39. Kapitel

Einige Einzelheiten über das Hauswesen der Geschwister Pinch sowie seltsame Neuigkeiten aus London, die Tom sehr nahe betreffen

Noch nie hat sich wohl ein kleines Mädchen über ihre Puppenstube so gefreut wie die kleine Ruth in ihrer glorreichen Herrschaft über den dreieckigen Salon und die beiden kleinen Schlafzimmer.

Toms Haushälterin zu sein – welche Würde!

Ein Haushalt an und für sich schon zieht das Bewußtsein der verschiedensten Verantwortlichkeiten nach sich, aber ein Haushalt für Tom war wohl die großartigste Aufgabe, die es geben konnte. Schnell nahm sie die Schlüssel aus dem kleinen Schränkchen, in dem sie den Tee und den Zucker aufhob, oder aus den zwei kleinen dumpfigen Speiseschränkchen in der Nähe des Kamins, wo selbst die Küchenschaben schimmlig wurden und infolge des neidischen Mehltaus den Glanz ihrer Flügel einbüßten – und klingelte damit vor Tom, wenn er zum Frühstück herunterkam. Und dann steckte sie sie wieder fröhlich lachend mit frohem Stolz in ihre kleine Tasche.

Es war für sie etwas so Neues, Gebieterin über irgend etwas zu sein, daß man es ihr auch hätte verzeihen müssen, wenn sie plötzlich die rücksichtsloseste und despotischste aller kleinen Haushälterinnen geworden wäre.

Davon konnte aber bei ihr natürlich keine Rede sein, denn sogar in der Art, wie sie den Tee aufgoß, lag eine gewisse Schüchternheit, so daß Tom jedesmal vor Freude außer sich geriet. Und wenn sie ihn fragte, was er zum Mittagessen zu haben wünsche, und stotternd meinte, Hammelrippchen wären vielleicht das beste, da sie am Abend vorher so gut gelungen seien, wurde Tom geradezu witzig und fing an, sie schrecklich zu necken.

»Ich weiß ja nicht, Tom«, sagte Ruth errötend, »und ich bin auch nicht ganz überzeugt, ob es mir gelingt, aber ich denke, ich könnte vielleicht einen Beefsteakpudding versuchen?«

»Im ganzen Kochbuch steht nichts, was mir so zusagen würde wie ein Beefsteakpudding«, rief Tom und schlug sich zur Bekräftigung auf den Schenkel.

»Oh, das ist ja ganz vortrefflich! – Aber – – wenn es mir nun doch das erstemal nicht recht gelingen sollte«, stotterte Ruth, »und wenn es nicht gerade ein Pudding, sondern vielleicht gedämpftes Fleisch oder eine Suppe oder sonst etwas würde, so würdest du mir doch nicht böse sein, Tom, nicht wahr?«

Sie sah ihn dabei so ernsthaft an, und er erwiderte ihren Blick so nachdenklich, daß sie schließlich beide plötzlich in ein Lachen ausbrachen.

»Aber das ist ja nur um so besser!« rief Tom. »Das macht uns das Mittagessen zu einer höchst interessanten Überraschung. Wir setzen gleichsam in eine Beefsteaklotterie, und wer weiß, was wir dabei alles gewinnen. Vielleicht machen wir sogar eine wunderbare Entdeckung und erfinden, ohne es zu wollen, eine neue unbekannte Speise?«

»Sollte mich gar nicht wundern, wenn das wirklich geschieht, Tom«, rief Ruth, noch immer lachend. »Vielleicht wird es auch ein Gericht, das wir nicht gern noch einmal bereiten würden. Eines aber weiß ich: das Fleisch muß zuletzt aus der Pfanne kommen, und das ist ein Trost. Das können wir schließlich immer noch retten. Wenn du also glaubst, daß ich es wagen soll, so will ich’s probieren.«

»Ich hege nicht den mindesten Zweifel«, rief Tom, »daß es ein ganz vortrefflicher Pudding werden oder mir doch jedenfalls so vorkommen wird. Du bist von Natur aus so geschickt, liebe Ruth, daß, wenn du jetzt sogar behauptetest, du könntest eine tadellose Schildkrötensuppe bereiten, ich dir aufs Wort glauben würde.«

Und Tom hatte recht. Sie war wirklich so. Sie war eine jener Naturen, denen man nichts abschlagen kann und denen auch alles gelingt. Aber das beste daran war, daß sie es selbst nicht zu wissen schien.

Sie wusch jetzt die Frühstückstassen aus und plauderte dabei in einem fort, erzählte Tom hunderterlei kleine Episoden von ihrem früheren Prinzipal, stellte dann alles wieder an Ort und Stelle und machte das Zimmer so sauber und nett, wie sie selbst war. Dann bürstete sie an Toms altem Hut so lange herum, bis er so glatt war wie der Mr. Pecksniffs. Und als sie entdeckte, daß Toms Kragen am Ende ein wenig eingerissen war, flog sie im Nu die Treppe hinauf, holte Nadel und Zwirn, kam zurück mit dem Fingerhut auf dem Finger und flickte den Schaden mit wunderbarer Geschicklichkeit, ohne Tom auch nur ein einziges Mal ins Kinn zu stechen, trotzdem sie während des ganzen Geschäftes seine Lieblingsarie summte und mit den Fingern ihrer linken Hand auf seinem Halstuch den Takt trommelte. Als dies geschehen, eilte sie abermals davon und war im Nu wie eine emsige geschäftige Biene wieder da, unter ihrem runden kleinen Kinn die Bänder ihres reizenden kleinen Hutes zuknüpfend, um ohne Zeitverlust zum Fleischer zu eilen. Sie lud Tom ein, sie zu begleiten, damit er mit eigenen Augen sähe, wie das Beefsteak abgeschnitten werde. Was Tom betraf, so war er natürlich bereit, überall hinzugehen, wo sie wollte, und sie trabten deshalb Arm in Arm über die ruhige Straße und schwärmten dabei von ihrer billigen Wohnung und deren luftiger Lage.

Und wie dann der Fleischer die Portion auf den Block legte und sein Messer wetzte, bekamen sie einen solchen Appetit, daß sie gleich am liebsten noch einmal gefrühstückt hätten. Und es war wirklich eine Lust, zuzusehen, wie er das Fleisch so glatt und kunstgerecht abschnitt. Es lag nichts Metzgerhaftes in der ganzen Handlung, obgleich das Messer groß und scharf war. Es war eher wie ein Kunstwerk, sozusagen ein Triumph des Geistes über die Materie.

