20. Kapitel

Die Liebe

»Pecksniff«, sagte Jonas, nahm seinen Hut ab, um nachzusehen, ob sein Trauerflor in Ordnung sei, und setzte ihn, nachdem er sich davon überzeugt, wieder befriedigt auf: »Wieviel gedenken Sie Ihren Töchtern mitzugeben, wenn sie heiraten?«

»Mein lieber Mr. Jonas«, rief der treffliche Vater mit sinnigem Lächeln, »welch sonderbare Frage!«

»Ob jetzt sonderbar oder nicht«, brummte Jonas und warf Mr. Pecksniff einen nicht besonders gnädigen Blick zu, »entweder antworten Sie mir, oder Sie antworten mir nicht; ganz wie Sie wollen.«

»Hm, so was läßt sich nicht so leicht abtun, mein lieber Freund«, entgegnete Pecksniff und legte seine Hand zärtlich auf das Knie seines Verwandten, »das kommt doch ganz auf die Umstände an. Was sollte ich ihnen geben, wie?«

»Was Sie ihnen geben sollten?« fragte Jonas.

»Es hängt das«, erklärte Mr. Pecksniff, »natürlich zum größten Teil von der Art der Männer ab, die sie sich wählen, mein lieber junger Freund.«

Mr. Jonas war augenscheinlich sehr verblüfft und wußte nicht recht, wie fortfahren. Es war eine gute Antwort gewesen und auch eine schlaue, wie es schien, aber Schlichtheit ist eben Weisheit.

»Ich mache punkto Schwiegersohn große Ansprüche«, begann Mr. Pecksniff wieder nach kurzer Pause. »Verzeihen Sie, mein lieber Mr. Jonas«, fügte er bewegt hinzu, »wenn ich sage, daß Sie mich verwöhnt, nein, geradezu wählerisch gemacht haben, und daß daher das Bild, das ich mir von einem Schwiegersohn entworfen habe, ein kapriziöses, phantastisches, ein, wenn ich es so nennen darf, prismatisch gefärbtes sein muß.« »Was soll das heißen?« brummte Jonas mit einem mißtrauischen Blick.

»Sie haben gewiß ein Recht, mein lieber Freund«, flötete Mr. Pecksniff, »mich danach zu fragen. Das Herz ist nicht immer ein königliches Münzamt mit Patentprägemaschinen, daß es sein Metall gleich in Kurant umsetzen könnte. Zuweilen wirft es seine Schätze in gar seltsamen Formen aus, die vielleicht nicht so leicht als Münze erkannt werden, aber echtes Gold sind sie doch. Sie, nämlich meine Töchter, sie haben unzweifelhaft dieses Verdienst und sind echtes, gediegenes Gold.«

»Wirklich?« murmelte Jonas mit bedenklichem Kopfschütteln.

»Ja«, bestätigte Mr. Pecksniff und wurde sichtlich wärmer, »es ist so. Und um offen gegen Sie zu sein, Mr. Jonas, wenn ich zwei solche Schwiegersöhne finden könnte, wie Sie einen abgeben würden, und zwar einem verdienstvollen Schwiegervater gegenüber, der imstande ist, einen Charakter wie den Ihrigen zu würdigen, so würde ich, ohne die geringste Rücksicht auf mich selbst zu nehmen, meinen Töchtern eine Mitgift auswerfen, so weit – es meine Mittel nur irgend erlauben.«

Das war gewiß herzhaft gesprochen, aber bei einem Manne wie Mr. Pecksniff, der Jonas von Grund aus kannte, nicht weiter wunderbar. Um so weniger, als seine Lippen auch im gewöhnlichen Leben von Beredsamkeit überflössen.

Mr. Jonas blieb stumm und betrachtete gedankenvoll die Aussicht, die sich von der Kutsche aus, in der sie saßen, seinem Auge entrollte. Er begleitete nämlich Mr. Pecksniff nach dessen Heimat, um sich von seinen Kümmernissen für ein paar Tage durch Ortswechsel und Luftveränderung zu erholen.

»Na«, sagte er endlich mit liebenswürdiger Derbheit, »angenommen, Sie bekämen einen Schwiegersohn wie mich, was dann?«

Mr. Pecksniff betrachtete ihn anfangs eine Zeitlang mit ununterdrückbarer Überraschung, dann brach er allmählich in eine Art demütiger Lebhaftigkeit aus und rief: »Dann wüßte ich wohl, wessen Gatte er sein würde.«

»Na also wessen?«

»Meiner Ältesten, Mr. Jonas«, versetzte Pecksniff mit einer Träne im Auge. »Meiner teuern Cherry, meines Stabes und meiner Stütze. Meines Schatzes, Mr. Jonas! Es wäre ein harter Kampf für mich, aber es läge in der Natur der Dinge. Einmal muß ich sie ja doch einem Fremden abtreten. Ich weiß es, mein teurer Freund, und bin darauf vorbereitet.«

»Sapperment, hübsch lange müssen Sie da schon darauf vorbereitet sein, sollte ich meinen«, brummte Jonas.

»Viele haben um sie angehalten«, klagte Mr. Pecksniff, »aber allen hat sie einen Korb gegeben. – ›Ich will lieber ledig bleiben›, das waren ihre Worte, ›als eine Vernunftehe schließen.‹ Sie ist übrigens in der letzten Zeit nicht ganz so fröhlich gewesen wie sonst; ich kann mir nicht erklären, warum.«

Abermals blickte Mr. Jonas auf die Gegend, dann auf den Kutscher, nach dem Gepäck auf dem Dach und schließlich auf Mr. Pecksniff.

