Die Geschichte des Schuljungen


Die Geschichte des Schuljungen

Da ich jetzt noch ziemlich jung bin – ich nehme zwar zu an Jahren, aber jetzt bin ich immerhin noch ziemlich jung –, so weiß ich keine eigenen Abenteuer, die ich vorbringen könnte. Es würde, glaube ich, niemand unter den Anwesenden besonders interessieren, zu erfahren, was für ein Geizkragen der Reverend oder was für ein Drache sie ist, oder was sie alles den Eltern auf die Rechnung setzen – besonders für Haarschneiden und für ärztlichen Beistand. Einem unserer Jungen wurden auf seiner Halbjahresrechnung zwölf Schilling und sechs Pence für zwei Pillen berechnet – bei sechs Schilling und drei Pence das Stück müssen sie ziemlich einträglich sein, sollte ich meinen –, und er nahm sie nicht einmal, sondern steckte sie in seinen Rockärmel.

Was den Rinderbraten angeht, so ist es eine Schande. Das ist kein Rinderbraten. Richtiger Rinderbraten besteht nicht aus Adern. Richtigen Rinderbraten kann man kauen. Außerdem gibt es zu richtigem Rinderbraten Sauce, und bei unserem ist niemals ein Tropfen zu sehen. Einer unserer Jungen fuhr krank nach Hause, und er hörte den Hausarzt zu seinem Vater sagen, daß er keinen Grund für seine Krankheit finden könne, wenn es nicht das Bier wäre. Natürlich war es das Bier, und das ist ganz begreiflich!

Jedoch Rinderbraten und der alte Cheeseman sind zwei verschiedene Dinge. Ebenso das Bier. Von dem alten Cheeseman wollte ich erzählen, nicht davon, wie unsere Jungen des Gewinns wegen um ihre Gesundheit gebracht werden.

Man braucht sich da bloß die Pastetenkruste anzusehen. Sie ist nicht locker, sondern fest wie feuchtes Blei. Dann bekommen unsere Jungen Alpdrücke und werden mit Kissen beworfen, weil sie im Schlaf schreien und andere Jungen aufwecken. Ist das etwa ein Wunder?

Der alte Cheeseman schlafwandelte eines Nachts. Er stülpte sich den Hut über die Nachtmütze, ergriff eine Angelrute und ein Kricketschlagholz und ging ins Wohnzimmer hinunter, wo man ihn begreiflicherweise nach seinem Aussehen für ein Gespenst hielt. Er hätte das bestimmt nicht getan, wenn sein Essen bekömmlich gewesen wäre. Wenn wir erst alle anfangen, im Schlaf zu wandeln, wird ihnen endlich das Gewissen schlagen, denke ich.

Der alte Cheeseman war damals noch nicht zweiter Lateinlehrer; er war bloß einer von den Jungen. Er wurde als ganz kleines Kind in einer Postkutsche dorthin gebracht von einer Frau, die ständig Tabak schnupfte und ihn schüttelte – das war alles, woran er sich erinnern konnte. Er ging niemals in den Ferien nach Hause. Seine Rechnungen (er nahm niemals an Sonderfächern teil) wurden an eine Bank geschickt, und die Bank bezahlte sie. Zweimal im Jahr bekam er einen braunen Anzug, und mit zwölf Jahren zog er schon Stiefel an. Sie waren ihm außerdem stets zu groß.

In den Sommerferien pflegten einige von unseren Jungen, die so nahe wohnten, daß sie zu Fuß gehen konnten, zurückzukommen und an den Bäumen vor der Spielplatzmauer hochzuklettern, um den alten Cheeseman allein beim Lesen zu sehen. Er war immer so mild wie der Tee – und ich denke, der ist mild genug! –, und wenn sie ihm pfiffen, so blickte er auf und nickte. Und wenn sie ihn fragten: »Hallo, alter Cheeseman, was hat’s zu essen gegeben?« so sagte er: »Gesottenes Hammelfleisch«; und wenn sie fragten: »Ist es nicht recht einsam, alter Cheeseman?« so sagte er: »Es ist manchmal ein bißchen langweilig.« Und dann sagten sie: »Also auf Wiedersehen, alter Cheeseman!« und kletterten wieder hinunter. Natürlich war es ein Betrug an dem alten Cheeseman, ihm die ganzen Ferien hindurch nichts als gesottenes Hammelfleisch vorzusetzen; aber so war das System. Wenn sie ihm kein gesottenes Hammelfleisch gaben, verabreichten sie ihm Reispudding und behaupteten, das wäre ein besonderer Leckerbissen. Und sparten auf diese Weise den Fleischer.

So ging das Leben des alten Cheeseman. Die Ferien brachten für ihn noch andere Beschwerden mit sich, außer der Einsamkeit. Denn wenn die Jungen widerwillig zurückkamen, freute er sich stets, sie zu sehen. Das war ärgerlich für sie, da sie sich durchaus nicht freuten, ihn zu sehen, und infolgedessen schlug man ihn mit dem Kopf gegen die Wände, und er bekam Nasenbluten. Aber im allgemeinen war er doch beliebt. Einmal wurde eine Sammlung für ihn veranstaltet, und um ihn bei guter Laune zu halten, bekam er vor den Ferien zwei weiße Mäuse, ein Kaninchen, eine Taube und ein hübsches Hündchen geschenkt. Der alte Cheeseman weinte darüber – besonders nachher, als sie alle einander aufgefressen hatten. Übrigens war der alte Cheeseman nicht alt an Jahren, sondern er hatte bloß von Anfang an den Spitznamen alter Cheeseman erhalten.

Schließlich wurde der alte Cheeseman zweiter Lateinlehrer. Eines Morgens zu Beginn eines neuen Halbjahrs wurde er ins Zimmer geleitet und in dieser Eigenschaft als »Mr. Cheeseman« der Schule vorgestellt. Daraufhin waren unsere Jungen einstimmig der Ansicht, daß der alte Cheeseman ein Spion und Verräter war, der ins feindliche Lager übergegangen war und sich für Gold verkauft hatte. Es entlastete ihn nicht, daß er sich um sehr wenig Gold verkauft hatte – zwei Pfund zehn Schilling im Vierteljahr und die Wäsche, wie berichtet wurde. Ein Parlament, das darüber tagte, entschied, daß bei dem alten Cheeseman nur von Geldrücksichten die Rede sein konnte und daß er »unser Blut für Drachmen gemünzt« hätte. Das Parlament entlehnte diesen Ausdruck der Streitszene zwischen Brutus und Cassius.

Nachdem es mit diesen starken Worten ein für allemal ausgemacht war, daß der alte Cheeseman ein fürchterlicher Verräter war, der sich in die Geheimnisse unserer Jungen absichtlich eingeschlichen hatte, um sich durch Angeberei in Gunst zu setzen, wurden alle mutigen Jungen aufgefordert, sich zu einem Bund gegen ihn zusammenzuschließen. Die Präsidentschaft des Bundes übernahm der Primus namens Bob Tarter. Sein Vater war in Westindien, und er sagte selbst, daß sein Vater millionenreich wäre. Er besaß großen Einfluß unter unseren Jungen, und er schrieb ein Spottlied, das folgendermaßen begann:

»Wer stellte sich so sanft und zahm,
Daß man kaum seine Stimm‘ vernahm,
Und war doch ein Verräter?
Der Cheeseman-Missetäter.«

So ging es durch mehr als ein Dutzend Strophen weiter, die er jeden Morgen dicht am Pult des neuen Lehrers zu singen pflegte. Auch richtete er einen der kleinen Jungen, einen rotbackigen Frechdachs, der zu allem imstande war, ab, eines Morgens mit seiner lateinischen Grammatik zu ihm hinzugehen und seine Lektion folgendermaßen aufzusagen:

»Nominativus pronominum – der alte Cheeseman, raro exprimitur – wurde niemals beargwöhnt, nisi distinctionis – ein Verräter zu sein, aut emphasis gratia – bis er sich als ein solcher herausstellte. Ut – zum Beispiel, vos damnastis – als er die Jungen verklatschte. Quasi – gleich als ob, dicat – er sagte, praeterea nemo – ich bin ein Judas!«

Das alles machte auf den alten Cheeseman tiefen Eindruck. Er hatte niemals viel Haare gehabt; aber die wenigen, die er besaß, wurden mit jedem Tag dünner. Er wurde blasser und magerer, und bisweilen sah man ihn abends an seinem Pult sitzen, wie er die Hände vors Gesicht geschlagen hielt und weinte, während seine Kerze eine anständig lange Lichtschnuppe aufwies. Aber kein Teilnehmer des Bundes konnte ihn bemitleiden, selbst wenn er dazu Neigung verspürte, weil der Präsident sagte, es wäre des alten Cheesemans Gewissen.

So ging es mit dem alten Cheeseman weiter, und er führte wahrlich ein trauriges Leben! Natürlich behandelte ihn der Reverend von oben herab und natürlich tat sie das gleiche – weil sie sich beide allen Lehrern gegenüber stets so verhalten –, aber von den Jungen hatte er am meisten auszustehen, und zwar in einem fort. Der Bund konnte nicht herausfinden, daß er es angegeben hätte; aber man dachte deshalb nicht besser von ihm, weil der Präsident sagte, es wäre des alten Cheesemans Feigheit.

Er hatte nur ein Wesen in der Welt, mit dem er auf freundschaftlichem Fuße stand, aber dieses war fast ebenso machtlos wie er, denn es war nur Jane. Sie war eine Art Garderobenmädchen für unsere Jungen und hatte die Koffer in ihrer Obhut. Sie war zuerst als eine Art Lernende ins Haus gekommen – einige von unseren Jungen behaupteten, aus einem Findelhaus, aber darüber weiß ich nichts –, und nachdem ihre Zeit um war, war sie für so und so viel jährlich dageblieben. So wenig jährlich, sollte ich eher sagen, denn das ist viel wahrscheinlicher. Doch hatte sie ein paar Pfund auf der Sparkasse und war ein sehr nettes Mädchen. Sie war nicht gerade hübsch, aber sie hatte ein sehr offenes, ehrliches, freundliches Gesicht, und alle unsere Jungen hatten sie gern. Sie war ungewöhnlich sauber und fröhlich und ungewöhnlich freundlich und gutmütig. Und wenn einem Jungen die Mutter krank wurde, so ging er stets zu Jane und zeigte ihr den Brief.

Jane war die Freundin des alten Cheeseman. Je mehr der Bund gegen ihn vorging, desto treuer hielt sie zu ihm. Manchmal warf sie ihm von dem Fenster ihrer Vorratskammer aus einen freundlichen Blick zu, der ihm für den ganzen Tag Mut zu geben schien. Sie pflegte aus dem Obst- und Gemüsegarten (dessen Tür immer verschlossen ist, das könnt ihr mir glauben!) über den Spielplatz zu gehen, obwohl sie einen anderen Weg hätte wählen können, bloß um sich nach dem alten Cheeseman umzuwenden, als wollte sie ihm sagen: »Bleib guten Mutes!« Sein Kämmerchen war so sauber und ordentlich, daß jeder wissen konnte, wer danach sah, während er an seinem Platz saß; und wenn unsere Jungen beim Essen einen dampfenden Kloß auf seinem Teller sahen, dann war es ihnen zu ihrer Entrüstung klar, wer ihn heraufgeschickt hatte.

Unter diesen Umständen beschloß der Bund nach vielen Sitzungen und Beratungen, daß Jane aufgefordert werden sollte, den alten Cheeseman zu schneiden. Wenn sie sich aber weigerte, sollte sie selbst in Verruf gebracht werden. So wurde eine Deputation unter Führung des Präsidenten an Jane abgesandt, um ihr den Beschluß mitzuteilen, den der Bund zu seinem schmerzlichen Bedauern hätte fassen müssen. Sie war wegen ihrer vielen guten Eigenschaften sehr geachtet, und es gab eine Geschichte von ihr, daß sie einst dem Reverend in seinem eigenen Studierzimmer aufgelauert und aus ihrem guten Herzen heraus eine schwere Strafe von einem Jungen abgewendet hatte. So war der Deputation bei der Sache nicht besonders wohl zumute. Doch ging sie nach oben, und der Präsident teilte Jane alles mit. Diese bekam einen roten Kopf und brach in Tränen aus. Dann sagte sie dem Präsidenten und der Deputation in einer Art, die von ihrer sonstigen Weise ganz und gar abwich, sie wären eine Gesellschaft von boshaften jungen Wilden, und wies die ganze ehrenwerte Körperschaft aus dem Zimmer. Infolgedessen wurde in das Buch des Bundes (das aus Furcht vor Entdeckung in einer Geheimschrift geführt wurde) eingetragen, daß jeder Umgang mit Jane verboten wäre. Der Präsident aber richtete eine Ansprache an die Mitglieder, in der er sie auf dieses überzeugende Beispiel der Wühlarbeit des alten Cheeseman hinwies.

Aber Jane war dem alten Cheeseman ebenso treu, wie der alte Cheeseman gegen unsere Jungen treulos war – wenigstens ihrer Meinung nach. So hielt sie standhaft zu ihm und blieb seine einzige Freundin. Das ärgerte die Mitglieder des Bundes sehr, denn Jane war für sie ein ebenso großer Verlust wie für ihn ein Gewinn. Sie waren erbitterter gegen ihn und behandelten ihn schlechter denn je. Schließlich war eines Morgens sein Pult verlassen, und als man in sein Zimmer blickte, war es leer. Da bekamen unsere Jungen blasse Gesichter und ein Flüstern ging unter ihnen, daß der alte Cheeseman, außerstande, es noch länger auszuhalten, früh aufgestanden wäre und sich ins Wasser gestürzt hätte.

Die geheimnisvollen Mienen der übrigen Lehrer beim Frühstück und die Tatsache, daß der alte Cheeseman offenbar nicht erwartet wurde, bekräftigten den Bund in dieser Ansicht. Einige begannen zu disputieren, ob der Präsident den Galgen oder bloß lebenslängliche Deportation verwirkt hätte, und im Gesicht des Präsidenten war die angstvolle Frage zu lesen, welches von beiden es sein würde. Jedoch äußerte er sich, daß er einer Jury seines Vaterlandes mutig gegenübertreten würde. In seiner Ansprache an die Geschworenen würde er sie auffordern, die Hand aufs Herz zu legen und zu bekennen, ob sie als Briten mit Angeberei einverstanden wären und wie sie selbst etwas Derartiges aufgenommen haben würden. Einige Mitglieder des Bundes meinten, daß er lieber davonlaufen und in einem Wald mit einem Holzhauer die Kleider tauschen und sein Gesicht mit Heidelbeeren schwärzen sollte. Die Majorität aber glaubte, wenn er tapfer standhielte, dann könnte ihn sein Vater – da er doch in Westindien lebte und millionenreich war – loskaufen.

Alle unsere Jungen hatten Herzklopfen, als der Reverend hereinkam und mit dem Lineal eine Art Römer oder Feldmarschall aus sich machte. Das tat er stets, bevor er eine Ansprache hielt. Aber ihre Furcht war nichts gegen ihr Erstaunen, als er mit der Geschichte herausrückte, daß der alte Cheeseman, »so lange unser geehrter Freund und Wandergenosse in den angenehmen Gefilden der Wissenschaft«, wie er ihn nannte – jawohl! da war viel davon zu spüren gewesen! –, das verwaiste :Kind einer enterbten jungen Dame war, die gegen ihres Vaters Willen geheiratet hatte und deren Gatte jung gestorben war und die selbst vor Kummer gestorben war und deren unglückliches Kind (eben der alte Cheeseman) auf Kosten eines Großvaters erzogen worden war, der es niemals sehen wollte, als Kind, als Knaben oder als Mann. Dieser Großvater war nun tot, und das geschieht ihm recht – das füge ich hinzu –, und sein großes Vermögen, über das es kein Testament gab, gehörte nun plötzlich und für immer dem alten Cheeseman! Der Reverend schloß eine Menge langweiliger Zitate mit der Mitteilung, daß unser so lange geehrter Freund und Wandergenosse in den angenehmen Gefilden der Wissenschaft heute in vierzehn Tagen »noch einmal unter uns weilen« würde. Er wolle dann noch einmal Abschied von uns nehmen. Mit diesen Worten blickte er unsere Jungen streng an und ging aus dem Zimmer.

Das gab eine nette Verblüffung unter den Mitgliedern des Bundes. Viele wollten austreten, und viele andere versuchten nachzuweisen, daß sie niemals dazu gehört hätten. Jedoch setzte sich der Präsident aufs hohe Roß und sagte, daß sie zusammenstehen oder fallen müßten. Wenn ein Bruch im Bund entstehen sollte, so ginge der Weg dazu nur über seine Leiche. Damit glaubte er den Mitgliedern Mut einzuflößen, aber es nützte nichts. Er fügte noch hinzu, daß er sich ihre Lage überlegen und ihnen in einigen Tagen nach bestem Wissen und Gewissen raten wolle. Alle waren darauf begierig, denn er hatte schon allerhand von der Welt zu sehen bekommen, da sein Vater in Westindien lebte.

Nach tagelangem eifrigem Nachdenken, während dessen er ganze Armeen auf seine Schreibtafel gezeichnet hatte, rief der Präsident unsere Jungen zusammen und setzte ihnen die ganze Sache auseinander. Wenn der alte Cheeseman an dem bestimmten Tage käme, meinte er, so würde seine erste Rache sicherlich sein, den Bund anzuzeigen und dafür zu sorgen, daß sie alle tüchtige Prügel bekämen. Er würde sich an den Qualen seiner Feinde weiden und sein Herz an den Schreien erfreuen, die der Schmerz ihnen erpressen würde. Dann aber würde er aller Wahrscheinlichkeit nach den Reverend angeblich zu einer freundschaftlichen Unterhaltung in ein Privatzimmer einladen – etwa das Sprechzimmer, wo die Eltern empfangen wurden und wo die beiden großen Globusse standen, die nie benutzt wurden – und ihm dann die vielen Betrügereien und Qualen, die er von ihm hatte erdulden müssen, vorwerfen. Am Schluß seiner Bemerkungen würde er einem im Korridor versteckten Preisboxer ein Zeichen geben. Dieser würde daraufhin erscheinen und den Reverend bearbeiten, bis er besinnungslos liegenbleiben würde. Dann würde der alte Cheeseman Jane ein Geschenk von etwa fünf bis zehn Pfund machen und in teuflischem Triumph das Haus verlassen.

Der Präsident erklärte, daß er gegen den Teil dieser Anordnungen, der das Sprechzimmer oder Jane betraf, nichts einzuwenden hätte. Soweit aber der Bund in Frage käme, riete er zum Widerstand bis in den Tod. Zu diesem Zweck empfahl er, daß alle verfügbaren Pulte mit Steinen gefüllt werden sollten und daß das erste Wort einer Klage das Signal für jedes Mitglied sein sollte, dem alten Cheeseman einen an den Kopf zu schleudern. Der kühne Rat versetzte den Bund in bessere Stimmung und wurde einstimmig angenommen. Ein Pfahl, annähernd von der Größe des alten Cheeseman, wurde auf dem Spielplatz aufgepflanzt, und alle unsere Jungen übten sich daran, bis er ganz mit Abdrücken bedeckt war.

Als der Tag kam und die Jungen aufgerufen wurden, setzte sich jeder zitternd auf seinen Platz. Es hatte viele Debatten darüber gegeben, wie der alte Cheeseman erscheinen würde. Die vorherrschende Ansicht war, daß er in einer Art Triumphwagen mit vier Pferden ankommen würde, vorn zwei Diener in Livree und der Preisboxer in Verkleidung hintendrauf. So saßen alle unsere Jungen da und lauschten auf das Rasseln von Wagenrädern. Aber es ließen sich keine Räder vernehmen, denn der alte Cheeseman kam schließlich zu Fuß und betrat ohne jede Vorbereitung die Schule. Er sah so ziemlich aus wie immer, nur daß er schwarz gekleidet war.

»Gentlernen«, sagte der Reverend, ihn vorstellend, »unser so lange geehrter Freund und Wandergenosse in den angenehmen Gefilden der Wissenschaft wünscht ein paar Worte zu sprechen. Aufgepaßt, Gentlemen, alle!«

Jeder Junge fuhr verstohlen mit der Hand in sein Pult und blickte auf den Präsidenten. Der Präsident war vollkommen bereit und zielte bereits mit seinen Augen nach dem alten Cheeseman.

Was aber tat der alte Cheeseman? Ging er nicht an sein altes Pult und sah sich mit einem sonderbaren Lächeln in der Runde um, als hätte er eine Träne im Auge? Und dann begann er mit milder, zitternder Stimme: »Meine lieben Kameraden und alten Freunde!«

Jeder Junge zog seine Hand aus dem Pult und der Präsident begann plötzlich zu weinen.

»Meine lieben Kameraden und alten Freunde«, sagte der alte Cheeseman, »ihr habt von meinem Glück gehört. Ich habe so viele Jahre unter diesem Dach zugebracht – ich darf sagen, mein ganzes bisheriges Leben –, daß ich hoffe, ihr habt euch um meinetwillen darüber gefreut. Es könnte mich niemals glücklich machen, wenn ihr mir nicht Glück gewünscht hättet. Wenn es jemals überhaupt ein Mißverständnis zwischen uns gegeben hat, dann bitte ich, meine lieben Jungen, wir wollen es vergeben und vergessen. Ich habe eine große Zuneigung zu euch und bin sicher, daß ihr sie erwidert. Ich möchte aus dankerfülltem Herzen jedem einzelnen von euch die Hand schütteln. Ich bin zu diesem Zweck zurückgekommen, wenn es euch recht ist, meine lieben Jungen.«

Als der Präsident zu weinen begonnen hatte, hatten verschiedene andere Jungen hier und dort ebenfalls losgeheult. Jetzt aber begann der alte Cheeseman bei ihm als dem Primus, legte ihm die Linke liebevoll auf die Schulter und gab ihm die Rechte; und als der Präsident da sprach: »Ich verdiene das wirklich nicht, Sir; bei meiner Ehre, ich verdiene das nicht«, da schluchzte und heulte die ganze Schule. Jeder einzelne von den übrigen Jungen sagte in fast derselben Weise, er verdiene es nicht. Aber der alte Cheeseman kehrte sich nicht im mindesten daran; er trat fröhlich auf jeden Jungen zu und schloß mit den Lehrern – wobei der Reverend als letzter drankam.

Darauf ließ ein schnüffelnder kleiner Bengel in einer Ecke, der immer irgendeine Strafe abzubüßen hatte, einen schrillen Schrei laut werden: »Viel Glück dem alten Cheeseman! Hurra!« Der Reverend starrte nach ihm hin und sagte: »Mr. Cheeseman, Sir.« Da jedoch der alte Cheeseman beteuerte, daß ihm sein alter Name viel mehr zusage als sein neuer, so nahmen alle unsere Jungen den Ruf auf, und ein paar Minuten lang gab es ein solch donnerndes Händeklatschen und Getrampel und ein solches Gebrüll »alter Cheeseman«, wie es noch nie vernommen worden war.

Im Speisezimmer stand eine prachtvoll gedeckte Tafel bereit. Geflügel, Räucherzungen, Konserven, Obst, Zuckerzeug, Gelees, Punsch, Tempel aus Gerstenzucker, Knallbonbons – eßt, soviel ihr könnt, und steckt ein, soviel ihr mögt –, alles auf Kosten des alten Cheeseman. Darauf Trinksprüche, den ganzen Tag frei, alle möglichen Dinge für alle möglichen Spiele in doppelter und dreifacher Anzahl, Eselreiten, Ponywagen zum Selbstkutschieren und ein Diner für sämtliche Lehrer in den »Sieben Glocken«, zwanzig Pfund das Gedeck, schätzten unsere Jungen. Außerdem wurde ein jährlicher freier Tag und Festschmaus für dieses Datum festgesetzt und ein zweiter an dem Geburtstag des alten Cheeseman. Der Reverend wurde vor den versammelten Jungen dazu verpflichtet, so daß er sich niemals darum drücken kann. Und alles auf Kosten des alten Cheeseman.

Und gingen unsere Jungen nicht alle zusammen nach den »Sieben Glocken« und brachen draußen Hochrufe aus?

Aber außerdem gab es noch etwas. Seht noch nicht nach dem nächsten Erzähler, denn es kommt noch etwas. Am nächsten Tag wurde der Entschluß gefaßt, daß der Bund sich mit Jane aussöhnen und dann aufgelöst werden sollte. Was sagt ihr aber dazu, daß Jane fort war? »Was? Fort für immer?« fragten unsere Jungen mit langen Gesichtern. »Ja, allerdings«, war die ganze Antwort, die sie bekamen. Niemand von den Leuten im Haus wollte mehr sagen. Schließlich unternahm es der Primus, den Reverend zu fragen, ob unsere alte Freundin Jane wirklich fort war. Der Reverend (er hat eine Tochter zu Hause – rotes Gesicht und Stülpnase) erwiderte streng: »Ja, Sir, Miß Pitt ist fort.« So ein Einfall, Jane Miß Pitt zu nennen! Einige sagten, sie wäre in Schande davongejagt worden, weil sie von dem alten Cheeseman Geld angenommen hätte. Andere meinten, sie wäre für zehn Pfund im Jahr mehr bei dem alten Cheeseman in Dienst getreten. Aber jedenfalls wußten unsere Jungen nur das eine mit Bestimmtheit, daß sie fort war.

Es war zwei oder drei Monate später, als eines Nachmittags ein offner Wagen an dem Kricketfeld gerade an den Grenzlinien haltmachte. Darin waren eine Dame und ein Gentleman, die dem Spiel lange Zeit zuschauten und sogar aufstanden, um besser sehen zu können. Niemand kümmerte sich viel um sie, bis derselbe schnüffelnde kleine Bengel gegen alle Regeln von dem Pfahl, wo er Ballfänger war, ins Feld gelaufen kam und sagte: »Es ist Jane.« Beide Elfermannschaften hatten im selben Augenblick das Spiel vergessen, liefen herzu und drängten sich um den Wagen. Es war auch wirklich Jane! Und in was für einem Hut! Und wenn ihr mir glauben wollt – Jane war mit dem alten Cheeseman verheiratet!

Es wurde bald ein gewohnter Anblick, wenn unsere Jungen gerade mitten im Spiel waren, daß ein Wagen an der Ecke der Mauer, wo der niedrige Teil in den höheren übergeht, hielt und eine Dame und ein Gentleman darin standen und hinüberblickten. Der Gentleman war stets der alte Cheeseman und die Dame war stets Jane.

Das erstemal, daß ich sie zu Gesicht bekam, sah ich sie so: Es hatte damals häufige Wechsel unter unseren Jungen gegeben, und es hatte sich herausgestellt, daß Bob Tarters Vater durchaus keine Millionen besaß! Er besaß überhaupt nichts. Bob war Soldat geworden und der alte Cheeseman hatte seine Schulrechnung bezahlt. Aber ich wollte von dem Wagen erzählen. Der Wagen hielt, und alle unsere Jungen hielten im Spielen inne, sobald sie seiner ansichtig wurden.

»So habt ihr mich also doch nicht in Verruf gebracht!« sagte die Dame lachend, als unsere Jungen die Mauer hinaufkletterten, um ihr die Hand zu schütteln. »Wollt ihr das niemals tun?«

»Niemals! Niemals! Niemals!« von allen Seiten.

Ich verstand damals nicht, was sie damit meinte, aber jetzt verstehe ich es natürlich. Jedoch gefiel mir ihr Gesicht und ihre freundliche Art sehr, und ich mußte sie immer angucken – und auch ihn –, während alle unsere Jungen sich so fröhlich um sie drängten.

Sie fragten bald nach mir als einem neuen Jungen; so dachte ich, ich könnte ebensogut die Mauer hinaufklettern und ihnen die Hände schütteln wie die übrigen. Ich freute mich ebensosehr wie die übrigen, sie zu sehen, und war im Augenblick ebenso vertraut mit ihnen.

»Bloß noch vierzehn Tage bis zu den Ferien«, sagte der alte Cheeseman. »Wer bleibt da? Gibt es jemand?«

Viele Finger wiesen auf mich und viele Stimmen riefen: »Der!« Denn es war das Jahr, als ihr alle verreist wart, und mir war ziemlich traurig zumute, das kann ich euch sagen.