Das schönste grünste Kohlblatt, das je in einem Garten gewachsen, wickelte der Fleischer dann um seine Ware, ehe er sie Tom überreichte. Aber der Mann betrieb sein Geschäft auch mit einem gewissen Kunstsinn und wußte es zu veredeln. Als er sah, wie Tom das Blatt etwas ungeschickt in seine Tasche zwängen wollte, bat er um die Erlaubnis, ihm helfen zu dürfen, denn »Fleisch«, meinte er nicht ohne Erregung, müsse zart behandelt und nicht so mir nichts, dir nichts in die Tasche gekeilt werden.

Nachdem sie noch einige Eier, Mehl und noch andere Zutaten eingekauft, begaben sie sich in ihre Wohnung zurück. Tom setzte sich würdevoll an das eine Ende des Tisches, um zu schreiben, während Ruth sich an dem andern anschickte, den Pudding herzurichten, denn es war niemand im Hause als eine alte Frau, die ihr Hauswesen selbst besorgte und sich nur für die gröbsten Arbeiten eine Zugeherin hielt, während der Hausbesitzer selbst, eine höchst geheimnisvolle Art von Mensch, jeden Morgen in aller Frühe ausging und sich dann den Tag über kaum wieder blicken ließ.

»Was schreibst du da, Tom?« fragte Ruth und legte ihrem Bruder die Hand auf die Schulter.

»Sieh mal, meine Liebe«, versetzte Tom, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und blickte ihr dabei ins Gesicht, »ich möchte natürlich gerne irgendeine passende Beschäftigung finden, und ich glaube, es wird daher gut sein, daß ich, ehe Westlock diesen Nachmittag kommt, eine kleine Schilderung meiner Persönlichkeit und meiner Befähigungen zu Papier bringe, damit er sie irgendeinem seiner Bekannten oder Freunde vorlegen kann.«

»Du solltest das gleiche auch für mich tun, Tom«, sagte Ruth und schlug die Augen nieder. »Ich möchte dir wirklich von Herzen gern haushalten und stets um dich sein und für dich sorgen, aber dazu sind wir leider nicht reich genug.«

»Freilich sind wir nicht reich«, erwiderte Tom, »und möglicherweise können wir sogar noch viel ärmer werden. Wir wollen uns aber trotzdem vornehmen, Ruth, mitsammen das Leben durchzukämpfen, falls es mir etwa nicht gleich von Anfang so schlechtgehen sollte, daß ich die sichere Überzeugung gewinnen würde, du habest es besser, wenn wir nicht zusammenwohnen. Bestimmt würden wir aber glücklicher sein, wenn wir uns mitsammen durchs Leben zu schlagen imstande wären; glaubst du nicht auch?«

»Ob ich’s glaube, Tom?«

»Aber, aber!« rief Tom innig, »du mußt doch nicht gleich weinen!«

»Nein, nein, ich will mich zusammennehmen, Tom. – Aber du wirst das alles nicht erschwingen können, lieber Bruder; wirklich, du wirst dazu nicht imstande sein.«

»Weißt du das so gewiß?« fragte Tom. »Wie können wir jetzt darüber reden, ehe wir es noch versucht haben? Gott im Himmel!« Seine Energie wurde jetzt geradezu grenzenlos. »Wie können wir denn wissen, was alles geschehen kann, wenn wir’s nicht mit Eifer angehen? Ich bin überzeugt, wir sind imstande, mit sehr wenig durchzukommen, nicht wahr?«

»Ja, das glaube ich auch, Tom.«

»Nun also«, sagte Tom; »probieren geht über studieren. Mein Freund, John Westlock, ist ein ganz kapitaler Bursche, außerordentlich gescheit und lebensgewandt, und ich will ihn um Rat fragen. Wir können ja beide mit ihm die Sache besprechen. Ich bin übrigens überzeugt, du wirst John sehr lieb gewinnen, wenn du ihn einmal näher kennengelernt hast. Aber so weine doch nicht! Ich habe gedacht, du wolltest einen Beefsteakpudding machen«, setzte er hinzu und stieß sie zärtlich mit dem Ellenbogen an. »Wirklich ein großartiges Unterfangen.«

»Du wirst es natürlich einen Pudding nennen, Tom, aber ob es wirklich einer wird, kann ich nicht garantieren.«

»Ich werde es so lange einen Pudding nennen, bis ich sehe, daß es was anderes ist«, versprach Tom. »Du gehst also allen Ernstes ans Werk?«

Freilich ging Ruth mit Ernst ans Werk. Und zwar so ernst, daß Toms Blicke unaufhörlich von seinem Briefe abschweiften. Zuerst trippelte sie die Treppe hinunter in die Küche, um Mehl zu holen, dann brachte sie das Nudelbrett, die Eier, die Butter, einen Krug Wasser, das Teigholz, dann die Puddingform, dann den Pfeffer und das Salz, und um jedes Ding machte sie einen Extraweg und lachte fröhlich dabei. Als endlich alles beisammen war, bemerkte sie mit Schrecken, daß sie keine Schürze umhatte, und lief zur Abwechslung wieder einmal hinauf, um die Schürze zu holen. Sie band sie aber oben nicht um, sondern kam damit heruntergetänzelt, und da sie zu jenen kleinen Geschöpfchen gehörte, für die eine Schürze ein außerordentlich kleidsamer kleiner Putz ist, so dauerte es eine Ewigkeit, bevor sie damit zustande kam. Erst mußte sie sie sorgfältig glattstreichen, und dann wieder dauerte es eine geraume Zeit, bis die Falten gehörig herauskamen, bevor sie sie umbinden, wieder aufbinden und endlich wieder umbinden konnte und bis endlich die kleinen Taschen richtig saßen. Als sie damit endlich fertig war, mußte sie wieder die Ärmel aufschürzen, um sich nicht das Kleid mit Mehl zu beschmutzen, dann hieß es einen kleinen Ring vom Finger ziehen, und der wollte natürlich eine ganze Weile nicht herunter, und während aller dieser Vorbereitungen und Zurüstungen lugte sie jeden Augenblick unter ihren langen Wimpern nach Tom, als ob dies alles zum Pudding gehöre.

Tom konnte, und wenn es sein Leben gegolten hätte, mit seiner Schreiberei nicht vorwärtskommen, und immer wieder blieb es bei den Worten: Ein anständiger junger Mann von fünfunddreißig Jahren – –, obgleich Ruth ganz übernatürlich still tat und auf den Zehen hin und her ging, um ihn nicht zu stören, was ihn nur noch um so mehr ablenkte.

