21. Kapitel

Einige weitere Erfahrungen in Amerika. Martin nimmt sich einen Associé und entschließt sich zu einem Landkauf. Eden, wie es auf dem Papier aussieht. Auch etwas vom britischen Löwen

Das Klopfen an Mr. Pecksniffs Türe war zwar laut genug gewesen, hielt aber doch keinen Vergleich mit dem Geräusch eines amerikanischen Eisenbahnzuges in voller Eile aus. Es wird angebracht sein, das gegenwärtige Kapitel mit diesem freimütigen Zugeständnis zu eröffnen, damit sich der Leser nicht etwa denke, die Töne, die jetzt unsere Geschichte übertäuben werden, hingen auch nur entfernt mit dem Klopfen an Mr. Pecksniffs Türe zusammen oder mit der großen Erregung, in die sein kräftiger Schall sowohl diesen Ehrenmann wie auch Mr. Pinch versetzt hatte.

Mr. Pecksniffs Haus liegt jetzt mehr als tausend Meilen weit von uns entfernt, und unsere Erzählung atmet wieder die heilige Luft der amerikanischen Unabhängigkeit.

Die Räder rasseln und dröhnen und die Schienen schüttern, wie der Zug über sie hinwegbraust. Aufschreit die Maschine, als würde sie gepeitscht und gequält wie ein lebender Arbeiter und winde sich in Todesqualen. Leere Einbildung! Stahl und Eisen gelten unendlich viel mehr in dieser Republik als Fleisch und Blut. Wenn man dem sinnreichen Werk der Menschenhand mehr zumutet, als es ertragen kann, so trägt es die Nemesis in sich, während das unselige Geschöpf Gottes nicht so leicht gefährlich wird und sich mißbrauchen, biegen und brechen läßt, ganz nach seiner Unterdrücker Belieben. Wie hoch steht die Maschine dagegen! Es würde jemand mehr Dollars Strafe kosten, wenn er aus Übermut diese gefühllose Metallmasse ruinierte, als wenn er zwanzig Menschenleben aufs Spiel setzte oder ausbeutete. Gleichgültig blinzeln in solchen Fällen die Sterne aus dem Banner Amerikas hernieder, und die Freiheit zieht ihre Mütze über die Augen und begrüßt die Unterdrückung in ihrer scheußlichsten Gestalt als ihre leibliche Schwester.

Der Maschinist, der den Eisenbahnzug führte, quälte sich vermutlich nicht mit derartigen Betrachtungen ab, wie es überhaupt nicht wahrscheinlich war, daß er seinen Geist mit Betrachtungen irgendwelcher Art zermarterte, wenigstens lehnte er mit verschränkten Armen, überschlagenen Beinen und eine Pfeife im Munde an der Seitenwand des Waggons und sah so steinern, ruhig und gleichgültig vor sich hin, als sei seine Lokomotive weiter nichts als ein Spanferkel. Nur hin und wieder drückte er durch ein Grunzen, so kurz wie seine Pfeife, seinen Beifall über irgendein besonders geschickt getroffenes Ziel von seiten seines Kollegen, des Maschinenheizers, aus, der sich damit die Zeit vertrieb, Holzklötze aus dem Vorratswagen zu nehmen und sie nach dem neben dem Bahnkörper weidenden Vieh zu schleudern. Aber trotz der großen seelischen Ruhe und des innern Friedens dieses Beamten ging der Zug doch mit leidlicher Schnelligkeit vorwärts. Holpernd und polternd zwar, aber das mußte sein, denn die Schienen waren nur lose und schlampig gelegt. Die Lokomotive zog drei große Wagen: einen für die Damen, den zweiten für die Herren, den dritten für die Neger. Der letztere war schwarz angestrichen. Wahrscheinlich aus Hochachtung für seine Passagiere. Martin und Mark Tapley saßen in dem vordersten, weil er der bequemste war und keine Damen mitreisten. Sie saßen beide Seite an Seite und waren eifrig in ein Gespräch vertieft.

»Sie sind also froh, Mark«, sagte Martin und sah seinen Begleiter ängstlich und forschend an, »daß wir New York im Rücken haben?«

»Ja, Sir, das bin ich. Und zwar sehr froh.«

»Es hat Ihnen also dort nicht gefallen?«

»Ganz im Gegenteil, Sir; die vergnügteste Woche, die ich je in meinem Leben verbrachte, war die in Pawkins‘ Speisehaus.«

»Und was halten Sie von unserer Zukunft?« fragte Martin mit einer Miene, die deutlich verriet, daß er dieser Frage eine Zeitlang ausgewichen war.

»Ich denke sie mir ungemein glänzend, Sir«, entgegnete Mark. »Einen bessern Namen als Eden kann ein Ort auf Erden doch nicht mehr haben. Kann es etwas Gescheiteres geben, als sich in Eden anzusiedeln? Und dann hab ich mir sagen lassen«, setzte er nach einer Pause hinzu, »daß es dort massenhaft Schlangen gibt. Da kann man wenigstens Ehre einlegen.« Er war weit entfernt davon, bei der Erinnerung an diese Information auch nur das mindeste Grauen zu äußern, seine Mienen heiterten sich vielmehr auf, und zwar in einem Grade, daß der Laie hätte glauben können, er habe sich ein ganzes Leben über nach der Gesellschaft von Schlangen gesehnt und begrüße nun entzückt die nahe bevorstehende Erfüllung seiner heißesten Wünsche.

»Wer hat Ihnen das gesagt?« fragte Martin finster.

»Ein Offizier.«

»Gott, was sind Sie doch für ein alberner Mensch«, rief Martin und brach unwillkürlich in ein herzliches Lachen aus. »Ein Offizier? Die wachsen doch hier wie Pilze aus dem Boden.«

»Ja, ja, so wie die Vogelscheuchen in England, Sir«, fiel ihm Mark ins Wort. – »Die übrigens selbst eine Art von Militär sind. Ganz Rock und Weste und nur ein Stecken inwendig. Ja, ja. – Verzeihen Sie, Sir, ich kann manchmal nicht anders, ich muß fidel sein. – Also, es war einer von den Helden bei Pawkins‘, der mir das gesagt hat. Hab ich recht gehört, sagte er – nicht gerade durch die Nase, aber doch so, als hätte er einen Stöpsel darin – so wollen Sie nach Eden gehen? – Ja, ja, ich hab so was läuten hören, antwortete ich ihm. – Oh, sagte er, wenn Sie dort je zu Bett gehen sollten – Sie wissen, sagte er, man kann’s im Lauf der Zeit mit der fortschreitenden Zivilisation so weit bringen – so vergessen Sie nicht, ein Beil mitzunehmen. – Ich sah ihn ziemlich scharf an. Flöhe? fragte ich.«

»Ja, ja, und auch sonst noch was.«

»Vampire?« fragte ich.

»Ja, ja, und auch sonst noch was«, sagte er. »Moskitos vielleicht?«

»Ja, ja, und auch sonst noch was.«

»Und das wäre?« fragte ich.

»Schlangen«, sagte er, »Klapperschlangen. Und dann ist noch eine gewisse kleinere Sorte da, die verdammt auf Menschenfleisch geht. Aber das macht weiter nichts, sie gehören zur guten Gesellschaft. Nur die Schlangen«, sagte er, »werden Ihnen auf die Nerven gehen, und wenn Sie mal aufwachen und sehen eine auf Ihrem Bett«, sagte er, »aufrecht wie die Spirale von einem Pfropfenzieher, wenn er auf dem Handgriff aufsitzt, so schlagen Sie sie tot, denn dann geht’s um die Wurst.«

»Warum haben Sie mir denn das nicht früher gesagt?« rief Martin mit einer Miene, die von Marks Fröhlichkeit sehr bedeutend abstach.

