Mrs. Lirripers Fremdenpension

Erstes Kapitel

Wie Mrs. Lirriper das Geschäft führte

Daß sich jemand mit Zimmervermieten abplagen wollte, wenn es nicht eine alleinstehende Frau ist, die für ihren Lebensunterhalt sorgen muß, das ist mir gänzlich unverständlich, meine Liebe; entschuldigen Sie die Freiheit, aber die Anrede kommt mir ganz natürlich über die Lippen, wenn ich in meinem kleinen Wohnzimmer mein Herz allen denen öffnen möchte, denen ich trauen kann. Ich wäre dem Himmel ewig dankbar, wenn das die ganze Menschheit wäre, aber leider ist das nicht der Fall, denn Sie brauchen bloß einen Zettel »Zimmer zu vermieten« im Fenster haben und Ihre Uhr auf dem Kaminsims liegen zu lassen, und schon ist sie auf Nimmerwiedersehen verschwunden, wenn Sie sich bloß eine Sekunde lang umwenden. Aber auch die Zugehörigkeit zu Ihrem eigenen Geschlecht ist noch lange keine Garantie, wie ich am Beispiel der Zuckerzange gesehen habe, denn jene Dame (und hübsch sah sie aus) ließ mich nach einem Glas Wasser laufen, unter dem Vorwand, sie käme demnächst nieder, was sich auch als richtig erwies, aber sie kam zur Polizeiwache nieder.

Nummer einundachtzig Norfolk Street, Strand, auf halbem Weg zwischen der City und dem St.-James-Park und nur fünf Minuten von den besuchtesten öffentlichen Vergnügungsstätten entfernt – das ist meine Adresse. Ich wohne in diesem Haus schon seit langen Jahren zur Miete, wie das Grundsteuerbuch bezeugen kann; und ich wünschte, mein Hauswirt wüßte diese Tatsache ebenso zu würdigen wie ich selbst, aber nein, nicht für ein halbes Pfund Neuanstrich, und wenn es ihm ans Leben ginge; nicht einen neuen Ziegel aufs Dach, meine Liebe, und wenn Sie auf den Knien vor ihm lägen.

Sie werden noch niemals Nummer einundachtzig Norfolk Street, Strand, in Bradshaws Kursbuch gefunden haben, meine Liebe, und so Gott will, werden Sie es auch niemals darin finden. Es gibt zwar Leute, die keine Selbsterniedrigung darin sehen, ihren Namen so zu verunehren, und sie gehen sogar bis zu einem Bild von ihrem Haus, das dem Original jedoch ganz unähnlich ist, mit einem Klecks in jedem Fenster und einer vierspännigen Kutsche vor der Tür. Aber was Miß Wozenham weiter unten auf der anderen Seite der Straße recht ist, ist mir noch lange nicht billig, da Miß Wozenham ihre Anschauungen hat und ich die meinigen. Obwohl es ja darauf ankommt, wie Sie es vor Ihrem Gewissen zu verantworten gedenken, wenn es bis zum systematischen Unterbieten kommt – wie es unter Eid vor Gericht bewiesen werden kann – und das die Form annimmt: »Wenn Mrs. Lirriper achtzehn Schilling die Woche verlangt, dann verlange ich fünfzehneinhalb.« Und was luftige Schlafzimmer betrifft und einen Portier, der die ganze Nacht über auf ist, so ist es um so besser, je weniger darüber geredet wird, da die Schlafzimmer muffig und der Portier blauer Dunst ist.

Es sind jetzt vierzig Jahre her, seit ich und mein armer Lirriper in der St.-Clement’s Danes-Kirche getraut wurden, wo ich jetzt in einem sehr hübschen Stuhl unter lauter vornehmer Nachbarschaft meinen Sitz und mein eigenes Kniekissen habe und wo ich nicht zu volle Abendgottesdienste bevorzuge. Mein armer Lirriper war eine stattliche Erscheinung, mit leuchtenden Augen und einer Stimme, so weich wie ein Musikinstrument aus Honig und Stahl. Aber er hatte stets ein freies Leben geführt, da er von Beruf Geschäftsreisender war und eine besonders staubige Tour hatte, wie er sagte – »eine trockene Straße, meine liebe Emma«, sagte mein armer Lirriper stets zu mir, »wo ich den ganzen Tag über und die halbe Nacht dazu immer mal einen Schluck tun muß, um den Staub hinunterzuspülen, und das nimmt mich mit, Emma« – und das führte dazu, daß er durch eine Menge Dinge hindurchrannte. Er wäre wohl auch durch den Schlagbaum hindurchgerannt, als dieses schreckliche Pferd, das keinen einzigen Augenblick stillstehen wollte, durchbrannte. Aber es war Nacht und der Schlagbaum geschlossen. So wurde das Rad erfaßt und der Wagen und mein armer Lirriper zu Atomen zerschmettert. Er hat kein Wort mehr gesprochen. Er war eine stattliche Erscheinung und ein Mann von fröhlicher Gemütsart und sanftem Wesen; aber wenn Photographien damals schon üblich gewesen wären, so hätten sie Ihnen doch niemals eine Vorstellung von der Weichheit seiner Stimme geben können. Überhaupt fehlt es meiner Ansicht nach Photographien im allgemeinen an Weichheit. Man sieht darauf aus wie ein frisch gepflügtes Feld.

Mein armer Lirriper hinterließ ein zerrüttetes Vermögen, und als er auf dem Friedhof zu Hatfield in Hertfordshire begraben worden war, nicht etwa, weil das sein Geburtsort war, sondern weil er eine Vorliebe für das »Salisbury-Wappen« hatte, wohin wir uns am Hochzeitstag begeben und glücklich vierzehn Tage zugebracht hatten, machte ich bei den Gläubigern die Runde und sagte zu ihnen: »Gentlemen, ich weiß wohl, daß ich für die Schulden meines verstorbenen Gatten nicht aufzukommen brauche, aber ich will sie bezahlen, denn ich bin sein angetrautes Weib, und sein guter Name ist mir teuer. Ich will eine Pension aufmachen, und wenn es mir glückt, soll jeder Penny, den mein verstorbener Gatte schuldig geblieben ist, um der Liebe willen, die ich zu ihm trug, zurückerstattet werden. Das schwöre ich bei dieser meiner Rechten.« Es dauerte lange, bis ich es vollbracht hatte, aber schließlich war es vollbracht, und als mir die Gentlemen die silberne Rahmkanne verehrten, die, unter uns gesagt, in meinem Schlafzimmer oben zwischen dem Bett und der Matratze steckt und die eingravierte Widmung trägt: »Für Mrs. Lirriper als ein Zeichen dankbarer Hochachtung für ihr ehrenwertes Verhalten«, da gab es mir einen Ruck, der zuviel für meine Gefühle war, bis Mr. Betley, der gern seinen Spaß machte, zu mir sagte:

»Fassen Sie sich, Mrs. Lirriper! Sie sollten die Sache so ansehen, als wäre es bloß Ihre Taufe und dies wären Ihre Paten, die für Sie gelobten.«

Das brachte mich wieder zu mir selbst, und ich gestehe offen, meine Liebe, daß ich darauf ein Butterbrot und ein wenig Sherry in ein Körbchen tat und auf dem Außensitz der Postkutsche zum Friedhof in Hatfield fuhr. Dort küßte ich meine Hand und legte sie, während mein Herz von einer Art stolzen Liebe geschwellt war, auf meines Gatten Grab. Dabei hatte es, bis ich seinen guten Namen wiederherstellen konnte, wahrhaftig so lange gedauert, daß mein Ehering ganz dünn und glatt war, als ich die Hand auf das grüne, wogende Gras legte.

Ich bin jetzt eine alte Frau und mein gutes Aussehen ist dahin, aber das dort über dem Tellerwärmer, meine Liebe, bin trotzdem ich, auch wenn die Leute oft rot und verlegen werden, weil sie meistens auf jemand ganz anderes tippen. Aber einmal kam ein gewisser Jemand, der sein Geld in ein Hopfengeschäft gesteckt hatte, um seine Miete zu bezahlen und einen Besuch abzustatten, und er wollte es durchaus vom Haken runternehmen und in seine Brusttasche stecken – Sie verstehen, meine Liebe – aus L…, sagte er, zu dem Original –, bloß besaß er keine Weichheit in seiner Stimme, und ich wollte es nicht zulassen. Aber, was er davon hielt, können Sie daraus entnehmen, daß er zu dem Bild sagte: »Sprich zu mir, Emma!« Das war zweifellos alles andere als eine vernünftige Bemerkung, aber doch ein Beweis dafür, daß das Bild mir ähnlich war, und ich glaube selbst, ich habe wirklich so ausgesehen, als ich jung war und diese Art Mieder trug.

Aber meine Absicht war, von der Pension zu sprechen, und ich muß wirklich was von dem Geschäft verstehen, da ich schon so lange darin bin. Es war zu Beginn des zweiten Jahres meiner Ehe, daß ich meinen armen Lirriper verlor, und gleich darauf ließ ich mich in Islington nieder und kam danach hierher, was im ganzen zwei Häuser und achtunddreißig Jahre, einige Verluste und eine gute Menge Erfahrung ausmacht.

Nach den Zahlungsterminen sind Dienstmädchen Ihre größte Plage, und sie plagen Sie sogar schlimmer als die Leute, die ich die wandernden Christen nenne, obgleich es für mich ein Geheimnis ist (für dessen Aufklärung, wenn es durch irgendein Wunder geschehen könnte, ich dankbar wäre), weshalb sie auf der Erde umherwandern, nach Vermieterzetteln Ausschau halten und dann hereinkommen, sich die Zimmer ansehen und über den Preis handeln, obwohl sie sie gar nicht brauchen und im Leben nicht daran denken, sie zu nehmen. Es ist verwunderlich, daß sie so lange leben und dabei wohlauf sind, aber vermutlich erhält sie die viele Bewegung gesund, da sie so viel klopfen und von Haus zu Haus gehen und den ganzen Tag die Treppen hinauf und hinunter laufen. Und dann ist es im höchsten Grade erstaunlich, wenn sie so tun, als ob sie so überaus genau und pünktlich wären. Sie blicken auf ihre Uhr und sagen: »Könnten Sie mir die Zimmer bis übermorgen vormittag zwanzig Minuten nach elf reservieren, und angenommen meine Freundin vom Lande legt Wert darauf, könnten Sie dann eine kleine eiserne Bettstelle in das kleine Zimmer oben stellen?«

Als ich noch ein Neuling im Geschäft war, meine Liebe, pflegte ich mir’s zu überlegen, bevor ich zusagte; ich verwirrte mich ganz mit Berechnungen und ermüdete mich mit nutzlosem Warten, aber jetzt pflege ich zu sagen: »Gewiß; ganz bestimmt«, da ich genau weiß, es ist eine wandernde Christin und sie kommt nie wieder. Ja, jetzt kenne ich die meisten wandernden Christen persönlich, ebenso wie sie mich, da jedes derartige Individuum, das in London umherwandert, die Gewohnheit hat, etwa zweimal jährlich zu erscheinen, und es ist ein sehr bemerkenswerter Umstand, daß das Übel erblich ist und die heranwachsenden Kinder es auch annehmen. Aber selbst wenn es anders wäre, so brauche ich nur von der Freundin vom Lande zu hören – was ein sicheres Zeichen ist –, um zu nicken und zu mir selbst zu sagen: Sie sind eine wandernde Christin, obwohl ich nicht wagen kann zu behaupten, daß es, wie ich gehört habe, Personen mit einem kleinen Vermögen sind, die eine Vorliebe für eine regelmäßige Beschäftigung und häufigen Wechsel des Schauplatzes haben.

Dienstmädchen, wie ich meine Bemerkung begann, sind eine Ihrer größten und dauernden Plagen, und es geht einem mit ihnen wie mit den Zähnen, die mit Krämpfen anfangen und niemals aufhören, Sie zu quälen, von der Zeit, wo sie durchbrechen, bis zur Zeit, wo sie abbrechen, und dabei erscheint es einem hart, sich von ihnen zu trennen, aber wir müssen alle unterliegen oder künstliche kaufen. – Selbst wenn man ein williges Mädchen bekommt, dann bekommt man in neun von zehn Fällen ein schmutziges Gesicht mit dazu, und natürlicherweise lieben es die Mieter nicht, wenn vornehme Besucher mit einem schwarzen Fleck über der Nase oder schmierigen Augenbrauen eingelassen werden. Wo sie das Schwarz herkriegen, ist für mich ein unergründliches Geheimnis, wie in dem Fall des willigsten Mädchens, das je in ein Haus kam, sie war halb verhungert, das arme Ding, und ein so williges Mädel, daß ich sie die willige Sophy nannte, früh und spät auf den Knien scheuernd und immer fröhlich, aber stets mit einem schwarzen Gesicht lächelnd. Ich sagte zu Sophy:

»Nun, Sophy, mein gutes Mädchen, setze dir einen bestimmten Tag für die Kamine fest, gehe stets der Schuhwichse aus dem Weg, kämme dein Haar nicht mit Pfannenböden und rühre die abgebrannten Kerzendochte nicht an, dann muß es doch notwendigerweise ein Ende nehmen.«

Doch das Schwarz blieb, und stets auf ihrer Nase; und da diese aufgeworfen und an der Spitze breit war, so hatte es den Anschein, als ob sie damit prahlte, und es hatte auch eine Warnung zur Folge von einem ruhigen, aber ein wenig reizbaren Gentleman und ausgezeichneten wöchentlichen Mieter mit Frühstück und Benutzung eines Wohnzimmers auf Verlangen, der zu mir sagte:

»Mrs. Lirriper, ich bin so weit gekommen zuzugestehen, daß die Schwarzen Menschen und Brüder sind, aber nur wenn die Farbe natürlich ist und nicht abgerieben werden kann.«

Infolgedessen gab ich der armen guten Sophy andere Arbeit und verbot ihr strikt, die Tür zu öffnen, wenn es klopfte, oder auf ein Klingelzeichen herbeizulaufen, aber unglücklicherweise war sie so willig, daß sie nichts davon zurückhalten konnte, die Küchentreppe hinaufzufliegen, so oft eine Klingel ertönte. Schließlich fragte ich sie.

