrheit.

»Wievielmal außerdem?« wiederholte er.

»Niemals; nur heute und dann kürzlich und außerdem noch ein einziges Mal.«

Jonas war eben im Begriff, eine heftige Erwiderung zu geben, als die Uhr schlug. Er fuhr zusammen, hielt inne und lauschte. Offenbar fiel ihm ein, daß er irgendwohin bestellt sei – vielleicht war’s auch ein Geheimnis, von dem nur er wußte und an das ihn der rasche Lauf der Zeit erinnerte.

»Was bleibst du da am Boden liegen – steh auf!« knurrte er.

Nachdem er Gratia aufstehen geholfen oder sie vielmehr am Arm in die Höhe gerissen hatte, fuhr er fort:

»Hör mich jetzt an, Weibsbild, und winsle nicht, wenn du keine Ursache dazu hast, oder ich will dir einen wirklichen Anlaß dazu geben. Wenn ich diesen Halunken noch einmal in meinem Hause treffe oder merke, daß du ihn irgendwo gesehen hast, so wirst du es mir büßen. Wenn du nicht taub und stumm für alles und jedes bist, was mich betrifft, ohne daß ich dir ausdrücklich erlaube, zu hören und zu sprechen, so sollst du es schwer bereuen. Gehorchst du mir nicht in allem und jedem unbedingt und aufs Wort, so ist’s aus mit dir! Und jetzt höre: wieviel Uhr ist es?«

»Es hat vor einer Minute acht geschlagen.«

Er faßte sie scharf ins Auge und sagte mit einer gewissen Anstrengung, als ob er die Worte vorher genau auswendig gelernt hätte:

»Ich bin Tag und Nacht durchgefahren und sehr ermüdet. Überdies habe ich Geld verloren, und das stimmt mich auch nicht besser. Stelle mir mein Nachtessen unten in das kleine Zimmer und laß mein Feldbett zurechtmachen. Ich werde heute nacht unten schlafen, vielleicht auch morgen nacht. Und wenn ich morgen den ganzen Tag schlafen kann, um so besser. Ich habe Sorgen, die ich zu verschlafen wünsche. Und daß es im Hause ruhig bleibt, daß mich niemand stört! – Verstanden?«

Bebend versprach Gratia, es solle alles geschehen, wie er es wünsche, und fragte, ob das alles sei.

»So? Fragst du schon wieder und spionierst«, fuhr Jonas auf. »Was wünschest du noch zu wissen!«

»Ich brauche ja nichts mehr zu wissen, Jonas, als was du mir sagst. Jede Hoffnung, daß jemals Einvernehmen zwischen uns bestehen könnte, habe ich doch längst aufgegeben.«

»Na, das will ich hoffen«, murmelte er.

»Aber wenn du mir deine Wünsche nennst, so will ich gehorchen und gewiß alles tun, um dich zufriedenzustellen. Ich mache mir ja kein Verdienst daraus – ich habe doch keinen Freund, weder an meinem Vater noch an meiner Schwester. Ich bin doch gänzlich verlassen. Du hast gesagt, du wollest meinen Stolz brechen, und das ist dir, weiß Gott, gelungen. Brich mir nicht auch noch das Herz.«

Schüchtern wagte sie es, Jonas die Hand auf die Schulter zu legen. Er duldete es mit innerlichem Jubel, und seine ganze niedrige erbärmliche Seele lag in diesem Moment in seinen Blicken.

Aber nur eine Sekunde. Dann erinnerte er sich wieder an das Geheimnis, das ihn so sichtlich bedrückte, und er befahl ihr in mürrischem Ton, ihren Gehorsam dadurch zu beweisen, daß sie ohne Verzug seine Befehle erfülle. Als sie draußen war, ging er in der Stube auf und ab, immer noch instinktiv die rechte Faust geballt. Dann warf er sich in einen Stuhl, schlug grübelnd den Ärmel seines rechten Armes zurück, als wolle er seine Muskeln prüfen, aber auch dann noch hielt er die Faust geballt.

Immer noch saß er brütend da, die Augen zu Boden geschlagen, als Mrs. Gamp eintrat, um ihm zu melden, daß die Stube hergerichtet sei. Da sie nicht ganz sicher war, wie er sie nach ihrer Einmischung in den Streit aufnehmen würde, heuchelte sie, um sich bei ihm einzuschmeicheln, eine tiefe Besorgnis für Mr. Chuffey.

»Wie geht es ihm denn?« fragte sie.

»Wem?« rief Jonas, blickte auf und starrte sie verständnislos an.

»Jessa na«, rief die würdige Dame lächelnd und knickste. »Wo i nur wieder mein Kopf hab! Sie sind ja gar net hier gwesen, wie er wieder so kurios gwesen is. In mein ganzen Leben hab i so was net gsegn, ausgnommen vielleicht bei an Patienten grad vor an Jahr, der seines Zeichens a Zollaufseher gwesen is und akurat a so gheißen hat wie der Harris ihr eigener Vater – und gsungen hat er, sag i Ihna, und pfiffen, so was habn S‘ in Ihrem ganzen Leben noch net ghört. A Stimm hat er ghabt wie a Maultrommel im Baß, und sechs Leut habn eahm halten müssen, wann er sein Anfall kriegt hat.«

»Hem – Chuffey«, brummte Jonas gleichgültig und warf einen Blick in die Ecke, wo der alte Buchhalter saß. »Na ja.«

»An Kopf hat er, a so heiß«, fuhr Mrs. Gamp fort, »daß mer a Bügeleisen dran wärmen kunnt. Da is’s freilich ka Wunder, wann mer denkt, was der für Zeug zsammgredt hat.«

»Was hat er denn gesagt?« fragte Jonas.

Mrs. Gamp legte die Hand aufs Herz, als wollte sie das ungestüme Wesen in ihrem Busen zügeln, schlug die Augen gen Himmel auf und lispelte mit schwacher Stimme:

»Schauderhafte Sache, gnä Herr. Die schauderhaftesten Sachen, wo i nur jemals ghört hab. Der Harris ihr Vater net amal hat so was gsagt, wann er an Anfall ghabt hat. Na ja, die anen reden halt und die andern wieder net; – außer, wann er wieder zu sich kommen is, da hat er jedsmal gfragt: Wo is denn die Gamp? Aber i sag Ihna, gnä Herr, wenn der da im Eck amal zfragen anfangt. Wer liegt tot dort oben, nacher – –«

»Wer liegt tot dort oben?« wiederholte Jonas, entsetzt auffahrend.

Mrs. Gamp nickte.

»›Wer liegt tot dort oben‹ – dös sagt er in aner Tour, und ›wo is mein alter Herr, der nur einen einzigen Sohn hat‹, und nacher steht er auf und schaugt in alle Betten und hatscht in alle Zimmer umanand, und nacher kommt er wieder runter und sagt so was wie: ›schnödes Spiel‹ und setzt sich wieder. Wahrhaftig, gnä Herr, dös greift mich a so an, daß i mi immer nur mit an Schlückerl Branntwein aufrechterhalten kann. Sonst rühr i so was niemals nicht an, aber wissen muß i halt immer, wo was zu finden is, falls mich die Lust danach umwandelt; denn unsereins kann nie wissen, was passiert. In dem irdischen Jammertal geht oft alles drunter und drüber.«

»Der alte Narr ist toll«, murrte Jonas verstört.

»Segn S‘, dös sag i a immer!« rief Mrs. Gamp. »I sag’s wie’s is. Wenn i so frei sein derf, mir a Bemerkung zu erlauben, so glaub i, der alte Mann hat a Aufsicht nötig – i sag’s wie’s is –, und mer sollt eahm net zu viel Freiheit lassen, damit er die gnä Frau net a so ängstigen tut.«

»Ach Gott, wer kümmert sich denn um sein Geschwätz!« versetzte Jonas.

»Aber die gnä Frau tut sich doch deshalb beunruhigen«, beharrte Mrs. Gamp auf ihrer Ansicht. »Kehren tut sich ja niemand an ihn, aber er is und bleibt a große Unannähmlichkeit.«

»Donnerwetter noch mal, da haben Sie recht«, rief Jonas und blickte argwöhnisch nach Chuffey hin. »Ich habe längst so halb und halb im Sinn, ihn einsperren zu lassen.«

Mrs. Gamp rieb sich die Hände, lächelte, nickte mit dem Kopf und schnüffelte ausdrucksvoll in der Luft, als wittere sie ein Geschäft.

»Vielleicht könnten Sie den wahnsinnigen Narren in irgendeinem leeren Zimmer oben bewachen, was?« fragte Jonas.

»I und a Freundin von mir könnten’s ja abwechselnd machen, gnä Herr«, meinte die Krankenwärterin. »Unsre Rechnungen sin niemals nicht hoch, aber, weil wir uns ja jetzt schon so guat kennen, würden’s wir vielleicht noch billiger machen. Ich und die Prig, gnä Herr, würden den alten Mann gwiß anständig verpflegen und alles zur Zufriedenheit besorgen. Die Prig hat scho viele Mondsüchtige gwaschen und kennt sich aus bei so was wie kane zweite nöt.«

Abermals ging Jonas im Zimmer auf und ab und warf von Zeit zu Zeit verstohlene Blicke auf den alten Buchhalter. Dann blieb er stehen und sagte:

»Ich sehe schon, ich muß ein Auge auf ihn haben, sonst richtet er noch, weiß Gott, ein Unheil an. – Was meinen Sie dazu?«

»Nix is wahrscheinlicher als dös«, bestätigte Mrs. Gamp. »O mei, so was hab i schon oft gnua an mir selber erfahren.«

»Also gut, dann sorgen Sie vorderhand für ihn, und – sagen wir mal – heute über drei Tage soll die andere Wärterin herkommen. Wir werden dann trachten, handelseins zu werden. Sagen wir mal – ungefähr um neun oder zehn Uhr abends? – Beobachten Sie ihn in der Zwischenzeit gut und sprechen Sie nicht weiter von der Sache. – Er ist toll wie ein Märzhase.«

»Noch vüll toller«, versicherte Mrs. Gamp. »Vüll vüll toller.«

»Also gut, dann sehen Sie nach ihm, und tragen Sie Sorge, daß er keinen Schaden anrichtet. Und vergessen Sie nicht, was ich Ihnen gesagt habe!«

Mrs. Gamp schickte sich an, alles, was ihr eingeschärft worden, nochmals zu wiederholen und zur Anempfehlung ihres außerordentlichen Gedächtnisses und ihrer Vertrauenswürdigkeit eine der hervorragendsten Äußerungen der berühmten Mrs. Harris anzuführen, aber Jonas ließ sie kurz stehen und ging hinunter in die kleine Stube, in der bereits alles für ihn bereitstand. Dort zog er Rock und Stiefel aus, stellte beziehungsweise hängte sie vor die Türe und schloß zu. Dabei vergaß er nicht, den Schlüssel so zu stellen, daß ihn kein Neugieriger durch das Schlüsselloch beobachten konnte. Erst als er diese Vorsichtsmaßregeln getroffen, setzte er sich zum Abendbrot nieder.

»Na, Mr. Chuff«, murmelte er, »wäre gar nicht so ohne, dich loszuwerden. Man soll nichts halb tun. Solange ich noch hier in England bin, sollst du mir hübsch stille sein; wenn ich fort bin, kannst du plappern, soviel du willst. – Aber es ist doch eine verdammte Geschichte« fluchte er, schob den unberührten Teller fort und ging wieder finster auf und ab, »daß er gerade jetzt mit seinen Faseleien wieder darauf kommt.«

Nachdem er das kleine Zimmer mehrmals von einem Ende zum andern durchmessen, warf er sich erschöpft in einen andern Stuhl.

»Ich sage ›jetzt‹, aber wer weiß, ob er den Unsinn nicht schon die ganze Zeit über getrieben hat. Alter Trottel! – Aber warte nur, ich werde dir schon das Maul stopfen.«

Wieder ging Jonas mit unruhigen Schritten auf und ab und setzte sich dann aufs Bett, das Kinn in die Hand gestützt, und starrte den Tisch an. Nachdem er eine ziemliche Weile so dagesessen, fiel ihm sein Abendbrot wieder ein. Er setzte sich abermals in den Stuhl, den er zuerst eingenommen gehabt, und begann mit großer Gier zu essen – nicht wie ein Hungriger, sondern wie ein Mensch, der es sich aus irgendeinem verzweifelten Grunde fest vorgenommen hat. Er trank auch, aber bisweilen hielt er mitten im Zuge inne und sprang dann wieder auf, um die Stube zu durchmessen, sich dann abermals an den Tisch zu stürzen und mit gieriger Hast über das Essen herzufallen.

Es wurde dunkel. Die Düsterkeit des Abends ging in Nacht über. Ein schwarzer Schatten wuchs empor und legte sich auf sein Gesicht und verwandelte langsam seine Züge. Langsam, langsam, schwarz und schwärzer werdend; – und immer hagerer und wilder wurden Jonas‘ Züge, und immer weiter und weiter griff die Veränderung um sich, bis es in und außer ihm finstere Nacht war.

Das Zimmer, in dem er sich eingeschlossen, lag an der Hinterseite des Hauses zu ebener Erde. Es war durch ein blindes Oberlichtfenster erhellt und hatte eine Türe in der Wand, die auf einen engen, überdeckten Gang hinausführte. Schon von sechs oder sieben Uhr abends an war dieser nur noch wenig besucht, und auch zu keiner Tageszeit wurde er häufig als öffentlicher Durchgang benützt, obgleich er in eine benachbarte Straße mündete.

Der Grund und Boden, auf dem dieses Zimmer stand, war in früherer Zeit, so ging das Gerücht, ein Friedhof gewesen, und man hatte es zu seinem jetzigen Gebrauch als eine Art Bureau eingerichtet und umgebaut. Welche Geschäfte vordem darin betrieben worden, konnte niemand sagen. Auch hatten Anthony Chuzzlewit und Sohn wenig Notiz davon genommen, und es diente nur bisweilen als eine Art Schlafzimmer für den Notfall und war vor langen Jahren von dem alten Buchhalter als Privatzimmer benutzt worden. Eher einem Keller als einer Stube gleichend, waren seine Wände fleckenweise mit Schimmel bewachsen, und durchlaufende Wasserröhren in den Mauern fingen oft plötzlich in der Nacht, wenn alles ruhig schlief, zu glucksen und zu gurgeln an, gerade als ob jemand ersticke.

Seit langer, langer Zeit war die in den Hof hinausgehende Türe nicht geöffnet worden, aber der Schlüssel dazu hing noch jetzt, wie seit vielen Jahren, an seinem Platze. Jonas schien angenommen zu haben, daß er rostig sein werde, denn er hatte eine kleine Ölflasche mit einer Federspule in der Tasche, mit der er jetzt Schlüssel und Schloß sorgfältig einschmierte. Aus übermäßiger Vorsicht hatte er zu diesem Zweck Rock und Stiefel ausgezogen. Leise schlich er sich jetzt ins Bett und wälzte sich darin ein wenig herum, damit es das Aussehen bekäme, als habe jemand darin geschlafen; und bei seinem an und für sich unruhigen Gemütszustand war dies bald geschehen.

Dann stand er wieder auf, nahm aus dem Mantelsack, den er beim Nachhausekommen sofort in das Zimmer hatte schaffen lassen, ein Paar grobe Stiefel, zog sie an, desgleichen ein Paar Lederhosen, wie sie die Bauern zu tragen pflegen, einen groben, dunklen Rock und einen Filzhut – seinen eigenen gewöhnlichen hatte er absichtlich im Zimmer oben gelassen –, und dann setzte er sich mit dem Schlüssel in der Hand an der Türe nieder und horchte.

Die Kerze war ausgelöscht. Langsam, langsam schwanden die Minuten. Die Meßnerknaben in der benachbarten Kirche zogen die Glockenstränge, und das nicht endenwollende Bimbam der Glocken trieb Jonas fast bis zum Wahnsinn. Mit wildem Fluche verdammte er das lärmende Geläute – es war ihm, als ob die Glocken wüßten, daß er an der Türe lausche, und vorhätten, es mit zahllosen Stimmen der ganzen Stadt in die Ohren zu schreien. – Wollten sie denn gar nicht aufhören!?

Endlich verstummten sie, aber die Stille, die darauf folgte, war so schauerlich wie der Vorläufer irgendeines entsetzlichen Losbruches. – Horch! – Fußtritte auf dem Hof! Zwei Männer! – Jonas wich auf den Zehen von der Türe zurück, als könnten sie ihn durch die hölzerne Türe hindurch sehen.

Sie gingen weiter und sprachen, soviel er hören konnte, von einem Gerippe, das gestern bei der Demolierung eines Hauses ausgegraben worden war und, wie verlaute, von einem Erschlagenen herrühren müsse. »Da sieht man wieder: ein Mord kommt immer ans Licht«, sagte der eine der Männer. Das waren die letzten lauten Worte, als die beiden um die Ecke bogen.

Pst! Still! – Jonas steckte den Schlüssel in das Schloß und drehte langsam um. Eine Weile leistete die Türe Widerstand, dann endlich ging sie auf, und der Geschmack von Rost, Stauberde und moderndem Holz legte sich auf Jonas‘ Lippen. Er trat hinaus und schloß leise hinter sich ab. Und wie er dann, wie von Furien gepeitscht, dahinfloh, war alles totenstill und ruhig ringsum.

47. Kapitel


47. Kapitel

Wie Jonas Chuzzlewits und seines Freundes Unternehmen endete

Fuhren die Menschen, die noch so spät durch die dunklen Straßen gingen, nicht unwillkürlich zurück, wie er so hinter ihnen hergeschlichen kam? Und wie er sich so die Häusermauern entlang drückte, hatte da kein unschuldiges Kind in seinem Schlummer das dunkle Gefühl, es falle ein schuldbeladener Schatten auf sein Bettchen und störe seinen unschuldigen Schlaf? Heulte der Hund dort an seiner rasselnden Kette, als wolle er sie zerreißen, vielleicht seinetwegen? Und wenn sich eine Ratte in der Erde ihren Gang grub, vielleicht geschah es aus heimlicher Witterung und um sich zu ihm durchzunagen und ihm zu folgen – den fetten Schmaus ahnend, der da bevorstand. Wenn Jonas über die Achsel zurückblickte, vielleicht war es eine seelische Ahnung, die Fußspuren, die er auf dem staubigen Pflaster hinterlassen, könnten schon feucht und schmutzig sein von dem roten gespenstigen Schlamm, der einst Kains nackte Füße befleckte.

Er wendete sich der Hauptstraße gegen Westen zu, erreichte sie sehr bald und setzte dann seinen Weg, teils zu Fuß, teils im Wagen, weiter fort.

Eine beträchtliche Strecke legte er auf dem Verdeck einer Landkutsche zurück, die ihn eingeholt hatte, und als sie abbog, bewog er den Kutscher eines zurückkehrenden Postwagens, ihn eine Strecke weit mitzunehmen. Dann wieder ging er querfeldein und schnitt eine Meile oder zwei ab, ehe er seine Schritte abermals der Straße zulenkte. Und schließlich bestieg er eine langsame schwerfällige Nachtkutsche, die an allen möglichen Stationen und Orten anhielt und, als er sie getroffen, vor einem Wirtshause stand, in dem der Schaffner und der Kutscher saßen und zechten.

Er feilschte um einen Außensitz und stieg nicht eher aus, als bis ihn nur noch ein paar Meilen von seinem Bestimmungsorte trennten. Da blieb er dann die ganze Nacht.

Die ganze Nacht! Es ist ein Irrtum, zu glauben, die Natur schlafe bei Nacht. Niemand konnte das besser wissen als Jonas.

Vielleicht schlummerten die Fische in den kalten glitzernden Strömen und Bächen, und die Vögel ruhten auf den Zweigen der Bäume, ruhig stand oder lag das Vieh in seinen Ställen oder auf den Weideplätzen, und die Menschen schlummerten, aber die Nacht, die feierliche, schloß kein Auge, und ihr Dunkel war so wach wie das Licht bei Tag. Die hohen Bäume, der Mond, die glitzernden Sterne, der leise atmende Wind, der überschattete Feldweg, der breite dämmerhelle Wiesenhang, sie alle wachten. Da war nicht ein Gras- und Getreidehalm, der nicht aufhorchte, und je größer die Stille war, desto gespannter und unablässiger schien sie Jonas zu beobachten.

Und dennoch schlief er. Während er zwischen diesen von Gott aufgestellten Schildwachen dahinfuhr, schlief er und änderte weder Zweck noch Ziel seiner Reise. Verließ ihn einmal der Gedanke daran in seinen wirren Träumen, gleich kam der Mahner wieder und weckte ihn auf. Doch niemals erwachte er mit einer Spur von Reue oder mit dem Gedanken, seinen Vorsatz fahrenzulassen.

Einmal träumte ihm, er liege ruhig im Bett, über sich die mondhelle Nacht, und denke nach über das Geräusch der Räder, als plötzlich der alte Buchhalter den Kopf zur Türe hereinsteckte und ihm winkte. Sofort stand er auf und begleitete ihn in dem Anzuge, den er zur Zeit wirklich trug, in eine fremde Stadt hinein, wo die Namen der Straßen in für ihn ganz fremden Buchstaben auf die Häusermauern geschrieben waren. Doch dies alles überraschte und beunruhigte ihn nicht, denn er entsann sich im Traume, schon einmal hier gewesen zu sein. So abschüssig waren die Straßen, daß man durch himmelhohe Leitern, die trotzdem immer noch zu kurz waren, und durch Stricke, die tief brummende Glocken in Bewegung setzten, wenn man sich daran anklammerte, von einer in die andere klimmen mußte. Aber auch diese Hemmnisse schreckten ihn nicht zurück. Mehr beunruhigte ihn sein Anzug, der sehr unschicklich war für das große Fest, das hier gefeiert werden sollte und woran er teilzunehmen wünschte. Schon fingen die großen Menschenmassen an, die Straßen zu erfüllen, und von der Seite her kamen aus unübersehbarer Ferne Myriaden Leute herbei, zum Teil Blumen streuend, zum Teil für andere, die auf weißen Pferden heranritten, Platz machend. Da plötzlich brach eine schreckliche Gestalt aus der Menge hervor und rief, daß dies der jüngste Tag sei. Kaum verbreitete sich die Kunde, da fand ein wildes Getümmel zum Richterstuhle hin statt, und das Gedränge wurde so groß, daß Jonas und sein Begleiter (der stets wechselte und nie, auch nicht zwei Minuten lang, derselbe blieb) nach der Seite zu in ein Tor traten und mit Furcht und Schrecken die Menge betrachteten, unter der viele bekannte Gesichter waren und auch viele unbekannte. Da mit einemmal tauchte ein Kopf unter den übrigen auf – totenblaß und ihm wohlbekannt – und verkündete ihm, daß um seinetwillen dieser schreckliche Tag abgehalten werde. Sie rangen miteinander. Und als Jonas sich bemühte, seine Hand, in der er eine Keule hielt, zu befreien und den tödlichen Streich zu führen, an den er so oft und oft gedacht, da kehrte ihm das Bewußtsein des wachen Vorsatzes zurück, und die Sonne schien durch das Wagenfenster herein.

Sie war ihm willkommen, rief sie doch Leben, Bewegung und Rührigkeit hervor, um die Aufmerksamkeit des wachen Tages abzulenken. Nichts fürchtete er so sehr wie das Auge der Nacht, der wachsamen, stummen und lauschenden Nacht; schien sie doch soviel Muße zu haben, tief hinein zu schauen in sein verbrecherisches Gehirn.

Er ging zu Rate mit sich selbst und seinem Herzen, aber keine Anwandlung von Reue kam über ihn. – Ein Mord? Nun gut, was weiter? Er war eigens dazu hergekommen, ihn zu begehen. »Ich wünsche hier auszusteigen«, sagte er.

»So nahe vor der Stadt?« bemerkte der Kutscher.

»Ich dächte, ich könnte absteigen, wo ich will.«

»Selbstverständlich, Sir; das Herz wird uns nicht brechen, wenn wir Sie verlieren. Es wäre übrigens auch kein Unglück, wenn wir Sie gar nicht getroffen hätten. Machen Sie gefälligst rasch, und damit Schluß.«

Der Schaffner war ebenfalls abgestiegen und wartete auf der Straße, um das Fahrgeld in Empfang zu nehmen. Von Mißtrauen gequält, argwöhnte Jonas, der Mann betrachte ihn neugieriger, als es wohl zweckmäßig gewesen wäre.

»Warum glotzen Sie mich so an?« schrie er.

»Na, Ihrer Schönheit wegen gerade nicht«, brummte der Kutscher. »Wenn Sie wollen, daß ich Ihnen prophezeie, so kann ich Ihnen ja Ihre Zukunft voraussagen. Ersaufen werden Sie nicht – drum brauchen Sie sich keine Sorge zu machen.«

Und ehe Jonas noch antworten oder ausweichen konnte, machte der Kutscher dem Gespräch ein Ende, indem er ihm eins mit der Peitsche versetzte und ihn sich zum Teufel scheren hieß. Gleichzeitig sprang auch der Schaffner wieder auf seinen Sitz hinauf, und der Wagen rollte unter dem Gelächter seiner Insassen weiter, während Jonas auf der Straße stehenblieb und die Faust schüttelte.

Je näher er sich dann die Sache überlegte, desto weniger war er unzufrieden, daß es so gekommen, denn es ging klar daraus hervor, daß man ihn für einen griesgrämigen Bauern gehalten, und das war ein Kompliment für seine gute Verkleidung. Etwa zwei oder drei Meilen von der Stelle entfernt, schlug er sich in die Büsche am Wege, riß aus einer Verzäunung einen dicken, harten, knotigen Prügel los, legte sich unter einen Heuschober und verbrachte einige Zeit damit, von seiner Waffe die Rinde abzuschälen und ihren gekerbten Kopf mit seinem Messer zu bearbeiten. Der Tag entschwand. Mittag, Nachmittag, Abend, Sonnenuntergang.

In dieser heitern friedensvollen Stunde kamen zwei Leute auf einem nicht sehr besuchten Wege in einem Gig aus der Stadt hergefahren. Es war gerade der Tag, an dem Mr. Pecksniff mit Mr. Montague dinieren sollte. Der Architekt hatte Wort gehalten und war jetzt wieder auf der Heimkehr begriffen. Mr. Montague wollte ihn nur noch eine kleine Strecke begleiten und dann auf einem hübschen Spazierweg durch die Felder, den ihm Mr. Pecksniff zu zeigen versprochen, zu Fuß zurückzukehren. Jonas wußte das. Er war um das Gasthaus herumgeschlichen und hatte gehört, wie sie dem Hausknecht ihre Befehle erteilt hatten.

Die beiden Herren plauderten so laut und fröhlich miteinander, daß man sie eine ziemliche Strecke weit hören konnte. Ihr Lachen übertönte sogar das Rollen ihrer Räder und den Hufschlag der Pferde. Immer näher und näher kamen sie, und immer lauter und lauter wurden sie, bis sie an eine Stelle kamen, wo ein Schlagbaum und ein Fußpfad ihren Trennungspunkt bezeichneten. Das Gig hielt an.

»Es ist noch viel zu früh – viel zu früh, auseinanderzugehen«, sagte Mr. Pecksniff. »Aber wir sind an Ort und Stelle, mein lieber Freund. Halten Sie sich jetzt nur noch auf dem Fußweg und gehen Sie geradeaus durch das kleine Gehölz, zu dem Sie gelangen werden. Der Weg wird dort etwas schmaler, aber Sie können ihn nicht verfehlen. – Wann sehe ich Sie wieder? Hoffentlich doch bald?«

»Ja, das hoffe ich auch«, versetzte Mr. Montague.

»Also, gute Nacht.«

»Gute Nacht und angenehme Fahrt.«

Solange sich Mr. Pecksniff noch von Zeit zu Zeit grüßend umwendete und in Sicht war, blieb Mr. Montague auf der Straße stehen und winkte ihm lächelnd mit der Hand. Als er ihm aber aus den Augen entschwand und die Verstellung nicht mehr länger nötig war, setzte er sich auf den Schlagbaum nieder und machte plötzlich ein so verändertes Gesicht, als sei er in diesem Augenblick um mindestens zehn Jahre älter geworden.

Sein Gesicht glühte von Wein, aber trotzdem war er nicht fröhlich, und in seinen Mienen war auch nichts von Triumph zu lesen. Vielleicht hatte ihn die Anstrengung der schweren Rolle, die er zu spielen gehabt, ein wenig erschöpft, vielleicht weckte das Flüstern des Abendwindes sein Gewissen, vielleicht war es auch die dunkle Vorahnung des drohenden Schicksals, das über seinem Haupte schwebte.