»Tom«, rief sie endlich ganz entzückt, »Tom!«

»Was gibt’s denn?« fragte Tom und wiederholte innerlich: »Von fünfunddreißig Jahren.«

»Bitte, möchtest du nicht einen Augenblick herschauen?«

Als ob er nicht die ganze Zeit sie angesehen hätte!

»Also, jetzt fange ich an, Tom! Wunderst du dich denn gar nicht, warum ich die Form inwendig mit Butter ausstreiche?«

»Ich glaube, ich wundere mich wohl ebensowenig wie du«, versetzte Tom lachend, »denn ich glaube, daß du es selbst nicht weißt.«

»Du bist doch wirklich ein rechter Heide. Wie ginge denn der Pudding wieder aus der Form, wenn man sie innen nicht mit Butter bestriche? Du willst ein Ingenieur sein und weißt das nicht? Ach du lieber Himmel, Tom!«

Von Schreiben war natürlich jetzt keine Rede mehr. Tom strich sein »Ein anständiger junger Mann von ungefähr fünfunddreißig Jahren« wieder aus und sah ihr mit dem zärtlichsten Lächeln, das man sich nur denken konnte, zu.

Wie wichtig sie tat! So voller Ernst und Hausfrauenwürde und dabei so angestrengt bemüht, nicht laut hinauszulachen, und bestrebt, ihre Unsicherheit zu verbergen. Es war eine Lust, ihr zuzusehen, wie sie ihre Stirne in ernste Falten legte, die hübschen Lippen aufwarf und drauflos knetete, dann wieder den Teig auswalzte, in Streifen schnitt, damit die Form ausfütterte und hübsch sorgsam den Rand abdrückte; wie sie das Fleisch in kleine Stücke hackte und Pfeffer und Salz darauf streute, es dann in die Schüssel warf und frisches Wasser darübergoß. Dabei wagte sie auch nicht einen einzigen verstohlenen Blick auf Tom zu werfen, um nicht den Ernst der Situation zu stören. Als endlich die Form bis zum Rand voll war und nur noch die Teigrinde fehlte, schlug sie ihre mit Mehl und Teig bedeckten Händchen zusammen und brach in ein so herzliches, bezauberndes Triumphgelächter aus, daß der Pudding wohl weiter keiner Würze bedurft hätte, um jedem vernünftigen Menschen zu schmecken.

»Also, wo ist der Pudding?« fragte Tom verschmitzt.

»Wo?« rief Ruth und hob ihn mit beiden Händen in die Höhe. »Da schau mal her!«

»Das soll ein Pudding sein?« lachte Tom.

»Er wird natürlich erst einer werden, du großes Kind, wenn er zugedeckt ist«, schmollte Ruth.

Da Tom noch immer ein ungläubiges Gesicht machte, gab sie ihm mit dem Rollholz einen Klaps auf den Kopf und kehrte herzlich lachend zum Entwurf der Deckelrinde zurück, als sie plötzlich tief errötend zusammenfuhr. Tom stutzte gleichfalls, und als er der Richtung ihres Blickes folgte, sah er, daß John Westlock im Zimmer stand.

»Ach Gott im Himmel, John, wie bist du denn da hereingekommen?«

»Ich bitte um Entschuldigung«, sagte John. – »Vor allem natürlich deine Schwester – aber ich traf an der Haustüre eine alte Dame, die mich eintreten hieß. Und da ihr mich nicht klopfen hörtet und die Türe offenstand, nahm ich mir die Freiheit. Ich weiß zwar kaum«, setzte er lächelnd hinzu, »warum jemand von uns darüber betroffen sein sollte, daß ich mich so zufällig in eine so reizende häusliche Beschäftigung eingedrängt habe, aber offen gestanden bin ich doch ein wenig betreten. Möchtest du nicht so gut sein, Tom, und mich deiner Schwester vorstellen?«

»Mr. John Westlock«, sagte Tom – »meine Schwester.«

»Ich hoffe«, rief John lachend, »Sie werden als die Schwester eines so alten Freundes von mir mich gewiß nicht nach dem ersten Eindruck beurteilen, den ich durch mein ungelegenes Erscheinen wahrscheinlich gemacht habe.«

»Meine Schwester ist vielleicht nicht abgeneigt, dich um dasselbe zu bitten«, rief Tom dazwischen.

John Westlock versicherte natürlich, dies sei von ihrer Seite ganz unnötig, denn er sei ohnedies schon in stummer Bewunderung zu ihr erfüllt, und dann reichte er Ruth die Hand, die sie aber nicht nehmen wollte, da die ihrige noch voll Teig und Mehl sei. Dies wirkte so komisch, daß sie sich alle drei des Lachens nicht erwehren konnten, und bald herrschte wieder die behaglichste, ungenierteste Stimmung.

»Ich freue mich wirklich unendlich, dich hier zu sehen«, sagte Tom. »Bitte, nimm doch Platz.«

»Das kann ich nur unter einer Bedingung tun«, entgegnete John, »und die ist, daß deine Schwester ihren Pudding weiter zurichtet, ganz, als ob ich gar nicht dabei wäre.«

»Das wird sie bestimmt tun«, versprach Tom. »Aber ebenfalls nur unter einer Bedingung, nämlich daß du hierbleibst und ihn mit essen hilfst.«

Die arme kleine Ruth befiel ein Herzklopfen, als Tom diese entsetzliche Unbesonnenheit beging. Ihr war zumute, als könne sie nie wieder vor John Westlock die Augen aufschlagen, wenn der Pudding nicht geraten sollte. Ohne die geringste Ahnung von ihrem Gemütszustand nahm John die Einladung mit größter Bereitwilligkeit an, und nach einigen weiteren Scherzen über den Pudding, der natürlich über die Maßen gut ausfallen mußte, setzte sich Ruth errötend nieder, um ihr Geschäft wieder aufzunehmen.

»Ich bin viel früher gekommen, als ich vorhatte, Tom, aber ich will dir jetzt erzählen, was mich hergeführt hat, und ich glaube, du wirst dich außerordentlich freuen, wenn du es hörst. – – Ist das vielleicht etwas, was du mir zeigen willst?« fragte John.

»O Gott, nein«, rief Tom, der ganz vergessen hatte, daß er den beklecksten Papierbogen noch immer in der Hand hielt, und erst durch diese Frage daran erinnert wurde. »›Ein anständiger junger Mann von fünfunddreißig Jahren‹ – – das ist der Anfang einer Offerte, die ich dir übergeben wollte. Weiter bin ich nicht gekommen.«

»Ich glaube auch nicht, daß du nötig hast, deinen Lebenslauf bis zum Schlusse niederzuschreiben«, sagte John Westlock. »Aber sag mal, wie kommt es, daß du mir nie mitgeteilt hast, daß du Freunde in London besitzest?«

Tom sah seine Schwester mit großen Augen an, und sie erwiderte seinen Blick nicht minder erstaunt.