»Habe nicht daran gedacht, Sir«, entschuldigte sich Mark. »So was geht einem zu einem Ohr hinein und zum andern wieder hinaus. Und dann, ach Gott, vielleicht war’s einer von einer andern Landaktien-Gesellschaft, der die Geschichte bloß aufgebracht hat, damit wir nach seinem Eden statt nach dem andern gehen möchten.«

»Allerdings immerhin ziemlich wahrscheinlich«, bemerkte Martin, »aufrichtig gesagt, ich hoffe es von ganzem Herzen.«

»Daran zweifle ich nicht, Sir«, entgegnete Mark, der, voll von dem beseligenden Eindruck der Anekdote auf sich selbst, einen Augenblick lang die wahrscheinliche Wirkung seiner Worte auf seinen Herrn nicht bedacht hatte. »Sei’s jetzt wie’s will, leben müssen wir.«

»Leben?« rief Martin. »Ja, ja, das ist leicht gesagt. Wenn wir nun aber einmal nicht aufwachen sollten, während die Klapperschlange auf unserm Bett Pfropfenzieher spielt, dann ist’s nicht so leicht getan.«

»Die Geschichte is’n Faktum«, sagte eine Stimme ihm so dicht ins Ohr, daß ihn der Hauch kitzelte; »ganz scheußlich wahr.«

Martin blickte zurück und bemerkte, daß ein Gentleman auf dem rückwärtigen Sitz seinen Kopf zwischen ihn und Mark gesteckt hatte und sein Kinn auf die Hinterlehne ihrer kleinen Bank aufstützte, um ihrem Gespräche zuzuhören. Seine Gesichtszüge waren so schlaff und leblos wie die der meisten Amerikaner, die sie bis jetzt gesehen, und seine Wangen so hohl, als ob er sie fortwährend einsaugte. Die Sonne hatte ihn – nicht gesund rot oder braun – sondern schmutzig gelb gebrannt. Seine kohlschwarzen Augen blinzelten halbgeschlossen unter den Lidern hervor, und selbst das mit einem Blick, der zu sagen schien: na, ihr werdet mich nicht überlisten, dazu müßtet ihr früher aufstehen. In der Linken hielt der Gentleman ein Stück Kautabak, das aussah wie ein Knochen oder wie ein Stück Käse, wie ihn die englischen Bauern lieben, und in der Rechten ein Federmesser. So ungeniert mischte er sich in den Dialog, als hätte man ihn eigens dazu aufgefordert, und so wenig schien er an die Möglichkeit zu denken, die Ehre seiner Bekanntschaft oder Einmengung in Privatgespräche könne unerwünscht kommen, wie ein Bär oder ein Büffel, wenn er ein paar Menschen überfällt.

»Ja, ja«, sagte er und nickte Martin als einem Barbaren aus der Fremde herablassend zu,»das ist scheußlich wahr. Ganz verdammtes Gezücht dort oben.«

Martin warf ihm einen ärgerlichen Blick zu und schien nicht übel Lust zu haben, ihm eine schroffe Antwort zu geben, aber rasch genug erinnerte er sich, daß es klüger sei, mit den Wölfen zu heulen, wenn man schon einmal unter sie geraten ist, und lächelte mit der freundlichsten Miene, die er in der Eile aufsetzen konnte.

Der Gentleman sagte vorläufig kein Wort weiter, da er gerade damit beschäftigt war, sich ein Priemchen von seinem Tabakkuchen abzuschneiden, wobei er sich leise eins pfiff. Als er das Priemchen gehörig zugeschnitten, nahm er das alte aus dem Mund, legte es auf den Sitz zwischen Mark und Martin nieder und steckte sich dann das neue in die hohle Backe, wo es sich wie eine große welsche Nuß oder ein kleiner Borsdorfer Apfel ausnahm. Als er es zu seiner Zufriedenheit fand, steckte er die Spitze seines Messers in das alte Priemchen, hielt es den beiden unter die Augen und bemerkte, wie jemand, der sagen will, er kenne sich im Leben aus, es sei »verdammt ausgelutscht«. Dann schnellte er es fort, steckte sein Messer wieder in die Tasche und den Tabak in die andere, legte sich wie früher mit dem Kinn auf die Lehne, lobte das Muster von Martins Westenstoff und steckte die Pfote aus, um das Gewebe genauer zu befühlen.

»Wie heißt das?« fragte er.

»Wahrhaftig, ich habe keine Ahnung«, sagte Martin, »wie es heißt.«

»Wird wohl ’n Dollar die Elle kosten, was?«

»Wahrhaftig, ich weiß auch das nicht.«

»Wir hierzulande«, sagte der Gentleman verächtlich, »wissen ganz genau, was unsere Produkte kosten.« Da Martin auf diese Frage nicht näher eingehen zu wollen schien, trat eine Pause ein.

»Nun«, fing der Gentleman wieder an, nachdem er die beiden jungen Männer eine Weile lang impertinent angeglotzt hatte, »was macht die alte Schachtel?«

Tapley, der sofort erriet, daß das eine impertinente Anspielung auf die Königin Viktoria sein sollte, hatte schon eine scharfe Antwort auf der Zunge, aber Martin verhinderte ihn noch rechtzeitig daran, sie auszusprechen, indem er schnell einfiel:

»Sie meinen das Mutterland?«

»Natürlich«, war die Antwort. »Wie geht’s ihr? Macht sie wie gewöhnlich Fortschritte nach rückwärts, was? Na – also wie geht’s der Königin Viktoria?«

»Sehr gut, wie ich glaube«, sagte Martin.

»Sie schwankt also nicht in ihren königlichen Schuhen, wenn sie an morgen denkt«, bemerkte der Fremde, »was?«

»Ich wüßte nicht, warum.«

»Es wird ihr also nicht kalt über den Rücken laufen, wenn sie erfährt, was in diesem Erdteil vorgeht?«

»Nein«, sagte Martin. »Ich könnte einen Eid drauf leisten, glaube ich.«

Der Gentleman sah ihn an, als bemitleide er ihn wegen seiner Unwissenheit und seiner Vorurteile, und sagte:

»Na, Sir, ich kann Ihnen nur versichern, es gibt keine Dampfmaschine in den ganzen Vereinigten Staaten, die nach einer Kesselexplosion so hergenommen aussehen würde wie dieses jugendliche Geschöpf in ihrem Federdaunen-Boudoir im Tower von London, wenn sie die nächste Nummer von der Watertoast-Gazette zu Gesicht bekommt.«

Inzwischen hatten mehrere andere Gentlemen ihre Sitze verlassen und waren näher gerückt. Sie schienen höchlichst entzückt über diese Rede zu sein. Ein besonders hagerer Herr mit loser, zerdrückter Halsbinde, einer langen weißen Weste und einem schwarzen Überrock, der in der Gesellschaft eine Art Autorität zu sein schien, fühlte sich jetzt berufen, eine Erwiderung darauf zu geben:

»Mr. Lafayette Kettle!« sagte er und nahm seinen Hut ab. Es entstand ein Gemurmel.

»Mr. Lafayette Kettle, Sir!«

Mr. Kettle verbeugte sich.

»Im Namen dieser Gesellschaft, Sir, und im Namen unseres gemeinsamen Vaterlandes, im Namen der Sympathie für die gerechte Sache, die wir alle mitfühlen, danke ich Ihnen. Ich danke Ihnen, Sir, im Namen der Watertoast-Sympathizers, – ich danke Ihnen, Sir, im Namen der Watertoast-Gazette, und ich danke Ihnen, Sir, im Namen des gesternten Banners der großen Vereinigten Staaten für Ihre beredte, kategorische Auseinandersetzung. Und wenn ich, Sir«, fuhr er fort und stieß Martin mit dem Handgriff seines Regenschirmes an, um ihn zur Aufmerksamkeit zu ermahnen, da er gerade auf etwas horchte, was ihm Mark ins Ohr flüsterte; »wenn ich, Sir, an einem solchen Orte und zu solcher Gelegenheit mich unterfangen darf, mit meiner eigenen Ansicht das vorliegende Thema zu beleuchten, so möchte ich sagen, Sir, dem britischen Löwen müßten durch den edeln Schnabel des amerikanischen Adlers die Krallen ausgerissen werden. Er müßte auf der irischen Harfe und der schottischen Fiedel das Liedchen spielen lernen, das jede leere Muschel singt, die an den Gestaden des grünen Columbia liegt.«

Dann setzte sich der hagere Gentleman unter großem Beifall wieder nieder und schnitt ein höchst feierliches Gesicht.