Es gibt gewisse Flüssigkeiten, die sich des nahenden Windes, des Regens oder Frostes bewußt sind und sich davor in ihre gläsernen Arterien zurückzuziehen suchen; sollte nicht auch das Blut eine gleiche Eigenschaft haben und die Hand wittern, die sich erheben will, um es zu vergießen, so daß es in den Adern des Menschen fröstelnd gerinnt?

Warm wehte die Luft, und doch verspürte Mr. Montague einen so kalten Schauder, daß er plötzlich von seinem Sitze aufsprang und hastig weiterzugehen anfing. Unentschlossen, ob er auf dem einsamen Fußpfade fortwandern oder auf die Landstraße zurückkehren solle, hielt er einen Augenblick inne.

Er wählte den Fußpfad.

Der Glanz der scheidenden Sonne bestrahlte sein Gesicht, Musik – das Gezwitscher der Vögel – tönte in seinen Ohren, und wilde Blumen blühten lieblich um ihn her. In der Ferne dämmerten die Strohdächer armseliger Bauernwohnungen, und ein alter, grauer Kirchturm mit einem Kreuz auf seiner Spitze stieg zwischen ihm und der kommenden Nacht empor.

Niemals hatte er die Lehre begriffen, die in dem Anblick solcher Dinge liegt, und sich stets höhnisch darüber weggesetzt, aber ehe er den Hohlweg hinunterschritt, blickte er noch einmal mit ahnungsschwerem Herzen auf die Aussicht zurück, die dort hinter ihm lag im dämmernden Abendrot. Dann ging es hinab – hinab ins Tal.

Er erreichte das Gehölz, einen dichten, schattigen Wald, durch den sich der Fußpfad dahinwand und schließlich in eine schmale Schaffährte überging. Ehe er in das Dunkel eintrat, hielt er inne, und die Stille der Natur machte ihn beinahe beklommen.

Schräg fielen die letzten Strahlen der Sonne herab und zogen längs der Stämme und Zweige einen goldenen Lichtpfad, der zusehends dahinstarb, um allmählich der herankriechenden Finsternis Raum zu geben. Es war so still und ruhig, daß das weiche Moos an den Stämmen der alten Bäume verstohlen aus dem Schweigen herausgewachsen zu sein schien. Von den Winterstürmen gebeugt, hatten sich die dürren Bäume an ihre Nachbarn gelehnt und lagen kahl in den beraubten Armen, um jeden Tag ein Stück mehr zur Erde zu sinken, als wollten sie die allgemeine Ruhe nicht durch das Donnern ihres Falles stören. Überall eröffneten sich verschwiegene Aussichten bis tief in das Herz und die innersten Schlupfwinkel des Waldes, bald einem Kreuzgang in der Kirche oder einem Kloster, bald einer nackt zum Himmel aufragenden Ruine ähnlich. Dann wieder sich zu tiefgrünen, geheimnisvoll rauschenden Laubengängen verschlingend, durch die man verworrenes Gezweig, efeubelaubte Äste, zitterndes Blattwerk und die abgeschälten Stämme alter Bäume in künstlerischer Unordnung durcheinander geworfen erblickte.

Als die Abendsonne schwand und die Nacht hereinbrach, trat Mr. Montague in das Gehölz. Hier und da schob er einen Busch oder einen niederhängenden Zweig zurück, der ihm den Weg versperrte, und immer mehr und mehr verlor er sich im Innern des Haines. Von Zeit zu Zeit konnte man ihn noch auf einer schmalen Lichtung hinschreiten sehen, und das Krachen dürrer Gezweige verriet den Weg, den er genommen.

Dann sah und hörte man nichts mehr von ihm.

Kein menschliches Auge sah ihn mehr dahinschreiten, kein menschliches Ohr hörte seine Stimme mehr – von einem einzigen Menschen abgesehen. Und dieser eine brach zwischen den Blättern und Zweigen auf der andern Seite in der Nähe des Fußpfades wieder hervor und floh ins Freie hinaus.

Was hatte er im Walde zurückgelassen, daß er so wild daraus hervorstürzte, als wäre die Hölle hinter ihm her?

Den Leichnam eines Ermordeten.

An einer dichtbewachsenen einsamen Stelle lag er unter den vorjährigen Eichen- und Buchenblättern, so wie der Mann hingestürzt war. Langsam zwischen den Blättern durchsickernd, die das letzte Kissen des Ermordeten bildeten, niedertröpfelnd in den sumpfigen Boden, wie um sich vor jedem menschlichen Auge zu verbergen, dann wieder zwischen dem gekräuselten Laub sich gewaltsam durchdrängend, daß es schien, als ob diese leblosen Wesen es von sich stießen und schaudernd sich davon abwendeten – zog sich langsam eine dunkle Blutlache hin, den Duft des Waldes mit lauwarmem Geruche verpestend.

Und der, der diese Tat vollbracht, brach so ungestüm aus dem Walde hervor, daß er im Lauf einen ganzen Schauer von abgebrochenen jungen Zweigen mitriß und selbst heftig ins Gras niederstürzte. Doch rasch war er wieder auf den Beinen, verbarg sich vorgebeugt unter einer Hecke und lief der Straße zu. Dort angelangt, eilte er, so rasch er konnte, dahin und schlug die Richtung nach London ein.

Nicht einen Augenblick reute ihn seine Tat. Er entsetzte sich zwar, wenn er daran dachte, aber Reue empfand er nicht. Furcht und Grauen hatten ihn im Walde ergriffen, aber jetzt, wo er den Schauplatz im Rücken hatte und das Verbrechen begangen war, heftete sich seine Angst auf das dunkle Zimmer, das seiner zu Hause harrte.

Weit entsetzlicher kam es ihm vor als der Wald, und dahin sollte er zurückkehren! In diesem Zimmer war der Ursprung seines Geheimnisses eingeschlossen, und alle seine Schrecken lauerten dort und nicht im Walde, wie er sich jetzt einbildete. So marschierte er zehn Meilen weit. Dann hielt er vor einem Wirtshaus an, um auf den Postwagen zu warten, der, wie er wußte, demnächst nach London hier vorbeifahren mußte. Es war nicht derselbe, mit dem er hergereist, denn er kam von einem andern Orte. Er setzte sich vor die Türe auf eine Bank neben einen Mann, der seine Pfeife rauchte. Nachdem er Bier bestellt und einen Schluck davon genommen, bot er den Krug seinem Nachbarn hin, der gleichfalls einen Zug daraus tat und sich bei ihm dafür bedankte.

»A schöner Abend, Herr Nachbar«, sagte der Mann, »und a feiner Sonnenuntergang.«

»Ich hab ihn nicht gesehen«, lautete die hastige Antwort.

»Nicht gesehen?«

»Zum Teufel nochmal, wie hätt ich denn können, ich hab doch geschlafen!«

»Ach so, geschlafen.«

Der Mann schien etwas überrascht von der unerwarteten Reizbarkeit des Fremden, sagte aber kein Wort weiter, sondern rauchte schweigend sein Pfeifchen fort. Sie hatten noch nicht lange so gesessen, als drinnen an eine Tür geklopft wurde.

»Was ist das?« fuhr Jonas auf.

»Was weiß denn i«, versetzte der Mann.

Jonas schwieg: sein Ausruf war ihm wider Willen entwischt. Er hatte gerade wieder an das verschlossene Zimmer gedacht und daran, daß vielleicht gerade in diesem Augenblick jemand ohne Ursache dort anklopfen könnte und daß sie erschrecken würden zu Hause, wenn sie keine Antwort erhielten. Wie sie dann die Türe aufbrechen würden und das Zimmer leer finden. Daß sie dann vielleicht die Türe auf den Hof von innen verschließen und es ihm dadurch unmöglich machen könnten, wieder in das Haus zurückzugelangen, ohne sich in seiner jetzigen Verkleidung zu zeigen. Und wie das dann alles zu Gerede, das Gerede zur Entdeckung und die Entdeckung zum Strang führen mußte. Gerade in dem Augenblick, wo er das alles überlegte, war wie durch eine Tücke des Schicksals und eine bedeutungsvolle Verkettung der Umstände das Klopfen laut geworden.

Immer noch klopfte es jetzt wie ein warnendes Echo der gefürchteten Wirklichkeit, die er an die Wand gemalt hatte. Er konnte es nicht mehr weiter mit anhören, stand auf, bezahlte sein Bier und ging. Den ganzen Tag über war er an ihm unbekannten Orten umhergeschlichen, und jetzt sah er sich in der Nacht in fremden Kleidern und mit unstetem Geist auf einer einsamen Straße. Mehr als einmal machte er halt und griff sich an den Kopf, in der Hoffnung, alles möge nur ein Traum sein.

Aber noch immer bereute er seine Tat nicht. Nein. Er hatte den Mann zu sehr gehaßt und zu lange und zu verzweifelt über seinem Plane nachgebrütet. Würde die Tat noch vor ihm liegen, er hätte sie abermals vollbracht. So leicht war der Haß und die Rachsucht seines Herzens nicht gestillt; – so wenig wie damals, wo er über die Tat nachdachte, empfand er jetzt Reue.

Schrecken und Entsetzen verfolgten ihn – und zwar in einem Grade, wie er es sich nie gedacht und es nie auch nur entfernt für möglich gehalten hätte. Er entsetzte sich im Geiste vor jenem verfluchten Zimmer in seinem Haus, und so verwirrten sich seine Gedanken infolgedessen, daß er schließlich nicht nur um sich Angst hatte, sondern sich sogar vor sich selber fürchtete. Er war sozusagen ein Teil dieses Zimmers – ein Etwas, das man dort vermutete und nicht fand. Er übertrug die geheimnisvollen Schrecken der Kammer auf sich selbst und vergegenwärtigte sich die schimmlige Stube in ihrer falschen lautlosen Tücke. Wie er an das zerwühlte Bett dachte, in dem er nicht lag, in dem man ihn aber glaubte, so kam er sich vor wie sein eignes Gespenst – wie sein spukender Doppelgänger und das gehetzte Opfer seines Ichs zusammengenommen.

Als nicht lange später der Wagen heranrollte, löste er einen Außenplatz und fuhr rasch der Heimat zu. Die meisten Mitreisenden waren Landleute. In seiner Angst vermutete er, sie müßten bereits von dem Mord gehört haben und würden ihm erzählen, die Leiche sei gefunden worden, trotzdem er genau wußte, daß dies unmöglich war, wenn er sich die Zeit und den Ort, wo er das Verbrechen begangen, vergegenwärtigte. Aber obwohl er nicht den geringsten Grund hatte, die Unwissenheit der Leute für etwas anderes als die natürliche Folge der Umstände zu halten, so ermutigte ihn doch diese Unwissenheit, und plötzlich jubelte er innerlich auf, der Leichnam würde nie gefunden werden: eine Wahrscheinlichkeit, die er sich im Geiste immer weiter und weiter ausarbeitete. Plötzlich maß er die Zeit nach dem raschen Fluge seiner schuldbewußten Gedanken, nach den Ereignissen, die dem Blutvergießen vorhergegangen, und nach dem Getümmel unzusammenhängender wirrer Bilder, deren beständiges Opfer er war, so daß er bereits bei Tagesanbruch das Verbrechen wie ein längst in der Vergangenheit liegendes Geschehnis ansah und das Gefühl vollständigster Sicherheit empfand, da es noch nicht an den Tag gekommen war. So vermochte er jetzt zu denken und seine Gedanken zu bilden, während die Sonne bereits wieder in den Wald blickte und auf das Gesicht des Toten schien, den sie abends noch lebendig gesehen.

Aber da waren sie schon in den Straßen von London. – Still!

Es war erst fünf Uhr morgens. Noch hatte er Zeit, unbemerkt und ehe sich viele Leute in den Straßen blicken ließen, seine Wohnung zu erreichen, vorausgesetzt, daß noch nichts geschehen war, was zu seiner Entdeckung geführt hatte. Er glitt von dem Wagen herunter, ohne daß sich der Kutscher die Mühe zu nehmen brauchte, seinetwegen anzuhalten, dann eilte er über die Straße und erreichte endlich auf einer ganzen Menge von Nebenwegen, die ihm den Pfad abkürzten, die Umgebung seiner Wohnung. Vorsichtig machte er halt, um alle Gassen, die sich vor ihm ausbreiteten, zu mustern, schlüpfte dann hurtig durch die eine, blieb wieder stehen, um die nächste zu inspizieren, und so weiter.

Der dunkle gedeckte Gang war leer, als er mit seinem Mördergesicht hineinspähte. Auf den Zehen schlich er sich zu der Türe, als scheue er sich, den dahinter Schlafenden, der doch er selber war, zu stören.

Er lauschte. Kein Laut; – wie er mit zitternder Hand den Schlüssel umdrehte und die Türe leise mit dem Knie aufdrückte, bemächtigte sich seiner eine fürchterliche Angst. Was, wenn der Ermordete vor ihm dort eingetroffen wäre?

Er warf einen scheuen Blick umher. Es war nichts da.

Er trat ein, verschloß die Türe und zog den Schlüssel durch den Staub und die Asche am Kamin, um ihn wieder schmutzig zu machen, dann hängte er ihn an seinem alten Platze wieder auf, zog seine Verkleidung aus, band sie zu einem Paket zusammen, das er noch vor der Nacht ins Wasser zu werfen gedachte, und schloß sie vorläufig in einen Schrank ein. Nachdem er diese Vorsichtsmaßregeln getroffen, zog er sich aus und legte sich zu Bett.

Der glühende Durst, das fiebrige Feuer, das in seinen Adern brannte, als er sich zudeckte, das immer wachsende und wachsende Entsetzen vor dem Zimmer, wenn er die Augen schloß, die Angst, mit der er auf jedes Geräusch lauschte und das Unwahrscheinlichste für ein Vorspiel zu jenem Klopfen hielt, das ihm die verhängnisvolle Kunde bringen mußte, dann, wie er auffuhr, sein Lager verließ und sich im Spiegel besah, weil er glaubte, die Tat müsse mit glühenden Buchstaben auf seiner Stirne geschrieben stehen, wie ihm das Herz klopfte, wie er sich wieder niederlegte und wieder die Decken über sich zog, – wie der Puls ihm das Wort: Mord, Mord, Mord in die Ohren hämmerte – welche Feder wäre imstande, alle diese entsetzlichen Wahrheiten zu schildern!

Der Morgen kam. Er hörte Schritte im Hause – hörte, wie man die Vorhänge aufzog, die Fensterläden öffnete – und dann ein leises Geräusch vor seiner Türe. Mehr als einmal versuchte er zu rufen, aber seine Zunge war so verdorrt, als wäre ihm der Mund mit glühendem Sand angefüllt. Endlich setzte er sich in seinem Bette auf und rief:

»Wer ist da!«

Es war Gratia.

Er fragte sie, wie spät es sei.

»Neun Uhr.«

»Hat – hat gestern niemand an meine Türe geklopft?« stotterte er. »Es hat mich etwas gestört. Aber, selbst wenn du die Türe eingeschlagen hättest, würdest du keinen Laut von mir zur Antwort bekommen haben.«

»Niemand«, antwortete Gratia.

Das war gut. Fast atemlos hatte er auf ihre Antwort gewartet. Wenn ihm etwas ein Trost sein konnte, so war es diese Nachricht.

»Mr. Nadgett wollte dich besuchen«, fuhr Gratia fort, »aber ich sagte ihm, du seiest müde und habest mir befohlen, dich nicht zu stören. Er meinte, es läge nichts daran, und ging wieder fort. Als ich mein Fenster öffnete, um frische Luft hereinzulassen, sah ich ihn diesen Morgen sehr zeitig früh durch die Straße gehen. Aber dagewesen ist er nicht mehr.«

Diesen Morgen durch die Straße – – sehr früh! Jonas zitterte bei dem Gedanken an die Möglichkeit, er hätte ihm begegnen können – ihm, der doch selbst nichts andres zu tun hatte, als den Leuten auszuweichen, heimlich umherzuschleichen und seine eigenen Geheimnisse zu behüten – – ihm, dem Mann, der nie etwas sah!

Er forderte Gratia auf, das Frühstück bereitzuhalten, und schickte sich an, die Treppe hinaufzugehen, nachdem er rasch in seine Kleider gefahren war, die vor der Türe gelegen hatten. In geheimer Scheu, nach dem, was vorgefallen, wieder mit seinen Leuten im Hause zusammenzutreffen, zögerte er unter allen möglichen unbedeutenden Vorwänden an der Türe, damit man ihn zuerst bemerke, ohne direkt sein Gesicht zu sehen. Noch während er sich ankleidete, ließ er die Türe offenstehen und befahl die Fenster zu öffnen – er wußte selbst nicht recht, warum –, vielleicht, damit man sich an seine Stimme gewöhnte. Aber ewig konnte er nicht da stehenbleiben, und so entschloß er sich endlich, hinaufzugehen. Sein letzter Blick in den Spiegel hatte ihm ein Gesicht gezeigt, das seine ganze Geschichte erzählte; – vielleicht lag der Grund darin, daß er so ängstlich hineingeblickt hatte. Er wagte es nicht, die übrigen Hausinsassen anzublicken, denn sie kamen ihm so merkwürdig schweigsam vor. Und so sehr er selbst auch jede seiner Mienen bewachte, so konnte er sich doch nicht enthalten, zu horchen und dabei deutlich zu verraten, daß er horchte. Ob er nun aber auf ihre Gespräche hörte, an andre Dinge zu denken versuchte, selber sprach, schwieg oder entschlossen und verbissen das öde Ticken einer alten heisern Wanduhr hinter sich zählte, stets versank er, als ob ein Zauber ihn dazu zwänge, in ein gespanntes Horchen, denn er wußte, daß »es« kommen müsse und daß seine jetzige Strafe und Folter darin bestand, daß er horchen mußte, wie »es« sich näherte. Still!

38. Kapitel


38. Kapitel

Allerlei Heimlichkeiten

Als Tom mit seinem neuen sentimentalen Bekannten von der City aufgebrochen war, hatte er, ohne es zu wissen und ohne ihn zu kennen, Mr. Nadgett von der »Anglo-Bengalischen« gestreift und ihm ins Gesicht geblickt.

Es war ein merkwürdiger Zufall, daß beide – Tom und Mr. Nadgett – die sich doch gar nicht kannten, gerade an ein und denselben Menschen unter den unzähligen Einwohnern der Riesenstadt London dachten – nämlich an Jonas Chuzzlewit.

Warum sich Tom mit Jonas innerlich beschäftigte, liegt auf der Hand. Bei Mr. Nadgett lag die Sache nicht so klar.

Jedenfalls, das war sicher, war der vortreffliche verwaiste junge Mann der Mittelpunkt von Mr. Nadgetts Heimlichtuerei geworden. Mr. Nadgett hatte ein beständiges hochgespanntes Interesse an Jonas‘ geringstem Tun und Lassen. Er bewachte ihn auf Schritt und Tritt, in und außerhalb der Assekuranz-Gesellschaft, in der Mr. Chuzzlewit jetzt als Direktor angestellt war, blieb stehen und lauschte, wenn Jonas sprach, schrieb sich im Kaffeehaus seinen Namen wohl hundertmal in sein großes Notizbuch, verfaßte fortwährend Briefe über Jonas an sich selbst, und wenn er sie dann in seinen Taschen fand, warf er sie ins Feuer – aber selbstverständlich ängstlich besorgt, daß auch die Asche genügend verglomm.

Aber natürlich geschah auch alles dies in tiefster Heimlichkeit.

So eifrig Jonas übrigens von Mr. Nadgett beobachtet wurde, so hatte er doch so wenig eine Ahnung davon, daß die Augen dieses Menschen beständig auf ihm hafteten, als wäre er unter der täglichen Aufsicht des gesamten Jesuitenordens gestanden. Wenn auch Mr. Nadgetts Augen selten auf etwas anderes gerichtet waren als auf den Boden, auf die Bureauuhr oder auf das Kaminfeuer, so sah er dennoch soviel, als sei jeder Knopf seines Rockes ein argwöhnisches Auge.

Die gedrückte scheue Art des Mannes erstickte jedes Mißtrauen im Keim, sah er doch viel eher aus wie jemand, der sich fürchtet, beobachtet zu werden, als wie einer, der selbst beobachtet. Er ging so schüchtern herum und war so zugeknöpft, als ob der ganze Zweck seines Lebens darauf hinausliefe, niemals auch nur die geringste Aufmerksamkeit zu erregen. Jonas begegnete ihm bisweilen auf der Straße oder in den Bureaus der Anstalt, wo er vermutlich auf den Mann wartete, der niemals kam, und jedesmal sah er ihn mit seinem steinernen Gesicht und den Kopf gesenkt davonschleichen, immerwährend seinen Biberhandschuh vor sich her tragend, und nichts wäre ihm ferner gelegen als der Gedanke, dieser Mensch könne ihn beobachten. Ebensogut hätte er geargwöhnt, das Kreuz auf der St.-Pauls-Kathedrale könne ihn belauern oder ein Fangnetz bereithalten, um es ihm über den Kopf zu werfen.

Um diese Zeit nun ging in Mr. Nadgetts geheimnisvollem Leben eine höchst seltsame Veränderung vor sich. Bisher hatte man ihn immer frühmorgens von Cornhill herunterkommen sehen, und zwar so pünktlich Tag für Tag, daß bald die Sage ging, er schlafe überhaupt nicht und ziehe auch niemals seine Kleider aus. Jetzt aber, da man ihn ebenso pünktlich in Holborn aus der Kingsgate Street herauskommen sah, machte man bald die Entdeckung, daß er jeden Morgen in dieser Straße einen gewissen Barbierladen besuchte, um sich rasieren zu lassen, und daß der Inhaber dieses Ladens ein gewisser Sweedlepipe war. Mr. Nadgett schien mit dem Mann, der nie kam, ein Rendezvous dort zu haben und im Laden mit ihm zusammentreffen zu wollen, denn er wartete dort oft entsetzlich lange, ließ sich Feder und Tinte geben, zog sein Taschentuch heraus und war stundenlang aufs eifrigste damit beschäftigt, sich Notizen zu machen. Mrs. Gamp und Mr. Sweedlepipe besprachen sich des öftern angelegentlichst über diesen geheimnisvollen Kunden, aber meist kamen sie zu dem Schlusse, er spekuliere wahrscheinlich an der Börse oder gehe seinen Gläubigern aus dem Wege.

Später mußte Mr. Nadgett dem Manne, der nie sein Wort hielt, wahrscheinlich ein anderes Stelldichein angegeben haben, denn eines Tages sah man ihn zum ersten Male mitten in der City in der Schenkstube des »Trauerpferdes« – wo die Leichenbesorger und Pompes-Funèbres-Männer einzukehren pflegten. Er zeichnete dort mit dem Ende seiner Tabakspfeife Figuren in das Sägemehl eines unbenützten Spucknapfes, weigerte sich aber aufs entschiedenste, irgend etwas zu bestellen, da er, wie er sagte, jeden Augenblick einen Gentleman erwarte. Da auch diesmal der Herr nicht Ehre genug im Leibe hatte, sein Wort zu halten, so kam Mr. Nadgett am nächsten Tag wieder und hantierte mit einem so dicken Portefeuille herum, daß ihn die Leute in der Schenke für einen sehr vermögenden Mann hielten. Von da an wiederholte er täglich seinen Besuch und erledigte soviel Schreibereien, daß es ihm unter anderm eine Kleinigkeit war, ein großes bleiernes Tintenfaß in zwei Sitzungen bis auf den Grund zu leeren. Obgleich er niemals viel sprach, so machte er doch schließlich durch seine bloße Anwesenheit die nähere Bekanntschaft der Stammgäste, und im Verlauf der Zeit wurde er mit Mr. Tacker und sogar mit Mr. Mould ganz intim. Mr. Mould sagte ihm offen heraus, er sei ein ganz durchtriebener, mit allen Wassern gewaschener Schlaufuchs, und beehrte ihn noch mit einer ganzen Reihe ähnlich schmeichelhafter Epitheta.

Gleichzeitig teilte Mr. Nadgett auch den Leuten in der Versicherungsanstalt in der ihm eigentümlichen geheimnisvollen Weise mit, er fürchte, es sei etwas nicht richtig mit seiner Leber, und es werde ihm wohl nichts anderes übrigbleiben, als den Assekuranzarzt zu konsultieren. Daraufhin wurde er Mr. Jobling überliefert, aber trotzdem dieser nichts finden konnte, was auf eine Lebererkrankung hätte schließen lassen, blieb Mr. Nadgett doch bei seiner Behauptung und ließ sich nicht so mir nichts dir nichts abspeisen. Er wurde also Mr. Joblings täglicher Patient, zählte ihm seine Symptome in seiner leisen geheimnisvollen Weise wohl ein dutzendmal an den Fingern her und ging in den Zimmern des Arztes ein und aus. Da er alles dies gleichzeitig betrieb, und zwar höchst verstohlen und geheimnisvoll, und dabei nie in seiner Wachsamkeit hinsichtlich des Tuns und Lassens Mr. Jonas Chuzzlewits nachließ, so war es nicht sehr unwahrscheinlich, daß alle diese Manöver zusammenhängende Teile eines großen geheimnisvollen Planes bildeten, den er schmiedete.

Am Morgen desselben Tages, an dem Mr. Pinch soviel erlebt hatte, erschien Mr. Nadgett plötzlich vor Mr. Montagues Hause in Pall Mall – auch diesmal, wie er es stets zu tun pflegte, in dem Augenblick, als es vom Kirchturm neun Uhr schlug. Er zog die Klingel – so heimlich, als ob er im Begriffe stehe, einen Hochverrat zu begehen – und schlüpfte rasch durch die Türe, kaum daß sie genügend offen war, um seinen Körper durchzulassen. Dann schloß er sie sofort wieder mit eigener Hand.

Mr. Bailey meldete ihn unverzüglich und kehrte gleich darauf mit der Aufforderung zurück, Mr. Nadgett möge ihm zu seinem Herrn folgen.

Der Präsident des Anglo-Bengalischen uneigennützigen Anlehens- und Lebensversicherungs-Unternehmens kleidete sich soeben an und empfing ihn ganz wie einen Geschäftsmann, den man täglich zu sehen gewohnt ist.

»Nun, Mr. Nadgett, was gibt’s?«

Mr. Nadgett stellte seinen Hut auf den Boden und hustete. Nachdem Mr. Bailey sich wieder entfernt und die Türe geschlossen hatte, stand er leise wieder auf, untersuchte, ob der Schnapper ins Schloß gefallen sei, und näherte sich dann wieder bis auf ein paar Schritte dem Stuhl, auf dem Mr. Montague saß.

»Also, was gibt’s Neues, Mr. Nadgett?«

»Ich glaube, wir haben jetzt endlich etwas.«

»Freut mich zu hören; ich fing schon an zu fürchten, Sie hätten die Witterung verloren, Nadgett –«

»O nein, Sir! Freilich verliert man hin und wieder einmal die Spur, aber das geht nun einmal nicht anders.«

»Sie sind die Wahrheit selbst, Mr. Nadgett! Haben Sie einen großen Erfolg zu berichten?«

»Das muß ich ganz und gar Ihrer Beurteilung überlassen, Sir«, lautete die Antwort. – Damit setzte Mr. Nadgett seine Brille auf.

»Und was halten Sie selbst davon? Freuen Sie sich darüber?«

Mr. Nadgett rieb sich langsam die Hände, strich sich über das Kinn, blickte im Zimmer umher und brummte:

»Hm, ja; ich glaube, es ist ein ganz hübscher Fall; ich neige wenigstens zu der Ansicht, daß es ein recht hübscher Fall ist. Soll ich Ihnen die Sache vortragen?«

»Nur zu!«

Mr. Nadgett suchte sich einen bestimmten Stuhl unter den übrigen heraus und stellte ihn an eine besondere Stelle, als wolle er darüber hinwegvoltigieren, rückte dann einen andern gegenüber und ließ zwischen beiden nur Raum für seine eigenen Beine. Dann nahm er auf dem Stuhle »Numero zwei« Platz, legte höchst bedächtig auf »Numero eins« sein Taschenbuch, löste die Schnur, mit der es zusammengebunden war, und warf sie über die Lehne. Dann rückte er mit beiden Stühlen ein wenig näher zu Mr. Montague, öffnete das Taschenbuch und breitete seinen Inhalt aus. Schließlich suchte er unter den verschiedenen Dokumenten eine Art von Memorandum hervor und breitete es vor seinem Chef aus, der während dieser ganzen feierlichen Präliminarien seine Ungeduld kaum zu zügeln vermochte.