»Oh!« sagte der alte Cheeseman. »Aber es ist einsam hier in den Ferien. Er soll lieber mit zu uns kommen.«

So ging ich in ihr schönes Haus und war so glücklich, wie ich nur sein konnte. Sie wissen, wie sie sich gegen Jungen zu verhalten haben, wahrhaftig. Wenn sie zum Beispiel einen Jungen ins Theater führen, dann tun sie es auf die richtige Weise. Sie kommen nicht nach dem Anfang und gehen nicht vor dem Ende. Auch verstehen sie sich darauf, einen Jungen zu erziehen. Man braucht da bloß ihren eigenen anzugucken! Obwohl er noch ganz klein ist, ist er doch schon ein Prachtjunge! Ja, nach Mrs. Cheeseman und dem alten Cheeseman kann ich den kleinen Cheeseman am besten leiden.

So, damit habe ich euch alles erzählt, was ich von dem alten Cheeseman weiß. Und ich fürchte, es ist am Ende nicht viel. Meint ihr nicht auch?

Die Geschichte des armen Verwandten


Die Geschichte des armen Verwandten

Es war ihm sehr peinlich, daß er vor so vielen geachteten Familienmitgliedern den Vorrang haben und als erster mit den Geschichten beginnen sollte, die sie, in fröhlichem Kreis um den weihnachtlichen Kamin versammelt, sich erzählen wollten. Er wandte bescheiden ein, daß es richtiger wäre, wenn »John, unser verehrter Gastgeber« (auf dessen Gesundheit er sich zu trinken gestatte), freundlicherweise den Anfang machen würde. Denn was ihn selbst beträfe, meinte er, wäre er so wenig daran gewöhnt, der erste zu sein, daß wirklich … Aber da hier alle riefen, daß er beginnen müsse, und alle einstimmig dafür waren, daß er beginnen könne, dürfe und solle, hörte er schließlich auf, sich die Hände zu reiben, zog seine Beine unter dem Lehnsessel hervor und begann.

Ich hege keinen Zweifel (sagte der arme Verwandte), daß ich die versammelten Mitglieder unserer Familie durch das Geständnis, das ich abzulegen im Begriff bin, überraschen werde; besonders aber John, unseren verehrten Gastgeber, dem wir für die freigebige Bewirtung des heutigen Tages so viel Dank schuldig sind. Falls ihr mir aber nun die Ehre erweist, von etwas überrascht zu sein, was eine Person von so geringer Bedeutung in der Familie wie ich vorbringt, so will ich nur feststellen, daß ich bei allem, was ich berichte, mit der größten Gewissenhaftigkeit verfahren werde.

Ich bin nicht der, wofür ich gehalten werde. Ich bin ein ganz anderer. Vielleicht wäre es gut, bevor ich fortfahre, einen Blick auf das zu werfen, wofür ich gehalten werde.

Man ist der Ansicht, daß ich niemandes Feind bin als mein eigener. Sollte ich mich darin täuschen, was sehr wahrscheinlich ist, so werden mich die versammelten Mitglieder unserer Familie zurechtweisen. (Hier sah sich der arme Verwandte mit mildem Blick im Kreise um, ob ihm jemand widerspräche.) Man glaubt, daß ich niemals bei irgend etwas besonderen Erfolg hatte. Daß ich im Geschäftlichen versagte, weil ich unkaufmännisch und leichtgläubig war – weil ich den selbstsüchtigen Schlichen meines Partners nicht gewachsen war. Daß ich in der Liebe Unglück hatte, weil ich lächerlich vertrauensselig war – weil ich es für unmöglich hielt, daß Christiana mich hintergehen könnte. Daß ich in meinen Erwartungen von meinem Onkel Chill enttäuscht wurde, weil ich in weltlichen Angelegenheiten nicht so scharf war, wie er es gewünscht hätte. Daß ich das ganze Leben hindurch überhaupt stets betrogen und enttäuscht worden bin. Daß ich jetzt ein Junggeselle zwischen neunundfünfzig und sechzig bin, der ein beschränktes Einkommen in Form einer vierteljährlichen Rente besitzt, über die, wie ich bemerke, John, unser verehrter Gastgeber, keine weitere Anspielung von mir hören möchte.

Das Leben, das ich jetzt führe, stellt sich nach der allgemeinen Annahme etwa folgendermaßen dar:

Ich bewohne in der Clapham Road ein sehr reinliches Hinterzimmer in einem sehr anständigen Haus. Man erwartet von mir, daß ich am Tag nicht zu Hause bin, ausgenommen in Krankheitsfällen, und ich gehe gewöhnlich um neun Uhr morgens fort, unter dem Vorwand, mich ins Geschäft zu begeben. Ich frühstücke – eine Buttersemmel und eine halbe Pinte Kaffee – in dem alten Kaffeehaus in der Nähe der Westminster–Brücke, und dann gehe ich, ohne recht zu wissen wozu, in die City und sitze in Garraways Kaffeehaus und auf der Börse und gehe umher und spreche in ein paar Kontoren vor, wo einige meiner Verwandten oder Bekannten so freundlich sind, mich zu dulden, und wo ich am Kamin stehe, wenn das Wetter gerade kalt ist. In dieser Weise bringe ich den Tag hinter mich, bis es fünf Uhr ist, und dann diniere ich: im Durchschnitt etwa für einen Schilling und drei Pence. Da ich noch ein wenig Geld für meine Abendunterhaltung übrig habe, gucke ich auf dem Heimweg in das alte Kaffeehaus hinein und nehme meine Tasse Tee und vielleicht meine Röstschnitte. So gehe ich denn, so regelmäßig wie der große Uhrzeiger seinen Weg nach der Morgenstunde zurücklegt, wieder nach der Clapham Road zurück und lege mich, zu Hause angekommen, sofort zu Bett. Denn Heizen ist kostspielig, und die Familie, bei der ich wohne, will wegen der Mühe und des Schmutzes, die damit verbunden sind, nichts davon wissen.

Manchmal ist einer meiner Verwandten oder Bekannten so liebenswürdig, mich zum Diner einzuladen. Das sind Feiertage für mich, und ich pflege in der Regel anschließend einen Spaziergang im Park zu unternehmen. Ich bin ein einsamer Mensch und gehe selten in jemands Gesellschaft. Nicht etwa, daß man mich meidet, weil ich schäbig aussehe; denn ich sehe gar nicht schäbig aus, da ich immer einen sehr guten schwarzen Anzug anhabe. Aber ich habe die Gewohnheit angenommen, leise zu sprechen und mich ziemlich schweigsam zu verhalten; meine Laune ist nicht rosig, und so verstehe ich vollkommen, daß ich keinem ein sehr wünschenswerter Gesellschafter bin.

Die einzige Ausnahme von dieser Regel ist das Kind meines Vetters, der kleine Frank. Ich habe eine besondere Zuneigung zu diesem Knaben, und er hängt sehr an mir. Er ist von Natur ein mißtrauischer Junge, und in einer Menschenmenge ist er bald überrannt, wie ich mich ausdrücken darf, und vergessen. Doch vertragen wir beide uns ganz vorzüglich, und es kommt mir so vor, als ob der arme Junge eines Tages meine besondere Stellung in der Familie erben würde. Wir sprechen nur wenig miteinander, und doch verstehen wir uns. Wir gehen Hand in Hand spazieren, und ohne daß wir viel sprechen, weiß er, was ich meine, und weiß ich, was er meint. Als er noch ganz klein war, pflegte ich ihn an die Schaufenster der Spielzeugläden zu führen und ihm die ausgestellten Spielsachen zu zeigen. Dabei fand er überraschend schnell heraus, daß ich ihm eine Menge Geschenke gemacht hätte, wenn ich dazu in der Lage gewesen wäre.

Der kleine Frank und ich gehen zum Monument zum Andenken an die große Londoner Feuersbrunst von 1666 spazieren und sehen es uns von außen an – er liebt das Monument sehr –, und wir gehen zu den Brücken und zu allen Sehenswürdigkeiten, die keinen Eintritt kosten. Zweimal haben wir an meinem Geburtstag gespickten Rinderbraten diniert und sind dann zum halben Preis ins Theater gegangen, wo wir mit tiefstem Interesse zugehört haben. Einst ging ich mit ihm in der Lombard Street, die wir oft aufsuchen, weil ihm meine Erzählung, daß es dort große Reichtümer gibt, diese Straße sehr lieb gemacht hat, als ein Gentleman im Vorübergehen zu mir sagte: »Sir, Ihr kleiner Sohn hat seinen Handschuh fallen lassen.« Ich versichere euch, wenn ihr mein Verweilen bei einem so trivialen Umstand entschuldigen wollt, daß diese zufällige Erwähnung, dieses Kind sei mein eigenes, an mein Herz griff, und mir närrische Tränen in die Augen trieb.

Wenn der kleine Frank aufs Land in die Schule geschickt wird, werde ich in großer Verlegenheit sein, was ich mit mir anfangen soll. Aber ich habe die Absicht, einmal im Monat zu Fuß dorthin zu gehen und ihn an einem freien Nachmittag zu besuchen. Man sagt mir, er wird dann auf der Heide beim Spiel sein; und wenn meine Besuche unwillkommen sein sollten, weil sie den Knaben aufregen, so kann ich ihn aus der Ferne sehen, ohne daß er mich sieht, und dann wieder zurückwandern. Seine Mutter stammt aus einer hochvornehmen Familie, und ich weiß wohl, daß es ihr nicht besonders angenehm ist, wenn wir zuviel zusammen sind. Freilich bin ich wenig dazu geeignet, auf seinen schüchternen Charakter günstig einzuwirken; aber ich glaube, er würde mich über den Augenblick hinaus vermissen, wenn wir gänzlich getrennt würden.

Wenn ich in der Clapham Road sterbe, werde ich nicht viel mehr auf dieser Welt hinterlassen, als ich aus ihr hinwegnehmen werde. Aber ich besitze das Miniaturbild eines Knaben mit fröhlichem Gesicht und lockigem Haar, der am Hals einen offnen Hemdkragen trägt. Meine Mutter hat es für mich anfertigen lassen, aber ich kann nicht glauben, daß es jemals ähnlich war. Dieses wird beim Verkauf nichts einbringen, und ich werde darum bitten, daß es Frank gegeben wird. Ich habe meinem lieben Jungen einen kleinen Brief dazu geschrieben und ihm darin gesagt, daß es mir sehr leid täte, von ihm zu scheiden; aber andererseits wüßte ich auch keinen rechten Grund, warum ich hierbleiben sollte. Ich habe ihm in kurzen Worten den Rat gegeben – den besten, den ich ihm geben konnte –, sich ein warnendes Beispiel daran zu nehmen, welche Folgen es hätte, wenn man niemandes Feind wäre als sein eigener. Ich habe mich auch bemüht, ihn zu trösten wegen dessen, was er, wie ich fürchte, als einen Verlust ansehen wird. Ich habe ihm vorgehalten, daß ich für jeden außer ihm nur ein überflüssiger Mensch war; daß es mir irgendwie mißlungen sei, einen Platz in dieser großen Gesellschaft zu finden, und daß es deshalb besser sei, wenn ich sie verließe.

Dies (sagte der arme Verwandte, indem er sich räusperte und die Stimme ein wenig erhob) ist die allgemeine Ansicht über mich. Nun ist es aber ein bemerkenswerter Umstand – und das ist Zweck und Ziel meiner Geschichte –, daß das alles verkehrt ist. Das ist nicht mein Leben und das sind nicht meine Gewohnheiten. Ich wohne nicht einmal in der Clapham Road. Ich bin verhältnismäßig sehr selten dort. Ich wohne meistens in einem – ich schäme mich fast, das Wort auszusprechen, es klingt so anspruchsvoll – in einem Schloß. Ich will damit nicht sagen, daß es ein alter freiherrlicher Wohnsitz ist, aber es ist doch ein Gebäude, das jedem stets unter der Bezeichnung Schloß geläufig ist. Darin bewahre ich die Einzelheiten meiner Geschichte auf. Sie verhalten sich folgendermaßen:

Es war zur Zeit, als ich noch im Hause meines Onkels Chill wohnte, von dem ich ein beträchtliches Erbe zu erwarten hatte. Ich war ein junger Mensch von nicht mehr als fünfundzwanzig Jahren und hatte gerade John Spatter, der mein Angestellter gewesen war, als Partner aufgenommen. Damals wagte ich es, mich Christiana zu erklären. Ich liebte Christiana, die von ungewöhnlicher Schönheit und in jeder Hinsicht reizend war, seit langem. Zwar mißtraute ich ihrer verwitweten Mutter, da ich fürchtete, daß sie hinterlistig und geldgierig wäre. Jedoch suchte ich um Christianas willen so gut wie möglich von ihr zu denken. Ich hatte niemals jemand anders als Christiana geliebt, und sie war von unserer Kindheit an die ganze Welt, ja viel mehr als die ganze Welt für mich gewesen!

Christiana nahm mit Zustimmung ihrer Mutter meine Bewerbung an, und ich war der glücklichste Mensch auf Erden. Ich führte im Hause meines Onkels Chill ein dürftiges, langweiliges Leben, und meine Dachkammer war so öde und kahl und kalt wie ein oberes Gefängnisgelaß in einer finsteren Festung im Norden. Aber im Besitz von Christianas Liebe brauchte ich nichts weiter auf Erden. Ich würde mit keinem Menschen getauscht haben.

Zum Unglück war mein Onkel Chill ganz und gar von dem Laster der Habsucht beherrscht. Obwohl reich, war er gierig nach jedem Gewinn, knauserte und sparte und führte ein elendes Dasein. Da Christiana ohne Vermögen war, scheute ich mich eine Zeitlang ein wenig, ihm von unserer Verlobung Mitteilung zu machen. Schließlich aber schrieb ich ihm einen Brief und gestand ihm alles wahrheitsgemäß. Diesen legte ich eines Abends vor dem Zubettgehen in seine Hand.

Als ich am nächsten Morgen herunterkam, war mir das Herz schwer. Ich schauerte in der kalten Dezemberluft, die in dem ungeheizten Hause meines Onkels kälter war als auf der Straße. Denn dort schien doch bisweilen die Wintersonne und auf jeden Fall wurde sie von den fröhlichen Gesichtern und Stimmen der Vorübergehenden belebt. So schritt ich auf das lange, niedrige Frühstückszimmer zu, in dem mein Onkel saß. Es war ein großes Zimmer mit einem kleinen Feuer, und auf dem breiten Erkerfenster hatte der nächtliche Regen seine Spuren hinterlassen, als wären es die Tränen obdachloser Menschen. Es ging auf einen wüsten Hof mit einem rissigen Steinpflaster und einem verrosteten Eisengeländer, das zur Hälfte aus dem Boden herausgerissen war. Ein häßlicher Schuppen stand darauf, der einst in den Zeiten des großen Arztes, der das Haus an meinen Onkel verpfändet hatte, als Seziersaal gedient hatte.

Wir standen stets so früh auf, daß wir zu dieser Jahreszeit bei Kerzenlicht frühstückten. Als ich ins Zimmer trat, hatte sich mein Onkel infolge der Kälte so in seinem Lehnstuhl hinter der einen, trübe brennenden Kerze zusammengekauert, daß ich ihn erst gewahr wurde, als ich dicht am Tisch stand.

Als ich ihm die Hand entgegenstreckte, ergriff er seinen Stock (infolge von Gebrechlichkeit ging er stets mit einem Stock im Hause umher), schlug nach mir und sagte:

»Du Narr!«

»Onkel«, erwiderte ich, »ich hätte nicht erwartet, daß Sie so böse sein würden.«

Ich hatte es auch wirklich nicht erwartet, obwohl er ein harter und zorniger alter Mann war.

»Du hast es nicht erwartet?« sagte er. »Wann hast du jemals etwas erwartet? Wann hast du je gerechnet oder an die Zukunft gedacht, du niedriger Hund?«

»Das sind harte Worte, Onkel!«

»Harte Worte? Das sind bloße Federn, wenn man einen Idioten wie dich damit schlagen will«, erwiderte er. »Hier! Betsy Snap! Seht ihn an!«

Betsy Snap, ein häßliches, welkes, gelbgesichtiges altes Weib, war unser einziger Dienstbote. Zu dieser Morgenstunde war sie stets damit beschäftigt, meinem Onkel die Beine zu reiben. Als mein Onkel sie aufforderte, mich anzusehen, legte er seine magere Klaue auf den Scheitel der neben ihm Knienden und wandte ihr Gesicht mir zu. In meiner Angst schoß mir plötzlich der Gedanke durch den Sinn, daß sie beide ein Bild aus dem Seziersaal boten, wie er zur Zeit des Arztes ausgesehen haben mußte.

»Seht das weichliche Muttersöhnchen an!« sagte mein Onkel. »Betrachtet dieses Kindchen! Das ist der Gentleman, der, wie die Leute sagen, niemandes Feind ist als sein eigner. Das ist der Gentleman, der nicht nein sagen kann. Das ist der Gentleman, dem sein Geschäft so riesige Verdienste abwirft, daß er notwendig jüngst einen Partner aufnehmen mußte. Das ist der Gentleman, der eine Frau ohne einen roten Heller heiraten will und der in die Hände von Isebels gerät, die auf meinen Tod spekulieren!«

Jetzt wußte ich, wie groß die Wut meines Onkels war. Denn wenn er nicht fast rasend gewesen wäre, so hätte ihn nichts veranlassen können, dieses alles beendende Wort in den Mund zu nehmen. Sonst durfte es unter keinen Umständen vor ihm ausgesprochen oder angedeutet werden, so widerwärtig war es ihm.

»Auf meinen Tod«, wiederholte er, gleich als trotzte er mir, indem er seinem eigenen Abscheu vor dem Wort Trotz bot. »Auf meinen Tod – Tod – Tod! Aber ich werde die Spekulation zunichte machen. Iß deine letzte Mahlzeit unter diesem Dach, du Jämmerling, und mögest du daran ersticken!«

Ihr könnt euch denken, daß ich nicht viel Appetit auf das Frühstück hatte, zu dem ich in diesen Ausdrücken eingeladen wurde. Jedoch nahm ich meinen gewohnten Platz ein. Ich sah, daß mein Onkel nichts mehr von mir wissen wollte; aber im Besitz von Christianas Herzen konnte ich das mit Gleichmut ertragen.

Er leerte seine Schale Brot und Milch wie gewöhnlich, nur daß er sie auf die Knie genommen und seinen Stuhl von dem Tisch, an dem ich saß, abgerückt hatte. Als er fertig war, blies er bedachtsam die Kerze aus, und der kalte, elende, bleifarbene Tag blickte ins Zimmer herein.

»Nun, Mr. Michael«, sagte er, »bevor wir uns trennen, möchte ich in deiner Gegenwart ein Wort mit diesen Damen sprechen.«

»Wie Sie wünschen, Sir«, erwiderte ich. »Aber Sie täuschen sich und tun uns bitter unrecht, wenn Sie glauben, daß irgendein anderes Gefühl als reine, selbstlose, treue Liebe bei unserer Übereinkunft eine Rolle gespielt hat.«

Darauf erwiderte er bloß: »Du lügst!« – kein Wort weiter.

Wir gingen durch halbgetauten Schnee und halbgefrorenen Regen nach dem Hause, wo Christiana und ihre Mutter wohnten. Mein Onkel war gut mit ihnen bekannt. Sie saßen gerade beim Frühstück und waren überrascht, uns zu dieser Stunde zu sehen.

»Ihr Diener, Ma’am«, sagte mein Onkel zu der Mutter. »Sie erraten wohl den Zweck meines Besuchs, Ma’am. Wie ich höre, schließt dieses Haus eine Welt von reiner, selbstloser, treuer Liebe ein. Ich bin glücklich, das zu bringen, was zur Vervollständigung dieser Welt einzig noch nötig ist. Ich bringe Ihnen Ihren Schwiegersohn, Ma’am, und Ihnen, Miß, Ihren Gatten. Der Gentleman ist ein vollkommen fremder Herr für mich, aber ich wünsche ihm Glück zu seinem weisen Handel.«

Er zeigte mir die Zähne, als er das Zimmer verließ, und ich habe ihn nie wiedergesehen.

Es ist eine ganz falsche Annahme (fuhr der arme Verwandte fort), daß meine teure Christiana sich von ihrer Mutter überreden ließ und einen reichen Mann heiratete; daß sie jetzt oft an mir vorbeifährt und ihre Wagenräder mich mit Kot bespritzen. Nein, nein. Sie heiratete mich.

Wir heirateten sogar früher, als wir beabsichtigt hatten, und das kam so: Ich hatte mir eine bescheidene Wohnung gemietet und sparte und entwarf Pläne um ihretwillen, als sie eines Tages sehr ernst zu mir sagte:

»Mein lieber Michael, ich habe dir mein Herz geschenkt. Ich habe dir gestanden, daß ich deine Liebe erwidere, und ich habe dir mein Wort gegeben, dein Weib zu werden. Ich gehöre dir schon jetzt in guten und in bösen Tagen, als ob wir an dem Tag, als diese Worte zwischen uns gesprochen wurden, geheiratet hätten. Ich kenne dich gut und weiß, daß dein ganzes Leben verdunkelt würde, wenn wir uns trennen. Dein ganzes Wesen, das selbst jetzt für den Kampf mit dem Leben kräftiger gerüstet sein sollte, würde dann nur noch ein Schatten seiner selbst sein!«

»Gott helfe mir, Christiana!« sagte ich. »Du sprichst die Wahrheit.«

»Michael!« sagte sie, mit ihrer ganzen mädchenhaften Hingabe ihre Hand in die meine legend, »wir wollen nicht länger getrennt leben. Ich brauche nur zu sagen, daß ich mit dem, was du mir bieten kannst, zufrieden bin, und ich weiß, daß du glücklich sein wirst. So sage ich es denn von ganzem Herzen. Mühe dich nicht mehr allein; wir wollen gemeinsam die Mühe tragen. Mein lieber Michael, es wäre nicht recht von mir, dir das zu verheimlichen, was du nicht ahnst, was aber mein ganzes Leben verbittert. Meine Mutter bedenkt nicht, daß du alles, was du verloren hast, nur um meinetwillen einbüßtest, nur weil ich dir Treue geschworen hatte. Sie setzt ihr Herz auf Reichtum und will mich zu meinem tiefsten Kummer zu einer anderen Ehe drängen. Ich kann das nicht ertragen, denn es ertragen, hieße treulos gegen dich sein. Ich will lieber deine Sorgen teilen als ihnen nur zuzusehen. Ich wünsche mir kein besseres Heim, als du mir geben kannst. Ich weiß, daß du mit erhöhtem Mut streben und arbeiten wirst, wenn ich ganz dein bin, und so mag es denn sein, sobald du willst!«

Ich war unendlich glücklich an jenem Tage und eine neue Welt öffnete sich vor mir. Wir heirateten ganz kurze Zeit darauf und ich führte mein Weib in mein glückliches Heim. Damals bezogen wir zuerst das Haus, von dem ich gesprochen habe; das Schloß, das wir seitdem stets zusammen bewohnt haben, stammt aus dieser Zeit. Alle unsere Kinder sind darin geboren worden. Unser erstes Kind, das jetzt verheiratet ist, war ein Mädchen, das wir Christiana nannten. Ihr Sohn ist dem kleinen Frank so ähnlich, daß ich sie kaum auseinanderhalten kann.

Auch die herrschende Meinung über die Handlungsweise meines Partners gegen mich ist vollkommen irrig. Er begann mich nicht von oben herab zu behandeln, wie einen armen Schwachkopf, als das unheilvolle Zerwürfnis zwischen mir und meinem Onkel eintrat. Auch bemächtigte er sich nicht allmählich unseres Geschäfts und drängte mich hinaus. Im Gegenteil, er verfuhr gegen mich wie ein vollendeter Ehrenmann.

Die Dinge zwischen uns spielten sich folgendermaßen ab: An dem Tag der Trennung von meinem Onkel, und sogar bevor noch meine Koffer in unserem Kontor anlangten (er hatte sie mir nachgeschickt, ohne den Wagen zu bezahlen), ging ich in unser Geschäftslokal auf unserem kleinen Kai am Fluß. Dort teilte ich John Spatter den Vorfall mit. John gab nicht zur Antwort, daß reiche alte Verwandte greifbare Tatsachen, Liebe und schöne Gefühle aber Mondschein und Phantasterei seien. Er sprach folgendermaßen zu mir:

»Michael«, sagte John, »wir sind zusammen zur Schule gegangen, und ich brachte es in der Regel fertig, besser voranzukommen als du und mir größeres Ansehen zu verschaffen.«

»Das tatest du, John«, erwiderte ich.

»Obgleich«, sagte John, »ich deine Bücher borgte und sie verlor; dein Taschengeld borgte und es verlor; dir meine schadhaften Messer zu einem höheren Preis verkaufte, als der war, den ich neu für sie gegeben hatte; und dich die von mir zerbrochenen Fenster auf deine Kappe nehmen ließ.«

»Alles nicht der Rede wert, John Spatter«, sagte ich; »aber zweifellos wahr.«

»Als du zuerst dieses Geschäft anfingst, das sich so verheißungsvoll anläßt«, fuhr John fort, »kam ich, eine Beschäftigung suchend und bereit, fast jede anzunehmen, zu dir, und du machtest mich zu deinem Angestellten. «

»Ebensowenig der Rede wert, mein lieber John Spatter«, sagte ich; »aber ebenso wahr.«

»Und da du fandest, daß ich gute Fähigkeiten für das Geschäft besaß und dem Geschäft wirklich nützlich war, so wolltest du mich nicht in dieser Stellung belassen, sondern hieltest es für ein Gebot der Gerechtigkeit, mich bald zu deinem Partner zu machen.«

»Noch weniger der Rede wert als die anderen kleinen Umstände, an die du erinnertest, John Spatter«, sagte ich; »denn ich kannte und kenne deine Verdienste und meine Mängel.«

»Nun, mein lieber Freund«, sagte John, meinen Arm durch den seinen ziehend, wie er es in der Schule zu tun pflegte – draußen vor den Fenstern unseres Kontors, die wie die Heckluken eines Schiffes geformt waren, schwammen zwei Fahrzeuge mit der Flut leicht den Fluß hinab, so wie John und ich in diesem Augenblick gemeinsam und voll gegenseitigen Vertrauens auf unsere Lebensreise hätten ausfahren können –, »unter diesen freundlichen Umständen soll in jeder Beziehung Klarheit zwischen uns herrschen. Du bist zu gutmütig, Michael. Du bist niemandes Feind als dein eigener. Wenn ich unter unserer Kundschaft diesen schädlichen Ruf über dich mit einem Achselzucken und einem Kopfschütteln und einem Seufzer verbreitete, und wenn ich ferner dein Vertrauen mißbrauchte …«

»Aber du wirst es niemals mißbrauchen, John«, bemerkte ich.

»Niemals!« sagte er. »Aber ich setze den Fall. Ich sage also, wenn ich ferner dein Vertrauen mißbrauchte, indem ich die eine unserer gemeinsamen Geschäftsangelegenheiten im Dunkeln ließe und eine andere im Licht und noch eine andere im Zwielicht und so fort, so könnte ich Tag für Tag meine starke Stellung verstärken und deine Schwäche vergrößern, bis ich mich schließlich auf dem Wege nach dem Glück befände, während du auf irgendeiner kahlen Wiese in hoffnungsloser Entfernung zurückgeblieben wärst.«

»Ganz richtig«, sagte ich.

»Uni dies oder die leiseste Möglichkeit dazu zu verhindern, Michael«, sagte John Spatter, »müssen wir vollkommen offen gegeneinander sein. Nichts darf verheimlicht werden und wir dürfen beide nur ein Interesse haben.«

»Mein lieber John Spatter«, versicherte ich ihm, »das ist mir aus dem Herzen gesprochen.«

»Und wenn du zu gutmütig bist«, fuhr John fort, während sein Gesicht vor Freundschaft erglühte, »dann mußt du mir erlauben, dafür zu sorgen, daß dieser kleine Fehler von niemand ausgenutzt wird. Du darfst nicht erwarten, daß ich dich darin bestärken werde …«

»Mein lieber John Spatter«, unterbrach ich ihn, »ich erwarte gar nicht, daß du mich darin bestärkst. Ich wünsche, daß du es mir abgewöhnst.«

»Und ich ebenfalls«, sagte John.