»Freunde in London?«

»Nun ja«, versetzte John Westlock, »freilich.«

»Hast du vielleicht Freunde in London, liebe Ruth?« fragte Tom.

»Nein.«

»Nun also!« sagte Mr. Pinch. »Aber jedenfalls freut es mich, wenn es auch das erstemal in meinem Leben ist, daß ich etwas davon gehört habe. Ich meinerseits hatte keine Ahnung davon. Die Londoner müssen wirklich Kapitalsburschen sein, daß sie ihre Geheimnisse so streng hüten.«

»Darüber magst du denken, wie du willst«, versetzte John Westlock, »aber, Tom, die Sache muß sich so und nicht anders verhalten. Als ich diesen Morgen gerade beim Frühstück saß, hörte ich an meine Türe klopfen – –«

»Und du schriest darauf sehr laut: ›Herein!‹« ergänzte Tom.

»Stimmt. Und die Person, die klopfte, folgte meiner Einladung und blieb nicht – wie ein gewisser ›anständiger junger Mann von ungefähr fünfunddreißig Jahren‹ seinerzeit – mit offenem Mund im Vorzimmer stehen. Nun gut. Und als sie hereinkam, fand ich, daß sie ein Fremder war, und zwar ein ernster, geschäftsmäßig aussehender Fremder. ›Habe ich das Vergnügen mit Mr. Westlock?‹ fragte der Herr. – ›Ja, das ist mein Name‹, sagte ich. ›Kann ich die Ehre haben, ein paar Worte mit Ihnen zu sprechen?‹ – ›Bitte nur Platz zu nehmen, Sir.‹«

John Westlock machte eine Pause, um nach dem Tisch hinüberzuschielen, wo Toms Schwester, aufmerksam zuhorchend, noch immer mit dem Pudding beschäftigt war, der jetzt bereits ziemlich fertig aussah.

Dann fing er wieder an.

»Als der Mann einen Pudding genommen hatte, – Tom –«

»Wie?« rief Tom.

»Sich niedergesetzt hatte –«

»Aber du sprachst ja von einem Pudding!«

»Nein, nein, ich doch nicht«, leugnete John und wurde ein wenig rot, »ich habe von einem Stuhl gesprochen. Was fällt dir denn ein! – Wie sollte ein Fremder um halb neun Uhr morgens in mein Zimmer kommen und einen Pudding nehmen?! Also, nachdem er einen Stuhl genommen hatte, Tom – also wirklich, einen Stuhl –, setzte er mich nicht wenig in Erstaunen, indem er die Unterhaltung mit den Worten eröffnete: ›Ich glaube, Sir, Sie sind mit einem gewissen Mr. Thomas Pinch bekannt‹«

»Was du da sagst!« rief Tom.

»Ich versichere dir, das waren seine eigenen Worte. Ich antwortete natürlich mit ›ja‹. – Ob ich wisse, wo er gegenwärtig wohne? – Ja. – In London? – Ja. – Der Fremde sagte dann, er habe gehört, daß du deine Stellung bei Mr. Pecksniff aufgegeben habest. Ob dies wirklich der Fall sei? – Ja. – Ob du eine andere Stelle suchest? – Ja.«

»Allerdings suche ich eine«, bestätigte Tom und nickte eifrig.

»Dasselbe sagte ich ihm auch. Du kannst übrigens versichert sein, daß ich mich diesbezüglich so klar aussprach, daß wirklich kein Mißverständnis mehr obwalten konnte. Also gut. – ›In diesem Falle‹, sagte der Herr, ›glaube ich, Mr. Pinch unterbringen zu können.‹«

– Ruth hielt in ihrer Arbeit inne. –

»Gott im Himmel«, rief Tom, »liebe Ruth, denke dir nur, er glaubt mich unterbringen zu können!«

»Natürlich –« fuhr John Westlock fort und blickte wieder verstohlen nach Ruth hin, »war ich nicht weniger gespannt als Ihr Bruder jetzt. Natürlich bat ich ihn fortzufahren und bemerkte, ich wolle dich so bald wie möglich davon in Kenntnis setzen. Er erwiderte, er habe nur sehr wenig mehr zu sagen und mache überhaupt nicht gern viele Worte. Er komme lieber gleich zur Sache. Und das tat er denn auch. Und klipp und klar teilte er mir mit, daß einer seiner Freunde jemanden brauche, der das Amt eines Sekretärs und Bibliothekars versehen könne. Das Gehalt sei zwar gering, da es jährlich nur hundert Pfund betrage und weder Kost noch Wohnung darin inbegriffen seien, aber andererseits sei es kein schwerer Dienst und du könntest jeden Augenblick den Posten antreten.«

»Gott im Himmel«, rief Tom, »hundert Pfund jährlich! Mein lieber, lieber John! Meine liebe Ruth! Denkt euch nur: hundert Pfund im Jahr!«

»Aber das Seltsamste an der Geschichte ist«, nahm John Westlock seine Rede wieder auf und legte seine Hand auf Toms Arm, um seine Aufmerksamkeit zu fesseln und seinen Enthusiasmus für den Augenblick ein wenig im Zaume zu halten – »das Sonderbarste an der Geschichte, Miss Pinch, ist, daß ich den Herrn durchaus nicht kenne und er Tom ebensowenig kennt.«

»Er kann mich auch gar nicht kennen«, sagte Tom ganz verwirrt; »ich kenne doch nicht einen einzigen Menschen in London.« »Und als ich bemerkte«, erzählte John weiter und hielt Toms Hand dabei immer noch fest, »er dürfe mir die Frage nicht verübeln, wer ihn denn an mich gewiesen und wieso er wisse, daß eine Veränderung in der Lage meines Freundes stattgefunden habe, und wer ihm mitgeteilt, daß sich mein Freund für eine derartige Stelle auch ganz besonders eigne, erklärte er trocken, er bedaure, darüber keine weiteren Auskünfte geben zu können.«

»Er glaube, darüber keine weiteren Erklärungen geben zu können?« wiederholte Tom, atemlos vor Erstaunen.

»›Übrigens ist es ja auch kein Geheimnis‹, sagte der Fremde«, setzte John hinzu, »›daß jeder, der einmal in Mr. Pecksniffs Nähe gewesen ist, Mr. Thomas Pinch und seine Talente so genau kennt wie den Kirchturm dieses Dorfes oder den Blauen Drachen.‹«

»Den Blauen Drachen?« wiederholte Tom, abwechselnd seinen Freund und seine Schwester anstarrend.