»Ich wollte, Sie wären kein so ausgesprochener Freund von Schreibereien, mein Lieber, brummte Mr. Tigg Montague mit sauerem Lächeln. »Ich wollte, Sie statteten mir Ihren Bericht immer lieber mündlich ab.«

»Ich verabscheue die mündlichen Mitteilungen«, sagte Mr. Nadgett tiefernst. »Man kann nie wissen, ob nicht jemand zuhört.«

Mr. Montague wollte etwas erwidern, aber Nadgett drängte ihm das Papier auf und sagte im Tone verhaltenen Triumphes: »Wir wollen chronologisch vorgehen. – Lesen Sie gefälligst dies hier, Sir.«

Der Präsident warf achtlos einen Blick auf das Papier, und ein Lächeln überflog sein Gesicht, das keine große Anerkennung der pedantischen Gewohnheiten des Spions ausdrückte. Kaum aber hatte er ein halbes Dutzend Zeilen überflogen, als der Ausdruck seines Gesichtes sich zu ändern begann und, noch ehe er das Memorandum zu Ende gelesen, die gespannteste Aufmerksamkeit verriet.

»Numero zwei«, sagte Mr. Nadgett und händigte ihm ein anderes Blatt ein, wobei er das erste wieder zurücknahm. »Lesen Sie jetzt Numero zwei, Sir! Sie werden die Sache um so interessanter finden, je weiter Sie kommen.«

Mr. Montague lehnte sich in seinen Sessel zurück und warf seinem Emissär einen so merkwürdigen, zugleich verwunderten und erschrockenen Blick zu, daß Mr. Nadgett seine Aufforderung dreimal wiederholen mußte. Endlich besann er sich und las »Numero zwei« durch, Numero drei, dann Nummer vier, Nummer fünf usw.

Sämtliche Dokumente waren von Mr. Nadgetts Hand geschrieben und bildeten eine Reihe von Memoranden, die offenbar von Fall zu Fall in größter Eile auf alte Briefkuverts oder irgendeinen Fetzen Papier hingeworfen worden waren. Es war ein loses nachlässiges Gekritzel von sehr uneinladendem Äußern, aber dennoch voll wichtigsten Inhaltes, wie sich aus dem Gesicht des Präsidenten erkennen ließ.

Je aufgeregter Mr. Tigg wurde, desto größer wurde auch die heimliche Freude Mr. Nadgetts. Anfangs saß er mit der Brille tief unten auf der Nasenspitze da und blickte über die Linsen hinweg seinen Prinzipal an, sich besorgt die Hände reibend; nach einer kleinen Weile jedoch schon setzte er sich etwas bequemer in seinem Stuhl zurecht, überlas in Gemütsruhe das nächste Blatt, bevor er es Mr. Montague überreichte, und schließlich stand er sogar auf und schaute mit triumphierender Miene zum Fenster hinaus, an dem er gerade stand, als Mr. Tigg Montague mit dem Lesen fertig war.

»Und das ist das letzte, Mr. Nadgett?« fragte Mr. Montague tief aufatmend.

»Ja, das ist das letzte, Sir.«

»Sie sind ein wunderbarer Mensch, Mr. Nadgett!«

»Ja, ich denke, es ist ein recht hübscher Fall«, gab Mr. Nadgett zu und ordnete seine Papiere, »es hat ziemlich viel Mühe gekostet.«

»Aber Sie sollen auch gut entlohnt werden, Mr. Nadgett.«

Mr. Nadgett verbeugte sich.

»Hinter allen diesen Geschichten steckt ein Pferdefuß! Die Sache geht tiefer, als ich erwartete, Mr. Nadgett. Ich kann mir wirklich Glück wünschen, daß Sie sich so gut auf derlei geheime Nachforschungen verstehen.«

»Ich interessiere mich für nichts, was nicht Geheimnis ist«, erwiderte Mr. Nadgett, band seine Brieftasche zu und steckte sie wieder ein. »Sogar der Umstand, daß ich Ihnen davon Mitteilung machen mußte, benimmt mir beinahe schon die Freude an der ganzen Sache.«

»Sie haben wirklich eine ganz unschätzbare Gemütsbeschaffenheit«, versetzte Mr. Tigg, »und das ist eine große Gabe für einen Mann Ihres Berufs, Mr. Nadgett. Das ist womöglich noch besser als Klugheit, obgleich Sie auch diese Eigenschaft in hohem Maße besitzen. – – Hallo! Hat da nicht jemand soeben unten geklopft? Wollen Sie nicht einen Augenblick zum Fenster hinausschauen und mir sagen, ob jemand am Haustor steht?«

Mr. Nadgett zog leise das Schiebefenster auf und spähte so verstohlen auf die Straße hinunter, als erwarte er jeden Augenblick eine feindliche Musketensalve. Dann zog er ebenso vorsichtig den Kopf wieder zurück und meldete, ohne eine Miene zu verziehen:

»Mr. Jonas Chuzzlewit.«

»Hab ich mir gleich gedacht«, brummte Mr. Tigg.

»Soll ich gehen, Sir?«

»Es wird wohl das beste sein. – – Halt! Bleiben Sie doch lieber hier, Mr. Nadgett.«

Merkwürdig, wie blaß und verstört Mr. Montague plötzlich geworden war. Es schien ganz unerklärlich. Sein Auge war auf sein Rasiermesser auf dem Toilettentisch gefallen; aber welchen Zusammenhang konnte das damit haben?!

In diesem Augenblick wurde Mr. Chuzzlewit angemeldet.

»Führen Sie ihn sogleich zu mir, Nadgett, aber lassen Sie uns nicht allein. Hören Sie! – – – Gott im Himmel«, flüsterte Mr. Tigg vor sich hin, »man kann nie wissen, was passiert.«

Dabei ergriff er hastig ein paar Haarbürsten und begann sie an seinem Kopf zu probieren, als sei er gerade bei seiner Toilette begriffen gewesen. Mr. Nadgett zog sich zum Kamin zurück, in dem ein kleines Feuer zum Zweck der Erwärmung des Lockeneisens brannte, und da ihm die Gelegenheit günstig schien, sein Taschentuch zu trocknen, so zog er es unverzüglich heraus. In dieser Stellung blieb er während des ganzen jetzt folgenden Gespräches stehen, das Tuch vor sich auf den Kaminstangen ausgebreitet, und zuweilen, wenn auch nicht oft, über die Schulter einen Blick zurückwerfend.

»O mein lieber Mr. Chuzzlewit«, rief Mr. Montague, als Jonas eintrat. »Sie stehen ja mit den Lerchen auf. Jemand, der mit den Nachtigallen schlafen zu gehen pflegt wie Sie, pflegt das sonst nicht zu tun. – Sie haben ja eine übermenschliche Energie, mein lieber Mr. Chuzzlewit.«

»Zum Teufel noch mal«, knurrte Jonas mit verdrießlicher Miene und warf sich in einen Stuhl. »Ich möchte auch lieber nicht mit der Lerche aufstehen, wenn es anders ginge. Aber ich habe einen schlechten Schlaf; da ist es besser, aufzustehen, als sich im Bett herumzuwälzen und die Schläge der schauerlichen alten Turmuhren zu zählen.«

»Einen schlechten Schlaf?« rief Mr. Tigg. »Hm, das ist etwas, das ich überhaupt nicht kenne. Ich habe diesen Ausdruck wohl oft gehört, kann mir aber gar nicht vorstellen, wie so etwas eigentlich ist.«

»Hallo«, unterbrach ihn Jonas, »wer ist das? Dort! Ah, der alte – wie heißt er doch nur? – Was drückt er sich da so herum, als ob er in den Schornstein hinaufkriechen wollte?«

»Haha«, lachte Mr. Tigg, »meiner Seel, es sieht wahrhaftig so aus.«

»Er ist hier ziemlich überflüssig, dächte ich. Er soll lieber fortgehen. Was meinen Sie?« fragte Jonas.

»Ach Gott, lassen Sie ihn nur hier; lassen Sie ihn ruhig hier«, sagte Mr. Tigg. »Es ist ein altes Faktotum – sozusagen ein Stück Möbel –, er hat mir soeben seinen Bericht erstattet und wartet jetzt auf weitere Orders. Ich lasse ihn«, fügte Mr. Tigg hinzu und erhob seine Stimme, »gewisse Erkundigungen einziehen und uns dann Auskünfte erteilen. Es gibt immer was zu tun. Übrigens versteht er sein Geschäft.«

»Hat’s auch nötig«, brummte Jonas. »Scheint ein verdammt ungeschickter Schafskopf zu sein. Mir scheint gar, er fürchtet sich vor mir!«

»Das glaub ich«, lachte Tigg. »Er hat auch allen Grund dazu. Übrigens, Nadgett, reichen Sie mir mal das Handtuch dort her.«

Nadgett reichte es, blieb einen Augenblick stehen und zog sich dann wieder auf seinen alten Posten am Kamin zurück.

»Sie sehen, mein lieber Freund«, begann Mr. Tigg. »Sie sehen heute – aber was ist denn das? Ihre Lippen sind ja ganz weiß!«

»Vielleicht vom Essig«, versetzte Jonas. »Ich habe soeben Austern gefrühstückt. – Wieso sind sie denn weiß?« setzte er mit einem Fluch hinzu und rieb sie sich mit einem Taschentuch. »Mir ganz unerklärlich.«

»So, jetzt bekommen sie schon wieder Farbe«, sagte Mr. Tigg, »jetzt sind sie schon wieder rot.«

»Sagen Sie mir lieber, was Sie mir zu sagen haben«, rief Jonas ärgerlich, »und kümmern Sie sich nicht darum, wie ich aussehe. Wenn ich nur die Zähne zeigen kann – und das kann ich, wenn’s not tut – die Farbe meiner Lippen ist wirklich gleichgültig.«

»Da haben Sie recht«, gab Mr. Tigg fröhlich zu. »Ich wollte nur sagen, daß Sie zu scharf für Mr. Nadgett sind; er ist zu schüchtern, um sich nicht vor einem Manne wie Ihnen zu fürchten. Aber sonst ist er immerhin ganz brauchbar. Also, wieso haben Sie einen schlechten Schlaf!« »Zum Teufel mit Ihrem schlechten Schlaf!« rief Jonas ärgerlich.

»Nun, nun«, besänftigte Mr. Tigg, »ich hab’s doch nicht so bös gemeint.«

»Ein schlechter Schlaf ist eben kein guter«, versetzte Jonas in seiner verdrießlichen Weise. »Wer schlecht schläft, schläft eben nicht gut und schläft nicht fest.«

»Und dann träumt man, wie?« rief Mr. Tigg mit einem Anflug von Hohn. »Und redet wüste Sachen im Traum, und wenn die Kerze des Nachts heruntergebrannt ist, steht man Todesängste aus, und der kalte Schweiß steht einem auf der Stirne. Nicht wahr, so ist es?«

Sie schwiegen eine Weile, dann nahm Jonas wieder seine Rede auf:

»Na, sind Sie jetzt mit Ihrem Altweibergeplapper fertig? Wenn ja, dann möchte ich ein paar Worte mit Ihnen reden. Ich hätte so allerlei mit Ihnen zu besprechen, bevor wir uns heute im Bureau treffen. Ich bin nicht sonderlich zufrieden mit den Geschäften.«

»Nicht zufrieden?« rief Mr. Tigg. »Aber wir haben doch brillante Einnahmen!«

»Ja, das wohl«, gab Jonas zu, »aber mir sind die Hände zu sehr gebunden. Das paßt mir nicht. Da haben wir einen Paragraphen und dort wieder einen Paragraphen, und Sie haben eine Stimme in dieser Eigenschaft und dann wieder eine in jener, und dann haben Sie wieder Rechte als Präsident und wieder Rechte als bloßes Mitglied, und über die Rechte der andern Mitglieder haben Sie auch zu verfügen – kurz und gut, jeder hat Rechte, nur ich nicht. Was zum Teufel nützt es mir, daß ich eine Stimme habe, wenn ich immer überstimmt werde? Mir paßt das nicht! Ich mache da nicht mehr länger mit, wissen Sie.«

»So? Nicht?« sagte Mr. Tigg spöttisch.

»Nein. Ich habe keine Lust mehr dazu. Es wird noch so weit kommen, daß ihr froh sein müßt, mich mit einer runden Summe abzufinden, wenn ihr mir weiter so auf dem Kopf herumtanzt.«

»Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort –« begann Mr. Montague.

»Hol Sie der Henker mit Ihrem Ehrenwort«, unterbrach ihn Jonas, immer rüder und streitsüchtiger werdend, was übrigens Mr. Montague ganz gut zu passen schien. »Ich will ein bißchen mehr Kontrolle über das Geld haben. Die Ehre überlasse ich Ihnen gern. Die können Sie für sich in Anspruch nehmen, wenn Sie wollen. Aber so, wie die Sachen stehen, mache ich nicht mehr mit. Was zum Beispiel, wenn Sie sich in den Kopf setzen, eines Tags mit der Kasse durchzubrennen? Könnte ich das verhindern? Nein. Und das geht nicht mehr länger so. Ich habe hier ein paarmal recht gut gegessen, aber um den Preis ist es mir zu teuer, Sir. Deshalb sage ich, ich tue nicht mehr mit.«

»Und mir tut es wirklich sehr leid, daß Sie so schlecht aufgelegt sind«, sagte Mr. Tigg mit einem spöttischen Lächeln. »Ich wollte Ihnen nämlich gerade heute vorschlagen – zu Ihrem eigenen Besten, lediglich zu Ihrem eigenen Besten! –, noch ein bißchen mehr Geld in die Sache hineinzustecken.«

»So, waren Sie im Begriffe, mir das vorzuschlagen! Wirklich ausgezeichnet!« rief Jonas und lachte schrill auf.

»Jawohl, und Ihnen anzudeuten«, fuhr Mr. Montague fort, »daß Sie doch Freunde haben – und ich weiß, Sie haben Freunde, die ausgezeichnet für unsere Zwecke passen würden und die wir mit Vergnügen in die Kompagnie aufnehmen würden.«

»Wirklich sehr gütig von Ihnen. Sie würden sie also mit Vergnügen aufnehmen, was?« höhnte Jonas.

»Mein Ehrenwort darauf, ich wäre ganz entzückt. Natürlich bloß, weil es Ihre Freunde sind.«

»Selbstverständlich«, spöttelte Jonas. »Selbstverständlich, weil sie meine Freunde sind! Ich zweifle durchaus nicht, daß Sie sehr entzückt wären, wenn Sie sie drankriegen könnten. Und das alles soll zu meinem Vorteil geschehen, was?«

»Unbedingt zu Ihrem Vorteil«, antwortete Mr. Montague und wägte in jeder Hand eine Bürste, dabei seinen Gast fest ins Auge fassend. »Ich versichere ihnen, es würde nur zu Ihrem Vorteil sein.«

»Und können Sie mir vielleicht sagen, wieso?« fragte Jonas. »Sind Sie dazu imstande?«

»Soll ich es Ihnen sagen?« rief Mr. Montague.

»Es wird wohl das beste sein. Es sind schon ganz kuriose Dinge in Versicherungsanstalten geschehen. Man muß da verdammt scharf aufpassen.«

»Mr. Chuzzlewit«, begann Mr. Montague ernst, lehnte sich, die Ellbogen auf beide Knie gestützt, ein wenig vor und blickte Jonas starr in die Augen, »allerdings sind schon sehr kuriose Sachen passiert, und noch täglich passieren welche. Aber nicht bloß bei uns, sondern da, wo man es am wenigsten erwartet. Und vielleicht noch kurioser ist, daß wir so manchmal hinter dergleichen Dinge – – kommen.«

Er winkte Jonas, seinen Stuhl näherzurücken, warf einen Blick zum Kamin, als wolle er ihn an Nadgetts Gegenwart erinnern, und flüsterte ihm ein paar Worte ins Ohr. Jonas fuhr zurück, wurde totenblaß, dann blutrot, dann gelb, dann blau, und der kalte Schweiß trat ihm auf die Stirne. Eine so furchtbare Veränderung brachten die wenigen Worte, die ihm Mr. Tigg ins Ohr geflüstert hatte, hervor. Als er ihm schließlich die Hand auf den Mund legte, Todesangst im Blick, daß nur ja keine Silbe an das Ohr Mr. Nadgetts schlüge, war sie so blutlos und eiskalt wie die Hand einer Leiche.

Dann rückte er seinen Stuhl weg und saß da, ein Bild des Entsetzens, der Todesangst und hilfloser Wut. Er konnte weder sprechen noch aufsehen oder sich bewegen. Mr. Tigg nahm mit Muße seine Toilette wieder auf und beendigte sie, nur manchmal mühsam ein Lächeln unterdrückend.

»Also, ich denke, Sie haben gewiß nichts dagegen, mein lieber Freund Chuzzlewit, noch ein bißchen mehr Kapital anzulegen. Wie?« brach er endlich das Schweigen.

Mit blassen Lippen stammelte Jonas ein schwaches »Nein«.

»Vorzüglich! Bravo! So, jetzt sind Sie ja wieder der alte. Und jetzt hören Sie mal. Ich habe mir gestern gedacht, Ihr Schwiegervater wird gewiß Ihren Rat in Geldangelegenheiten sehr zu schätzen wissen, und ich zweifle auch nicht, daß er sich bei uns beteiligen wird, wenn man ihm die Sache in entsprechender Weise darstellt. Er hat doch Geld?«

»Ja, er hat Geld.«

»Soll ich also die Sache mit Mr. Pecksniff Ihnen überlassen? Wollen Sie sie auf sich nehmen?«

»Ich will es versuchen – will wenigstens mein Bestes tun.«

»Tausend Dank«, rief Mr. Tigg und klopfte Jonas herablassend auf die Schulter. »Wollen wir jetzt gehen? – Mr. Nadgett, folgen Sie uns gefälligst.«

Sie gingen. Was Jonas Chuzzlewits Gedanken über Mr. Montague sein mochten, wie rettungslos gefangen, in ein Netz verstrickt und ins tiefste Verderben gestürzt er sich sah, was immer für Ahnungen, Hoffnungen und Gedanken der Verzweiflung ihn bestürmen mochten, welche letzte schreckliche Aussicht auf Rettung wie ein einziger blutroter Schimmer an dem völlig verdüsterten Horizont seiner Seele auftauchen mochte – er dachte ebensowenig daran, daß die gebeugte Gestalt, die einige Stufen hinter ihnen herunterkroch, das ihn verfolgende Fatum sei, wie er wohl die andere Gestalt neben ihm für seinen guten Engel hielt.

39. Kapitel


39. Kapitel

Einige Einzelheiten über das Hauswesen der Geschwister Pinch sowie seltsame Neuigkeiten aus London, die Tom sehr nahe betreffen

Noch nie hat sich wohl ein kleines Mädchen über ihre Puppenstube so gefreut wie die kleine Ruth in ihrer glorreichen Herrschaft über den dreieckigen Salon und die beiden kleinen Schlafzimmer.

Toms Haushälterin zu sein – welche Würde!

Ein Haushalt an und für sich schon zieht das Bewußtsein der verschiedensten Verantwortlichkeiten nach sich, aber ein Haushalt für Tom war wohl die großartigste Aufgabe, die es geben konnte. Schnell nahm sie die Schlüssel aus dem kleinen Schränkchen, in dem sie den Tee und den Zucker aufhob, oder aus den zwei kleinen dumpfigen Speiseschränkchen in der Nähe des Kamins, wo selbst die Küchenschaben schimmlig wurden und infolge des neidischen Mehltaus den Glanz ihrer Flügel einbüßten – und klingelte damit vor Tom, wenn er zum Frühstück herunterkam. Und dann steckte sie sie wieder fröhlich lachend mit frohem Stolz in ihre kleine Tasche.

Es war für sie etwas so Neues, Gebieterin über irgend etwas zu sein, daß man es ihr auch hätte verzeihen müssen, wenn sie plötzlich die rücksichtsloseste und despotischste aller kleinen Haushälterinnen geworden wäre.

Davon konnte aber bei ihr natürlich keine Rede sein, denn sogar in der Art, wie sie den Tee aufgoß, lag eine gewisse Schüchternheit, so daß Tom jedesmal vor Freude außer sich geriet. Und wenn sie ihn fragte, was er zum Mittagessen zu haben wünsche, und stotternd meinte, Hammelrippchen wären vielleicht das beste, da sie am Abend vorher so gut gelungen seien, wurde Tom geradezu witzig und fing an, sie schrecklich zu necken.

»Ich weiß ja nicht, Tom«, sagte Ruth errötend, »und ich bin auch nicht ganz überzeugt, ob es mir gelingt, aber ich denke, ich könnte vielleicht einen Beefsteakpudding versuchen?«

»Im ganzen Kochbuch steht nichts, was mir so zusagen würde wie ein Beefsteakpudding«, rief Tom und schlug sich zur Bekräftigung auf den Schenkel.

»Oh, das ist ja ganz vortrefflich! – Aber – – wenn es mir nun doch das erstemal nicht recht gelingen sollte«, stotterte Ruth, »und wenn es nicht gerade ein Pudding, sondern vielleicht gedämpftes Fleisch oder eine Suppe oder sonst etwas würde, so würdest du mir doch nicht böse sein, Tom, nicht wahr?«

Sie sah ihn dabei so ernsthaft an, und er erwiderte ihren Blick so nachdenklich, daß sie schließlich beide plötzlich in ein Lachen ausbrachen.

»Aber das ist ja nur um so besser!« rief Tom. »Das macht uns das Mittagessen zu einer höchst interessanten Überraschung. Wir setzen gleichsam in eine Beefsteaklotterie, und wer weiß, was wir dabei alles gewinnen. Vielleicht machen wir sogar eine wunderbare Entdeckung und erfinden, ohne es zu wollen, eine neue unbekannte Speise?«

»Sollte mich gar nicht wundern, wenn das wirklich geschieht, Tom«, rief Ruth, noch immer lachend. »Vielleicht wird es auch ein Gericht, das wir nicht gern noch einmal bereiten würden. Eines aber weiß ich: das Fleisch muß zuletzt aus der Pfanne kommen, und das ist ein Trost. Das können wir schließlich immer noch retten. Wenn du also glaubst, daß ich es wagen soll, so will ich’s probieren.«

»Ich hege nicht den mindesten Zweifel«, rief Tom, »daß es ein ganz vortrefflicher Pudding werden oder mir doch jedenfalls so vorkommen wird. Du bist von Natur aus so geschickt, liebe Ruth, daß, wenn du jetzt sogar behauptetest, du könntest eine tadellose Schildkrötensuppe bereiten, ich dir aufs Wort glauben würde.«

Und Tom hatte recht. Sie war wirklich so. Sie war eine jener Naturen, denen man nichts abschlagen kann und denen auch alles gelingt. Aber das beste daran war, daß sie es selbst nicht zu wissen schien.

Sie wusch jetzt die Frühstückstassen aus und plauderte dabei in einem fort, erzählte Tom hunderterlei kleine Episoden von ihrem früheren Prinzipal, stellte dann alles wieder an Ort und Stelle und machte das Zimmer so sauber und nett, wie sie selbst war. Dann bürstete sie an Toms altem Hut so lange herum, bis er so glatt war wie der Mr. Pecksniffs. Und als sie entdeckte, daß Toms Kragen am Ende ein wenig eingerissen war, flog sie im Nu die Treppe hinauf, holte Nadel und Zwirn, kam zurück mit dem Fingerhut auf dem Finger und flickte den Schaden mit wunderbarer Geschicklichkeit, ohne Tom auch nur ein einziges Mal ins Kinn zu stechen, trotzdem sie während des ganzen Geschäftes seine Lieblingsarie summte und mit den Fingern ihrer linken Hand auf seinem Halstuch den Takt trommelte. Als dies geschehen, eilte sie abermals davon und war im Nu wie eine emsige geschäftige Biene wieder da, unter ihrem runden kleinen Kinn die Bänder ihres reizenden kleinen Hutes zuknüpfend, um ohne Zeitverlust zum Fleischer zu eilen. Sie lud Tom ein, sie zu begleiten, damit er mit eigenen Augen sähe, wie das Beefsteak abgeschnitten werde. Was Tom betraf, so war er natürlich bereit, überall hinzugehen, wo sie wollte, und sie trabten deshalb Arm in Arm über die ruhige Straße und schwärmten dabei von ihrer billigen Wohnung und deren luftiger Lage.

Und wie dann der Fleischer die Portion auf den Block legte und sein Messer wetzte, bekamen sie einen solchen Appetit, daß sie gleich am liebsten noch einmal gefrühstückt hätten. Und es war wirklich eine Lust, zuzusehen, wie er das Fleisch so glatt und kunstgerecht abschnitt. Es lag nichts Metzgerhaftes in der ganzen Handlung, obgleich das Messer groß und scharf war. Es war eher wie ein Kunstwerk, sozusagen ein Triumph des Geistes über die Materie.

Das schönste grünste Kohlblatt, das je in einem Garten gewachsen, wickelte der Fleischer dann um seine Ware, ehe er sie Tom überreichte. Aber der Mann betrieb sein Geschäft auch mit einem gewissen Kunstsinn und wußte es zu veredeln. Als er sah, wie Tom das Blatt etwas ungeschickt in seine Tasche zwängen wollte, bat er um die Erlaubnis, ihm helfen zu dürfen, denn »Fleisch«, meinte er nicht ohne Erregung, müsse zart behandelt und nicht so mir nichts, dir nichts in die Tasche gekeilt werden.

Nachdem sie noch einige Eier, Mehl und noch andere Zutaten eingekauft, begaben sie sich in ihre Wohnung zurück. Tom setzte sich würdevoll an das eine Ende des Tisches, um zu schreiben, während Ruth sich an dem andern anschickte, den Pudding herzurichten, denn es war niemand im Hause als eine alte Frau, die ihr Hauswesen selbst besorgte und sich nur für die gröbsten Arbeiten eine Zugeherin hielt, während der Hausbesitzer selbst, eine höchst geheimnisvolle Art von Mensch, jeden Morgen in aller Frühe ausging und sich dann den Tag über kaum wieder blicken ließ.

»Was schreibst du da, Tom?« fragte Ruth und legte ihrem Bruder die Hand auf die Schulter.