»Ganz recht!« rief ich. »Wir haben beide dasselbe Ziel im Auge; und indem wir ehrlich danach streben und volles Vertrauen zueinander haben und nur ein gemeinsames Interesse kennen, wird unsere Partnerschaft blühen und gedeihen.«

»Dessen bin ich gewiß!« erwiderte John Spatter.

Worauf wir uns aufs herzlichste die Hände schüttelten.

Ich nahm John mit nach Hause in mein Schloß, und wir verbrachten einen sehr schönen Tag. Unsere Partnerschaft gedieh. Mein Freund und Partner ergänzte meine Mängel, wie ich es vorausgesehen hatte. Er sorgte für das Geschäft und für mich und vergalt dadurch reichlich das wenige, das ich etwa getan hatte, um ihm im Leben fortzuhelfen.

Ich bin nicht sehr reich (sagte der arme Verwandte, sich bedächtig die Hände reibend und ins Feuer blickend), denn ich habe nie Wert darauf gelegt, es zu sein. Aber ich habe genug, um ein mäßiges, sorgenfreies Leben führen zu können. Mein Schloß ist kein prachtvoller Ort, aber es ist sehr behaglich. Wärme und Fröhlichkeit herrschen darin, und es ist das Bild eines glücklichen Heims.

Unser ältestes Mädchen, das seiner Mutter sehr ähnlich ist, heiratete John Spatters ältesten Sohn. Und auch noch andere Bande knüpfen unsere beiden Familien eng aneinander. Schön sind die Abende, wenn wir alle beisammen sind – was häufig der Fall ist – und John und ich von alten Zeiten reden und von der festen Einigkeit, die stets zwischen uns geherrscht hat.

In meinem Schloß ist es niemals einsam. Einige unserer Kinder oder Enkel sind immer zugegen, und die jungen Stimmen meiner Nachkommen tönen mir köstlich – o wie köstlich! – ins Ohr. Mein teures und mir ganz ergebenes Weib, immer treu, immer liebevoll, immer hilfreich und trostspendend, ist der unschätzbare Segen meines Hauses, und alle anderen Segnungen, mit denen es beglückt ist, stammen von ihr. Wir sind eine ziemlich musikalische Familie, und wenn Christiana gelegentlich sieht, daß ich ein wenig müde oder verstimmt bin, dann stiehlt sie sich ans Klavier und singt ein sanftes Liedchen, das sie in der ersten Zeit unserer Verlobung zu singen pflegte. Ich bin so ein schwacher Mensch, daß ich es von niemand sonst hören kann. Sie spielten es einstmals, als ich mit dem kleinen Frank im Theater war, und das Kind sagte verwundert:

»Vetter Michael, wessen heiße Tränen sind da auf meine Hand gefallen?«

Das ist mein Schloß und das sind die wirklichen Einzelheiten meines Lebens, die darin aufbewahrt sind. Ich nehme oft den kleinen Frank dorthin mit. Meine Enkelkinder empfangen ihn mit offenen Armen, und sie spielen zusammen. Zu dieser Zeit des Jahres – um Weihnachten und Neujahr – bin ich selten außerhalb meines Schlosses. Denn die Gedanken, die die Zeit mit sich bringt, scheinen mich dort festzuhalten und die Gebote der Zeit scheinen mich zu lehren, daß es gut ist, dort zu weilen.

»Und das Schloß ist …«, bemerkte eine ernste, freundliche Stimme aus der Gesellschaft.

»Ja. Mein Schloß«, sagte der arme Verwandte, die Augen noch immer auf das Feuer gerichtet, mit einem Kopfschütteln, »ist in der Luft. John, unser verehrter Gastgeber, hat seine Lage genau erraten. Mein Schloß ist in der Luft! Ich bin zu Ende. Will jemand so freundlich sein und weitererzählen?«

Doktor Marigold


Doktor Marigold

Erstes Kapitel

Muß gleich genommen werden

Ich bin ein fahrender Händler, und der Name meines Vaters war Willum Marigold. Zu seinen Lebzeiten vermuteten einige Leute, sein Name sei William, aber mein Vater behauptete stets hartnäckig, nein, er hieße Willum. Was mich angeht, so begnüge ich mich damit, die Sache von folgendem Standpunkt aus zu betrachten: Wenn es einem Mann in einem freien Lande nicht gestattet sein soll, seinen eigenen Namen zu kennen, was kann ihm da wohl noch in einem Land, wo Sklaverei herrscht, erlaubt sein? Wenn man die Sache vom Standpunkt des Registers aus betrachtet, so kam Willum Marigold auf die Welt, bevor noch Register sehr im Schwange waren – und ebenso verließ er sie auch wieder. Außerdem würden sie ihm sehr wenig zugesagt haben, wenn sie zufälligerweise schon vor ihm aufgekommen wären.

Ich wurde an der Staatsstraße geboren, und mein Vater holte einen Doktor zu meiner Mutter, als das Ereignis auf einer Gemeindewiese eintrat. Dieser Doktor war ein sehr freundlicher Gentleman und wollte als Honorar nichts annehmen als ein Teetablett, und so wurde ich aus Dankbarkeit und als besondere Aufmerksamkeit ihm gegenüber Doktor genannt. Da habt ihr mich also, Doktor Marigold.

Ich bin gegenwärtig ein Mann in mittleren Jahren, von untersetzter Gestalt, in Manchesterhosen, Ledergamaschen und einer Weste mit Ärmeln, an der hinten stets der Riegel fehlt. Man kann ihn so oft ausbessern, wie man will, er platzt immer wieder, wie die Saiten einer Violine. Ihr seid sicher schon im Theater gewesen und habt gesehen, wie einer der Violinspieler, nachdem er an seiner Violine gehorcht hatte, als flüstere sie ihm das Geheimnis zu, sie fürchte, nicht in Ordnung zu sein, an ihr herumdrehte, und auf einmal hörtet ihr, wie die Saite platzte. Genauso geht es auch mit meiner Weste, soweit eine Weste und eine Violine einander gleich sein können.

Ich bevorzuge einen weißen Hut und liebe es, um den Hals ein lose und bequem geschlungenes Tuch zu tragen. Sitzen ist meine Lieblingsstellung, und was meinen Geschmack in bezug auf das Tragen von Schmuck angeht, so habe ich etwas für Perlmuttknöpfe übrig. Da habt ihr mich wieder, in Lebensgröße.

Da der Doktor ein Teetablett annahm, so werdet ihr vermuten, daß bereits mein Vater vor mir ein fahrender Händler war. Darin habt ihr ganz recht; er war auch einer. Es war ein hübsches Tablett. Man sah darauf eine gewichtige Dame, die auf einem gewundenen Kiesweg zu einer kleinen Kirche auf einer Anhöhe hinaufging. Auch zwei Schwäne waren in derselben Absicht herbeigeflattert. Wenn ich sie eine gewichtige Dame nenne, so meine ich damit nicht, daß sie besonders breit gewesen wäre; denn in dieser Beziehung war meiner Ansicht nach nicht viel mit ihr los, aber sie war dafür um so höher: ihre Höhe und Schlankheit war, mit einem Wort gesagt, die Höhe von Höhe und Schlankheit.

Ich habe dieses Tablett oft gesehen, seitdem ich die unschuldig lächelnde (oder, was wahrscheinlicher ist, quäkende) Ursache dafür war, daß der Doktor es in seinem Sprechzimmer auf einem Tisch gegen die Wand gelehnt aufstellte. Stets, wenn mein Vater und meine Mutter in diesem Teil des Landes waren, steckte ich meinen Kopf (ich hatte damals flachsblonde Locken, wie ich meine Mutter habe erzählen hören, obwohl ihr ihn jetzt nicht eher von einem alten Besen unterscheiden könntet, als bis ihr an den Stiel kämet und entdecktet, daß dieser nicht ich bin) zu des Doktors Tür hinein, und der Doktor freute sich stets über meinen Besuch und sagte:

»Aha, mein Herr Kollege! Komm herein, kleiner Dr. med. Hast du Lust, ein Sechspencestück einzustecken?«

Man kann nicht ewig weitermachen, wie ihr wißt, und das konnte auch mein Vater nicht, ebensowenig wie meine Mutter. Falls ihr aber nicht, wenn eure Zeit gekommen ist, auf einmal abrückt, dann werdet ihr es stückweise tun, und es ist zwei gegen eins zu wetten, daß euer Kopf das erste Stück ist. Nach und nach verlor mein Vater den seinen, und meine Mutter verlor den ihren. Es war ganz harmlos, aber es versetzte die Familie, wo ich sie untergebracht hatte, in Unruhe. Das alte Paar begann, obwohl es sich zur Ruhe gesetzt hatte, sich gänzlich und ausschließlich dem fahrenden Handelsgeschäft zu widmen und war ständig damit beschäftigt, den Besitz der Familie auszuverkaufen. Wenn das Tischtuch zum Essen aufgelegt wurde, begann mein Vater mit den Tellern und Schüsseln zu rasseln, wie wir es bei unserem Geschäft tun, wenn wir Geschirr zum Ausschreien aufsetzen; bloß hatte er das Geschick dafür verloren und ließ sie meist fallen, so daß sie zerbrachen. So wie die alte Dame gewohnt gewesen war, im Karren zu sitzen und dem alten Herrn auf dem Trittbrett die Gegenstände einen nach dem anderen zum Verkauf hinauszureichen, in genau der gleichen Weise händigte sie ihm jeden Posten aus dem Besitz der Familie aus, und sie verkauften die Ware in ihrer Phantasie von morgens bis abends. Schließlich ruft der alte Herr, als er und die alte Dame im selben Zimmer krank im Bett liegen, in der alten marktschreierischen Weise aus, nachdem er zwei Tage und zwei Nächte lang kein Wort gesprochen hatte:

»Nun, guckt einmal her, meine wackeren Burschen – als der Nachtigall-Klub im Dorfe legt‘ Ios, im Wirtshaus zum Kohlkopf und Hasen; sie hätten gar prächtig gesungen bloß, daß sie Stimm‘ und Gehör nicht besaßen – nun, guckt einmal her, meine prächtigen Burschen alle, hier ist ein Arbeitsmodell eines verbrauchten alten Händlers, ohne einen Zahn im Mund und mit einem Leiden in jedem Knochen: so lebensähnlich, daß es ebenso gut wäre, wenn es nicht besser wäre, ebenso schlimm, wenn es nicht schlimmer wäre, und ebenso neu, wenn es nicht abgenutzt wäre. Bietet für das Arbeitsmodell des alten Händlers, der zu seiner Zeit mehr Tee mit den Damen getrunken hat, als nötig wäre, um den Deckel von einem Waschkessel abzuheben und ihn um so viel tausend Meilen höher als der Mond in die Luft zu führen als nichts mal nichts, geteilt durch die Nationalschuld, übertrage nichts auf die Armensteuer, drei ab und zwei dazu. Nun, meine Eichenherzen und Strohmänner, was bietet ihr für die Partie? Zwei Schilling, einen Schilling, zehn Pence, acht Pence, sechs Pence, vier Pence. Zwei Pence? Wer hat zwei Pence gesagt? Der Gentleman in dem Vogelscheuchenhut? Ich schäme mich für den Gentleman in dem Vogelscheuchenhut. Ich schäme mich wirklich für ihn wegen seines Mangels an Patriotismus. Nun will ich euch mal sagen, was ich mit euch machen werde. Guckt her! Ich gebe euch noch ein Arbeitsmodell von einer alten Frau dazu, die den alten Händler heiratete vor so langer Zeit, daß es auf ein Ehrenwort in Noahs Arche stattfand, bevor das Einhorn hereinkommen konnte, das Aufgebot zu verhindern, indem es ein Lied auf seinem Horn blies. Nun denkt einmal an! Guckt her! Was bietet ihr für beide zusammen? Ich will euch sagen, was ich mit euch machen werde. Ich bin gar nicht böse auf euch, weil ihr’s euch so lange überlegt. Guckt her! Wenn ihr mir bloß ein Angebot macht, das eurer Stadt ein wenig Ehre einbringt, gebe ich euch noch eine Wärmflasche umsonst dazu und borge euch eine Röstgabel fürs ganze Leben. Nun, was sagt ihr zu dieser glänzenden Offerte? Sagt zwei Pfund, sagt dreißig Schilling, sagt ein Pfund, sagt zehn Schilling, sagt fünf, sagt zweieinhalb. Ihr sagt nicht einmal zweieinhalb? Ihr sagt zweieinviertel? Nein. Für zweieinviertel kriegt ihr die Partie nicht. Eher würde ich sie euch schenken, wenn ihr bloß hübsch genug wärt. Heda! Frau! Schmeiß den alten Mann und die alte Frau in den Karren, spann den Gaul vor und fahre sie fort und begrabe sie!«

Das waren Willum Marigolds, meines Vaters, letzte Worte, und sie wurden von ihm und von seinem Weib, meiner Mutter, an ein und demselben Tag wahrgemacht, was ich am besten wissen muß, da ich als Leidtragender hinter ihnen hergegangen bin.

Mein Vater ist zu seiner Zeit ein reizender Kerl im Geschäftszweig des fahrenden Handels gewesen, wie seine Worte vor dem Tod bewiesen haben. Aber ich bin noch tüchtiger als er. Das sage ich nicht, weil ich von mir selbst rede, sondern weil es von allen, die die Möglichkeit hatten, Vergleiche zu ziehen, allgemein anerkannt worden ist. Ich habe meine Sache studiert. Ich habe mich mit anderen öffentlichen Sprechern verglichen – Parlamentsmitgliedern, Volksrednern, Kanzelpredigern, Advokaten –, und wo ich sie gut fand, habe ich ein Stückchen Phantasie von ihnen geborgt, und wo ich sie schlecht fand, habe ich sie in Ruhe gelassen. Nun will ich euch aber was sagen. Ich bin entschlossen, in mein Grab zu steigen mit der Erklärung, daß von allen Berufen, denen in Großbritannien unrecht geschieht, die Hausierer am schlimmsten dran sind. Warum bilden wir nicht einen Stand? Warum besitzen wir keine Privilegien? Warum zwingt man uns, einen Hausierschein zu lösen, während von den politischen Hausierern nichts dergleichen verlangt wird? Wo ist denn der Unterschied zwischen ihnen und uns? Abgesehen davon, daß wir billig sind, während sie dem Land sehr teuer zu stehen kommen, sehe ich keinen Unterschied, der nicht zu unseren Gunsten ausfiele.

Denn seht einmal her! Nehmen wir an, es ist Wahlzeit. Ich stehe am Samstagabend auf dem Trittbrett meines Karrens. Ich hole eine Partie gemischter Artikel hervor. Ich sage:

»Guckt her, meine freien und unabhängigen Wähler, ich will euch so eine Gelegenheit geben, wie ihr sie alle euer Lebtag noch nicht gehabt habt, und auch in den Tagen davor nicht. Jetzt will ich euch mal zeigen, was ich mit euch machen werde. Hier ist ein Rasiermesser, das euch noch ratzekahler rasieren wird als die Armenbehörde; hier ist ein Bügeleisen, das sein Gewicht in Gold wert ist; hier ist eine Bratpfanne, die kunstvoll mit dem Geruch von Beefsteak-Essenz imprägniert ist, so daß ihr für den Rest eures Lebens bloß Brot und Schmalz darin zu braten braucht, und ihr werdet bis an den Hals mit Fleisch angefüllt sein; hier ist eine echte Chronometer-Taschenuhr in einem so starken Silbergehäuse, daß ihr damit an die Tür klopfen könnt, wenn ihr aus einer Gesellschaft spät nach Hause kommt, und euer Weib und eure Kinder aufwecken, sodaß der Klopfer für den Briefträger reserviert bleibt; und hier habt ihr ein halbes Dutzend Teller, die ihr als Zimbeln verwenden könnt, um das Baby zu beruhigen, wenn es schreit. Halt! Ich tue noch einen anderen Artikel dazu und schenke ihn euch, und das ist ein Teigholz; und wenn das Baby dieses bloß gut in den Mund hineinbekommen kann, wenn es Zähne kriegt, und sich das Zahnfleisch einmal damit reibt, dann werden die Zähne doppelt durchkommen und das Baby wird dabei lachen, als würde es gekitzelt. Haltet noch einmal! Ich tue noch einen Artikel dazu, weil mir eure Gesichter nicht gefallen, denn ihr seht mir nicht wie Käufer aus. Ich weiß, ich verliere an euch, und weil ich lieber verlieren will, als heute abend kein Geld einzunehmen, ist da noch ein Spiegel, in dem ihr sehen könnt, wie häßlich ihr ausseht, wenn ihr nicht bietet. Na, was sagt ihr jetzt? Also los! Sagt ihr ein Pfund? Ihr nicht, denn ihr habt keins. Sagt ihr zehn Schilling? Ihr nicht, denn ihr seid mehr im Abzahlungsgeschäft schuldig. Nun, dann will ich euch mal sagen, was ich mit euch machen werde. Ich lege alles auf einen Haufen auf das Trittbrett des Karrens – hier habt ihr es! Rasiermesser, Bügeleisen, Bratpfanne, Chronometer-Taschenuhr, Teller, Teigholz und Spiegel – nehmt es mit für vier Schilling und ich gebe euch ein Sechspencestück für eure Plackerei!«

So rede ich, der billige Hausierer. Aber am Montagmorgen steigt auf diesem selben Marktplatz der teure Hausierer auf die Rednerbühne – seinen Karren –, und was sagt er?

»Nun, meine freien und unabhängigen Wähler, ich will euch so eine Gelegenheit geben« (er fängt genauso an wie ich), »wie ihr alle euer Lebtag noch nicht gehabt habt, und das ist die Gelegenheit, mich ins Parlament zu schicken. Nun will ich euch sagen, was ich für euch tun werde. Hier habt ihr die Interessen dieser prächtigen Stadt, die ich über die ganze zivilisierte und unzivilisierte Erde erheben werde. Hier ist der Bau eurer Eisenbahn durchgesetzt und die Eisenbahn eurer Nachbarstadt abgelehnt. Hier sind alle eure Söhne bei der Post angestellt. Hier ist Britannia, die euch zulächelt. Hier sind die Augen Europas, die auf euch ruhen. Hier ist allgemeine wirtschaftliche Blüte für euch, Fleisch in Hülle und Fülle, goldene Kornfelder, fröhliche Heimstätten und zufriedene Herzen, alles in einem, und das bin ich selbst. Wollt ihr mich nehmen, wie ich hier stehe? Ihr wollt nicht? Gut, dann will ich euch sagen, was ich mit euch machen werde. Guckt her! Ich tue alles dazu, was ihr verlangt. Hier! Kirchensteuern, Abschaffung der Kirchensteuern, höherer Malzzoll, kein Malzzoll, allgemeine Schulbildung bis zur höchsten Stufe oder allgemeine Unwissenheit bis zur tiefsten, vollständige Abschaffung der Prügelstrafe im Heer oder ein Dutzend Stockschläge für jeden Soldaten regelmäßig einmal im Monat. Unrechte der Männer oder Rechte der Frauen – ihr braucht bloß zu sagen, was es sein soll, nehmen oder lassen, und ich bin ganz und gar eurer Meinung und die Partei gehört euch zu euren eigenen Bedingungen. Nun, ihr wollt sie immer noch nicht nehmen? Gut, dann will ich euch sagen, was ich mit euch machen werde. Hört zu! Ihr seid so freie und unabhängige Wähler, und ich bin so stolz auf euch, und ihr seid ein so edler und erleuchteter Wahlkreis, und ich ersehne so sehr die Ehre und Würde, euer Abgeordneter zu sein, was bei weitem das Höchste ist, zu dem sich der menschliche Geist aufschwingen kann – daß ich euch sagen will, was ich mit euch machen werde. Ich tue noch alle Schenken in eurer prächtigen Stadt umsonst dazu. Seid ihr jetzt zufrieden? Immer noch nicht? Ihr wollt die Partie immer noch nicht nehmen? Nun denn, ehe ich den Gaul einspanne und davonfahre und das Angebot der nächsten allerprächtigsten Stadt mache, die entdeckt werden kann, will ich euch nochmals sagen, was ich mit euch machen werde. Nehmt die Partie, und ich will zweitausend Pfund in den Straßen eurer prachtvollen Stadt verstreuen, sodaß jeder das Geld aufheben kann. Genügt noch nicht? Dann seht einmal her. Das ist das Alleräußerste, was ich tun werde. Es sollen zweitausendfünfhundert sein. Und ihr wollt immer noch nicht? Heda, Frau! spanne den Gaul – doch nein, noch einen Augenblick, ich möchte euch schließlich nicht wegen einer Kleinigkeit den Rücken kehren – es sollen zweitausensiebenhundertundfünfzig Pfund sein. Da! Nehmt die Partie zu euren eigenen Bedingungen, und ich zähle zweitausendsiebenhundertundfünfzig Pfund auf das Trittbrett des Karrens hin, die in den Straßen eurer prächtigen Stadt verstreut werden sollen, so daß jeder das Geld aufheben kann. Was sagt ihr jetzt? Nun kommt! Besser könnt ihr es nicht mehr treffen, höchstens schlimmer. Ihr nehmt es? Hurra! Wieder hineingelegt, und der Sitz ist mein!«

Diese teuren Hausierer seifen das Volk schändlich ein, während wir billigen das niemals tun. Wir sagen den Leuten die Wahrheit ins Gesicht und verschmähen es, ihnen zu schmeicheln. Was Verwegenheit beim Anpreisen der Ware angeht, so sind wir die reinen Waisenkinder gegen die teuren Hausierer. In unserem Handel gilt es als Regel, daß man über eine Flinte besser schwadronieren kann als über jeden anderen Artikel, den wir aus dem Karren hervorholen, mit Ausnahme von einem Paar Brillengläser. Aber wenn ich einen Vortrag halte, was die Flinte vermag und was mit der Flinte schon alles geschossen worden ist, dann gehe ich doch nicht halb so weit wie die teuren Hausierer, wenn sie nicht über ihre Flinten, wohl aber über ihre Kanonen reden – ihre großen Kanonen, die ihre Drahtzieher sind. Außerdem bin ich ein selbständiger Geschäftsmann – ich werde von niemandem mit einem Auftrag auf den Markt geschickt, wie es bei denen der Fall ist. Und ferner wissen meine Flinten nichts von dem, was ich zu ihrem Lob sage, während ihre Kanonen es wissen, und die ganze Gesellschaft sollte sich in Grund und Boden schämen. Das sind einige meiner Gründe für die Behauptung, daß die Hausierer in Großbritannien schlecht behandelt werden; und deshalb gerate ich in Wut, wenn ich an die großen Leute denke, die glauben, sie dürften auf uns herabsehen.

Ich warb um meine Frau von dem Trittbrett des Karrens aus. So war es tatsächlich. Sie war ein junges Mädchen von Suffolk, und es geschah auf dem Marktplatz von Ipswich, dem Laden des Kornhändlers genau gegenüber. Ich hatte sie schon am Sonnabend zuvor an einem Fenster stehen sehen und hatte sie gleich hoch eingeschätzt. Sie gefiel mir, und ich sagte mir: »Falls sie noch nicht vergeben ist, will ich diese Partie nehmen.« Am nächsten Sonnabend stellte ich den Karren auf demselben Fleck auf. Ich war bester Laune, das Publikum lachte in einem fort, und die Sachen gingen ab wie geschmiert. Schließlich zog ich aus meiner Westentasche eine kleine, in Fließpapier eingewickelte Partie hervor und begann folgendermaßen, wobei ich zu dem Fenster, an dem sie stand, emporblickte:

»Nun hier, ihr blühenden Mädels von England, ist ein Artikel, der letzte Artikel vom heutigen Verkauf, den ich nur euch, ihr lieblichen Kinder von Suffolk, die ihr vor Schönheit überströmt, anbiete, und den ich keinem lebendigen Manne für tausend Pfund überlassen würde. Was mag das wohl sein? Ich will euch sagen, was es ist. Es ist aus gediegenem Gold, und es ist nicht zerbrochen, obwohl es in der Mitte ein Loch hat, und es ist stärker als jede Fessel, die je geschmiedet wurde, obgleich es schmäler ist als der dünnste Finger unter meinen zehn. Weshalb gerade zehn? Weil, als meine Eltern mir mein Vermögen vermachten, wie ich euch wahrheitsgemäß versichere, zwölf Laken, zwölf Handtücher, zwölf Tischdecken, zwölf Messer, zwölf Gabeln, zwölf Eßlöffel und zwölf Teelöffel da waren, aber bei meinen Fingern fehlten zwei am Dutzend, und ich habe sie niemals beschaffen können. Nun, was ist es sonst noch? Hört zu, ich will’s euch sagen. Es ist ein Reif aus massivem Gold, eingewickelt in ein silbernes Haarwickelpapier, das ich mit eigener Hand von den glänzenden Locken der unvergänglich schönen alten Dame in Threadneedle Street in der Londoner City 1 genommen habe – ich würde das nicht behaupten, wenn ich euch nicht das Papier vorzeigen könnte, sonst würdet ihr es selbst von mir nicht glauben. Nun, was ist es sonst noch? Es ist eine Männerfalle und eine Handschelle, ein Schließeisen und eine Beinfessel, alles in Gold und alles in einem. Nun, was ist es sonst noch? Es ist ein Ehering. Nun will ich euch sagen, was ich damit machen werde. Ich werde diesen Artikel nicht für Geld anbieten, sondern ich will ihn derjenigen unter euch Schönen geben, die jetzt lachen wird. Bei dieser will ich morgen früh Punkt halb zehn mit dem Glockenschlag einen Besuch machen und mit ihr spazierengehen, um das Aufgebot zu bestellen.«

Sie lachte, und der Ring wurde ihr hinaufgereicht. Als ich am nächsten Morgen zu ihr komme, sagt sie:

»Du lieber Himmel! Da seid Ihr ja! Es kann Euch doch nicht Ernst gewesen sein?«

»Da bin ich«, sage ich, »und ich bin für immer der Eurige, und es ist mein heiliger Ernst.«

So wurden wir getraut, nachdem wir dreimal aufgeboten worden waren – was, nebenbei bemerkt, ganz unseren Geschäftsgebräuchen entspricht und wieder einmal zeigt, wie sehr diese Gebräuche die ganze Gesellschaft durchdringen.

Sie war kein böses Weib, aber sie hatte ein reizbares Temperament. Wenn ich diesen Artikel unter Preis hätte loswerden können, so hätte ich sie für kein anderes Weib in ganz England hergegeben. Das soll nicht heißen, daß ich sie in Wirklichkeit hergegeben habe, denn wir lebten zusammen, bis sie starb, und das waren dreizehn Jahre. Nun, meine Lords und Ladies und mein ganzes verehrtes Publikum, ich will euch in ein Geheimnis einweihen, wenn ihr mir auch nicht glauben werdet. Dreizehn Jahre reizbares Temperament in einem Palast würden die Schlimmsten unter euch auf eine harte Probe stellen, aber dreizehn Jahre reizbares Temperament in einem Karren würden die Besten unter euch auf die Probe stellen. In einem Karren ist man so sehr aufeinander angewiesen, müßt ihr verstehen. Es gibt Tausende von Ehepaaren unter euch, die in fünf und sechs Stockwerke hohen Häusern wie Öl auf dem Wetzstein miteinander auskommen und die in einem Karren zum Scheidungsrichter laufen würden. Ob das Rütteln des Karrens es vielleicht schlimmer macht, das weiß ich nicht; aber in einem Karren geht es einem auf die Nerven und läßt einen nicht los. Böse Worte in einem Karren sind noch böser und Ärger in einem Karren ist noch ärgerlicher.

Und dabei hätten wir ein so schönes Leben haben können! Ein geräumiger Karren, an dem die großen Artikel draußen aufgehängt waren, während das Bett, wenn wir auf der Fahrt waren, zwischen den Rädern untergebracht war; ein eiserner Topf und ein Kessel, ein Kamin für die kalten Tage, ein Ofenrohr für den Rauch, ein Hängesims und ein Schrank, ein Hund und ein Pferd. Was kann man noch mehr verlangen? Man macht halt auf einem Rasenplatz an einem Feldweg oder an der Landstraße, man fesselt dem alten Gaul die Beine und läßt ihn grasen, man zündet sein Feuer auf der Asche des vorigen Besuchers an, man schmort seinen Braten, und man möchte den Kaiser von China nicht zum Vater haben. Aber wenn man ein reizbares Temperament im Karren hat, das einem böse Worte und die härtesten Handelsartikel an den Kopf wirft, wie ergeht es einem dann? Versucht einmal, eure Gefühle in diesem Fall auszudrücken!