»Ich denke, Sie werden sich wohl bald von der ›anderen‹ trennen müssen«, bemerkte er mit einem lauernden Blick.

»Oh, wahrscheinlich«, rief Mr. Pecksniff. »Die Zeit wird die Wildheit meines lustigen Vögleins schon zähmen. Und dann wird es in einen Käfig müssen. – Aber Cherry, Mr. Jonas, Cherry –«

»Na, die Zeit«, unterbrach ihn Jonas, »die Zeit hat sie nachgerade schon genug gebändigt, daran ist wohl kein Zweifel. Aber Sie antworten nicht auf meine Frage. Übrigens, wenn Sie nicht wollen, so lassen Sie’s bleiben. Sie müssen am besten wissen, was Sie zu tun haben.«

Die Verdrossenheit, die in diesen Worten lag, erinnerte Mr. Pecksniff daran, daß mit seinem »lieben Freunde« nicht zu spaßen war und er ihm entweder offen antworten oder geradeheraus zu verstehen geben müsse, er wolle ihn über das fragliche Thema nicht näher unterrichten. Gleichzeitig erinnerte er sich in diesem Dilemma an die Warnung, die ihm der alte Anthony sozusagen mit seinem letzten Atemzuge gegeben, und er entschloß sich daher zu sprechen. Er erklärte also Mr. Jonas, indem er zugleich diese Mitteilung als einen Beweis seiner großen Anhänglichkeit und seines Vertrauens hinstellte, daß in dem Falle, daß ein Mann wie Mr. Chuzzlewit junior um die Hand einer seiner Töchter anhielte, er dieser eine Mitgift von viertausend Pfund auswerfen wolle. »Ich würde mir damit ungemein ins Fleisch schneiden und mich sehr einschränken müssen, um soviel aufzubringen«, bemerkte er offenherzig, »aber ich hielte es für meine Pflicht, und mein innerer Lohn wäre das Bewußtsein, richtig gehandelt zu haben. Mein Gewissen ist meine Bank. Ich habe eine Kleinigkeit darin angelegt – eine bloße Kleinigkeit, Mr. Jonas –, aber für mich ist es ein Schatz, das kann ich Ihnen versichern.«

Die Feinde des wackern Mannes hätten hier wahrscheinlich zweierlei Meinungen geäußert. Die einen würden ohne Bedenken behauptet haben, wenn Mr. Pecksniffs Gewissen seine Bank sei, so müsse das Debet in seinem Konto das Haben unermeßlich übersteigen. Die anderen hätten vermutlich gesagt, seine Behauptung sei eine bloße poetische Phrase, unter der man ein vollkommen leeres Buch zu verstehen habe, in dem die Eintragungen mit sympathetischer, also erst unter gewissen Umständen und in unbestimmter Zeit lesbarer Tinte gemacht würden.

»Es käme mir höchst sauer an, mein lieber Freund«, wiederholte Mr. Pecksniff, »aber die Vorsehung – ich darf vielleicht sagen, eine ganz besondere Vorsehung – hat mein Streben gesegnet, und ich könnte es vielleicht sogar vor mir selbst verantworten, ein derartiges Opfer zu bringen.«

Auch hier hätten die Widersacher des trefflichen Mannes gewiß wieder so mancherlei bemängelt und seltsame Ansichten aufgestellt, aber Mr. Jonas, der nicht gewohnt war, seinen Geist mit Theorien zu belasten, behielt seine Meinung für sich. Er zuckte nicht einmal mit der Wimper dazu und verharrte mindestens eine Viertelstunde in seiner Schweigsamkeit, wie es schien, emsig beschäftigt, im Geiste allerhand Zahlen zu addieren, miteinander zu multiplizieren und anderen mathematischen Operationen zu unterwerfen. Das Ergebnis mußte schließlich ganz günstig ausgefallen sein, für ihn wenigstens, denn als er das Schweigen brach, geschah es mit der Miene eines Mannes, der zu einem festen Resultat gelangt ist und sich aus einem Zustand bedrückender Ungewißheit herausgearbeitet hat.

»Na, alter Pecksniff«, fragte er aufgeräumt am Ende der Station und klopfte dem würdigen Architekten burschikos auf den Rücken, »wollen wir jetzt was zu uns nehmen?« »Von Herzen gern«, rief Mr. Pecksniff.

»Auch der Kutscher sollte sich was geben lassen.«

»Wenn Sie überzeugt sind, es schadet dem Manne nichts oder könne ihn unzufrieden mit seiner Stellung machen – gewiß«, stotterte Mr. Pecksniff.

Jonas lachte nur, stieg von dem Kutschendach herunter und vollführte auf der Straße eine Art grotesken Bocksprung. Sodann verfügte er sich in das Wirtshaus und bestellte so viele geistige Getränke, daß Mr. Pecksniff schon ein Bedenken anwandelte, ob er auch wirklich bei Sinnen sei. Erst als der Kutscher wieder zum Aufbruch mahnte, ging ihm ein Licht auf, denn Jonas sagte:

»Ich habe Sie eine ganze Woche und noch länger regulieren müssen, und Sie haben mit den feinsten Leckerbissen, die die Jahreszeit bietet, gerade nicht gespart. Ich dächte, diesmal könnten Sie zahlen, Pecksniff.«

Und das war auch durchaus kein Scherz, wie Mr. Pecksniff einen Augenblick lang gewähnt hatte, denn Jonas stieg ohne weitere Umstände wieder aufs Dach der Kutsche und überließ es seinem Schwiegervater in spe, die Zeche zu bezahlen.