»O Sophy, Sophy, um des lieben Himmels willen, woher kommt es bloß?«

Darauf brach dieses arme, unglückliche, willige Geschöpf in Tränen aus und erwiderte:

»Ich nahm eine Menge Schwarz in mich auf, Ma’am, als ich ein kleines Kind war, da sich damals niemand um mich kümmerte, und ich denke, das muß es sein, was da herauskommt.«

Da es nun bei dem armen Ding immer weiter herauskam und ich andererseits sonst nichts an ihr auszusetzen hatte, sagte ich zu ihr:

»Sophy, was hältst du von dem Vorschlag, daß ich dir nach New South Wales verhelfe, wo es vielleicht nicht bemerkt werden wird?«

Und ich habe es nie bereut, dieses Geld ausgegeben zu haben. Es erwies sich als gut angelegt, denn sie heiratete auf der Fahrt den Schiffskoch (er war selbst ein Mulatte), und sie lebte gut und glücklich, und soviel ich gehört habe, wurde es unter jenen neuen gesellschaftlichen Zuständen bis zu ihrem Todestag nicht bemerkt.

Wie es Miß Wozenham weiter unten auf der anderen Seite der Straße vor ihren Gefühlen als Dame (was sie nicht ist) verantworten konnte, Mary Anne Perkinson aus meinem Dienst abspenstig zu machen, das muß sie selbst am besten wissen – ich weiß es nicht, und mir liegt auch nichts daran, zu erfahren, was für Lebensansichten Miß Wozenham hat. Aber diese Mary Anne Perkinson, wenn sie sich auch so häßlich gegen mich benahm, während ich stets gut zu ihr war, war ihr Gewicht in Gold wert, wenn es sich darum handelte, den Mietern Respekt einzuflößen, ohne sie zu vertreiben. Denn die Mieter klingelten viel weniger nach Mary Anne, als sie nach meiner Erfahrung je nach Mädchen oder Herrin geklingelt hatten, was viel bedeuten will, besonders wenn schielende Augen und eine Gestalt wie ein Sack voll Knochen dazukommen, aber es war ihre unerschütterliche Ruhe, die jene einschüchterte, und diese Ruhe kam daher, weil ihr Vater im Schweinehandel Unglück gehabt hatte. Mary Annes respekteinflößendes Äußeres und ihre strenge Weise wurden sogar mit dem pingeligsten Tee-und-Zucker-Gentleman fertig (denn er wog beides jeden Morgen in einer Waagschale), mit dem ich es je zu tun gehabt habe, und kein Lamm war nachher sanfter als er. Aber später erfuhr ich, daß Miß Wozenham einmal zufällig an meinem Haus vorüberging und zusah, wie Mary Anne die Milch von einem Milchmann übernahm, der jedes Mädel in der Straße in die rosigen Wangen kniff (ich denke deshalb nichts Böses von ihm), aber von ihr so eingeschüchtert wurde, daß er so steif wie die Statue bei Charing Cross war. Miß Wozenham begriff sofort, welchen Wert Anne für das Pensionsgeschäft hatte, und ging so weit, ein Pfund mehr Vierteljahrslohn zu bieten. Infolgedessen sagte Mary Anne, ohne daß es den geringsten Wortwechsel zwischen uns gegeben hätte, auf einmal zu mir: »Wenn Sie sich für den nächsten Ersten nach einer Neuen umsehen wollen, Mrs. Lirriper, ich habe es bereits getan.« Das kränkte mich, ich sagte es ihr, und daraufhin kränkte sie mich noch mehr, indem sie andeutete, daß das Unglück ihres Vaters im Schweinehandel sie zu derartigen Handlungsweisen gebracht habe.

Meine Liebe, ich versichere Ihnen, es ist bitter schwer zu entscheiden, welcher Art Mädchen man den Vorzug geben soll, denn wenn sie rasch sind, werden sie von ihren Beinen geklingelt, und wenn sie langsam sind, haben Sie selbst darunter zu leiden, weil in einem fort Klagen kommen, und wenn sie hübsche Augen haben, so stellen ihnen die Herren nach, und wenn sie auf ihr Äußeres halten, dann setzen sie die Hüte der Mieterinnen auf, und wenn sie musikalisch sind, dann probieren Sie es bloß einmal, sie von Musikkapellen und Leierkastenmännern wegzubringen, und gleichgültig, welche Köpfe Sie an ihnen bevorzugen, ihre Köpfe werden stets zum Fenster hinausgucken. Und dann, was den Herren an den Mädchen gefällt, das gefällt den Damen nicht, was für alle Beteiligten ein ständiger Zankapfel ist, und dann kommt den Mädchen die Wut, obwohl ich hoffe, daß es nicht oft in dem Maße der Fall ist wie bei Caroline Maxey.

Caroline war ein hübsches, schwarzäugiges Mädchen und hatte ein Paar kräftige Fäuste, wie ich zu meinem Schaden erfuhr, als sie losbrach und um sich schlug. Das geschah zum ersten und letzten Mal durch die Schuld eines jungen Ehepaares, das sich London ansehen wollte und im ersten Stock wohnte. Die Dame war sehr hochmütig, und es hieß, sie mochte Caroline wegen ihres hübschen Äußeren nicht leiden, da sie selbst in dieser Beziehung nichts übrig hatte, aber auf jeden Fall machte sie Caroline das Leben schwer, obwohl das keine Entschuldigung war. So kommt Caroline eines Nachmittags mit gerötetem Gesicht in die Küche und sagt zu mir:

»Mrs. Lirriper, dieses Weib im ersten Stock hat mich ganz unerträglich geärgert.«

Ich sage darauf: »Caroline, unterdrücke deine Wut.«

Darauf antwortet Caroline mit einem Lachen, das mir das Blut in den Adern erstarren läßt:

»Meine Wut unterdrücken? Da haben Sie recht, Mrs. Lirriper, das will ich tun.«

»Gott verd … sie!« bricht Caroline darauf los (man hätte mich mit einer Feder bis in den Mittelpunkt der Erde hineinschmettern können, als sie das sagte). »Ich will ihr mal zeigen, welche Wut ich in mir unterdrückt habe!«

Caroline zieht den Kopf ein, meine Liebe, schreit auf und stürzt die Treppe empor, ich, so schnell mich meine zitternden Beine tragen können, hinter ihr her. Aber bevor ich noch im Zimmer anlange, ist schon das Tischtuch mit dem Geschirr in Rosa und Weiß krachend auf den Boden geflogen und das junge Ehepaar liegt mit den Beinen in der Luft im Kamin, er mit Schaufel und Feuerzange und einer Schüssel voll Gurkensalat quer über dem Bauch. Ein Glück, daß es Sommer war!

»Caroline«, rufe ich, »beruhige dich!«

Aber als sie an mir vorbeikommt, zerrt sie mir die Haube vom Kopf und zerreißt sie mit den Zähnen, fällt dann über die jungverheiratete Dame her, macht ein Bündel Bänder aus ihr, faßt sie an beiden Ohren und schlägt sie mit dem Hinterkopf gegen die Wand. Die Dame schreit während der ganzen Zeit zetermordio, Schutzleute rennen die Straße entlang, während Miß Wozenhams Fenster (denken Sie sich meine Gefühle, als ich das erfuhr) aufgerissen werden und Miß Wozenham vom Balkon aus mit Krokodilstränen herunterschreit:

»Es ist Mrs. Lirriper, die jemand durch Überforderung zum Wahnsinn getrieben hat – man wird sie ermorden – ich habe es schon lange erwartet – Schutzleute, rettet sie!«

Meine Liebe, denken Sie sich: vier Schutzleute und Caroline hinter der Kommode, die mit dem Schüreisen auf sie losfährt. Als man sie entwaffnet hatte, boxte sie mit beiden Fäusten um sich, hin und her und her und hin, ganz entsetzlich! Aber ich konnte es nicht mit ansehen, daß sie das arme junge Ding rauh anpackten und ihr das Haar herabrissen, als sie sie überwältigt hatten, und ich sage:

»Meine Herren Schutzleute, bitte denken Sie daran, daß ihr Geschlecht das Geschlecht Ihrer Mütter und Schwestern und Ihrer Liebsten ist, und Gott segne diese und Sie selbst!«

Und da saß sie nun auf dem Boden, mit Handschellen gefesselt, und lehnte sich, nach Atem ringend, gegen die Wandleiste, und die Schutzleute kühl und gelassen mit zerrissenen Röcken, und alles, was sie sagte, war:

»Mrs. Lirriper, es tut mir leid, daß ich Sie angerührt habe, denn Sie sind eine gute, mütterliche alte Dame.«

Ich mußte daran denken, wie oft ich gewünscht hatte, ich wäre wirklich eine Mutter, und welche Gefühle mein Herz bewegt hätten, wenn ich die Mutter dieses Mädchens gewesen wäre!

Auf der Polizeiwache stellte sich dann heraus, daß es nicht das erstemal bei ihr war, und man nahm ihr die Kleider weg und steckte sie ins Gefängnis. Als sie wieder herauskommen sollte, ging ich am Abend ans Gefängnistor mit einem bißchen Gelee in meinem kleinen Körbchen, um sie ein wenig für den erneuten Lebenskampf zu stärken, und dort traf ich eine sehr ehrbare Mutter, die auf ihren Sohn wartete. Er war durch schlechte Gesellschaft dorthin gekommen, und es war ein verstockter Schlingel, der seine Halbschuhe aufgeschnürt trug. Da kommt nun meine Caroline heraus und ich sage zu ihr:

»Caroline, komm mit mir und setze dich unter die Mauer, wo niemand hinkommt, und iß eine Kleinigkeit, die ich für dich mitgebracht habe.«

Darauf schlingt sie die Arme um meinen Hals und sagt:

»Oh, weshalb sind Sie keine Mutter, wo es solche Mütter gibt, wie es sie gibt!«

So spricht sie, und in einer halben Minute beginnt sie zu lachen und fragt:

»Habe ich wirklich Ihre Haube in Fetzen gerissen?«

Und als ich erwidere: »Gewiß hast du das getan, Caroline«, lacht sie wieder und sagt, während sie mir das Gesicht streichelt:

»Weshalb tragen Sie aber auch solche altmodischen Hauben, Sie liebes, altes Wesen? Wenn Sie nicht so eine altmodische Haube aufgehabt hätten, dann glaube ich nicht, daß ich es selbst damals getan hätte.«

Denken Sie sich, so ein Mädel! Ich konnte sie auf keine Weise dazu bringen, mir zu sagen, was sie nun anfangen wollte. Sie sagte bloß immer, oh, es würde ihr schon nicht schlechtgehen, und wir schieden, nachdem sie mir aus Dankbarkeit die Hände geküßt hatte. Ich habe niemals mehr etwas von dem Mädchen gesehen oder gehört, aber ich bin fest überzeugt, daß eine sehr vornehme Haube, die auf Veranlassung eines ungenannten Absenders an einem Samstagabend in einem Wachstuchkorb gebracht wurde, von Caroline kam. Der Überbringer war ein höchst unverschämter junger Sperling von einem Affen, mit schmutzigen Schuhen, der auf der gescheuerten Treppe laut pfiff und an dem Geländer mit einem Reifenstock Harfe spielte.

Welch unchristlichen Verdächtigungen man sich aussetzt, wenn man sich auf das Pensionsgeschäft wirft, das kann ich Ihnen nicht mit Worten schildern. Aber ich bin niemals so ehrlos gewesen, doppelte Schlüssel zu haben, noch möchte ich das gern von Miß Wozenham weiter unten auf der anderen Seite der Straße glauben; ja, ich hoffe sogar aufrichtig, daß das nicht der Fall sein möge, obwohl man andererseits nie wissen kann. Es ist im höchsten Grade verletzend für die Gefühle einer Pensionsinhaberin, daß die Mieter stets denken, man versuche sie zu übervorteilen, und niemals auf den Einfall kommen, daß vielleicht grade sie es sind, die einen übervorteilen möchten. Aber, wie Major Jackman oft zu mir gesagt hat:

»Ich kenne die Gewohnheiten auf diesem runden Erdball, Mrs. Lirriper, und das ist eine davon, die sich überall findet.«

Und manchen kleinen Ärger hat mir der Major schon ausgeredet, denn er ist ein kluger Mensch und hat schon vieles zu sehen bekommen.