Mein Hund wußte genauso gut wie ich, wann sie in der richtigen Verfassung war. Noch bevor sie loslegte, pflegte er einmal aufzuheulen und auszureißen. Woher er es wußte, war mir schleierhaft; aber er wußte es so sicher und bestimmt, daß er aus dem tiefsten Schlaf erwachte, aufheulte und davonlief, wenn es wieder einmal soweit war. Zu solchen Zeiten wünschte ich, ich steckte in seiner Haut.

Das Schlimmste aber war dies: Wir hatten eine Tochter, und ich liebe Kinder von ganzem Herzen. Wenn sie nun wütend war, so schlug sie das Kind, und das wurde so unerträglich, als das Kind vier oder fünf Jahre alt war, daß ich oft mit der Peitsche über der Schulter neben dem alten Gaul hergegangen bin, schlimmer weinend und schluchzend als die kleine Sophy. Denn wie konnte ich dagegen einschreiten? Mit einem solchen Temperament und in einem Karren ist nicht daran zu denken, wenn es nicht zu einer Prügelei kommen soll. Es liegt an der natürlichen Größe und den Raumverhältnissen eines Karrens, daß es dann zu einer Prügelei kommen muß. Passierte das dann wirklich einmal, so wurde das arme Kind noch mehr geängstigt als zuvor, und es erging ihm in der Regel auch noch übler, und seine Mutter beklagte sich bei den Nächstbesten, die uns begegneten, und da hieß es dann: »Da hat dieser gemeine Kerl von einem Händler sein Weib geschlagen.«

Und dabei war die kleine Sophy so ein braves Kind! Wie sie aufwuchs, fühlte sie sich immer mehr ihrem armen Vater zugetan, obwohl er so wenig tun konnte, um ihr beizustehen. Sie hatte wunderbar dichtes, glänzendes Haar, das in natürlichen Locken ihr Gesicht umrahmte. Ich staune jetzt über mich selbst, daß ich nicht in Raserei verfiel, wenn ich zusehen mußte, wie sie vor ihrer Mutter um den Karren davonlief, und wie ihre Mutter sie dann bei diesem Haar packte, zu Boden riß und auf sie losschlug.

Ich sagte, sie sei so ein braves Kind gewesen, und ich habe Grund dazu.

»Mache dir das nächstemal nichts daraus, Vater«, pflegte sie mir zuzuflüstern, während ihr Gesichtchen noch gerötet und ihre leuchtenden Augen noch feucht waren. »Wenn ich nicht laut schreie, dann kannst du wissen, daß es nicht sehr weh tut. Und selbst wenn ich laut schreie, dann will ich Mutter bloß dazu bringen aufzuhören und mich in Ruhe zu lassen.«

Was habe ich das liebe kleine Wesen ertragen sehen – um meinetwillen –, ohne aufzuschreien!

Doch kümmerte sich in anderen Dingen ihre Mutter sehr um sie. Ihre Kleider waren stets sauber und nett, und ihre Mutter war unermüdlich dabei, sie in Ordnung zu halten. So unlogisch geht es im Leben zu. Ich glaube, unser Aufenthalt in sumpfigen Gegenden bei schlechtem Wetter war die Ursache, daß Sophy schleichendes Fieber bekam. Aber wie dem auch sei, sowie sie es bekam, wandte sie sich für immer von ihrer Mutter ab, und nichts konnte sie dazu bewegen, sich von ihrer Mutter Hand anrühren zu lassen. Sie erschauerte und sagte: »Nein, nein, nein«, wenn diese ihr einen Dienst leisten wollte; sie verbarg dann ihr Gesicht an meiner Schulter und klammerte sich fest an meinen Hals.

Das Geschäft ging aus verschiedenen Gründen schlechter als je, am meisten aber war die Eisenbahn daran schuld, und ich glaube, daß sie uns Händlern zuletzt noch vollends den Garaus machen wird. So war denn zur Zeit, als die kleine Sophy so krank war, an einem Abend kein Heller mehr in der Kasse; wollte ich es nicht so weit kommen lassen, daß wir nichts mehr zu essen und zu trinken kaufen konnten, so mußte ich den Karren aufstellen. Das tat ich also.

Ich konnte das liebe Kind nicht dazu bringen, sich hinzulegen oder mich loszulassen, und ich hatte auch gar nicht das Herz dazu; so stellte ich mich denn auf das Trittbrett, während sie sich an meinem Hals festklammerte. Sie lachten alle, als sie uns so sahen, und ein Schafskopf von einem Bauer (den ich deswegen haßte) machte das Angebot: »Zwei Pence für sie!«

»Nun, ihr Bauerntölpel«, sage ich, mit einem Gefühl, als hinge mein Herz wie ein schweres Gewicht am Ende einer zerrissenen Fensterleine, »ich warne euch, daß ich im Begriff bin, euch das Geld aus der Tasche zu zaubern. Denn ich will euch so viel mehr geben, als euer Geld wert ist, daß ihr in Zukunft, wenn ihr am Sonnabend euren Lohn ausgezahlt kriegt, immer nach mir Ausschau halten werdet, um das Geld bei mir anzulegen. Aber ihr werdet vergeblich warten, und warum? Weil ich mein Glück dadurch gemacht habe, daß ich meine Waren en gros um fünfundsiebzig Prozent unter Einkaufspreis losgeschlagen habe, und infolgedessen nächste Woche als Herzog ins Oberhaus berufen werde. Nun laßt mich wissen, was ihr heute abend braucht, und ihr sollt es kriegen. Aber vor allem, soll ich euch sagen, warum ich diese Kleine an meinem Hals hängen habe? Ihr wollt das nicht wissen? Nun sollt ihr’s erst recht hören. Sie ist eine von den Elfen. Sie kann wahrsagen. Sie kann mir alles über euch zuflüstern und mir genau sagen, ob ihr eine Sache kaufen wollt oder nicht. Braucht ihr zum Beispiel eine Säge? Nein, sie sagt, ihr braucht keine, weil ihr zu ungeschickt seid, um mit ihr umzugehen. Sonst wäre hier eine Säge, die für einen tüchtigen Mann ein Segen fürs ganze Leben wäre – für vier Schilling, für dreieinhalb, für drei, für zweieinhalb, für zwei, für achtzehn Pence. Aber keiner von euch soll sie zu irgendeinem Preis kriegen, wegen eurer bekannten Ungeschicklichkeit, deretwegen die Sache reiner Mord würde. Dasselbe gilt für diesen Satz von drei Hobeln, die ich euch auch nicht verkaufen werde; so bietet also nicht darauf. Nun will ich sie einmal fragen, was ihr braucht.« (Dabei flüsterte ich: »Dein Kopf ist so heiß, daß ich fürchte, er tut dir sehr weh, mein Liebling«, worauf sie, ohne ihre festgeschlossenen Augen zu öffnen, antwortete: »Ein klein wenig, Vater.«) »Oh, diese kleine Wahrsagerin sagt mir, ihr bräuchtet ein Notizbuch. Weshalb habt ihr es denn nicht gleich gesagt? Hier ist es. Guckt es euch an. Zweihundert Seiten extrafeines satiniertes Velinpapier – wenn ihr’s mir nicht glaubt, so zählt sie nach –, vollständig liniiert für eure Ausgaben, ein wenig gespitzter Bleistift, um sie niederzuschreiben, ein Federmesser mit doppelter Klinge, um sie auszuradieren, ein Buch mit gedruckten Tabellen, um euer Einkommen danach zu berechnen, und ein Feldstuhl zum Hinsetzen, während ihr damit beschäftigt seid. Halt! Noch etwas! Ein Sonnenschirm, um den Mondschein abzuhalten, wenn ihr in einer pechfinsteren Nacht damit beschäftigt seid. Nun will ich euch nicht fragen, wieviel für die Partie, sondern wie wenig. Wie wenig denkt ihr wohl? Sprecht nur ohne Scham, weil meine Wahrsagerin es bereits weiß.« (Ich tat so, als flüsterte ich, aber ich küßte sie, und sie mich.) »Nun, sie sagt, ihr denkt an so wenig wie drei Schilling und drei Pence! Ich hätte es nicht glauben können, selbst von euch nicht, wenn sie es mir nicht gesagt hätte. Drei Schilling und drei Pence! Und gedruckte Tabellen mit dabei, die euer Einkommen bis zu vierzigtausend Pfund im Jahr berechnen! Bei einem Einkommen von vierzigtausend Pfund im Jahr geizt ihr mit drei Schilling und drei Pence. Nun, dann will ich euch meine Meinung sagen. Ich verachte die drei Pence so, daß ich lieber drei Schilling dafür nehme. Hier. Für drei Schilling, drei Schilling, drei Schilling. Zugeschlagen. Gebt sie dem glücklichen Mann dort.«

Da überhaupt niemand geboten hatte, sah sich jedermann um und einer grinste den andern an, während ich das Gesicht meiner kleinen Sophy betastete und sie fragte, ob sie sich schwach oder schwindlig fühle.

»Nicht sehr, Vater. Es wird bald vorüber sein.«

Dann wandte ich mich von den hübschen, geduldigen Augen, die jetzt offen waren, ab und wieder meinen Kunden zu. Ich sah nichts als grinsende Gesichter beim Schein meiner Talgpfanne und fuhr fort, sie in meinem Stil anzureden.

»Wo ist der Schlächtergeselle?« (Mein kummervolles Auge hatte gerade einen fetten jungen Schlächtergesellen am äußeren Rand der Menge wahrgenommen.) »Sie sagt, der Schlächtergeselle wäre der glückliche Mann. Wo ist er?«

Die Leute stießen den errötenden Schlächtergesellen nach vorn, und es gab ein Gelächter, und der Schlächtergeselle fühlte sich verpflichtet, die Hand in die Tasche zu stecken und die Partie zu nehmen. Wenn man so einen aus der Menge heraussucht, fühlt er sich meistens verpflichtet, die Partie zu nehmen. Dann hatten wir noch eine Partie, die Wiederholung der ersten, und verkauften sie um sechs Pence billiger, was den Leuten immer großen Spaß macht. Dann kamen die Brillengläser dran. Sie sind keine besonders einträgliche Partie, aber ich setze sie auf, und ich sehe, um wieviel der Finanzminister die Steuern senken wird, und ich sehe, was der Liebste des jungen Mädels mit dem Tuch gerade zu Hause treibt, und ich sehe, was beim Bischof zu Mittag aufgetragen wird, und noch allerhand andere Sachen, die selten verfehlen, sie gut gelaunt zu machen; und je besser die Laune, desto besser die Angebote. Dann kam die Damenpartie dran – die Teekanne, die Teebüchse, die Zuckerdose aus Glas, ein halbes Dutzend Löffel und der Warmbierbecher –, und die ganze Zeit über gebrauchte ich ähnliche Vorwände, um nach meinem armen Kind zu sehen und ihm ein paar Worte zuzuflüstern. Gerade als die zweite Damenpartie das Publikum gefesselt hielt, fühlte ich, wie die Kleine sich an meiner Schulter ein wenig aufrichtete, um über die finstere Straße zu blicken.

»Was fehlt dir, Liebling?«

»Nichts fehlt mir, Vater. Ich fühle mich ganz ruhig. Aber sehe ich nicht dort drüben einen hübschen Friedhof?«

»Ja, mein Kind.«

»Küsse mich noch einmal, Vater, und lege mich dann auf das Friedhofsgras zum Schlafen hin, das so weich ist.«

Ihr Haupt sank auf meine Schulter nieder, und ich wankte in den Karren hinein und sagte zu ihrer Mutter:

»Rasch. Schließ die Tür! Damit es diese lachenden Leute nicht sehen!«

»Was gibt’s?« schreit sie.

»O Weib, Weib«, sage ich zu ihr, »du wirst meine kleine Sophy niemals wieder bei den Haaren reißen, denn sie ist von dir weggeflogen!«

Vielleicht klangen diese Worte härter, als ich sie gemeint hatte; aber von dieser Zeit an begann mein Weib tiefsinnig zu werden. Sie konnte stundenlang mit gekreuzten Armen und die Augen auf den Boden geheftet im Karren sitzen oder neben ihm hergehen. Wenn ihre Wutanfälle kamen (und sie waren jetzt seltener als früher), so nahmen sie jetzt eine neue Form an, und sie schlug auf sich selbst los in einer Weise, daß ich sie festhalten mußte. Auch trank sie ab und zu ein wenig, was nicht dazu beitrug, daß es besser mit ihr wurde. So pflegte ich denn in den folgenden Jahren, während ich neben dem alten Gaul herschritt, Betrachtungen darüber anzustellen, ob es wohl viele Karren auf der Landstraße gäbe, die so viel Traurigkeit wie meiner enthielten, obwohl man zu mir als dem König der fahrenden Händler emporblickte. So traurig ging unser Leben weiter bis zu einem Sonnabend, als wir aus dem Westen Englands nach Exeter hineinkamen. Da sahen wir, wie eine Frau grausam auf ein Kind einschlug, während das Kind schrie: »Schlag mich nicht! O Mutter, Mutter, Mutter!« Da hielt sich mein Weib die Ohren zu und lief wie von Sinnen davon, und am nächsten Tag zog man sie aus dem Fluß.

Ich und mein Hund waren jetzt die einzigen Bewohner, die im Karren zurückgeblieben waren. Ich brachte dem Hund bei, ein kurzes Bellen auszustoßen, wenn sie nicht bieten wollten, und noch einmal zu bellen und mit dem Kopf zu nicken, wenn ich ihn fragte:

»Wer hat eine halbe Krone gesagt? Sind Sie der Gentleman, Sir, der eine halbe Krone geboten hat?«

Er wurde ungeheuer beliebt, und man wird mich nicht von dem Glauben abbringen, daß er es sich ganz von selbst beibrachte, jeden in der Menge anzuknurren, der bloß sechs Pence bot. Aber er war schon sehr bejahrt, und eines Abends, als ich ganz York mit den Brillengläsern in Lachkrämpfe versetzte, verfiel er gerade auf dem Trittbrett neben mir in einen Krampf von ganz anderer Art, und das war sein Ende.

Da ich von Natur ein zartes Gemüt habe, so fühlte ich mich jetzt schrecklich einsam. Wenn ich auf dem Trittbrett stand und verkaufte, konnte ich zwar meine Gefühle unterkriegen, denn ich hatte einen Namen aufrechtzuerhalten (ganz abgesehen davon, daß ich mich selbst zu erhalten hatte). Aber im Privatleben drückten sie mich nieder und fielen über mich her. So geht es oft mit uns Leuten der Öffentlichkeit. Wenn ihr uns auf dem Trittbrett seht, dann möchtet ihr gleich alles, was ihr habt, hingeben, um an unserer Stelle zu sein. Seht uns aber einmal an, wenn wir abgetreten sind, und ihr würdet noch eine Kleinigkeit zugeben, um von dem Handel wieder loszukommen. So war meine Stimmung, als ich mit einem Riesen Bekanntschaft machte. Ich wäre vielleicht ein bißchen zu fein dafür gewesen, um mich mit ihm zu unterhalten, wären nicht meine Einsamkeitsgefühle gewesen. Denn bei uns fahrenden Leuten ist die Scheidelinie dort, wo die Verkleidung anfängt. Wenn ein Mann sich nicht auf seine unverkleideten Fähigkeiten verlassen kann, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, dann sieht man ihn als auf einer tieferen Stufe stehend an. Und wenn dieser Riese auf den Brettern stand, so trat er als Römer auf.

Er war ein junger Mann von schlaffem Wesen, was meiner Meinung nach von dem großen Abstand zwischen seinen Extremitäten herrührte. Er hatte einen Kopf von geringem Umfang und noch geringerem Inhalt; er hatte schwache Augen und schwache Knie, und man konnte sich, wenn man ihn ansah, des allgemeinen Gefühls nicht erwehren, daß sowohl für seine Gelenke wie für seinen Geist zuviel von ihm da war. Aber er war ein freundlicher, wenn auch schüchterner junger Mensch (seine Mutter vermietete ihn und gab das Geld für sich aus), und wir wurden miteinander bekannt, als er zu Fuß von einem Jahrmarkt zum anderen ging, um dem Pferd ein wenig Ruhe zu gönnen. Man nannte ihn Rinaldo di Velasco, doch sein wirklicher Name war Pickleson.

Dieser Riese namens Pickleson vertraute mir unter dem Siegel der Verschwiegenheit an, daß er sich erstens selbst zur Last wäre und daß ferner das Leben ihm zur Last gemacht würde durch die Grausamkeit seines Herrn gegen eine taubstumme Stieftochter. Ihre Mutter war tot, sie hatte keine Menschenseele, die sich ihrer annahm, und wurde schändlich behandelt. Sie reiste nur deshalb mit der Karawane seines Herrn, weil man sie nirgends lassen konnte, und dieser Riese namens Pickleson ging sogar so weit zu glauben, daß sein Herr oft den Versuch machte, sie auf dem Weg zu verlieren. Er war ein so schlaffer junger Mann, daß es unendlich lange dauerte, bis er diese Geschichte von sich gegeben hatte, aber sie gelangte doch allmählich zu seiner obersten Extremität.

Als ich diesen Bericht von dem Riesen namens Pickleson vernahm und er mir ferner erzählte, daß das arme Mädchen schönes, langes schwarzes Haar habe und oft daran zu Boden gezogen und geschlagen werde, da konnte ich den Riesen durch das, was feucht in meinen Augen stand, nicht mehr sehen. Nachdem ich sie mir gewischt hatte, schenkte ich ihm ein Sechspencestück (denn man hielt ihn so kurz, wie er lang war), und er leistete sich zwei Gläschen Gin mit Wasser dafür. Diese machten ihn so munter, daß er das beliebte komische Lied: »Ist’s nicht kalt?« vortrug – eine vom Publikum sehr begehrte Nummer, die sein Herr durch zahllose andere Mittel vergeblich aus ihm herauszukriegen versucht hatte, wenn er als Römer auftrat.

Sein Herr hieß Mim. Er war ein sehr heiserer Mann, und ich kannte ihn von früheren Unterhaltungen her. Ich ging als bloßer Zuschauer zu diesem Jahrmarkt, nachdem ich den Karren außerhalb der Stadt untergebracht hatte, und ich sah mich während der Vorstellung an der Rückseite der Wohnwagen um. Endlich traf ich auf das arme taubstumme Mädchen, das im Halbschlaf an ein kotiges Wagenrad gelehnt dasaß. Beim ersten Blick hätte ich beinahe geglaubt, sie sei aus einer Menagerie wilder Tiere ausgebrochen; aber beim zweiten hatte ich einen günstigeren Eindruck und dachte, man müsse sie bloß besser versorgen und freundlicher behandeln, dann würde sie meinem verlorenen Kind ähnlich sein. Sie war gerade in dem Alter, in dem meine Tochter gewesen wäre, wenn ihr hübsches Köpfchen an jenem unseligen Abend nicht auf meine Schulter niedergesunken wäre.

Kurz, ich sprach vertraulich mit Mim, während er draußen zwischen zwei Partien die Glocke läutete, und ich sagte zu ihm:

»Sie liegt Euch schwer auf der Tasche; was wollt Ihr für sie haben?«

Mim pflegte stets entsetzlich zu fluchen. Wenn ich diesen Teil seiner Antwort, der bei weitem der längste war, übergehe, so lautete sie:

»Ein Paar Hosenträger.«

»Nun, ich will Euch sagen«, sage ich, »was ich mit Euch machen werde. Ich werde euch ein halbes Dutzend der feinsten Hosenträger im Karren holen und das Mädchen dann mit mir fortnehmen.«

Darauf Mim (wieder mit einigen Flüchen):

»Ich werde es glauben, wenn ich die Sachen habe, und nicht früher.«

Ich lief, so rasch ich konnte, damit er es sich nicht etwa noch anders überlegte, und der Handel kam zustande. Pickleson freute sich so sehr darüber, daß er der Länge nach, wie eine Schlange, zu seiner kleinen Hintertür herauskam und uns »Ist’s nicht kalt?« zwischen den Rädern zum Abschied flüsternd vortrug.

Es waren glückliche Tage für uns beide, als Sophy und ich in dem Karren zu reisen begannen. Ich hatte ihr ein für allemal den Namen Sophy gegeben, damit sie für immer mir gegenüber die Stellung meiner leiblichen Tochter einnehmen sollte. Durch die Güte des Himmels gelang es uns bald, uns zu verständigen, sobald sie zu der Überzeugung gekommen war, daß ich es ehrlich und freundlich mit ihr meinte. In ganz kurzer Zeit hatte sie eine wunderbare Zuneigung zu mir gefaßt. Ihr könnt euch nicht denken, wie es ist, wenn jemand einem wunderbar zugetan ist, wenn nicht die Einsamkeitsgefühle, von denen ich euch erzählt habe, euch nicht schon niedergedrückt haben und über euch hergefallen sind.

Ihr hättet gelacht – oder das Gegenteil, das hängt von eurem Gemüt ab –, wenn ihr bei meinen Versuchen, Sophy zu unterrichten, hättet dabeisein können. Zuerst halfen mir dabei – ihr würdet das nie erraten – die Meilensteine. Ich verschaffte mir einige große Alphabete in einer Schachtel, jeder Buchstabe für sich auf einem kleinen Stäbchen, und angenommen, wir fuhren nach Windsor, so setzte ich die Buchstaben zu diesem für sie zusammen, machte sie dann auf jeden Meilenstein aufmerksam, auf dem die Buchstaben in derselben Reihenfolge standen, und wies schließlich auf die königliche Residenzstadt, der wir uns näherten. Ein andermal stellte ich die Buchstaben KARREN für sie zusammen und schrieb dann dasselbe Wort mit Kreide auf den Karren. Ein andermal gab ich ihr DOKTOR MARIGOLD und heftete ein Schildchen mit der entsprechenden Aufschrift auf meine Weste. Die Leute, die uns begegneten, starrten uns zwar an und lachten, aber was machte ich mir daraus, wenn sie die Sache nur begriff. Sie begriff sie, nachdem ich viel Geduld und Mühe aufgewendet hatte, und von da an ging es wie geschmiert, das könnt ihr mir glauben. Zu Anfang war sie zwar ein wenig geneigt, mich für den Karren zu halten und den Karren für die königliche Residenzstadt, aber das war bald vorüber.

Wir hatten auch unsere privaten Zeichen, und es waren viele Hunderte. Bisweilen saß sie, den Blick auf mich gerichtet, da und überlegte eifrig, wie sie sich über etwas Neues mit mir verständigen könnte – wie sie mich etwas fragen könnte, was sie erklärt zu haben wünschte –, und dann war sie (oder es schien mir zumindest so) meinem Kind, wenn es ebenso alt gewesen wäre wie sie, so ähnlich, daß ich halb glaubte, es sei es wirklich und wäre nur gekommen, um mir zu erzählen, wo es im Himmel gewesen wäre und was es seit jener unseligen Nacht gesehen hätte, nachdem es davongeflogen war. Sie hatte ein hübsches Gesicht, und jetzt, wo sie niemand mehr an ihrem glänzenden schwarzen Haar zerrte und es in Ordnung war, lag etwas Rührendes in ihren Blicken, das den Karren ruhig und friedlich, aber nicht im mindesten melancholisch machte.

Es war wirklich zum Staunen, wie sie jeden meiner Blicke zu verstehen lernte. Wenn ich abends mit dem Verkaufen beschäftigt war, saß sie, vom Publikum ungesehen, im Wagen drinnen, sah mir scharf in die Augen, wenn ich einen Blick hineinwarf, und reichte mir dann ohne Zögern genau den Artikel oder die Artikel, die ich brauchte. Und dann klatschte sie vor Freude in die Hände und lachte. Und was mich angeht, so mußte ich immer daran denken, wie sie ausgesehen hatte, als ich ihr zum erstenmal begegnet war: wie sie schlafend gegen das kotige Karrenrad gelehnt dagesessen hatte, halb verhungert, verprügelt und in Lumpen gehüllt. Und sie jetzt dagegen so glücklich zu sehen, das stimmte mich so froh, daß mein Ruf besser denn je wurde. Aus Dankbarkeit aber vermachte ich Pickleson (unter dem Namen »Mims reisender Riese, sonst Pickleson geheißen«) in meinem Testament eine Fünfpfundnote.

Dieses glückliche Leben im Wohnwagen ging so weiter, bis Sophy sechzehn Jahre alt war. Um diese Zeit befielen mich Zweifel, ob ich meine volle Pflicht an ihr getan hätte und ob sie nicht einen besseren Unterricht haben müßte, als ich ihn ihr geben konnte. Es gab viele Tränen auf beiden Seiten, als ich anfing, ihr diese meine Meinung auseinanderzusetzen; aber was recht ist, ist recht, und man kann weder durch Tränen noch Lachen darum herumkommen.

So faßte ich sie eines Tages bei der Hand und ging mit ihr zur Taubstummenanstalt in London, und als der Gentleman kam, um mit uns zu sprechen, sagte ich zu ihm:

»Nun will ich Ihnen mal sagen, was ich mit Ihnen machen werde, Sir. Ich bin bloß ein Hausierer, aber in den letzten Jahren habe ich trotzdem etwas für einen regnerischen Tag zurückgelegt. Das hier ist meine einzige Tochter (durch Adoption), und Sie können bestimmt kein tauberes oder stummeres Mädchen finden. Lehren Sie sie alles, was ihr in der kürzesten Trennungszeit, die Sie mir nennen können, beigebracht werden kann – bestimmen Sie den Preis dafür – und ich zahle Ihnen den Preis auf den Tisch. Ich werde Ihnen nicht einen einzigen Penny davon abziehen, Sir, sondern lege Ihnen das Geld hier und jetzt auf den Tisch und ich gebe Ihnen aus Dankbarkeit noch ein Pfund zu. Das ist alles!«

Der Gentleman lächelte und sagte dann:

»Gut, gut. Erst muß ich aber wissen, was sie bereits gelernt hat. Wie verständigt Ihr Euch mit ihr?«

Daraufhin zeigte ich es ihm und sie schrieb mit Druckbuchstaben viele Bezeichnungen von Gegenständen und so weiter auf. Außerdem hatten sie und ich eine lebhafte Unterhaltung über eine kleine Geschichte in einem Buch, die der Gentleman ihr zeigte und die sie zu lesen vermochte.

»Das ist ja ganz außerordentlich«, sagte der Gentleman. »Ist es möglich, daß Ihr ihr einziger Lehrer wart?«

»Ich bin ihr einziger Lehrer gewesen, Sir«, sagte ich, »abgesehen von ihr selbst.«

»Dann«, sagte der Gentleman, und angenehmere Worte habe ich nie vernommen, »seid Ihr ein gescheiter Mann und ein guter Mann.«

Das machte er Sophy verständlich, die ihm die Hände küßte, die ihrigen zusammenschlug und dazu weinte und lachte.

Wir sprachen im ganzen viermal mit dem Gentleman, und als er meinen Namen aufschrieb und mich fragte, woher in aller Welt ich den Vornamen Doktor hätte, da stellte es sich heraus, daß er der leibliche Neffe der Schwester ebendesselben Doktors war, nach dem man mich genannt hatte. Das brachte uns einander noch näher, und er sagte zu mir:

»Nun, Marigold, sagt mir, was soll Eure Adoptivtochter noch mehr lernen?«

»Ich möchte, Sir, daß sie durch ihre Gebrechen so wenig wie möglich von der Welt abgeschnitten ist, und deshalb soll sie alles Geschriebene ganz leicht und gut lesen können.«

»Was wollt Ihr nachher mit ihr machen?« fragte der Gentleman mit einem etwas zweifelnden Blick. »Wollt Ihr sie im Land herumführen?«

»Im Karren, Sir, lediglich im Karren. Sie wird im Karren ein privates Leben führen, verstehen Sie. Es würde mir niemals einfallen, ihre Gebrechen vor das Publikum zu bringen. Kein Geld der Welt sollte mich dazu bewegen, sie öffentlich zu zeigen.«

Der Gentleman nickte und schien meinen Worten Beifall zu zollen.