»Sieh mal, meine Liebe«, versetzte Tom, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und blickte ihr dabei ins Gesicht, »ich möchte natürlich gerne irgendeine passende Beschäftigung finden, und ich glaube, es wird daher gut sein, daß ich, ehe Westlock diesen Nachmittag kommt, eine kleine Schilderung meiner Persönlichkeit und meiner Befähigungen zu Papier bringe, damit er sie irgendeinem seiner Bekannten oder Freunde vorlegen kann.«

»Du solltest das gleiche auch für mich tun, Tom«, sagte Ruth und schlug die Augen nieder. »Ich möchte dir wirklich von Herzen gern haushalten und stets um dich sein und für dich sorgen, aber dazu sind wir leider nicht reich genug.«

»Freilich sind wir nicht reich«, erwiderte Tom, »und möglicherweise können wir sogar noch viel ärmer werden. Wir wollen uns aber trotzdem vornehmen, Ruth, mitsammen das Leben durchzukämpfen, falls es mir etwa nicht gleich von Anfang so schlechtgehen sollte, daß ich die sichere Überzeugung gewinnen würde, du habest es besser, wenn wir nicht zusammenwohnen. Bestimmt würden wir aber glücklicher sein, wenn wir uns mitsammen durchs Leben zu schlagen imstande wären; glaubst du nicht auch?«

»Ob ich’s glaube, Tom?«

»Aber, aber!« rief Tom innig, »du mußt doch nicht gleich weinen!«

»Nein, nein, ich will mich zusammennehmen, Tom. – Aber du wirst das alles nicht erschwingen können, lieber Bruder; wirklich, du wirst dazu nicht imstande sein.«

»Weißt du das so gewiß?« fragte Tom. »Wie können wir jetzt darüber reden, ehe wir es noch versucht haben? Gott im Himmel!« Seine Energie wurde jetzt geradezu grenzenlos. »Wie können wir denn wissen, was alles geschehen kann, wenn wir’s nicht mit Eifer angehen? Ich bin überzeugt, wir sind imstande, mit sehr wenig durchzukommen, nicht wahr?«

»Ja, das glaube ich auch, Tom.«

»Nun also«, sagte Tom; »probieren geht über studieren. Mein Freund, John Westlock, ist ein ganz kapitaler Bursche, außerordentlich gescheit und lebensgewandt, und ich will ihn um Rat fragen. Wir können ja beide mit ihm die Sache besprechen. Ich bin übrigens überzeugt, du wirst John sehr lieb gewinnen, wenn du ihn einmal näher kennengelernt hast. Aber so weine doch nicht! Ich habe gedacht, du wolltest einen Beefsteakpudding machen«, setzte er hinzu und stieß sie zärtlich mit dem Ellenbogen an. »Wirklich ein großartiges Unterfangen.«

»Du wirst es natürlich einen Pudding nennen, Tom, aber ob es wirklich einer wird, kann ich nicht garantieren.«

»Ich werde es so lange einen Pudding nennen, bis ich sehe, daß es was anderes ist«, versprach Tom. »Du gehst also allen Ernstes ans Werk?«

Freilich ging Ruth mit Ernst ans Werk. Und zwar so ernst, daß Toms Blicke unaufhörlich von seinem Briefe abschweiften. Zuerst trippelte sie die Treppe hinunter in die Küche, um Mehl zu holen, dann brachte sie das Nudelbrett, die Eier, die Butter, einen Krug Wasser, das Teigholz, dann die Puddingform, dann den Pfeffer und das Salz, und um jedes Ding machte sie einen Extraweg und lachte fröhlich dabei. Als endlich alles beisammen war, bemerkte sie mit Schrecken, daß sie keine Schürze umhatte, und lief zur Abwechslung wieder einmal hinauf, um die Schürze zu holen. Sie band sie aber oben nicht um, sondern kam damit heruntergetänzelt, und da sie zu jenen kleinen Geschöpfchen gehörte, für die eine Schürze ein außerordentlich kleidsamer kleiner Putz ist, so dauerte es eine Ewigkeit, bevor sie damit zustande kam. Erst mußte sie sie sorgfältig glattstreichen, und dann wieder dauerte es eine geraume Zeit, bis die Falten gehörig herauskamen, bevor sie sie umbinden, wieder aufbinden und endlich wieder umbinden konnte und bis endlich die kleinen Taschen richtig saßen. Als sie damit endlich fertig war, mußte sie wieder die Ärmel aufschürzen, um sich nicht das Kleid mit Mehl zu beschmutzen, dann hieß es einen kleinen Ring vom Finger ziehen, und der wollte natürlich eine ganze Weile nicht herunter, und während aller dieser Vorbereitungen und Zurüstungen lugte sie jeden Augenblick unter ihren langen Wimpern nach Tom, als ob dies alles zum Pudding gehöre.

Tom konnte, und wenn es sein Leben gegolten hätte, mit seiner Schreiberei nicht vorwärtskommen, und immer wieder blieb es bei den Worten: Ein anständiger junger Mann von fünfunddreißig Jahren – –, obgleich Ruth ganz übernatürlich still tat und auf den Zehen hin und her ging, um ihn nicht zu stören, was ihn nur noch um so mehr ablenkte.

»Tom«, rief sie endlich ganz entzückt, »Tom!«

»Was gibt’s denn?« fragte Tom und wiederholte innerlich: »Von fünfunddreißig Jahren.«

»Bitte, möchtest du nicht einen Augenblick herschauen?«

Als ob er nicht die ganze Zeit sie angesehen hätte!

»Also, jetzt fange ich an, Tom! Wunderst du dich denn gar nicht, warum ich die Form inwendig mit Butter ausstreiche?«

»Ich glaube, ich wundere mich wohl ebensowenig wie du«, versetzte Tom lachend, »denn ich glaube, daß du es selbst nicht weißt.«

»Du bist doch wirklich ein rechter Heide. Wie ginge denn der Pudding wieder aus der Form, wenn man sie innen nicht mit Butter bestriche? Du willst ein Ingenieur sein und weißt das nicht? Ach du lieber Himmel, Tom!«

Von Schreiben war natürlich jetzt keine Rede mehr. Tom strich sein »Ein anständiger junger Mann von ungefähr fünfunddreißig Jahren« wieder aus und sah ihr mit dem zärtlichsten Lächeln, das man sich nur denken konnte, zu.

Wie wichtig sie tat! So voller Ernst und Hausfrauenwürde und dabei so angestrengt bemüht, nicht laut hinauszulachen, und bestrebt, ihre Unsicherheit zu verbergen. Es war eine Lust, ihr zuzusehen, wie sie ihre Stirne in ernste Falten legte, die hübschen Lippen aufwarf und drauflos knetete, dann wieder den Teig auswalzte, in Streifen schnitt, damit die Form ausfütterte und hübsch sorgsam den Rand abdrückte; wie sie das Fleisch in kleine Stücke hackte und Pfeffer und Salz darauf streute, es dann in die Schüssel warf und frisches Wasser darübergoß. Dabei wagte sie auch nicht einen einzigen verstohlenen Blick auf Tom zu werfen, um nicht den Ernst der Situation zu stören. Als endlich die Form bis zum Rand voll war und nur noch die Teigrinde fehlte, schlug sie ihre mit Mehl und Teig bedeckten Händchen zusammen und brach in ein so herzliches, bezauberndes Triumphgelächter aus, daß der Pudding wohl weiter keiner Würze bedurft hätte, um jedem vernünftigen Menschen zu schmecken.

»Also, wo ist der Pudding?« fragte Tom verschmitzt.

»Wo?« rief Ruth und hob ihn mit beiden Händen in die Höhe. »Da schau mal her!«

»Das soll ein Pudding sein?« lachte Tom.

»Er wird natürlich erst einer werden, du großes Kind, wenn er zugedeckt ist«, schmollte Ruth.

Da Tom noch immer ein ungläubiges Gesicht machte, gab sie ihm mit dem Rollholz einen Klaps auf den Kopf und kehrte herzlich lachend zum Entwurf der Deckelrinde zurück, als sie plötzlich tief errötend zusammenfuhr. Tom stutzte gleichfalls, und als er der Richtung ihres Blickes folgte, sah er, daß John Westlock im Zimmer stand.

»Ach Gott im Himmel, John, wie bist du denn da hereingekommen?«

»Ich bitte um Entschuldigung«, sagte John. – »Vor allem natürlich deine Schwester – aber ich traf an der Haustüre eine alte Dame, die mich eintreten hieß. Und da ihr mich nicht klopfen hörtet und die Türe offenstand, nahm ich mir die Freiheit. Ich weiß zwar kaum«, setzte er lächelnd hinzu, »warum jemand von uns darüber betroffen sein sollte, daß ich mich so zufällig in eine so reizende häusliche Beschäftigung eingedrängt habe, aber offen gestanden bin ich doch ein wenig betreten. Möchtest du nicht so gut sein, Tom, und mich deiner Schwester vorstellen?«

»Mr. John Westlock«, sagte Tom – »meine Schwester.«

»Ich hoffe«, rief John lachend, »Sie werden als die Schwester eines so alten Freundes von mir mich gewiß nicht nach dem ersten Eindruck beurteilen, den ich durch mein ungelegenes Erscheinen wahrscheinlich gemacht habe.«

»Meine Schwester ist vielleicht nicht abgeneigt, dich um dasselbe zu bitten«, rief Tom dazwischen.

John Westlock versicherte natürlich, dies sei von ihrer Seite ganz unnötig, denn er sei ohnedies schon in stummer Bewunderung zu ihr erfüllt, und dann reichte er Ruth die Hand, die sie aber nicht nehmen wollte, da die ihrige noch voll Teig und Mehl sei. Dies wirkte so komisch, daß sie sich alle drei des Lachens nicht erwehren konnten, und bald herrschte wieder die behaglichste, ungenierteste Stimmung.

»Ich freue mich wirklich unendlich, dich hier zu sehen«, sagte Tom. »Bitte, nimm doch Platz.«

»Das kann ich nur unter einer Bedingung tun«, entgegnete John, »und die ist, daß deine Schwester ihren Pudding weiter zurichtet, ganz, als ob ich gar nicht dabei wäre.«

»Das wird sie bestimmt tun«, versprach Tom. »Aber ebenfalls nur unter einer Bedingung, nämlich daß du hierbleibst und ihn mit essen hilfst.«

Die arme kleine Ruth befiel ein Herzklopfen, als Tom diese entsetzliche Unbesonnenheit beging. Ihr war zumute, als könne sie nie wieder vor John Westlock die Augen aufschlagen, wenn der Pudding nicht geraten sollte. Ohne die geringste Ahnung von ihrem Gemütszustand nahm John die Einladung mit größter Bereitwilligkeit an, und nach einigen weiteren Scherzen über den Pudding, der natürlich über die Maßen gut ausfallen mußte, setzte sich Ruth errötend nieder, um ihr Geschäft wieder aufzunehmen.

»Ich bin viel früher gekommen, als ich vorhatte, Tom, aber ich will dir jetzt erzählen, was mich hergeführt hat, und ich glaube, du wirst dich außerordentlich freuen, wenn du es hörst. – – Ist das vielleicht etwas, was du mir zeigen willst?« fragte John.

»O Gott, nein«, rief Tom, der ganz vergessen hatte, daß er den beklecksten Papierbogen noch immer in der Hand hielt, und erst durch diese Frage daran erinnert wurde. »›Ein anständiger junger Mann von fünfunddreißig Jahren‹ – – das ist der Anfang einer Offerte, die ich dir übergeben wollte. Weiter bin ich nicht gekommen.«

»Ich glaube auch nicht, daß du nötig hast, deinen Lebenslauf bis zum Schlusse niederzuschreiben«, sagte John Westlock. »Aber sag mal, wie kommt es, daß du mir nie mitgeteilt hast, daß du Freunde in London besitzest?«

Tom sah seine Schwester mit großen Augen an, und sie erwiderte seinen Blick nicht minder erstaunt.

»Freunde in London?«

»Nun ja«, versetzte John Westlock, »freilich.«

»Hast du vielleicht Freunde in London, liebe Ruth?« fragte Tom.

»Nein.«

»Nun also!« sagte Mr. Pinch. »Aber jedenfalls freut es mich, wenn es auch das erstemal in meinem Leben ist, daß ich etwas davon gehört habe. Ich meinerseits hatte keine Ahnung davon. Die Londoner müssen wirklich Kapitalsburschen sein, daß sie ihre Geheimnisse so streng hüten.«

»Darüber magst du denken, wie du willst«, versetzte John Westlock, »aber, Tom, die Sache muß sich so und nicht anders verhalten. Als ich diesen Morgen gerade beim Frühstück saß, hörte ich an meine Türe klopfen – –«

»Und du schriest darauf sehr laut: ›Herein!‹« ergänzte Tom.

»Stimmt. Und die Person, die klopfte, folgte meiner Einladung und blieb nicht – wie ein gewisser ›anständiger junger Mann von ungefähr fünfunddreißig Jahren‹ seinerzeit – mit offenem Mund im Vorzimmer stehen. Nun gut. Und als sie hereinkam, fand ich, daß sie ein Fremder war, und zwar ein ernster, geschäftsmäßig aussehender Fremder. ›Habe ich das Vergnügen mit Mr. Westlock?‹ fragte der Herr. – ›Ja, das ist mein Name‹, sagte ich. ›Kann ich die Ehre haben, ein paar Worte mit Ihnen zu sprechen?‹ – ›Bitte nur Platz zu nehmen, Sir.‹«

John Westlock machte eine Pause, um nach dem Tisch hinüberzuschielen, wo Toms Schwester, aufmerksam zuhorchend, noch immer mit dem Pudding beschäftigt war, der jetzt bereits ziemlich fertig aussah.

Dann fing er wieder an.

»Als der Mann einen Pudding genommen hatte, – Tom –«

»Wie?« rief Tom.

»Sich niedergesetzt hatte –«

»Aber du sprachst ja von einem Pudding!«

»Nein, nein, ich doch nicht«, leugnete John und wurde ein wenig rot, »ich habe von einem Stuhl gesprochen. Was fällt dir denn ein! – Wie sollte ein Fremder um halb neun Uhr morgens in mein Zimmer kommen und einen Pudding nehmen?! Also, nachdem er einen Stuhl genommen hatte, Tom – also wirklich, einen Stuhl –, setzte er mich nicht wenig in Erstaunen, indem er die Unterhaltung mit den Worten eröffnete: ›Ich glaube, Sir, Sie sind mit einem gewissen Mr. Thomas Pinch bekannt‹«

»Was du da sagst!« rief Tom.

»Ich versichere dir, das waren seine eigenen Worte. Ich antwortete natürlich mit ›ja‹. – Ob ich wisse, wo er gegenwärtig wohne? – Ja. – In London? – Ja. – Der Fremde sagte dann, er habe gehört, daß du deine Stellung bei Mr. Pecksniff aufgegeben habest. Ob dies wirklich der Fall sei? – Ja. – Ob du eine andere Stelle suchest? – Ja.«

»Allerdings suche ich eine«, bestätigte Tom und nickte eifrig.

»Dasselbe sagte ich ihm auch. Du kannst übrigens versichert sein, daß ich mich diesbezüglich so klar aussprach, daß wirklich kein Mißverständnis mehr obwalten konnte. Also gut. – ›In diesem Falle‹, sagte der Herr, ›glaube ich, Mr. Pinch unterbringen zu können.‹«

– Ruth hielt in ihrer Arbeit inne. –

»Gott im Himmel«, rief Tom, »liebe Ruth, denke dir nur, er glaubt mich unterbringen zu können!«

»Natürlich –« fuhr John Westlock fort und blickte wieder verstohlen nach Ruth hin, »war ich nicht weniger gespannt als Ihr Bruder jetzt. Natürlich bat ich ihn fortzufahren und bemerkte, ich wolle dich so bald wie möglich davon in Kenntnis setzen. Er erwiderte, er habe nur sehr wenig mehr zu sagen und mache überhaupt nicht gern viele Worte. Er komme lieber gleich zur Sache. Und das tat er denn auch. Und klipp und klar teilte er mir mit, daß einer seiner Freunde jemanden brauche, der das Amt eines Sekretärs und Bibliothekars versehen könne. Das Gehalt sei zwar gering, da es jährlich nur hundert Pfund betrage und weder Kost noch Wohnung darin inbegriffen seien, aber andererseits sei es kein schwerer Dienst und du könntest jeden Augenblick den Posten antreten.«

»Gott im Himmel«, rief Tom, »hundert Pfund jährlich! Mein lieber, lieber John! Meine liebe Ruth! Denkt euch nur: hundert Pfund im Jahr!«

»Aber das Seltsamste an der Geschichte ist«, nahm John Westlock seine Rede wieder auf und legte seine Hand auf Toms Arm, um seine Aufmerksamkeit zu fesseln und seinen Enthusiasmus für den Augenblick ein wenig im Zaume zu halten – »das Sonderbarste an der Geschichte, Miss Pinch, ist, daß ich den Herrn durchaus nicht kenne und er Tom ebensowenig kennt.«

»Er kann mich auch gar nicht kennen«, sagte Tom ganz verwirrt; »ich kenne doch nicht einen einzigen Menschen in London.« »Und als ich bemerkte«, erzählte John weiter und hielt Toms Hand dabei immer noch fest, »er dürfe mir die Frage nicht verübeln, wer ihn denn an mich gewiesen und wieso er wisse, daß eine Veränderung in der Lage meines Freundes stattgefunden habe, und wer ihm mitgeteilt, daß sich mein Freund für eine derartige Stelle auch ganz besonders eigne, erklärte er trocken, er bedaure, darüber keine weiteren Auskünfte geben zu können.«

»Er glaube, darüber keine weiteren Erklärungen geben zu können?« wiederholte Tom, atemlos vor Erstaunen.

»›Übrigens ist es ja auch kein Geheimnis‹, sagte der Fremde«, setzte John hinzu, »›daß jeder, der einmal in Mr. Pecksniffs Nähe gewesen ist, Mr. Thomas Pinch und seine Talente so genau kennt wie den Kirchturm dieses Dorfes oder den Blauen Drachen.‹«

»Den Blauen Drachen?« wiederholte Tom, abwechselnd seinen Freund und seine Schwester anstarrend.

»Ja, den Blauen Drachen. Und ich gebe dir mein Wort, das Wirtshaus schien ihm so bekannt zu sein, als ob er Mark Tapley in eigener Person gewesen wäre. Ich sagte dir schon, daß ich große Augen machte, aber dennoch konnte ich mich nicht erinnern, den Mann je zuvor gesehen zu haben, obgleich er mit einem Lächeln fragte: ›Sie kennen den Blauen Drachen, Mr. Westlock? Aber was frage ich, ich weiß doch ganz genau, daß Sie ihn kennen.‹«

Tom geriet in immer größere Verwirrung und erklärte immer und immer wieder, das sei das außerordentlichste und verblüffendste Geheimnis, von dem er je in seinem Leben gehört habe.

»Ja, das ist es«, bestätigte John Westlock. »Ich fürchtete mich beinah vor dem Fremden; wahrhaftig ja – obschon es heller Tag und Sonnenschein war. Ich vermutete beinahe, einen übernatürlichen Gast bei mir zu haben, bis er schließlich ein ganz gewöhnliches sterbliches Taschenbuch hervorzog und mir diese Karte hier einhändigte.«

»Mr. Fips«, las Tom ab. »Austin Friars – Austin Friars klingt gespenstig, John!«

»Aber ›Fips‹ dafür um so weniger, sollt ich meinen«, sagte John. »Also dort wohnt er, Tom und erwartet heute morgen unsern Besuch. So, jetzt weißt du soviel von diesem seltsamen Vorfall wie ich selbst.«

Toms Gesicht, das bald vor Jubel über die hundert Pfund jährlich aufstrahlte, bald wieder voller Verwunderung war über den unerklärlichen Zusammenhang dieser Geschichte, konnte nur mit dem seiner Schwester verglichen werden, in deren Miene Erregung und Erstaunen miteinander abwechselten. Was aus dem Beefsteakpudding geworden wäre, wenn er nicht schon beendet gewesen, hätte höchstens ein Astrolog herausbekommen können.

»Tom«, sagte Ruth zögernd nach einer Pause, »ich fürchte, Mr. Westlock weiß vielleicht in seiner Freundschaft für dich mehr von der Sache, als er sagen will.«

»O durchaus nicht!« beteuerte John hastig. »Ich versichere Ihnen, wirklich, Sie irren sich, obschon mir das Gegenteil lieb wäre. Wahrhaftig, ich kann keine derartige Ehre für mich in Anspruch nehmen, Miss Pinch, und habe alles, was ich weiß, erzählt.«

»Sie würden aber gewiß mehr haben erfahren können, wenn es Ihnen gepaßt hätte«, versetzte Ruth und schickte sich an, das Nudelbrett abzukratzen.

»Nein«, schwur John, »wahrhaftig nicht. Es ist aber, finde ich, wirklich nicht sehr edelmütig von Ihnen, mich so unerbittlich zu beargwöhnen, wo ich so unbedingten Glauben in Sie setze! – Ich habe, wie Sie sehen, ein grenzenloses Vertrauen zu dem Pudding, Miss Pinch.«

Ruth lachte, aber gleich darauf wurden sie wieder ernst und besprachen das Thema angelegentlichst. So dunkel auch die ganze Geschichte war, eines stand fest: Tom wurde ein Jahresgehalt von hundert Pfund angeboten, und das war unter allen Umständen die Hauptsache.

Mr. Pinch wollte in seiner Aufregung auf der Stelle nach Austin Friars aufbrechen, aber auf Johns Rat wurde noch eine Stunde gewartet. Tom putzte sich inzwischen so sauber wie möglich heraus, wobei ihm sein braves Schwesterchen emsig an die Hand ging, ihm den Rockkragen ausbürstete, die zerrissenen Nähte an seinen Handschuhen mit ein paar Stichen flickte und bald da, bald dort in ihrer flinken und munteren Weise etwas an ihm ausbesserte. Wie John Westlock dies durch die halboffene Tür mit ansah, erinnerte es ihn an die Phantasieporträts von ihr, die die früheren Zöglinge an die Wand von Pecksniffs Atelier gezeichnet hatten und er kam entrüstet zu dem Schluß, daß sie grobe Karikaturen seien, trotzdem sie, wie bereits erwähnt, sämtlich darin wetteiferten, Miss Pinch als überirdische Schönheit darzustellen, und er selbst mindestens zwanzigmal ebensolche Bilder von ihr entworfen hatte.

»Tom«, sagte er, als sie mitsammen durch die Straßen wanderten, »ich fange wirklich an zu glauben, daß du der Sohn von irgend jemandem bist.«

»Das denke ich allerdings auch«, antwortete Tom gemütlich.

»Aber ich verstehe unter dem ›Jemand‹ einen Mann von Bedeutung!«

»Ach Gott«, sagte Tom, »mein armer Vater war ebensowenig eine bedeutende Persönlichkeit wie meine Mutter.«

»Du erinnerst dich ihrer also noch vollkommen?«

»Ob ich mich ihrer erinnere? O Gott, gewiß. Meine Mutter war der überlebende Teil meines Elternpaares. Sie starb, als Ruth noch ganz klein war, und dann fielen wir beide der guten alten Großmutter zur Last, von der ich dir schon einmal erzählt habe. Du erinnerst dich doch noch? Ach Gott, es ist wirklich nicht viel Romantisches in unserer Geschichte, John.«

»Nun, dann«, meinte John anscheinend sehr desperat, »weiß ich mir wahrhaftig die Geschichte mit dem Gast von heute morgen nicht zu erklären. Aber denken wir jetzt nicht mehr weiter darüber nach, Tom!«

Sie ließen es aber dennoch nicht dabei bewenden, sondern besprachen die Angelegenheit noch weiter, bis sie Austin Friars erreichten, wo sie in einem sehr dunklen Flur des ersten Stockes eine kleine blinde Glastür fanden, auf der in Buchstaben, die transparent sein sollten, der Name »Mr. Fips« aufgemalt war. Dicht daneben verbarg sich in der Dunkelheit ein tückischer alter Seitentisch, der es boshafterweise auf die Rippen der Besucher abgesehen zu haben schien, und eine alte zerfaserte Matte, die, als solche bereits invalid geworden, sich seit vielen Jahren darauf verlegt hatte, den Vorübergehenden ein Bein zu stellen.

Mr. Fips vernahm einen heftigen Anprall eines Hutes an seiner Bureautür und entnahm daraus wie gewöhnlich, daß ihn jemand zu besuchen gedenke. Er machte daher die Türe auf und sagte aufs Geratewohl, es sei »etwas dunkel«.

»Das will ich meinen«, flüsterte John seinem Freunde ins Ohr. »Kein übler Platz, um ›die Leute vom Lande abzukrageln‹, nicht wahr?«

Mr. Pinch hatte gleichfalls bereits an diese Möglichkeit gedacht, und es schwante ihm, sie könnten am Ende in diese Gegend gelockt worden sein, um ohne weiteres zu einer Hackpastete verarbeitet zu werden, aber der Anblick Mr. Fips‘, der ein kleiner schmächtiger, freundlich aussehender Mann war und schwarze Kniehosen und gepudertes Haar trug, beruhigte ihn sofort.

»Bitte nur einzutreten«, lud Mr. Fips die beiden Herren ein.

Was das für ein seltsames gelbsüchtiges kleines Bureauzimmer war!

In einer Ecke auf dem Fußboden prangte ein großer schwarzer Fleck, als ob sich hier vor Jahren ein alter Schreiber den Hals abgeschnitten und statt des Blutes Tinte vergossen hätte.

»Ich habe meinen Freund, Mr. Pinch, mitgebracht, Sir –« begann John Westlock.

»Haben Sie die Güte, Platz zu nehmen«, versetzte Mr. Fips.

Sie setzten sich, und Mr. Fips nahm auf einem Kontorstuhle Platz, zog aus seiner Polsterung ein ungeheuer langes Roßhaar hervor und steckte es augenscheinlich mit großem Wohlbehagen in den Mund.

Trotzdem er Tom Pinch sehr neugierig betrachtete, so verrieten seine Mienen doch nichts, das vernünftigerweise als ungewöhnliche Entfaltung von Interesse hätte gedeutet werden können. Nach einem kurzen Schweigen, während dessen er so wenig Befangenheit zeigte, daß es eigentlich ziemlich auffallend war, fragte er Mr. Westlock, ob sein Freund bereits alles Nähere wegen des Antrages sowie die Bedingungen wisse.

John bejahte.

»Sie wären also geneigt, darauf einzugehen, Sir?« fragte Mr. Fips.

»Ich betrachte es sogar als einen sehr großen Glücksfall für mich«, antwortete Tom. »Ich bin Ihnen wirklich außerordentlich für Ihr Anerbieten dankbar.«

»Bitte, nicht mir«, wehrte Mr. Fips ab. »Ich handle nur im Auftrage eines anderen.«

»Also, dann Ihrem Freunde, Sir. Dem Gentleman, bei dem ich in Dienst treten soll und dessen Vertrauen zu gewinnen ich mich nach Kräften bemühen werde. Wenn er mich erst besser kennengelernt hat, Sir, so hoffe ich, seine gute Meinung von mir nicht zu verlieren. Ich verspreche, daß er mich immer pünktlich, gewissenhaft und fleißig finden soll. Dafür kann ich einstehen. Und vielleicht wird auch Mr. Westlock« – er blickte dabei nach John hin – »für mich einstehen.«

»Selbstverständlich«, rief Mr. Westlock.

Mr. Fips schien es ein wenig schwer zu werden, die Unterhaltung weiterzuführen. Um über die Verlegenheitspausen hinwegzukommen, ergriff er seine Stampilie und stempelte große »F’s« auf seine Hosenbeine.

»Eigentlich«, fing er nach einer Weile stockend wieder an, »ist mein Freund augenblicklich nicht in London.«

Tom machte ein langes Gesicht, denn er fürchtete schon, es solle das soviel heißen, wie, Mr. Fips habe keinen Gefallen an ihm gefunden und wolle sich nach jemand anderem umsehen.

»Wann glauben Sie, daß er nach London kommt, Sir?« fragte er beklommen.

»Ich weiß es wirklich nicht; ich kann Ihnen das unmöglich sagen. Aber«, fuhr Mr. Fips fort und drückte sich mit dem Stempel auf die Wade seines linken Beines ein besonders deutliches F, dabei Tom fest anblickend, »ich glaube nicht, daß das viel zu sagen hat.«

Der arme Mr. Pinch neigte demütig sein Haupt, schien aber doch anderer Meinung zu sein.

»Ich wiederhole«, sagte Mr. Fips, »ich wüßte nicht, was das weiter zu bedeuten hätte. Die Sache wird ja lediglich zwischen uns beiden abgemacht, Mr. Pinch. Sie können Ihre Stelle sofort antreten, und ich zahle Ihnen Ihr Gehalt wöchentlich aus. Hem – ja – wöchentlich. – Hier in diesem Bureau«, setzte er hinzu, legte verlegen das Siegel aus der Hand und blickte abwechselnd seine beiden Besucher an. »Hem, ja. – Wöchentlich, wenn es Ihnen paßt. Jedesmal zwischen vier und fünf Uhr nachmittags.« Dann schwieg er wieder und spitzte den Mund, als ob er pfeifen wolle, tat es aber nicht.

»Sie sind wirklich sehr gütig«, rief Tom mit vor Freude strahlendem Gesicht. »Das ist ja alles vortrefflich. – Und wann soll ich kommen?«

»Nun, so etwa zwischen halb zehn und vier Uhr, dächte ich«, sagte Mr. Fips. »So ungefähr.«

»Ich meinte eigentlich nicht die Dienststunden«, unterbrach ihn Tom, »ich wollte vielmehr fragen, wo ich mich einzufinden habe.«

»Ach so, der Ort! – Der Ort ist im ›Tempel‹.«

Tom war entzückt.

»Vielleicht wünschen Sie sich das Haus anzusehen?« fragte Mr. Fips.

»O Gott, nein«, rief Tom. »Das werde ich schon finden. Ich bin nur so froh, jetzt wirklich angestellt zu sein, daß ich gar nicht recht weiß, was ich sage.«

»Sie können sich darauf verlassen, Sie sind fest angestellt«, versicherte ihm Mr. Fips. »Paßt es Ihnen vielleicht, daß wir uns in einer Stunde am Tempeltor in Fleet Street treffen?«

»Selbstverständlich«, rief Tom.