Doch Mr. Pecksniff war ein sanfter Dulder und Jonas doch sein Freund. Überdies stützte sich seine Zuneigung zu ihm auf die felsenfeste Überzeugung von der Vortrefflichkeit seines Charakters. Mit lächelndem Gesicht kam er daher aus dem Wirtshause nach und ging sogar so weit, eine gleiche Freigebigkeit in allerdings weniger kostspieligem Maßstab bei dem nächsten Bierhause in Aussicht zu stellen. Es lag jetzt eine gewisse, ihm sonst ganz und gar nicht eigentümliche Wildheit in Mr. Jonas‘ Betragen, und er benahm sich während der Weiterreise so übermütig, so ausgelassen, man kann fast sagen, so unbändig, daß der würdige Architekt große Mühe hatte, ihm gegenüber sein seelisches Gleichgewicht zu bewahren.

Am Ziel ihrer Reise wurden sie nicht erwartet, wie man vielleicht hätte glauben dürfen. Mr. Pecksniff hatte nämlich in London den Vorschlag gemacht, den Mädchen eine Überraschung zu bereiten, und daher kein Wort nach Hause geschrieben. Er und Mr. Jonas konnten sie also unversehens überraschen und Zeugen ihres herzigen Treibens sein, wenn sie plötzlich ins Zimmer träten. Infolge dieses findigen Kunstgriffes kam ihnen natürlich niemand an den Wegweiser entgegen, aber das hatte hinsichtlich Bequemlichkeit auch weiter nichts zu sagen, denn Mr. Pecksniff hatte nur einen Mantelsack bei sich, während das Gepäck Mr. Jonas‘ lediglich aus einem kleinen Lederkoffer bestand. Sie trugen die geringe Last zu zweit und gingen ohne Zögern den Feldweg hinauf – Mr. Pecksniff bereits auf den Zehen, als ob ohne diese Vorsichtsmaßregel seine beiden lieben Töchterlein ein kindliches Vorgefühl von seiner Annäherung anwandeln könnte.

Es war ein lieblicher Frühjahrsabend, und die sanfte Stille des Zwielichts verbreitete eine tiefe Ruhe über die ganze Natur. Der Tag hatte schön und warm eingesetzt, aber mit dem Eintreten der Nacht wurde die Luft kühl. In der Ferne erhoben sich leichte Rauchwolken aus den Schornsteinen der Häuser, der Duft jungen Laubes und frischer Knospen erfüllte die Luft, der Kuckuck, der den ganzen Tag über gerufen, war bereits verstummt, und der Geruch frisch geackerter Erdschollen fächelte erfrischend das Land im Abendwind. Es war die Stunde, wo die meisten Menschen gute Entschlüsse fassen und sich um eine vergeudete Vergangenheit grämen – wo sie, die wachsenden Schatten betrachtend, an den Abend denken, der kommen muß, und an jenes Morgenrot, das das letzte sein wird.

»Verflucht langweilige Gegend«, knurrte Jonas und sah sich um. »Tiefsinnig könnte einer dabei werden.«

»Wir werden bald Licht und ein warmes Kaminfeuer haben«, tröstete Mr. Pecksniff.

»Werden’s auch sehr nötig haben, wenn wir ankommen. Warum, zum Teufel, sprechen Sie denn kein Wort? Woran denken Sie eigentlich?«

»Die Wahrheit zu gestehen, Mr. Jonas«, sagte Pecksniff feierlich, »mein Geist weilte in diesem Augenblick bei unserm lieben, unvergeßlichen Verwandten, Ihrem hingeschiedenen Vater.«

Erschreckt ließ Jonas seinen Koffer fallen und rief, die Hand drohend erhoben:

»Lassen Sie das, Pecksniff!« Mr. Pecksniff, der nicht verstand, ob die Worte sich auf den Mantelsack oder etwas anderes bezogen, starrte seinen Begleiter mit ungeheucheltem Erstaunen an.

»Lassen Sie das, sag ich«, rief Jonas wild. »Hören Sie! Lassen Sie das jetzt! Jetzt und für immer! Es ist besser, ich sage Ihnen gleich jetzt, daß ich es nicht haben will.«

»Es geschah aus Unüberlegtheit«, entschuldigte sich Pecksniff betroffen, »ich gebe zu, es war töricht, ich hätte wissen müssen, daß ich damit eine zarte Saite in Ihnen berühre.«

»Faseln Sie nicht von zarten Saiten«, schrie Jonas und wischte sich die Stirne mit dem Rockärmel ab. »Ich bin nicht der Mann dazu, sich von Ihnen verhöhnen zu lassen, bloß weil mir die Gesellschaft des Toten nicht paßt.«

Mr. Pecksniff hatte kaum betroffen die Worte nachgestammelt: »Verhöhnen, Mr. Jonas!«, als ihm der junge Mann mit finsterer Miene wieder ins Wort fiel:

»Merken Sie sich das! Ich verbitte es mir. Ich rate Ihnen, das Thema nicht wieder zur Sprache zu bringen. Weder mir gegenüber noch sonstwo. Merken Sie sich das gefälligst! Aber jetzt genug davon. Kommen Sie!«

Mit diesen Worten faßte er wieder den Koffergriff und eilte so schnell vorwärts, daß Mr. Pecksniff am anderen Ende des Gepäcks in höchst unziemlicher Weise nachgeschleppt wurde, zum größten Schaden seiner Schienbeine, die ununterbrochen und unbarmherzig mit dem harten Leder und den eisernen Schnallen in Berührung kamen. Nach einigen Minuten mäßigte Jonas glücklicherweise seine Eile und ließ ihn gleichen Schritt halten.