»General Choke«, rief Mr. Lafayette Kettle, »Sie haben mir aus dem Herzen gesprochen! Wahrhaftig ja. Aber der britische Löwe hat ein paar Repräsentanten hier, und ich möchte ganz gern eine Antwort von ihnen auf diese Bemerkung hören.«

»Sehr liebenswürdig«, spöttelte Martin, »daß Sie mir die Ehre erweisen, mich als einen Repräsentanten Englands anzusehen, aber ich kann Ihnen nur erwidern, ich habe nie gehört, daß die Königin Viktoria Ihre Watertoast-Gazette läse, und halte es auch nicht für sehr wahrscheinlich, daß es je der Fall sein wird.«

General Choke lächelte den übrigen zu und erklärte wohlwollend:

»Sie erhält die Gazette zugeschickt, Sir. – Sie wird ihr gratis zugeschickt.« »Aber wenn die Adresse auf den Tower von London lautet, wie ich Sie vorhin bemerken hörte, so dürfte die Königin die Zeitung schwerlich in die Hand bekommen«, entgegnete Martin, »denn sie residiert nicht im Tower.«

»Die Königin von England, Gentlemen«, bemerkte Mr. Tapley mit ausgesuchter Höflichkeit und zuckte dabei nicht mit einer Wimper, »wohnt für gewöhnlich im Münzamt, um auf das Geld achtzugeben. Sie hat ein Quartier von Amts wegen bei dem Lord-Mayor im Mansion House, aber sie logiert selten dort, weil im Wohnzimmer der Kamin raucht.«

»Mark«, verwies Martin, »ich muß Sie wirklich bitten, keine so verkehrten Angaben zu machen, wenn sie Ihnen auch noch so spaßhaft vorkommen mögen. Ich wollte bloß bemerken – wenn auch die Sache von sehr geringer Wichtigkeit ist –, daß die Königin von England zufällig nicht im Tower von London residiert.«

»General!« rief Mr. Lafayette Kettle. »Hören Sie?«

»General!« schrien mehrere andere. »General!«

»Ich bitte einen Augenblick um Ruhe!« rief General Choke und erhob mit faszinierender Liebenswürdigkeit die Hand. »Ich habe stets bemerkt, und es ist ein sehr seltsamer Umstand, den ich der Natur der britischen Staatseinrichtungen und ihrer Tendenz zuschreibe, allüberall die Aufklärung zu unterdrücken, und eine Tatsache, von der man selbst in den pfadlosen Wäldern dieses ungeheuern westlichen Festlandes genau weiß – nämlich, daß die Briten selbst über derlei Sachen unvergleichlich schlechter unterrichtet sind als unsere intelligenten und fortschrittsgewaltigen Bürger. Der vorliegende Fall ist äußerst interessant und bestätigt meine Beobachtung. Wenn Sie sagen, Sir«, fuhr er zu Martin gewendet fort, »daß ihre Königin nicht im Tower von London residiert, so teilen Sie einen Irrtum, der unter Ihren Landsleuten nicht ungewöhnlich ist; selbst unter solchen, deren geistige und moralische Fähigkeiten das Durchschnittsmaß übersteigen. Aber, Sir, Sie sind im Unrecht. In Wirklichkeit wohnt sie dort –«

»Wenn sie sich nämlich am Hofe von St. James aufhält«, unterbrach ihn Kettle.

»Natürlich. Wenn sie sich am Hofe von St. James aufhält«, bekräftigte der General in seiner wohlwollenden Weise, »denn, wenn sie im Windsor-Pavillon ihre ›Location‹ hat, kann sie nicht zu gleicher Zeit in London sein. – – Aber der Tower von London, Sir«, fuhr der General, durchdrungen von seiner hohen geistigen Überlegenheit fort, »ist naturgemäß ihre königliche Residenz. Da er in unmittelbarer Nähe der Parks, der Triumphbogen, des Opernhauses und der königlichen Almacks gelegen ist, so ergibt sich’s von selbst, daß er der geeignetste Ort für eine schwelgerische und gedankenlose Hofhaltung ist. Folglich«, schloß der General, »folglich wird dort Hof gehalten.«

»Sind Sie jemals in England gewesen?« fragte Martin.

»Ich kenne es nur aus Zeitschriften, Sir. Wir sind hier ein sehr belesenes Volk, Sir. Sie werden uns so unterrichtet finden, daß es Sie in Erstaunen versetzen wird.«

»Ich zweifle nicht im mindesten daran«, gab Martin doppelsinnig zu.

Er wollte noch irgend etwas hinzusetzen, aber Mr. Lafayette Kettle unterbrach ihn flüsternd:

»Sie kennen doch General Choke?«

»Nein«, versetzte Martin ebenso leise.

»Aber Sie wissen, wofür er allgemein gilt?«

»Für einen der ersten Köpfe des Landes«, sagte Martin aufs Geratewohl.

»Richtig! Das ist ein ›Fakt‹«, nickte Mr. Kettle. »Ich war von vornherein überzeugt, daß Sie von ihm gehört haben müßten.«

»Ich glaube übrigens«, wendete sich Martin wieder an den General, »in der angenehmen Lage zu sein, ein Empfehlungsschreiben an Sie zu besitzen – von Mr. Bevan aus Massachusetts«, setzte er hinzu und zog einen Brief hervor.

Der General nahm ihn entgegen, las ihn aufmerksam durch und hielt nur zuweilen inne, um sich die beiden Fremden genauer zu betrachten. Als er zu Ende gekommen war, rückte er zu Martin hinüber, setzte sich neben ihn und reichte ihm die Hand.

»So«, sagte er, »Sie gedenken also, sich in Eden niederzulassen?«

»Das hängt von Ihrer Meinung und dem Rate des Agenten ab«, versetzte Martin. »Man sagte mir, in den alten Städten sei nichts zu machen.« »Ich kann Sie bei dem Agenten einführen, Sir«, sagte der General. »Ich kenne ihn persönlich. Überdies bin ich selbst Mitglied der Landkorporation von Eden.«

Dies war für Martin eine betrübende Neuigkeit, denn Mr. Bevan hatte einen großen Nachdruck darauf gelegt, daß der General seines Wissens in keiner Beziehung zu irgendeiner Landkompagnie stehe und ihm daher wahrscheinlich einen sehr uneigennützigen Rat würde erteilen können. Wie sich jetzt herausstellte, war der General aber der Gesellschaft erst vor einigen Wochen beigetreten, und Mr. Bevan hatte inzwischen weder persönlich noch schriftlich mit ihm verkehrt.

»Wir haben nur sehr wenig zu riskieren«, beeilte sich Martin zu erklären. – »Nur einige wenige Pfunde. – Aber es ist unser ganzes Vermögen. Glauben Sie also, daß ein Mann von meinem Fach dort einigermaßen Hoffnung oder Aussicht hat?«

»Ha«, entgegnete der General ernst, »wenn keine Hoffnung oder Aussicht in der Spekulation läge, so würde ich, sollte man annehmen, meine Dollars nicht dabei angelegt haben.«

»Ich meine nicht für die Verkäufer«, betonte Martin, »ich meine für die Käufer.«

»Für die Käufer, Sir!« versetzte der General mit großem Nachdruck. »Nun ja, Sie kommen aus einem alten Lande – aus einem Lande, Sir, das die goldnen Kälber zur Höhe des Turms zu Babel aufgehäuft hat und sie seit Jahrtausenden anbetet. Wir sind ein neues Land, Sir. Der Mensch lebt hier mehr in seinem primitiven Zustande, Sir. Wir haben hier nicht die Entschuldigung, daß wir im Laufe der Zeit in Entartung versunken sind. Wir haben auch keine falschen Götter. Der Mensch, Sir, ist hier Mensch in seiner ganzen Würde. Dafür, und für sonst nichts, haben wir gefochten. Hier stehe ich, Sir«, rief der General und spannte seinen Regenschirm auf, um besser zu repräsentieren, »hier stehe ich mit grauen Haaren, Sir, von Moralgefühl durchdrungen vom Scheitel bis zur Sohle. Würde ich bei meinen Grundsätzen mein Kapital in dies Unternehmen gesteckt haben, wenn ich es nicht für hoffnungsvoll und segensreich für meinen Nächsten und Bruder hielte?« – Martin konnte nur mit großer Mühe ein überzeugtes Gesicht machen, denn er mußte fortwährend an New York denken. »Wozu wären die großen Vereinigten Staaten da, Sir«, fuhr der General fort, »wenn nicht für die Wiedergeburt des Menschen? Doch es ist ganz natürlich, daß Sie eine solche Frage stellen, denn Sie kommen aus England und kennen unser Vaterland nicht.«

