Sechsundzwanzigstes Kapitel
Enthält einen kurzen Bericht über den weiteren Verlauf der Klagsache Bardell kontra Pickwick.
Mr. Pickwick hatte durch Jingles Entlarvung den Hauptzweck seiner Reise erreicht und beschloß‘ daher, so bald wie möglich nach London zurückzukehren, um sich zu informieren, welche Schritte die Herren Dodson und Fogg unterdessen wohl ergriffen haben mochten. So benutzte er denn bereits am Morgen nach dem denkwürdigen Ereignisse die erste Postkutsche und langte noch am nämlichen Abend mit seinen drei Freunden und Mr. Samuel glücklich und wohlbehalten in der Hauptstadt an.
Hier trennten sich die Freunde auf eine kurze Zeit. Die Herren Tupman, Snodgraß und Winkle zogen sich in ihre diversen Wohnungen zurück, um die Vorbereitungen zu treffen, die ihr bevorstehender Besuch in Dingley Dell erforderte, und Mr. Pickwick und Sam schlugen einstweilen ihr Quartier in einem sehr guten, altmodischen und bequemen Gasthof auf, dem „Georg und Geier“, Gast- und Kaffeehaus, George Yard, Lombardstreet. Mr. Pickwick hatte gespeist, seine zweite halbe Flasche extra guten Portwein geleert, sein seidenes Taschentuch über den Kopf gezogen, seine Füße an das Kamingitter gestemmt und sich in einem bequemen Armstuhl zurückgelehnt, als ihn der Eintritt Mr. Wellers mit seinem Mantelsack aus seinen stillen Betrachtungen riß.
„Sam!“
„Sir?“ erwiderte Mr. Weller.
„Ich habe soeben daran gedacht“, sagte Mr. Pickwick, „daß ich bei Mrs. Bardell in Goswellstreet noch viele von meinen Sachen liegen habe, die ich gerne holen lassen möchte, ehe ich die Stadt wieder verlasse.“
„Ganz recht, Sir.“
„Ich könnte sie zwar für den Augenblick bei Mr. Tupman unterbringen, aber bevor wir sie von dort holen, müssen sie notwendig durchgesehen und zusammengepackt werden. Ich möchte daher, daß du in die Goswellstreet gingest und alles in Ordnung brächtest.“
„Sogleich, Sir?“
„Sogleich“, erwiderte Mr. Pickwick.
„Aber halt, Sam“, fügte er hinzu und zog seine Börse hervor. „Wir könnten die Miete gleich bezahlen. Sie ist zwar erst Weihnachten fällig, aber es ist besser, wenn wir die Sache gleich jetzt ins reine bringen. Es ist monatliche Kündigung ausgemacht. Hier ist der Mietvertrag. Gib ihn Mrs. Bardell und sag ihr, sie könne die Wohnung abgeben, wann es ihr beliebe.“
„Ganz recht, Sir“, versetzte Mr. Weller. „Haben Sie sonst noch etwas zu befehlen, Sir?“
„Nein, Sam.“
Mr. Weller ging langsam nach der Tür, als warte er noch auf etwas, öffnete sie und trat zögernd hinaus, als ihn Mr. Pickwick nochmals zurückrief.
„Sir?“ erwiderte Mr. Weller, kehrte diensteifrig zurück und schloß die Tür hinter sich.
„Ich habe nichts dagegen, Sam, wenn du zu ermitteln suchen willst, wie Mrs. Bardell gegenwärtig gegen mich gesinnt ist und ob wirklich die niederträchtige, grundlose Klage bis aufs äußerste getrieben werden soll. Ich sage, ich habe nichts dagegen, wenn du es tun willst. Ich überlasse es ganz dir.“
Sam nickte verständnisinnig und verließ das Zimmer; Mr. Pickwick zog sein seidenes Taschentuch noch weiter über das Gesicht und schickte sich zu einem Schläfchen an, und Mr. Weller ging rasch seines Weges, um den Auftrag auszurichten.
Es war nahe an neun Uhr, als er Goswellstreet erreichte. In dem kleinen Wohnzimmer auf die Straße heraus brannten ein paar Kerzen, und auf dem Fenstervorhang bewegten sich die Schatten von ein paar Hauben. Mrs. Bardell hatte Gesellschaft.
Mr. Weller klopfte, und es dauerte ziemlich lange, ehe ein paar kleine Stiefel über die Hausflur geklappert kamen und der junge Master Bardell öffnete.