»Also gut«, sagte Mr. Fips und stand auf, »dann will ich Ihnen das Lokal zeigen, und Sie können gleich morgen früh anfangen. – Also in einer Stunde. – Sie sehe ich doch auch, Mr. Westlock, nicht wahr? – Sehr gut. – Bitte, nehmen Sie sich in acht – es ist etwas dunkel hier.«

Mit dieser ziemlich deplazierten Bemerkung schloß er hinter ihnen die Türe, und John und Tom blieb nichts weiter zu tun, als sich ihren Weg wieder auf die Straße hinab zu tasten. Die Besprechung hatte so wenig beigetragen, das geheimnisvolle Dunkel zu lichten, in das die ganze Angelegenheit gehüllt war, daß beide sich eines Lächelns über ihre verdutzten Gesichter nicht erwehren konnten. Sie trösteten sich damit, daß sich bei Antritt des neuen Amtes und durch näheren Verkehr mit den Kollegen, die Tom dort vorfinden dürfte, gewiß einiges Licht in die Sache bringen lassen werde. Sie verschoben daher alle weiteren Erörterungen auf das anberaumte Zusammentreffen mit Mr. Fips. Sie gingen dann abermals in Johns Wohnung, widmeten dem Schweinskopf einige Minuten und machten sich wieder auf den Weg. Die anberaumte Stunde hatte zwar noch nicht geschlagen, aber Mr. Fips stand bereits am Tor des Tempels, freute sich ungemein über ihre Pünktlichkeit und ging ihnen durch verschiedene Höfe und Gassen voran, bis er in eine Straße einbog, die noch ruhiger und düsterer war als die andern. Hier führte er seine beiden Begleiter in ein Haus, stieg die Treppe empor und zog einen Bund rostiger Schlüssel aus der Tasche. Vor einer Türe im obersten Stock, an der sich dort, wo sonst der Name der Bewohner zu stehen pflegt, nur ein gelber Farbenfleck befand, machte er halt und begann sehr bedächtig aus einem der Schlüssel den Staub herauszuklopfen, sich zu diesem Zwecke des großen breiten Treppengeländers bedienend.

»Sie werden gut tun, später einen kleinen Pfropfen hineinzustecken«, sagte er mit einem Blick auf Tom, nachdem er durch Blasen in das Schlüsselrohr diesem einen schrillen Pfiff entlockt hatte. »Es ist das einzige Mittel, zu verhindern, daß es sich immerwährend verstopft. Auch dürfte wohl das Schloß besser funktionieren, wenn Sie es ein bißchen ölten.«

Tom dankte ihm für den Rat, war aber zu sehr mit seinen Gedanken und dem Studium von John Westlocks Mienen beschäftigt, um besonders redselig zu sein. Mittlerweile hatte Mr. Fips die Türe geöffnet, die jetzt nur mühsam und schauerlich kreischend dem Drucke seiner Hand nachgab. Dann zog er den Schlüssel aus dem Schloß und händigte ihn Tom ein.

»Saperment, Saperment«, sagte er eintretend, »liegt hier aber der Staub dick.«

Das stimmte. Mr. Fips hätte sagen können »schauderhaft dick«, denn der Staub hatte sich überall angehäuft, bedeckte alle Gegenstände in hohen Schichten, und wo das Sonnenlicht durch eine Ritze in den Fensterläden schien und auf die Wand gegenüber fiel, sah man ihn in der Luft kreisen und wirbeln wie ein Rad in einem großen Eichhörnchenkäfig.

Im ganzen Zimmer war er das einzige, das noch Leben zu haben schien. Als Mr. Fips das schwere Schiebefenster aufmachte, um dem Licht freieren Zutritt zu gestatten und die warme Sommerluft einströmen zu lassen, konnte man die verschimmelten, vermoderten Möbel, das verblichene Wandgetäfel, die schmutzige Decke, den rostbedeckten Ofen und den Herd voller Asche erkennen; überall Zeichen ärgster Vernachlässigung. Dicht neben der Tür stand ein Leuchter mit aufgesetztem Löschhorn, als ob der Bewohner, der zuletzt den Raum verlassen, noch einen Abschiedsblick auf die verödete Stube habe werfen wollen.

In demselben Stockwerk lagen noch zwei Zimmer, und von dem ersten oder äußeren führte eine schmale Treppe zu zwei andern einen Stock höher empor, die wie Schlafgemächer ausgestattet waren. In allen diesen Räumen fehlte es durchaus nicht an bequemen Möbeln, freilich sämtlich altmodisch, aber die abgesperrte Luft und der Mangel an Benutzung schienen sie zu allen Zwecken untauglich gemacht zu haben, und ihr Aussehen hatte etwas spukhaft Unheimliches an sich. Allerlei Gerümpel lag unordentlich auf dem Boden umhergestreut, und dazwischen standen Schachteln, Körbe und Kisten. Überall waren große Stöße von Büchern aufgeschichtet, die sich auf viele Tausende belaufen mußten; die einen noch in Ballen, andere in Papier eingewickelt – so, wie man sie gekauft hatte; wieder andere einzeln oder in Haufen umherliegend, keines aber auf den Simsen, die die Wände entlangliefen.

Mr. Fips machte Tom auf dieses Chaos aufmerksam. »Ehe wohl etwas Weiteres geschehen kann, müssen die Bücher vorerst geordnet, auf den Brettern aufgestellt und in Kataloge eingetragen sein, Mr. Pinch. Das wäre wohl so der Anfang, dächte ich.«

Tom rieb sich vor Freude die Hände, denn das war eine Beschäftigung, die ihm ungemein zusagte.

»Außerordentlich interessant, außerordentlich interessant, ich versichere Ihnen«, rief er immer wieder. »Ich werde vielleicht damit zu tun haben, bis Mr. –«

»Bis Mr. –« Wiederholte Mr. Fips in fragendem Tone.

»Ja, richtig. Sie haben mir ja noch gar nicht den Namen des Herrn genannt«, sagte Tom.

»Hem – ja. Jawohl«, rief Mr. Fips und zog sich seine Handschuhe an. »Habe ich das unterlassen? Hem, allerdings, ja. Nun, ich denke wohl, daß er bald hier sein wird. Ich bin überzeugt, Sie werden ganz gut mit ihm auskommen. – Also, ich wünsche Ihnen den besten Erfolg. Nicht wahr, und sie vergessen doch nicht, die Tür zu schließen. Sie fällt von selbst ins Schloß, wenn Sie sie zuschlagen. Also halb zehn, nicht wahr? Von halb zehn bis vier oder fünf Uhr, oder vielleicht auch etwas darüber; den einen Tag vielleicht ein bißchen früher, den andern ein wenig später, je nachdem Sie Lust dazu haben und mit Ihrer Arbeit vorwärtskommen. Meine Adresse ist: Fips, Austin Friars, ich bitte Sie, sich das zu merken. Und nicht wahr, Sie werden nicht vergessen, gefälligst die Türe zuzuschlagen?«

Mr. Fips sagte dies alles so freundlich und gelassen, daß Tom sich nur die Hände reiben, mit dem Kopf nicken und zustimmend lächeln konnte. Er lächelte und nickte noch immer, während Mr. Fips bereits gelassen zur Tür hinausschritt.

»Da haben wir’s, jetzt ist er fort!« rief er, plötzlich gewahr werdend, daß der Advokat bereits draußen war.

»Und was noch mehr ist, Tom«, rief John Westlock, setzte sich auf einen Stoß Bücher und blickte seinen erstaunten Freund lächelnd an, »er gedenkt offenbar nicht wiederzukommen. Du bist also sozusagen und in aller Form hier alleine und zu Hause. Freilich unter etwas sonderbaren Umständen ist das vor sich gegangen.«

Es war in der Tat eine recht seltsame Geschichte, und Tom, der mit dem Hut in der einen und dem Schlüssel in der andern Hand mitten in dem Bücherchaos stand, machte ein so verlegenes Gesicht, daß sein Freund sich nicht enthalten konnte, herzlich laut aufzulachen. Das wirkte so ansteckend auf ihn, daß auch er in ein herzliches Gelächter ausbrach.

Nachdem sie sich gehörig ausgelacht hatten – was nicht so schnell ging, denn John war von Natur ein so lustiger Bursche, daß man ihm nur den kleinen Finger zu reichen brauchte, und schon griff er in solchen Fällen nach der ganzen Hand –, sahen sie sich genauer in den Zimmern um und suchten unter dem verstreuten Gerümpel, ob sich nicht etwas fände, das das Rätsel in irgendeiner Weise aufklären könnte. Aber da war kein Fetzen Papier und nicht eine Zeile, die irgendeinen Aufschluß gegeben hätte. Die Bücher waren mit einer Menge der verschiedenartigsten Namen gezeichnet und offenbar in einer Auktion angekauft worden. Ob aber einer von ihnen der Name von Toms Prinzipal war, darüber konnten sie sich natürlich keine Gewißheit verschaffen. John hatte den Einfall, sich beim Hausmeister zu erkundigen, wem die Wohnung gehöre oder von wem sie gemietet sei, aber gleich darauf kam er mit der Antwort zurück: Mr. Fips von Austin Friars.

»Und das, Tom,« sagte er, »scheint mir, wird wohl das ganze Geheimnis sein. Fips ist offenbar ein exzentrischer Bursche, kennt Pecksniff, verachtet ihn natürlich, hat entsprechend viel von dir gehört oder gesehen und hat dich daher auf seine allerdings etwas närrische Weise angestellt.«

»Aber warum mag er es wohl so kurios angestellt haben?« fragte Tom.

»Ach Gott, er ist eben ein närrischer Kauz. Da könnte man geradesogut fragen: warum trägt er schwarze Kniehosen und pudert sich die Haare, während seine Nebenmenschen Stiefel und Perücke tragen.«

Tom war so fröhlich gestimmt, daß er sich diese Erklärung ohne weiteres gefallen ließ; war sie doch immerhin ziemlich plausibel – und er gab daher zu, daß sich die Sache wohl so verhalten werde.

Dann ließ er den Fensterschieber wieder herunter, schloß die Läden und entfernte sich mit seinem Freunde. Der Aufforderung Mr. Fips‘ eingedenk, schlug er die Tür nach Kräften zu, probierte, ob sie auch fest geschlossen sei, und steckte dann den Schlüssel in die Tasche.

Da sie nichts zu versäumen hatten, machten sie einen ziemlich weiten Umweg nach Islington, und Tom konnte sich an den vielen neuen Dingen, die sich seinen Blicken darboten, gar nicht satt sehen. Es war gut, daß er John Westlock zum Begleiter hatte, denn jeder andere wäre wohl seines unablässigen Stehenbleibens an den Ladenfenstern und seines lebensgefährlichen Hinaustretens auf die Fahrstraße, um die Kirchtürme und öffentlichen Gebäude besser ins Auge fassen zu können, recht bald satt geworden. Aber John war ganz entzückt darüber, und das Herz lachte ihm im Leibe, sooft er Tom mit freudestrahlendem Gesicht immer wieder zwischen den Karren und Mietswagen auftauchen sah.

Als Ruth sie in dem dreieckigen Salon empfing, war wohl kein Teig oder Mehl mehr auf ihren Händen, aber ein freundliches Lächeln auf ihren Mienen, und ein herzliches Willkommen strahlte aus jedem Grübchen in ihren Wangen und leuchtete in ihren Augen. Der Tisch war bereits für das Mittagessen gedeckt, und wenn auch keine feinen Gedecke und kostbaren Gläser darauf lagen oder standen, sondern nur Messer mit grünen Heften und wahre Marterzeuge von zweizinkigen Gabeln, so vermißte man doch weder Silber noch Gold, weder Damast noch Porzellan.

Ruths erstes Kochexperiment war so vortrefflich gelungen, daß John Westlock und Tom behaupteten, sie müsse bestimmt eine Zeitlang heimlich Kochkunst studiert haben, und ihr zuredeten, nur ruhig die Wahrheit einzugestehen.

Es ist wirklich erstaunlich, was drei junge Leute nicht alles zusammenzuplaudern wissen. Keinen Augenblick trat eine Pause ein. Aber nicht immer blieb ihre Unterhaltung so scherzhaft wie anfangs, denn es kam zu einer sehr ernsten Stimmung, als Tom berichtete, wie er vor kurzem Mr. Pecksniffs Töchter gesehen habe und welche Veränderung mit der jüngeren vorgegangen sei.

Das Thema schien John Westlock überhaupt außerordentlich zu interessieren. Ausführlich erkundigte er sich nach allen Einzelheiten bei Gratias Verheiratung, fragte, ob der Gentleman ihr Gatte sei, der Tom nach Salisbury begleitet habe, in welchem Grade der Verwandtschaft die verschiedenen Personen zueinander stünden und so weiter.

Tom schilderte ausführlich die Verhältnisse und erzählte, wie Martin sich außer Landes begeben, aber schon seit längerer Zeit nichts mehr von sich habe hören lassen und wie Mark aus dem »Drachen« mit ihm gewandert, wie Mr. Pecksniff den armen altersschwachen Großvater in seine Gewalt bekommen und wie er niederträchtigerweise um Mary Grahams Hand geworben. Doch kein Wort ließ er verlauten von dem, was tief in seinem Herzen verborgen lag. Nicht eine Silbe.

4. Kapitel


4. Kapitel

Woraus erhellen wird, daß, wenn Einigkeit stark macht, die Chuzzlewits die mächtigste Familie auf Erden sein müßten

Nachdem der würdige Mr. Pecksniff mit den erwähnten feierlichen Worten von seinem Vetter Abschied genommen hatte, kehrte er in seine Wohnung zurück und blieb dort drei volle Tage, ohne auch nur den Fuß zu einem Spaziergang über die Grenzen seines Gartens hinauszusetzen. Erwartete er doch, jeden Augenblick an das Krankenlager seines, wie er insgeheim hoffte, reuigen und von Gewissensbissen zerfleischten Verwandten, dem er in seinem alles umfassenden Wohlwollen in heißester Nächstenliebe zu vergeben sich fest vorgenommen hatte, gerufen zu werden. Der finstere alte Mann war jedoch so verstockt und so erbost, daß keine reuige Einladung kam und Mr. Pecksniff sich am vierten Tage augenscheinlich viel weiter von seinem christlichen Ziele entfernt sah als am ersten.

Während dieser ganzen Zwischenzeit umspukte er den »Drachen« zu allen Stunden des Tages und der Nacht und legte, Böses mit Gutem vergeltend, für den Zustand des hartnäckigen Kranken die angelegentlichste Teilnahme an den Tag, so daß Mrs. Lupin ob seiner uneigennützigen Besorgnis (denn er unterließ es nicht, ihr des öftern zu erklären, daß er ein Gleiches für jeden Fremden oder Armen in einer ähnlichen Lage tun würde) vor Ergriffenheit fast zerschmolz und Tränenströme der Bewunderung und Freude vergoß.

Indessen hatte sich der alte Mr. Martin Chuzzlewit in seinem Zimmer eingeschlossen und ließ niemanden mehr vor als seine junge Begleiterin – nur die Wirtin zum »Blauen Drachen« ausgenommen, die zu gewissen Zeiten ebenfalls Zutritt erhielt. Sooft sie jedoch in das Zimmer kam, stellte sich der alte Herr schlafend. Nur wenn er mit der jungen Dame allein war, gab er zuweilen auf gestellte Fragen einsilbige Antworten.

Am vierten Abend nun begab es sich, daß Mr. Pecksniff wie gewöhnlich in die Bar des »Blauen Drachen« kam und, als er Mrs. Lupin dort nicht fand, geradenwegs die Treppe hinaufging, entschlossen, in der Überfülle seines liebevollen Eifers das Ohr wieder einmal an das Schlüsselloch zu legen und zur Beruhigung seines gequälten Herzens sich zu überzeugen, daß mit dem versteckten Patienten alles gut stehe. Dabei traf sich’s, daß Mr. Pecksniff, als er leise in dem dunkeln Gang dahinschlich, durch den gewöhnlich ein dünner heller Strahl aus demselbigen Schlüsselloch fiel, zu seinem Erstaunen diese Lichtquelle vermißte und sich daher, kaum daß er seinen Weg bis zur Türe getastet, sich hastig niederbeugte, um sich durch persönlichen Augenschein Gewißheit zu verschaffen, ob nicht am Ende der alte Mann aus Mißtrauen das Schlüsselloch von innen verstopft habe. Dabei brachte er seinen Kopf in eine so heftige Berührung mit einem andern, daß er sich nicht enthalten konnte, in seinem Schrecken mit hörbarer Stimme ein kurzes scharf markiertes »Oh!« auszustoßen.

Gleich darauf fühlte sich Mr. Pecksniff von einem Gespenst am Kragen gepackt, das einen intensiven Geruch von feuchten Schirmen, Bier, kaltem Grog und einer kleinen Wirtsstube voll alten Tabakrauchs ausströmte. Dann wurde er unverzüglich in das Schenkzimmer, das er soeben verlassen, hinabgeschleppt, wo er die Bemerkung machte, daß er sich unter der Faust eines wildfremden Gentleman von seltsamem Aussehen befand, der sich mit seiner freien Hand emsig den Kopf rieb und ein sehr böses Gesicht machte.

Die »Fassade« dieses Gentlemans hatte etwas an sich, das man gewöhnlich mit dem Titel »schäbigelegant« bezeichnet, obschon sich dieser Charakterzug bei seiner Toilette kaum bis »in die Fingerspitzen« verfolgen ließ, da seine Nägel weit aus den Handschuhen hervorschauten und die Schuhsohlen in ungebührlicher Entfernung vom Oberleder seiner Stiefel abstanden. Seine Beinkleider waren bläulichgrau und früher offenbar von sehr schreiender Farbe gewesen, aber jetzt durch Alter und Schmutz hinlänglich abgetönt und auch infolge übermäßiger Anspannung der Hosenträger und Stegriemen so gedehnt, daß sie jeden Augenblick an den Knien auseinanderzuplatzen drohten. Sein blauer Rock von militärischem Schnitt war mit Schnüren benäht und bis ans Kinn zugeknöpft. Seine Halsbinde glich an Farbe und Fasson dem Oberteile der gewissen Mäntel, in die die Haarkräusler ihre Klienten während der Mysterien des Frisierens einzuhüllen pflegen. Mit seinem Hute war es so weit bergab gegangen, daß man nur schwer zu sagen vermochte, ob er ursprünglich weiß oder schwarz gewesen. Auch trug der Gentleman einen Schnurrbart – und noch dazu einen zottigen – keinen von den bescheidenen und gezähmten, sondern einen ganz wilden, bösartigen: ein echt satanisches Bartexemplar – und überdies eine wüste Masse ungebürsteten Haupthaares. Sehr schmutzig und doch sehr fexig, sehr prahlerisch und doch sehr mitgenommen, glich der Gentleman einem Menschen, der wohl etwas Besseres hätte sein können, aber ohne Frage noch etwas Schlechteres zu sein verdiente.

»Du hast an der Türe gehorcht, du Vagabund!« rief dieser Herr.

Mr. Pecksniff schüttelte ihn ab, wie etwa Sankt Georg den Drachen, als dieser in den letzten Zügen lag, abgeschüttelt haben mochte, und entgegnete:

»Wo nur Mrs. Lupin stecken mag? Ob wohl die gute Frau weiß, daß jemand hier ist, der – –«

»Halt!« rief der Gentleman. »Ein bißchen Geduld. Sie weiß es. Was weiter?«

»Was weiter, Sir?« rief Mr. Pecksniff. »Was weiter? Wissen Sie, Sir, daß ich ein Freund und Verwandter jenes kranken Herrn bin? Daß ich sein Beschützer, sein Behüter, sein –«

»Der Gatte seiner Nichte sind Sie nicht, darauf kann ich einen Eid ablegen«, fiel der Fremde ihm ins Wort; »der war vor Ihnen da.«

»Was wollen Sie damit sagen?« fragte Mr. Pecksniff mit unwilligem Erstaunen. »Was meinen Sie damit, Sir?«

»Ein bißchen Geduld!« entgegnete der Gentleman. »Vielleicht sind Sie ein Vetter? – Der Vetter, der hier im Orte wohnt?«

»Ja, ich bin der Vetter, der hier im Orte wohnt.« »Sie heißen Pecksniff?«

»Ja.«

»Freut mich, Sie kennenzulernen, und zugleich bitte ich um Verzeihung«, rief der wilde Gentleman, griff an seinen Hut und dann hinter die Krawatte, um seinen Hemdkragen hervorzuziehen, was ihm jedoch gänzlich mißlang. »Sie sehen in mir jemanden, Sir, der gleichfalls an dem Gentleman oben lebhaftes Interesse nimmt. Ein bißchen Geduld.«

Dabei tupfte der Herr auf seine rote Nasenspitze, um damit anzudeuten, er gedenke Mr. Pecksniff in ein tiefes Geheimnis einzuweihen. Dann zog er seinen Hut ab und begann in der Höhlung desselben unter einer Masse von zerknüllten Dokumenten und zerblätterten Zigarrenresten herumzuwühlen, bis er endlich das Kuvert eines alten Briefes fand, das sehr stark beschmutzt war und lebhaft nach Tabak duftete.

»Lesen Sie dies«, rief er und reichte das Dokument Mr. Pecksniff hin.

»Der Adresse nach an Hochwohlgeboren Mr. Chevy Slyme gerichtet«, konstatierte Mr. Pecksniff.

»Sie kennen vermutlich Hochwohlgeboren Mr. Chevy Slyme?« fragte der Fremde.

Mr. Pecksniff zuckte die Achseln, als wollte er sagen: »Ich weiß leider, daß es einen solchen Kerl gibt.«

»Sehr gut«, bemerkte der Gentleman. »Das ist der springende Punkt, und deswegen bin ich hier.«

Abermals fischte er nach seinem Hemdkragen, und diesmal gelang es ihm, wenigstens ein Band zu erwischen.

»Ich bedaure unendlich, mein Freund«, sagte Mr. Pecksniff und schüttelte ruhevoll lächelnd den Kopf, »ich bedaure recht sehr – aber Sie sind nicht die Person, für die Sie sich ausgeben. Ich kenne Mr. Slyme, mein Freund. Sie haben sich daneben gesetzt. – Ehrlichkeit ist die beste Politik. – Sie täten in Hinkunft gut, derlei Behauptungen zu unterlassen.«

»Halt!« rief der Gentleman und streckte beschwörend seinen rechten Arm aus, der so eng in den fadenscheinigen Ärmel hineingezwängt war, daß er wie eine Tuchwurst aussah. »Ein bißchen Geduld!« Dann hielt er inne, um sich mit dem Rücken gegen den Kamin zu lehnen, nahm die Schöße seines Rockes unter den linken Arm, strich sich mit Daumen und Zeigefinger seinen Schnurrbart und hob an:

»Ich sehe, daß Sie mich mißverstehen, aber ich bin nicht verletzt deshalb. Weil es ein Kompliment für mich ist. Sie glauben, ich wolle mich für Chevy Slyme ausgeben? Sir, wenn es einen Mann auf Erden gibt, mit dem verwechselt zu werden ein Gentleman sich zum Stolz und zur Ehre anrechnen darf, so ist es Mr. Slyme. Er ist, ohne Einschränkung, der hochherzigste und freisinnigste, der originellste und geistreichste, klassischste und talentvollste Mann – durchaus shakespearisch, wo nicht miltonisch. Trotzdem er aufs jämmerlichste verkannt wird. Jedem andren in der ganzen weiten Welt schätze ich mich ebenbürtig, aber Slyme steht, wie ich offen bekenne, weit über mir. Sie haben daher unrecht.«

»Ich schloß aus dieser Adresse – – –« stotterte Mr. Pecksniff und hielt das Kuvert hin.

»Ohne Zweifel«, entgegnete der Gentleman. »Aber, Mr. Pecksniff, auch das beweist wieder nur einen genialen Zug Mr. Slymes. Jeder Mensch von wahrem Genie hat seine Eigentümlichkeiten, Sir. Und die Eigentümlichkeit meines Freundes Slyme ist, daß er immer hinter dem Berge hält. Er hält stets hinter dem Berge, Sir. Er ist sogar in diesem Augenblick hinter dem ›Berge‹. Ja,« fuhr der Gentleman fort, schlug sich mit dem Zeigefinger auf die Nase, spreizte weit die Beine und blickte Mr. Pecksniff aufmerksam ins Gesicht, »das ist ein äußerst merkwürdiger und interessanter Zug in Slymes Charakter. Und wenn einmal Slymes Lebensgeschichte veröffentlicht wird, so muß dieser Zug unbedingt von seinem Biographen hervorgehoben werden, da die menschliche Gesellschaft sonst zu kurz käme. Wohlgemerkt, die Gesellschaft käme zu kurz.«

Mr. Pecksniff hustete.

»Slymes Biograph, Sir, wer er auch sein mag«, nahm der Gentleman seine Rede wieder auf, »wird sich an mich wenden müssen; oder wenn ich bereits zu dem gewissen ›Dingsda‹ gegangen sein sollte, aus dessen Reich noch keiner, wie er auch heißen mag, wiedergekehrt ist, so muß er sich an meine Testamentsvollstrecker um die Erlaubnis wenden, unter meinen Papieren nachsuchen zu dürfen. Ich habe mir in meiner anspruchslosen Weise von dem Leben dieses Mannes – meines Adoptivbruders, Sir – einige Notizen gesammelt, die Sie in Erstaunen versetzen würden. Erst am fünfzehnten vergangenen Monats, Sir, als er einen kleinen Wechsel nicht einlösen konnte, den der Gläubiger nicht prolongieren wollte, bediente er sich eines Ausdruckes, der sogar Napoleon Bonaparte in einer Anrede an die französische Armee Ehre gemacht haben würde.«

»Und bitte«, fragte Mr. Pecksniff, der sich augenscheinlich nicht besonders behaglich fühlte, »was mag Mr. Slyme hierhergeführt haben, wenn mir die Frage gestattet ist, trotzdem ich von vornherein aus Rücksicht für meine Stellung jedes Interesse an allen seinen Schritten negieren muß?«

»Zuvörderst«, erklärte der Gentleman, »werden Sie mir die Äußerung erlauben, daß ich gegen diese Bemerkung Einwendung erhebe und lebhaft und mit Unwillen im Namen meines Freundes Slyme dagegen protestiere. Dann muß ich bitten, mir zu gestatten, daß ich mich Ihnen vorstelle. Mein Name ist Tigg, Sir. Der Name Montague Tigg wird Ihnen wohl von den denkwürdigen Ereignissen des Krieges auf der spanischen Halbinsel her geläufig sein?«

Mr. Pecksniff verneinte mit einem leichten Kopfschütteln.

»Gleichviel. – Montague Tigg war mein Vater, und ich trage seinen Namen. Ich habe daher alle Ursache, stolz zu sein – stolz wie Luzifer. Entschuldigen Sie einen Augenblick – ich möchte, daß mein Freund Slyme von jetzt an unserer Unterhaltung beiwohnt.«

Ohne eine Genehmigung abzuwarten, eilte Mr. Tigg zum Haustor des Blauen Drachen und kehrte fast unmittelbar darauf mit seinem Gefährten zurück, der, etwas kleiner als er selbst, in einen alten blauen Kamelottmantel mit verschossenem Scharlachfutter gehüllt war. Sein scharf geschnittenes Gesicht sah von dem langen Warten in Wind und Kälte ganz erstarrt und verkniffen aus, und da sein breiter, roter Ohrenbart und sein verfilztes Haar aus derselben Ursache ungemein zerzaust waren, machte er viel eher einen jämmerlichen und herabgekommenen als einen shakespearschen und miltonischen Eindruck.

»Nun«, sagte Mr. Tigg, klopfte mit der einen Hand seinem liebenswürdigen Freund auf die Schulter und lenkte mit der andren Mr. Pecksniffs Aufmerksamkeit auf ihn, »die Herren sind miteinander verwandt, und Verwandte haben nie miteinander harmoniert, noch werden sie je miteinander harmonieren, was eine sehr weise Einrichtung und eine unvermeidliche Notwendigkeit ist, da es sonst nichts als Familienfreundschaft auf der Welt gäbe und jedermann seinen Nebenmenschen zu Tode langweilen würde. Stünden Sie auf gutem Fuße miteinander, so würde ich Sie als ein ganz verteufelt ungleiches Gespann betrachten; so aber erscheinen Sie mir als ein paar diabolisch schlaue Kerle, mit denen man ein vernünftiges Wort reden kann –«

Hier stieß Mr. Chevy Slyme, dessen geistige Fähigkeiten hauptsächlich duckmäuserischer und schmeichlerischer Tendenz zu sein schienen, seinen Freund verstohlen mit dem Ellbogen an und flüsterte ihm etwas ins Ohr.