»Sie glauben also«, fragte Martin weiter, »daß sich, abgesehen von den Mühseligkeiten, auf die wir natürlich gefaßt sind, ein leidlicher Platz – weiß Gott, wir machen keine großen Ansprüche – für uns dort finden läßt?«

»Ein leidlicher Platz in Eden, Sir!? Aber ich sehe schon, Sie müssen mit dem Agenten sprechen. Sehen Sie sich die Landkarten an – die Pläne, Sir, und dann mögen Sie selbst urteilen und aus der Art und Weise der Ansiedlung schließen, ob Sie gehen oder bleiben wollen. – Eden hat noch nicht nötig, Sir, betteln zu gehen«, bemerkte der General stolz.

»Es ist ein ungeheuer anmutiger Ort, gewiß, und schrecklich gesund obendrein«, mischte sich Mr. Kettle ins Gespräch.

Martin fühlte, daß es höchst ungentlemanlike und unschicklich wäre, die Wahrheit eines solchen Zeugnisses zu bestreiten, bloß weil er sich eines gewissen Argwohns nicht enthalten konnte. Er dankte daher dem General für sein Versprechen, ihn mit dem Agenten persönlich bekannt zu machen, und beschloß, diesen Beamten schon am nächsten Morgen aufzusuchen. Dann fragte er, wer die Watertoast-Sympathizers wären, von denen er vorhin gehört, und in welcher Beziehung diese Gesellschaft eigentlich ihre »Sympathie« an den Tag lege. Darauf machte der General ein sehr ernstes Gesicht und entgegnete, Martin könne sich hinsichtlich dieses Punktes vollkommen Aufklärung verschaffen, wenn er morgen einem großen Meeting der Korporation beiwohnen wolle, das in der Stadt, nach der sie führen, stattfinden werde, »und bei dem ich, Sir«, sagte er, »zu präsidieren von meinen Mitbürgern berufen worden bin.«

Spät abends langten sie an dem Ziel ihrer Reise an. Dicht am Bahnkörper stand ein ungeheures weißes Gebäude, wie ein häßliches Lazarett aussehend, mit der Aufschrift: National Hotel. An der Fassade lief eine hölzerne Galerie oder Veranda entlang, auf der man merkwürdigerweise, als der Zug anhielt, eine Menge von Stiefeln und Schuhen und den Rauch von sehr viel Zigarren, aber sonst keine Spur und kein Zeichen von der Gegenwart von Menschen gewahrte. Allmählich jedoch tauchten einige Köpfe und Schultern empor, die mit den Stiefeln und Schuhen in Verbindung standen und entdecken ließen, daß einige Hotelbewohner den Einfall gehabt hatten, ihre Fersen dorthin zu legen, wo die Gentlemen anderer Länder gewöhnlich ihre Köpfe hintun, um auf diese Weise die Abendkühle zu genießen.

Das Hotel hatte eine große Schenkstube und ein großes Gastzimmer, in dem soeben der Tisch für sämtliche Gäste zum Souper gedeckt wurde. Da gab es endlose geweißte Treppen, lange geweißte Galerien, zu ebener Erde eine Masse kleiner geweißter Schlafzimmer und eine Veranda zu jedem Stock im Hause, das im ganzen aus einem großen Ziegelbau bestand, und ferner einen unwirtlichen Hofraum in der Mitte, wo gerade Wäsche zum Trocknen aufgehängt war. Hie und da lungerten einige Gentlemen, gähnend und die Hände in den Taschen, herum. Aber wo immer, in oder außer dem Hause, ein halbes Dutzend Menschen beisammen stand, wiederholten sich hinsichtlich Aussehen, Tracht, Sitten, Manieren, Gewohnheiten und Reden die Jefferson Bricks, die Oberst Divers, die Major Pawkins‘, die General Chokes und die Herren Lafayette Kettle bis zum Überdruß. Sie benahmen sich ganz so wie diese, sprachen dasselbe, beurteilten alles nach demselben Maßstab und reduzierten alles auf denselben Wert. Da Martin jetzt vollauf Gelegenheit hatte zu beobachten, wie sie lebten und wie entzückt sie stets voneinander waren, begann schließlich sogar auch er zu begreifen, daß sie wirklich die geselligen, gemütlichen und gewinnenden Leute sein müßten, als die man sie zu schildern pflegte.

Bei dem wüsten Klange eines mißtönenden Gongs strömte die liebenswürdige Gesellschaft aus allen Teilen des Hauses nach dem Speisesaal, und auch aus den benachbarten Magazinen kamen Gäste in Haufen hervor, denn die halbe Stadt, sowohl die verheiratete wie auch die unverheiratete, wohnte im National Hotel. Tee, Kaffee, getrocknetes Fleisch, Zunge, Schinken, Mixed Pickles, Kuchen, geröstete Brotscheiben, Eingemachtes und Brot mit Butter wurden mit rasender Hast verschlungen, und dann gingen die Gäste, wie gewöhnlich, paarweise ab oder schlenderten zum Schreibpult im Kontor oder nach der Schenkstube. Die Damen hatten eine eigene kleinere Table d’hôte, zu der ihre Gatten und Brüder, wenn sie gerade wollten, zugelassen wurden; sonst aber unterhielten sie sich genau wie bei Pawkins‘.

»Nun, Mark, mein guter Junge«, sagte Martin, als er die Türe seines kleinen Zimmers zumachte, »wir müssen uns jetzt ernstlich beraten. Morgen früh soll sich unser Schicksal entscheiden. Sind Sie also entschlossen, Ihre Ersparnisse bei dem gemeinsamen Ankaufe anzulegen?«

»Wenn ich nicht willens wäre, ein solches Wagnis zu unternehmen, Sir«, antwortete Mr. Tapley, »so wäre ich nicht mitgekommen.«

»Wieviel sagten Sie, daß Sie besäßen?« fragte Martin und wog einen kleinen Beutel in der Hand.

»Siebenunddreißig Pfund, zehn Schillinge und sechs Pence. Wenigstens sagte man mir das auf der Sparbank – ich habe es natürlich nie nachgezählt. Die dort müssen’s doch am besten wissen« sagte Mark kopfschüttelnd und legte damit seine unbegrenzte Zuversicht zu der Weisheit und Rechenkunst derartiger Einrichtungen an den Tag.

»Das Geld, das wir mitgebracht haben«, erklärte Martin, »ist auf einige Schillinge weniger als acht Pfund zusammengeschmolzen.«

Mr. Tapley lächelte und blickte nach allen möglichen Richtungen, damit Martin nicht glauben möge, er lege diesem Umstand irgendwelchen Wert bei.

»Auf den Ring – ihren Ring –«, fuhr Mr. Chuzzlewit fort und warf einen kläglichen Blick auf seine eigenen ungeschmückten Finger.

»Ach«, seufzte Mr. Tapley. – »Sie entschuldigen schon, Sir, daß ich seufze.« »– borgten wir uns in englischem Gelde vierzehn Pfund aus. Sie ersehen daraus, daß Ihr Anteil noch bei weitem der größere ist. Nun, Mark«, setzte Martin in seiner alten leichtfertigen Weise hinzu, etwa so wie er mit Tom Pinch gesprochen haben würde, »ich habe über Mittel nachgedacht, wie wir dies ausgleichen – hoffentlich sogar mehr als ausgleichen – und Ihre Aussichten im Leben wesentlich heben könnten.«

»Ich bitte, sprechen Sie nicht davon«, rief Mark, »Sie wissen doch, es ist mir um eine solche Hebung nicht zu tun. Ich bin mit allem zufrieden.«

»Nein, nein, hören Sie mich bis zu Ende«, sagte Martin, »denn es ist für Sie sehr wichtig und für mich eine große Beruhigung. Also, Mark, Sie sollen mein Associé im Geschäft sein, und zwar mit mir zu gleichen Teilen. Als weiteres Kapital werfe ich meine Fähigkeiten und technischen Kenntnisse in die Waagschale. Solange es dann geht, soll die Hälfte des ehrlichen Gewinns Ihnen gehören.« Der arme Martin, der wie immer Luftschlösser baute und sogar in seiner Selbstsucht alles vergaß, bloß seine Hoffnungen und sanguinischen Pläne nicht, schwelgte einen Augenblick in dem hohen Bewußtsein, durch seinen Schutz Mark aufs großartigste belohnt zu haben.