„Na, du junger Naseweis“, fragte ihn Sam, „wie geht’s Muttern?“
„Sie is ganz wohl“, erwiderte Master Bardell, „und ich auch.“
„Na, gottlob“, versetzte Sam. „Sag ihr, ich möchte sie gerne sprechen, holdes Wunderkind.“
Master Bardell stellte das Licht auf die Treppe und verschwand mit der Botschaft hinter der Tür des Wohnzimmers.
Mrs. Bardell saß gerade mit zwei ihrer vertrautesten Freundinnen um den Teetisch, und ein paar Schweinsfüße mitsamt einem Käse schmorten auf höchst einladende Weise in einem kleinen holländischen Backofen vor dem Feuer.
„Mr. Pickwicks Bedienter?“ rief Mrs. Bardell erblassend, als ihr ihr Sohn die Meldung überbrachte.
„Gott steh uns bei!“ rief Mrs. Cluppins.
„Ich würde es wahrhaftig nicht für möglich gehalten haben, wenn ich es nicht eben selbst gehört hätte“, meinte Mrs. Sanders.
Mrs. Chippins war eine kleine, rührige, geschäftig aus. sehende Frau und Mrs. Sanders eine große wohlbeleibte Person mit einem Vollmondgesicht.
Mrs. Bardell hielt es für angemessen, auf alle Fälle aufgeregt zu sein; da aber keine der drei Damen genau wußte, ob es unter den obwaltenden Umständen rätlich sei, selbst mit Mr. Pickwicks Bedienten anders als durch Vermittlung der Herren Dodson und Fogg zu verkehren, herrschte allgemeine Bestürzung. In diesem Zustand von Ungewißheit war wohl das beste, den Jungen vorerst einmal dafür herumzuknuffen, daß er Mr. Weller an der Tür gefunden hatte. Das tat denn auch die Mutter, und der Jüngling heulte melodisch dazu.
„Wirst du gleich aufhören, du nichtsnutziger Bengel!“ rief Mrs. Bardell.
„Ja; quäle deine arme Mutter nicht so“, sagte Mrs. Sanders.
„Sie ist auch ohne dich ein geschlagener Mensch, Tommy“, fügte Mrs. Cluppins voll Teilnahme hinzu.
„Armes, unglückliches Lamm!“ seufzte Mrs. Sanders. Doch trotz all dieser moralischen Betrachtungen heulte Master Bardell nur um so lauter. „Was soll ich nun bloß tun?“ fragte Mrs. Bardell Mrs. Cluppins.
„Ich denke, Sie sollten ihn vorlassen“, riet Mrs. Cluppins, „aber auf keinen Fall ohne Zeugen.“
„Ich denke, zwei Zeugen wäre noch gesetzmäßiger“, warf Mrs. Sanders hin, die wie ihre Freundin fast vor Neugierde verging.
„Ja, es ist wohl das beste, ihn hereinzulassen“, sah Mrs. Bardell ein.
„Ohne Zweifel“, griff Mrs. Cluppins den Gedanken begierig auf. „Treten Sie ein, junger Mann, und schließen Sie, bitte, vorher noch die Haustür.“
Mr. Weller folgte auf der Stelle der Einladung, trat ins Wohnzimmer und begann sich seines Auftrags an Mrs. Bardell mit folgenden Worten zu entledigen: „Tut mir sehr leid, wenn ich Ihnen beschwerlich falle, wie der Einbrecher zu der alten Dame sagte, als er ihr auf die heiße Herdplatte legte, aber da ich und mein Herr eben erst in der Stadt angekommen sin und wir sogleich wieder abreisen wollen, so konnte ich nicht umhin, Ihnen meine Aufwartung zu machen.“
„Natürlich; der junge Mann kann doch nichts für die Fehler seines Herrn“, sagte Mrs. Cluppins, von Mr. Wellers flotter Erscheinung und feinem Benehmen bezaubert.
„Natürlich nicht“, stimmte Mrs. Sanders ein, nach gewissen sehnsüchtigen Blicken auf die kleine Zinnplatte zu urteilen, offenbar im Zweifel, ob die Schweinsfüße, im Falle Sam zum Abendessen mit eingeladen würde, reichen würden.