»Schön«, sagte er. »Könnt Ihr Euch für zwei Jahre von ihr trennen?«

»Um ihr diese Wohltat zuteil werden zu lassen – ja, Sir.«

»Noch eine Frage«, sagte der Gentleman, die Augen auf sie gerichtet – »kann sie sich für zwei Jahre von Euch trennen?«

Ich weiß nicht, ob das an sich eine härtere Sache war (denn die andere war hart genug für mich), aber es war härter, damit fertig zu werden. Sie fand sich jedoch schließlich darein, und die Trennung zwischen uns wurde beschlossen. Wie weh es uns beiden tat, als sie stattfand und als ich sie an einem dunklen Abend an der Tür verließ, davon will ich nicht reden. Aber das weiß ich bestimmt: In Erinnerung an jenen Abend werde ich niemals an dieser Anstalt vorbeigehen können, ohne daß das Herz mir weh tut und die Kehle sich mir zuschnürt; auch könnte ich an diesem Ort nicht einmal die beste Partie mit meiner gewohnten guten Laune anbieten – selbst die Flinte und die Brille nicht –, mag mir auch der Minister des Innern fünfhundert Pfund Belohnung dafür bieten und die Ehre, hinterher meine Beine unter seinen Mahagonitisch zu strecken, als Zugabe.

Trotzdem empfand ich die Einsamkeit im Wagen, die jetzt folgte, nicht mehr so stark wie früher. Denn sie hatte ihre festgesetzte Frist, wie lange das Ende auch noch anstehen mochte, und wenn ich ein wenig bedrückt war, so konnte ich mich mit dem Bewußtsein trösten, daß sie zu mir und ich zu ihr gehörte. Immer mit Plänen für die Zukunft beschäftigt, in der sie wieder dasein würde, kaufte ich nach einigen Monaten einen zweiten Wohnwagen, und was glaubt ihr wohl, was ich damit beabsichtigte? Ich will es euch sagen. Ich beabsichtigte, ihn mit Regalen und Büchern für ihre Lektüre auszustatten und für mich selbst einen Sitz darin anzubringen, wo ich sitzen, ihr beim Lesen zusehen und mich über den Gedanken freuen konnte, daß ich ihr erster Lehrer gewesen war. Ohne die Sache zu übereilen, ließ ich unter meiner eignen Aufsicht die einzelnen Teile mit allerhand Kunstgriffen zusammenschlagen. Hier war ihr Bett in einer Koje mit Vorhängen, dort war ihr Lesepult, hier ihr Schreibtisch, und an einer anderen Stelle befanden sich ihre Bücher, Reihe auf Reihe, mit und ohne Bilder, gebunden und ungebunden, mit Goldrand und einfach, so wie ich sie partienweise für sie zusammenlas, während ich im Land herumzog, in Nord und Süd und Ost und West, soweit der Wind im Land bläst, hier und da und an jedem Ort, über die Berge und weiter fort. Und als ich den Karren so ziemlich mit Büchern gefüllt hatte, fiel mir ein neuer Plan ein, der, wie sich dann herausstellte, meine Zeit und Aufmerksamkeit für eine gute Weile in Anspruch nahm und mir über die beiden Jahre hinweghalf.

Ohne habgierig zu sein, habe ich es doch gern, wenn meine Sachen mir gehören. Zum Beispiel möchte ich nicht einmal euch als Partner an meinem Händlerkarren haben. Nicht etwa, daß ich euch mißtraue, aber mir ist es lieber, ich weiß, daß er mein eigen ist. Ebenso wäre es euch wahrscheinlich lieber, ihr wüßtet, daß er euch gehört. Nun gut! Eine Art Eifersucht begann sich meiner zu bemächtigen, wenn ich daran dachte, daß alle diese Bücher schon lange, bevor sie von ihr gelesen wurden, von anderen Leuten gelesen worden waren. Mir schien es, als ob das ihr Besitzrecht daran beeinträchtigte. So tauchte denn folgender Gedanke in mir auf: Könnte ich nicht ein ganz neues Buch, das eigens für sie gemacht wäre, herstellen lassen, so daß sie die erste sein würde, die es liest?

Dieser Gedanke gefiel mir, und da ich niemals derjenige gewesen bin, der einen Gedanken in sich schlafen ließ (denn in meinem Beruf muß man die ganze Gedankenfamilie, die man hat, aufwecken und ihre Nachthauben verbrennen, oder man kommt unter die Räder), so machte ich mich sogleich an die Ausführung. Da ich so weit im Land herumkam und es meine Aufgabe sein würde, je nach Gelegenheit mit verschiedenen Schriftstellern einen Handel abzuschließen, entwarf ich den Plan, daß dieses Buch eine gemischte Partie sein sollte. Es sollte so etwas sein wie das Rasiermesser, das Bügeleisen, die Chronometer-Taschenuhr, die Dinnerteller, das Teigholz und der Spiegel zusammen und nicht wie die Brillengläser oder die Flinte als ein einzelner, individueller Artikel angeboten werden. Als ich zu diesem Entschluß gekommen war, faßte ich gleichzeitig einen zweiten, den ich euch ebenfalls mitteilen will.

Ich hatte schon oft bedauert, daß sie mich noch niemals gehört hatte, wenn ich auf dem Trittbrett stand, und daß sie mich niemals würde hören können. Nicht daß ich eitel bin, aber wer stellt gern sein Licht unter einen Scheffel? Was hat man von seinem Ruf, wenn man dem Menschen, von dem man am meisten geschätzt werden möchte, nicht verständlich machen kann, worauf er beruht? Entscheidet die Frage selbst. Ist er dann sechs Pence, fünf Pence, vier Pence, drei Pence, zwei Pence, einen Penny, einen halben Penny, einen Farthing wert? Nein, das ist nicht der Fall. Er ist keinen Farthing wert. Schön! Ich faßte deshalb den Entschluß, ihr Buch mit einem Bericht über mich selbst zu beginnen. Sie sollte einige Proben von mir auf dem Trittbrett zu lesen bekommen, so daß sie sich einen Begriff von meinem Talent machen könnte. Dabei war ich mir vollkommen darüber klar, daß ich mir selbst nicht Gerechtigkeit widerfahren lassen könnte. Ein Mensch kann seinen Blick nicht niederschreiben (wenigstens weiß ich nicht, wie ich das tun sollte), noch kann ein Mensch seine Stimme niederschreiben, noch seine Art zu sprechen, noch die Lebhaftigkeit seiner Bewegungen, noch sein ganzes Auftreten. Aber er kann seine Redewendungen niederschreiben, wenn er ein öffentlicher Redner ist – und ich habe schon oft gehört, daß manche das auch tun, bevor sie sie vortragen.

Na ja! Als dieser Entschluß bei mir feststand, erhob sich die Frage des Titels. Wie hämmerte ich dieses heiße Eisen zu einer brauchbaren Form? Auf folgende Weise: Die schwierigste Erklärung, die ich ihr jemals zu geben versucht hatte, war die gewesen, wie ich zu dem Namen Doktor kam und doch keiner war. Schließlich hatte ich das Gefühl gehabt, daß ich es ihr trotz der größten Mühe nicht richtig hatte beibringen können. Ich baute aber auf ihre Fortschritte in den zwei Jahren und hoffte, sie würde es verstehen, wenn sie es von meiner eigenen Hand niedergeschrieben lesen würde. Darauf kam ich auf den Gedanken, sie mit einem Scherz auf die Probe zu stellen und darauf zu achten, wie sie ihn aufnahm, wonach ich mir dann schon ein Urteil bilden könnte, ob sie es verstanden hatte oder nicht. Ich hatte das Mißverständnis, das zwischen uns bestand, zuerst entdeckt, als sie mich bat, ihr ein Rezept auszustellen; denn sie hatte geglaubt, ich wäre ein medizinischer Doktor. Deshalb dachte ich: »Wenn ich jetzt dieses Buch meine Rezepte betitle, und wenn sie den Gedanken erfaßt, daß meine Rezepte einzig und allein für ihr Vergnügen und ihren Nutzen gedacht sind – um sie auf angenehme Weise lachen oder auf angenehme Weise weinen zu machen –, so wird das ein köstlicher Beweis für uns beide sein, daß wir die Schwierigkeit überwunden haben.« Mein Plan hatte den glänzendsten Erfolg. Denn als sie das Buch sah, das ich hatte herstellen lassen – das gedruckte und gebundene Buch, das auf ihrem Pult im Karren lag –, und den Titel sah. »Doktor Marigolds Rezepte«, blickte sie mich eine Sekunde lang erstaunt an, schlug dann schnell die Blätter um, brach in der reizendsten Weise in Lachen aus, fühlte ihren Puls und schüttelte den Kopf, blätterte dann die Seiten um mit einer Miene, als läse sie sie mit der größten Aufmerksamkeit, küßte das Buch mit dem Blick zu mir und drückte es mit den beiden Händen an ihre Brust. In meinem ganzen Leben habe ich mich nicht mehr gefreut!

Aber ich will den Ereignissen nicht vorgreifen. (Ich entnehme diesen Ausdruck einer Partie Romane, die ich für sie gekauft hatte. Ich habe nie einen davon aufgeschlagen – und ich habe viele aufgeschlagen –, ohne daß der Verfasser nicht irgendwo schrieb: »Ich will den Ereignissen nicht vorgreifen.« Da das so ist, wundert es mich nur, weshalb er dann doch vorgriff, oder wer es von ihm verlangte.) Ich will also den Ereignissen nicht vorgreifen. Dieses Buch nahm meine ganze freie Zeit in Anspruch. Es war kein Kinderspiel, die anderen Artikel in der gemischten Partie zusammenzubekommen, aber als es zu meinem eigenen Artikel kam! Du lieber Himmel! Ich hätte nie geglaubt, wieviel man wieder auszustreichen hatte, wie sehr man sich Mühe geben mußte und welche Summe von Geduld dazu nötig war. Es ist geradeso wie auf dem Trittbrett: das Publikum hat keine Ahnung, was alles dazu gehört.

Schließlich war es fertig, und die zwei Jahre waren, wie die ganzen anderen Jahre vorher, dahingegangen, und wer weiß, wohin sie alle gekommen sind? Der neue Wagen war fertig – gelb angestrichen mit roten Streifen und Messingbeschlägen –, der alte Gaul war davorgespannt, ein neuer, und ein Junge für den Verkaufskarren eingestellt, und ich machte mich recht sauber zurecht, um sie abzuholen. Das Wetter war kalt und klar, die Wagenkamine rauchten, die Wagen selbst waren auf einem Stück Brachland in Wandsworth privat aufgestellt, wo man sie von der Südwest-Eisenbahn aus sehen kann, wenn sie nicht auf der Tour sind. (Ihr müßt zum Fenster rechter Hand hinaussehen, wenn ihr von London wegfahrt.)

»Marigold«, sagte der Gentleman, indem er mir herzlich die Hand drückte, »ich freue mich sehr, Euch zu sehen.«

»Und doch zweifle ich, Sir«, sagte ich, »ob Sie sich halb so freuen können, mich zu sehen, wie ich mich freue, Sie zu sehen.«

»Die Zeit schien so lang zu sein – nicht wahr, Marigold?«

Ach will das nicht sagen, Sir, in Anbetracht ihrer wirklichen Länge; doch …«

»Welche Überraschung, mein guter Freund!«

Oh, und was für eine Überraschung! So erwachsen, so hübsch, so verständig, so ausdrucksvoll! In diesem Augenblick wußte ich, daß sie wirklich meinem Kind gleichen mußte, denn sonst hätte ich sie niemals zu erkennen vermocht, wie sie so still an der Tür stand.

»Ihr seid bewegt«, sagte der Gentleman.

»Ich fühle, Sir«, sagte ich, »daß ich bloß ein rauher Bursche in einer Weste mit Ärmeln bin.«

»Und ich fühle«, erwiderte der Gentleman, »daß Ihr es wart, der sie aus Elend und Niedrigkeit emporhob und ihr die Möglichkeit gab, mit ihren Mitmenschen in Beziehung zu treten. Aber weshalb unterhalten wir beide uns hier allein, wo wir doch so gut mit ihr sprechen können? Redet sie in Eurer Art an.«

»Ich bin so ein rauher Bursche in einer Weste mit Ärmeln, Sir«, sagte ich, »und sie ist ein so anmutiges Mädchen und steht so still an der Tür!«

»Versucht einmal, ob sie auf das alte Zeichen antwortet«, sagte der Gentleman.

Sie hatten es mit Absicht so unter sich ausgemacht, um mir eine Freude zu bereiten! Denn als ich ihr das alte Zeichen machte, stürzte sie zu meinen Füßen hin und streckte, auf den Knien liegend, die Hände zu mir empor, während Tränen der Liebe und des Glücks über ihr Gesicht strömten. Und als ich sie bei den Händen faßte und aufhob, schlang sie die Arme um meinen Hals und blieb so still. Ich war so närrisch vor Freude, daß ich wirklich nicht weiß, was ich alles anstellte, bis wir uns alle drei hinsetzten und eine lautlose Unterhaltung begannen, als ob eine sanfte Stille über die ganze Welt für uns ausgebreitet wäre.

Zweites Kapitel

Muß fürs ganze Leben genommen werden

So war denn mein Plan in jeder Beziehung erfolgreich. Das Leben, das wir nach unserer Wiedervereinigung führten, war schöner als alles, was wir erwartet hatten. Freude und Zufriedenheit gingen mit uns, wenn die Räder der beiden Wagen sich drehten, und sie machten mit uns halt, wenn die beiden Wagen haltmachten. Ich war so stolz wie ein Mops, dem man für eine Abendgesellschaft den Maulkorb geschwärzt und den Schwanz mit einer Maschine gekräuselt hat.

Aber ich hatte etwas bei meiner Rechnung übersehen. Nun, was hatte ich übersehen? Um euch beim Raten zu helfen, will ich sagen, eine Größe. Also los. Ratet und ratet richtig. Null? Nein. Neun? Nein. Acht? Nein. Sieben? Nein. Sechs? Nein. Fünf? Nein. Vier? Nein. Drei? Nein. Zwei? Nein. Eins? Nein. Nun will ich euch mal sagen, was ich mit euch machen werde. Ich will so viel mitteilen, daß es eine ganz andere Art von Größe ist. Also? Dann muß es eine sterbliche Größe sein, sagt ihr. Nein, es ist keine sterbliche Größe. Auf diese Weise werdet ihr in die Enge getrieben, und ihr könnt nicht anders, als auf eine unsterbliche Größe zu tippen. Da seid ihr auf der richtigen Spur. Warum habt ihr das nicht gleich gesagt?

Ja. Es war eine unsterbliche Größe, die ich bei meiner Rechnung gänzlich übersehen hatte. Es war kein Mann und keine Frau, sondern ein Kind. Ein Knabe oder ein Mädchen? Ein Knabe. Der Knabe mit Pfeil und Bogen. Jetzt habt ihr es erraten.

Wir waren unten in Lancaster und das Geschäft war zwei Abende lang viel besser als durchschnittlich gegangen, obwohl ich die Leute dort, um der Wahrheit die Ehre zu geben, nicht gerade als eine leicht zu gewinnende Zuhörerschaft empfehlen kann. Mims reisender Riese mit Namen Pickleson war zufällig gleichzeitig in der Stadt und versuchte, das Publikum zu blenden. Er hatte sich die vornehme Art zugelegt. Keine Spur von Reisewagen. Durch einen mit grünem Tuch ausgeschlagenen Eingang ging es in ein Auktionslokal hinein zu Pickleson. Gedrucktes Plakat: »Freikarten aufgehoben, mit Ausnahme des stolzen Ruhmes eines freien Landes, der freien Presse. Für Schulen ermäßigter Eintritt nach Vereinbarung. Nichts, um die Jugend erröten zu machen oder selbst die Feinfühligsten zu verletzen.« Mim hinter einer mit rosa Tuch überzogenen Kasse, in der fürchterlichsten Weise über die Schwerfälligkeit des Publikums fluchend. In den Läden Zettel aufgehängt, mit der ernsthaften Versicherung, es wäre so gut wie unmöglich, die Geschichte Davids richtig zu verstehen, wenn man Pickleson nicht gesehen habe.

Ich ging in das fragliche Auktionslokal und fand nichts darin als Echos und modrige Luft, mit einziger Ausnahme Picklesons, der auf einem roten Teppich stand. Das kam mir gerade recht, da ich ein paar vertrauliche Worte mit ihm zu sprechen hatte, und so begann ich:

»Pickleson, da ich Euch ein großes Glück verdanke, habe ich Euch in meinem Testament mit einer Fünfpfundnote bedacht; aber, um die Sache kurz zu machen, hier habt Ihr vier Pfund auf der Stelle, was Euch wohl ebenso lieb ist, und damit wollen wir das Geschäft abmachen.«

Pickleson, der vor dieser Bemerkung das trübselige Aussehen einer langen römischen Kerze gehabt hatte, erhellte sich an seinem oberen Ende und drückte seinen Dank aus in einer Weise, die (für ihn) parlamentarische Beredsamkeit war. Er fügte noch hinzu, er hätte als Römer nicht mehr gezogen, und Mim hätte ihm deshalb den Vorschlag gemacht, als Indianerriese aufzutreten, der durch »Des Milchmanns Tochter« bekehrt worden wäre. Pickleson aber hatte erklärt, ihm sei das nach dieser jungen Dame benannte Traktätchen vollkommen unbekannt, auch verbiete ihm die ernste Auffassung seines Berufes derartige Scherze, worauf es zu einem Wortwechsel kam, der für den unglücklichen jungen Mann die gänzliche Entziehung des Biers zur Folge hatte. All das wurde während des ganzen Gesprächs durch das wilde Brummen Mims unten an der Kasse bestätigt, und dieser Ton ließ den Riesen wie dürres Laub erbeben.

Derjenige Teil meiner Unterhaltung mit dem reisenden Riesen namens Pickleson, der sich auf mein gegenwärtiges Thema bezog, war folgender:

»Doktor Marigold« – ich wiederhole seine Worte, ohne einen Versuch zu machen, dem Leser einen Begriff von der Schwäche zu geben, mit der sie vorgebracht wurden – »wer ist der Fremde, der sich bei Euren Karren herumtreibt?«

»Der Fremde?« wiederhole ich seine Frage, in der Meinung, daß er sie meint, sich aber in seinem schwachen Zustand im Artikel vergriffen hat.

»Doktor«, sagt er darauf, mit einem rührenden Nachdruck, der selbst einem Mannesauge eine Träne entlockt hätte, »ich bin zwar schwach, aber doch noch nicht so schwach, daß ich nicht wüßte, was ich sage. Ich wiederhole deshalb, Doktor, der Fremde.«

Es stellte sich nun heraus, daß Pickleson, der seine Glieder nur dann strecken durfte, wenn man ihn nicht umsonst sehen konnte (nämlich zu später Nachtzeit und gegen Tagesanbruch), in dieser selben Stadt Lancaster, in der ich mich erst zwei Abende lang aufhielt, diesen selben Fremden zweimal in der Nähe meiner Wagen beobachtet hatte.

Das versetzte mich in Unruhe. Was es im einzelnen zu bedeuten hatte, das ahnte ich ebensowenig, wie ihr es jetzt ahnen könnt, aber es machte mir Sorgen. Trotzdem tat ich Pickleson gegenüber so, als wäre die Sache nicht ernst zu nehmen, und ich verabschiedete mich von ihm mit dem Rat, sein Vermächtnis zur Kräftigung seiner Gesundheit zu verwenden und sich seine Religion nach wie vor nicht nehmen zu lassen. Gegen Morgen hielt ich nach dem Fremden Ausschau, und – was mehr war – ich sah ihn. Er war ein gutgekleideter, hübscher junger Mensch. Er ging ganz nahe bei meinen Wagen hin und her, so als ob er sie bewachte, und kurz nachdem es Tag geworden war, drehte er sich um und ging davon. Ich rief hinter ihm her, aber er fuhr weder zusammen noch drehte er sich um und nahm auch nicht die geringste Notiz davon.

Etwa ein oder zwei Stunden später verließen wir Lancaster, um nach Carlisle zu fahren. Am nächsten Morgen gegen Tagesanbruch hielt ich wieder nach dem fremden jungen Mann Ausschau. Ich bekam ihn nicht zu sehen. Aber am folgenden Morgen paßte ich abermals auf, und diesmal war er wieder da. Ich rief wiederum hinter ihm her, aber, wie das erstemal, gab er nicht das geringste Zeichen, daß er irgendwie betroffen war. Das brachte mich auf einen Gedanken. Ich folgte meinem Einfall und beobachtete ihn in verschiedener Weise und zu verschiedenen Zeiten – die Einzelheiten tun nichts zur Sache –, bis ich herausfand, daß dieser fremde junge Mann taubstumm war.

Diese Entdeckung brachte mich ganz aus dem Häuschen. Ich wußte, daß in einem Teil der Anstalt, wo sie gewesen war, junge Männer untergebracht waren (einige darunter in guten Verhältnissen), und ich dachte mir: »Wenn sie ihn vorzieht, wo bleibe dann ich? Und wo bleibt alles, wofür ich Pläne gemacht und gearbeitet habe?« In der Hoffnung – ich muß gestehen, daß ich so selbstsüchtig war –, daß sie ihn nicht vorzöge, machte ich mich daran, die Wahrheit herauszufinden. Schließlich wurde ich zufällig Zeuge einer Zusammenkunft zwischen ihnen. Es war im Freien, und ich stand hinter einer Fichte verborgen, ohne daß sie von meiner Anwesenheit etwas ahnten. Es war ein rührendes Zusammentreffen für uns alle drei. Ich verstand jede Silbe, die zwischen ihnen gewechselt wurde, ebensogut wie sie selbst. Ich belauschte sie mit meinen Augen, die es gelernt hatten, eine Taubstummenunterhaltung ebenso rasch und sicher aufzufassen, wie meine Ohren gesprochene Worte verstanden. Er war im Begriff, als kaufmännischer Angestellter nach China zu gehen zu einer Firma, wo früher sein Vater beschäftigt gewesen war. Sein Einkommen erlaubte es ihm, eine Frau zu ernähren, und er wollte, daß sie ihn heiraten und mit ihm gehen sollte. Sie sagte hartnäckig nein. Er fragte sie, ob sie ihn nicht liebe. Doch, sie liebe ihn von ganzem Herzen, aber sie könnte niemals ihrem geliebten, guten, edlen, großmütigen und ich weiß nicht was noch alles Vater (damit meinte sie mich, den fahrenden Hausierer in der Ärmelweste) die Enttäuschung bereiten, ihn zu verlassen, und sie wolle bei ihm bleiben, der Himmel segne ihn!, und wenn ihr das Herz darüber bräche. Hier fing sie bitterlich zu weinen an, und damit war mein Entschluß gefaßt.

Solange ich mir über ihre Gefühle zu diesem jungen Mann im unklaren gewesen war, hatte ich eine so unvernünftige Wut auf Pickleson gehabt, daß es gut für ihn war, sein Vermächtnis gleich ausgezahlt gekriegt zu haben. Denn ich hatte oft gedacht: »Wenn dieser schwachköpfige Riese nicht gewesen wäre, so wäre es vielleicht nie dazu gekommen, daß ich mir wegen dieses jungen Mannes den Kopf zerbreche und die Seele aus dem Leib ärgere.« Aber, sobald ich einmal wußte, daß sie ihn liebte – sobald ich gesehen hatte, wie sie Tränen um ihn vergoß – da war es eine ganz andere Sache. Ich bat Pickleson auf der Stelle im Geiste alles ab, und nahm mich zusammen, um allen gegenüber das Rechte zu tun.

Inzwischen hatte sie den jungen Mann verlassen (denn es dauerte einige Minuten, bevor ich mich gänzlich zusammengenommen hatte), und er stand gegen eine andere Fichte gelehnt und hatte das Gesicht auf den Arm gepreßt. Ich berührte ihn am Rücken. Er blickte auf, und als er mich wahrnahm, sagte er in der Taubstummensprache: »Seid nicht böse.«

»Ich bin nicht böse, guter Junge. Ich bin Euer Freund. Kommt mit mir.«

Ich ließ ihn an den Stufen des Bibliothekswagens stehen und ging allein hinauf. Sie wischte sich die Augen.

»Du hast geweint, mein Kind.«

»Ja, Vater.«

»Weshalb?«

»Mir tut der Kopf weh.«

»Nicht das Herz?«

»Ich sagte der Kopf, Vater.«

»Doktor Marigold muß für diesen Kopfschmerz ein Rezept ausstellen.«

Sie nahm das Buch mit meinen »Rezepten« auf und hielt es mit einem gezwungenen Lächeln in die Höhe. Da sie mich aber so ernst und ruhig sah, legte sie es sacht wieder hin, und ihre Augen blickten mich mit größter Aufmerksamkeit an.

»Das Rezept ist nicht da drin, Sophy.«

»Wo ist es denn?«

»Hier, mein Kind.«

Ich führte ihren jungen Gatten herein, und ich legte ihre Hand in die seine, und die einzigen Worte, die ich noch an die beiden richten konnte, lauteten:

»Doktor Marigolds letztes Rezept. Muß fürs ganze Leben genommen werden.«

Darauf lief ich davon.

Zur Hochzeit trug ich zum ersten und letzten Mal in meinem ganzen Leben einen Rock (blau mit Metallknöpfen) und ich gab Sophy mit eigener Hand hinweg. Die Gesellschaft bestand bloß aus uns dreien und dem Gentleman, unter dessen Obhut sie während der vergangenen zwei Jahre gestanden hatte. Das Hochzeitsmahl für vier Personen fand im Bibliothekswagen statt. Taubenpastete, gepökelter Schweinebraten, ein Geflügel, dazu passendes Gemüse und das Schönste und Beste zu trinken. Ich hielt eine Rede, der Gentleman hielt eine Rede, alle unsere Späße hatten Erfolg, und das Ganze nahm seinen Gang wie eine Rakete. Während des Mahles erklärte ich Sophy, daß ich den Bibliothekswagen als meinen Wohnwagen benutzen würde, wenn ich nicht auf der Fahrt wäre, und daß ich alle Bücher für sie, so wie sie standen, aufbewahren würde, bis sie zurückkäme, um sie zu verlangen. So ging sie also mit ihrem jungen Gatten nach China, nachdem wir unter heißen Tränen bitter schweren Abschied genommen hatten; ich verschaffte dem Jungen, den ich hatte, eine andere Stelle, und nun schritt ich wie früher, als mein Kind und mein Weib gestorben waren, mit der Peitsche über der Schulter allein neben dem alten Gaul her.

Sophy schrieb mir viele Briefe, und ich schrieb ihr viele Briefe. Gegen Ende des ersten Jahres erhielt ich einen von ihr, der mit unsicherer Hand geschrieben war:

»Liebster Vater, vor nicht ganz einer Woche wurde mir ein süßes kleines Töchterchen geschenkt, aber ich bin so wohlauf, daß man mir gestattet hat, diese Worte an Euch zu schreiben. Liebster und bester Vater, ich hoffe, mein Kind wird nicht taubstumm sein, aber ich weiß es noch nicht.«

In meiner Antwort bat ich in vorsichtigen Worten um baldige Nachricht darüber; da aber Sophy niemals darauf zurückkam, so merkte ich, daß dies ein schmerzlicher Punkt war, und äußerte die Bitte nicht wieder. Lange Zeit wechselten wir regelmäßig Briefe, aber dann begannen sie unregelmäßig zu werden, denn Sophys Gatte war in eine andere Stelle versetzt worden, und ich war immer unterwegs. Aber wir dachten immer aneinander, dessen war ich sicher, mochten nun Briefe kommen oder nicht.

Fünf Jahre und einige Monate waren es her, seit Sophy die Heimat verlassen hatte. Ich war immer noch der König der fahrenden Händler und meine Beliebtheit beim Publikum war größer denn je. Das Geschäft war im Herbst prachtvoll gegangen, und am dreiundzwanzigsten Dezember des Jahres eintausendachthundertvierundsechzig befand ich mich in Uxbridge in Middlessex mit gänzlich ausverkauftem Karren. So trabte ich froh und leichten Herzens mit dem alten Gaul nach London, um den Weihnachtsabend und Weihnachtstag allein neben dem Kamin in dem Bibliothekswagen zu verbringen. Darauf wollte ich mich vollkommen neu mit allen nötigen Artikeln eindecken, um sie wieder zu verkaufen und das Geld einzustecken.