Es lag auf der Hand, daß er seine Heftigkeit bereute und auch hinsichtlich deren Wirkung auf Mr. Pecksniff sich nicht ganz sicher fühlte, denn sooft dieser nach ihm hinblickte, kam er sichtlich in Verlegenheit. Gleich darauf jedoch begann er zu pfeifen. Mr. Pecksniff stimmte summend in die fröhliche Melodie ein.

»Haben wir noch weit?« fragte Jonas, nachdem sie sich eine Weile in dieser Weise erbaut hatten.

»Wir sind ganz in der Nähe, mein teurer Freund«, antwortete Mr. Pecksniff.

»Was machen Ihrer Meinung nach die Mädels wohl jetzt?« »Das kann ich unmöglich sagen«, versetzte Mr. Pecksniff. »Sie sind doch immer auf den Beinen. Sind vielleicht gar nicht zu Haus. Ich wollte, hi, hi, hi, ich wollte eben den Vorschlag machen, durch die Hintertüre ins Haus zu gehen, um sie zu überraschen, Jonas.«

Der Vorschlag fand Beifall, und so stahlen sie sich in den Hühnerhof und gingen sachte auf das Küchenfenster zu, durch das der Schein von Kaminfeuer und Kerzenlicht in die dunkle Nacht hinausleuchtete.

Wiederum zeigte sich, wie gesegnet Mr. Pecksniff an seinen Kindern war, jedenfalls an einem derselben. Die kluge Cherry, der Stab, die Stütze und der Schatz ihres sie anbetenden Vaters, saß nämlich an einem kleinen Tisch so weiß wie neugefallener Schnee vor dem Küchenfeuer und schrieb Rechnungen aus. Es war ein entzückender Anblick, wie die liebliche Jungfrau, die Feder in der Hand, den berechnenden Blick zur Decke emporgeschlagen und einen Schlüsselbund in einem kleinen Körbchen neben sich, mit dem Haushaltungsbuch zu Rate ging. Von dem blitzenden Bügeleisen, den Schüsseldeckeln und der Wärmflasche, vom Kochtopf, dem Dreifuß und dem metallenen Kessel glitzerte und glühte der Widerschein des Lichtes beifällige Blicke auf sie herab, und sogar die Zwiebeln, von dem Deckenbalken herniederhängend, glänzten wie Cherubswangen. Irgend etwas von dem Einfluß dieser Vegetabilien schien sich in Mr. Pecksniffs Wesen zu senken, denn: er weinte!

Aber nur für einen Augenblick. Dann verbarg er sorgfältig sein Gefühl vor der Beobachtung seines Freundes in seinem Innern und machte einen etwas gezierten Gebrauch von seinem Taschentuche.

»Das Herz geht einem auf bei diesem Anblick«, murmelte er. »Oh, mein geliebtes Mädchen! Sollen wir ihr verraten, Mr. Jonas, daß wir hier sind?«

»Es wird wohl nichts anderes übrigbleiben«, entgegnete dieser, »außer Sie wollen den Abend im Stall oder in der Kutschenremise zubringen.«

»Nein, nein, für eine solche Art Gastfreundschaft sind Sie mir denn doch zu kostbar, mein Freund«, rief Mr. Pecksniff. Dann holte er tief Atem, klopfte an das Fenster und rief mit Stentorstimme:

»Buh!«

Cherry ließ die Feder fallen und schrie laut auf. Aber ein unschuldiges Herz ist immer kühn oder sollte es wenigstens sein. Mutig öffnete sie die Tür und rief mit fester Stimme und der Geistesgegenwart, die sie sogar in kritischen Augenblicken nie verließ: »Wer da! Wer da! Was wollen Sie! Sprechen Sie, oder ich rufe meinen Pa –«

Mr. Pecksniff breitete die Arme aus; im Augenblick erkannte ihn Cherry und warf sich an seine Brust.

»Es war unüberlegt von uns, Mr. Jonas! Sogar sehr unüberlegt«, sagte Mr. Pecksniff und streichelte seiner Tochter liebevoll das Haar. »Mein Liebling, du siehst, daß ich nicht allein bin.«

Nein, sie hatte es bis jetzt noch nicht gesehen – hatte nur ihren Vater gesehen. Doch jetzt erblickte sie auch Mr. Jonas. Errötend senkte sie das Köpfchen und hieß ihn willkommen.

»Aber wo ist Gratia?«

Mr. Pecksniff fragte nicht im Tone des Vorwurfs nach ihr, sondern nur mit Milde und einem leichten Anflug von Kummer. Sie lag droben auf dem Kanapee des Wohnzimmers und las. Ach! Für sie hatten häusliche Angelegenheiten keinen Reiz.