„Bin nur gekommen“, sagte Sam, ohne die Unterbrechung zu beachten, „erstens, um den Mietvertrag zurückzugeben. Hier ist er. Zweitens, um den Hauszins zu bezahlen. Hier ist er. Drittens, um auszurichten, daß alle Sachen Mr. Pickwicks zusammengepackt und dem Dienstmann eingehändigt werden sollen, den er darum schicken wird. Viertens, daß Sie die Wohnung, so bald es Ihnen beliebt, vermieten können. So, das is alles.“
„Was auch geschehen sein mag“, seufzte Mrs. Bardell, „ich habe es immer gesagt und werde es immer sagen, Mr. Pickwick hat sich in jeder Hinsicht, die eine Sache ausgenommen, stets wie ein vollendeter Gentleman benommen. Das Geld war bei ihm immer so sicher wie bei der Bank. Immer.“
Dann hielt sie ihr Taschentuch vor die Augen und ging aus dem Zimmer, um die Quittung zu schreiben.
Sam wußte sehr gut, daß er nur zu schweigen brauchte, um die Weiber zum Sprechen zu bringen; er blickte daher stumm abwechselnd nach der zinnernen Platte, dem gerösteten Käse, der Wand und der Zimmerdecke.
„Arme Mrs. Bardell“, seufzte denn auch Mrs. Cluppins gleich darauf.
„Armes Ding“, stimmte Mrs. Sanders mit ein.
Sam sagte nichts. Er sah, daß sie zur Sache kamen.
„Ich kann es wahrhaftig gar nicht fassen“, bemerkte Mrs. Cluppins, „wie man nur so treulos sein kann. Ich möchte nicht gern etwas zur Sprache bringen, was Sie peinlich berühren könnte, junger Mann, aber Ihr Herr ist ein Ungeheuer, und ich wollte, er wäre hier, daß ich es ihm ins Gesicht sagen könnte.“
„Hm, das wünschte ich auch“, sagte Sam.
„Es bricht einem ordentlich das Herz, wenn man sieht, wie tiefsinnig sie umherwankt und an nichts mehr Vergnügen findet. Es ist wirklich abscheulich!“
„Barbarisch“, rief Mrs. Sanders.
„Und Ihr Herr, junger Mann, ein Gentleman mit Vermögen, der die Auslagen für eine Frau gar nicht spüren würde“, fuhr Mrs. Cluppins mit großer Zungengeläufigkeit fort, „und also keine Spur von Entschuldigung für sich hat. Warum heiratet er sie nicht?“
„Na ja“, erwiderte Sam, „das is doch die Frage, um die sich’s handelt.“
„Frage, meinen Sie?“ entgegnete Mrs. Cluppins. „Ich an ihrer Stelle würde ihn nicht lange fragen. Gott sei Dank, es gibt noch Gesetze für uns Frauen, zu so elenden Geschöpfen die Männer uns auch machen möchten, wenn sie könnten! Das wird Ihr Herr auf seine Kosten erfahren, noch ehe er ein halbes Jahr älter ist.“
Dieser tröstliche Gedanke heiterte die Mienen der beiden Damen sogleich auf, und sie lächelten einander verständnisvoll an.
Der Prozeß nimmt also seinen Fortgang; da ist kein Zweifel, dachte Sam, als Mrs. Bardell mit der Quittung erschien.
„Hier ist die Quittung, Mr. Weller, und hier ist das Geld, das Sie noch herausbekommen. Ich hoffe, Sie werden einen Tropfen annehmen, um sich zu erwärmen, wäre es auch nur um der alten Bekanntschaft willen, Mr. Weller!“
Sam nahm den Vorteil wahr, der sich ihm bot, und verbeugte sich. Mrs. Bardell holte aus einem kleinen Wandschrank eine dunkle Flasche und ein Weinglas, schenkte ein und war so tief in ihren Seelenschmerz versunken, daß sie in der Zerstreutheit noch drei weitere Gläser zutage förderte und sie ebenfalls füllte.
„Ach du meine Güte, Mrs. Bardell“, rief Mrs. Cluppins aus, „ja, was haben Sie denn da angestellt?“
„Aber, aber, aber!“ stimmte Mrs. Sanders mit ein.
„Ach, mein armer Kopf!“ seufzte Mrs. Bardell mit trübem Lächeln.