Du lieber Gott, sollte man es denken, dreizehn Jahre sind darüber hingegangen, obwohl es mir wie gestern erscheint, daß ich an einem Augustabend am offenen Wohnzimmerfenster saß (denn das Wohnzimmer war gerade frei) und mit der Brille auf der Nase die Zeitung vom vorigen Tag las. Denn meine Augen waren für Druckschrift zu schwach geworden, obwohl ich, dem Himmel sei Dank, gut in die Ferne sehen kann. Auf einmal höre ich einen Gentleman die Straße herauflaufen kommen, der in einer fürchterlichen Wut mit sich selbst spricht und jemand zu allen Teufeln wünscht.

»Bei Sankt-Georg!« sagt er laut und packt seinen Spazierstock fester, »jetzt gehe ich zu Mrs. Lirriper. Wo wohnt Mrs. Lirriper?«

Darauf blickt er sich um, und wie er mich sieht, zieht er den Hut so tief, als wäre ich die Königin, und sagt:

»Verzeihen Sie die Störung, Madam, aber können Sie mir bitte sagen, Madam, in welcher Nummer in dieser Straße eine weitbekannte und allgemein geachtete Dame namens Lirriper wohnt?«

Ein wenig verlegen, obwohl, wie ich gestehen muß, angenehm berührt, nehme ich die Brille ab und sage mit einer Verbeugung:

»Sir, Mrs. Lirriper ist Ihre ergebene Dienerin.«

»Das ist ja erstaunlich!« sagt er darauf. »Bitte tausendmal um Verzeihung! Madam, darf ich Sie bitten, einen Ihrer Bedienten anzuweisen, einem wohnungsuchenden Herrn namens Jackman die Tür zu öffnen?«

Ich hatte den Namen nie zuvor gehört, aber einen höflicheren Gentleman werde ich sicher niemals vor mir sehen, denn er sagte:

»Madam, es ist mir peinlich, daß Sie persönlich die Tür für keinen würdigeren Zeitgenossen als Jemmy Jackman öffnen. Nach Ihnen, Madam. Ich trete niemals vor einer Dame ein.«

Darauf tritt er ins Wohnzimmer, zieht die Luft tief ein und sagt:

»Ah, das ist ein Wohnzimmer! Kein muffiger Schrank«, sagt er, »sondern ein Wohnzimmer, und kein Geruch nach Kohlensäcken.«

Nämlich, meine Liebe, es ist von einigen Leuten, die unseren ganzen Stadtteil nicht mögen, behauptet worden, daß es hier immer nach Kohlensäcken rieche. Und da das geeignet wäre, die Mieter abzuschrecken, wenn man nicht Einspruch dagegen erhebt, sage ich in freundlichem, aber festem Tone zu dem Major, er meine damit wohl Arundel oder Surrey oder Howard, aber nicht Norfolk.

»Madam«, sagt er darauf, »ich meine Miß Wozenhams Pension weiter unten auf der anderen Seite – Madam, Sie können sich keinen Begriff machen, wie es dort zugeht – Madam, die ganze Pension ist ein kolossaler Kohlensack und Miß Wozenham hat die Grundsätze und Manieren eines weiblichen Kohlenträgers – Madam, aus der Art, wie ich sie von Ihnen habe sprechen hören, weiß ich, daß sie eine Dame nicht zu schätzen weiß, und aus der Art, wie sie sich mir gegenüber aufgeführt hat, weiß ich, daß sie einen Gentleman nicht zu schätzen weiß – Madam, mein Name ist Jackman – sollten Sie noch eine weitere Referenz wünschen, so nenne ich die Bank von England – sie ist Ihnen vielleicht bekannt!«

So kam es, daß der Major die Zimmer nach vorn hinaus bezog, und von jener Stunde bis zur heutigen sitzt er darin und ist ein äußerst liebenswürdiger und in jeder Hinsicht pünktlicher Mieter, abgesehen von einer kleinen Unregelmäßigkeit, auf die ich nicht besonders einzugehen brauche. Doch dafür ist er ein Schutz und zu jeder Zeit bereit, die Steuererklärung und dergleichen Sachen auszufüllen. Einmal erwischte er sogar einen jungen Mann mit der Stehuhr aus dem Salon unter dem Rock, und ein andermal löschte er mit seinen eigenen Händen und Bettüchern den Schornstein auf dem Dach; und hinterher bei der Verhandlung sprach er äußerst beredt gegen die Gemeindeverwaltung und ersparte mir die Kosten für die Feuerspritze. Er ist stets ein vollendeter Gentleman, obgleich leicht aufgebracht. Und sicherlich hat Miß Wozenham nicht freundlich darin gehandelt, daß sie seine Koffer und den Regenschirm zurückbehielt, wenn sie auch das gesetzliche Recht dazu haben mochte. Ja, vielleicht hätte ich das selbst auch getan, obwohl der Major so sehr ein Gentleman ist, daß er, obgleich durchaus nicht von hoher Gestalt, doch fast so aussieht, wenn er seinen Gehrock mit der herausgesteckten Hemdkrause an- und seinen Hut mit runder Krempe aufhat. Freilich, in welchem Dienst er war, das kann ich Ihnen nicht mit Bestimmtheit sagen, meine Liebe, ob zu Hause oder in den Kolonien, denn ich habe nie gehört, daß er von sich selbst als Major sprach, sondern er nannte sich immer nur einfach »Jemmy Jackman«. Einmal, kurze Zeit nachdem er eingezogen war, hielt ich es für meine Pflicht, ihm mitzuteilen, Miß Wozenham hätte das Gerücht ausgestreut, er wäre gar kein Major, und ich nahm mir die Freiheit hinzuzufügen: »Was Sie doch sind, Sir.«

Darauf meinte er:

»Madam, auf jeden Fall bin ich kein Minor, und jeder Tag hat seine Plage.«

Auch kann man nicht leugnen, daß das die reine Wahrheit ist, und dafür spricht auch seine soldatische Gewohnheit, daß ihm seine Stiefel, bloß vom Schmutz gesäubert, jeden Morgen auf einer sauberen Platte ins Zimmer gebracht werden müssen, worauf er sie stets nach dem Frühstück mit einem kleinen Schwamm und einer Untertasse, leise vor sich hin pfeifend, selbst wichst. Das macht er so geschickt, daß er sich niemals die Wäsche dabei beschmutzt, die mit peinlicher Sorgfalt im Stande gehalten ist, obwohl sie mehr durch ihre gute Beschaffenheit als durch ihre Menge hervorsticht; und ebensowenig den Schnurrbart, der, wie ich fest überzeugt bin, zur selben Zeit besorgt wird und der denselben tiefschwarzen Glanz aufweist wie seine Stiefel, während sein Haupthaar schön weiß ist.

Der Major wohnte schon seit etwa drei Jahren bei mir, als eines Morgens, früh im Februar, kurz vor Beginn der Parlamentssitzung (und Sie können sich denken, daß um diese Zeit eine Masse Betrüger umherlaufen, bereit, alles einzustecken, dessen sie habhaft werden können) ein Gentleman und eine Dame vom Lande vorsprachen, um sich das zweite Stockwerk anzusehen. Ich erinnere mich noch ganz gut, daß ich am Fenster saß und sie und den schweren Hagel draußen beobachtete, wie sie sich nach Vermietungszetteln umsahen. Das Gesicht des Gentleman wollte mir nicht recht gefallen, obwohl er gut aussah, aber die Dame war eine sehr hübsche junge Frau und so zart, daß das Wetter viel zu rauh für sie zu sein schien, obwohl sie bloß von dem Adelphi Hotel kam, das bei weniger schlechtem Wetter nicht viel mehr als eine Viertelmeile zu Fuß entfernt war. Nun hatte es sich gerade so gefügt, meine Liebe, daß ich genötigt war, auf das zweite Stockwerk fünf Schilling wöchentlich aufzuschlagen. Denn ich hatte einen Verlust gehabt, weil jemand im Abendanzug, als ginge er zu einem Dinner, davongelaufen war, und das ist ein sehr hinterlistiges Verfahren und hatte mich reichlich mißtrauisch gemacht, da ich es mit dem Parlament in Verbindung brachte. Als deshalb der Gentleman drei Monate fest und mit Vorauszahlung vorschlug und sich außerdem das Recht vorbehielt, nach Ablauf dieser Zeit auf weitere sechs Monate zu denselben Bedingungen zu verlängern, da sagte ich, mir käme es so vor, als habe ich mich bereits einem anderen Mieter gegenüber verpflichtet; ich wüßte es aber nicht bestimmt und wollte deshalb einmal nach unten gehen und nachsehen; sie möchten so lange bitte Platz nehmen. Sie nahmen Platz, und ich ging nach unten vor die Tür des Majors, den ich bereits angefangen hatte um Rat zu fragen, da ich das sehr nützlich fand. Ich erkannte an seinem leisen Pfeifen, daß er dabei war, seine Stiefel zu wichsen, wobei er in der Regel nicht gestört werden wollte; jedoch rief er freundlich: »Wenn Sie es sind, Madam, dann treten Sie ein«, und ich trat ein und erzählte ihm die Sache.

»Nun, Madam«, sagte der Major, sich die Nase reibend – ich fürchtete im Augenblick, er täte es mit dem schwarzen Schwamm, aber es war bloß sein Handgelenk, da er mit seinen Fingern immer geschickt und sauber war – »nun, Madam, ich vermute, daß Sie das Geld ganz gern annehmen würden?«

Ich scheute mich, gar zu rasch »ja« zu sagen, denn die Wangen des Majors hatten sich ein wenig tiefer gefärbt und es lag eine Unregelmäßigkeit, auf die ich nicht weiter eingehen will, in bezug auf einen Teil vor, den ich nicht nennen will.

»Ich bin der Ansicht, Madam«, sagte der Major, »daß, wenn Geld für Sie da ist – wenn es für Sie da ist, Mrs. Lirriper –, Sie es annehmen sollten. Was spricht in dem Falle im zweiten Stockwerk dagegen?«

»Ich kann wirklich nicht sagen, daß etwas dagegen spricht, Sir; doch dachte ich, ich wollte mich erst mit Ihnen beraten.«

»Sie sagten, glaube ich, ein jungverheiratetes Paar, Madam?« fragte der Major.

Ich antwortete:

»Ja-a, anscheinend. Die junge Dame bemerkte mir gegenüber jedenfalls beiläufig, sie wäre erst seit ein paar Monaten verheiratet.«

Der Major rieb sich wiederum die Nase und rührte die Wichse in der kleinen Untertasse mit seinem Stückchen Schwamm um und um, während er auf seine Art leise pfiff. Das dauerte einige Augenblicke, dann sagte er:

»Es wäre eine günstige Vermietung, Madam?«

»O ja, eine recht günstige Vermietung, Sir.«

»Angenommen, sie verlängern für die übrigen sechs Monate. Würde es Ihnen sehr viel Schererei machen, Madam, wenn –wenn das Schlimmste sich ereignen sollte?« fragte er.

»Nun, ich weiß nicht recht«, sagte ich zu dem Major. »Es kommt darauf an. Würden Sie zum Beispiel etwas dagegen einzuwenden haben, Sir?«

»Ich?« fragte der Major. »Etwas dagegen einwenden? Jemmy Jackman? Mrs. Lirriper, nehmen Sie an.«

So ging ich also wieder hinauf und nahm an, und am folgenden Tag, einem Sonnabend, zogen sie ein. Der Major war so freundlich, mit seiner hübschen runden Handschrift eine schriftliche Vereinbarung aufzusetzen, deren Wendungen, meiner Ansicht nach, ebenso juristisch wie militärisch klangen, und Mr. Edson unterzeichnete sie am Montagmorgen. Am Dienstag machte der Major Mr. Edson einen Besuch, und Mr. Edson machte dem Major am Mittwoch seinen Gegenbesuch, und der zweite und der erste Stock standen auf so freundschaftlichem Fuße, wie man es nur wünschen konnte.

Die drei Monate, für die die neuen Mieter vorausbezahlt hatten, waren vorüber, und wir waren ohne irgendwelche neue Vereinbarungen über die Bezahlung in den Mai hineingekommen, meine Liebe, als Mr. Edson plötzlich genötigt war, eine Geschäftsreise quer durch die Insel Man zu unternehmen. Das kam für das hübsche kleine Weibchen gänzlich unerwartet, und die Insel Man ist meiner Meinung nach auch kein Ort, mit dem besonders viel los wäre, aber das mag nun Ansichtssache sein. Das Ganze war so plötzlich gekommen, daß er schon am nächsten Tag abreisen mußte, und die hübsche kleine Frau weinte zum Herzzerbrechen, und ich weinte mit ihr, als ich sie in dem scharfen Ostwind – der Frühling hatte sich in diesem Jahr stark verzögert – auf dem kalten Straßenpflaster stehen sah, wie sie noch einen letzten Abschied von ihm nahm. Der Wind zerzauste ihr schönes blondes Haar, und ihre Arme waren um seinen Nacken geschlungen, während er sagte:

»Nun, nun, nun. Jetzt laß mich, Peggy.«

Und jetzt sah man ganz deutlich, daß das, wogegen der Major freundlicherweise nichts einzuwenden haben wollte, wenn es einträte, wirklich eintreten würde, und ich mahnte sie daran, als er fort war und ich sie mit meinem Arm beim Treppensteigen stützte.