»Ich weiß nicht, Sir«, versetzte Mark mit trüberer Miene, als sonst seine Gewohnheit war – wenn auch nicht aus dem Grunde, wie Martin vermutete – »was ich darauf sagen soll, um Ihnen meinen Dank auszudrücken. Ich kann Ihnen eben nur nach besten Kräften dienen, Sir. Das ist alles.«

»Wir verstehen uns vollkommen, guter Freund«, sagte Martin mit immer wachsender Selbstzufriedenheit und Herablassung. »Wir sind jetzt nicht mehr länger Herr und Diener, sondern Freunde und Associés, und das muß uns beiden nur zustatten kommen. Entscheiden wir uns für Eden, so soll das Geschäft sofort gegründet werden, sobald wir dort ankommen. Und zwar unter der Firma: Chuzzlewit & Tapley.«

»Nein, nein«, rief Mark, »ich verstehe mich nicht auf solche Sachen, Sir, und deshalb muß ich ›Co‹ bleiben. Ich habe mir oft gewünscht«, setzte er mit leiser Stimme hinzu, »gern einmal einen Kompagnon kennenzulernen, habe mir aber nie träumen lassen, daß ich es erleben sollte, jemals selbst einer zu sein.«

»Ganz, wie Sie wollen, Mark.«

»Ich danke Ihnen, Sir. Ja, wenn dortherum irgendein Herr vom Lande oder vom Wirtshausfach oder so etwas Ähnlichem eine Kegelbahn würde errichten wollen, diesen Teil des Geschäftes könnte ich allenfalls übernehmen.«

»Und darin jeden Architekten in den Vereinigten Staaten ausstechen«, lachte Martin. »Holen Sie ein paar Gläser Sherry-Cobbler, damit wir auf das Gedeihen der Firma trinken können.«

Offenbar hatte er, wie es auch später noch oft geschah, bereits vergessen, daß nicht länger das Verhältnis zwischen Herr und Diener bestand, oder er betrachtete diese Art von Obliegenheiten als eine dem Kompagnon zukommende Funktion. Mark gehorchte jedoch mit seiner gewohnten Bereitwilligkeit, und noch ehe sie zu Bette gingen, wurde zwischen ihnen beschlossen, daß sie am nächsten Morgen zusammen zum Agenten gehen wollten. Natürlich sollte es dabei dem Urteile Martins überlassen bleiben, über die Frage hinsichtlich des Ankaufs von Land in Eden zu entscheiden, und Mark rechnete sich dieses Zugeständnis nicht einmal in seiner Heiterkeit als Verdienst an, da er wohl wußte, es müsse am Ende doch so oder so darauf hinauslaufen.

Am nächsten Morgen erschien der General gleichfalls unter der Gesellschaft im Speisesaal und machte gleich nach dem Frühstück den Vorschlag, unverzüglich den Agenten aufzusuchen. Da dies auch der sehnlichste Wunsch der beiden jungen Leute war, machten sie sich alle drei sofort auf den Weg zu dem Bureau, das nur einen Büchsenschuß vom National-Hotel entfernt lag.

Es war eine kleine Wohnung und sah ungefähr wie ein Zollwächterhäuschen aus. Aber schließlich: wieviel geht nicht oft in einen Würfelbecher. Warum sollte man nicht auch über ein ganzes Gebiet in einem Schuppen handelseinig werden können?! Überdies war es ja auch nur ein Interimsbureau, da das Unternehmen für seinen Geschäftsbetrieb ein prächtiges Etablissement plante, für das bereits der Grund abgesteckt war; was in Amerika bekanntlich schon viel heißen will. Die Türe des Kontors stand weit offen, und der Agent saß in einem Schaukelstuhl auf der Schwelle. Er mußte ein ungeheuer tüchtiger Geschäftsmann sein und mit Rapidität zu arbeiten verstehen, denn ersichtlich hatte er momentan nichts weiter zu tun, als sich behaglich hin und her zu schaukeln, das eine Bein an den Türpfosten gestemmt und auf dem andern sitzend, als ob er seine eigene Fußsohle ausbrüten wolle. Er war ein hagerer Mann mit einem ungeheuern Strohhut auf dem Kopf und in einen Rock aus grünem Stoff gekleidet. Wegen des heißen Wetters war er mit keiner Halsbinde geschmückt, und sein Hemd stand am Kragen weit offen, so daß man, wenn er sprach, immerwährend auf seiner Brust die Pulse zucken sah, wie die kleinen Hämmer in einem Piano, wenn die Noten angeschlagen werden. Vielleicht war es eine schwache Bemühung der Wahrheit, sich ihren Weg zu seinen Lippen zu bahnen. In diesem Falle erreichte sie leider freilich nie ihren Zweck.

Zwei graue Augen lauerten tief in dem Kopfe des Agenten, aber eines davon hatte die Sehkraft verloren und verhielt sich völlig teilnahmslos. Das verstärkte noch den Eindruck, als ob die eine Hälfte seines Gesichts auf das horchte, was die andere tat, und wenn die bewegliche Seite seines Gesichts in höchster Tätigkeit war, so blieb die starre im kältesten Zustand der Wachsamkeit. Es war, als hätte man das Inwendige des Menschen nach außen gekehrt, wenn man von diesem Standpunkte aus seine Physiognomie in ihrer lebhaftesten Erregung betrachtete.

Seine langen schwarzen Haare hingen in Strähnen gerade und straff herunter wie Peitschenschnüre, seine Brauen waren borstig und gesträubt, und die tiefen Krähenfüße um seine Augenwinkel gaben ihm ein gewisses raubvogelartiges Aussehen.

Das war der Mann, dem sie sich jetzt näherten und den der General mit dem Namen Mr. Scadder anredete.

»Schon recht, General«, brummte der Agent, »wie geht’s Ihnen?«

»Immer tätig und munter, Sir, im Dienste meines Vaterlandes und der guten Sache. – Zwei Gentlemen in Geschäften, Mr. Scadder.«

Der Agent schüttelte Martin und Mark die Hand, denn ohne das geht es bekanntlich nicht in Amerika, und fuhr dann fort, sich zu schaukeln.

»Nicht schwer zu erraten, in was für Geschäften Sie mir die Fremden herbringen, General.« »Ja, ja, Sir, das kann ich mir denken.«

»Sie sind ein Schwätzer, General. Sie reden zu viel, das ist ein ›Fakt‹,« sagte Scadder. »Sie sprechen erschrecklich gut in der Öffentlichkeit, aber in Privatsachen sollten Sie nicht immer gleich ein Renntempo vorlegen. – Nun?«

»Es handelt sich um –« fing der General an.

»Sie wissen doch, wir geben unsere Grundstücke nicht jedem Landstreicher, der darauf ein Angebot macht«, unterbrach Mr. Scadder abermals, »sondern geben sie nur an feine Leute ab. – Was?«

»Da wären die Herren hier die richtigen«, rief der General mit Wärme.

»Wenn’s so steht«, entgegnete der Agent in vorwurfsvollem Ton, »wozu da weiter reden, schade um die vielen Worte, General.«

General Choke flüsterte Martin zu, Mr. Scadder sei der biederste Mensch von der Welt. Nicht um zehntausend Dollars würde er ihn mit Absicht beleidigen wollen.