Sam begriff natürlich und sagte sofort, er könne vor Tisch nie trinken, außer, es täte ihm ein weibliches Wesen Bescheid. Die Damen lachten darüber nicht wenig, und Mrs. Sanders erbot sich, ihn in dieser Hinsicht zufriedenzustellen, und schlürfte ein paar Tropfen aus ihrem Glas. Dann meinte Sam, alle müßten trinken, und so nahmen denn alle ein kleines Schlückchen. Als dann die kleine Mrs. Cluppins den Toast vorschlug: auf guten Erfolg in dem Prozeß Bardell kontra Pickwick, leerten die Damen ihre Gläser begeistert und wurden alsbald sehr gesprächig.
„Ich vermute, Sie haben gehört, was vorgeht, Mr. Weller?“ fragte Mrs. Bardell.
„Habe davon reden hören“, erwiderte Sam.
„Es ist entsetzlich, auf diese Art zum Stadtgespräch zu werden, Mr. Weller“, klagte Mrs. Bardell. „Aber ich sehe jetzt ein, es war das einzige, was ich tun konnte, und meine Rechtsbeistände, die Herren Dodson und Fogg, sagen mir, daß wir mit den Beweisen, die wir vorleger“ können, gewinnen müssen. Ich wüßte wirklich nicht, was ich anfangen sollte, wenn es fehlschlüge, Mr. Weller.“
Der bloße Gedanke, Mrs. Bardell könne möglicherweise ihren Prozeß verlieren, griff Mrs. Sanders so heftig an, daß sie sich genötigt sah, augenblicklich ihr Glas wieder zu füllen, und zu leeren; sie fühlte, wie sie nachher gestand, daß sie unfehlbar umgesunken wäre, wenn sie nicht die Geistesgegenwart gehabt hätte, dieses Mittel zu ergreifen.
„Wann, glaubt man, kommt die Sache denn dran?“ fragte Sam.
„Entweder im Februar oder im März“, erwiderte Mrs. Bardell.
„Was für eine Menge von Zeugen da auftreten werden!“ rief Mrs. Cluppins aus.
„Dutzende“, bestätigte Mrs. Sanders.
„Ich glaube, die Herren Dodson und Fogg würden rasen, Wenn die Klägerin nicht gewänne“, fügte Mrs. Cluppins hinzu, „sie führen den Prozeß auf ihr eigenes Risiko.“
„Rasen würden sie!“ sagte Mrs. Sanders.
„Aber die Klägerin muß gewinnen“, bemerkte Mrs. Cluppins.
„Ich hoffe es“, seufzte Mrs. Bardell.
„Oh, darüber kann doch gar kein Zweifel obwalten“, rief Mrs. Sanders.
„Na. Alles, was ich sagen kann, is, daß ich wünsche, Sie mögen ihn gewinnen“, sagte Sam, stand auf und setzte sein Glas nieder.
„Ich danke Ihnen, Mr. Weller“, erwiderte Mrs. Bardell gerührt.
„Und was die Dodson und Fogg betrifft, die so uneigennützig sin“, fuhr Mr. Weller fort „so kann ich nur so viel sagen, ich wünsche, sie mögen den Lohn bekommen, den ich ihnen gönne.“
„Oh, ich wünschte, sie würden den Lohn bekommen, den ihnen jeder gute Mensch geben möchte“, sagte Mrs. Bardell dankbewegt.
„Amen“, versetzte Sam, „und sie könnten dabei dick und fett werden. Wünsche Ihnen geruhsame Nacht, meine Damen.“
Zur großen Beruhigung der Mrs. Sanders entfernte er sich, ohne von der Hauswirtin zu dem gerösteten Käse und den Schweinsfüßen eingeladen zu werden, und unter dem jugendlichen Beistande Master Bardells schwanden bald darauf die trefflichen Leckerbissen von der zinnernen Platte. Mr. Weller lenkte seine Schritte nach dem „Georg und Geier“ zurück und erstattete seinem Herrn getreulich Bericht. Eine Unterredung mit Mr. Perker am folgenden Tage bestätigte seine Angaben nur zu sehr, und Mr. Pickwick traf Vorbereitungen zu seinem Weihnachtsbesuche in Dingley Dell mit dem erfreulichen Vorgefühle, daß zwei bis drei Monate später vor dem Gerichtshofe der Common-Pleas eine Entschädigungsklage wegen Bruchs eines Eheversprechens gegen ihn anhängig gemacht werden würde, wobei die Klägerin alle Vorteile für sich hatte, die sich nicht nur aus dem erdrückenden Beweismaterial, sondern auch aus der Gewandtheit und dem Scharfsinn der Herren Dodson und Fogg für sie voraussichtlich ergeben mußten.