»Es wird bald jemand anders da sein, für den Sie sich schonen müssen, mein hübsches Frauchen«, sagte ich, »und Sie müssen stets daran denken.«

Als schon längst ein Brief von ihm hätte da sein sollen, wartete sie immer noch vergebens, und was sie jeden Morgen durchmachte, wenn der Briefträger nichts für sie hatte, das flößte am Ende sogar dem Briefträger selbst Mitleid ein, wie er sie so an die Tür gerannt kommen sah; und doch können wir uns nicht wundern, daß es die Gefühle abstumpft, die ganze Mühe und nichts von dem Vergnügen mit den Briefen anderer Leute zu haben, und dabei meistenteils im Schmutz und Regen herumzulaufen und für eine Bezahlung, die mehr an Klein- als an Großbritannien denken läßt. Endlich aber eines Morgens, als sie sich zu schlecht fühlte, um die Treppe herabzulaufen, sagt er zu mir mit einer freudigen Miene, die mich den Mann in seinem Beamtenrock fast lieben ließ, obwohl er von Nässe triefte:

»Ich habe heute morgen von der ganzen Straße zuerst ihr Haus drangenommen, Mrs. Lirriper, denn hier ist der Brief für Mrs. Edson.«

Ich lief, so schnell mich meine Beine tragen wollten, mit dem Brief in ihr Schlafzimmer hinauf, und als sie ihn sah, setzte sie sich im Bett auf und küßte ihn. Dann riß sie ihn rasch auf und las, und ich sah, wie ihr Gesicht leichenblaß wurde und erstarrte.

»Er ist sehr kurz!« sagte sie, ihre großen Augen zu meinem Gesicht erhebend. »Oh, Mrs. Lirriper, er ist sehr kurz!«

Ich sage darauf:

»Meine liebe Mrs. Edson, zweifellos hatte Ihr Gatte gerade keine Zeit, mehr zu schreiben.«

»Zweifellos, zweifellos«, antwortet sie, schlägt beide Hände vors Gesicht und dreht sich nach der Wand um.

Ich schloß sacht ihre Tür zu, kroch hinunter und pochte an die Tür des Majors, und als er, der gerade dabei war, seine dünnen Schinkenschnitte auf seinem eignen kleinen Bratrost zu rösten, mein Gesicht sah, stand er von seinem Stuhl auf und ließ mich auf das Sofa niedersitzen.

»Still!« sagte er. »Ich sehe, es ist etwas vorgefallen. Sprechen Sie nicht – lassen Sie sich Zeit.«

Ich erwiderte darauf:

»Oh, Major, ich fürchte, oben wird eine Seele grausam gequält.«

»Ja, ja«, sagte er, »ich hatte angefangen, es zu befürchten – lassen Sie sich Zeit.«

Und dann beginnt er im Widerspruch zu seinen Worten fürchterlich zu toben und sagt:

»Ich werde es mir niemals verzeihen, Madam, daß ich, Jemmy Jackman, die ganze Sache nicht gleich an jenem Morgen durchschaute – daß ich nicht mit meinem Stiefelschwämmchen in der Hand hinaufging, es ihm in den Hals stopfte und ihn auf der Stelle damit erstickte!«

Als wir uns einigermaßen gefaßt hatten, kamen der Major und ich überein, daß alles, was wir im Augenblick tun konnten, darin bestand, uns so zu stellen, als argwöhnten wir nichts, und dafür zu sorgen, daß die arme junge Frau möglichst viel Ruhe hätte. Was ich aber ohne den Major angefangen hätte, als es unter den Leierkastenmännern bekannt wurde, daß wir Ruhe haben wollten, das weiß ich wirklich nicht. Denn er führte einen erbitterten Krieg mit ihnen, in dem Grade, daß ich, hätte ich es nicht mit eigenen Augen gesehen, niemals hätte glauben können, ein Gentleman könne derartig mit Schüreisen, Spazierstöcken, Wasserkannen, Kohlen, Kartoffeln aus der Schüssel, ja sogar mit dem Hut von seinem Kopf um sich werfen; und dabei tobte er dermaßen in fremden Sprachen, daß sie mit dem Griff in der Hand erstarrt stehenblieben.

Sooft ich jetzt den Briefträger sich dem Haus nähern sah, geriet ich in derartige Angst, daß es wie die Gewährung einer Galgenfrist war, wenn er vorüberging. Aber etwa zehn oder vierzehn Tage später sagt er wiederum:

»Hier ist einer für Mrs. Edson. Befindet sie sich einigermaßen wohl?«

»Sie befindet sich soweit wohl, Briefträger, aber nicht wohl genug, um so früh wie sonst aufzustehen.« Und das entsprach schließlich auch vollkommen der Wahrheit.

Ich brachte den Brief zum Major, der bei seinem Frühstück saß, und ich sagte bebend:

»Major, ich habe nicht den Mut, ihn zu ihr hinaufzutragen.«

»Es ist ein übelaussehender Schurke von einem Brief«, sagt der Major.

»Ich habe nicht den Mut, Major«, sagte ich wiederum zitternd, »ihn zu ihr hinaufzutragen.«

Nachdem er einige Augenblicke lang nachgedacht zu haben schien, sprach er, während er den Kopf aufrichtete, als ob ihm ein neuer und zweckdienlicher Gedanke gekommen sei:

»Mrs. Lirriper, ich werde es mir niemals verzeihen, daß ich, Jemmy Jackman, an jenem Morgen nicht mit meinem Stiefelschwämmchen in der Hand hinaufging, es ihm in den Hals stopfte und ihn auf der Stelle damit erstickte.«

»Major«, sagte ich ein wenig rasch, »Sie haben es nicht getan, und das ist ein Glück, denn es wäre nichts Gutes dabei herausgekommen, und ich glaube, Sie haben besser daran getan, Ihr Schwämmchen für Ihre Stiefel zu benutzen.«

So kamen wir denn dahin, die Sache vernünftig zu betrachten, und faßten den Plan, daß ich an ihre Schlafzimmertür anklopfen, den Brief auf die Matte davor niederlegen und auf dem oberen Treppenabsatz abwarten sollte, was sich ereignen würde. Das tat ich nun, und nie hat ein Mensch vor Schießpulver, Kanonenkugeln, Granaten oder Raketen mehr Angst gehabt als ich vor diesem entsetzlichen Brief, als ich ihn in das zweite Stockwerk hinauftrug.

Ein furchtbarer Aufschrei gellte durch das Haus, wenige Augenblicke nachdem sie den Brief geöffnet hatte, und ich fand sie wie leblos auf dem Boden liegen. Meine Liebe, ich warf keinen Blick auf den geöffnet neben ihr liegenden Brief, denn ich hatte keine Zeit dazu.

Alles, was ich brauchte, um sie wieder zu sich zu bringen, trug der Major mit eignen Händen herbei. Außerdem lief er nach dem, was wir nicht im Hause hatten, zum Apotheker, und schließlich bestand er das wildeste aller seiner vielen Scharmützel mit einem Leierkasten, auf dem ein Tanzsaal dargestellt war, ich weiß nicht in welchem Land, und darauf tanzende Paare, die mit rollenden Augen durch eine Flügeltür aus und ein walzten. Als ich nach langer Zeit wahrnahm, wie sie sich zu erholen begann, glitt ich auf den Treppenabsatz hinaus, bis ich sie weinen hörte, und dann ging ich hinein und sagte mit munterer Stimme: »Mrs. Edson, Sie sind nicht wohl, meine Liebe, und das ist nicht zu verwundern«, als wäre ich zuvor gar nicht drin gewesen. Ob sie es mir glaubte oder nicht, das kann ich nicht sagen, und es kommt auch nicht darauf an, aber ich blieb stundenlang bei ihr, und dann flehte sie Gottes Segen auf mich herab und meinte, sie wolle zu schlafen versuchen, denn der Kopf tue ihr weh.

»Major«, flüsterte ich, zum ersten Stock hereinblickend, »ich bitte Sie und flehe Sie an, gehen Sie nicht aus.«

Der Major flüsterte:

»Madam, seien Sie versichert, ich werde hierbleiben. Wie geht es ihr?«

Ich sage darauf:

»Major, Gott der Herr über uns weiß allein, was in ihrer armen Seele brennt und tobt. Ich verließ sie, während sie an ihrem Fenster saß. Ich gehe, um mich an das meinige zu setzen.«

Es wurde Nachmittag, und es wurde Abend. In der Norfolk Street wohnt es sich sehr schön – mit Ausnahme von weiter unten –, aber an Sommerabenden, wenn die Straße staubig ist und weggeworfenes Papier darauf herumliegt, wenn die Kinder dort spielen und die staubig-heiße Luft still brütend darüberliegt, während in der Nachbarschaft ein paar Kirchenglocken läuten, ist sie ein wenig langweilig. Seit jenem Vorfall habe ich niemals zu einer solchen Zeit auf die Straße blicken können und werde es in alle Zukunft niemals tun können, ohne daß mir der langweilige Juniabend in der Erinnerung aufsteigt, als dieses verlassene junge Geschöpf an ihrem offenen Eckfenster im zweiten Stock und ich an meinem offnen Eckfenster (an der andern Ecke) im dritten Stock saß. Eine gnädige Macht, eine Macht, die bei weitem weiser und besser war als ich selbst, hatte mir eingegeben, solange es noch hell war, in Hut und Schal dazusitzen. Als die Schatten fielen und die Flut stieg, konnte ich bisweilen sehen – wenn ich den Kopf zum Fenster hinausstreckte und nach ihrem Fenster unter mir blickte –, daß sie sich ein wenig hinauslehnte und die Straße hinabschaute. Es wurde gerade dunkel, als ich sie auf der Straße sah.

Von einer solchen Angst erfüllt, ich könnte sie aus den Augen verlieren, daß sie mir noch jetzt, wo ich es erzähle, fast den Atem benimmt, rannte ich, schneller als ich je in meinem ganzen Leben gelaufen bin, die Treppe hinunter. Ich schlug nur einmal im Vorübergehen mit der Hand an die Tür des Majors und schlüpfte auf die Straße. Ich sah sie nicht mehr. Ich lief mit derselben Schnelligkeit die Straße hinunter, und als ich an der Ecke der Howard Street anlangte, sah ich, daß sie in diese eingebogen war und vor mir nach Westen zu ging. Oh, mit welch dankerfülltem Herzen sah ich sie dahinschreiten!

London war ihr gänzlich unbekannt, und sie war selten über die Umgebung unseres Hauses hinausgekommen. Sie hatte mit ein paar kleinen Kindern aus der Nachbarschaft Bekanntschaft gemacht, stand bisweilen bei ihnen auf der Straße und blickte nach dem Wasser. Sie ging jetzt aufs Geratewohl, wie ich wußte, aber dabei schlug sie doch immer die richtigen Seitenstraßen ein, bis sie an den Strand kam. An jeder Ecke sah ich, wie ihr Kopf beständig einer bestimmten Richtung zugekehrt war, und das war stets die Richtung nach dem Fluß.

Vielleicht war es nur die Dunkelheit und Stille der Adelphi-Terrasse, die sie veranlaßte, in diese einzubiegen, aber sie tat es so entschlossen, als ob diese von Anfang an ihr Ziel gewesen wäre. Vielleicht war es auch wirklich so. Sie ging geradewegs auf die Terrasse zu und an ihr entlang und blickte dabei über das Geländer, und noch oft in späterer Zeit fuhr ich in meinem Bett aus einem Angsttraum empor, indem ich sie wie in jenem Augenblick vor mir sah. Die Verlassenheit des Kais unterhalb und das rasche Strömen der hohen Flut an dieser Stelle schienen sie zu locken. Sie warf einen Blick um sich, wie um den Weg nach unten herauszufinden, und schlug den richtigen oder den falschen Weg ein – ich weiß nicht welchen, denn ich bin vorher oder nachher nie dort gewesen –, während ich ihr folgte.

Es war bemerkenswert, daß sie während dieser ganzen Zeit nicht ein einziges Mal zurückblickte. Aber in ihrem Gang war jetzt eine große Veränderung wahrzunehmen; denn während sie bisher einen gleichmäßigen raschen Schritt eingehalten hatte, wobei ihre Arme auf der Brust gekreuzt waren, lief sie unter den unheimlich finsteren Wölbungen in wilder Eile mit weitgeöffneten Armen dahin, als wären es Flügel und sie flöge zum Tod.

Wir befanden uns jetzt auf dem Kai, und sie blieb stehen. Auch ich machte halt. Ich sah, wie ihre Hände nach ihren Hutbändern griffen – im nächsten Augenblick war ich zwischen ihr und dem Kairand und faßte sie mit beiden Armen um den Leib. Sie hätte mich mit in die Tiefe reißen können, aber unter keinen Umständen wäre es ihr gelungen, sich von mir loszumachen – das sichere Gefühl hatte ich.