»Ich tue meine Pflicht und achte die Fürsprache meiner Mitmenschen, weil ich ihnen gerne eine Gefälligkeit tue«, fing Scadder wieder mit gedämpfter Stimme an, sah die Straße hinunter und schaukelte sich in seinem Lehnstuhl. »Aber man wirtschaftet übel, wenn man gegen meine Vorschläge, nicht so wohlfeil loszuschlagen, Einsprache erhebt. Doch das ist nun einmal Menschennatur. Sei es drum.«

»Mr. Scadder!« rief der General und warf sich in die Brust. »Sir, hier meine Hand und damit mein Herz. Ich achte Sie, Sir. Ich bitte um Entschuldigung, diese Gentlemen sind nun aber Freunde von mir, sonst würde ich sie nicht hergebracht haben. Ich weiß wohl, Sir, daß die Liegenschaften augenblicklich viel zu billig losgeschlagen werden, aber es sind Freunde, Sir – und zwar sehr gute Freunde von mir.«

Mr. Scadder war mit dieser Erklärung so zufrieden, daß er dem General mit Wärme die Hand drückte und sich zu diesem Zweck ein wenig aus seinem Schaukelstuhl erhob. Dann lud er den General samt dessen »besonders guten Freunden« ein, ihn in das Innere seines Bureaus zu begleiten. Der General bemerkte jedoch in seiner gewohnten wohlwollenden Weise, daß er als Teilhaber der Gesellschaft sich um keinen Preis in die Unterhandlung mischen dürfe, bemächtigte sich daher des Schaukelstuhls und sah hinaus auf die Straße wie ein wohltätiger Samariter, der auf einen Wanderer wartet, um ihn zu »ölen«.

»Hallo!« rief Martin erstaunt, als sein Blick auf einen großen Plan fiel, der die ganze Längswand des Zimmers bedeckte. – Sonst war nicht viel in dem Bureau zu sehen, höchstens noch einige geognostische und botanische Proben, ein oder zwei abgegriffene Kontorbücher, ein großes Schreibpult und ein Sessel. – »Hallo! Was ist denn das?«

»Das ist Eden«, erklärte Scadder und stocherte sich die Zähne mit einem kleinen Bajonett, das bei der Berührung einer Feder seines Messers hervorsprang.

»Ich hatte ja gar keine Ahnung davon, daß es eine Stadt sei.«

»Natürlich ist es eine Stadt.«

Ja, sogar eine blühende Stadt schien es zu sein, eine Stadt mit reichster Architektur. Da gab es Banken, Kirchen, Dome, Marktplätze, Fabriken, Hotels, Magazine, Rathäuser, Kais, eine Börse, ein Theater, kurz öffentliche Gebäude jeder Art bis auf die Expedition einer Tageszeitung herab. Alles getreulich abgebildet.

»Himmel, das ist ja ein höchst bedeutender Ort!« rief Martin und drehte sich erstaunt um.

»Ja, ja, höchst bedeutend«, bemerkte der Agent.

»Aber ich fürchte«, meinte Martin und warf wieder einen Blick auf die öffentlichen Gebäude, »daß mir hier nicht mehr viel zu tun übrig bleibt.«

»Na, es ist ja schließlich noch nicht alles ausgebaut«, brummte der Agent.

Das war ein großer Trost.

»Zum Beispiel der Marktplatz?« fragte Martin, »ist der schon ausgebaut?«

»Der?« wiederholte der Agent und steckte seinen Zahnstocher in ein anderes Spielzeug, das einen Wetterhahn auf einem Dachgiebel darstellte. »Lassen Sie mal sehen. – Nein, der ist nicht ausgebaut.«

»Das wäre ein gutes Geschäft für den Anfang, was, Mark?« flüsterte Martin seinem Begleiter ins Ohr und stieß ihn mit dem Ellbogen an.

Mark, der mit sehr dummem Gesicht abwechselnd den Plan und den Agenten betrachtet hatte, antwortete bloß: »Ungemein.«

Eine Totenstille folgte.

Mr. Scadder pfiff während der kurzen Ruhepausen seines Zahnstochers ein paar Strophen des Yankee Doodle und blies den Staub von dem »Dache des Theaters« ab.

»Ich nehme an«, sagte Martin und tat so, als denke er tief nach, verriet jedoch durch das Beben seiner Stimme, wieviel für ihn von der Antwort abhing, »ich nehme an, es sind wahrscheinlich viele Baumeister dort?«

»Nicht ein einziger«, versicherte Scadder.

»Mark«, flüsterte Martin und zupfte seinen Associé am Ärmel, »hören Sie? – Aber wessen Werk ist denn das alles, was wir hier vor uns sehen?« fragte er laut.

»Da der Boden so fruchtbar ist, so schießen die öffentlichen Gebäude vielleicht von selbst auf«, sagte Mark.

Er stand auf der »dunklen« Seite des Agenten, als er die Worte sprach, aber Mr. Scadder wechselte augenblicklich seinen Platz und wandte ihm seine belebte Profilseite zu.

»Befühlen Sie meine Hände, junger Mann«, sagte er.

»Wozu?« fragte Mark ablehnend.

»Sind sie schmutzig oder sind sie rein?« fragte Scadder und streckte die Finger aus.

Vom physischen Gesichtspunkte aus waren sie entschieden schmutzig, es fiel jedoch in die Augen, daß Mr. Scadder seine Worte in figürlichem Sinne meinte, quasi als Sinnbild seines moralischen Charakters, und Martin beeilte sich natürlich zu erklären, daß sie rein seien wie frisch gefallener Schnee.

»Mark«, sagte er dann etwas gereizt, »ich muß Sie bitten, Bemerkungen dieser Art, wenn sie auch an sich noch so harmlos und wohlgemeint sind, ein für allemal zu lassen. Sie sind hier nicht am Platz und können einem Fremden nicht angenehm sein. Ich muß sagen, mich überrascht Ihr Benehmen.«

»Aha, die Kompagnie wird schon lästig«, dachte Mark. »Aha, drum sagt man: Stiller Kompagnon!« Mr. Scadder schwieg, wandte dem Plan den Rücken und stieß seinen Zahnstocher einige dutzendmal wütend in sein Schreibpult, dabei Mark immer ansehend, als erstäche er ihn in effigie.

»Sie haben mir noch immer nicht geantwortet, wer diese Häuser eigentlich gebaut hat«, wagte Martin endlich mit sanftem versöhnlichem Tone zu fragen.

»Na, es kann Ihnen ja gleich sein, wessen Arbeit es ist. Oder nicht?« sagte der Agent mürrisch. »Möchte wissen, was Sie das kümmern sollte. Vielleicht hat sich der frühere Architekt auf und davon gemacht mit einem hübschen Häufchen Dollars in der Tasche. Vielleicht war’s auch ein Vagabund, ein Galgenstrick, vielleicht auch ein Tausendsappermentskerl – was weiß ich!«

»Daran sind Sie schuld, Mark«, flüsterte Martin vorwurfsvoll.

»Vielleicht«, fuhr der Agent fort, »sind das da keine Pflanzen, die in Eden gewachsen sind. Und vielleicht sind das Schreibpult und der Stuhl hier auch nicht aus Edener Bauholz. Vielleicht ist überhaupt gar keine Ansiedlung dort. Vielleicht ist es überhaupt gar kein Regierungsland oder es gibt gar keinen solchen Ort auf dem Gebiet der großen Vereinigten Staaten!«

»Na, hoffentlich sind Sie jetzt zufrieden mit den Wirkungen Ihrer Späße, Mark!« zürnte Martin

Zum Glück legte sich jetzt der General im richtigen Augenblick ins Mittel und rief von der Türe aus Scadder zu, er möge doch seinen Freunden etwas Näheres mitteilen über die Einzelheiten des gewissen kleinen, samt Haus nur fünfzig Acres betragenden Gutes, das vordem der Kompagnie gehört habe und ihr erst seit kurzem wieder zugefallen sei.