»Rufe sie herunter«, sagte Mr. Pecksniff sanft und ergeben. »Rufe sie herunter, mein Kind.«

Gratia wurde gerufen und kam verwirrt und mit zerknitterten Kleidern, da sie auf dem Sofa gelegen, sah aber deshalb nicht weniger vorteilhaft aus. Durchaus nicht, vielleicht sogar noch berückender.

»Ach, du lieber Gott!« rief das schalkhafte Kind, küßte ihren Vater auf beide Wangen und wendete sich dann zu ihrem Vetter. »Sie auch hier, Sie Ekel? Gott sei Dank, daß Sie wenigstens nicht meinetwegen gekommen sind!«

»Aha, immer noch so lebhaft wie sonst«, krächzte Jonas. »Ach, Sie Bosnickel!«

»Nichts da! Fort!« rief Gratia und drängte ihn zurück. »Zum Glück werde ich Sie nicht viel zu sehen kriegen. Aber jetzt marsch, um Himmels willen!« Da Mr. Pecksniff mit der Bitte dazwischen trat, Mr. Jonas möge gleich mit hinaufkommen, gehorchte der junge Mann dem Wunsch des Mädchens so weit, daß er ging. Trotzdem er dabei die schöne Cherry am Arme führte, konnte er doch nicht umhin, nach ihrer Schwester zu schielen und mit ihr, während sie die Treppe hinaufgingen, seine Schäkereien fortzusetzen. Im Zimmer oben angekommen, setzten sich alle vier nieder, und da die Mädchen sich glücklicherweise gerade heute etwas verspätet hatten, wurde in diesem Augenblick »zufällig« der Tee aufgetragen.

Mr. Pinch war nicht zu Hause, und so konnten sie ungestört beisammen sein und traulich miteinander plaudern. Jonas saß zwischen den beiden Schwestern und entwickelte seine Galanterie in der ihm eigentümlichen bestrickenden Weise. Es sei eine schwere Zumutung, sagte Mr. Pecksniff, als der Tee abgetragen wurde, eine so angenehme kleine Gesellschaft zu verlassen, da er aber auf seinem Zimmer einige wichtige Dokumente durchzusehen habe, so müsse er sich für eine halbe Stunde entschuldigen. Damit entfernte er sich und trällerte im Gehen ein Liedchen vor sich hin. Er war noch keine fünf Minuten fort, als Gratia, die abseits von ihrer Schwester am Fenster gesessen hatte, in ein halb unterdrücktes Lachen ausbrach und zur Türe eilte.

»Hallo!« rief Jonas. »Sie dürfen nicht weggehen!«

»Warum denn nicht?« fragte Gratia, stehenbleibend. »Liegt Ihnen denn so viel daran, Sie Ekel, daß ich hier bleibe?«

»Allerdings«, sagte Jonas, »ich gebe Ihnen sogar mein Wort darauf. – Ich muß mit Ihnen sprechen.«

Da sie trotzdem das Zimmer verließ, eilte er ihr nach und brachte sie nach einem kurzen Kampf, worüber sich Miss Cherry gewaltig ärgerte, wieder zurück.

»Wahrhaftig, Gratia«, verwies Charitas streng, »ich kann mich nicht genug über dich wundern. Auch die Abgeschmacktheit hat ihre Grenzen, meine Liebe.«

»Ich danke dir, mein Herzchen«, flötete Gratia süß und warf ihre Rosenlippen auf, »ich bin dir ungemein verbunden für deinen liebenswürdigen Rat. – Aber lassen Sie mich jetzt gehen, Sie Scheusal.« Diese neuerliche sanfte Bitte wurde ihr durch ein abermaliges zärtliches Manöver von Mr. Jonas abgerungen, der sie, atemlos, wie sie war, neben sich auf das Sofa zwang, so daß er jetzt zwischen die beiden Schwestern zu sitzen kam.

»Nun«, sagte er und faßte jede der beiden um die Taille, »jetzt habe ich beide Arme voll, was?«

»Einer davon wird morgen braun und blau sein, wenn Sie mich nicht loslassen«, warnte Gratia.

»Oho! Aus Ihrem Zwicken mache ich mir gar nichts«, spöttelte Jonas.

»Zwick ihn für mich, bitte!« rief Gratia. »Ich habe noch nie jemanden so gehaßt wie dieses Scheusal hier. Wirklich nicht.«

»Nein, nein, sagen Sie das nicht«, bat Jonas, »und lassen Sie jetzt beide das Zwicken. Ich habe im Ernst mit euch zu sprechen. Ich sage – Cousine Cherry –«

»Nun, was denn?« fragte Charitas spitzig.

»Ich muß ernsthaft mit Euch reden«, erklärte Jonas. »Es darf hier kein Mißverständnis herrschen. Ich wünsche, daß alles in Ordnung vor sich geht. Das ist doch wünschenswert für alle Teile, was?«

Die beiden jungen Damen hielten den Atem an. Mr. Jonas schwieg eine Weile und räusperte sich dann beklommen.

»Sie wird nicht glauben wollen, was ich sage; was, Cousine?« begann er wieder und drückte Cherry schüchtern an sich.

»Aber Mr. Jonas, wie kann ich denn das wissen, bevor ich gehört habe, um was es sich handelt. Das ist doch ganz unmöglich«, sagte Miss Charitas.