Bis zu diesem Augenblick war es in meinem Kopf ganz wirr gewesen, und ich hatte nicht die geringste Ahnung gehabt, was ich zu ihr sagen sollte, aber sowie ich sie berührte, kam es wie ein Zauber über mich, und ich war im Besitz meiner natürlichen Stimme und meines Verstandes und konnte fast wieder ruhig atmen.

»Mrs. Edson!« sage ich. »Meine Liebe! Sehen Sie sich vor. Wie konnten Sie sich bloß verirren und an einem so gefährlichen Ort wie diesen geraten? Sie müssen doch wirklich durch die verwickeltsten Straßen in ganz London hierhergekommen sein. Kein Wunder, daß Sie sich verirrt haben. Und gerade an diesem Ort! Ich dachte wahrhaftig, hier käme nie ein Mensch hin, ausgenommen ich selbst, um meine Kohlen zu bestellen, und der Major aus dem ersten Stock, um seine Zigarre zu rauchen!« – denn ich sah diesen gesegneten Mann ganz in der Nähe, wie er so tat, als rauche er.

»Ha – Ha – Hum!« hustet der Major.

»Und wahrhaftig«, sage ich, »da ist er!«

»Hallo! Wer da?« sagt der Major in militärischem Ton.

»Nun!« antwortete ich. »Das ist doch die Höhe! Kennen Sie uns nicht, Major Jackman?«

»Hallo!« sagt der Major. »Wer ruft Jemmy Jackman an?« Und dabei war er ganz außer Atem und spielte seine Rolle weniger natürlich, als ich es erwartet hätte.

»Hier ist Mrs. Edson, Major«, sage ich. »Sie hat einen Spaziergang gemacht, um ihren armen Kopf zu kühlen, der ihr sehr weh getan hat; sie ist dabei vom Weg abgekommen und hat sich verirrt, und Gott weiß, wohin sie noch geraten wäre, wenn ich nicht gerade des Wegs dahergekommen wäre, um in den Briefkasten meines Kohlenlieferanten eine Bestellung einzuwerfen, und Sie nicht hier herumspazierten, um Ihre Zigarre zu rauchen! – Und Sie sind wirklich nicht wohl genug, meine Liebe«, sage ich zu ihr, »um sich ohne mich auch nur halb so weit von zu Hause zu entfernen. – Und Ihr Arm wird sicherlich sehr willkommen sein, Major«, sage ich zu ihm, »ich weiß, sie darf sich, so schwer sie will, darauf lehnen.«

Und mittlerweile hatten wir es soweit gebracht – dem Allmächtigen sei Dank! –, daß sie zwischen uns beiden dahinschritt.

Ein kalter Schauer schüttelte sie vom Kopf bis zu den Füßen, und das Zittern hörte nicht auf, bis ich sie auf ihr Bett legte. Bis zum frühen Morgen hielt sie meine Hand fest und jammerte und jammerte: »Oh, der Elende, der Elende, der Elende!« Aber als ich schließlich so tat, als ob der Kopf mir schwer würde und ein tiefer Schlaf mich übermannte, hörte ich, wie das arme junge Weib mit so rührenden und demutsvollen Worten dem Himmel dankte, daß sie davor bewahrt geblieben sei, sich in ihrer Raserei das Leben zu nehmen, daß ich glaubte, ich müßte mir auf der Bettdecke die Augen ausweinen, und ich wußte, daß sie es nicht wieder versuchen würde.

Da es mir gutging und ich die Ausgabe tragen konnte, schmiedete ich am folgenden Tag mit dem Major meine Pläne, während sie den tiefen Schlaf der Erschöpfung schlief; sobald es anging, sagte ich zu ihr:

»Mrs. Edson, meine Liebe, als Mr. Edson mir die Miete für diese weiteren Monate bezahlte …«

Sie fuhr empor, und ich fühlte, wie ihre großen Augen auf mich gerichtet waren, aber ich fuhr mit meiner Rede und meiner Nadelarbeit fort.

»… ich bin nicht ganz sicher, ob ich die Quittung richtig datierte. Könnten Sie sie mir einmal zeigen?«

Sie legte ihre eiskalte Hand auf die meine und sah mich durchbohrend an, als ich genötigt war, von meiner Nadelarbeit aufzublicken. Aber ich hatte die Vorsicht gebraucht, meine Brille aufzusetzen.

»Ich habe keine Quittung«, sagte sie darauf.

»Ah! Dann hat er sie«, sagte ich in gleichgültigem Ton. »Es kommt nicht darauf an. Eine Quittung ist eine Quittung.«

Von dieser Zeit an hielt sie stets meine Hand in der ihrigen, wenn ich sie ihr reichen konnte, und das war in der Regel nur dann der Fall, wenn ich ihr vorlas. Denn natürlich hatten sie und ich viel mit der Nadel zu tun, und keine von uns beiden hatte ein besonderes Geschick für diese kleinen Wäschestückchen, obwohl ich in Anbetracht der Umstände auf meinen Anteil daran ziemlich stolz bin. Und obwohl sie auf alles achtete, was ich ihr vorlas, so schien es mir doch, daß neben der Bergpredigt es sie am meisten fesselte, wenn ich von dem sanften Mitleid unseres Herrn mit uns armen Frauen las und von seiner Jugend, und wie seine Mutter stolz auf ihn war und alle seine Reden in ihrem Herzen bewahrte. In ihren Augen lag ein dankbarer Ausdruck, der niemals bis an mein Lebensende meinem Gedächtnis entschwinden wird, und wenn ich sie zufällig ansah, so traf ich stets auf diesen dankbaren Blick. Oft bot sie mir auch ihre zitternden Lippen zum Kuß, viel mehr wie ein liebevolles Kind, dessen Herz vom Kummer halb gebrochen ist, als wie ich es mir von einem erwachsenen Menschen denken könnte.

Einmal war das Zittern dieser armen Lippen so stark, und ihre Tränen strömten so reichlich, daß ich glaubte, sie wolle mir all ihr Leid erzählen; deshalb nahm ich ihre beiden Hände zwischen die meinen und sagte:

»Nein, mein liebes Kind, nicht jetzt. Es ist am besten, wenn Sie jetzt nicht davon sprechen. Warten Sie auf bessere Zeiten, wenn Sie darüber hinweggekommen sind und sich wieder kräftig fühlen; dann sollen Sie mir erzählen, soviel Sie wollen. Soll das zwischen uns ausgemacht sein?«

Während wir uns noch an den Händen hielten, nickte sie viele Male hintereinander mit dem Kopf, hob meine Hände hoch und drückte sie an Lippen und Herz.

»Nur noch ein Wort jetzt, mein liebes Kind«, sagte ich. »Gibt es jemand?«

Sie blickte mich fragend an.

»Zu dem ich gehen kann?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Niemand, den ich zu Ihnen bringen kann?«

Sie schüttelte den Kopf.

» Ich brauche niemand, meine Gute. Das ist jetzt alles vorbei und dahin.«

Etwa eine Woche später – denn als diese Unterredung stattfand, hatte sie schon lange so dagelegen – beugte ich mich über ihr Bett mit meinem Ohr an ihren Lippen, abwechselnd auf ihren Atem lauschend und nach einem Zeichen des Lebens in ihrem Gesicht spähend. Schließlich kam dieses ersehnte Zeichen in einer feierlichen Weise – nicht wie ein Aufzucken, sondern wie eine Art blasses, schwaches Licht, das ganz allmählich das Gesicht erhellte.

Sie sagte etwas zu mir, das keinen Laut gewann, aber ich sah, daß sie mich fragte:

»Ist dies der Tod?«

Worauf ich erwiderte:

»Mein armes, liebes, gutes Kind, ich glaube, es ist so.«

Ich wußte irgendwie, daß sie den Wunsch hatte, ihre schwache rechte Hand zu bewegen. Ich nahm sie also, legte sie ihr auf die Brust und faltete ihre Linke darüber, und sie betete ein inniges Gebet, in das ich arme alte Frau einstimmte, obwohl kein Wort gesprochen wurde. Dann brachte ich das Kindchen in den Windeln herbei und sagte:

»Mein liebes Kind, dies ist einer kinderlosen alten Frau gesendet. Dies ist mir anvertraut.«

Zum letzten Male streckte sich die zitternde Lippe mir entgegen, und ich küßte sie innig.

»Ja, mein Kind«, sagte ich. »So Gott will! Mir und dem Major.«

Ich weiß nicht, wie ich es mit den rechten Worten schildern soll, aber ich sah ihre Seele sich erhellen und froh werden, und mit einem letzten Blick wurde sie frei und flog davon.

Das ist also das Wie und Warum, meine Liebe, daß wir ihn nach seinem Paten, dem Major, Jemmy nannten; sein Familienname aber war Lirriper nach mir selbst. Und niemals ist ein Kind solch ein Sonnenschein in einer Pension und solch ein lieber Spielkamerad für seine Großmutter gewesen, wie es Jemmy für dieses Haus und für mich war. Er war immer gut und hörte auf das, was man ihm sagte (meistens), er wirkte besänftigend aufs Gemüt und machte alle Dinge angenehmer, mit Ausnahme des Falles, als er alt genug war, um seine Mütze in Miß Wozenhams Luftschacht hinunterfallen zu lassen, und sie sie ihm nicht hinaufreichen wollten. Da geriet ich in Wut, nahm meinen besten Hut, Handschuhe und Sonnenschirm, und mit dem Kind an der Hand sage ich:

»Miß Wozenham, ich habe nicht erwartet, jemals Ihr Haus zu betreten, aber wenn die Mütze meines Enkels nicht augenblicklich zurückgegeben wird, so sollen die Gesetze dieses Landes, die die Eigentumsrechte der Untertanen regeln, schließlich zwischen mir und Ihnen entscheiden, koste es, was es wolle.«

Mit einem höhnischen Zug im Gesicht, der, wie es mir schien, auf doppelte Schlüssel deutete – aber das konnte auch eine Täuschung sein, und wenn noch irgendein Zweifel besteht, so mag Miß Wozenham den ganzen Vorteil davon haben, wie es recht ist –, klingelt sie und fragt:

»Jane, liegt etwa eine alte Mütze von einem Gassenjungen in unserem Schacht unten?«

Darauf sage ich:

»Miß Wozenham, bevor Ihr Mädchen diese Frage beantwortet, muß ich Ihnen ins Angesicht sagen, daß mein Enkel kein Gassenjunge ist und keine alten Mützen zu tragen pflegt. Wirklich, Miß Wozenham«, fügte ich hinzu, »ich bin keineswegs sicher, ob die Mütze meines Enkels nicht neuer als Ihre Haube ist.«

Das war einfach wild von mir, da ihre Spitze das gewöhnlichste Maschinenzeug und noch dazu verwaschen und zerrissen war, aber ihre Unverschämtheit hatte mich zu sehr gereizt.

Darauf antwortete Miß Wozenham mit gerötetem Gesicht:

»Jane, du hast meine Frage gehört. Liegt die Mütze eines Kindes unten in unserem Schacht?«

»Ja, Ma’am«, sagt Jane, »ich glaube, ich sah da irgendwelchen Unrat herumliegen.«

»Dann«, sagt Miß Wozenham, »laß diese Besucher hinaus und wirf den wertlosen Gegenstand hinauf, daß er uns aus dem Hause kommt.«

Aber hier runzelt der Kleine, der Miß Wozenham die ganze Zeit angestarrt hatte, seine kleinen Augenbrauen, schürzt seine kleinen Lippen, stellt seine rundlichen Beinchen weit auseinander, dreht seine dicken Fäustchen langsam umeinander, wie eine kleine Kaffeemühle, und sagt zu ihr:

»Wer zu meiner Großmutti unverschämt ist, bekommt’s mit mir zu tun!«

»Oh!« sagt Miß Wozenham, verächtlich auf den Knirps niederblickend. »Das ist kein Gassenjunge, was?«

Ich breche in Lachen aus und sage:

»Miß Wozenham, wenn Sie nicht finden, daß das ein hübscher Anblick ist, so beneide ich Ihre Gefühle nicht, und ich wünsche Ihnen guten Tag. Jemmy, komm mit Großmutti.«

Ich war in der besten Stimmung, obwohl seine Mütze in die Straße hinaufgeflogen kam, als würde sie aus dem Wasserrohr herausgeschossen, und auf dem Nachhauseweg lachte ich die ganze Zeit über, alles wegen dieses lieben Jungen.