»Sie sind ein bißchen zu freigebig, General«, war die Antwort, »das Grundstück müßte jetzt viel teurer verkauft werden. – Jawohl!«

Trotzdem öffnete Mr. Scadder, wenn auch brummend, ein Buch, wandte aber diesmal stets seine belebte Gesichtsseite Mark zu, so unbequem es auch für ihn war, und legte dann Martin ein Blatt vor, worauf dieser, nachdem er es gierig betrachtet, schnell fragte:

»Wo auf dem Plane mag dieser Platz liegen?« »Auf dem Plane?«

»Ja.«

Der Agent trat vor die Landkarte an der Wand, dachte eine Weile lang nach, als ob er immer noch ärgerlich sei und entschlossen, bis aufs i-Tüpfelchen korrekt zu verfahren. Endlich, nachdem er seinen Zahnstocher mehreremal langsam in der Luft im Kreise herumgeschwenkt hatte, schoß er plötzlich damit wie eine eben losgelassene Brieftaube auf die Zeichnung los und stieß in den Mittelpunkt des großen Kais.

»Da«, sagte er und ließ das zitternde Messer in der Wand stecken, »da ist’s.«

Martin sah mit funkelnden Augen seinen Kompagnon an, und dieser begriff sofort, daß die Sache so gut wie abgemacht sei.

Trotzdem war der Handel nicht so leicht geschlossen, wie man hätte denken sollen, denn Mr. Scadder war kaustisch und übelgelaunt und machte alle möglichen Schwierigkeiten. Einmal ersuchte er die Herren, sich die Sache genau zu überlegen und nach einer Woche oder vierzehn Tagen wieder vorzusprechen; ein anderes Mal sagte er Martin voraus, es werde ihnen nicht gefallen – dann wieder wollte er überhaupt sein Anerbieten zurücknehmen und sich nicht mehr weiter in Verhandlungen einlassen; dabei verwünschte er murmelnd den törichten General mit den kräftigsten Ausdrücken. Schließlich wurde aber doch die erstaunlich kleine Kaufsumme – sie betrug nur hundertfünfzig Dollars oder etwas über dreißig Pfund von dem Kapitale, das die »Kompanie« in das Geschäft eingezahlt hatte – auf den Tisch gelegt, und Martin trug im Bewußtsein, ein Gutsbesitzer in der blühenden Stadt Eden geworden zu sein, sofort seinen Kopf so hoch, daß er fast damit an die Stubendecke des kleinen hölzernen Bureaus stieß.

»Wenn es Ihnen vielleicht nicht gefallen sollte«, sagte Mr. Scadder, als er Martin die Quittung für das erhaltene Geld einhändigte, »so dürfen Sie mir natürlich keinen Vorwurf machen.«

»Nein, nein, gewiß nicht«, versicherte Martin fröhlich. »Wir werden Ihnen gewiß keinen Vorwurf machen! – General, wollen wir jetzt gehen?«

Ich stehe zu Diensten, Sir. Ich wünsche Ihnen«, sagte der General und reichte Martin ernst und voller Herzlichkeit die Hand, »viel Freude an Ihrer Besitzung. Sie sind jetzt ein Bürger, Sir, des mächtigsten, zivilisiertesten Landes, das jemals die Sonne beschienen hat. Eines Staates, Sir, in dem das Band der Liebe und Treue den Menschen mit dem Menschen verknüpft. Mögen Sie sich Ihres Adoptiv-Vaterlandes würdig erweisen.«

Martin dankte ihm und verabschiedete sich von Mr. Scadder, der unmittelbar nach dem Aufstehen des Generals seinen Posten im Schaukelstuhl wieder eingenommen hatte und sich hin und her schaukelte, als ob er nie in seiner Ruhe gestört worden wäre. Mark blickte auf dem Wege nach dem National Hotel einige Male zurück, aber jetzt war ihm die Nachtseite des Agenten zugekehrt, auf der nichts als Aufmerksamkeit und Gedankenfülle zu lesen war. Wie sonderbar sich dieses Profil doch von dem andern unterschied! Mr. Scadder war kein Mann, der oft oder viel zu lachen pflegte, aber jetzt verzog sich jeder Zug in der Schrift der Krähenfüße um seine Augen und jede dünne kleine Ader, die sich über diese Hälfte seines Gesichtes schlängelte, zu einem seltsamen Grinsen. Das Bild »des Todes und der Dame« in der alten Ballade hatte keine so scharfen und so gräßlichen Gegensätze wie die beiden Gesichtshälften Mr. Zephania Scadders.

Der General eilte in Sturmschritt vorwärts, denn die Glocke schlug gerade zwölf, und genau um diese Stunde sollte das Meeting der Watertoast-Sympathizers in dem Speisesaal des National Hotels abgehalten werden. Da Martin ebenfalls dabei zu sein wünschte, um zu erfahren, was es damit für eine Bewandtnis habe, hielt er gleichen Schritt mit ihm und schloß sich – besonders beim Eintritt in die Halle – eng an ihn an. Dadurch gelangte er auf eine kleine Estrade von Tischen am obern Ende, wo ein Lehnstuhl für den General bereitstand und Mr. Lafayette Kettle als Sekretär mit wichtiger Miene einige Dokumente, offenbar Anträge oder Bittschreiben, entfaltete.

»Nun, Sir«, sagte Mr. Kettle und drückte Martin die Hand, »sie werden jetzt ein Schauspiel zu sehen bekommen, daß der britische Löwe den Schwanz zwischen die Beine nehmen und vor Angst laut aufheulen wird, denke ich.«

Martin hielt es allerdings für möglich, daß der britische Leu in dieser Arche Noah nicht recht in seinem Element wäre, aber er behielt seine Gedanken für sich. Sodann wurde der General auf Antrag eines bleichen Jünglings à la Jefferson Brick zum Präsidenten ernannt, und eine stark akzentuierte Rede, in der viel von Herz, von Heimat und Brechen von Tyrannenketten die Rede war, eröffnete die Sitzung.

Zweifellos hätte jetzt der britische Löwe seinen Schweif zwischen die Beine geklemmt, denn die Entrüstung des fanatischen jungen Columbiers kannte keine Grenzen. Wäre er nur einer seiner Vorfahren gewesen, sagte er, wie hätte er diesen Löwen gefesselt und ihm wie ein Tierbändiger mit der Drahtpeitsche Lehren eingebleut, die er nicht so leicht wieder vergessen haben würde. »Der Löwe!« schrie der junge Columbier, »wo ist er? Wer ist er? Was ist er? Man zeige mir ihn! Er soll herkommen! Hierher!« – der junge Columbier nahm eine Boxerstellung an – »hierher, auf diesen heiligen Altar«, fuhr er fort, den Speisetisch anredend, »der über der Asche unserer Vorfahren zusammengekittet ist mit dem glorreichen Blut, das wie Wasser vergossen worden auf den heiligen Ebenen von Chickabiddy Lik. Man bringe ihn hierher, den Löwen«, rief er, »ich trotze ihm – ich, ein einzelner Mann –, ich verhöhne diesen Löwen. Ich sage diesem Löwen, wenn sich einmal die Hand der Freiheit in seine Mähne klammert, so rollt er auf den Boden und liegt da wie eine Leiche, und der Adler der großen Republik lacht: ha, ha, ha!«

Wie zu erwarten, kam der Löwe nicht, sondern blieb hübsch weg. Der junge Columbier stand daher, die Arme verschränkt, einsam in seiner Glorie da, und mutmaßlicherweise lachten auch die Adler wild auf ihren Bergesspitzen. Aber dann brach ein solcher Jubelruf los, daß es hätte die Zeiger auf der Uhr der Horse-Guard-Kaserne erschüttern und den Hauptzeitmesser von Englands Metropole zu irrigen Angaben verleiten können.

»Wer ist das?« fragte Martin Mr. Lafayette Kettle durch Zeichen und Gebärden.