»Nun, sehen Sie«, sagte Jonas stockend. »Ihre Art ist, sich immer über die Leute lustig zu machen. Ich weiß, sie wird auch jetzt gleich wieder loslachen oder wenigstens so tun. Ich weiß das im voraus. Aber Sie können ihr doch sagen, daß ich’s im Ernst meine, Cousine. Was? Sie müssen zugeben, daß es so ist. Nicht? – Wenn Sie ehrlich sind«, setzte er überredend hinzu.

Keine Antwort!

Seine Kehle schien immer trockener zu werden und seine Zunge ihren Dienst zu versagen.

»Sehen Sie, Cousine Charitas«, fing er wieder an, »niemand als Sie kann bezeugen, was ich mir für Mühe gegeben habe, mit ihr beisammen zu sein, damals, als Sie beide in der Pension in London waren. Bei Todgers‘. Sie müssen mir bestätigen, wie angelegen ich es mir sein ließ, mit Ihnen näher bekannt zu werden, um auch sie kennenzulernen, ohne daß es den Anschein gewann, als sei dies meine Absicht. Ich habe Sie immer nach ihr gefragt und wohin sie gegangen sei, wann sie komme, warum sie so lebhaft sei, und alles das. Ist’s nicht so, Cousine? Ich weiß, Sie werden’s ihr sagen – wenn Sie es nicht schon getan haben – und – und – ich wette, Sie haben’s schon getan; denn ich weiß, wie ehrlich Sie sind, was?«

Immer noch kein Wort.

Der rechte Arm von Mr. Jonas – die ältere Schwester saß zu seiner Rechten – hätte ein gewisses ungestümes Pochen empfinden können, das von ihrem Pulse herrührte, aber sonst verriet Charitas nicht, daß seine Rede auch nur die mindeste Wirkung auf sie ausgeübt hätte.

»Aber wenn Sie’s auch für sich behalten und ihr nichts davon gesagt haben«, nahm Jonas seine Rede wieder auf, »so liegt nichts daran, weil Sie mir’s ja jetzt ehrlich bestätigen können. Was? – Wir sind von Anfang an die besten Freunde gewesen, oder nicht? Und wir werden’s natürlich auch in Zukunft bleiben, und deshalb spreche ich auch ganz frei von der Leber weg. – Cousine Gratia, Sie haben gehört, was ich sagte. Sie wird es bestätigen, jedes Wort – also: Wollen Sie mich zum Mann oder nicht?«

Als Jonas bei diesen Worten Charitas losließ, um seine Frage mit besserm Nachdruck anbringen zu können, sprang diese auf und eilte nach ihrem Zimmer, dabei so leidenschaftliche und unzusammenhängende Töne hervorstoßend, wie sie nur einem verschmähten Weibe im Zorne möglich sind.

»Lassen Sie mich los – ich muß ihr nach –« rief Gratia, stieß Jonas zurück und versetzte ihm eine schallende Ohrfeige.

»Nicht, bis Sie ›ja‹ sagen – Sie haben mir noch nicht geantwortet. Wollen Sie mich zum Manne haben?«

»Nein. Ich will nicht. Nicht sehen kann ich Sie, das habe ich Ihnen schon hundertmal gesagt. Sie sind eine abscheuliche Vogelscheuche, und außerdem habe ich immer gedacht, Sie hätten’s auf meine Schwester abgesehen. Wir alle waren dieser Meinung.« »Das ist doch nicht meine Schuld«, stotterte Jonas.

»Freilich ist’s Ihre Schuld, wessen denn?«

»In der Liebe sind alle Kunstgriffe erlaubt«, versetzte Jonas. »Es ist ja möglich, daß sie geglaubt hat, ich hätte es auf sie abgesehen, aber Sie wußten doch, daß es nicht so ist.«

»Nein!«

»Ja, Sie haben es gewußt! Sie können doch nicht geglaubt haben, daß sie mir gefiele!«

»Über Geschmack läßt sich nicht streiten«, wich Gratia geschickt aus. »jedenfalls will ich nichts darüber sagen. Übrigens weiß ich nicht, was ich weiter hier sollte. Lassen Sie mich, ich muß zu ihr!«

»Sagen Sie ›ja‹, und ich lasse Sie sofort los!«

»Wenn ich das je über mich gewinnen könnte, so geschähe es bloß, um Sie mein ganzes Leben über hassen und plagen zu können.«

»Das ist so gut wie ein Jawort! Also die Sache ist abgemacht, Cousine! Wenn’s je ein Paar gegeben hat, das zusammenpaßt, so sind wir’s.« Auf diese galante Rede folgte wieder ein wirres Getöse von Küssen und Ohrfeigengeklatsch, und dann riß sich die schöne, aber jetzt ziemlich zerzauste Gratia los und eilte ihrer Schwester nach.

Daß ein Ehrenmann wie Mr. Pecksniff an der Türe gehorcht haben könnte, ist ausgeschlossen, und so läßt sich daher vermuten, daß er, von einem Scharfsinn wie eben nur dem seinigen geleitet, durch eine Art seelischer Inspiration erriet, wie die Sache stand, möglich aber auch, daß ihn der pure Zufall gerade zur richtigen Zeit an den Ort hinführte – was bei der besondern Obhut der Vorsehung, unter der er stand, recht gut denkbar war –, jedenfalls erschien er in demselben Augenblick an der Türe, als die beiden Schwestern zusammentrafen.