»Ja, den Blauen Drachen. Und ich gebe dir mein Wort, das Wirtshaus schien ihm so bekannt zu sein, als ob er Mark Tapley in eigener Person gewesen wäre. Ich sagte dir schon, daß ich große Augen machte, aber dennoch konnte ich mich nicht erinnern, den Mann je zuvor gesehen zu haben, obgleich er mit einem Lächeln fragte: ›Sie kennen den Blauen Drachen, Mr. Westlock? Aber was frage ich, ich weiß doch ganz genau, daß Sie ihn kennen.‹«

Tom geriet in immer größere Verwirrung und erklärte immer und immer wieder, das sei das außerordentlichste und verblüffendste Geheimnis, von dem er je in seinem Leben gehört habe.

»Ja, das ist es«, bestätigte John Westlock. »Ich fürchtete mich beinah vor dem Fremden; wahrhaftig ja – obschon es heller Tag und Sonnenschein war. Ich vermutete beinahe, einen übernatürlichen Gast bei mir zu haben, bis er schließlich ein ganz gewöhnliches sterbliches Taschenbuch hervorzog und mir diese Karte hier einhändigte.«

»Mr. Fips«, las Tom ab. »Austin Friars – Austin Friars klingt gespenstig, John!«

»Aber ›Fips‹ dafür um so weniger, sollt ich meinen«, sagte John. »Also dort wohnt er, Tom und erwartet heute morgen unsern Besuch. So, jetzt weißt du soviel von diesem seltsamen Vorfall wie ich selbst.«

Toms Gesicht, das bald vor Jubel über die hundert Pfund jährlich aufstrahlte, bald wieder voller Verwunderung war über den unerklärlichen Zusammenhang dieser Geschichte, konnte nur mit dem seiner Schwester verglichen werden, in deren Miene Erregung und Erstaunen miteinander abwechselten. Was aus dem Beefsteakpudding geworden wäre, wenn er nicht schon beendet gewesen, hätte höchstens ein Astrolog herausbekommen können.

»Tom«, sagte Ruth zögernd nach einer Pause, »ich fürchte, Mr. Westlock weiß vielleicht in seiner Freundschaft für dich mehr von der Sache, als er sagen will.«

»O durchaus nicht!« beteuerte John hastig. »Ich versichere Ihnen, wirklich, Sie irren sich, obschon mir das Gegenteil lieb wäre. Wahrhaftig, ich kann keine derartige Ehre für mich in Anspruch nehmen, Miss Pinch, und habe alles, was ich weiß, erzählt.«

»Sie würden aber gewiß mehr haben erfahren können, wenn es Ihnen gepaßt hätte«, versetzte Ruth und schickte sich an, das Nudelbrett abzukratzen.

»Nein«, schwur John, »wahrhaftig nicht. Es ist aber, finde ich, wirklich nicht sehr edelmütig von Ihnen, mich so unerbittlich zu beargwöhnen, wo ich so unbedingten Glauben in Sie setze! – Ich habe, wie Sie sehen, ein grenzenloses Vertrauen zu dem Pudding, Miss Pinch.«

Ruth lachte, aber gleich darauf wurden sie wieder ernst und besprachen das Thema angelegentlichst. So dunkel auch die ganze Geschichte war, eines stand fest: Tom wurde ein Jahresgehalt von hundert Pfund angeboten, und das war unter allen Umständen die Hauptsache.

Mr. Pinch wollte in seiner Aufregung auf der Stelle nach Austin Friars aufbrechen, aber auf Johns Rat wurde noch eine Stunde gewartet. Tom putzte sich inzwischen so sauber wie möglich heraus, wobei ihm sein braves Schwesterchen emsig an die Hand ging, ihm den Rockkragen ausbürstete, die zerrissenen Nähte an seinen Handschuhen mit ein paar Stichen flickte und bald da, bald dort in ihrer flinken und munteren Weise etwas an ihm ausbesserte. Wie John Westlock dies durch die halboffene Tür mit ansah, erinnerte es ihn an die Phantasieporträts von ihr, die die früheren Zöglinge an die Wand von Pecksniffs Atelier gezeichnet hatten und er kam entrüstet zu dem Schluß, daß sie grobe Karikaturen seien, trotzdem sie, wie bereits erwähnt, sämtlich darin wetteiferten, Miss Pinch als überirdische Schönheit darzustellen, und er selbst mindestens zwanzigmal ebensolche Bilder von ihr entworfen hatte.

»Tom«, sagte er, als sie mitsammen durch die Straßen wanderten, »ich fange wirklich an zu glauben, daß du der Sohn von irgend jemandem bist.«

»Das denke ich allerdings auch«, antwortete Tom gemütlich.

»Aber ich verstehe unter dem ›Jemand‹ einen Mann von Bedeutung!«

»Ach Gott«, sagte Tom, »mein armer Vater war ebensowenig eine bedeutende Persönlichkeit wie meine Mutter.«

»Du erinnerst dich ihrer also noch vollkommen?«

»Ob ich mich ihrer erinnere? O Gott, gewiß. Meine Mutter war der überlebende Teil meines Elternpaares. Sie starb, als Ruth noch ganz klein war, und dann fielen wir beide der guten alten Großmutter zur Last, von der ich dir schon einmal erzählt habe. Du erinnerst dich doch noch? Ach Gott, es ist wirklich nicht viel Romantisches in unserer Geschichte, John.«

»Nun, dann«, meinte John anscheinend sehr desperat, »weiß ich mir wahrhaftig die Geschichte mit dem Gast von heute morgen nicht zu erklären. Aber denken wir jetzt nicht mehr weiter darüber nach, Tom!«

Sie ließen es aber dennoch nicht dabei bewenden, sondern besprachen die Angelegenheit noch weiter, bis sie Austin Friars erreichten, wo sie in einem sehr dunklen Flur des ersten Stockes eine kleine blinde Glastür fanden, auf der in Buchstaben, die transparent sein sollten, der Name »Mr. Fips« aufgemalt war. Dicht daneben verbarg sich in der Dunkelheit ein tückischer alter Seitentisch, der es boshafterweise auf die Rippen der Besucher abgesehen zu haben schien, und eine alte zerfaserte Matte, die, als solche bereits invalid geworden, sich seit vielen Jahren darauf verlegt hatte, den Vorübergehenden ein Bein zu stellen.