Die vielen, vielen Meilen, die ich und der Major mit Jemmy in der Dämmerung gereist sind, lassen sich nicht berechnen. Jemmy saß als Kutscher auf dem Bock, der des Majors metallbeschlagenes Schreibpult auf dem Tisch ist, ich saß im Lehnstuhl, und der Major stand dahinter als Schaffner und machte seine Sache mit einer Tüte aus braunem Papier ganz prachtvoll. Ich versichere Ihnen, meine Liebe, daß zuweilen, wenn ich auf meinem Platz im Innern der Kutsche ein wenig eingenickt war und durch das plötzliche Aufflackern des Feuers halb wach wurde und hörte, wie unser kleiner Liebling die Pferde antrieb und der Major hinten ins Horn blies, damit die Wechselpferde bereit ständen, sobald wir an dem Gasthof anlangten – daß ich dann halb glaubte, wir wären auf der alten nach Norden führenden Landstraße, die mein armer Lirriper so gut kannte. Wenn dann das Kind und der Major, beide tief vermummt, abstiegen, um sich die Füße zu wärmen, stampfend auf und ab gingen und Gläser voll Bier aus den papiernen Zündbüchsen auf dem Kamin tranken, so war der Major ebenso mit Leib und Seele bei dem Spiel wie das Kind, und keine Komödie konnte einem größeres Vergnügen bereiten, als wenn der kleine Kutscher den Kutschenschlag öffnete, den Kopf zu mir hereinsteckte und sagte:

»Sehr schnell gefahren. – Angst gehabt, alte Dame?«

Aber meine unaussprechlichen Gefühle, als uns das Kind abhanden gekommen war, können nur mit denen des Majors verglichen werden, die um kein Haar besser waren. Fünf Jahre alt war er und elf Uhr vormittags war es, als er davonlief; und er ließ nichts von sich hören bis um halb zehn Uhr abends, als der Major auf die Redaktion der Times gegangen war, um eine Annonce aufzugeben. Diese erschien auch am nächsten Tage, vierundzwanzig Stunden, nachdem er gefunden worden war, und ich werde sie bis an mein Lebensende sorgfältig in meiner Lavendelkommode aufbewahren als den ersten gedruckten Bericht über ihn. Je mehr der Tag fortschritt, desto mehr geriet ich außer mir, und dem Major erging es ebenso. Und durch die seelenruhige Art der Schutzleute gerieten wir beide in einen noch schlimmeren Zustand. Sie waren zwar sehr höflich und freundlich, weigerten sich aber hartnäckig, daran zu glauben, daß der Kleine gestohlen worden wäre.

»Wir machen meist die Erfahrung, Ma’am«, sagte der Sergeant, der gekommen war, um mich zu trösten, was ihm aber durchaus nicht gelang – er war einer von den Schutzleuten aus Carolines Zeiten, worauf er auch in seinen einleitenden Worten anspielte, indem er sagte: »Machen Sie sich keine Sorgen, Ma’am, es wird alles wieder so in Ordnung kommen wie meine Nase, als das junge Mädel in Ihrem zweiten Stockwerk sie mir zerkratzt hatte« – dieser Sergeant sagte also: »Wir machen meist die Erfahrung, Ma’am, daß die Leute nicht allzusehr darauf aus sind, Kinder aus zweiter Hand, wie ich es nennen möchte, zu haben. Sie werden ihn wiederbekommen, Ma’am.«

»Oh, aber mein lieber guter Sir«, sagte ich, indem ich die Hände zusammenschlug, sie rang und sie wieder zusammenschlug, »es ist solch ein ungewöhnliches Kind!«

»Ja, Ma’am«, sagte der Sergeant, »wir machen auch meist diese Erfahrung. Die Frage ist, wieviel seine Kleider wert sind.«

»Seine Kleider«, sagte ich, »sind nicht viel wert, denn er hatte bloß seinen Spielanzug an. Aber das liebe Kind!«

»Schon gut, Ma’am«, sagte der Sergeant. »Sie werden ihn wiederbekommen, Ma’am. Und selbst wenn er seine besten Kleider angehabt hätte, so würde doch nichts Schlimmeres passieren, als daß man ihn, in ein Kohlblatt eingehüllt, zitternd in einem Gäßchen fände.«

Seine Worte durchbohrten mein Herz wie ebenso viele Dolche, und ich und der Major liefen den ganzen Tag über wie wilde Tiere aus und ein, bis der Major, von seinem nächtlichen Besuch auf der Redaktion der Times zurückkehrend, außer sich vor Freude in meine Kammer stürzte, mir die Hand drückte und, sich die Augen wischend, sagte:

»Freude – Freude – ein Schutzmann in Zivil kam die Hausstufen herauf, als ich gerade aufschloß – beruhigen Sie sich – Jemmy ist gefunden.«

Infolgedessen fiel ich in Ohnmacht, und als ich wieder zu mir kam, umschlang ich die Beine des Schutzmanns in Zivil, der einen braunen Backenbart trug und der im Geiste ein Inventar der Gegenstände meiner Kammer aufzunehmen schien.

»Gott segne Sie, Sir«, rief ich, »wo ist der Liebling?«

Und er sagte:

»Auf der Wache in Kennington.«

Ich war im Begriff, umzusinken bei der Vorstellung, die kleine Unschuld sei mit Mördern in einer Zelle zusammen, als er hinzufügte:

»Er folgte dem Affen.«

Da ich das für einen Slangausdruck hielt, sagte ich:

»O Sir, erklären Sie einer liebenden Großmutter, was für ein Affe!«

Darauf er:

»Der in der Kappe mit den Flittern und dem Riemen unter dem Kinn, die niemals oben bleiben will – der, der auf einem runden Tisch die Straßenecken fegt und nicht öfter seinen Säbel ziehen will, als nötig ist.«

Da begriff ich die ganze Sache und dankte ihm von ganzem Herzen. Ich fuhr dann mit ihm und dem Major nach Kennington, und dort fanden wir unsern Jungen, wie er ganz behaglich vor einem lustigen Feuer lag. Er hatte sich auf einer kleinen Ziehharmonika von der Größe eines Bügeleisens, die einem jungen Mädchen abgenommen worden war und die man ihm zu diesem Zweck überlassen hatte, süß in den Schlaf gespielt.

Meine Liebe, das System, nach dem der Major Jemmy zu unterrichten begann und ihn, wie ich wohl sagen kann, zur Vollkommenheit führte, sollte vor dem Thron und im Ober- und Unterhaus bekanntgemacht werden. Dann würde der Major wohl die Beförderung erhalten, die er vollauf verdient und die er (unter uns gesagt) auch in finanzieller Beziehung sehr gut gebrauchen könnte. Jemmy war damals noch so klein, daß man, wenn er auf der anderen Seite des Tisches stand, unter den Tisch, statt über ihn blicken mußte, um das Lockenköpfchen mit dem schönen blonden Haar, das er von seiner Mutter hatte, zu Gesicht zu bekommen. Als der Major anfing, ihn zu unterrichten, sagt er zu mir:

»Ich beabsichtige, Madam«, sagte er, »aus unserem Kinde einen rechnenden Jungen zu machen.«

»Major«, sage ich, »Sie erschrecken mich. Sie können dem Liebling einen dauernden Schaden zufügen, den Sie sich niemals vergeben würden.«

»Madam«, meint der Major, »nach meiner Reue darüber, daß ich damals den Schurken nicht mit meinem Stiefelschwämmchen auf der Stelle erstickt habe …«

»Still! Um Gottes willen!« unterbreche ich ihn. »Möge ihn sein Gewissen ohne Schwämmchen ausfindig machen.«

»… ich sage, nach meiner Reue darüber, Madam«, fährt er fort, »würde die Reue kommen, die meine Brust«, auf die er sich schlägt, »bedrängen würde, wenn dieser glänzende Verstand nicht frühzeitig entwickelt würde. Aber verstehen Sie wohl, Madam«, sagt der Major, »entwickelt nach einem Prinzip, das das Lernen zur Lust machen wird.«

»Major«, sage ich, »ich will aufrichtig gegen Sie sein und sage Ihnen geradeheraus, wenn ich je finde, daß das liebe Kind nicht mehr so gut ißt, dann werde ich wissen, es sind seine Rechenaufgaben, und in diesem Falle mache ich ihnen in zwei Minuten ein Ende. Oder wenn ich finde, daß sie ihm zu Kopf steigen«, sage ich, »oder sich ihm kalt auf den Magen legen oder zu etwas wie Schwäche in seinen Beinen Anlaß geben, dann wird das Resultat dasselbe sein. Aber, Major, Sie sind ein kluger Mann und haben viel gesehen, und Sie lieben das Kind und sind sein Pate, und wenn Sie es für richtig halten, den Versuch zu machen, so tun Sie es.«

»Gesprochen, Madam«, sagt der Major, »wie Emma Lirriper. Ich bitte Sie nur darum, Madam, daß Sie meinem Patenkind und mir eine Woche oder zwei für die Vorbereitung Zeit lassen wollen, um Sie zu überraschen, und daß Sie mir gestatten wollen, mir gelegentlich einige kleine, gerade nicht benutzte Gegenstände aus der Küche heraufbringen zu lassen, die ich brauche.«

»Aus der Küche, Major?« frage ich mit einer unklaren Vorstellung, als beabsichtige er, das Kind zu kochen.

»Aus der Küche«, erwiderte der Major und lächelt und scheint gleichzeitig größer zu werden.

So willigte ich denn ein, und der Major und der liebe Junge schlossen sich eine Zeitlang auf jeweils eine halbe Stunde ein. Niemals konnte ich wahrnehmen, daß etwas anderes zwischen ihnen vorging, als daß geschwatzt und gelacht wurde und daß Jemmy in die Hände klatschte und Zahlen schrie. Infolgedessen sagte ich zu mir selbst: »Es hat ihm noch nicht geschadet.« Auch konnte ich, wenn ich mir den lieben Jungen daraufhin ansah, nirgends an ihm etwaige Zeichen entdecken, daß es ihm nicht zusagte, was gleichfalls eine große Erleichterung für mich war. Schließlich bringt mir eines Tages Jemmy eine scherzhafte Einladungskarte, auf der in des Majors sauberer Handschrift geschrieben steht:

»Die Herren Jemmy Jackman«, denn wir hatten ihm noch den anderen Namen des Majors beigelegt, »geben sich die Ehre, um Mrs. Lirripers Anwesenheit in dem Jackman-Institut im ersten Stock heute abend um fünf Uhr (mit militärischer Pünktlichkeit) zu bitten, um einigen kleinen Vorführungen in elementarer Arithmetik beizuwohnen.«

Und wenn Sie mir glauben wollen, auf die Minute pünktlich um fünf Uhr stand der Major im Wohnzimmer des ersten Stocks hinter dem zu beiden Seiten aufgezogenen Klapptisch, auf dem eine Menge Küchengegenstände auf altem Zeitungspapier fein säuberlich aufgestellt waren, und da stand auch der Knirps auf einem Stuhl, seine rosigen Bäckchen flammten, und seine Augen blitzten wie Diamanten.

»Nun, Großmutti«, sagt er, »setz dich hin und rühre niemanden an.« Denn er hatte mit seinen beiden Diamanten gesehen, daß ich beabsichtigte, ihn an mich zu drücken.

»Sehr wohl, Sir«, sage ich. »In dieser guten Gesellschaft tue ich natürlich, was man von mir verlangt.«

Und damit setze ich mich in den Lehnstuhl, der für mich bereitgestellt war, und schüttle mich vor Lachen. Aber stellen Sie sich mein Erstaunen vor, als der Major mit so raschen Bewegungen, als wäre er ein Zauberkünstler, alle Gegenstände, die er nennt, auf dem Tisch zusammenstellt und dabei sagt:

»Drei Untertassen, ein Kräuseleisen, eine Handglocke, eine Röstgabel, ein Reibeisen, vier Topfdeckel, eine Gewürzbüchse, zwei Eierbecher und ein Hackbrett – das macht zusammen?«

Worauf der Knirps augenblicklich ausruft: »Fünfzehn.« Dann klatscht er in die Hände, zieht seine Beine hoch und tanzt auf seinem Stuhl.

Meine Liebe, mit derselben verblüffenden Leichtigkeit und Richtigkeit rechneten er und der Major die Tische, die Stühle und das Sofa, die Bilder an der Wand, das Kamingitter und die Schüreisen, ihre beiden Personen, mich, die Katze und die Augen in Miß Wozenhams Kopf zusammen, und sooft das Resultat herauskommt, klatscht mein rosig-diamantner Junge in die Hände, zieht seine Beine hoch und tanzt auf seinem Stuhl herum.

Den Stolz des Majors hätten Sie sehen müssen!

» Das ist ein Verstand, Ma’am!« sagt er hinter der vorgehaltenen Hand zu mir.

Dann sagt er laut:

»Wir kommen nun zu der zweiten Elementarregel, die genannt wird …«

»Subtraktion!« ruft Jemmy.

»Richtig«, sagt der Major. »Wir haben hier eine Röstgabel, eine ungeschälte Kartoffel, zwei Topfdeckel, einen Eierbecher, einen hölzernen Löffel und zwei Bratspieße, von denen für geschäftliche Zwecke abgezogen werden müssen ein Sprottenbratrost, ein kleines Einmachegefäß, zwei Zitronen, eine Pfefferbüchse, ein Küchenschabenfänger und ein Knopf von dem Speiseschrankkasten – was bleibt?«

»Die Röstgabel!« ruft Jemmy.

»In Zahlen wieviel?« sagt der Major.

»Eins!« ruft Jemmy.

»Das ist ein Junge, Ma’am!« sagt der Major hinter der Hand zu mir.

Dann fährt er fort.

»Wir kommen jetzt zur nächsten Elementarregel …«

»Multiplikation!« ruft Jemmy.

»Richtig«, sagt der Major.