Ich habe eine geschickte Hand im Kochen, und ich will euch sagen, was ich für mein Mahl am Weihnachtsabend in dem Bibliothekswagen zustande brachte. Es war ein Beefsteak-Pudding mit zwei Nieren, einem Dutzend Austern und ein paar Pfifferlingen als Zugabe. Das ist ein Pudding, um einen Menschen mit allem auf der Welt auszusöhnen, nur mit den beiden untersten Knöpfen an seiner Weste wird er Schwierigkeiten haben. Nachdem ich mich an dem Pudding gütlich getan und den Tisch abgedeckt hatte, schraubte ich die Lampe niedrig und setzte mich an den Kamin, die Augen auf Sophys Bücher gerichtet, die das Feuer mit seinem Schein erhellte.

Sophys Bücher stellten mir so lebhaft Sophy selbst vor die Seele, daß ich ihr rührendes Gesicht ganz deutlich vor mir sah, bevor ich neben dem Feuer einschlummerte. Das mag der Grund dafür sein, daß Sophy mit ihrem taubstummen Kind im Arm während meines ganzen Schläfchens schweigend neben mir zu stehen schien. Ich war auf der Landstraße, neben der Landstraße, an allen möglichen Orten, in Nord und Süd und Ost und West, soweit der Wind im Lande bläst, hier und dort und am anderen Ort, über die Berge und weiter fort, und noch immer stand sie schweigend neben mir mit ihrem schweigenden Kind in den Armen. Erst als ich aus dem Schlaf auffuhr, schien sie zu verschwinden, als hätte sie noch einen einzigen Augenblick zuvor an dieser selben Stelle neben mir gestanden.

Ich war durch ein wirkliches Geräusch geweckt worden, und dieses Geräusch kam von den Karrenstufen. Es war der leichte, rasche Schritt eines Kindes, das hinaufkletterte. Dieser Kinderschritt war mir einst so vertraut gewesen, daß ich einen halben Augenblick lang glaubte, ich würde einen kleinen Geist zu Gesicht bekommen.

Aber wirkliche Kinderhände berührten die äußere Klinke der Tür, die Klinke wurde niedergedrückt, die Tür öffnete sich ein wenig, und ein wirkliches Kind guckte herein. Ein hübsches kleines Mädchen mit großen dunklen Augen.

Die Kleine blickte mich voll an und nahm ihren winzigen Strohhut ab, wobei dichte schwarze Locken um ihr Gesichtchen fielen. Dann öffnete sie ihre Lippen und sagte:

»Großvater!«

»O mein Gott!« rief ich aus. »Sie kann sprechen!«

»Ja, lieber Großvater. Und ich soll dich fragen, ob ich dich an jemand erinnere.«

Im nächsten Augenblick hing Sophy, ebenso wie die Kleine, an meinem Hals, und ihr Gatte preßte mir die Hand, während er sein Gesicht zu verbergen suchte, und wir mußten uns alle zusammennehmen, bevor wir uns fassen konnten. Aber als wir allmählich ruhiger wurden und ich sah, wie die hübsche Kleine freudig und rasch und eifrig mit ihrer Mutter sprach in denselben Zeichen, die ich diese zuerst gelehrt hatte, da rollten mir die glücklichen und doch mitleidvollen Tränen über das Gesicht.

  1. Die Bank von England

Mrs. Lirripers Fremdenpension


Mrs. Lirripers Fremdenpension

Erstes Kapitel

Wie Mrs. Lirriper das Geschäft führte

Daß sich jemand mit Zimmervermieten abplagen wollte, wenn es nicht eine alleinstehende Frau ist, die für ihren Lebensunterhalt sorgen muß, das ist mir gänzlich unverständlich, meine Liebe; entschuldigen Sie die Freiheit, aber die Anrede kommt mir ganz natürlich über die Lippen, wenn ich in meinem kleinen Wohnzimmer mein Herz allen denen öffnen möchte, denen ich trauen kann. Ich wäre dem Himmel ewig dankbar, wenn das die ganze Menschheit wäre, aber leider ist das nicht der Fall, denn Sie brauchen bloß einen Zettel »Zimmer zu vermieten« im Fenster haben und Ihre Uhr auf dem Kaminsims liegen zu lassen, und schon ist sie auf Nimmerwiedersehen verschwunden, wenn Sie sich bloß eine Sekunde lang umwenden. Aber auch die Zugehörigkeit zu Ihrem eigenen Geschlecht ist noch lange keine Garantie, wie ich am Beispiel der Zuckerzange gesehen habe, denn jene Dame (und hübsch sah sie aus) ließ mich nach einem Glas Wasser laufen, unter dem Vorwand, sie käme demnächst nieder, was sich auch als richtig erwies, aber sie kam zur Polizeiwache nieder.

Nummer einundachtzig Norfolk Street, Strand, auf halbem Weg zwischen der City und dem St.-James-Park und nur fünf Minuten von den besuchtesten öffentlichen Vergnügungsstätten entfernt – das ist meine Adresse. Ich wohne in diesem Haus schon seit langen Jahren zur Miete, wie das Grundsteuerbuch bezeugen kann; und ich wünschte, mein Hauswirt wüßte diese Tatsache ebenso zu würdigen wie ich selbst, aber nein, nicht für ein halbes Pfund Neuanstrich, und wenn es ihm ans Leben ginge; nicht einen neuen Ziegel aufs Dach, meine Liebe, und wenn Sie auf den Knien vor ihm lägen.

Sie werden noch niemals Nummer einundachtzig Norfolk Street, Strand, in Bradshaws Kursbuch gefunden haben, meine Liebe, und so Gott will, werden Sie es auch niemals darin finden. Es gibt zwar Leute, die keine Selbsterniedrigung darin sehen, ihren Namen so zu verunehren, und sie gehen sogar bis zu einem Bild von ihrem Haus, das dem Original jedoch ganz unähnlich ist, mit einem Klecks in jedem Fenster und einer vierspännigen Kutsche vor der Tür. Aber was Miß Wozenham weiter unten auf der anderen Seite der Straße recht ist, ist mir noch lange nicht billig, da Miß Wozenham ihre Anschauungen hat und ich die meinigen. Obwohl es ja darauf ankommt, wie Sie es vor Ihrem Gewissen zu verantworten gedenken, wenn es bis zum systematischen Unterbieten kommt – wie es unter Eid vor Gericht bewiesen werden kann – und das die Form annimmt: »Wenn Mrs. Lirriper achtzehn Schilling die Woche verlangt, dann verlange ich fünfzehneinhalb.« Und was luftige Schlafzimmer betrifft und einen Portier, der die ganze Nacht über auf ist, so ist es um so besser, je weniger darüber geredet wird, da die Schlafzimmer muffig und der Portier blauer Dunst ist.

Es sind jetzt vierzig Jahre her, seit ich und mein armer Lirriper in der St.-Clement’s Danes-Kirche getraut wurden, wo ich jetzt in einem sehr hübschen Stuhl unter lauter vornehmer Nachbarschaft meinen Sitz und mein eigenes Kniekissen habe und wo ich nicht zu volle Abendgottesdienste bevorzuge. Mein armer Lirriper war eine stattliche Erscheinung, mit leuchtenden Augen und einer Stimme, so weich wie ein Musikinstrument aus Honig und Stahl. Aber er hatte stets ein freies Leben geführt, da er von Beruf Geschäftsreisender war und eine besonders staubige Tour hatte, wie er sagte – »eine trockene Straße, meine liebe Emma«, sagte mein armer Lirriper stets zu mir, »wo ich den ganzen Tag über und die halbe Nacht dazu immer mal einen Schluck tun muß, um den Staub hinunterzuspülen, und das nimmt mich mit, Emma« – und das führte dazu, daß er durch eine Menge Dinge hindurchrannte. Er wäre wohl auch durch den Schlagbaum hindurchgerannt, als dieses schreckliche Pferd, das keinen einzigen Augenblick stillstehen wollte, durchbrannte. Aber es war Nacht und der Schlagbaum geschlossen. So wurde das Rad erfaßt und der Wagen und mein armer Lirriper zu Atomen zerschmettert. Er hat kein Wort mehr gesprochen. Er war eine stattliche Erscheinung und ein Mann von fröhlicher Gemütsart und sanftem Wesen; aber wenn Photographien damals schon üblich gewesen wären, so hätten sie Ihnen doch niemals eine Vorstellung von der Weichheit seiner Stimme geben können. Überhaupt fehlt es meiner Ansicht nach Photographien im allgemeinen an Weichheit. Man sieht darauf aus wie ein frisch gepflügtes Feld.

Mein armer Lirriper hinterließ ein zerrüttetes Vermögen, und als er auf dem Friedhof zu Hatfield in Hertfordshire begraben worden war, nicht etwa, weil das sein Geburtsort war, sondern weil er eine Vorliebe für das »Salisbury-Wappen« hatte, wohin wir uns am Hochzeitstag begeben und glücklich vierzehn Tage zugebracht hatten, machte ich bei den Gläubigern die Runde und sagte zu ihnen: »Gentlemen, ich weiß wohl, daß ich für die Schulden meines verstorbenen Gatten nicht aufzukommen brauche, aber ich will sie bezahlen, denn ich bin sein angetrautes Weib, und sein guter Name ist mir teuer. Ich will eine Pension aufmachen, und wenn es mir glückt, soll jeder Penny, den mein verstorbener Gatte schuldig geblieben ist, um der Liebe willen, die ich zu ihm trug, zurückerstattet werden. Das schwöre ich bei dieser meiner Rechten.« Es dauerte lange, bis ich es vollbracht hatte, aber schließlich war es vollbracht, und als mir die Gentlemen die silberne Rahmkanne verehrten, die, unter uns gesagt, in meinem Schlafzimmer oben zwischen dem Bett und der Matratze steckt und die eingravierte Widmung trägt: »Für Mrs. Lirriper als ein Zeichen dankbarer Hochachtung für ihr ehrenwertes Verhalten«, da gab es mir einen Ruck, der zuviel für meine Gefühle war, bis Mr. Betley, der gern seinen Spaß machte, zu mir sagte:

»Fassen Sie sich, Mrs. Lirriper! Sie sollten die Sache so ansehen, als wäre es bloß Ihre Taufe und dies wären Ihre Paten, die für Sie gelobten.«

Das brachte mich wieder zu mir selbst, und ich gestehe offen, meine Liebe, daß ich darauf ein Butterbrot und ein wenig Sherry in ein Körbchen tat und auf dem Außensitz der Postkutsche zum Friedhof in Hatfield fuhr. Dort küßte ich meine Hand und legte sie, während mein Herz von einer Art stolzen Liebe geschwellt war, auf meines Gatten Grab. Dabei hatte es, bis ich seinen guten Namen wiederherstellen konnte, wahrhaftig so lange gedauert, daß mein Ehering ganz dünn und glatt war, als ich die Hand auf das grüne, wogende Gras legte.

Ich bin jetzt eine alte Frau und mein gutes Aussehen ist dahin, aber das dort über dem Tellerwärmer, meine Liebe, bin trotzdem ich, auch wenn die Leute oft rot und verlegen werden, weil sie meistens auf jemand ganz anderes tippen. Aber einmal kam ein gewisser Jemand, der sein Geld in ein Hopfengeschäft gesteckt hatte, um seine Miete zu bezahlen und einen Besuch abzustatten, und er wollte es durchaus vom Haken runternehmen und in seine Brusttasche stecken – Sie verstehen, meine Liebe – aus L…, sagte er, zu dem Original –, bloß besaß er keine Weichheit in seiner Stimme, und ich wollte es nicht zulassen. Aber, was er davon hielt, können Sie daraus entnehmen, daß er zu dem Bild sagte: »Sprich zu mir, Emma!« Das war zweifellos alles andere als eine vernünftige Bemerkung, aber doch ein Beweis dafür, daß das Bild mir ähnlich war, und ich glaube selbst, ich habe wirklich so ausgesehen, als ich jung war und diese Art Mieder trug.

Aber meine Absicht war, von der Pension zu sprechen, und ich muß wirklich was von dem Geschäft verstehen, da ich schon so lange darin bin. Es war zu Beginn des zweiten Jahres meiner Ehe, daß ich meinen armen Lirriper verlor, und gleich darauf ließ ich mich in Islington nieder und kam danach hierher, was im ganzen zwei Häuser und achtunddreißig Jahre, einige Verluste und eine gute Menge Erfahrung ausmacht.

Nach den Zahlungsterminen sind Dienstmädchen Ihre größte Plage, und sie plagen Sie sogar schlimmer als die Leute, die ich die wandernden Christen nenne, obgleich es für mich ein Geheimnis ist (für dessen Aufklärung, wenn es durch irgendein Wunder geschehen könnte, ich dankbar wäre), weshalb sie auf der Erde umherwandern, nach Vermieterzetteln Ausschau halten und dann hereinkommen, sich die Zimmer ansehen und über den Preis handeln, obwohl sie sie gar nicht brauchen und im Leben nicht daran denken, sie zu nehmen. Es ist verwunderlich, daß sie so lange leben und dabei wohlauf sind, aber vermutlich erhält sie die viele Bewegung gesund, da sie so viel klopfen und von Haus zu Haus gehen und den ganzen Tag die Treppen hinauf und hinunter laufen. Und dann ist es im höchsten Grade erstaunlich, wenn sie so tun, als ob sie so überaus genau und pünktlich wären. Sie blicken auf ihre Uhr und sagen: »Könnten Sie mir die Zimmer bis übermorgen vormittag zwanzig Minuten nach elf reservieren, und angenommen meine Freundin vom Lande legt Wert darauf, könnten Sie dann eine kleine eiserne Bettstelle in das kleine Zimmer oben stellen?«

Als ich noch ein Neuling im Geschäft war, meine Liebe, pflegte ich mir’s zu überlegen, bevor ich zusagte; ich verwirrte mich ganz mit Berechnungen und ermüdete mich mit nutzlosem Warten, aber jetzt pflege ich zu sagen: »Gewiß; ganz bestimmt«, da ich genau weiß, es ist eine wandernde Christin und sie kommt nie wieder. Ja, jetzt kenne ich die meisten wandernden Christen persönlich, ebenso wie sie mich, da jedes derartige Individuum, das in London umherwandert, die Gewohnheit hat, etwa zweimal jährlich zu erscheinen, und es ist ein sehr bemerkenswerter Umstand, daß das Übel erblich ist und die heranwachsenden Kinder es auch annehmen. Aber selbst wenn es anders wäre, so brauche ich nur von der Freundin vom Lande zu hören – was ein sicheres Zeichen ist –, um zu nicken und zu mir selbst zu sagen: Sie sind eine wandernde Christin, obwohl ich nicht wagen kann zu behaupten, daß es, wie ich gehört habe, Personen mit einem kleinen Vermögen sind, die eine Vorliebe für eine regelmäßige Beschäftigung und häufigen Wechsel des Schauplatzes haben.

Dienstmädchen, wie ich meine Bemerkung begann, sind eine Ihrer größten und dauernden Plagen, und es geht einem mit ihnen wie mit den Zähnen, die mit Krämpfen anfangen und niemals aufhören, Sie zu quälen, von der Zeit, wo sie durchbrechen, bis zur Zeit, wo sie abbrechen, und dabei erscheint es einem hart, sich von ihnen zu trennen, aber wir müssen alle unterliegen oder künstliche kaufen. – Selbst wenn man ein williges Mädchen bekommt, dann bekommt man in neun von zehn Fällen ein schmutziges Gesicht mit dazu, und natürlicherweise lieben es die Mieter nicht, wenn vornehme Besucher mit einem schwarzen Fleck über der Nase oder schmierigen Augenbrauen eingelassen werden. Wo sie das Schwarz herkriegen, ist für mich ein unergründliches Geheimnis, wie in dem Fall des willigsten Mädchens, das je in ein Haus kam, sie war halb verhungert, das arme Ding, und ein so williges Mädel, daß ich sie die willige Sophy nannte, früh und spät auf den Knien scheuernd und immer fröhlich, aber stets mit einem schwarzen Gesicht lächelnd. Ich sagte zu Sophy:

»Nun, Sophy, mein gutes Mädchen, setze dir einen bestimmten Tag für die Kamine fest, gehe stets der Schuhwichse aus dem Weg, kämme dein Haar nicht mit Pfannenböden und rühre die abgebrannten Kerzendochte nicht an, dann muß es doch notwendigerweise ein Ende nehmen.«

Doch das Schwarz blieb, und stets auf ihrer Nase; und da diese aufgeworfen und an der Spitze breit war, so hatte es den Anschein, als ob sie damit prahlte, und es hatte auch eine Warnung zur Folge von einem ruhigen, aber ein wenig reizbaren Gentleman und ausgezeichneten wöchentlichen Mieter mit Frühstück und Benutzung eines Wohnzimmers auf Verlangen, der zu mir sagte:

»Mrs. Lirriper, ich bin so weit gekommen zuzugestehen, daß die Schwarzen Menschen und Brüder sind, aber nur wenn die Farbe natürlich ist und nicht abgerieben werden kann.«

Infolgedessen gab ich der armen guten Sophy andere Arbeit und verbot ihr strikt, die Tür zu öffnen, wenn es klopfte, oder auf ein Klingelzeichen herbeizulaufen, aber unglücklicherweise war sie so willig, daß sie nichts davon zurückhalten konnte, die Küchentreppe hinaufzufliegen, so oft eine Klingel ertönte. Schließlich fragte ich sie.

»O Sophy, Sophy, um des lieben Himmels willen, woher kommt es bloß?«

Darauf brach dieses arme, unglückliche, willige Geschöpf in Tränen aus und erwiderte:

»Ich nahm eine Menge Schwarz in mich auf, Ma’am, als ich ein kleines Kind war, da sich damals niemand um mich kümmerte, und ich denke, das muß es sein, was da herauskommt.«

Da es nun bei dem armen Ding immer weiter herauskam und ich andererseits sonst nichts an ihr auszusetzen hatte, sagte ich zu ihr:

»Sophy, was hältst du von dem Vorschlag, daß ich dir nach New South Wales verhelfe, wo es vielleicht nicht bemerkt werden wird?«

Und ich habe es nie bereut, dieses Geld ausgegeben zu haben. Es erwies sich als gut angelegt, denn sie heiratete auf der Fahrt den Schiffskoch (er war selbst ein Mulatte), und sie lebte gut und glücklich, und soviel ich gehört habe, wurde es unter jenen neuen gesellschaftlichen Zuständen bis zu ihrem Todestag nicht bemerkt.

Wie es Miß Wozenham weiter unten auf der anderen Seite der Straße vor ihren Gefühlen als Dame (was sie nicht ist) verantworten konnte, Mary Anne Perkinson aus meinem Dienst abspenstig zu machen, das muß sie selbst am besten wissen – ich weiß es nicht, und mir liegt auch nichts daran, zu erfahren, was für Lebensansichten Miß Wozenham hat. Aber diese Mary Anne Perkinson, wenn sie sich auch so häßlich gegen mich benahm, während ich stets gut zu ihr war, war ihr Gewicht in Gold wert, wenn es sich darum handelte, den Mietern Respekt einzuflößen, ohne sie zu vertreiben. Denn die Mieter klingelten viel weniger nach Mary Anne, als sie nach meiner Erfahrung je nach Mädchen oder Herrin geklingelt hatten, was viel bedeuten will, besonders wenn schielende Augen und eine Gestalt wie ein Sack voll Knochen dazukommen, aber es war ihre unerschütterliche Ruhe, die jene einschüchterte, und diese Ruhe kam daher, weil ihr Vater im Schweinehandel Unglück gehabt hatte. Mary Annes respekteinflößendes Äußeres und ihre strenge Weise wurden sogar mit dem pingeligsten Tee-und-Zucker-Gentleman fertig (denn er wog beides jeden Morgen in einer Waagschale), mit dem ich es je zu tun gehabt habe, und kein Lamm war nachher sanfter als er. Aber später erfuhr ich, daß Miß Wozenham einmal zufällig an meinem Haus vorüberging und zusah, wie Mary Anne die Milch von einem Milchmann übernahm, der jedes Mädel in der Straße in die rosigen Wangen kniff (ich denke deshalb nichts Böses von ihm), aber von ihr so eingeschüchtert wurde, daß er so steif wie die Statue bei Charing Cross war. Miß Wozenham begriff sofort, welchen Wert Anne für das Pensionsgeschäft hatte, und ging so weit, ein Pfund mehr Vierteljahrslohn zu bieten. Infolgedessen sagte Mary Anne, ohne daß es den geringsten Wortwechsel zwischen uns gegeben hätte, auf einmal zu mir: »Wenn Sie sich für den nächsten Ersten nach einer Neuen umsehen wollen, Mrs. Lirriper, ich habe es bereits getan.« Das kränkte mich, ich sagte es ihr, und daraufhin kränkte sie mich noch mehr, indem sie andeutete, daß das Unglück ihres Vaters im Schweinehandel sie zu derartigen Handlungsweisen gebracht habe.

Meine Liebe, ich versichere Ihnen, es ist bitter schwer zu entscheiden, welcher Art Mädchen man den Vorzug geben soll, denn wenn sie rasch sind, werden sie von ihren Beinen geklingelt, und wenn sie langsam sind, haben Sie selbst darunter zu leiden, weil in einem fort Klagen kommen, und wenn sie hübsche Augen haben, so stellen ihnen die Herren nach, und wenn sie auf ihr Äußeres halten, dann setzen sie die Hüte der Mieterinnen auf, und wenn sie musikalisch sind, dann probieren Sie es bloß einmal, sie von Musikkapellen und Leierkastenmännern wegzubringen, und gleichgültig, welche Köpfe Sie an ihnen bevorzugen, ihre Köpfe werden stets zum Fenster hinausgucken. Und dann, was den Herren an den Mädchen gefällt, das gefällt den Damen nicht, was für alle Beteiligten ein ständiger Zankapfel ist, und dann kommt den Mädchen die Wut, obwohl ich hoffe, daß es nicht oft in dem Maße der Fall ist wie bei Caroline Maxey.

Caroline war ein hübsches, schwarzäugiges Mädchen und hatte ein Paar kräftige Fäuste, wie ich zu meinem Schaden erfuhr, als sie losbrach und um sich schlug. Das geschah zum ersten und letzten Mal durch die Schuld eines jungen Ehepaares, das sich London ansehen wollte und im ersten Stock wohnte. Die Dame war sehr hochmütig, und es hieß, sie mochte Caroline wegen ihres hübschen Äußeren nicht leiden, da sie selbst in dieser Beziehung nichts übrig hatte, aber auf jeden Fall machte sie Caroline das Leben schwer, obwohl das keine Entschuldigung war. So kommt Caroline eines Nachmittags mit gerötetem Gesicht in die Küche und sagt zu mir:

»Mrs. Lirriper, dieses Weib im ersten Stock hat mich ganz unerträglich geärgert.«

Ich sage darauf: »Caroline, unterdrücke deine Wut.«

Darauf antwortet Caroline mit einem Lachen, das mir das Blut in den Adern erstarren läßt:

»Meine Wut unterdrücken? Da haben Sie recht, Mrs. Lirriper, das will ich tun.«

»Gott verd … sie!« bricht Caroline darauf los (man hätte mich mit einer Feder bis in den Mittelpunkt der Erde hineinschmettern können, als sie das sagte). »Ich will ihr mal zeigen, welche Wut ich in mir unterdrückt habe!«

Caroline zieht den Kopf ein, meine Liebe, schreit auf und stürzt die Treppe empor, ich, so schnell mich meine zitternden Beine tragen können, hinter ihr her. Aber bevor ich noch im Zimmer anlange, ist schon das Tischtuch mit dem Geschirr in Rosa und Weiß krachend auf den Boden geflogen und das junge Ehepaar liegt mit den Beinen in der Luft im Kamin, er mit Schaufel und Feuerzange und einer Schüssel voll Gurkensalat quer über dem Bauch. Ein Glück, daß es Sommer war!

»Caroline«, rufe ich, »beruhige dich!«

Aber als sie an mir vorbeikommt, zerrt sie mir die Haube vom Kopf und zerreißt sie mit den Zähnen, fällt dann über die jungverheiratete Dame her, macht ein Bündel Bänder aus ihr, faßt sie an beiden Ohren und schlägt sie mit dem Hinterkopf gegen die Wand. Die Dame schreit während der ganzen Zeit zetermordio, Schutzleute rennen die Straße entlang, während Miß Wozenhams Fenster (denken Sie sich meine Gefühle, als ich das erfuhr) aufgerissen werden und Miß Wozenham vom Balkon aus mit Krokodilstränen herunterschreit:

»Es ist Mrs. Lirriper, die jemand durch Überforderung zum Wahnsinn getrieben hat – man wird sie ermorden – ich habe es schon lange erwartet – Schutzleute, rettet sie!«

Meine Liebe, denken Sie sich: vier Schutzleute und Caroline hinter der Kommode, die mit dem Schüreisen auf sie losfährt. Als man sie entwaffnet hatte, boxte sie mit beiden Fäusten um sich, hin und her und her und hin, ganz entsetzlich! Aber ich konnte es nicht mit ansehen, daß sie das arme junge Ding rauh anpackten und ihr das Haar herabrissen, als sie sie überwältigt hatten, und ich sage:

»Meine Herren Schutzleute, bitte denken Sie daran, daß ihr Geschlecht das Geschlecht Ihrer Mütter und Schwestern und Ihrer Liebsten ist, und Gott segne diese und Sie selbst!«

Und da saß sie nun auf dem Boden, mit Handschellen gefesselt, und lehnte sich, nach Atem ringend, gegen die Wandleiste, und die Schutzleute kühl und gelassen mit zerrissenen Röcken, und alles, was sie sagte, war:

»Mrs. Lirriper, es tut mir leid, daß ich Sie angerührt habe, denn Sie sind eine gute, mütterliche alte Dame.«

Ich mußte daran denken, wie oft ich gewünscht hatte, ich wäre wirklich eine Mutter, und welche Gefühle mein Herz bewegt hätten, wenn ich die Mutter dieses Mädchens gewesen wäre!

Auf der Polizeiwache stellte sich dann heraus, daß es nicht das erstemal bei ihr war, und man nahm ihr die Kleider weg und steckte sie ins Gefängnis. Als sie wieder herauskommen sollte, ging ich am Abend ans Gefängnistor mit einem bißchen Gelee in meinem kleinen Körbchen, um sie ein wenig für den erneuten Lebenskampf zu stärken, und dort traf ich eine sehr ehrbare Mutter, die auf ihren Sohn wartete. Er war durch schlechte Gesellschaft dorthin gekommen, und es war ein verstockter Schlingel, der seine Halbschuhe aufgeschnürt trug. Da kommt nun meine Caroline heraus und ich sage zu ihr:

»Caroline, komm mit mir und setze dich unter die Mauer, wo niemand hinkommt, und iß eine Kleinigkeit, die ich für dich mitgebracht habe.«

Darauf schlingt sie die Arme um meinen Hals und sagt:

»Oh, weshalb sind Sie keine Mutter, wo es solche Mütter gibt, wie es sie gibt!«

So spricht sie, und in einer halben Minute beginnt sie zu lachen und fragt:

»Habe ich wirklich Ihre Haube in Fetzen gerissen?«

Und als ich erwidere: »Gewiß hast du das getan, Caroline«, lacht sie wieder und sagt, während sie mir das Gesicht streichelt:

»Weshalb tragen Sie aber auch solche altmodischen Hauben, Sie liebes, altes Wesen? Wenn Sie nicht so eine altmodische Haube aufgehabt hätten, dann glaube ich nicht, daß ich es selbst damals getan hätte.«

Denken Sie sich, so ein Mädel! Ich konnte sie auf keine Weise dazu bringen, mir zu sagen, was sie nun anfangen wollte. Sie sagte bloß immer, oh, es würde ihr schon nicht schlechtgehen, und wir schieden, nachdem sie mir aus Dankbarkeit die Hände geküßt hatte. Ich habe niemals mehr etwas von dem Mädchen gesehen oder gehört, aber ich bin fest überzeugt, daß eine sehr vornehme Haube, die auf Veranlassung eines ungenannten Absenders an einem Samstagabend in einem Wachstuchkorb gebracht wurde, von Caroline kam. Der Überbringer war ein höchst unverschämter junger Sperling von einem Affen, mit schmutzigen Schuhen, der auf der gescheuerten Treppe laut pfiff und an dem Geländer mit einem Reifenstock Harfe spielte.