Der Sekretär nahm ein Stück Papier, schrieb mit ernstem Gesicht etwas darauf, wickelte es zusammen und ließ es ihm von Hand zu Hand zugehen. Es war wieder eine Variation des alten Themas: »Einer der hervorragendsten Köpfe unseres Landes.« Dem jungen Columbier folgte ein anderer Herr, der ebenso beredt war und durch seinen Schwung ganze Stürme von Beifall entfesselte. Da echte Poesie bekanntlich nie bei Details verweilen kann, vergaßen auch die beiden merkwürdigen Jünglinge in ihrer großen Erregung zu sagen, mit wem oder für was die Watertoasters sympathisierten, und Martin blieb daher geraume Zeit so völlig im dunkeln wie bisher, bis ihm endlich ein Licht aufging, als der Schriftführer des Klubs sein Buch aufschlug und die Einzelheiten der letzten Sitzungen verlas. Er erfuhr jetzt, daß die Watertoastassociation mit einem gewissen Volksführer Irlands sympathisierte, der hinsichtlich gewisser politischer Rechte mit England im Kampfe lag. Doch geschah das keineswegs deshalb, weil man Irland besonders geliebt hätte, sondern bloß aus Haß gegen England. Überhaupt waren die Leute schrecklich eifersüchtig und mißtrauisch gegen die Engländer und duldeten sie nur deshalb, weil sie schwer arbeiteten und sich dadurch nützlich erwiesen. Das machte Martin natürlich sehr neugierig zu erfahren, welche Gründe die Watertoastassociation für ihre Sympathien vorzubringen habe. Er blieb nicht lange in Ungewißheit, denn gleich darauf erhob sich der General, um einen Brief an den Volksführer vorzulesen, den er eigenhändig geschrieben hatte.

»Meine Freunde und Mitbürger!« hub er an, »der Brief lautet folgendermaßen:

Sir, Ich wende mich an Sie im Namen der Watertoastassociation und der vereinigten Sympathizers. Der Klub, Sir, wurde in der großen Republik Amerika gegründet und hält jetzt den Atem an, daß ihm fast die Adern an der Stirne springen, denn wir verfolgen mit fieberhafter Spannung und begeisterter Sympathie Ihre edeln Bemühungen für die Sache der Freiheit.«

Bei dem Worte »Freiheit« und bei jeder Wiederholung desselben brachen sämtliche »Sympathizers« in ein lautes Gebrüll aus und brachten neunmal neun und noch einmal neun Jubelrufe aus.

»Im Namen der Freiheit, Sir – im Namen der heiligen Freiheit – ergeht diese Adresse an Sie. Im Namen der Freiheit übersende ich Ihnen hiermit einen Beitrag zu Ihren Parteifonds. Im Namen der Freiheit, Sir, blicke ich mit Unwillen und Abscheu auf das verfluchte Tier mit der blutbefleckten Schnauze, dessen Bestialität und unersättliche Gier von jeher für die Welt eine Geißel und Folter bedeutete. Die nackten Wilden auf Robinson Crusoes Insel, Sir, die verfolgten Weiber des Peter Wilkins, die beerenbeschmierten Kinder des wilden Busches, ja sogar der hochgewachsene Menschenschlag, der von alters her die Minendistrikte von Cornwallis bewohnt, sie alle können gleiches Zeugnis ablegen von seiner Barbarennatur. Wo, Sir, sind die Cormorans, die Blunderbores, die großen Feesofums – die Häuptlinge Irlands und Schottlands–, deren Name die Geschichte mit Begeisterung nennt? Alle, alle sind sie ausgetilgt durch seine alles verheerenden Krallen. – Ich meine damit den britischen Löwen. –

Ergeben, Sir, mit Leib und Seele, Herz und Geist der Freiheit – der Freiheit, dem höchsten Gut selbst der Schnecke an der Kellertüre, der Auster in ihrem Perlenbett, der stillen Milbe in ihrem heimatlichen Käse, ja selbst der Miesmuschel Ihres Vaterlandes in ihrer Schale – im fleckenlosen Namen der Freiheit entbieten wir Ihnen unsere Sympathien. Jawohl, Sir, in unserm geliebten glücklichen Vaterlande brennt ihr Feuer rein und klar und ohne Rauch. Ist es einmal in dem Ihrigen entbrannt, so wird man den Löwen braten mit Haut und Haar.

Ich verbleibe, Sir, im Namen der Freiheit Ihr Ihnen herzlich ergebener Freund und getreuer Sympathizer

Cyrus Choke General U. S. A.«

Gerade, als der General diesen Brief zu lesen begonnen, war der Eisenbahnzug angekommen und mit ihm die neueste englische Post, die dem Sekretär in Form eines Paketes sogleich überreicht wurde. Der Inhalt mußte höchst betrübender Natur sein, denn kaum hatte sich der Redner wieder niedergesetzt, als der Sekretär zu ihm eilte und ihm einen Brief nebst mehreren gedruckten Auszügen aus Zeitungen einhändigte, wobei er ihn auf deren Inhalt mit außerordentlicher Erregung aufmerksam machte. Der General, an und für sich schon ziemlich apoplektisch, war in diesem Augenblick infolge seiner Rede außerordentlich erhitzt und aufgeregt, aber kaum hatte er die Papiere überflogen, als seine Mienen den Ausdruck von so unerhörter Wut und Leidenschaft annahmen, daß das Gelärme um ihn herum im Nu verstummte und alle ihn erwartungsvoll ansahen.

»Meine Freunde«, rief der General und stand auf. »Meine Freunde und Mitbürger! Wir haben uns in diesem Manne entsetzlich geirrt.«

»In welchem Manne?« rief alles wild durcheinander.

»In diesem«, schnaubte der General und hielt den Brief in die Höhe, den er soeben gelesen hatte. »Wie ich jetzt erfahre, war er – und ist es noch immer – ein beharrlicher Verfechter der Negeremanzipation!«

Wenn irgend etwas unter der Sonne außer Zweifel steht, so ist es das, daß die versammelten Söhne der Freiheit den so denunzierten Mann rücksichtslos und mit feigen Händen erschossen, erdolcht oder in irgendeiner Weise aus dem Weg geräumt hätten, wenn er damals zugegen gewesen wäre. Auch der verwegenste Amerikaner würde keinen Düngerhaufen für sein Leben gegeben oder darauf gewettet haben. Man zerriß den Brief, warf die Fetzen in die Luft, trat sie mit Füßen und bellte, grunzte und zischte, bis man fast heiser war.

»Ich stelle den Antrag«, rief der General, als er sich endlich Gehör verschaffen konnte, »daß die Watertoastassociation der vereinigten Sympathizers auf der Stelle aufgelöst werde!«

»Fort mit ihr! Weg mit ihr! Wir wollen nichts mehr davon hören. Man verbrenne die Papiere! Reißet das Zimmer nieder! Tilgt es aus dem Gedächtnis der Menschheit aus!« gellte es wild durcheinander.

»Aber meine Freunde und Mitbürger«, rief der General.

»Die Beiträge! Wir haben doch Gelder! Was soll mit den Fonds geschehen?«

In aller Eile wurde beschlossen, einem gewissen allgemein geschätzten Richter, der noch vor kurzem öffentlich den edlen Grundsatz aufgestellt hatte, es sei einem weißen Pöbelhaufen erlaubt, einen schwarzen Mann zu ermorden, einen silbernen Becher als Ehrengeschenk zu stiften. Ein ähnliches von gleichem Wert sollte ein anderer Patriot erhalten, der – ebenfalls öffentlich – erklärt hatte, er und seine Freunde würden ausnahmslos und ohne Urteil jeden Abolitionisten hängen, der sich auf ihrem Grund und Boden blicken lasse, und der Rest der Gelder sollte dazu dienen, die Freiheit und Gleichheit aller derjenigen Gesetze bekräftigen zu helfen, die ein unendlich größeres und gefährlicheres Verbrechen darin fänden, einen Neger lesen und schreiben zu lehren, als ihn auf öffentlichem Marktplatze lebendig zu verbrennen. Als man sich hinsichtlich dieser Beschlüsse einig war, brach das Meeting in großer Unordnung auf; die »Watertoastsympathie« hatte ihr Ende erreicht.

Als Martin nach seiner Schlafkammer hinaufging, fiel sein Auge auf das republikanische Banner, das zu Ehren des feierlichen Anlasses auf dem Dache gehißt worden war und jetzt vor einem Fenster, an dem er vorbeiging, lustig im Winde flatterte.

»Wahrhaftig«, sagte er sich, »von weitem gesehen bist du eine ganz hübsche Fahne, kommt man dir aber zu nahe und sieht auch deine andere Seite und lernt dich ganz kennen, so bist du nur ein ganz elender Zwillichfetzen.«