Aber, meine Liebe, Ihnen im einzelnen zu schildern, wie sie vierzehn Scheite Feuerholz mit zwei Stück Ingwer und einer Spicknadel multiplizierten oder so ziemlich alles, was sonst auf dem Tisch stand, durch den Stahl des Kräuseleisens und einen Zimmerleuchter dividierten und eine Zitrone übrigbehielten, würde mir den Kopf schwindlig machen, wie es damals der Fall war. Schließlich sage ich:

»Wenn Sie es mir nicht übelnehmen wollen, daß ich mir erlaube, den Vorsitzenden anzureden, Professor Jackman, so glaube ich, daß jetzt der Zeitpunkt gekommen ist, wo es erforderlich ist, daß ich diesen jungen Gelehrten einmal fest in meine Arme schließe.«

Daraufhin ruft Jemmy von seinem Stuhl aus:

»Großmutti, mache die Arme auf, und ich springe in sie hinein.«

So öffnete ich ihm also meine Arme, wie ich mein wehes Herz geöffnet hatte, als seine arme junge Mutter im Sterben lag. Er sprang hinein, und wir hielten einander eine gute Weile fest umschlungen, während der Major, stolzer als ein Pfau, hinter der vorgehaltenen Hand zu mir sagt:

»Sie müssen es ihn nicht merken lassen, Madam« (was ich tatsächlich nicht nötig hatte, denn der Major war vollkommen verständlich), »aber das ist ein Junge!«

In dieser Weise wuchs Jemmy auf. Er ging in die Tagesschule, lernte aber auch unter dem Major weiter, und im Sommer waren wir so glücklich, wie die Tage lang, und im Winter so glücklich, wie die Tage kurz waren. Über der Pension aber schien ein Segen zu ruhen, denn es war so gut, als ob die Zimmer sich selbst vermieteten, und ich hätte Kunden für die doppelte Anzahl gehabt. Eines Tages aber mußte ich ganz gegen meinen Willen und wehen Herzens zu dem Major sagen:

»Major, Sie wissen sicher, was ich Ihnen eröffnen muß. Unser Junge muß in ein Pensionat.«

Es war traurig mit anzusehen, wie das Gesicht des Majors lang wurde, und ich bemitleidete die gute Seele von ganzem Herzen.

»Ja, Major«, sage ich, »obwohl er bei den Mietern so beliebt ist wie Sie selbst, und obwohl er für Sie und für mich das ist, was nur Sie und ich wissen, so ist das doch der Lauf der Welt; das Leben besteht aus Trennungen, und wir müssen uns von unserem Liebling trennen.«

So fest ich auch sprach, sah ich doch zwei Majore und ein halbes Dutzend Kamine, und als der arme Major einen seiner sauberen, glänzend gewichsten Stiefel auf das Kamingitter stellte, dann den Ellbogen auf das Knie und den Kopf auf die Hand stützte und sich ein wenig hin und her bewegte, schnitt es mir furchtbar ins Herz.

»Aber«, fahre ich fort, nachdem ich mich geräuspert habe, »Sie haben ihn so gut vorbereitet, Major – er hat einen solchen Privatlehrer an Ihnen gehabt –, daß ihm die Anfangsplackerei ganz und gar erspart sein wird. Und außerdem ist er so gescheit, daß er bald seinen Platz unter den Ersten haben wird.«

»Er ist ein Junge«, sagt der Major, nachdem er ein wenig geschnüffelt hat, »wie es auf der Erde keinen zweiten gibt.«

»Das ist wahr, Major, und deshalb dürfen wir ihm nicht bloß aus Egoismus hinderlich sein, überall wo er hingeht, eine Leuchte und eine Zierde zu sein und vielleicht sogar einmal ein großer Mann zu werden, nicht wahr, Major? Er wird meine ganzen kleinen Ersparnisse erben, wenn einst meine Arbeit getan ist, denn er ist mein alles, und wir müssen versuchen, einen weisen und guten Menschen aus ihm zu machen, nicht wahr, Major?«

»Madam«, antwortete er, indem er sich aufrichtet, »Jemmy Jackman ist schon ein älterer Geselle geworden, als ich gedacht hätte, und Sie machen ihn schamrot. Sie haben vollkommen recht, Madam. Sie haben einfach und unbestreitbar recht. – Wenn Sie mich entschuldigen wollen, so werde ich jetzt einen Spaziergang machen.«

Als der Major das Haus verlassen hatte und da Jemmy zu Hause war, führte ich den Kleinen in meine Kammer und ließ ihn neben meinen Stuhl treten, legte meine Hand auf seine Locken und sprach liebevoll und ernsthaft zu ihm. Und als ich dem Liebling zu bedenken gegeben hatte, daß er nun schon bald zehn Jahre alt war, und als ich ihm über seine zukünftige Laufbahn im Leben so ziemlich dasselbe gesagt hatte, was ich dem Major gegenüber geäußert hatte, eröffnete ich ihm, daß die Trennung notwendig sei. Aber da mußte ich innehalten, denn plötzlich sah ich die wohlbekannte zitternde Lippe, und dieser Anblick rief mir die Vergangenheit so lebhaft wieder ins Gedächtnis! Aber mit der Tapferkeit, die ihm eigen war, hatte er sich bald gefaßt und sagte, durch seine Tränen hindurch ernsthaft nickend:

»Ich verstehe, Großmutti – ich weiß, es muß sein – sprich weiter, Großmutti, habe keine Angst vor mir.«

Und als ich alles gesagt hatte, was mir nur in den Sinn kam, wandte er mir sein ruhiges, freundliches Gesicht zu und sagte, wenn auch hier und da mit ein wenig gebrochener Stimme:

»Du sollst sehen, Großmutti, daß ich ein Mann sein kann und daß ich alles tun kann, um dir meine Dankbarkeit und Liebe zu beweisen – und wenn ich nicht das werde, was du von mir erwartest, dann hoffe ich, es wird nur deshalb sein, weil – weil ich sterben werde.«

Und damit setzte er sich neben mich hin, und ich erzählte ihm weiter von der Schule, über die ich ausgezeichnete Empfehlungen hatte: wo sie wäre, wie viele Schüler sie hätte, was für Spiele sie dort spielten, wie ich gehört hätte, und wie lang die Ferien wären, was er alles mit hellem und fröhlichem Gesicht mit anhörte. Schließlich sagte er:

»Und nun, liebe Großmutti, laß mich hier, wo ich mein Gebet zu sprechen pflegte, niederknien, laß mich mein Gesicht auf eine Minute in deinem Rock verbergen und laß mich weinen, denn du bist mehr als Vater, mehr als Mutter, mehr als Geschwister und Freunde für mich gewesen sind!«

Und so weinte er und ich auch, und wir fühlten uns danach beide viel besser.

Von dieser Zeit an hielt er getreulich Wort und war stets fröhlich und munter, und selbst als ich und der Major ihn nach Lincolnshire brachten, war er bei weitem der munterste von uns dreien. Das war freilich nicht schwer, aber er heiterte auch uns auf; und nur als es zum letzten Lebewohl kam, meinte er mit einem ernsten Blick:

»Du möchtest doch nicht, daß es mir wirklich nicht naheginge, Großmutti?«

Und als ich sagte: »Nein, mein Liebling, Gott behüte!« rief er: »Das freut mich!« und rannte ins Haus hinein.

Aber jetzt, als das Kind die Pension verlassen hatte, wurde der Major ganz und gar trübsinnig. Alle Mieter merkten, daß er den Kopf hängen ließ, und er sah nicht einmal mehr so stattlich aus wie sonst. Selbst seine Stiefel wichste er nur noch mit einem kleinen Schimmer von Interesse.

Eines Abends kam der Major in mein kleines Zimmer, um eine Tasse Tee und eine gebutterte Röstschnitte zu genießen und dabei Jemmys letzten Brief zu lesen, der an diesem Nachmittag eingetroffen war. Er war von demselben Briefträger wie früher gebracht worden, der, jetzt schon ein Mann in reiferem Alter, noch immer diesen Bezirk hatte. Da der Brief den Major ein wenig aufheiterte, sagte ich zu ihm:

»Major, Sie dürfen sich keinen trüben Stimmungen hingeben.«

Der Major schüttelte den Kopf.

»Jemmy Jackman, Madam«, sagte er mit einem schweren Seufzer, »ist ein älterer Geselle, als ich dachte.«

»Trübsinn ist kein Mittel, um jünger zu werden, Major.«

»Meine teure Madam«, erwiderte er, »gibt es überhaupt ein Mittel, um jünger zu werden?«

Da ich fühlte, daß der Major in diesem Punkt recht behalten würde, lenkte ich auf einen anderen ab.

»Dreizehn Jahre! Drei-zehn Jahre! Viele Mieter sind in den dreizehn Jahren, die Sie im ersten Stock wohnen, gekommen und gegangen.«

»Ja!« sagte der Major, warm werdend. »Viele, Madam, viele.«

»Und Sie haben sich mit allen gutgestanden?«

»In der Regel (die, wie alle Regeln, ihre Ausnahmen hat), meine teure Madam«, sagte der Major, »haben sie mich mit ihrer Bekanntschaft beehrt, häufig sogar mir ihr Vertrauen geschenkt.«

Ich beobachtete den Major, wie er sein weißes Haupt senkte, seinen schwarzen Schnurrbart strich und wieder in Trübsinn verfiel, und ein Gedanke, der, wie ich glaube, umherwanderte und sich irgendwo nach einem Eigentümer umsah, fiel in meinen alten Kopf, wenn Sie mir den Ausdruck gestatten wollen.

»Die Wände meiner Pension«, sagte ich beiläufig – denn, meine Liebe, es ist zwecklos, mit einem Mann, der trübsinnig ist, geradeheraus zu sprechen –, »könnten sicher etwas erzählen, wenn sie dazu imstande wären.«

Der Major machte weder eine Bewegung noch sprach er ein Wort, aber ich sah an seinen Schultern, daß er zuhörte, meine Liebe – daß er mit seinen Schultern auf das achtete, was ich sagte. Ich sah tatsächlich, wie es auf seine Schultern Eindruck machte.

»Der liebe Junge hat stets gern Geschichten gelesen«, fuhr ich fort, als spräche ich zu mir selbst; »und dieses Haus – sein eignes Heim – könnte wahrlich einige Geschichten aufzeichnen, die er später einmal lesen könnte.«

In den Schultern des Majors gab es einen Ruck, und sein Kopf kam in seinem Hemdkragen in die Höhe. Der Kopf des Majors kam in seinem Hemdkragen in die Höhe, wie ich ihn, seit Jemmy zur Schule fortging, nicht in die Höhe hatte kommen sehen.

»Es ist nicht zu bestreiten, daß ich in den Pausen eines freundschaftlichen Cribbage-Spiels oder Rubbers, meine teure Madam«, sagte der Major, »und auch über dem, was in meiner Jugend – in den grünen Tagen Jemmy Jackmans – das volle Glas genannt zu werden pflegte, manche Erinnerung mit Ihren Mietern ausgetauscht habe.«

Meine Bemerkung darauf war – ich gestehe, daß ich sie mit der verborgensten und hinterlistigsten aller Absichten machte:

»Ich wünschte, daß unser lieber Junge sie gehört hätte!«

»Ist das Ihr Ernst, Madam?« fragte mich der Major, in die Höhe fahrend und sich mir zuwendend.

»Weshalb nicht, Major?«

»Madam«, sagte der Major, einen seiner Ärmel aufkrempelnd, »sie sollen für ihn niedergeschrieben werden.«

»Ah! Das läßt sich hören«, meinte ich, indem ich vor Vergnügen die Hände zusammenschlug. »Jetzt sind Sie auf dem besten Weg, aus dem Trübsinn herauszukommen, Major!«

»In der Zeit von jetzt bis zu seinen Ferien – ich meine, denen des lieben Jungen«, sagte der Major, seinen andern Ärmel aufkrempelnd, »kann schon viel fertig werden.«

»Major, Sie sind ein kluger Mann, Sie haben vieles gesehen, und Ihre Worte sind nicht zu bezweifeln.«

»Ich werde morgen anfangen«, sagte der Major, der auf einmal so groß wie nur je aussah.

Meine Liebe, in drei Tagen war der Major ein anderer Mensch, und in einer Woche war er wieder ganz der alte, und er schrieb und schrieb und schrieb, indem er mit seiner Feder kratzte, wie Ratten hinter dem Wandgetäfel. Ob alles, was er schrieb, auf Wahrheit beruhte, oder ob er dabei ein bißchen aufschnitt, das kann ich Ihnen nicht sagen, aber das Manuskript liegt hinter der Glasscheibe des linken Seitenfachs in dem kleinen Bücherschrank gerade hinter Ihnen.

Zweites Kapitel

Ein paar Worte, die der erste Stock selbst hinzufügte

Ich habe die Ehre, mich Ihnen vorzustellen. Mein Name ist Jackman. Ich halte es für ein stolzes Vorrecht, daß ich auf Veranlassung meiner würdigen und im höchsten Grade geachteten Freundin, Mrs. Lirriper, von Norfolk Street Nummer einundachtzig, Strand, in der Grafschaft Middlessex im Vereinigten Königreich von Großbritannien und Irland, und zur Belehrung des bemerkenswertesten Jungen, der jemals lebte – mit Namen Jemmy Jackman Lirriper –, auf die Nachwelt komme.