Mr. Fips vernahm einen heftigen Anprall eines Hutes an seiner Bureautür und entnahm daraus wie gewöhnlich, daß ihn jemand zu besuchen gedenke. Er machte daher die Türe auf und sagte aufs Geratewohl, es sei »etwas dunkel«.

»Das will ich meinen«, flüsterte John seinem Freunde ins Ohr. »Kein übler Platz, um ›die Leute vom Lande abzukrageln‹, nicht wahr?«

Mr. Pinch hatte gleichfalls bereits an diese Möglichkeit gedacht, und es schwante ihm, sie könnten am Ende in diese Gegend gelockt worden sein, um ohne weiteres zu einer Hackpastete verarbeitet zu werden, aber der Anblick Mr. Fips‘, der ein kleiner schmächtiger, freundlich aussehender Mann war und schwarze Kniehosen und gepudertes Haar trug, beruhigte ihn sofort.

»Bitte nur einzutreten«, lud Mr. Fips die beiden Herren ein.

Was das für ein seltsames gelbsüchtiges kleines Bureauzimmer war!

In einer Ecke auf dem Fußboden prangte ein großer schwarzer Fleck, als ob sich hier vor Jahren ein alter Schreiber den Hals abgeschnitten und statt des Blutes Tinte vergossen hätte.

»Ich habe meinen Freund, Mr. Pinch, mitgebracht, Sir –« begann John Westlock.

»Haben Sie die Güte, Platz zu nehmen«, versetzte Mr. Fips.

Sie setzten sich, und Mr. Fips nahm auf einem Kontorstuhle Platz, zog aus seiner Polsterung ein ungeheuer langes Roßhaar hervor und steckte es augenscheinlich mit großem Wohlbehagen in den Mund.

Trotzdem er Tom Pinch sehr neugierig betrachtete, so verrieten seine Mienen doch nichts, das vernünftigerweise als ungewöhnliche Entfaltung von Interesse hätte gedeutet werden können. Nach einem kurzen Schweigen, während dessen er so wenig Befangenheit zeigte, daß es eigentlich ziemlich auffallend war, fragte er Mr. Westlock, ob sein Freund bereits alles Nähere wegen des Antrages sowie die Bedingungen wisse.

John bejahte.

»Sie wären also geneigt, darauf einzugehen, Sir?« fragte Mr. Fips.

»Ich betrachte es sogar als einen sehr großen Glücksfall für mich«, antwortete Tom. »Ich bin Ihnen wirklich außerordentlich für Ihr Anerbieten dankbar.«

»Bitte, nicht mir«, wehrte Mr. Fips ab. »Ich handle nur im Auftrage eines anderen.«

»Also, dann Ihrem Freunde, Sir. Dem Gentleman, bei dem ich in Dienst treten soll und dessen Vertrauen zu gewinnen ich mich nach Kräften bemühen werde. Wenn er mich erst besser kennengelernt hat, Sir, so hoffe ich, seine gute Meinung von mir nicht zu verlieren. Ich verspreche, daß er mich immer pünktlich, gewissenhaft und fleißig finden soll. Dafür kann ich einstehen. Und vielleicht wird auch Mr. Westlock« – er blickte dabei nach John hin – »für mich einstehen.«

»Selbstverständlich«, rief Mr. Westlock.

Mr. Fips schien es ein wenig schwer zu werden, die Unterhaltung weiterzuführen. Um über die Verlegenheitspausen hinwegzukommen, ergriff er seine Stampilie und stempelte große »F’s« auf seine Hosenbeine.

»Eigentlich«, fing er nach einer Weile stockend wieder an, »ist mein Freund augenblicklich nicht in London.«

Tom machte ein langes Gesicht, denn er fürchtete schon, es solle das soviel heißen, wie, Mr. Fips habe keinen Gefallen an ihm gefunden und wolle sich nach jemand anderem umsehen.

»Wann glauben Sie, daß er nach London kommt, Sir?« fragte er beklommen.

»Ich weiß es wirklich nicht; ich kann Ihnen das unmöglich sagen. Aber«, fuhr Mr. Fips fort und drückte sich mit dem Stempel auf die Wade seines linken Beines ein besonders deutliches F, dabei Tom fest anblickend, »ich glaube nicht, daß das viel zu sagen hat.«

Der arme Mr. Pinch neigte demütig sein Haupt, schien aber doch anderer Meinung zu sein.

»Ich wiederhole«, sagte Mr. Fips, »ich wüßte nicht, was das weiter zu bedeuten hätte. Die Sache wird ja lediglich zwischen uns beiden abgemacht, Mr. Pinch. Sie können Ihre Stelle sofort antreten, und ich zahle Ihnen Ihr Gehalt wöchentlich aus. Hem – ja – wöchentlich. – Hier in diesem Bureau«, setzte er hinzu, legte verlegen das Siegel aus der Hand und blickte abwechselnd seine beiden Besucher an. »Hem, ja. – Wöchentlich, wenn es Ihnen paßt. Jedesmal zwischen vier und fünf Uhr nachmittags.« Dann schwieg er wieder und spitzte den Mund, als ob er pfeifen wolle, tat es aber nicht.

»Sie sind wirklich sehr gütig«, rief Tom mit vor Freude strahlendem Gesicht. »Das ist ja alles vortrefflich. – Und wann soll ich kommen?«

»Nun, so etwa zwischen halb zehn und vier Uhr, dächte ich«, sagte Mr. Fips. »So ungefähr.«

»Ich meinte eigentlich nicht die Dienststunden«, unterbrach ihn Tom, »ich wollte vielmehr fragen, wo ich mich einzufinden habe.«

»Ach so, der Ort! – Der Ort ist im ›Tempel‹.«

Tom war entzückt.

»Vielleicht wünschen Sie sich das Haus anzusehen?« fragte Mr. Fips.

»O Gott, nein«, rief Tom. »Das werde ich schon finden. Ich bin nur so froh, jetzt wirklich angestellt zu sein, daß ich gar nicht recht weiß, was ich sage.«

»Sie können sich darauf verlassen, Sie sind fest angestellt«, versicherte ihm Mr. Fips. »Paßt es Ihnen vielleicht, daß wir uns in einer Stunde am Tempeltor in Fleet Street treffen?«

»Selbstverständlich«, rief Tom.