»Chiv«, erklärte Mr. Tigg laut in dem hohen Tone eines Mannes, der Heimlichkeiten abhold ist, »ich werde sogleich darauf zu sprechen kommen. Ich handle auf eigne Verantwortung oder gar nicht. Ein so unbedeutendes Anlehen wie eine Krone ziemt sich nicht für einen Mann von deinen Talenten. Einer solchen Summe kannst du von vornherein bei Mr. Pecksniff sicher sein.«

Da jedoch Mr. Pecksniff, seinen Mienen nach zu schließen, diese Gewißheit keineswegs als so unumstößlich bekundete, so legte er wieder den Finger an die Nase, um dadurch anzudeuten, daß das Kontrahieren kleiner Anlehen lediglich eine weitere geniale Eigentümlichkeit seines Freundes Slyme sei und daß er nur des großen metaphysischen Interesses wegen die Sache zur Sprache gebracht habe.

»O Chiv! Chiv!« seufzte er und sah seinen Adoptivbruder mit tief kontemplativer Miene an. »Bei meiner Seele, du bist ein seltsamer Beleg von den kleinen Schwächen, die großen Geistern anhaften. Selbst wenn es nie ein Teleskop auf der Welt gegeben hätte, so müßte ich zuverlässig aus meinen Beobachtungen an dir folgern, daß auch die Sonne Flecken habe! Ich will des Todes sein, wenn wir Menschen nicht allesamt in einer wunderlichen Haut stecken, ohne zu wissen, warum oder weswegen, Mr. Pecksniff! Aber gleichviel! Mögen wir moralisieren, soviel wir wollen, die Welt geht ihren gewöhnlichen Gang fort. Herkules kann zwar, wie Hamlet sagt, mit seiner Keule um sich schlagen, wie er will, er kann doch nicht hindern, daß die Katzen ihr Gejaule auf den Dächern vollführen oder die Hunde erschossen werden, wenn sie ohne Maulkörbe durch die Straßen laufen. Das Leben ist ein Rätsel, das sich höllisch schwer lösen läßt, Mr. Pecksniff! Auf Ehre und Seligkeit, es ist jedenfalls eine sonderbare Sache – aber es nützt nichts, darüber zu philosophieren. Ha, ha! – – – Aber jetzt zu dem, was ich sagen wollte, Mr. Pecksniff:

Ich bin von Natur ein ganz unsinnig weichherziger Bursche und kann nicht mit ansehen, wie ihr beiden aufeinander losschlagt, ohne daß dabei etwas herausschaut. Mr. Pecksniff, Sie sind der Vetter des Testators da oben, und wir sind der Neffe. – Wenn ich sage ›wir‹, so verstehe ich darunter Chiv. Sie sind vielleicht näher mit ihm verwandt als wir. Gut, sei es drum. Aber Sie können ebensowenig an ihn herankommen wie wir. Ich gebe Ihnen mein großes Ehrenwort, Sir, daß ich nur mit kurzen Zwischenpausen, um ein wenig auszuruhen, seit heute morgen neun Uhr durch das Schlüsselloch gesehen und auf Antwort auf das billigste und ehrenhafteste Verlangen, das der menschliche Geist nur zu erdenken imstande ist, gewartet habe – auf ein Gesuch um eine kleine jeweilige Unterstützung von nur fünfzehn Pfund, für die ich mich überdies verbürgen wollte. Es war vergebens. Mr. Chuzzlewit hielt sich beständig mit der fremden Person eingeschlossen, deren Herz er sein ganzes Vertrauen ausschüttet. Wie die Dinge stehen, erkläre ich daher aufs entschiedenste, daß es so nicht geht, nichts taugt, nicht sein kann und unmöglich so fortgehen darf.«

»Jedermann«, versetzte Mr. Pecksniff abweisend, »hat ein unbestreitbares Recht – wenigstens ich möchte es um alle Güter der Erde niemandem absprechen –, seine Handlungen nach seinem eignen Gutdünken einzurichten. Vorausgesetzt, daß er nicht unmoralisch oder irreligiös ist. Ich fühle tief innerlich, daß Mr. Chuzzlewit zum Beispiel mich nicht gerade mit jener christlichen Liebe behandelt, die zwischen uns bestehen sollte. Ich kann mich dadurch verletzt und gekränkt fühlen, möchte aber doch deshalb nicht gleich den übereilten Schluß ziehen, daß seine Kälte in keiner Weise zu rechtfertigen wäre. – Da sei Gott vor! – Überdies, Mr. Tigg«, fuhr Mr. Pecksniff eindringlich fort, »wie könnte man Mr. Chuzzlewit bewegen, von jenen eigentümlichen und ganz unerhörten Vertraulichkeiten, von denen Sie sprachen und die ich leider zugeben muß und um seinetwillen nur tief beklagen kann, abzulassen? Bedenken Sie, mein werter Herr, wie unüberlegt und in den Tag hinein Sie reden.«

»Hm«, meinte Mr. Tigg, »das ist freilich eine schwer zu lösende Frage.«

»Allerdings eine schwer zu lösende Frage«, wiederholte Mr. Pecksniff und trat, sich mit einem Male der weiten moralischen Kluft, die ihn von seinem Gegenüber trennte, bewußt werdend, einen Schritt zurück. »Ohne Zweifel eine sehr schwierige Frage das. Wenn es überhaupt eine Frage ist, die jemand zu erörtern das Recht hat. – Guten Abend.«

»Sie wissen vermutlich noch gar nicht, daß die Spottletoes hier sind?« warf Mr. Tigg noch schnell hin.

»Was sagen Sie da, Sir? Was für Spottletoes?« fuhr Mr. Pecksniff auf und hielt plötzlich auf seinem Weg zur Tür inne.

»Mr. und Mrs. Spottletoe«, erklärte Chevy Slyme, der bisher kein Wort gesprochen und nur mit den Füßen gescharrt hatte, in sehr verdrießlichem Tone, »Spottletoe hat doch meines Onkels Tochter geheiratet, und Mrs. Spottletoe ist Chuzzlewits Nichte. Sie war einmal sein Liebling. Wie mögen Sie da noch fragen: was für Spottletoes?«

»Mein heiliges Ehrenwort!« rief Mr. Pecksniff mit einem verzweifelten Blick gen Himmel. »Das ist ja schrecklich. Die Habgier dieser Leute ist wahrhaft fürchterlich.«

»Das ist übrigens noch nicht alles, Tigg«, wendete sich Slyme an seinen Freund, münzte aber dabei seine Worte auf Mr. Pecksniff. »Anthony Chuzzlewit und sein Sohn haben ebenfalls Wind gekriegt und sind diesen Nachmittag hergefahren. Ich habe sie vor kaum fünf Minuten vorbeikommen sehen, als ich an der Ecke wartete.« »Oh, Mammon, Mammon!« rief Mr. Pecksniff und schlug sich an die Stirn.

»Und ein Bruder und ein Neffe von ihm sind auch schon da«, sagte Slyme, ohne auf die Unterbrechung zu achten.

»Da haben Sie die Geschichte, Sir«, brummte Mr. Tigg; »das ist der springende Punkt, auf den ich hinauswollte und den mein Freund Slyme hier mit wenigen Worten aussprach. Mr. Pecksniff! Jetzt, wo Ihr Vetter – Chivs Onkel – wieder aufgetaucht ist, müssen Schritte getan werden, um sein Wiederverschwinden zu verhindern und womöglich dem Einfluß entgegenzuarbeiten, der von dieser hinterlistigen Favoritin auf ihn geübt wird. Jeder, der Anteil an der Sache nimmt, muß das fühlen. Die ganze Familie hat sich vollzählig hier versammelt. Die Zeit ist da, wo persönliche Eifersucht und egoistische Interessen für eine Weile in den Hintergrund treten müssen, um ein gemeinsames Vorgehen gegen diese Erbschleicherin zu ermöglichen, Sir! Ist der Feind einmal beseitigt, so können Sie wieder ganz für sich selbst handeln. Das bleibt dann jedem Beteiligten unbenommen, und niemand wird schlimmer daran sein als vorher. Bedenken Sie das! Nützen Sie jetzt Ihre Chance. Sie werden uns jederzeit in dem Wirtshaus »Zum Halbmond und den sieben Sternen« antreffen und zu einem vernünftigen Vorschlag bereit finden. Hm! Chiv, lieber Freund, was meinst du, wenn du jetzt hinausgingst und sähest, was für Wetter ist?«

Mr. Slyme zögerte nicht, zu verduften, und ging aller Wahrscheinlichkeit nach wieder an seine Straßenecke.

Mr. Tigg spreizte seine Beine so weit, daß man hätte glauben sollen, sie müßten aus den Scharnieren gehen, versank eine Weile in tiefes Nachdenken und nickte dann lächelnd Mr. Pecksniff zu.

»Wir dürfen die kleinen Exzentritäten unsres Freundes Slyme nicht zu hart beurteilen. Sie bemerkten wohl, daß er mir etwas zuflüsterte?«

Mr. Pecksniff hatte es bemerkt.

»Vermutlich haben Sie auch meine Antwort gehört?«

Mr. Pecksniff hatte sie gehört.

»Fünf Schilling, wie?« fuhr Mr. Tigg gedankenvoll fort. »Hm! Wirklich, ein höchst origineller Mensch! – Und dabei so anspruchslos!« Mr. Pecksniff gab keine Antwort.

»Fünf Schilling!« sprach Mr. Tigg sinnend. »Und nächste Woche pünktlich wieder zurückzahlbar; das ist das beste daran. Sie haben es doch gehört?«

Mr. Pecksniff hatte es nicht gehört.

»Nicht? Ah, da staun ich!« rief Mr. Tigg. »Das ist doch der springende Punkt, Sir. Ich habe noch nicht ein einziges Mal erlebt, daß Chevy Slyme verabsäumt hätte, ein Versprechen einzuhalten. Brauchen Sie vielleicht Kleingeld?«

»Nein«, versetzte Mr. Pecksniff, »danke Ihnen, danke Ihnen. Durchaus nicht.«

»Sonst«, meinte Mr. Tigg, »sonst hätte ich für Sie wechseln lassen.« Nach einer kleinen Pause, die er mit Pfeifen ausfüllte, fragte er plötzlich direkt heraus:

»Wollen Sie Slyme die fünf Schillinge leihen?«

»Nein, keineswegs«, erwiderte Mr. Pecksniff.

»Bei Licht betrachtet«, rief Mr. Tigg und nickte bedächtig, als sei ihm plötzlich ein triftiger Grund eingefallen, den man als Einwurf geltend machen könnte, »haben Sie vielleicht recht. Würden Sie aber dasselbe Bedenken tragen, mir fünf Schillinge zu borgen?«

»Freilich, freilich«, meinte Mr. Pecksniff.

»Aber doch vielleicht eine halbe Krone?«

»Auch keine halbe Krone.«

»Also dann kämen wir ja«, sagte Mr. Tigg lächelnd, »dann kämen wir ja auf die lächerliche kleine Summe von achtzehn Pence herunter: Ha, ha!«

»Muß in gleicher Weise verworfen werden.«

Sofort drückte Mr. Tigg daraufhin Mr. Pecksniff beide Hände und beteuerte voller Feuer, noch nie im Leben einen so charakterfesten und originellen Menschen wie ihn kennengelernt zu haben, und er wünsche nichts sehnlicher als die Ehre seiner näheren Bekanntschaft. Sein Freund Chevy Slyme habe manche kleine Eigenheit an sich, die er als Mann von ausgeprägtem Ehrgefühl keineswegs billigen könne, allein er sähe darüber um so lieber hinweg, als Slyme es doch gewesen, dem er heute das große Vergnügen einer freundschaftlichen Unterhaltung mit Mr. Pecksniff verdanke. Sodann bat Mr. Tigg um die Erlaubnis, Mr. Pecksniff einen recht guten Abend wünschen zu dürfen, und entfernte sich, nicht im geringsten beschämt, sich einen Refus geholt zu haben.

Die Betrachtungen, die Mr. Pecksniff an diesem Abend im Schenkzimmer des ›Drachen‹ und die Nacht über zu Hause anstellte, waren sehr ernster Natur – um so mehr, als sich die Nachrichten, die er hinsichtlich der Ankunft andrer Familienglieder von den Herren Tigg und Slyme erhalten hatte, bei näherer Nachforschung bewahrheiteten. Die Spottletoes hatten sich geradenwegs in den ›Drachen‹ begeben, dort einquartiert und lagen auf Wache. Außerdem hatten sich Anthony Chuzzlewit und sein Sohn Jonas aus Sparsamkeitsrücksichten in einem obskuren Bierhaus – dem ›Halbmond und den sieben Sternen‹ – eingemietet, und schon die nächste Postkutsche brachte noch weitere liebevoll besorgte Verwandte.

Kurz, es kam so weit, daß fast die ganze Familie sich im ›Blauen Drachen‹ niederließ und Martin Chuzzlewit in einen wahren Belagerungszustand versetzte. Der alte Herr jedoch leistete mannhaften Widerstand, wies alle Briefe, Botschaften und Pakete zurück, lehnte es hartnäckig ab, mit jemandem zu unterhandeln, und stellte auch nicht die mindeste Hoffnung auf Kapitulation in Aussicht. Inzwischen begegneten einander die verschiedenen Familienstreitkräfte unablässig in den Straßen, und da sich seit Menschengedenken kein Zweig des Baumes Chuzzlewit mit dem andern vertragen hatte, so setzte es manches Scharmützel, manche Wortgefechte und angedrohte Totschläge. Ein solches Keifen, Schelten, Nasenrümpfen und Stirnrunzeln, eine so förmliche Beerdigung jeder friedlichen Gesinnung und eine so gewaltsame Auferstehung alter Leidenschaften war an der Tagesordnung, daß seit dem Entstehen des Dorfes noch nie etwas Ähnliches in dieser Gegend von sterblichen Ohren vernommen worden war.

Endlich, als die Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit den Höhepunkt erreicht hatte, begannen die gegenseitigen Beschimpfungen in mildern Ausdrücken zu erfolgen, man wandte sich mit ziemlichem Anstande an Mr. Pecksniff, dessen ehrenwerter Charakter und einflußreiche Stellung unwillkürlich Achtung geboten, und kam schließlich überein, eines Nachmittags bei ihm eine allgemeine Versammlung und Beratung abzuhalten, wie Martin Chuzzlewits Hartnäckigkeit zu brechen sei, wozu sich sämtliche anwesende Familienmitglieder einfinden sollten.

Wenn je Mr. Pecksniff einen apostolischen Ausdruck zur Schau trug, so war es an jenem denkwürdigen Tage der Fall. Wenn je ein Mann mit ruhevollem Lächeln die Worte verkündete: »Ich bin ein Bote des Friedens!«, so war es bei dieser Versammlung. Wenn je ein Mensch alle die milden Eigenschaften des Lammes mit einem beträchtlichen Anflug von Friedenstaube und ohne Spur von einem Krokodil oder auch nur die leiseste Andeutung etwa gar eines Schlangencharakters in sich vereinigte, so war es Mr. Pecksniff. Und dann die beiden Misses Pecksniff! Der stillergebene Ausdruck auf dem Antlitze der holden Charitas, der zu sagen schien: ich weiß, daß meine ganze Sippe mich aufs unheilbarste gekränkt hat, aber ich vergebe ihnen samt und sonders, denn es ist meine Pflicht, es zu tun – und dann Gratias frohsinnige Einfalt, so bezaubernd, so unschuldig, so kindlich, daß, wenn es etwas früher in der Jahreszeit gewesen und sie allein ausgegangen wäre, die Rotkehlchen sie mit Laub bedeckt und für eines der süßen Feenkinder des Waldes gehalten haben würden, das wieder einmal herausgekommen wäre, um Brombeeren zu suchen! Welche Worte könnten imstande sein, die Pecksniffs in jener hehren Stunde zu schildern!

Und als dann die Gesellschaft anlangte! Wie Pecksniff, links und rechts eine Tochter, von seinem Patriarchensitz oben am Tische aufstand, in seinem besten Zimmer die Gäste empfing und ihnen mit überströmenden Augen und einem von huldreichem Schweiße feuchten Antlitz Plätze anbot! Und dann die Gesellschaft! Der Kontrast! Die eifersüchtigen, steinherzigen, argwöhnischen Familienmitglieder, die niemandem und nichts glaubten, nicht einmal sich selbst – geschweige denn den Pecksniffs. Borstig und widerhaarig wie Igel oder Stachelschweine.

Da waren vor allem Mr. Spottletoe, der so kahl war und einen so dichten Backenbart hatte, daß es schien, als sei sein Haupthaar ihm plötzlich durch ein Zaubermittel ins Gesicht gerutscht – dann Mrs. Spottletoe, eine Dame von poetischer Konstitution und viel zu schmächtig für ihr Alter, die ihren Busenfreundinnen bei jeder Gelegenheit mitzuteilen pflegte, genannter Herr im Backenbart sei »der Leitstern« ihres Lebens, und jetzt infolge ihrer heißen Liebe zu ihrem Onkel Chuzzlewit und des Herzeleides, man könne sie möglicherweise wegen Erbschleicherei im Verdacht haben, leise stöhnte. Ferner Mr. Anthony Chuzzlewit, das Gesicht durch die Schlauheit und Behutsamkeit, die er sein ganzes Leben lang geübt, so messerscharf, daß es förmlich die Luft zu schneiden schien, wie er sich hinter den Stühlen die Wand entlang schlich. Sein Sohn Jonas, an Wesen und Art sein getreues Ebenbild, flüsterte auf ihn ein, und dann blieben beide mit ihren entzündeten Augen blinzelnd Seite an Seite in der Ecke stehen. Außerdem war noch die Witwe eines verstorbenen Bruders von Mr. Martin Chuzzlewit zugegen, die wegen ihres fast übernatürlich zuwidern Wesens, ihrer knöchernen Gestalt und männlichen Stimme als sogenannte »entschlossene« Frau galt und, wenn es auf sie angekommen wäre, am liebsten ihren Schwager in ein Tollhaus gesteckt und darin gehalten hätte, bis er seine völlige Geistesgesundheit durch ein Testament zu ihren Gunsten erwiesen haben würde. Neben ihr saßen ihre jungfräulichen Töchter, drei an der Zahl und von so edler Haltung, daß man wohl mit Recht annehmen konnte, ihre engen Schnürleiber trügen das meiste dazu bei. Auch ein junger Gentleman, ein sehr schwarzer und behaarter Großneffe Mr. Martin Chuzzlewits, und ein unverheiratetes Bäschen, das nur wegen ihrer großen Taubheit und ihrer Alt-Jüngferlichkeit auffiel und beständig an Zahnweh litt, hatten sich eingefunden. – Mr. George Chuzzlewit, ein lebensfroher, unverheirateter Vetter, der noch immer jung erscheinen wollte, sehr zu Korpulenz neigte und sich derart vollzufressen pflegte, daß seine Augen mit der Zeit aus ihren Höhlen gequollen waren und sich hervordrängten, wie in unablässigem Staunen begriffen, war so augenfällig zu Finnen disponiert, daß die hellen Tupfen an seiner Halsbinde, das reiche Dessin seiner Weste und sogar seine schimmernden Pretiosen wie eine Hautkrankheit an ihm erschienen. Mr. Chevy Slyme und sein Freund Mr. Tigg schlossen die Reihe. So war der liebenswürdige kleine Familienzirkel beschaffen, der sich jetzt in Mr. Pecksniffs »guter Stube« versammelt hatte und nur darauf lauerte, über den liebenswürdigen Hausherrn oder wen immer sonst herzufallen.

»Dieser Anblick erquickt mein Herz«, begann Mr. Pecksniff, stand auf und sah sich mit gefalteten Händen im Kreise um. »Er erquickt nicht minder die Herzen meiner Töchter. Es ist eine erfreuliche Auszeichnung, die Sie uns haben zuteil werden lassen, und glauben Sie mir« – von seinem Lächeln an dieser Stelle seiner Rede kann sich niemand auch nur annähernd einen Begriff machen – »wir werden es nimmermehr vergessen.«

»Ich bedaure, Sie unterbrechen zu müssen, Pecksniff«, fiel Mr. Spottletoe, der Herr mit dem gewaltigen Backenbart, ein, »aber Sie sind sehr im Irrtum, Sir. Meinen Sie wirklich, es fiele irgend jemandem bei, Ihnen eine Auszeichnung zuteil werden zu lassen, Sir?«

Ein allgemeines Gemurmel schien zu bestätigen, daß tatsächlich niemand diese Absicht hege.

»Wenn Sie so fortzufahren gedenken, wie Sie angefangen haben«, rief Mr. Spottletoe hitzig und schlug mit der Faust auf den Tisch, »so wäre es besser, wenn Sie lieber gleich davon abstünden und die Versammlung sich auflöste. Ihr alberner Wunsch, hier als Oberhaupt der Familie zu fungieren, ist für mich nichts Neues, aber ich kann Ihnen sagen, Sir –«

»Ja natürlich! Er will etwas sagen. Er! Wie? Ist etwa er das Oberhaupt?« Und im Nu fielen, von der »entschlossenen« Dame abwärts, alle einmütig über Mr. Spottletoe her, bis dieser nach vergeblichen Bemühungen, sich Gehör zu verschaffen, sich wieder niedersetzte, stumm die Arme verschränkte, zornig den Kopf schüttelte und seiner Gattin durch Gebärden zu verstehen gab, der Spitzbube Pecksniff solle vorderhand nur fortmachen. Er wolle ihm im richtigen Augenblick schon zu Leibe gehen und ihn vernichten.

»Es tut mir durchaus nicht leid«, nahm Mr. Pecksniff seine Rede wieder auf, »«es tut mir in der Tat durchaus nicht leid, daß sich dieser kleine Zwischenfall ereignet hat. Weiß man doch wenigstens, daß sich niemand hier einer Maske bedient und wir ohne Rückhalt und ehrlich und offen in unsern wahren Charakteren voreinander erscheinen können.«

Sofort erhob sich bei diesen Worten die älteste Tochter der »entschlossenen« Dame ein wenig von ihrem Sitze und drückte, wie es schien, mehr aus unterdrückter Leidenschaft als Befangenheit, von Kopf bis zu Fuß zitternd, im allgemeinen die Hoffnung aus, daß vor allem »gewisse« Leute in ihren eigenen Charakteren erscheinen sollten – wäre es auch nur, weil ein solches Benehmen den löblichen Reiz der Neuheit hätte, und daß vorgenannte »gewisse« Leute, wenn sie von ihren Verwandten sprächen, sorgfältig darauf achten möchten, wer alles zugegen sei, sonst könnte ihnen etwas zu Ohren kommen, was sie vermutlich sehr verstimmen dürfte. Und was rote Nasen beträfe, so habe sie bisher noch nicht gewußt, daß eine rote Nase eine »Maske« sei oder jemandem zum Schimpf gereiche, sofern die Leute ihre Nasen weder selber machten noch färbten, sondern diesen Gesichtsanhang eben erhielten, ohne daß man sie vorher um Erlaubnis frage, und übrigens sei noch sehr zweifelhaft, ob »gewisse« Nasen nicht röter wären als andere. Da diese Bemerkungen von den beiden Schwestern der Sprecherin mit einem schrillen Gelächter begrüßt wurden, sah sich Miss Charitas Pecksniff genötigt, mit großer Höflichkeit um Auskunft zu bitten, ob eine dieser höchst gemeinen Anspielungen vielleicht auf sie gemünzt sei. Und als sie keine weitere Erklärung als das Sprichwort »Wen’s juckt, der kratze sich« erhielt, schritt sie ihrerseits zu einer ziemlich scharfen und persönlichen Entgegnung – angestachelt von ihrer Schwester Gratia, die die ganze Zeit über mit großer Herzlichkeit und womöglich noch natürlicher als sonst laut gelacht hatte. Da erfahrungsgemäß eine Meinungsverschiedenheit unter Damen nicht erörtert werden kann, ohne daß nicht alle Angehörigen gleichen Geschlechts, die sich in Hörweite befinden, dabei Partei ergreifen, so mischten sich alsbald die »entschlossene« Dame, ihre beiden Töchter, Mrs. Spottletoe und das taube Bäschen, das sich durch den Umstand, daß es nicht wußte, um was es sich handelte, keineswegs abhalten ließ, samt und sonders lebhaft ein.

Da die beiden Misses Pecksniff den drei Misses Chuzzlewit so ziemlich gewachsen waren, so würde sich die Schlacht zweifellos sehr in die Länge gezogen haben ohne die hohe Tapferkeit und Bravour der »entschlossenen« Dame, die kraft ihrer sarkastischen Zunge Mrs. Spottletoe dermaßen mit höhnenden Worten bearbeitete, daß diese, ehe noch das Scharmützel zwei Minuten gewährt hatte, zu Tränen ihre Zuflucht nehmen mußte. Das hatte irgendwie zur Folge, daß Mr. Spottletoe Mr. Pecksniff die geballte Faust dicht vors Auge hielt wie eine Naturmerkwürdigkeit, aus deren näherer Betrachtung sich große Erbauung und Belehrung erholen ließe. Nachdem er sich sodann ohne erforschlichen Grund erbötig gemacht hatte, Mr. George Chuzzlewit mit Fußtritten zu regulieren, wenn man ihm sechs Pence dafür zahle, reichte er seiner Gattin den Arm und stolzierte indigniert hinaus. Das lenkte die Aufmerksamkeit der Streitkräfte einigermaßen ab und machte dem Kampfe wenigstens soweit ein Ende, daß nur noch hie und da unbedeutende Wutblitze aufzuckten.

Schließlich erhob sich Mr. Pecksniff abermals von seinem Sitze. Die beiden Misses Pecksniff nahmen dabei eine Miene an, als ob es nicht nur im Bereiche des Zimmers, sondern auf der ganzen Welt gar keine Misses Chuzzlewit gäbe, und die drei Misses Chuzzlewit ihrerseits taten desgleichen.

»Es ist sehr zu beklagen«, begann Mr. Pecksniff in demutsvoller Rückerinnerung an Mr. Spottletoes geballte Faust, »daß sich unser Freund so hastig entfernt hat. Andererseits haben wir Grund, uns gegenseitig dazu Glück zu wünschen. Können wir jetzt wenigstens sicher sein, solange er abwesend ist, in dem, was wir sprechen oder tun, nicht durch seinen Argwohn gestört zu werden. Ist das nicht ein sehr beruhigender Gedanke?«

»Pecksniff«, rief Anthony, der die ganze Gesellschaft von Anfang an mit atemlos lauerndem Blick beobachtet hatte, »heucheln Sie nicht so!« »Was soll ich nicht, mein werter Herr?« fragte Mr. Pecksniff.

»Nicht so heucheln!«

»Charitas, mein liebes Kind«, wendete sich Mr. Pecksniff an seine Tochter, »erinnere mich heute abend vor dem Schlafengehen, daß ich noch angelegentlicher als sonst für Mr. Anthony Chuzzlewit bete, da er mir unrecht getan hat.« Er sprach diese Worte mit höchst milder Stimme und beiseite, als gälten sie lediglich seiner Tochter. Mit dem freudigen Bewußtsein eines guten Gewissens nahm er dann seine Rede wieder auf:

»Alle unsre Gedanken weilen bei unserm vielgeliebten, aber unfreundlichen Verwandten, und da er gewissermaßen unserm Bereich entrückt ist, so haben wir uns heute recht eigentlich wie zu einem Leichenbegängnis versammelt – wenn sich auch glücklicherweise nicht wirklich ein Toter im Hause befindet.«

Die »entschlossene« Dame war nun aber nicht überzeugt, daß man hier das Wort »glücklicherweise« gebrauchen dürfe. Eher das Gegenteil.