Welch unchristlichen Verdächtigungen man sich aussetzt, wenn man sich auf das Pensionsgeschäft wirft, das kann ich Ihnen nicht mit Worten schildern. Aber ich bin niemals so ehrlos gewesen, doppelte Schlüssel zu haben, noch möchte ich das gern von Miß Wozenham weiter unten auf der anderen Seite der Straße glauben; ja, ich hoffe sogar aufrichtig, daß das nicht der Fall sein möge, obwohl man andererseits nie wissen kann. Es ist im höchsten Grade verletzend für die Gefühle einer Pensionsinhaberin, daß die Mieter stets denken, man versuche sie zu übervorteilen, und niemals auf den Einfall kommen, daß vielleicht grade sie es sind, die einen übervorteilen möchten. Aber, wie Major Jackman oft zu mir gesagt hat:

»Ich kenne die Gewohnheiten auf diesem runden Erdball, Mrs. Lirriper, und das ist eine davon, die sich überall findet.«

Und manchen kleinen Ärger hat mir der Major schon ausgeredet, denn er ist ein kluger Mensch und hat schon vieles zu sehen bekommen.

Du lieber Gott, sollte man es denken, dreizehn Jahre sind darüber hingegangen, obwohl es mir wie gestern erscheint, daß ich an einem Augustabend am offenen Wohnzimmerfenster saß (denn das Wohnzimmer war gerade frei) und mit der Brille auf der Nase die Zeitung vom vorigen Tag las. Denn meine Augen waren für Druckschrift zu schwach geworden, obwohl ich, dem Himmel sei Dank, gut in die Ferne sehen kann. Auf einmal höre ich einen Gentleman die Straße herauflaufen kommen, der in einer fürchterlichen Wut mit sich selbst spricht und jemand zu allen Teufeln wünscht.

»Bei Sankt-Georg!« sagt er laut und packt seinen Spazierstock fester, »jetzt gehe ich zu Mrs. Lirriper. Wo wohnt Mrs. Lirriper?«

Darauf blickt er sich um, und wie er mich sieht, zieht er den Hut so tief, als wäre ich die Königin, und sagt:

»Verzeihen Sie die Störung, Madam, aber können Sie mir bitte sagen, Madam, in welcher Nummer in dieser Straße eine weitbekannte und allgemein geachtete Dame namens Lirriper wohnt?«

Ein wenig verlegen, obwohl, wie ich gestehen muß, angenehm berührt, nehme ich die Brille ab und sage mit einer Verbeugung:

»Sir, Mrs. Lirriper ist Ihre ergebene Dienerin.«

»Das ist ja erstaunlich!« sagt er darauf. »Bitte tausendmal um Verzeihung! Madam, darf ich Sie bitten, einen Ihrer Bedienten anzuweisen, einem wohnungsuchenden Herrn namens Jackman die Tür zu öffnen?«

Ich hatte den Namen nie zuvor gehört, aber einen höflicheren Gentleman werde ich sicher niemals vor mir sehen, denn er sagte:

»Madam, es ist mir peinlich, daß Sie persönlich die Tür für keinen würdigeren Zeitgenossen als Jemmy Jackman öffnen. Nach Ihnen, Madam. Ich trete niemals vor einer Dame ein.«

Darauf tritt er ins Wohnzimmer, zieht die Luft tief ein und sagt:

»Ah, das ist ein Wohnzimmer! Kein muffiger Schrank«, sagt er, »sondern ein Wohnzimmer, und kein Geruch nach Kohlensäcken.«

Nämlich, meine Liebe, es ist von einigen Leuten, die unseren ganzen Stadtteil nicht mögen, behauptet worden, daß es hier immer nach Kohlensäcken rieche. Und da das geeignet wäre, die Mieter abzuschrecken, wenn man nicht Einspruch dagegen erhebt, sage ich in freundlichem, aber festem Tone zu dem Major, er meine damit wohl Arundel oder Surrey oder Howard, aber nicht Norfolk.

»Madam«, sagt er darauf, »ich meine Miß Wozenhams Pension weiter unten auf der anderen Seite – Madam, Sie können sich keinen Begriff machen, wie es dort zugeht – Madam, die ganze Pension ist ein kolossaler Kohlensack und Miß Wozenham hat die Grundsätze und Manieren eines weiblichen Kohlenträgers – Madam, aus der Art, wie ich sie von Ihnen habe sprechen hören, weiß ich, daß sie eine Dame nicht zu schätzen weiß, und aus der Art, wie sie sich mir gegenüber aufgeführt hat, weiß ich, daß sie einen Gentleman nicht zu schätzen weiß – Madam, mein Name ist Jackman – sollten Sie noch eine weitere Referenz wünschen, so nenne ich die Bank von England – sie ist Ihnen vielleicht bekannt!«

So kam es, daß der Major die Zimmer nach vorn hinaus bezog, und von jener Stunde bis zur heutigen sitzt er darin und ist ein äußerst liebenswürdiger und in jeder Hinsicht pünktlicher Mieter, abgesehen von einer kleinen Unregelmäßigkeit, auf die ich nicht besonders einzugehen brauche. Doch dafür ist er ein Schutz und zu jeder Zeit bereit, die Steuererklärung und dergleichen Sachen auszufüllen. Einmal erwischte er sogar einen jungen Mann mit der Stehuhr aus dem Salon unter dem Rock, und ein andermal löschte er mit seinen eigenen Händen und Bettüchern den Schornstein auf dem Dach; und hinterher bei der Verhandlung sprach er äußerst beredt gegen die Gemeindeverwaltung und ersparte mir die Kosten für die Feuerspritze. Er ist stets ein vollendeter Gentleman, obgleich leicht aufgebracht. Und sicherlich hat Miß Wozenham nicht freundlich darin gehandelt, daß sie seine Koffer und den Regenschirm zurückbehielt, wenn sie auch das gesetzliche Recht dazu haben mochte. Ja, vielleicht hätte ich das selbst auch getan, obwohl der Major so sehr ein Gentleman ist, daß er, obgleich durchaus nicht von hoher Gestalt, doch fast so aussieht, wenn er seinen Gehrock mit der herausgesteckten Hemdkrause an- und seinen Hut mit runder Krempe aufhat. Freilich, in welchem Dienst er war, das kann ich Ihnen nicht mit Bestimmtheit sagen, meine Liebe, ob zu Hause oder in den Kolonien, denn ich habe nie gehört, daß er von sich selbst als Major sprach, sondern er nannte sich immer nur einfach »Jemmy Jackman«. Einmal, kurze Zeit nachdem er eingezogen war, hielt ich es für meine Pflicht, ihm mitzuteilen, Miß Wozenham hätte das Gerücht ausgestreut, er wäre gar kein Major, und ich nahm mir die Freiheit hinzuzufügen: »Was Sie doch sind, Sir.«

Darauf meinte er:

»Madam, auf jeden Fall bin ich kein Minor, und jeder Tag hat seine Plage.«

Auch kann man nicht leugnen, daß das die reine Wahrheit ist, und dafür spricht auch seine soldatische Gewohnheit, daß ihm seine Stiefel, bloß vom Schmutz gesäubert, jeden Morgen auf einer sauberen Platte ins Zimmer gebracht werden müssen, worauf er sie stets nach dem Frühstück mit einem kleinen Schwamm und einer Untertasse, leise vor sich hin pfeifend, selbst wichst. Das macht er so geschickt, daß er sich niemals die Wäsche dabei beschmutzt, die mit peinlicher Sorgfalt im Stande gehalten ist, obwohl sie mehr durch ihre gute Beschaffenheit als durch ihre Menge hervorsticht; und ebensowenig den Schnurrbart, der, wie ich fest überzeugt bin, zur selben Zeit besorgt wird und der denselben tiefschwarzen Glanz aufweist wie seine Stiefel, während sein Haupthaar schön weiß ist.

Der Major wohnte schon seit etwa drei Jahren bei mir, als eines Morgens, früh im Februar, kurz vor Beginn der Parlamentssitzung (und Sie können sich denken, daß um diese Zeit eine Masse Betrüger umherlaufen, bereit, alles einzustecken, dessen sie habhaft werden können) ein Gentleman und eine Dame vom Lande vorsprachen, um sich das zweite Stockwerk anzusehen. Ich erinnere mich noch ganz gut, daß ich am Fenster saß und sie und den schweren Hagel draußen beobachtete, wie sie sich nach Vermietungszetteln umsahen. Das Gesicht des Gentleman wollte mir nicht recht gefallen, obwohl er gut aussah, aber die Dame war eine sehr hübsche junge Frau und so zart, daß das Wetter viel zu rauh für sie zu sein schien, obwohl sie bloß von dem Adelphi Hotel kam, das bei weniger schlechtem Wetter nicht viel mehr als eine Viertelmeile zu Fuß entfernt war. Nun hatte es sich gerade so gefügt, meine Liebe, daß ich genötigt war, auf das zweite Stockwerk fünf Schilling wöchentlich aufzuschlagen. Denn ich hatte einen Verlust gehabt, weil jemand im Abendanzug, als ginge er zu einem Dinner, davongelaufen war, und das ist ein sehr hinterlistiges Verfahren und hatte mich reichlich mißtrauisch gemacht, da ich es mit dem Parlament in Verbindung brachte. Als deshalb der Gentleman drei Monate fest und mit Vorauszahlung vorschlug und sich außerdem das Recht vorbehielt, nach Ablauf dieser Zeit auf weitere sechs Monate zu denselben Bedingungen zu verlängern, da sagte ich, mir käme es so vor, als habe ich mich bereits einem anderen Mieter gegenüber verpflichtet; ich wüßte es aber nicht bestimmt und wollte deshalb einmal nach unten gehen und nachsehen; sie möchten so lange bitte Platz nehmen. Sie nahmen Platz, und ich ging nach unten vor die Tür des Majors, den ich bereits angefangen hatte um Rat zu fragen, da ich das sehr nützlich fand. Ich erkannte an seinem leisen Pfeifen, daß er dabei war, seine Stiefel zu wichsen, wobei er in der Regel nicht gestört werden wollte; jedoch rief er freundlich: »Wenn Sie es sind, Madam, dann treten Sie ein«, und ich trat ein und erzählte ihm die Sache.

»Nun, Madam«, sagte der Major, sich die Nase reibend – ich fürchtete im Augenblick, er täte es mit dem schwarzen Schwamm, aber es war bloß sein Handgelenk, da er mit seinen Fingern immer geschickt und sauber war – »nun, Madam, ich vermute, daß Sie das Geld ganz gern annehmen würden?«

Ich scheute mich, gar zu rasch »ja« zu sagen, denn die Wangen des Majors hatten sich ein wenig tiefer gefärbt und es lag eine Unregelmäßigkeit, auf die ich nicht weiter eingehen will, in bezug auf einen Teil vor, den ich nicht nennen will.

»Ich bin der Ansicht, Madam«, sagte der Major, »daß, wenn Geld für Sie da ist – wenn es für Sie da ist, Mrs. Lirriper –, Sie es annehmen sollten. Was spricht in dem Falle im zweiten Stockwerk dagegen?«

»Ich kann wirklich nicht sagen, daß etwas dagegen spricht, Sir; doch dachte ich, ich wollte mich erst mit Ihnen beraten.«

»Sie sagten, glaube ich, ein jungverheiratetes Paar, Madam?« fragte der Major.

Ich antwortete:

»Ja-a, anscheinend. Die junge Dame bemerkte mir gegenüber jedenfalls beiläufig, sie wäre erst seit ein paar Monaten verheiratet.«

Der Major rieb sich wiederum die Nase und rührte die Wichse in der kleinen Untertasse mit seinem Stückchen Schwamm um und um, während er auf seine Art leise pfiff. Das dauerte einige Augenblicke, dann sagte er:

»Es wäre eine günstige Vermietung, Madam?«

»O ja, eine recht günstige Vermietung, Sir.«

»Angenommen, sie verlängern für die übrigen sechs Monate. Würde es Ihnen sehr viel Schererei machen, Madam, wenn –wenn das Schlimmste sich ereignen sollte?« fragte er.

»Nun, ich weiß nicht recht«, sagte ich zu dem Major. »Es kommt darauf an. Würden Sie zum Beispiel etwas dagegen einzuwenden haben, Sir?«

»Ich?« fragte der Major. »Etwas dagegen einwenden? Jemmy Jackman? Mrs. Lirriper, nehmen Sie an.«

So ging ich also wieder hinauf und nahm an, und am folgenden Tag, einem Sonnabend, zogen sie ein. Der Major war so freundlich, mit seiner hübschen runden Handschrift eine schriftliche Vereinbarung aufzusetzen, deren Wendungen, meiner Ansicht nach, ebenso juristisch wie militärisch klangen, und Mr. Edson unterzeichnete sie am Montagmorgen. Am Dienstag machte der Major Mr. Edson einen Besuch, und Mr. Edson machte dem Major am Mittwoch seinen Gegenbesuch, und der zweite und der erste Stock standen auf so freundschaftlichem Fuße, wie man es nur wünschen konnte.

Die drei Monate, für die die neuen Mieter vorausbezahlt hatten, waren vorüber, und wir waren ohne irgendwelche neue Vereinbarungen über die Bezahlung in den Mai hineingekommen, meine Liebe, als Mr. Edson plötzlich genötigt war, eine Geschäftsreise quer durch die Insel Man zu unternehmen. Das kam für das hübsche kleine Weibchen gänzlich unerwartet, und die Insel Man ist meiner Meinung nach auch kein Ort, mit dem besonders viel los wäre, aber das mag nun Ansichtssache sein. Das Ganze war so plötzlich gekommen, daß er schon am nächsten Tag abreisen mußte, und die hübsche kleine Frau weinte zum Herzzerbrechen, und ich weinte mit ihr, als ich sie in dem scharfen Ostwind – der Frühling hatte sich in diesem Jahr stark verzögert – auf dem kalten Straßenpflaster stehen sah, wie sie noch einen letzten Abschied von ihm nahm. Der Wind zerzauste ihr schönes blondes Haar, und ihre Arme waren um seinen Nacken geschlungen, während er sagte:

»Nun, nun, nun. Jetzt laß mich, Peggy.«

Und jetzt sah man ganz deutlich, daß das, wogegen der Major freundlicherweise nichts einzuwenden haben wollte, wenn es einträte, wirklich eintreten würde, und ich mahnte sie daran, als er fort war und ich sie mit meinem Arm beim Treppensteigen stützte.

»Es wird bald jemand anders da sein, für den Sie sich schonen müssen, mein hübsches Frauchen«, sagte ich, »und Sie müssen stets daran denken.«

Als schon längst ein Brief von ihm hätte da sein sollen, wartete sie immer noch vergebens, und was sie jeden Morgen durchmachte, wenn der Briefträger nichts für sie hatte, das flößte am Ende sogar dem Briefträger selbst Mitleid ein, wie er sie so an die Tür gerannt kommen sah; und doch können wir uns nicht wundern, daß es die Gefühle abstumpft, die ganze Mühe und nichts von dem Vergnügen mit den Briefen anderer Leute zu haben, und dabei meistenteils im Schmutz und Regen herumzulaufen und für eine Bezahlung, die mehr an Klein- als an Großbritannien denken läßt. Endlich aber eines Morgens, als sie sich zu schlecht fühlte, um die Treppe herabzulaufen, sagt er zu mir mit einer freudigen Miene, die mich den Mann in seinem Beamtenrock fast lieben ließ, obwohl er von Nässe triefte:

»Ich habe heute morgen von der ganzen Straße zuerst ihr Haus drangenommen, Mrs. Lirriper, denn hier ist der Brief für Mrs. Edson.«

Ich lief, so schnell mich meine Beine tragen wollten, mit dem Brief in ihr Schlafzimmer hinauf, und als sie ihn sah, setzte sie sich im Bett auf und küßte ihn. Dann riß sie ihn rasch auf und las, und ich sah, wie ihr Gesicht leichenblaß wurde und erstarrte.

»Er ist sehr kurz!« sagte sie, ihre großen Augen zu meinem Gesicht erhebend. »Oh, Mrs. Lirriper, er ist sehr kurz!«

Ich sage darauf:

»Meine liebe Mrs. Edson, zweifellos hatte Ihr Gatte gerade keine Zeit, mehr zu schreiben.«

»Zweifellos, zweifellos«, antwortet sie, schlägt beide Hände vors Gesicht und dreht sich nach der Wand um.

Ich schloß sacht ihre Tür zu, kroch hinunter und pochte an die Tür des Majors, und als er, der gerade dabei war, seine dünnen Schinkenschnitte auf seinem eignen kleinen Bratrost zu rösten, mein Gesicht sah, stand er von seinem Stuhl auf und ließ mich auf das Sofa niedersitzen.

»Still!« sagte er. »Ich sehe, es ist etwas vorgefallen. Sprechen Sie nicht – lassen Sie sich Zeit.«

Ich erwiderte darauf:

»Oh, Major, ich fürchte, oben wird eine Seele grausam gequält.«

»Ja, ja«, sagte er, »ich hatte angefangen, es zu befürchten – lassen Sie sich Zeit.«

Und dann beginnt er im Widerspruch zu seinen Worten fürchterlich zu toben und sagt:

»Ich werde es mir niemals verzeihen, Madam, daß ich, Jemmy Jackman, die ganze Sache nicht gleich an jenem Morgen durchschaute – daß ich nicht mit meinem Stiefelschwämmchen in der Hand hinaufging, es ihm in den Hals stopfte und ihn auf der Stelle damit erstickte!«

Als wir uns einigermaßen gefaßt hatten, kamen der Major und ich überein, daß alles, was wir im Augenblick tun konnten, darin bestand, uns so zu stellen, als argwöhnten wir nichts, und dafür zu sorgen, daß die arme junge Frau möglichst viel Ruhe hätte. Was ich aber ohne den Major angefangen hätte, als es unter den Leierkastenmännern bekannt wurde, daß wir Ruhe haben wollten, das weiß ich wirklich nicht. Denn er führte einen erbitterten Krieg mit ihnen, in dem Grade, daß ich, hätte ich es nicht mit eigenen Augen gesehen, niemals hätte glauben können, ein Gentleman könne derartig mit Schüreisen, Spazierstöcken, Wasserkannen, Kohlen, Kartoffeln aus der Schüssel, ja sogar mit dem Hut von seinem Kopf um sich werfen; und dabei tobte er dermaßen in fremden Sprachen, daß sie mit dem Griff in der Hand erstarrt stehenblieben.

Sooft ich jetzt den Briefträger sich dem Haus nähern sah, geriet ich in derartige Angst, daß es wie die Gewährung einer Galgenfrist war, wenn er vorüberging. Aber etwa zehn oder vierzehn Tage später sagt er wiederum:

»Hier ist einer für Mrs. Edson. Befindet sie sich einigermaßen wohl?«

»Sie befindet sich soweit wohl, Briefträger, aber nicht wohl genug, um so früh wie sonst aufzustehen.« Und das entsprach schließlich auch vollkommen der Wahrheit.

Ich brachte den Brief zum Major, der bei seinem Frühstück saß, und ich sagte bebend:

»Major, ich habe nicht den Mut, ihn zu ihr hinaufzutragen.«

»Es ist ein übelaussehender Schurke von einem Brief«, sagt der Major.

»Ich habe nicht den Mut, Major«, sagte ich wiederum zitternd, »ihn zu ihr hinaufzutragen.«

Nachdem er einige Augenblicke lang nachgedacht zu haben schien, sprach er, während er den Kopf aufrichtete, als ob ihm ein neuer und zweckdienlicher Gedanke gekommen sei:

»Mrs. Lirriper, ich werde es mir niemals verzeihen, daß ich, Jemmy Jackman, an jenem Morgen nicht mit meinem Stiefelschwämmchen in der Hand hinaufging, es ihm in den Hals stopfte und ihn auf der Stelle damit erstickte.«

»Major«, sagte ich ein wenig rasch, »Sie haben es nicht getan, und das ist ein Glück, denn es wäre nichts Gutes dabei herausgekommen, und ich glaube, Sie haben besser daran getan, Ihr Schwämmchen für Ihre Stiefel zu benutzen.«

So kamen wir denn dahin, die Sache vernünftig zu betrachten, und faßten den Plan, daß ich an ihre Schlafzimmertür anklopfen, den Brief auf die Matte davor niederlegen und auf dem oberen Treppenabsatz abwarten sollte, was sich ereignen würde. Das tat ich nun, und nie hat ein Mensch vor Schießpulver, Kanonenkugeln, Granaten oder Raketen mehr Angst gehabt als ich vor diesem entsetzlichen Brief, als ich ihn in das zweite Stockwerk hinauftrug.

Ein furchtbarer Aufschrei gellte durch das Haus, wenige Augenblicke nachdem sie den Brief geöffnet hatte, und ich fand sie wie leblos auf dem Boden liegen. Meine Liebe, ich warf keinen Blick auf den geöffnet neben ihr liegenden Brief, denn ich hatte keine Zeit dazu.

Alles, was ich brauchte, um sie wieder zu sich zu bringen, trug der Major mit eignen Händen herbei. Außerdem lief er nach dem, was wir nicht im Hause hatten, zum Apotheker, und schließlich bestand er das wildeste aller seiner vielen Scharmützel mit einem Leierkasten, auf dem ein Tanzsaal dargestellt war, ich weiß nicht in welchem Land, und darauf tanzende Paare, die mit rollenden Augen durch eine Flügeltür aus und ein walzten. Als ich nach langer Zeit wahrnahm, wie sie sich zu erholen begann, glitt ich auf den Treppenabsatz hinaus, bis ich sie weinen hörte, und dann ging ich hinein und sagte mit munterer Stimme: »Mrs. Edson, Sie sind nicht wohl, meine Liebe, und das ist nicht zu verwundern«, als wäre ich zuvor gar nicht drin gewesen. Ob sie es mir glaubte oder nicht, das kann ich nicht sagen, und es kommt auch nicht darauf an, aber ich blieb stundenlang bei ihr, und dann flehte sie Gottes Segen auf mich herab und meinte, sie wolle zu schlafen versuchen, denn der Kopf tue ihr weh.

»Major«, flüsterte ich, zum ersten Stock hereinblickend, »ich bitte Sie und flehe Sie an, gehen Sie nicht aus.«

Der Major flüsterte:

»Madam, seien Sie versichert, ich werde hierbleiben. Wie geht es ihr?«

Ich sage darauf:

»Major, Gott der Herr über uns weiß allein, was in ihrer armen Seele brennt und tobt. Ich verließ sie, während sie an ihrem Fenster saß. Ich gehe, um mich an das meinige zu setzen.«

Es wurde Nachmittag, und es wurde Abend. In der Norfolk Street wohnt es sich sehr schön – mit Ausnahme von weiter unten –, aber an Sommerabenden, wenn die Straße staubig ist und weggeworfenes Papier darauf herumliegt, wenn die Kinder dort spielen und die staubig-heiße Luft still brütend darüberliegt, während in der Nachbarschaft ein paar Kirchenglocken läuten, ist sie ein wenig langweilig. Seit jenem Vorfall habe ich niemals zu einer solchen Zeit auf die Straße blicken können und werde es in alle Zukunft niemals tun können, ohne daß mir der langweilige Juniabend in der Erinnerung aufsteigt, als dieses verlassene junge Geschöpf an ihrem offenen Eckfenster im zweiten Stock und ich an meinem offnen Eckfenster (an der andern Ecke) im dritten Stock saß. Eine gnädige Macht, eine Macht, die bei weitem weiser und besser war als ich selbst, hatte mir eingegeben, solange es noch hell war, in Hut und Schal dazusitzen. Als die Schatten fielen und die Flut stieg, konnte ich bisweilen sehen – wenn ich den Kopf zum Fenster hinausstreckte und nach ihrem Fenster unter mir blickte –, daß sie sich ein wenig hinauslehnte und die Straße hinabschaute. Es wurde gerade dunkel, als ich sie auf der Straße sah.

Von einer solchen Angst erfüllt, ich könnte sie aus den Augen verlieren, daß sie mir noch jetzt, wo ich es erzähle, fast den Atem benimmt, rannte ich, schneller als ich je in meinem ganzen Leben gelaufen bin, die Treppe hinunter. Ich schlug nur einmal im Vorübergehen mit der Hand an die Tür des Majors und schlüpfte auf die Straße. Ich sah sie nicht mehr. Ich lief mit derselben Schnelligkeit die Straße hinunter, und als ich an der Ecke der Howard Street anlangte, sah ich, daß sie in diese eingebogen war und vor mir nach Westen zu ging. Oh, mit welch dankerfülltem Herzen sah ich sie dahinschreiten!

London war ihr gänzlich unbekannt, und sie war selten über die Umgebung unseres Hauses hinausgekommen. Sie hatte mit ein paar kleinen Kindern aus der Nachbarschaft Bekanntschaft gemacht, stand bisweilen bei ihnen auf der Straße und blickte nach dem Wasser. Sie ging jetzt aufs Geratewohl, wie ich wußte, aber dabei schlug sie doch immer die richtigen Seitenstraßen ein, bis sie an den Strand kam. An jeder Ecke sah ich, wie ihr Kopf beständig einer bestimmten Richtung zugekehrt war, und das war stets die Richtung nach dem Fluß.

Vielleicht war es nur die Dunkelheit und Stille der Adelphi-Terrasse, die sie veranlaßte, in diese einzubiegen, aber sie tat es so entschlossen, als ob diese von Anfang an ihr Ziel gewesen wäre. Vielleicht war es auch wirklich so. Sie ging geradewegs auf die Terrasse zu und an ihr entlang und blickte dabei über das Geländer, und noch oft in späterer Zeit fuhr ich in meinem Bett aus einem Angsttraum empor, indem ich sie wie in jenem Augenblick vor mir sah. Die Verlassenheit des Kais unterhalb und das rasche Strömen der hohen Flut an dieser Stelle schienen sie zu locken. Sie warf einen Blick um sich, wie um den Weg nach unten herauszufinden, und schlug den richtigen oder den falschen Weg ein – ich weiß nicht welchen, denn ich bin vorher oder nachher nie dort gewesen –, während ich ihr folgte.

Es war bemerkenswert, daß sie während dieser ganzen Zeit nicht ein einziges Mal zurückblickte. Aber in ihrem Gang war jetzt eine große Veränderung wahrzunehmen; denn während sie bisher einen gleichmäßigen raschen Schritt eingehalten hatte, wobei ihre Arme auf der Brust gekreuzt waren, lief sie unter den unheimlich finsteren Wölbungen in wilder Eile mit weitgeöffneten Armen dahin, als wären es Flügel und sie flöge zum Tod.

Wir befanden uns jetzt auf dem Kai, und sie blieb stehen. Auch ich machte halt. Ich sah, wie ihre Hände nach ihren Hutbändern griffen – im nächsten Augenblick war ich zwischen ihr und dem Kairand und faßte sie mit beiden Armen um den Leib. Sie hätte mich mit in die Tiefe reißen können, aber unter keinen Umständen wäre es ihr gelungen, sich von mir loszumachen – das sichere Gefühl hatte ich.

Bis zu diesem Augenblick war es in meinem Kopf ganz wirr gewesen, und ich hatte nicht die geringste Ahnung gehabt, was ich zu ihr sagen sollte, aber sowie ich sie berührte, kam es wie ein Zauber über mich, und ich war im Besitz meiner natürlichen Stimme und meines Verstandes und konnte fast wieder ruhig atmen.

»Mrs. Edson!« sage ich. »Meine Liebe! Sehen Sie sich vor. Wie konnten Sie sich bloß verirren und an einem so gefährlichen Ort wie diesen geraten? Sie müssen doch wirklich durch die verwickeltsten Straßen in ganz London hierhergekommen sein. Kein Wunder, daß Sie sich verirrt haben. Und gerade an diesem Ort! Ich dachte wahrhaftig, hier käme nie ein Mensch hin, ausgenommen ich selbst, um meine Kohlen zu bestellen, und der Major aus dem ersten Stock, um seine Zigarre zu rauchen!« – denn ich sah diesen gesegneten Mann ganz in der Nähe, wie er so tat, als rauche er.