»Also gut«, sagte Mr. Fips und stand auf, »dann will ich Ihnen das Lokal zeigen, und Sie können gleich morgen früh anfangen. – Also in einer Stunde. – Sie sehe ich doch auch, Mr. Westlock, nicht wahr? – Sehr gut. – Bitte, nehmen Sie sich in acht – es ist etwas dunkel hier.«

Mit dieser ziemlich deplazierten Bemerkung schloß er hinter ihnen die Türe, und John und Tom blieb nichts weiter zu tun, als sich ihren Weg wieder auf die Straße hinab zu tasten. Die Besprechung hatte so wenig beigetragen, das geheimnisvolle Dunkel zu lichten, in das die ganze Angelegenheit gehüllt war, daß beide sich eines Lächelns über ihre verdutzten Gesichter nicht erwehren konnten. Sie trösteten sich damit, daß sich bei Antritt des neuen Amtes und durch näheren Verkehr mit den Kollegen, die Tom dort vorfinden dürfte, gewiß einiges Licht in die Sache bringen lassen werde. Sie verschoben daher alle weiteren Erörterungen auf das anberaumte Zusammentreffen mit Mr. Fips. Sie gingen dann abermals in Johns Wohnung, widmeten dem Schweinskopf einige Minuten und machten sich wieder auf den Weg. Die anberaumte Stunde hatte zwar noch nicht geschlagen, aber Mr. Fips stand bereits am Tor des Tempels, freute sich ungemein über ihre Pünktlichkeit und ging ihnen durch verschiedene Höfe und Gassen voran, bis er in eine Straße einbog, die noch ruhiger und düsterer war als die andern. Hier führte er seine beiden Begleiter in ein Haus, stieg die Treppe empor und zog einen Bund rostiger Schlüssel aus der Tasche. Vor einer Türe im obersten Stock, an der sich dort, wo sonst der Name der Bewohner zu stehen pflegt, nur ein gelber Farbenfleck befand, machte er halt und begann sehr bedächtig aus einem der Schlüssel den Staub herauszuklopfen, sich zu diesem Zwecke des großen breiten Treppengeländers bedienend.

»Sie werden gut tun, später einen kleinen Pfropfen hineinzustecken«, sagte er mit einem Blick auf Tom, nachdem er durch Blasen in das Schlüsselrohr diesem einen schrillen Pfiff entlockt hatte. »Es ist das einzige Mittel, zu verhindern, daß es sich immerwährend verstopft. Auch dürfte wohl das Schloß besser funktionieren, wenn Sie es ein bißchen ölten.«

Tom dankte ihm für den Rat, war aber zu sehr mit seinen Gedanken und dem Studium von John Westlocks Mienen beschäftigt, um besonders redselig zu sein. Mittlerweile hatte Mr. Fips die Türe geöffnet, die jetzt nur mühsam und schauerlich kreischend dem Drucke seiner Hand nachgab. Dann zog er den Schlüssel aus dem Schloß und händigte ihn Tom ein.

»Saperment, Saperment«, sagte er eintretend, »liegt hier aber der Staub dick.«

Das stimmte. Mr. Fips hätte sagen können »schauderhaft dick«, denn der Staub hatte sich überall angehäuft, bedeckte alle Gegenstände in hohen Schichten, und wo das Sonnenlicht durch eine Ritze in den Fensterläden schien und auf die Wand gegenüber fiel, sah man ihn in der Luft kreisen und wirbeln wie ein Rad in einem großen Eichhörnchenkäfig.

Im ganzen Zimmer war er das einzige, das noch Leben zu haben schien. Als Mr. Fips das schwere Schiebefenster aufmachte, um dem Licht freieren Zutritt zu gestatten und die warme Sommerluft einströmen zu lassen, konnte man die verschimmelten, vermoderten Möbel, das verblichene Wandgetäfel, die schmutzige Decke, den rostbedeckten Ofen und den Herd voller Asche erkennen; überall Zeichen ärgster Vernachlässigung. Dicht neben der Tür stand ein Leuchter mit aufgesetztem Löschhorn, als ob der Bewohner, der zuletzt den Raum verlassen, noch einen Abschiedsblick auf die verödete Stube habe werfen wollen.

In demselben Stockwerk lagen noch zwei Zimmer, und von dem ersten oder äußeren führte eine schmale Treppe zu zwei andern einen Stock höher empor, die wie Schlafgemächer ausgestattet waren. In allen diesen Räumen fehlte es durchaus nicht an bequemen Möbeln, freilich sämtlich altmodisch, aber die abgesperrte Luft und der Mangel an Benutzung schienen sie zu allen Zwecken untauglich gemacht zu haben, und ihr Aussehen hatte etwas spukhaft Unheimliches an sich. Allerlei Gerümpel lag unordentlich auf dem Boden umhergestreut, und dazwischen standen Schachteln, Körbe und Kisten. Überall waren große Stöße von Büchern aufgeschichtet, die sich auf viele Tausende belaufen mußten; die einen noch in Ballen, andere in Papier eingewickelt – so, wie man sie gekauft hatte; wieder andere einzeln oder in Haufen umherliegend, keines aber auf den Simsen, die die Wände entlangliefen.

Mr. Fips machte Tom auf dieses Chaos aufmerksam. »Ehe wohl etwas Weiteres geschehen kann, müssen die Bücher vorerst geordnet, auf den Brettern aufgestellt und in Kataloge eingetragen sein, Mr. Pinch. Das wäre wohl so der Anfang, dächte ich.«

Tom rieb sich vor Freude die Hände, denn das war eine Beschäftigung, die ihm ungemein zusagte.

»Außerordentlich interessant, außerordentlich interessant, ich versichere Ihnen«, rief er immer wieder. »Ich werde vielleicht damit zu tun haben, bis Mr. –«

»Bis Mr. –« Wiederholte Mr. Fips in fragendem Tone.

»Ja, richtig. Sie haben mir ja noch gar nicht den Namen des Herrn genannt«, sagte Tom.

»Hem – ja. Jawohl«, rief Mr. Fips und zog sich seine Handschuhe an. »Habe ich das unterlassen? Hem, allerdings, ja. Nun, ich denke wohl, daß er bald hier sein wird. Ich bin überzeugt, Sie werden ganz gut mit ihm auskommen. – Also, ich wünsche Ihnen den besten Erfolg. Nicht wahr, und sie vergessen doch nicht, die Tür zu schließen. Sie fällt von selbst ins Schloß, wenn Sie sie zuschlagen. Also halb zehn, nicht wahr? Von halb zehn bis vier oder fünf Uhr, oder vielleicht auch etwas darüber; den einen Tag vielleicht ein bißchen früher, den andern ein wenig später, je nachdem Sie Lust dazu haben und mit Ihrer Arbeit vorwärtskommen. Meine Adresse ist: Fips, Austin Friars, ich bitte Sie, sich das zu merken. Und nicht wahr, Sie werden nicht vergessen, gefälligst die Türe zuzuschlagen?«

Mr. Fips sagte dies alles so freundlich und gelassen, daß Tom sich nur die Hände reiben, mit dem Kopf nicken und zustimmend lächeln konnte. Er lächelte und nickte noch immer, während Mr. Fips bereits gelassen zur Tür hinausschritt.