»Gut, meine teure Madame!« gab Mr. Pecksniff zu. »Sei dem, wie es wolle – wir sind nun einmal da; und weil wir da sind, so wollen wir in Erwägung ziehen, ob es nicht möglich sei, durch was immer für erlaubte Mittel –«

»Ach was, Sie wissen so gut wie ich«, unterbrach die »entschlossene« Dame, »daß in einem solchen Falle alle Mittel erlaubt sind – oder vielleicht nicht?«

»Sehr gut, meine teure Madame, sehr gut! – Also ob es nicht möglich ist, durch was immer für Mittel – wir wollen sagen, durch jedes Mittel – unserm teuern Verwandten seine gegenwärtige Verblendung zu Gemüte zu führen. Ob es nicht möglich ist, ihm durch was immer für Mittel hinsichtlich des wahren Charakters und der Absichten der gewissen jungen Frauensperson die Augen zu öffnen, deren seltsame – deren höchst seltsame Stellung bei ihm« – hier dämpfte Mr. Pecksniff seine Stimme zu einem eindringlichen Flüstern – »tatsächlich einen Schandfleck auf unsere Familie wirft, und die bekanntermaßen« – hier erhob er seine Stimme wieder – »wozu wäre sie sonst bei ihm! – die hinterlistigsten Absichten auf sein Vermögen hegt.«

Wie wenig sonst die Anwesenden miteinander harmonieren mochten, so waren sie doch hinsichtlich dieses Punktes aufs entschiedenste gleicher Ansicht. »Gütiger Himmel, wirklich Absichten hegt sie auf Martin Chuzzlewits Vermögen?!« Die entschlossene Dame war für Gift, ihre drei Töchter für Einsperrung in Bridewell bei Brot und Wasser, das Bäschen mit dem Zahnweh redete Botanybai das Wort, und die beiden Misses Pecksniff verfielen auf Auspeitschenlassen. Mr. Tigg ausgenommen, der unbeschadet seiner außerordentlichen Schäbigkeit, kraft seiner schnurrbartverbrämten Oberlippe und seiner Brustschnüre gewissermaßen als galanter Ritter galt, zweifelte niemand an der Erlaubtheit solcher Maßregeln. Und auch er durfte seine Bedenken nur ungestraft aussprechen, weil er dabei die Damen voll Bewunderung beliebäugelte.

»Nun«, sagte Mr. Pecksniff und kreuzte seine beiden Zeigefinger in einer Weise, die etwas ungemein Versöhnliches und Beweisendes hatte, »auf der einen Seite will ich nicht gerade so weit gehen, zu behaupten, daß die ›Person‹ alle die Züchtigungen verdiente, die hier empfohlen worden sind; und auf der andren Seite möchte ich wieder meinen gesunden Menschenverstand um keinen Preis so weit kompromittieren, um zu behaupten, daß sie sie wieder nicht verdiene. Ich wollte eigentlich nur bemerken, daß es geraten sein dürfte, einige praktische Maßregeln zu ersinnen, um unseren wertgeschätzten – soll ich sagen, unsern hochverehrten –?« »Nein!« fiel ihm die entschlossene Dame mit lauter Stimme ins Wort. »Nun, so will ich es unterlassen – Sie haben ganz recht, meine teure Madame; ich schätze Sie und danke Ihnen für Ihren umsichtigen Einwurf – also unsern nicht hochverehrten Verwandten zu veranlassen, auf die Stimme der Natur zu hören und nicht auf die – auf die – auf die – –«

»Nur weiter, Pa!« rief Gratia.

»Ich muß gestehen«, entschuldigte sich Mr. Pecksniff, die versammelte Verwandtschaft mit einem Lächeln beehrend, »die Wahrheit ist, daß ich um ein passendes Wort verlegen bin. Der Name der gewissen Fabeltiere aus dem blinden Heidentume, die in den Fluten zu singen pflegten, ist mir entfallen.«

»Schwäne?« riet Mr. George Chuzzlewit.

»Nein, nein. Nicht Schwäne – obgleich den Schwänen sehr ähnlich. Ich danke Ihnen.«

Der behaarte Neffe öffnete ein einziges und letztes Mal den Mund und meinte: »Austern?«

»Nein«, versetzte Mr. Pecksniff mit der ihm angebotenen Höflichkeit; »auch nicht Austern. Aber doch keineswegs den Austern unähnlich – eine ganz exzellente Idee übrigens: ich danke Ihnen, werter Herr; danke recht sehr. Halt, ich hab’s: Sirenen! Du mein Himmel! Natürlich: Sirenen. – – Ich glaube, gesagt zu haben, daß man auf Maßregeln sinnen sollte, unsern wertgeschätzten Verwandten zu veranlassen, daß er auf die Stimme der Natur höre und nicht auf die Sirenenklänge der Arglist. Nun dürfen wir aber auch nicht die Tatsache aus dem Gesicht verlieren, daß unser geschätzter Verwandter einen Enkel hat, dem er noch bis vor kurzem sehr zugetan war und den ich heute sehr gerne ebenfalls hier gesehen hätte, zumal ich eine wahre und tiefe Hochachtung für ihn empfinde. Ein hübscher junger Mann – ein äußerst hübscher junger Mann! – – Ich wollte Ihnen nun den Vorschlag machen, ob wir Mr. Chuzzlewits Mißtrauen nicht von uns abwenden und unsre Uneigennützigkeit dadurch an den Tag legen könnten, wenn wir –«

»Wenn Mr. George Chuzzlewit mir etwas zu sagen hat«, unterbrach die entschlossene Dame streng die schöne Rede, »so soll er gefälligst frei herausreden wie ein Mann und nicht mich und meine Tochter anstieren, als ob er uns fressen wollte.«

»Was das Anstieren betrifft, Mrs. Ned«, erwiderte Mr. George ärgerlich, »so habe ich mir sagen lassen, daß auch die Katze den Kaiser anschauen darf. Und ich als angestammtes und – hüm – nicht angeheiratetes Mitglied der Familie kann um so mehr anschauen, wen ich will. Na, und hinsichtlich des Fressens erlaube ich mir die Bemerkung, daß ich darin nicht so begierig bin, Madam.«

»Davon bin ich noch nicht so überzeugt«, meinte die entschlossene Dame spitz.

»Und wenn es auch der Fall wäre«, rief Mr. George Chuzzlewit, durch diese Erwiderung sehr gereizt, »so würde mir jedenfalls beizeiten einfallen, daß eine Frau, die drei Männer überlebt und unter diesen Verlusten so wenig gelitten hat wie Sie, bedenklich – zäh sein muß.«

Die entschlossene Dame sprang auf.

»Auch muß ich ferner noch bemerken«, sprach Mr. George erregt weiter und nickte bei jedem Wort heftig mit dem Kopf, »ohne Namen zu nennen und anzüglich werden zu wollen, daß ich der Ansicht bin, es würde weit anständiger und passender sein, wenn gewisse Leute, die sich durch Heirat listigerweise in die Verwandtschaft eingeschlichen und später ihre Gatten unter die Erde gekeift haben, es unterlassen würden, auch noch über lebende wirkliche Familienangehörige wie die Aasgeier herzufallen. Auch glaube ich, wäre es höchst angebracht, wenn solche Individuen hübsch zu Hause blieben und mit dem zufrieden wären, was sie bereits ergattert haben, statt hier herumzulungern und ihre Finger in eine Familienpastete zu stecken, die schon nach ihnen riecht, wenn sie noch fünfzig Meilen davon entfernt sind.«

»Darauf hätte ich gefaßt sein können!« rief die entschlossene Dame, blickte mit geringschätzigem Lächeln umher und rauschte sodann mit ihren drei Töchtern zur Türe. »Übrigens war ich von Anfang an vollkommen darauf gefaßt. Was könnte man auch Besseres von einer solchen – Atmosphäre erwarten!«

»Richten Sie gefälligst Ihren Halbsoldoffiziersblick nicht auf mich, Madam, wenn ich bitten darf«, fiel ihr Miss Charitas ins Wort, »Sie sind mir widerwärtig.«

Dies war eine beißende Anspielung auf eine Witwenpension, die die entschlossene Dame nach ihrem zweiten Gatten und vor ihrer letzten Ehe bezogen hatte. Der Hieb saß tief, denn Mrs. Chuzzlewit fuhr auf und schrie:

»Ich mußte verzichten auf die Gedächtnisstiftung eines teuren Vaterlandes, eben weil ich in diese Familie trat, du höchst erbärmliche Hexe! – – – Und ich fühle jetzt – wenn ich es auch damals nicht fühlte –, daß mir ganz recht geschah, als ich durch eine solche Selbsterniedrigung meiner Ansprüche an das Vereinigte Königreich von Großbritannien und Irland verlustig ging. – – – Nun, meine lieben Töchter, wenn ihr bereit seid und euch hinlänglich durch Beherzigung des edlen Beispiels dieser beiden jungen Damen erbaut habt, so könnten wir, dächte ich, gehen. Und Ihnen, Mr. Pecksniff, sind wir wirklich ungemein verbunden. Wir kamen, um uns zu amüsieren, und in dieser Hinsicht haben Sie unsere Erwartungen sogar noch bei weitem übertroffen. Ich danke Ihnen. – Adieu!«

Mit diesen Abschiedsworten fegte die entschlossene Frau aus dem Zimmer und aus dem Hause, von ihren Töchtern gefolgt, die einmütig ihre drei spitzigen Nasen rümpften und ein verächtliches Kichern anstimmten. Einen Augenblick später gingen sie ostentativ und mit dem Ausdruck nicht zu bändigenden Entzückens außen am Fenster vorüber. Mit diesem Schlußcoup, der die drinnen gewaltig entmutigen sollte, verschwanden sie.

Ehe noch Mr. Pecksniff oder irgend einer der noch anwesenden Gäste den Mund zu einer Bemerkung öffnen konnte, kam aus der entgegengesetzten Richtung her eine andere Gestalt in großer Eile am Fenster vorbei, und unmittelbar darauf stürzte Mr. Spottletoe ins Zimmer. Im Vergleich zu seiner jetzigen Aufregung war er der reinste Eiszapfen gewesen, als er sich vor einer Stunde entfernte. Von seinem kahlen Haupte troff so viel Öl hernieder, daß sein Backenbart geradezu gesalbt erschien; sein Gesicht glühte, und er zitterte an allen Gliedern und schnappte nach Luft.

»Mein werter Herr!« rief Mr. Pecksniff.

»O ja!« keuchte Mr. Spottletoe. »O ja, freilich! Oh, selbstverständlich! Oh, natürlich! Ihr hört, was er sagt! Hört ihr alle, was er sagt?«

»Was gibt’s denn?« riefen mehrere Stimmen.

»Oh, nichts!« rief Mr. Spottletoe, noch immer nach Luft schnappend. »Ganz und gar nichts! – Vollkommen bedeutungslos. Fragt doch ihn! Er kann’s euch am besten sagen!«

»Ich verstehe nicht, was unser Freund meint«, sagte Mr. Pecksniff und sah sich voller Erstaunen im Kreise um. »Ich versichre Ihnen, daß mir sein Benehmen geradezu rätselhaft erscheint.«

»Rätselhaft!« schrie Mr. Spottletoe. »Rätselhaft! Wollen Sie uns vielleicht weismachen, Sir, Sie wüßten nicht, was vorgefallen ist? – Haben Sie uns vielleicht nicht hierher gelockt und ein Komplott gegen uns geschmiedet?! Erdreisten Sie sich vielleicht gar, zu sagen, Sie wüßten nicht, daß Martin Chuzzlewit fort ist, auf und davon? Ist es Ihnen vielleicht sogar unbekannt, wohin er sich gewendet hat, Sir?!«

»Fort?« riefen alle wild durcheinander.

»Fort!« echote Mr. Spottletoe. »Fort, während wir hier konferierten! Fort; und niemand will wissen, wohin. Oh, natürlich nicht! Die Wirtin dachte bis zum letzten Augenblick, er mache bloß eine Spazierfahrt. Sie hatte doch keine Ahnung. Natürlich nicht! Wie sollte sie wohl! Sie ist auch nicht die Kreatur dieses Kerls. Oh, Gott bewahre!«

Diesen Ausrufen ließ der aufgeregte Gentleman eine Art ironischen Geheuls folgen, dann schwieg er plötzlich, sah die Gesellschaft eine kurze Weile stumm an und stürzte mit furchtbarer Eile wieder hinaus.

Vergeblich beteuerte Mr. Pecksniff, daß diese neuerliche und so gut gelungene Flucht Martin Chuzzlewits für ihn mindestens ebenso unerwartet und überraschend komme wie für sonst jemanden. Von allen Beschimpfungen und Verwünschungen, die jemals auf ein unglückliches Haupt gehäuft worden, kann wohl keine aufrichtiger gemeint und kräftiger gewesen sein als die, mit denen sich jeder einzelne der noch zurückgebliebenen Verwandten von dem unglücklichen Mr. Pecksniff verabschiedete.

Fürchterlich war die moralische Höhe, auf die sich Mr. Tigg ihm gegenüber stellte, und das taube Bäschen, dem das doppelt harte Los zuteil geworden, die Vorgänge mit ansehen zu müssen und nichts als die Katastrophe hören zu können, kratzte sich die Füße vor der Tür ab und verteilte die Eindrücke davon über die ganze obere Treppe, zum Zeichen, daß sie den Staub von ihren Schuhen schüttele, ehe sie dieses Haus der Arglist und Treulosigkeit verlasse.

Kurz, Mr. Pecksniff blieb nur ein einziger Trost, nämlich das Bewußtsein, daß alle diese Verwandten und Freunde ihn zuvor schon aufs äußerste gehaßt und er seinerseits nicht mehr Liebe an sie verschwendet hatte, als er bei seinem ungeheuern Reichtum an diesem Artikel leicht verschmerzen konnte. Die Betrachtungen, die er von diesem Gesichtspunkte aus anstellte, bereiteten ihm ungemein viel Trost – eine Tatsache, die um so mehr Beachtung verdient, als sie zeigt, wie leicht ein wahrhaft guter Mensch sich über Enttäuschungen aller Art hinwegzusetzen vermag.

40. Kapitel


40. Kapitel

Die Geschwister Pinch machen eine neue Bekanntschaft und kommen aus dem Staunen gar nicht mehr heraus

Die unbewohnten Zimmer im Tempel hatten etwas Geisterhaftes, was auf Tom einen seltsamen Reiz ausübte. Jeden Morgen, wenn er die Haustüre in Islington zuklinkte und sich der Rauchatmosphäre Londons zuwandte, fing auch schon die rätselhafte Verzauberung an und zog ihn von Minute zu Minute tiefer in ihre geheimnisvollen Netze, bis er endlich wieder nach Hause ging und den Spuk wie eine regungslose Wolke am Himmel seines Gemütes hinter sich zurückließ.

Jeden Morgen war ihm zumute, als träte er in einen gespenstigen Nebel hinein, der ihn nach und nach ganz einhüllte. Der Übergang von dem Getümmel und Lärm der Straßen in die ruhigen Höfe des Tempels war der erste Schritt dazu. Jeder Widerhall seiner Fußtritte tönte ihm in die Ohren wie ein Schall von den alten Mauern und dem Pflaster, der nur der Sprache bedurfte, um die Geschichte der düstern, unheimlichen Zimmer zu erzählen – ihm zuzuraunen, wie viele für verloren gehaltene Dokumente in den vergessenen Winkeln jener verschlossenen Halle moderten, aus deren Gitteröffnungen so seltsame Seufzer heraufzutönen schienen, wenn er vorbeiging, oder ihm in dumpfem Tone düstere Sagen zuzumurmeln von den Rittern mit den auf der Brust gefalteten Händen, deren Marmorbilder in der Kirche Wache hielten. Der erste Schritt auf der Treppe, die zu seinem staubigen Arbeitsraum führte, steigerte noch diese geheimnisvolle Stimmung, bis er schließlich unmerklich von dem Einfluß ganz umstrickt war.

Jeder Tag brachte ihm immer neue Träumereien. Der geheimnisvolle Fremde, für den er arbeitete, konnte vielleicht heute schon kommen. Was mochte er wohl für ein Mensch sein? Mit Mr. Fips konnte das Geheimnis nicht gut zu Ende sein, hatte dieser doch selbst gesagt, er handle im Auftrag eines andern. Wer war aber nun dieser andere? Diese Frage war die Wunderblume in dem Garten von Toms Phantasie. Immer neue Blätter und Knospen setzte sie an.

Einmal fiel ihm ein, Mr. Pecksniff habe vielleicht aus Reue über seine Falschheit irgendeine dritte Person benutzt, um ihm auf diese Weise Beschäftigung zu geben, aber dieser Gedanke war so unvereinbar mit alldem, was zwischen dem vortrefflichen Ehrenmann und ihm selbst vorgefallen, daß er ihn sich bald aus dem Kopfe schlug, um so mehr, als John Westlock sich vor Lachen gar nicht halten konnte, als er ihm diese Vermutung mitteilte.

Inzwischen kam er täglich seiner Pflicht mit großem Eifer nach und machte bedeutende Fortschritte im Ordnen der Bücher. Auch der Katalog, mit schöner klarer Schrift geschrieben, wuchs von Tag zu Tag.

Während seiner Arbeitsstunden beschäftigte sich Tom auch oft mit dem Lesen, was zuweilen für seine Aufgabe unbedingt notwendig war, und manchmal beging er sogar die Kühnheit, sich abends einen jener verhexten Bände mit nach Hause zu nehmen und zu überfliegen. Selbstverständlich brachte er ihn dann stets am andern Morgen wieder zurück, für den Fall, daß sein seltsamer Prinzipal plötzlich auf der Bildfläche erscheinen und danach fragen sollte. So führte er ein stilles, glückliches, fleißiges Leben, das ganz nach dem Wunsche seines Herzens war.

Aber so interessant die Bücher auch manchmal für ihn sein mochten, niemals war er darein so vertieft, daß er nicht augenblicklich auch den leisesten Ton draußen gehört hätte. Der Klang jedes Fußtrittes auf den Pflastersteinen unten machte ihn aufhorchen, und wenn sie gar zum Hause zu kamen und – trapp, trapp, trapp – die Treppe heraufschallten, dachte er jedesmal mit klopfendem Herzen: »Jetzt endlich werde ich ihn von Angesicht zu Angesicht sehen.« Aber niemals überschritt ein anderer Fuß die Schwelle seiner Zimmer als sein eigener.

Diese Einsamkeit und geheimnisvolle Abgeschiedenheit erweckten in ihm allerlei phantastische Träume, deren Torheit er bei klarem Verstand allerdings einsah, die er aber nicht immer gänzlich zu unterdrücken vermochte. Es ging ihm dabei wie vor alters der französischen Polizei, die sehr hurtig im Aufspüren war, aber um so laxer, wenn es galt, etwas zu verhüten. Wohl hundertmal des Tages überkamen ihn dunkle, unerklärliche, törichte Ahnungen; bald glaubte er, es sei jemand in der Stube nebenan versteckt oder schleiche darin herum, gucke durch die Türritzen herein – kurz, treibe allerhand seltsame Dinge, so daß er oft den Fensterschieber aufzog, um sich wenigstens ein bißchen mit den Sperlingen zu unterhalten, die am Dach oder in der Regenrinne hockten und den ganzen Tag lang um die Fenster herum zwitscherten.

Die äußere Tür ließ er stets offen stehen, um jeden Schritt hören zu können, der sich dem Hause näherte, sich dann aber jedesmal in den Zimmern der untern Stockwerke verlor. Auch über die Passanten auf der Straße machte er sich allerlei wunderliche Gedanken, und wenn er irgendeines Menschen ansichtig wurde, der etwas Ungewöhnliches in seiner Kleidung oder in seinem Äußern hatte, so sagte er sich jedesmal: »Es sollte mich gar nicht wundern, wenn das mein Chef wäre.« Aber er war es nie. Und wenn auch Tom mehr als einmal auf der Straße umkehrte, um einem dieser verdächtigen Individuen nachzugehen – in der Einbildung, es könne vielleicht in den Tempel einbiegen, so stellte sich doch jedesmal heraus, daß er sich getäuscht hatte.

Mr. Fips von Austin Friars trug nur noch dazu bei, ihn hinsichtlich der Lage der Dinge noch mehr zu verwirren, als aufzuklären. Denn als Tom ihm zum erstenmal seine Aufwartung machte, um sein Wochengehalt in Empfang zu nehmen, sagte er:

»Übrigens, Mr. Pinch, um was ich Sie ersuchen wollte: bitte, erwähnen Sie von der Sache niemandem gegenüber etwas.«

Tom dachte, Mr. Fips sei gerade im Begriff, ihm ein Geheimnis anzuvertrauen, und versicherte daher aufs feierlichste, er werde unbedingt reinen Mund halten und verschwiegen wie ein Grab sein – aber Mr. Fips sagte bloß, »sehr schön, sehr gut«, und weiter nichts. Und als Tom abermals beteuerte: »Sie können auf meine Verschwiegenheit rechnen«, sagte Mr. Fips nur wiederum: »Sehr schön, sehr schön.«

Wohl fing Tom dann noch einmal an: »Sie wollten eben sagen –«; Aber Mr. Fips rief nur: »Ach, gar nichts; nicht das mindeste.« Als er dann Mr. Pinchs Verwirrung bemerkte, setzte er hinzu: »Ich meinte nur, Sie sollten niemandem sagen, daß Sie behufs Ordnung der Bibliothek angestellt sind. Es ist besser, Sie schweigen darüber.«

»Ich habe noch immer nicht das Vergnügen gehabt, mich meinem Prinzipal vorzustellen«, gab Tom zu bedenken, seinen Wochenlohn in die Tasche steckend.

»So, haben Sie noch keine Gelegenheit gehabt?« warf Mr. Fips gleichgültig hin. »Ja, das mag wohl sein.«

»Und ich möchte ihm so gerne danken und von ihm hören, ob meine bisherige Tätigkeit seinen Wünschen entsprochen hat.«

»Ganz recht, ich verstehe«, sagte Mr. Fips gähnend. »Es macht Ihnen große Ehre, sehr ehrenwert von Ihnen.«

Pause.

»Ich werde bald mit der Ordnung der Bücher zu Ende sein«, fing Tom wieder an. »Ich hoffe, daß damit nicht auch meine Dienste zu Ende sind. – Wird man mich dann noch brauchen, Sir?« »Ach Gott, selbstverständlich!« rief Mr. Fips. »Massenhaft Arbeit noch, massenhaft Arbeit. – Hm. Ja. – Es ist etwas dunkel draußen.«

Mehr konnte Tom aus Mr. Fips nicht herausbekommen. Daß es dunkel war, stimmte; aber nicht nur draußen, sondern auch drinnen, und Mr. Fips hatte eigentlich recht, sich so doppelsinnig auszudrücken.

Bald jedoch ereignete sich etwas, das dazu beitrug, Toms Grübeleien von diesem Rätsel abzulenken und sie in einen neuen Kanal zu leiten, der nicht weniger geheimnisvoll war als etwa die Quellen des Nils.

Das ging folgendermaßen zu.

Tom pflegte von jeher sehr früh aufzustehen, und da er jetzt keine Orgel zur Verfügung hatte, um sich die Morgenstunden mit Musik zu vertreiben, machte er in der Regel, ehe er nach dem Tempel ging, einen längern Spaziergang. Er besichtigte dann in der Regel jene Teile der Stadt, wo es besonders lebhaft herging, und namentlich die Marktplätze, Brücken, Kais und Dampfbootwerften, denn die Leute, die sich da umhertummelten, boten einen gar zu erfrischenden und lebhaften Anblick, und immer erquickte ihn dieser Gegensatz zu dem eintönigen Stadtleben. Auf den meisten seiner Morgenausflüge begleitete ihn Ruth ein Stück weit.

Manchen schönen reizvollen Spaziergang machten sie so zusammen. Zum Beispiel nach dem Covent Garden Market, und voller Genuß atmeten sie dann den Duft der Blumen und den Geruch des frischen Obstes ein. Vergnügt wie die Kinder wunderten sie sich über die herrlichen Ananasse und Melonen. Da saßen ganze Reihen alter Weiber auf umgekehrten Körben und schoteten Erbsen aus. Und wie unaussprechlich verlockend die fetten Spargelbündel aussahen, die die Schaufenster der Delikatessenläden zierten. Sogar vor den Geschäften der Kräuterhändler blieben sie stehen und erfreuten sich an dem Duftgemisch von spanischem Pfeffer, Packpapier und Samenkörnern aller Art. Nicht einmal der Anblick der Schnecken und hübschen jungen Blutegel hatte für sie etwas Schreckliches. Und dann der Geflügelmarkt, wo Enten und Hühner mit unnatürlich langen Hälsen paarweise nebeneinander lagen und gesprenkelte Eier in Körben von Moos den Tag anlachten und des Schauens und Staunens kein Ende war! Weiße Würste vom Lande, die hier vor den Anklagen von Katzen und Hunden, Pferden und Eseln sicher waren, frische Käse von ungeheuern Dimensionen, lebende Vögel in Käfigen und Körben, zahllose Kaninchen, tot und lebendig.

Nicht minder hübsch waren die Spaziergänge zwischen den kühlen, frischen Fischerständen hindurch, über deren Ware es wie silberner Mondschein hinblitzte, mit Hummern als roten Farbflecken dazwischen. Dann spazierten sie zwischen den großen Wagen voll duftenden Heues umher, unter denen Hunde und müde Fuhrleute in festem Schlummer lagen. Aber am hübschesten war es wohl, wenn sie einen hübschen Morgen benutzten und zu den Dampfbooten hinuntergingen.

Da lagen sie – Seite an Seite –, die Boote, scheinbar friedlich fest aneinandergedrückt, aber doch arglistig jedes nach einem Durchlaß spähend und niemals müde, ganze Scharen von Passagieren und Haufen von Gepäck, die hastig an Bord gebracht wurden, aufzunehmen. Unaufhörlich schossen kleine Dampfbarkassen auf und ab. Ganze Reihen von Schiffen, Hunderte von Masten, Labyrinthe von Takelwerk, schläfrige Segel, plätschernd hin und her gleitende Barken, versunkene Pfähle mit garstigen Heimstätten für die Wasserratten in ihren schlammigen Nischen, Kirchtürme in der Ferne, Magazine, Häuserdächer, Brückenbogen, Männer, Weiber, Kinder, Fässer, Kräne, Kisten, Pferde, Kutscher, Tagediebe und fleißige Arbeiter – alles das bildete einen bunten Knäuel vor Toms Augen an jedem Sommermorgen.

Und inmitten all dieses Getümmels tobte es unablässig aus dem Rauchfang eines jeden ankommenden Paketbootes und verlieh der ganzen Szene etwas Erregtes. Die Schiffe schienen zu atmen und wie die Menschen miteinander zu plaudern. In ihrer kuriosen heisern Weise schnaubten sie ohne Unterlaß ärgerlich einander an: »Aber so eilt euch doch, damit man durchkommt.« Und selbst, wenn eines sich Platz gemacht hatte und wohlbehalten mit der Strömung trieb, konnte es der kleinste Anlaß wieder erregen. Das Geringste, was ihm im Strom in die Nähe kam, veranlaßte es, aufs neue zu dampfen und zu keuchen: »Schon wieder ein Hindernis! Was gibt’s denn schon wieder? Ich habe doch Eile.«

In einem derartigen, an nervöse Verzweiflung grenzenden Zustand sah man dann Schiff für Schiff langsam durch den Nebel in das jenseits liegende rotgefärbte Sommerlicht hinausgleiten.

Toms Schiff nun, das Paketboot, für das er und seine Schwester sich eines Tages besonders interessierten, hatte sich noch nicht so weit zurechtgefunden, sondern befand sich sichtlich in äußerster Verwirrung. Die Passagiere an Bord drängten durcheinander, und an Backbord wie an Steuerbord hatten Dampfbarkassen angelegt. Die Stege waren überfüllt, verrückte Frauenzimmer, die offenbar nach Gravesend wollten, ließen sich durchaus nicht überzeugen, daß das Schiff nach Antwerpen ginge, und bestanden darauf, ihre Körbe mit Erfrischungen hinter Wasserfässern oder Verschlägen zu verstecken, kurz, es herrschte die größte Verwirrung. Und das alles war so unterhaltend und amüsant, daß Tom, seine Schwester am Arm, unverwandt von der Werft herunterblickte und so wenig, wie es nur für Fleisch und Blut möglich ist, auf eine ältliche Dame hinter sich achtete, die einen großen Regenschirm bei sich trug, der ihr ununterbrochen arg im Wege war. Das furchtbare Werkzeug hatte einen gekrümmten Handgriff, und Tom wurde sich dessen Nähe erst infolge eines schmerzlichen Drucks auf seine Luftröhre bewußt, als sich der Haken um seine Kehle gelegt hatte. Kaum war es ihm gelungen, sich friedfertig davon loszumachen, fühlte er schon wieder die eisenbeschlagene Spitze des Marterwerkzeugs in seinem Rücken und gleich darauf den Haken an seinen Knöcheln, dann wieder flatterte ihm der Schirmstoff um den Hut und schlug daran wie ein großer Vogel mit seinen Fittichen, und schließlich erhielt er einen so derben Stoß zwischen die Rippen, daß er endlich die Geduld verlor und sich umdrehte, um sich in seiner milden Weise eine solche Behandlung zu verbitten.

Die Eigentümerin des Instrumentes stand jetzt auf den Zehen dicht hinter ihm und quälte sich sichtlich ab, einen Blick auf die Dampfboote unten zu erhaschen. Da er in der Reihe vor ihr stand und sie daran hinderte, hatte sie ihn als ihren natürlichen Feind attackiert.