Es kommt mir nicht zu, das Entzücken zu schildern, mit dem wir diesen lieben und im höchsten Grade hervorragenden Jungen während seiner ersten Weihnachtsferien empfingen. Nur soviel soll bemerkt sein, daß, als er mit zwei prachtvollen Preisen (in Arithmetik und ausgezeichnetem Betragen) ins Haus gestürmt kam, Mrs. Lirriper und ich ihn mit Rührung umarmten und sofort mit ihm ins Theater gingen, wo wir uns alle drei wunderbar unterhielten.

Auch ist es nicht meine Absicht, den Tugenden der Besten ihres guten und geehrten Geschlechts – die ich aus Rücksicht für ihre Bescheidenheit hier nur mit den Anfangsbuchstaben E. L. bezeichnen will – meine Huldigung dadurch zu bezeigen, daß ich diesen Bericht zu dem Bündel von Manuskripten hinzufüge, über die unser Junge sein Entzücken ausgedrückt hat, bevor ich dieses Bündel wieder in das linke Seitenfach von Mrs. Lirripers kleinem Bücherschrank lege.

Auch geschieht es nicht deshalb, um den Namen des alten, originalen, ausgedienten, unbekannten Jemmy Jackman, früher (zu seiner Herabwürdigung) bei Wozenham, jetzt seit langem (zu seiner Erhebung) bei Lirriper, ungebührlich vorzudrängen. Wenn ich mich mit Bewußtsein einer solchen geschmacklosen Handlungsweise schuldig machen könnte, so wäre es wirklich ein ganz überflüssiges Unterfangen, jetzt, wo der Name von Jemmy Jackman Lirriper getragen wird.

Nein. Ich ergreife meine bescheidene Feder vielmehr, um einen kleinen Bericht über unseren erstaunlich bemerkenswerten Jungen zu verfassen, der, wie ich in meinem einfachen Verstand glaube, ein hübsches kleines Bild von dem Geist des lieben kleinen Jungen bietet. Das Bild wird vielleicht für ihn selbst interessant sein, wenn er erwachsen ist.

Der erste Weihnachtstag, den wir nach unserer Wiedervereinigung verbrachten, war der schönste, den wir je miteinander verlebt haben. Jemmy war keine fünf Minuten still, ausgenommen in der, Kirche. Er schwatzte, als wir am Kamin saßen, er schwatzte, als wir spazierengingen, er schwatzte, als wir wieder am Kamin saßen, er schwatzte ohne Unterlaß beim Essen, obwohl er mit einem Appetit aß, der fast so bemerkenswert war wie er selbst. Es war die Quelle des Glücks, die in seinem frischen jungen Herzen unaufhörlich überströmte, und sie befruchtete (wenn ich ein so kühnes Bild gebrauchen darf) meine Freundin und J. J., den Schreiber dieser Zeilen.

Am Tisch saßen nur wir drei. Wir aßen in dem kleinen Zimmer meiner geschätzten Freundin, und das Mahl war vollkommen. Aber alles im Hause ist, was Sauberkeit, Ordnung und Behaglichkeit angeht, stets vollkommen. Nach dem Essen glitt unser Junge auf sein altes Stühlchen zu Füßen meiner geschätzten Freundin, und dort saß er mit seinen gerösteten Kastanien und seinem Glas braunen Sherry (wirklich, ein ganz ausgezeichneter Wein!), während seine Wangen röter waren als die Äpfel in der Schale.

Wir sprachen von diesen meinen Schreibereien, die Jemmy inzwischen gelesen und wieder gelesen hatte; und so fügte es sich, daß meine geschätzte Freundin, während sie Jemmys Locken streichelte, bemerkte:

»Und da du auch zum Hause gehörst, Jemmy – und zwar viel mehr als die Mieter, da du doch darin geboren bist –, so bin ich der Meinung, deine Geschichte sollte eines Tages zu den übrigen hinzugefügt werden.«

Jemmys Augen leuchteten bei diesen Worten, und er sagte:

»Das denke ich auch, Großmutti.«

Dann saß er eine Weile da und blickte ins Feuer. Plötzlich begann er zu lachen, als ob er dem Feuer etwas anvertrauen wollte, und sagte dann, seine Arme auf dem Schoß meiner geschätzten Freundin kreuzend und sein strahlendes Gesicht zu dem ihrigen erhebend:

»Möchtest du die Geschichte eines Jungen hören, Großmutti?«

»Aber gern«, erwiderte meine geschätzte Freundin.

»Möchtest du es, Pate?«

»Natürlich, gern«, erwiderte ich.

»Gut denn«, sagte Jemmy, »ich will euch eine erzählen.«

Hier schloß unser unbestreitbar bemerkenswerter Junge sich selbst in die Arme und ließ wieder ein melodisches Lachen ertönen bei dem Gedanken, daß er sich in dieser neuen Eigenschaft als Erzähler zeigen sollte. Dann wandte er sich wieder, wie zuvor, dem Feuer zu, als wollte er ihm etwas vertraulich mitteilen, und begann:

»Einst in alter Zeit, als Ferkel Wein tranken und Affen Tabak kauten, es war weder zu eurer noch zu meiner Zeit, doch darauf kommt es nicht an …«

»Lieber Himmel, bewahre das Kind!« rief meine geschätzte Freundin. »Was geht in seinem Kopf vor?«

»Es ist ein Gedicht, Großmutti«, erwiderte Jemmy, sich vor Lachen schüttelnd. An der Schule fangen wir unsere Geschichten immer damit an.«

»Hat mir einen richtigen Ruck gegeben, Major«, sagte meine geschätzte Freundin, sich mit einem Tellerchen fächelnd. »Ich glaubte, er wäre wirr im Kopf!«

»In jenen bemerkenswerten Zeiten, Großmutti und Pate, gab es einstmals einen Jungen – nicht mich, müßt ihr verstehen.«

»Nein, nein«, sagte meine geehrte Freundin, »nicht du. Er nicht, Major, verstehen Sie?«

»Nein, nein«, sagte ich.

»Und er ging zur Schule in Rutlandshire …«

»Weshalb nicht Lincolnshire?« fragte meine geehrte Freundin.

»Weshalb nicht, du liebe alte Großmutti? Weil ich in Lincolnshire zur Schule gehe, nicht wahr?«

»Oh, natürlich!« sagte meine geehrte Freundin. »Und es ist nicht Jemmy, Sie verstehen, Major?«

»Freilich, freilich«, meinte ich.

»Nun also!« fuhr unser Junge fort, indem er sich behaglich selbst in die Arme schloß und fröhlich lachte (wobei er sich wieder vertraulich ans Feuer wandte), bevor er aufs neue zu Mrs. Lirripers Gesicht aufblickte. »Und er war fürchterlich in die Tochter seines Schulmeisters verliebt. Sie war nämlich das schönste Mädchen, das man je gesehen hatte. Sie hatte braune Augen und braunes Haar, das wunderschön gelockt war, und eine liebliche Stimme. Sie war ganz und gar lieblich, und ihr Name war Seraphina.«

»Wie heißt die Tochter deines Schulmeisters, Jemmy?« fragte meine geehrte Freundin.

»Polly!« erwiderte Jemmy, mit dem Zeigefinger auf sie weisend. »Reingefallen! Ha, ha, ha!«

Meine geehrte Freundin und er lachten zusammen und umarmten sich, und dann fuhr unser unbestreitbar bemerkenswerter Junge mit großem Behagen fort:

»Nun gut. Er war also in sie verliebt. Er dachte stets an sie, träumte von ihr, schenkte ihr Orangen und Nüsse und hätte ihr gern Perlen und Diamanten geschenkt, wenn er es von seinem Taschengeld hätte erschwingen können, aber das konnte er nicht. Und ihr Vater – oh, der war ein Tatare. Er hielt die Jungen streng in Zucht, veranstaltete einmal im Monat ein Examen, hielt Vorträge über alle möglichen Gegenstände zu allen möglichen Zeiten und wußte alles auf der Welt aus Büchern. Und dieser Junge nun …«

»Hatte er einen Namen?« fragte meine geehrte Freundin.

»Nein, er hatte keinen, Großmutti. Ha, ha! Wieder reingefallen!«

Darauf lachten sie und umarmten sich wie vorher, und dann fuhr unser Junge fort:

»Nun, dieser Junge hatte einen Freund, ungefähr im gleichen Alter, der auf dieselbe Schule ging und der (denn der hatte nun einen Namen) – laßt mich nachdenken – Bobbo hieß.«

»Nicht Bob«, sagte meine geehrte Freundin.

»Natürlich nicht«, sagte Jemmy. »Wie kamst du darauf, Großmutti? Und dieser Freund war der gescheiteste und bravste und hübscheste und edelmütigste Freund, den es je gegeben hat; er war in Seraphinas Schwester verliebt, und Seraphinas Schwester war in ihn verliebt, und so wurden sie alle zusammen groß.«

»Gott behüte!« meinte meine geehrte Freundin. »Das ging aber schnell bei Ihnen.«

»Sie wurden alle zusammen groß«, wiederholte unser Junge, aus vollem Halse lachend, »und Bobbo und dieser Junge ritten davon, um ihr Glück zu suchen. Sie hatten ihre Pferde halb geschenkt und halb verkauft bekommen. Sie hatten nämlich sieben Schilling und vier Pence gemeinsam gespart, aber da die beiden Pferde, echte Araber, mehr wert waren, hatte der Mann gesagt, er wolle sich, weil sie es wären, damit zufriedengeben. Nun, sie machten also ihr Glück und kamen zur Schule zurückgaloppiert, die Taschen so voller Gold, daß es für immer reichte. Sie läuteten an der Glocke für die Eltern und Besucher (nicht am hinteren Tor), und als jemand kam, verkündeten sie: Genauso wie bei Scharlach! Jeder Junge geht auf unbestimmte Zeit nach Hause. Und da gab es ein großes Hurrageschrei, und dann küßten sie Seraphina und ihre Schwester – jeder sein eigenes Liebchen und auf keinen Fall das des anderen –, und dann ließen sie den Tataren augenblicklich einsperren.«

»Armer Mann!« sagte meine geehrte Freundin.

»Augenblicklich einsperren, Großmutti«, wiederholte Jemmy, indem er sich bemühte, streng auszusehen, und sich dabei doch vor Lachen schütteln mußte, »und er durfte nichts zu essen bekommen als das Essen der Jungen und mußte täglich ein halbes Fäßchen von ihrem Bier trinken. So traf man denn Anstalten für die beiden Hochzeiten, und es gab Eingemachtes und Süßigkeiten und Nüsse und Briefmarken und alles mögliche sonst. Und sie waren so fröhlich, daß sie den Tataren herausließen, und er war fröhlich mit ihnen.«

»Es freut mich, daß sie ihn herausließen«, meinte meine geehrte Freundin, »weil er nur seine Pflicht getan hatte.«

»Oh, aber er hatte auch ein bißchen zuviel getan!« rief Jemmy. »Und darauf bestieg dieser Junge sein Pferd, mit seiner Braut in den Armen, und galoppierte davon und galoppierte weiter und weiter, bis er an einen gewissen Ort kam, wo er eine gewisse Großmutti und einen gewissen Paten hatte – nicht ihr beide, müßt ihr verstehen.«

»Nein, nein«, sagten wir beide einstimmig.

»Und dort wurden sie mit großen Freuden empfangen, und er füllte das Küchenbüfett und den Bücherschrank mit Gold, und er ließ es auf seine Großmutti und seinen Paten herabregnen, weil sie die beiden liebsten und besten Menschen waren, die je auf dieser Welt lebten. Und während sie bis zu den Knien in Gold dasaßen, vernahm man ein Klopfen an der Haustür, und wer sollte es anders sein als Bobbo, der sich ebenfalls zu Pferde mit seiner Braut in den Armen einstellte, und er war um nichts anderes gekommen, als um zu sagen, daß er (für doppelte Miete) alle Zimmer für immer nehme, die dieser Junge und diese Großmutti und dieser Pate nicht für sich brauchten, und daß sie alle zusammen leben und alle glücklich sein wollten. Und das waren sie auch, und ihr Glück nahm nie ein Ende!«

»Und gab es keinen Zank?« fragte meine geehrte Freundin, während sich Jemmy auf ihren Schoß setzte und sie umarmte.

»Nein! Niemand gab jemals Anlaß zu Zank.«

»Und wurde das Geld niemals alle?«

»Nein! Niemand konnte es jemals ganz ausgeben.«

»Und wurde keiner von ihnen jemals älter?«

»Nein! Nach dem wurde keiner mehr älter.«

»Und ist keiner von ihnen jemals gestorben?«

»O nein, nein, nein, Großmutti!« rief unser lieber Junge, seine Wange auf ihre Brust legend und sie fester an sich drückend. »Niemand ist jemals gestorben.«

»Ah, Major, Major!« sagte meine geehrte Freundin, mir gütig zulächelnd, »das ist besser als unsere Geschichten. Wir wollen mit der Geschichte des Jungen schließen, Major, denn die Geschichte des Jungen ist die beste, die je erzählt wurde!«

Diesem Wunsch von seiten der besten aller Frauen folgend, habe ich die Geschichte hier so getreu aufgezeichnet, wie es meine besten Fähigkeiten, unterstützt von meinen besten Absichten, zuließen, und unterschreibe sie mit meinem Namen.

J. Jackman

Mrs. Lirripers Pension.
Im ersten Stock.