»Da haben wir’s, jetzt ist er fort!« rief er, plötzlich gewahr werdend, daß der Advokat bereits draußen war.

»Und was noch mehr ist, Tom«, rief John Westlock, setzte sich auf einen Stoß Bücher und blickte seinen erstaunten Freund lächelnd an, »er gedenkt offenbar nicht wiederzukommen. Du bist also sozusagen und in aller Form hier alleine und zu Hause. Freilich unter etwas sonderbaren Umständen ist das vor sich gegangen.«

Es war in der Tat eine recht seltsame Geschichte, und Tom, der mit dem Hut in der einen und dem Schlüssel in der andern Hand mitten in dem Bücherchaos stand, machte ein so verlegenes Gesicht, daß sein Freund sich nicht enthalten konnte, herzlich laut aufzulachen. Das wirkte so ansteckend auf ihn, daß auch er in ein herzliches Gelächter ausbrach.

Nachdem sie sich gehörig ausgelacht hatten – was nicht so schnell ging, denn John war von Natur ein so lustiger Bursche, daß man ihm nur den kleinen Finger zu reichen brauchte, und schon griff er in solchen Fällen nach der ganzen Hand –, sahen sie sich genauer in den Zimmern um und suchten unter dem verstreuten Gerümpel, ob sich nicht etwas fände, das das Rätsel in irgendeiner Weise aufklären könnte. Aber da war kein Fetzen Papier und nicht eine Zeile, die irgendeinen Aufschluß gegeben hätte. Die Bücher waren mit einer Menge der verschiedenartigsten Namen gezeichnet und offenbar in einer Auktion angekauft worden. Ob aber einer von ihnen der Name von Toms Prinzipal war, darüber konnten sie sich natürlich keine Gewißheit verschaffen. John hatte den Einfall, sich beim Hausmeister zu erkundigen, wem die Wohnung gehöre oder von wem sie gemietet sei, aber gleich darauf kam er mit der Antwort zurück: Mr. Fips von Austin Friars.

»Und das, Tom,« sagte er, »scheint mir, wird wohl das ganze Geheimnis sein. Fips ist offenbar ein exzentrischer Bursche, kennt Pecksniff, verachtet ihn natürlich, hat entsprechend viel von dir gehört oder gesehen und hat dich daher auf seine allerdings etwas närrische Weise angestellt.«

»Aber warum mag er es wohl so kurios angestellt haben?« fragte Tom.

»Ach Gott, er ist eben ein närrischer Kauz. Da könnte man geradesogut fragen: warum trägt er schwarze Kniehosen und pudert sich die Haare, während seine Nebenmenschen Stiefel und Perücke tragen.«

Tom war so fröhlich gestimmt, daß er sich diese Erklärung ohne weiteres gefallen ließ; war sie doch immerhin ziemlich plausibel – und er gab daher zu, daß sich die Sache wohl so verhalten werde.

Dann ließ er den Fensterschieber wieder herunter, schloß die Läden und entfernte sich mit seinem Freunde. Der Aufforderung Mr. Fips‘ eingedenk, schlug er die Tür nach Kräften zu, probierte, ob sie auch fest geschlossen sei, und steckte dann den Schlüssel in die Tasche.

Da sie nichts zu versäumen hatten, machten sie einen ziemlich weiten Umweg nach Islington, und Tom konnte sich an den vielen neuen Dingen, die sich seinen Blicken darboten, gar nicht satt sehen. Es war gut, daß er John Westlock zum Begleiter hatte, denn jeder andere wäre wohl seines unablässigen Stehenbleibens an den Ladenfenstern und seines lebensgefährlichen Hinaustretens auf die Fahrstraße, um die Kirchtürme und öffentlichen Gebäude besser ins Auge fassen zu können, recht bald satt geworden. Aber John war ganz entzückt darüber, und das Herz lachte ihm im Leibe, sooft er Tom mit freudestrahlendem Gesicht immer wieder zwischen den Karren und Mietswagen auftauchen sah.

Als Ruth sie in dem dreieckigen Salon empfing, war wohl kein Teig oder Mehl mehr auf ihren Händen, aber ein freundliches Lächeln auf ihren Mienen, und ein herzliches Willkommen strahlte aus jedem Grübchen in ihren Wangen und leuchtete in ihren Augen. Der Tisch war bereits für das Mittagessen gedeckt, und wenn auch keine feinen Gedecke und kostbaren Gläser darauf lagen oder standen, sondern nur Messer mit grünen Heften und wahre Marterzeuge von zweizinkigen Gabeln, so vermißte man doch weder Silber noch Gold, weder Damast noch Porzellan.

Ruths erstes Kochexperiment war so vortrefflich gelungen, daß John Westlock und Tom behaupteten, sie müsse bestimmt eine Zeitlang heimlich Kochkunst studiert haben, und ihr zuredeten, nur ruhig die Wahrheit einzugestehen.

Es ist wirklich erstaunlich, was drei junge Leute nicht alles zusammenzuplaudern wissen. Keinen Augenblick trat eine Pause ein. Aber nicht immer blieb ihre Unterhaltung so scherzhaft wie anfangs, denn es kam zu einer sehr ernsten Stimmung, als Tom berichtete, wie er vor kurzem Mr. Pecksniffs Töchter gesehen habe und welche Veränderung mit der jüngeren vorgegangen sei.

Das Thema schien John Westlock überhaupt außerordentlich zu interessieren. Ausführlich erkundigte er sich nach allen Einzelheiten bei Gratias Verheiratung, fragte, ob der Gentleman ihr Gatte sei, der Tom nach Salisbury begleitet habe, in welchem Grade der Verwandtschaft die verschiedenen Personen zueinander stünden und so weiter.

Tom schilderte ausführlich die Verhältnisse und erzählte, wie Martin sich außer Landes begeben, aber schon seit längerer Zeit nichts mehr von sich habe hören lassen und wie Mark aus dem »Drachen« mit ihm gewandert, wie Mr. Pecksniff den armen altersschwachen Großvater in seine Gewalt bekommen und wie er niederträchtigerweise um Mary Grahams Hand geworben. Doch kein Wort ließ er verlauten von dem, was tief in seinem Herzen verborgen lag. Nicht eine Silbe.