Es war ein wunderbarer Gegensatz. Die Mädchen so erhitzt, lärmend und ungestüm, und er so ruhig, so kühl, so besonnen, so voller Friede, daß sich nicht ein Härchen auf seinem Kopfe rührte.

»Kinder«, sagte er, schloß vorsichtig die Türe, stellte sich mit dem Rücken dagegen und schlug dann verwundert die Hände zusammen. »Mädchen, liebe Kinder, was soll das?« »Der Elende! Der Treulose! Der falsche gemeine abscheuliche Schuft! Vor meinen Augen hat er Gratia um ihre Hand gebeten!« lautete die Antwort der ältern Tochter.

»Wer hat Gratia um ihre Hand gebeten?« fragte Mr. Pecksniff außer sich vor Erstaunen.

»Er! Dieses Scheusal! Dieser Jonas unten!«

»Jonas hat Gratia einen Antrag gemacht?« fragte Mr. Pecksniff. »Ja, was hör ich!«

»Sonst hast du nichts zu sagen?« schrie Charitas. »Soll ich vielleicht verrückt werden, Papa? Gratia, nicht mir hat er einen Antrag gemacht!«

»O pfui, pfui, schäme dich!« rief Mr. Pecksniff würdevoll. »Pfui, schäme dich! Kann der Triumph deiner Schwester dich zu so einem schrecklichen Ausbruch reizen, mein Kind? Oh, traurig! traurig! Es betrübt mich, es befremdet und verletzt mich, dich in solcher Stimmung zu sehen! – Gratia, mein Kind, Gottes Segen auf dein Haupt! Sieh nach ihr! Oh, oh, welch böse, böse Herzenseigenschaft!«

Und tief aufseufzend verließ er die Stube, abermals sorgsam die Türe hinter sich zumachend, und eilte schnell ins Wohnzimmer. Dort fand er seinen zukünftigen Schwiegersohn und streckte ihm beide Hände entgegen.

»Jonas!« rief er. »Jonas, der teuerste Wunsch meines Herzens ist erfüllt!«

»Na ja, schon gut. Freut mich zu hören«, versetzte Jonas. »Schon recht. – Aber wie wär’s, wo Sie schon die ›andere‹ nicht so besonders mögen, daß Sie da noch mit einem fünften Tausender herausrückten? Sie müssen ungrad grad sein lassen. Bedenken Sie, Sie können ja Ihren Augapfel jetzt zu Hause behalten! Sie kommen billig dabei weg und brauchen kein Opfer zu bringen.«

Das Grinsen, mit dem der liebenswürdige junge Mann diese Worte begleitete, ließ ihn zusammen mit seinen übrigen Reizen und Eigentümlichkeiten in so vorteilhaftem Licht erscheinen, daß sogar Mr. Pecksniff für den Augenblick ganz seine Geistesgegenwart verlor und ihn wie versteinert vor Erstaunen anstarrte. Bald jedoch gewann er seine Fassung wieder und war eben im Begriff, eine ausweichende Antwort zu geben, als sich draußen laute Fußtritte vernehmen ließen und Tom Pinch in großer Aufregung ins Zimmer stürzte, dann, als er bemerkte, daß Mr. Pecksniff mit einem Fremden in einem Privatgespräch begriffen sei, plötzlich sehr verwirrt dreinsah, aber immer noch mit einem Gesicht, als habe er etwas sehr Wichtiges mitzuteilen.

»Mr. Pinch!« rief Pecksniff erregt. »Ihr Benehmen ist schwerlich anständig zu nennen. Sie müssen entschuldigen, daß ich Ihnen das so geradeheraus sage, aber ich denke wirklich, ein solches Benehmen ist kaum anständig zu nennen.«

»Ich bitte um Entschuldigung, Sir, daß ich nicht angeklopft habe«, stotterte Tom.

»Bitten Sie lieber diesen Herrn um Verzeihung, Mr. Pinch«, rief Pecksniff. »Ich kenne Sie ja, aber bei ihm ist das nicht der Fall. – Erlauben Sie, Mr. Jonas, daß ich Ihnen meinen jungen Famulus, Mr. Pinch, vorstelle!«

Der Schwiegersohn in spe nickte leicht mit dem Kopf, wenn auch nicht gerade geringschätzig oder verächtlich, wie sonst in solchen Fällen, denn er war in ziemlich guter Stimmung.

»Erlauben Sie, könnte ich nicht ein Wort mit Ihnen sprechen, Sir?« fragte Tom atemlos. »Es handelt sich um etwas sehr Dringendes.«

»Nur etwas sehr Dringendes kann auch Ihr sonderbares Vorgehen rechtfertigen, Mr. Pinch«, sagte Mr. Pecksniff. »Bitte entschuldigen Sie mich einen Augenblick, mein teurer Freund. – Nun, Sir, was ist der Grund dieses ungeschlachten Benehmens?«

»Wirklich, es tut mir sehr leid«, stammelte Tom, als er, die Mütze in der Hand, im Hausflur seinem Herrn und Gebieter gegenüberstand, »und ich weiß, es muß sehr ungeschlacht ausgesehen haben.«