»Sind sie aber eine boshafte Person!« sagte er vorwurfsvoll.

Sofort rief die Frau wütend nach der Polizei und schimpfte: »Den ganzen Tag stehen diese Kerls hier herum. Wahrhaftig, man sollte sie alle arretieren lassen.«

Die Ärmste war ohne Zweifel fürchterlich herumgestoßen worden, denn ihre Kopfbedeckung hatte die Form eines dreieckigen Admiralshutes angenommen, und korpulent wie sie war, konnte sie vor Erschöpfung und Hitze kaum mehr atmen. Ohne auf den gereizten Ton einzugehen, fragte Tom sie höflich, an welchem Schiff sie wohl an Bord zu gehen wünsche.

»Sie meinen wohl gar, wenn mer a Schiff anschaut, so muß mer schon einsteigen. Sie Tepp, Sie!«

»Nun, so sagen Sie doch, welches Sie sich anschauen wollen?« sagte Tom. »Wir machen ja gern Platz für Sie, wenn wir können. Sie brauchen doch nicht gleich so gereizt zu sein.«

»Sowas hat mir noch ka lebendiger Mensch vorgworfen, mit dem i zsamm kommen bin«, lenkte die Dame ein wenig besänftigt ein. »I hab scho viele Leut kennen glernt, und noch nie hat mir eins den Vorwurf gmacht, daß i greizt bin. ›Machen S‘ Ihna nix draus, widersprechen S‘ mir nur, Madame, wann’s Ihna damit a Erleichterung verschaffen‹, sag i immer, wann a Kundschaft von mir aufbegehrt. Die Sarah kann was vertragn und gibt ka Beleidigung net zruck. – Na ja, i geb ja gern zu, daß s‘ mir heunt damisch zugsetzt haben und daß i mich gärgert hab, und net ohne Grund.«

Inzwischen hatte sich Mrs. Gamp, denn die Dame war natürlich niemand anders als diese erfahrene Praktikerin, unter Toms Beistand durchgezwängt und in einem kleinen Winkel zwischen Ruth und dem Geländer verankert, wo es ihr endlich unter heftigem Gekeuch und Ausführung der seltsamsten und gefährlichsten Evolutionen mit ihrem Schirm gelang, es sich bequem zu machen.

»I möcht nur gern wissen, das welchene von diese rauchenden Ungeheuer das Antwortschiff ist«, rief sie.

»Was für ein Schiff meinen Sie?« fragte Ruth.

»Das Antwortschiff! I sag’s, wie’s is; i red nie die Unwahrheit nicht.«

»Das dort in der Mitte ist das Antwerpener Paketboot«, sagte Ruth, der ein Licht aufging, was die Dame meinte.

»I wollt, es steckte in dem Propheten Jonas sein Bauch, sag i«, rief Mrs Gamp, offenbar den Propheten mit dem Walfisch verwechselnd.

Ruth schwieg. Da aber Mrs. Gamp ihr Kinn auf das kalte Eisengeländer legte und, jeweils kurz aufstöhnend, unverwandt auf das Boot hinabblickte, fragte sie endlich mitleidig, ob vielleicht eines ihrer Kinder oder ihr Gatte darin eine Reise antrete.

»Da sieht ma’s wieder«, ächzte Mrs. Gamp mit einem Blick gen Himmel, »wie wenig Sie noch in unserm irdischen Jammertal rumgekommen sin. A gute Freundin von mir – die Harris – sagt immer: ›Sarah, Sarah‹, sagt s‘, ›wir wissen niemals nicht, was vor uns liegt.‹ – ›Liebe Harris‹, sag i nacher a jed’smal, ›viel wissen mir net, dös is wahr, aber vielleicht doch mehr, als Sie glauben. Unsre Berechnungen, sag i, wieviel Kinder a Famülie kriegen wird, treffen meistens ganz genau ein.‹ – ›Liebe Sarah‹, sagt die Harris nacher gwehnlich sehr feierlich, ›also sagn S‘, wieviel krieg i?‹ – ›Na, liebe Harris‹, sag i, ›da müssen S‘ schon entschuldigen, jetzt, was meine eigenen Kinder san‹, sag i, ›hab i kan Trost net dran ghabt. Eins is gstorben, und wie’s auf dem Totenbett glegen is, hat’s noch glächelt. Liebe Harris‹, sag i, ›da segn S‘ wieder, mer derf net vorgreifen, man muß es nemmen, wie’s kommt und muß die Kinder nemmen, wie s‘ kommen und wie s‘ gehn.‹ – Und jetzt segn S‘, liabs Fräuln«, sagte Mrs. Gamp, »i hab jetzt gar keine mehr, und was mein Mann angeht, so san seine hölzernen Haxen beim Deifel. Des ist davon kommen, daß er allaweil in die Weinstubn gangen is und nie anders als mit Gwalt sich hat wieder rausbringen lassen. Ja, ja, der Geist is willig, aber das Fleisch is schwach.«

Nachdem sich Mrs. Gamp dieser Rede entledigt, lehnte sie abermals ihr Kinn auf das kalte Eisengeländer, schaute wiederum unverwandt auf das Antwerpener Schiff hinunter, schüttelte den Kopf und stöhnte.

»Na, i möcht ka Mann sein«, fing sie wieder an, »und sowas aufm Gwissen haben. Aber nur a Mannsbild is halt zu sowas fähig.«

Tom und seine Schwester sahen einander an, und nach einigem Zaudern fragte Ruth Mrs. Gamp, was sie denn so sehr bedrücke.

»Liabs Fräuln«, entgegnete die Hebamme mit gedämpfter Stimme, »Sie sin ledig, net wahr?«

Ruth lachte und bejahte errötend.

»Um so schlimmer für beide Teile. Aber andre sin verheirat, und zwar im ehelichen Stande; und segn S‘, da is a liabs jungs Frauerl, wo heut früh auf demselbigen Paketschiff abdampft und nöt im geringsten für das Leben aufm Wasser paßt.«

Einen Augenblick hielt Mrs. Gamp inne, um das Deck des Schiffes nochmals genau mit ihren Blicken zu durchforschen, und als sie sich genügend überzeugt zu haben schien, daß der Gegenstand ihres Bedauerns noch nicht angekommen war, erhob sie ihre Augen allmählich bis zur Höhe des Sicherheitsventils und redete das Schiff folgendermaßen unwillig an:

»Himmelherrgottsakrament« – dabei schüttelte sie den Regenschirm wütend – »Mistviech, dreckigs! Was hat dös jetzt wieder für an Sinn, daß sich so a zarts jungs Gschöpf als Passaschür mit dir aufs Wasser nauswagen soll? Zu was jetzt dös blöde Hämmern und Pfeifen und Zischen! – – Mistviech, blöds«, setzte sie wütend hinzu und schüttelte wieder ihren Schirm. »Die dummen Maschinen und bsonders die Eisenbahnen, was jetzt die schon für a Unglück über d‘ Welt bracht haben! Wann mer die Frühgeburten, wo sie verursacht haben, zsamm zählen möcht, da kämet a schöne Zahl raus. Da hab i a mal von an jungen Mann ghört, wo bei uns zhaus Kondukteur is auf einer Eisenbahn, die erst seit drei Jahren besteht – die Harris kennt ihm, er is mit ihr verwandt, da ihre Schwester mit an Brettschneidermeister verheirat is –, der Gvatter gstanden is bei sechsundzwanzg klane Würmer, Gott verzeih mir die Sünd, die alle viel z‘ früa auf d‘ Welt kommen san, und a jeds heißt jetzt nach der Dampfmaschin, wo die Schuld dran ghabt hat. – Pfui Deifel«, rief Mrs. Gamp und fing wieder an, das Dampfschiff zu apostrophieren. »Da sieht man wieder, daß d‘ von an Mannsbild erfunden worden bist, weils d‘ gar a so rücksichtslos gegen die weibliche Nadur bist, du Mistviech.«

Aus Mrs. Gamps Ärger über die Dampfmaschinen hätte man vermuten können, sie sei irgendwie mit dem Post- oder Landkutschengeschäft assoziiert. Sie fand übrigens keine Gelegenheit, die Wirkung ihrer Schlußbemerkung auf Miss Ruth zu beurteilen, denn gerade in diesem Augenblick ging die von ihr Gesuchte über den Dampfersteg.

»Schaugn S‘, dort is sie«, rief Mrs. Gamp, »da geht dös liabe junge Gschöpf wie a Opferlamm zur Schlachtbank. Wann s‘ jetztn krank wird aufm Wasser«, setzte sie prophetisch hinzu, »so ist dös a Mord, und i werd Zeugenschaft vor Gricht ablegen.« Es war ihr offenbar so ernst mit ihrem Mitleid, daß Ruth, die ebenso menschenfreundlich wie ihr Bruder war, sich nicht enthalten konnte, ein paar Worte zu sagen.

»Bitte, wer ist die Dame«, fragte sie, »an der Sie solchen Anteil nehmen?«

»Segn S’«, stöhnte Mrs. Gamp, »da geht s‘ wieder. Grad kommt s‘ jetzt über die kleine hölzerne Bruckn, und jetzt rutscht s‘ auf an Stückerl von aner Pommeranzenschalen aus« – Mrs. Gamp umfaßte krampfhaft ihren Regenschirm – »no, dös kann a gute Gschicht werdn.«

»Meinen Sie die Dame neben dem Herrn, der von Kopf bis zu Fuß so in einen großen Mantel eingehüllt ist, daß man beinahe sein Gesicht nicht mehr sehen kann?«

»Er soll nur sein Gsicht verstecken!« schimpfte Mrs. Gamp. »Bis in d‘ Erd nei soll er sich schämen. Habn S‘ net gsegn, wie er s‘ an der Hand rumgrissen hat?«

»Er scheint es wohl sehr eilig zu haben«, meinte Ruth.

»Und jetzt – in die dunkle Kajüten eini«, fuhr Mrs. Gamp ungeduldig fort. »Was der Mensch nur vorhat? Mir scheint, der Deifel is ihm in Kopf neigfahren. Warum laßt er s‘ denn net in der frischen Luft heroben?«

Welchen Beweggrund nun auch der Betreffende haben mochte, jedenfalls führte er seine Gattin rasch die Kajütentreppe hinunter und verschwand dort, ohne seinen Mantel aufzuknöpfen oder seinen Hut zu lüften.

Tom hatte von dem Zwiegespräch nichts vernommen, denn seine Aufmerksamkeit war auf ganz unerwartete Weise in Anspruch genommen worden. Mrs. Gamp war nämlich kaum mit ihrer Ansprache an die Dampfmaschinen zu Ende, da hatte sich eine Hand auf seinen Arm gelegt, und wie er sich umsah, entdeckte er rechts neben sich – Ruth stand zu seiner Linken – zu seiner größten Überraschung seinen Hauswirt.

Es war nicht so sehr die Anwesenheit dieses Mannes, die ihn überraschte, als vielmehr der Umstand, daß noch eine halbe Minute vorher jemand anders – wie er genau wußte – dort gestanden und er in der Zwischenzeit auch nicht das geringste Gedränge hinter sich verspürt hatte, wo die Leute doch wie die Heringe zusammengepfercht waren. Sowohl er wie Ruth hatten oft Gelegenheit gehabt zu bemerken, mit welcher Geräuschlosigkeit ihr Mietherr in seinem eigenen Hause ein und aus ging, kam und verschwand, aber dennoch war Tom jetzt nicht wenig erstaunt, den Mann so plötzlich neben sich auftauchen zu sehen.

»Ich bitte um Entschuldigung, Mr. Pinch«, flüsterte ihm der Mann ins Ohr, »aber ich bin ganz außer Atem und erschöpft; auch sehe ich nicht mehr sehr gut. Man wird alt, Sir; man wird eben alt. Bitte, sagen Sie, können Sie nicht dort unten einen Herrn in einem großen Mantel mit einer Dame am Arm unterscheiden? Sie trägt einen Schleier und einen schwarzen Schal.«

Wenn der Mann, wie er sagte, das Paar nicht sehen konnte, so war es nur um so merkwürdiger, daß er seine Blicke unverwandt gerade auf den Punkt, wo sie standen, gerichtet hielt. Schnell richtete er jetzt seine Blicke auf Toms Gesicht.

»Ein Herr in einem großen Mantel«, wiederholte Mr. Pinch, »und eine Frau mit einem schwarzen Schal? Ich will mal sehen.«

»Ja, ja, bitte«, drängte der andere ungeduldig. »Der Herr ist von Kopf bis zu Fuß eingehüllt – höchst sonderbar übrigens bei einem Sommermorgen wie dem heutigen –, ganz wie ein Kranker und hält jetzt die Hand vor das Gesicht. – Nein, nein, nicht dort«, setzte er hinzu, Toms Blick folgend, »weiter rechts, dort unten.«

Und wieder deutete er nach der Stelle, wo die beiden gingen, aber diesmal in seiner Eile mit ausgestrecktem Finger.

Die auf den Dampfer zudrängenden Personen wurden jetzt durch das dichte Menschengewühl ein wenig aufgehalten.

»Es sind da soviel Leute, soviel Kisten und Koffer, und alles wimmelt so durcheinander«, entschuldigte sich Tom, »daß man kaum etwas genau unterscheiden kann. – Wahrhaftig, ich kann keinen Herrn in einem großen Mantel und keine Dame in einem schwarzen Schal unterscheiden. – Aber dort drüben ist eine Dame in einem roten Schal.«

»Nein, die ist’s nicht«, rief der Hauswirt ungeduldig; »mehr in dieser Richtung. Dort! Fassen Sie die Kajütentreppe ins Auge. Etwas mehr links. Die beiden müssen jetzt in der Nähe der Kajütentreppe sein. – Sehen Sie die Kajütentreppe? – Jetzt läutet schon die Glocke! – Sehen Sie denn die Treppen nicht?«

»Halt«, rief Tom, »Sie haben recht. Ja, dort gehen die beiden. Und das ist der Gentleman, den Sie meinen, wie ich glaube. Er steigt in diesem Augenblick gerade in die Kajüte hinunter. Die Falten seines großen Mantels schleppen hinter ihm nach.«

»Ganz richtig«, rief der Hauswirt, nicht mehr auf das Schiff hinunter, sondern starr in Toms Gesicht blickend. »Würden Sie mir einen Gefallen – einen großen Gefallen erweisen? Möchten Sie dem Herrn vielleicht diesen Brief eigenhändig übergeben? Nur übergeben, weiter nichts. Er wartet darauf. Ich bin beauftragt, ihn ihm einzuhändigen, aber ich fürchte, ich käme zu spät; ich bin nicht mehr sehr jung und könnte mich nicht so geschwind bis an Bord und über das Verdeck vordrängen. Nicht wahr, Sie verzeihen mir meine Aufdringlichkeit und erweisen mir diesen großen Gefallen.«

Seine Hände bebten, und sein Gesicht verriet die größte Aufregung, als er Tom den Brief in die Hand drückte und noch einmal mit dem Finger auf das Schiff deutete wie Satanas auf irgendeinem alten Schnitzwerk.

Wenn es galt, jemandem einen Dienst zu leisten, pflegte Tom niemals zu zögern. Er nahm den Brief, flüsterte Ruth zu, sie möge warten – er werde gleich wieder da sein – und lief so schnell er konnte den Kai hinab. Es war aber ein so großes Gewühl von Menschen, und so viel ungeheuere Warenballen wurden hin und her getragen – und dazu das fortwährende Läuten, das Zischen der Dampfventile und das Geschrei der Menge –, daß er die größte Mühe hatte, sich seinen Weg durch das Gewühl zu bahnen und dabei das Schiff, dem er zustrebte, im Auge zu behalten. Aber trotzdem langte er noch rechtzeitig an. Sofort eilte er die Kajütentreppe hinunter und entdeckte auch richtig den Gesuchten in einer Ecke des Salons, wo dieser, ihm den Rücken zuwendend, ein Plakat las, das an der Wand hing. Als Tom näher trat, um den Brief zu übergeben, fuhr der Fremde bei dem Geräusch der Fußtritte zusammen und drehte sich hastig um.

Und wie erstaunte Tom, als er in ihm den Mann erkannte, mit dem er einst beim Schlagbaum bei Mr. Pecksniff zusammengeraten war, den Gatten der armen Gratia, Mr. Jonas Chuzzlewit.

Jonas murmelte etwas, was so klang wie: was zum Teufel man denn von ihm wolle, aber mehr verstand Tom nicht, da die Worte zu undeutlich waren.

»Ich wünsche nichts weiter von Ihnen«, sagte Tom, »als Ihnen diesen Brief hier zu übergeben. Man hat mich soeben darum gebeten und Sie mir von weitem gezeigt, und ich habe Sie in Ihrem seltsamen Aufzug nicht erkannt. Hier, nehmen Sie den Brief.«

Jonas tat es, erbrach das Kuvert und überflog den Inhalt. Offenbar war dieser sehr kurz und betrug vielleicht nicht mehr als eine einzige Zeile. Aber er traf ihn wie ein Stein aus einer Schleuder. Er wankte zurück. Noch nie hatte Tom einen Menschen so entsetzt gesehen, und er selbst war so betroffen darüber, daß er unwillkürlich stehenblieb. In diesem Augenblick der Unentschlossenheit von beiden Seiten hörte die Glocke auf zu läuten, und eine heisere Stimme rief in die Kajüte herunter, ob noch jemand an Land zurückzugehen gedenke.

»Ja«, rief Jonas, »ich – ich komme schon. Nur einen Augenblick. Meine Frau, wo ist meine Frau? Komm schnell zurück.«

Dabei riß er eine Tür auf und führte oder schleppte vielmehr Gratia heraus. Sie war blaß, erschrocken und nicht wenig erstaunt, Tom hier zu sehen. Es blieb ihr jedoch keine Zeit zum Sprechen, denn oben war ein großer Tumult, und Jonas zog sie ohne Umstände rasch die Kajütentreppe hinauf.

»Wohin gehen wir denn, was gibt es – –?« jammerte sie.

»Wir müssen zurück«, rief Jonas wild. »Ich habe mir’s anders überlegt. Frag jetzt nicht, oder es könnte dich oder sonst jemanden das Leben kosten. Halt, halt, wir steigen aus! – Hören Sie denn nicht, Maat? Wir wollen an Land!«

In wahnsinniger Hast wandte er sich dann noch einmal um, warf Tom einen finstern Blick zu und drohte ihm mit der geballten Faust. – – Es gibt wohl nicht viele menschliche Gesichter, die eines Ausdrucks fähig gewesen wären, gleich dem, mit welchem er diese Gebärde begleitete.

Dann schleppte er Gratia hinauf, und Tom folgte ihnen. Über das Verdeck, über das schwankende Brett und den Kai hinauf zerrte er sie, ohne sie eines Blickes zu würdigen und fortwährend unter den Gesichtern oben nach jemandem, den er offenbar suchte, umherspähend. Dann wandte er sich plötzlich nach Tom um und rief ihm mit einem fürchterlichen Fluch zu:

»– – – Wo ist er denn?«

Ehe Tom in seiner Entrüstung und seinem Erstaunen noch eine Silbe als Antwort auf die Frage, die er so wenig verstand, hervorbringen konnte, drängte sich ein Herr heran und begrüßte Jonas Chuzzlewit. Es war ein Gentleman von etwas ausländischem Aussehen, mit schwarzem Schnurr- und Backenbart, und er sprach mit so höflicher Ruhe und Gelassenheit, daß der Unterschied gegen Mr. Chuzzlewits verstörtes und verzweifeltes Benehmen seltsam abstach.

»Mein lieber Mr. Chuzzlewit«, sagte der Herr und lüftete vor Gratia den Hut, »ich bitte zwanzigtausendmal um Verzeihung. Ich bedauere wirklich unendlich, Sie von einem so hübschen Ausflug abgehalten zu haben – ich kann mir ja vorstellen, wie charmant es für Sie gewesen wäre, mit Ihrer Frau eine Spazierfahrt zu machen – äh – wenn ich auch selbst nicht das Glück der Häuslichkeit aus eigener Erfahrung kenne – äh – aber der Bienenstock, mein lieber Freund, der Bienenstock – bitte, wollen Sie mich nicht vorstellen.«

»Mr. Montague«, stellte Jonas vor, und es schienen ihm die Worte im Munde zu quellen, – »meine Frau.«

»Der unglücklichste und reuevollste unter allen Menschen, Mrs. Chuzzlewit«, fuhr der fremde Gentleman fort, »da ich die Ursache sein mußte, Ihren Ausflug so schnöde zu vereiteln. Aber wie gesagt, mein lieber Freund, der Bienenstock – der Bienenstock. Sie haben gewiß vorgehabt, einen kleinen Abstecher nach dem Festland zu machen?«

Jonas schwieg verdrossen.

»Wahrhaftig, so wahr ich hier stehe«, rief Mr. Montague, »es tut mir unendlich – wahrhaft unendlich leid. Sie ahnen nicht, wie tief es mir geht. Aber dieser verwünschte Bienenstock in der City geht leider allen andern Rücksichten vor. Und wenn es Honig zu bereiten gilt, so muß jede Rücksicht schweigen. Das ist meine einzige Entschuldigung. – Was ist das übrigens nur für ein sonderbares Weibsbild hier rechts, das beständig Verbeugungen macht«, setzte er hinzu und blickte Mrs. Gamp an. »Ich kenne sie nicht. Kennen Sie sie vielleicht?«

»Aber natürlich kenna mi die Herrschaften«, rief Mrs. Gamp. »Und alles Gute und Schöne, und i wünschet nur, daß a jeds noch so lustig sein wird, wie’s a gwisses kleins Frauerl noch sein wird; ja ja, dös hat mir mein kleiner Finger gsagt – – – na, aber Gnädigste« – Mrs. Gamp wurde plötzlich sehr ernst – »was is Ihna denn auf a mal? Sin Sie aber blaß!«

»So – sind Sie auch da?« brummte Jonas. »Mir scheint, Sie kann man auch nie los werden.« »Ja, da bin i, daran is ka Zweifel«, rief Mrs. Gamp mit einem unwilligen Knicks. »Und da wir, die Harris und i, noch ka Bein brochen habn, so ham mir uns erlaubt, hier auf dem öffentlichen Käh a bisserl herumzuspazieren. Da kann keins was dawider haben. Das sin die Worte, wo sie noch das letzte Mal zu mir gsagt hat: ›Sara‹, hat s’gsagt, ›is dös a öffentlicher Käh?‹ – ›Liebe Harris‹, hab i gsagt, ›daran is doch ka Zweifel not. Sie kennen mi jetzt scho achtadreißg Jahr, und habn S‘ leicht jemals ghört, daß i wohin ganga war, wo mer mi net gern sicht?‹ – ›Na, liebe Sarah‹, hat die Harris gsagt, ›ganz o konträhr im Gegenteil.‹ – Und die muß es wahrhaftig wissen. – I bin ja nur a arms Weib, aber doch vergeht fast ka Stund nöt, wo man net nach mir fragt. Scho zu allen Stunden der Nacht hat mer mi ausm Bett gholt, und scho so manche Wohnungen sin mir kündigt wordn, weil die Mieter den Spektakel für an Feuerlärm ghalten ham. – I geb a zu, i geh aus, um mir mei Brot zu verdiena, aber i bin a freie Person, da gibt’s nix, und wer’s bleibn, bis i stirb. Und i fühl als a Weib und bin a schon Mutter gwesen. Aber es soll nur eins amal mei Tipferl anrührn, was mir ghört, oder a Wort sagn über dös, was i iß und trink, und wann’s noch so beliebt is bei der Herrschaft. – Marsch du, Schlampen von a Dienstmadel, sag i nacher. Entweder geht sie oder geh i. Wenn i a ka großes Verdienst hab, nehmen laß i mir nix, was mir ghört. – – – Gott behüte das Kind und rette die Mutter – sag i immer –, aber i bin a so frei, noch dazuzufügen: unterstengan S‘ Ihna, die Hebam zu betrügn, nacher werden S‘ was derlebn«, schloß sie, zog sich mit beiden Händen ihren Schal dichter über die Brust und rief wie gewöhnlich zur Bekräftigung aller Einzelheiten Mrs. Harris zum Zeugen an.

»Da Sie nun schon mal hier sind«, fiel ihr Jonas ins Wort, »täten Sie besser, sich um meine Frau ein bißchen zu kümmern und sie nach Hause zu bringen. Ich bin jetzt anderweitig beschäftigt.« Dann schwieg er plötzlich und warf Mr. Montague einen Blick zu, um ihm zu verstehen zu geben, daß er bereit sei, ihn zu begleiten.

»Tut mir unendlich leid, Sie Ihrer Gattin entführen zu müssen – – –« begann Mr. Montague. Jonas warf ihm einen finstern Blick zu, so voll des Hasses, daß Tom noch lange, lange später daran denken mußte.

»Wahrhaftig, es tut mir wirklich leid«, wiederholte Mr. Montague. »Aber weshalb haben Sie mich dazu gezwungen?«

Mit demselben finstern Blick erwiderte Jonas nach einer kurzen Pause, »Sie selbst waren schuld daran, nicht ich.«

Selbst diese wenigen Worte stieß er hervor wie jemand, der sich an Händen und Füßen gefesselt sieht und voll innerer Wut dagegen ankämpft. Selbst sein Gang, als sie gleich darauf aufbrachen, war wie der eines Gefesselten, und haßerfüllt ballte er die Fäuste und biß die Lippen zusammen. Dann bestiegen sie die vornehme Equipage, die auf sie wartete, und fuhren davon.

Die ganze seltsame Szene war so rasch vor sich gegangen und hatte auf das Gewühl ringsum so wenig Eindruck gemacht, daß es Tom, obgleich er eine Hauptrolle dabei gespielt, fast wie ein Traum vorkam. Niemand hatte, nachdem sie das Dampfboot verlassen, auf ihn geachtet. Er stand hinter Jonas, und zwar so nahe, daß er notwendigerweise jeden Satz mit anhören mußte, und in der Hoffnung, eine Gelegenheit zu finden, die Rolle, die er bei diesem so seltsamen Begebnis gespielt, aufzuklären, war er, seine Schwester am Arm, stehengeblieben, aber Jonas Chuzzlewit hatte ihn keines Blickes weiter gewürdigt, und ehe er selbst die Initiative ergreifen konnte, waren bereits alle fort.

Er spähte nach seinem Hauswirt umher, aber alles Suchen war vergebens. Aufmerksam umherblickend, bemerkte er plötzlich eine Hand, die ihm aus dem Fenster einer Droschke heraus zuwinkte. Er eilte hin und erkannte Gratia. Sie redete ihn hastig an, beugte sich aber dabei aus dem Fenster hinaus, um von ihrer Begleiterin, Mrs. Gamp, nicht gehört zu werden.

»Was hat das alles zu bedeuten?« rief sie erregt. »Gott im Himmel, was ist vorgefallen? Warum sagte er mir gestern abend, ich solle mich zu einer langen Reise vorbereiten, und man bringt uns jetzt wie Verbrecher zurück. – Ach, lieber Mr. Pinch«, rief sie und rang verzweifelt die Hände, »haben Sie doch Erbarmen! Worin auch das schreckliche Geheimnis bestehen mag – haben Sie Erbarmen, und Gott wird es Ihnen lohnen.« »Wenn es in meiner Macht stünde«, rief Tom, »glauben Sie mir, Sie würden mich nicht einen Augenblick umsonst darum bitten. Aber ich verstehe von der Sache noch weit weniger als Sie.«

Gratia zog sich wieder in die Kutsche zurück, und er sah, wie sie ihm noch einen Augenblick mit der Hand winkte; ob zum Zeichen des Vorwurfs oder der Ungläubigkeit, ob aus Schmerz oder als Lebewohl, das konnte er in der Eile und Aufregung nicht unterscheiden. Einen Augenblick später war sie fort, und Ruth und er blieben betroffen stehen und nahmen dann, tief in Gedanken verloren, ihren Spaziergang wieder auf.

Hatte Mr. Nadgett vielleicht den Mann, der nie kam, für heute morgen auf die Londoner Brücke bestellt? Eines war gewiß: nämlich, daß er in diesem Augenblick auf der Brücke stand und über die Brustwehr herab auf den Kai spähte, an dem die Dampfboote lagen. Aus Vergnügen geschah es gewiß nicht, denn für Vergnügen hatte Mr. Nadgett keinen Sinn.

Er mußte da offenbar etwas anderes zu tun haben.