»Allerdings hat es das, Mr. Pinch.«

»Ja, ja, ich fühle das, Sir. Aber, offen gestanden, war ich so überrascht, Sie zu sehen – und ich wußte, daß Sie es auch sein würden, Mr. Pecksniff –, daß ich, so schnell ich konnte, nach Hause eilte. Ich wußte kaum mehr, wo mir der Kopf stand und was ich tat. Ich war eben in der Kirche, Sir, und spielte zu meinem Vergnügen die Orgel, als ich mich zufällig umsah und bemerkte, daß ein Herr und eine Dame im Mittelgang standen und zuhorchten. Soviel ich in der Dunkelheit unterscheiden konnte, schienen es Fremde zu sein, und ich dachte schon, ich kennte sie nicht. Ich hörte daher auf und fragte sie, ob sie nicht nach der Orgelgalerie hinaufspazieren oder einen Sitz einnehmen möchten. Sie lehnten das ab, dankten mir aber für die Musik, die sie gehört hatten. Sie – sie –« bemerkte Tom errötend – »sie nannten es sogar eine köstliche Musik, wenigstens sie tat es. Und wirklich, das war eine größere Ehre und Freude für mich als alle Komplimente, die man mir hätte machen können. Ich – ich – ich bitte um Verzeihung, Sir –« er bebte dabei am ganzen Körper und ließ schon zum zweitenmal seinen Hut fallen. »Aber ich – bin etwas verwirrt und fürchte, daß ich vom Thema abgekommen bin.«

»Wenn Sie darauf zurückkommen wollen«, entgegnete Mr. Pecksniff eisig, »so werden Sie mich damit sehr verbinden.«

»Ja, Sir, gewiß, Sir«, stotterte Tom. »Sie hatten einen Wagen am Portal stehen, Sir, und hatten nur haltgemacht, um das Orgelspiel zu hören, wie sie sagten. Und dann sagten sie – ich meine sie sagte: ›Ich glaube, Sie wohnen bei Mr. Pecksniff?‹ Ich erwiderte, ich hätte diese Ehre, und nahm mir dann die Freiheit, Sir«, fügte er hinzu und erhob die Augen schüchtern zu dem Antlitz seines Wohltäters, »hervorzuheben, daß ich – was ich mit Ihrer gütigen Erlaubnis immer hervorheben werde und muß – daß ich große Verpflichtungen gegen Sie habe und meinen Dank dafür nie genügend werde ausdrücken können.«

»Das«, versetzte Pecksniff streng, »war sehr sehr unrecht. Sie hätten sich dazu einen bessern Zeitpunkt wählen müssen, Mr. Pinch.«

»Ich danke Ihnen, Sir«, hauchte Tom, »und dann fragten Sie mich – nämlich sie fragte mich –, ob es nicht einen Seitenweg zu Mr. Pecksniffs Hause gebe.«

Mr. Pecksniff horchte plötzlich auf.

»Einen Nebenweg, so daß man nicht an dem Drachen vorbei müßte. Ich bejahte und sagte, ich würde mich glücklich schätzen, ihnen denselben zeigen zu können. Sie schickten nun den Wagen auf der Straße weiter und kamen mit mir über die Wiesen her. Hierher. Ich verließ sie beim Wegweiser, um vorauszueilen und Ihnen mitzuteilen, daß sie kämen und gleich hier sein würden. – – In weniger als einer Minute«, fügte Tom tief aufatmend hinzu.

»Hm«, brummte Mr. Pecksniff nachsinnend. »Wer können wohl die Leute sein?«

»Gott steh uns bei, Sir!« rief Tom. »Ich dachte, ich hätte Ihnen dies gleich anfangs gesagt. Ich habe sie erkannt – ich meine die Dame –, und zwar sofort. Der Gentleman, Sir, ist derselbe, der im letzten Winter im Drachen krank lag, und die junge Dame ist seine Begleiterin.«

Tom klapperten die Zähne; vor Entsetzen wäre er beinah in die Erde gesunken, als er die außerordentliche Wirkung bemerkte, die diese Worte plötzlich auf Mr. Pecksniff ausübten.

Die Furcht, die Gunst des alten Mr. Chuzzlewit fast ebenso schnell, als er sie gewonnen, bloß durch den Umstand zu verlieren, daß er Jonas im Hause hatte – dann die Unmöglichkeit, seinen Schwiegersohn in spe fortschicken, ihn einsperren oder an Händen und Füßen gebunden in einen Kohlenkeller stecken zu können, ohne ihn für alle Zeit unheilbar zu verletzen und zu kränken – ferner die schreckliche Uneinigkeit, die im Hause herrschte, und die Unmöglichkeit, zwischen der in Krämpfen liegenden Charitas, der aufs äußerste verwirrten Gratia und dem im Besuchszimmer sitzenden Jonas ein halbwegs anständiges Einvernehmen herstellen zu können – die völlige Hoffnungslosigkeit, diesen Zustand häuslicher Verwirrung bemänteln oder plausibel erklären zu können, kurz, das plötzliche Zusammentreffen aller dieser nur erdenklichen unangenehmen Verwicklungen, deren Entwirrung nur mit der Zeit möglich war, wie er glaubte, alles dies erfüllte den fassungslosen Architekten mit einem solchen Entsetzen, daß er und Tom sich gegenseitig nicht hätten mit wildern Blicken ansehen können, als wenn auf seinen Schultern ein Gorgonenhaupt gesessen hätte.

»Ach Gott! Ach Gott!« jammerte Tom. »Was habe ich getan! Ich hoffte, es würde eine angenehme Überraschung für Sie sein, Sir, und meinte, Sie würden sich über diese Nachricht freuen.«

In diesem Augenblick ertönte ein lautes Klopfen an der Hallentüre.