»Ha – Ha – Hum!« hustet der Major.

»Und wahrhaftig«, sage ich, »da ist er!«

»Hallo! Wer da?« sagt der Major in militärischem Ton.

»Nun!« antwortete ich. »Das ist doch die Höhe! Kennen Sie uns nicht, Major Jackman?«

»Hallo!« sagt der Major. »Wer ruft Jemmy Jackman an?« Und dabei war er ganz außer Atem und spielte seine Rolle weniger natürlich, als ich es erwartet hätte.

»Hier ist Mrs. Edson, Major«, sage ich. »Sie hat einen Spaziergang gemacht, um ihren armen Kopf zu kühlen, der ihr sehr weh getan hat; sie ist dabei vom Weg abgekommen und hat sich verirrt, und Gott weiß, wohin sie noch geraten wäre, wenn ich nicht gerade des Wegs dahergekommen wäre, um in den Briefkasten meines Kohlenlieferanten eine Bestellung einzuwerfen, und Sie nicht hier herumspazierten, um Ihre Zigarre zu rauchen! – Und Sie sind wirklich nicht wohl genug, meine Liebe«, sage ich zu ihr, »um sich ohne mich auch nur halb so weit von zu Hause zu entfernen. – Und Ihr Arm wird sicherlich sehr willkommen sein, Major«, sage ich zu ihm, »ich weiß, sie darf sich, so schwer sie will, darauf lehnen.«

Und mittlerweile hatten wir es soweit gebracht – dem Allmächtigen sei Dank! –, daß sie zwischen uns beiden dahinschritt.

Ein kalter Schauer schüttelte sie vom Kopf bis zu den Füßen, und das Zittern hörte nicht auf, bis ich sie auf ihr Bett legte. Bis zum frühen Morgen hielt sie meine Hand fest und jammerte und jammerte: »Oh, der Elende, der Elende, der Elende!« Aber als ich schließlich so tat, als ob der Kopf mir schwer würde und ein tiefer Schlaf mich übermannte, hörte ich, wie das arme junge Weib mit so rührenden und demutsvollen Worten dem Himmel dankte, daß sie davor bewahrt geblieben sei, sich in ihrer Raserei das Leben zu nehmen, daß ich glaubte, ich müßte mir auf der Bettdecke die Augen ausweinen, und ich wußte, daß sie es nicht wieder versuchen würde.

Da es mir gutging und ich die Ausgabe tragen konnte, schmiedete ich am folgenden Tag mit dem Major meine Pläne, während sie den tiefen Schlaf der Erschöpfung schlief; sobald es anging, sagte ich zu ihr:

»Mrs. Edson, meine Liebe, als Mr. Edson mir die Miete für diese weiteren Monate bezahlte …«

Sie fuhr empor, und ich fühlte, wie ihre großen Augen auf mich gerichtet waren, aber ich fuhr mit meiner Rede und meiner Nadelarbeit fort.

»… ich bin nicht ganz sicher, ob ich die Quittung richtig datierte. Könnten Sie sie mir einmal zeigen?«

Sie legte ihre eiskalte Hand auf die meine und sah mich durchbohrend an, als ich genötigt war, von meiner Nadelarbeit aufzublicken. Aber ich hatte die Vorsicht gebraucht, meine Brille aufzusetzen.

»Ich habe keine Quittung«, sagte sie darauf.

»Ah! Dann hat er sie«, sagte ich in gleichgültigem Ton. »Es kommt nicht darauf an. Eine Quittung ist eine Quittung.«

Von dieser Zeit an hielt sie stets meine Hand in der ihrigen, wenn ich sie ihr reichen konnte, und das war in der Regel nur dann der Fall, wenn ich ihr vorlas. Denn natürlich hatten sie und ich viel mit der Nadel zu tun, und keine von uns beiden hatte ein besonderes Geschick für diese kleinen Wäschestückchen, obwohl ich in Anbetracht der Umstände auf meinen Anteil daran ziemlich stolz bin. Und obwohl sie auf alles achtete, was ich ihr vorlas, so schien es mir doch, daß neben der Bergpredigt es sie am meisten fesselte, wenn ich von dem sanften Mitleid unseres Herrn mit uns armen Frauen las und von seiner Jugend, und wie seine Mutter stolz auf ihn war und alle seine Reden in ihrem Herzen bewahrte. In ihren Augen lag ein dankbarer Ausdruck, der niemals bis an mein Lebensende meinem Gedächtnis entschwinden wird, und wenn ich sie zufällig ansah, so traf ich stets auf diesen dankbaren Blick. Oft bot sie mir auch ihre zitternden Lippen zum Kuß, viel mehr wie ein liebevolles Kind, dessen Herz vom Kummer halb gebrochen ist, als wie ich es mir von einem erwachsenen Menschen denken könnte.

Einmal war das Zittern dieser armen Lippen so stark, und ihre Tränen strömten so reichlich, daß ich glaubte, sie wolle mir all ihr Leid erzählen; deshalb nahm ich ihre beiden Hände zwischen die meinen und sagte:

»Nein, mein liebes Kind, nicht jetzt. Es ist am besten, wenn Sie jetzt nicht davon sprechen. Warten Sie auf bessere Zeiten, wenn Sie darüber hinweggekommen sind und sich wieder kräftig fühlen; dann sollen Sie mir erzählen, soviel Sie wollen. Soll das zwischen uns ausgemacht sein?«

Während wir uns noch an den Händen hielten, nickte sie viele Male hintereinander mit dem Kopf, hob meine Hände hoch und drückte sie an Lippen und Herz.

»Nur noch ein Wort jetzt, mein liebes Kind«, sagte ich. »Gibt es jemand?«

Sie blickte mich fragend an.

»Zu dem ich gehen kann?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Niemand, den ich zu Ihnen bringen kann?«

Sie schüttelte den Kopf.

» Ich brauche niemand, meine Gute. Das ist jetzt alles vorbei und dahin.«

Etwa eine Woche später – denn als diese Unterredung stattfand, hatte sie schon lange so dagelegen – beugte ich mich über ihr Bett mit meinem Ohr an ihren Lippen, abwechselnd auf ihren Atem lauschend und nach einem Zeichen des Lebens in ihrem Gesicht spähend. Schließlich kam dieses ersehnte Zeichen in einer feierlichen Weise – nicht wie ein Aufzucken, sondern wie eine Art blasses, schwaches Licht, das ganz allmählich das Gesicht erhellte.

Sie sagte etwas zu mir, das keinen Laut gewann, aber ich sah, daß sie mich fragte:

»Ist dies der Tod?«

Worauf ich erwiderte:

»Mein armes, liebes, gutes Kind, ich glaube, es ist so.«

Ich wußte irgendwie, daß sie den Wunsch hatte, ihre schwache rechte Hand zu bewegen. Ich nahm sie also, legte sie ihr auf die Brust und faltete ihre Linke darüber, und sie betete ein inniges Gebet, in das ich arme alte Frau einstimmte, obwohl kein Wort gesprochen wurde. Dann brachte ich das Kindchen in den Windeln herbei und sagte:

»Mein liebes Kind, dies ist einer kinderlosen alten Frau gesendet. Dies ist mir anvertraut.«

Zum letzten Male streckte sich die zitternde Lippe mir entgegen, und ich küßte sie innig.

»Ja, mein Kind«, sagte ich. »So Gott will! Mir und dem Major.«

Ich weiß nicht, wie ich es mit den rechten Worten schildern soll, aber ich sah ihre Seele sich erhellen und froh werden, und mit einem letzten Blick wurde sie frei und flog davon.

Das ist also das Wie und Warum, meine Liebe, daß wir ihn nach seinem Paten, dem Major, Jemmy nannten; sein Familienname aber war Lirriper nach mir selbst. Und niemals ist ein Kind solch ein Sonnenschein in einer Pension und solch ein lieber Spielkamerad für seine Großmutter gewesen, wie es Jemmy für dieses Haus und für mich war. Er war immer gut und hörte auf das, was man ihm sagte (meistens), er wirkte besänftigend aufs Gemüt und machte alle Dinge angenehmer, mit Ausnahme des Falles, als er alt genug war, um seine Mütze in Miß Wozenhams Luftschacht hinunterfallen zu lassen, und sie sie ihm nicht hinaufreichen wollten. Da geriet ich in Wut, nahm meinen besten Hut, Handschuhe und Sonnenschirm, und mit dem Kind an der Hand sage ich:

»Miß Wozenham, ich habe nicht erwartet, jemals Ihr Haus zu betreten, aber wenn die Mütze meines Enkels nicht augenblicklich zurückgegeben wird, so sollen die Gesetze dieses Landes, die die Eigentumsrechte der Untertanen regeln, schließlich zwischen mir und Ihnen entscheiden, koste es, was es wolle.«

Mit einem höhnischen Zug im Gesicht, der, wie es mir schien, auf doppelte Schlüssel deutete – aber das konnte auch eine Täuschung sein, und wenn noch irgendein Zweifel besteht, so mag Miß Wozenham den ganzen Vorteil davon haben, wie es recht ist –, klingelt sie und fragt:

»Jane, liegt etwa eine alte Mütze von einem Gassenjungen in unserem Schacht unten?«

Darauf sage ich:

»Miß Wozenham, bevor Ihr Mädchen diese Frage beantwortet, muß ich Ihnen ins Angesicht sagen, daß mein Enkel kein Gassenjunge ist und keine alten Mützen zu tragen pflegt. Wirklich, Miß Wozenham«, fügte ich hinzu, »ich bin keineswegs sicher, ob die Mütze meines Enkels nicht neuer als Ihre Haube ist.«

Das war einfach wild von mir, da ihre Spitze das gewöhnlichste Maschinenzeug und noch dazu verwaschen und zerrissen war, aber ihre Unverschämtheit hatte mich zu sehr gereizt.

Darauf antwortete Miß Wozenham mit gerötetem Gesicht:

»Jane, du hast meine Frage gehört. Liegt die Mütze eines Kindes unten in unserem Schacht?«

»Ja, Ma’am«, sagt Jane, »ich glaube, ich sah da irgendwelchen Unrat herumliegen.«

»Dann«, sagt Miß Wozenham, »laß diese Besucher hinaus und wirf den wertlosen Gegenstand hinauf, daß er uns aus dem Hause kommt.«

Aber hier runzelt der Kleine, der Miß Wozenham die ganze Zeit angestarrt hatte, seine kleinen Augenbrauen, schürzt seine kleinen Lippen, stellt seine rundlichen Beinchen weit auseinander, dreht seine dicken Fäustchen langsam umeinander, wie eine kleine Kaffeemühle, und sagt zu ihr:

»Wer zu meiner Großmutti unverschämt ist, bekommt’s mit mir zu tun!«

»Oh!« sagt Miß Wozenham, verächtlich auf den Knirps niederblickend. »Das ist kein Gassenjunge, was?«

Ich breche in Lachen aus und sage:

»Miß Wozenham, wenn Sie nicht finden, daß das ein hübscher Anblick ist, so beneide ich Ihre Gefühle nicht, und ich wünsche Ihnen guten Tag. Jemmy, komm mit Großmutti.«

Ich war in der besten Stimmung, obwohl seine Mütze in die Straße hinaufgeflogen kam, als würde sie aus dem Wasserrohr herausgeschossen, und auf dem Nachhauseweg lachte ich die ganze Zeit über, alles wegen dieses lieben Jungen.

Die vielen, vielen Meilen, die ich und der Major mit Jemmy in der Dämmerung gereist sind, lassen sich nicht berechnen. Jemmy saß als Kutscher auf dem Bock, der des Majors metallbeschlagenes Schreibpult auf dem Tisch ist, ich saß im Lehnstuhl, und der Major stand dahinter als Schaffner und machte seine Sache mit einer Tüte aus braunem Papier ganz prachtvoll. Ich versichere Ihnen, meine Liebe, daß zuweilen, wenn ich auf meinem Platz im Innern der Kutsche ein wenig eingenickt war und durch das plötzliche Aufflackern des Feuers halb wach wurde und hörte, wie unser kleiner Liebling die Pferde antrieb und der Major hinten ins Horn blies, damit die Wechselpferde bereit ständen, sobald wir an dem Gasthof anlangten – daß ich dann halb glaubte, wir wären auf der alten nach Norden führenden Landstraße, die mein armer Lirriper so gut kannte. Wenn dann das Kind und der Major, beide tief vermummt, abstiegen, um sich die Füße zu wärmen, stampfend auf und ab gingen und Gläser voll Bier aus den papiernen Zündbüchsen auf dem Kamin tranken, so war der Major ebenso mit Leib und Seele bei dem Spiel wie das Kind, und keine Komödie konnte einem größeres Vergnügen bereiten, als wenn der kleine Kutscher den Kutschenschlag öffnete, den Kopf zu mir hereinsteckte und sagte:

»Sehr schnell gefahren. – Angst gehabt, alte Dame?«

Aber meine unaussprechlichen Gefühle, als uns das Kind abhanden gekommen war, können nur mit denen des Majors verglichen werden, die um kein Haar besser waren. Fünf Jahre alt war er und elf Uhr vormittags war es, als er davonlief; und er ließ nichts von sich hören bis um halb zehn Uhr abends, als der Major auf die Redaktion der Times gegangen war, um eine Annonce aufzugeben. Diese erschien auch am nächsten Tage, vierundzwanzig Stunden, nachdem er gefunden worden war, und ich werde sie bis an mein Lebensende sorgfältig in meiner Lavendelkommode aufbewahren als den ersten gedruckten Bericht über ihn. Je mehr der Tag fortschritt, desto mehr geriet ich außer mir, und dem Major erging es ebenso. Und durch die seelenruhige Art der Schutzleute gerieten wir beide in einen noch schlimmeren Zustand. Sie waren zwar sehr höflich und freundlich, weigerten sich aber hartnäckig, daran zu glauben, daß der Kleine gestohlen worden wäre.

»Wir machen meist die Erfahrung, Ma’am«, sagte der Sergeant, der gekommen war, um mich zu trösten, was ihm aber durchaus nicht gelang – er war einer von den Schutzleuten aus Carolines Zeiten, worauf er auch in seinen einleitenden Worten anspielte, indem er sagte: »Machen Sie sich keine Sorgen, Ma’am, es wird alles wieder so in Ordnung kommen wie meine Nase, als das junge Mädel in Ihrem zweiten Stockwerk sie mir zerkratzt hatte« – dieser Sergeant sagte also: »Wir machen meist die Erfahrung, Ma’am, daß die Leute nicht allzusehr darauf aus sind, Kinder aus zweiter Hand, wie ich es nennen möchte, zu haben. Sie werden ihn wiederbekommen, Ma’am.«

»Oh, aber mein lieber guter Sir«, sagte ich, indem ich die Hände zusammenschlug, sie rang und sie wieder zusammenschlug, »es ist solch ein ungewöhnliches Kind!«

»Ja, Ma’am«, sagte der Sergeant, »wir machen auch meist diese Erfahrung. Die Frage ist, wieviel seine Kleider wert sind.«

»Seine Kleider«, sagte ich, »sind nicht viel wert, denn er hatte bloß seinen Spielanzug an. Aber das liebe Kind!«

»Schon gut, Ma’am«, sagte der Sergeant. »Sie werden ihn wiederbekommen, Ma’am. Und selbst wenn er seine besten Kleider angehabt hätte, so würde doch nichts Schlimmeres passieren, als daß man ihn, in ein Kohlblatt eingehüllt, zitternd in einem Gäßchen fände.«

Seine Worte durchbohrten mein Herz wie ebenso viele Dolche, und ich und der Major liefen den ganzen Tag über wie wilde Tiere aus und ein, bis der Major, von seinem nächtlichen Besuch auf der Redaktion der Times zurückkehrend, außer sich vor Freude in meine Kammer stürzte, mir die Hand drückte und, sich die Augen wischend, sagte:

»Freude – Freude – ein Schutzmann in Zivil kam die Hausstufen herauf, als ich gerade aufschloß – beruhigen Sie sich – Jemmy ist gefunden.«

Infolgedessen fiel ich in Ohnmacht, und als ich wieder zu mir kam, umschlang ich die Beine des Schutzmanns in Zivil, der einen braunen Backenbart trug und der im Geiste ein Inventar der Gegenstände meiner Kammer aufzunehmen schien.

»Gott segne Sie, Sir«, rief ich, »wo ist der Liebling?«

Und er sagte:

»Auf der Wache in Kennington.«

Ich war im Begriff, umzusinken bei der Vorstellung, die kleine Unschuld sei mit Mördern in einer Zelle zusammen, als er hinzufügte:

»Er folgte dem Affen.«

Da ich das für einen Slangausdruck hielt, sagte ich:

»O Sir, erklären Sie einer liebenden Großmutter, was für ein Affe!«

Darauf er:

»Der in der Kappe mit den Flittern und dem Riemen unter dem Kinn, die niemals oben bleiben will – der, der auf einem runden Tisch die Straßenecken fegt und nicht öfter seinen Säbel ziehen will, als nötig ist.«

Da begriff ich die ganze Sache und dankte ihm von ganzem Herzen. Ich fuhr dann mit ihm und dem Major nach Kennington, und dort fanden wir unsern Jungen, wie er ganz behaglich vor einem lustigen Feuer lag. Er hatte sich auf einer kleinen Ziehharmonika von der Größe eines Bügeleisens, die einem jungen Mädchen abgenommen worden war und die man ihm zu diesem Zweck überlassen hatte, süß in den Schlaf gespielt.

Meine Liebe, das System, nach dem der Major Jemmy zu unterrichten begann und ihn, wie ich wohl sagen kann, zur Vollkommenheit führte, sollte vor dem Thron und im Ober- und Unterhaus bekanntgemacht werden. Dann würde der Major wohl die Beförderung erhalten, die er vollauf verdient und die er (unter uns gesagt) auch in finanzieller Beziehung sehr gut gebrauchen könnte. Jemmy war damals noch so klein, daß man, wenn er auf der anderen Seite des Tisches stand, unter den Tisch, statt über ihn blicken mußte, um das Lockenköpfchen mit dem schönen blonden Haar, das er von seiner Mutter hatte, zu Gesicht zu bekommen. Als der Major anfing, ihn zu unterrichten, sagt er zu mir:

»Ich beabsichtige, Madam«, sagte er, »aus unserem Kinde einen rechnenden Jungen zu machen.«

»Major«, sage ich, »Sie erschrecken mich. Sie können dem Liebling einen dauernden Schaden zufügen, den Sie sich niemals vergeben würden.«

»Madam«, meint der Major, »nach meiner Reue darüber, daß ich damals den Schurken nicht mit meinem Stiefelschwämmchen auf der Stelle erstickt habe …«

»Still! Um Gottes willen!« unterbreche ich ihn. »Möge ihn sein Gewissen ohne Schwämmchen ausfindig machen.«

»… ich sage, nach meiner Reue darüber, Madam«, fährt er fort, »würde die Reue kommen, die meine Brust«, auf die er sich schlägt, »bedrängen würde, wenn dieser glänzende Verstand nicht frühzeitig entwickelt würde. Aber verstehen Sie wohl, Madam«, sagt der Major, »entwickelt nach einem Prinzip, das das Lernen zur Lust machen wird.«

»Major«, sage ich, »ich will aufrichtig gegen Sie sein und sage Ihnen geradeheraus, wenn ich je finde, daß das liebe Kind nicht mehr so gut ißt, dann werde ich wissen, es sind seine Rechenaufgaben, und in diesem Falle mache ich ihnen in zwei Minuten ein Ende. Oder wenn ich finde, daß sie ihm zu Kopf steigen«, sage ich, »oder sich ihm kalt auf den Magen legen oder zu etwas wie Schwäche in seinen Beinen Anlaß geben, dann wird das Resultat dasselbe sein. Aber, Major, Sie sind ein kluger Mann und haben viel gesehen, und Sie lieben das Kind und sind sein Pate, und wenn Sie es für richtig halten, den Versuch zu machen, so tun Sie es.«

»Gesprochen, Madam«, sagt der Major, »wie Emma Lirriper. Ich bitte Sie nur darum, Madam, daß Sie meinem Patenkind und mir eine Woche oder zwei für die Vorbereitung Zeit lassen wollen, um Sie zu überraschen, und daß Sie mir gestatten wollen, mir gelegentlich einige kleine, gerade nicht benutzte Gegenstände aus der Küche heraufbringen zu lassen, die ich brauche.«

»Aus der Küche, Major?« frage ich mit einer unklaren Vorstellung, als beabsichtige er, das Kind zu kochen.

»Aus der Küche«, erwiderte der Major und lächelt und scheint gleichzeitig größer zu werden.

So willigte ich denn ein, und der Major und der liebe Junge schlossen sich eine Zeitlang auf jeweils eine halbe Stunde ein. Niemals konnte ich wahrnehmen, daß etwas anderes zwischen ihnen vorging, als daß geschwatzt und gelacht wurde und daß Jemmy in die Hände klatschte und Zahlen schrie. Infolgedessen sagte ich zu mir selbst: »Es hat ihm noch nicht geschadet.« Auch konnte ich, wenn ich mir den lieben Jungen daraufhin ansah, nirgends an ihm etwaige Zeichen entdecken, daß es ihm nicht zusagte, was gleichfalls eine große Erleichterung für mich war. Schließlich bringt mir eines Tages Jemmy eine scherzhafte Einladungskarte, auf der in des Majors sauberer Handschrift geschrieben steht:

»Die Herren Jemmy Jackman«, denn wir hatten ihm noch den anderen Namen des Majors beigelegt, »geben sich die Ehre, um Mrs. Lirripers Anwesenheit in dem Jackman-Institut im ersten Stock heute abend um fünf Uhr (mit militärischer Pünktlichkeit) zu bitten, um einigen kleinen Vorführungen in elementarer Arithmetik beizuwohnen.«

Und wenn Sie mir glauben wollen, auf die Minute pünktlich um fünf Uhr stand der Major im Wohnzimmer des ersten Stocks hinter dem zu beiden Seiten aufgezogenen Klapptisch, auf dem eine Menge Küchengegenstände auf altem Zeitungspapier fein säuberlich aufgestellt waren, und da stand auch der Knirps auf einem Stuhl, seine rosigen Bäckchen flammten, und seine Augen blitzten wie Diamanten.

»Nun, Großmutti«, sagt er, »setz dich hin und rühre niemanden an.« Denn er hatte mit seinen beiden Diamanten gesehen, daß ich beabsichtigte, ihn an mich zu drücken.

»Sehr wohl, Sir«, sage ich. »In dieser guten Gesellschaft tue ich natürlich, was man von mir verlangt.«

Und damit setze ich mich in den Lehnstuhl, der für mich bereitgestellt war, und schüttle mich vor Lachen. Aber stellen Sie sich mein Erstaunen vor, als der Major mit so raschen Bewegungen, als wäre er ein Zauberkünstler, alle Gegenstände, die er nennt, auf dem Tisch zusammenstellt und dabei sagt:

»Drei Untertassen, ein Kräuseleisen, eine Handglocke, eine Röstgabel, ein Reibeisen, vier Topfdeckel, eine Gewürzbüchse, zwei Eierbecher und ein Hackbrett – das macht zusammen?«

Worauf der Knirps augenblicklich ausruft: »Fünfzehn.« Dann klatscht er in die Hände, zieht seine Beine hoch und tanzt auf seinem Stuhl.

Meine Liebe, mit derselben verblüffenden Leichtigkeit und Richtigkeit rechneten er und der Major die Tische, die Stühle und das Sofa, die Bilder an der Wand, das Kamingitter und die Schüreisen, ihre beiden Personen, mich, die Katze und die Augen in Miß Wozenhams Kopf zusammen, und sooft das Resultat herauskommt, klatscht mein rosig-diamantner Junge in die Hände, zieht seine Beine hoch und tanzt auf seinem Stuhl herum.

Den Stolz des Majors hätten Sie sehen müssen!

» Das ist ein Verstand, Ma’am!« sagt er hinter der vorgehaltenen Hand zu mir.

Dann sagt er laut:

»Wir kommen nun zu der zweiten Elementarregel, die genannt wird …«

»Subtraktion!« ruft Jemmy.

»Richtig«, sagt der Major. »Wir haben hier eine Röstgabel, eine ungeschälte Kartoffel, zwei Topfdeckel, einen Eierbecher, einen hölzernen Löffel und zwei Bratspieße, von denen für geschäftliche Zwecke abgezogen werden müssen ein Sprottenbratrost, ein kleines Einmachegefäß, zwei Zitronen, eine Pfefferbüchse, ein Küchenschabenfänger und ein Knopf von dem Speiseschrankkasten – was bleibt?«

»Die Röstgabel!« ruft Jemmy.

»In Zahlen wieviel?« sagt der Major.

»Eins!« ruft Jemmy.

»Das ist ein Junge, Ma’am!« sagt der Major hinter der Hand zu mir.

Dann fährt er fort.

»Wir kommen jetzt zur nächsten Elementarregel …«

»Multiplikation!« ruft Jemmy.

»Richtig«, sagt der Major.

Aber, meine Liebe, Ihnen im einzelnen zu schildern, wie sie vierzehn Scheite Feuerholz mit zwei Stück Ingwer und einer Spicknadel multiplizierten oder so ziemlich alles, was sonst auf dem Tisch stand, durch den Stahl des Kräuseleisens und einen Zimmerleuchter dividierten und eine Zitrone übrigbehielten, würde mir den Kopf schwindlig machen, wie es damals der Fall war. Schließlich sage ich:

»Wenn Sie es mir nicht übelnehmen wollen, daß ich mir erlaube, den Vorsitzenden anzureden, Professor Jackman, so glaube ich, daß jetzt der Zeitpunkt gekommen ist, wo es erforderlich ist, daß ich diesen jungen Gelehrten einmal fest in meine Arme schließe.«

Daraufhin ruft Jemmy von seinem Stuhl aus:

»Großmutti, mache die Arme auf, und ich springe in sie hinein.«

So öffnete ich ihm also meine Arme, wie ich mein wehes Herz geöffnet hatte, als seine arme junge Mutter im Sterben lag. Er sprang hinein, und wir hielten einander eine gute Weile fest umschlungen, während der Major, stolzer als ein Pfau, hinter der vorgehaltenen Hand zu mir sagt:

»Sie müssen es ihn nicht merken lassen, Madam« (was ich tatsächlich nicht nötig hatte, denn der Major war vollkommen verständlich), »aber das ist ein Junge!«

In dieser Weise wuchs Jemmy auf. Er ging in die Tagesschule, lernte aber auch unter dem Major weiter, und im Sommer waren wir so glücklich, wie die Tage lang, und im Winter so glücklich, wie die Tage kurz waren. Über der Pension aber schien ein Segen zu ruhen, denn es war so gut, als ob die Zimmer sich selbst vermieteten, und ich hätte Kunden für die doppelte Anzahl gehabt. Eines Tages aber mußte ich ganz gegen meinen Willen und wehen Herzens zu dem Major sagen:

»Major, Sie wissen sicher, was ich Ihnen eröffnen muß. Unser Junge muß in ein Pensionat.«

Es war traurig mit anzusehen, wie das Gesicht des Majors lang wurde, und ich bemitleidete die gute Seele von ganzem Herzen.

»Ja, Major«, sage ich, »obwohl er bei den Mietern so beliebt ist wie Sie selbst, und obwohl er für Sie und für mich das ist, was nur Sie und ich wissen, so ist das doch der Lauf der Welt; das Leben besteht aus Trennungen, und wir müssen uns von unserem Liebling trennen.«

So fest ich auch sprach, sah ich doch zwei Majore und ein halbes Dutzend Kamine, und als der arme Major einen seiner sauberen, glänzend gewichsten Stiefel auf das Kamingitter stellte, dann den Ellbogen auf das Knie und den Kopf auf die Hand stützte und sich ein wenig hin und her bewegte, schnitt es mir furchtbar ins Herz.

»Aber«, fahre ich fort, nachdem ich mich geräuspert habe, »Sie haben ihn so gut vorbereitet, Major – er hat einen solchen Privatlehrer an Ihnen gehabt –, daß ihm die Anfangsplackerei ganz und gar erspart sein wird. Und außerdem ist er so gescheit, daß er bald seinen Platz unter den Ersten haben wird.«

»Er ist ein Junge«, sagt der Major, nachdem er ein wenig geschnüffelt hat, »wie es auf der Erde keinen zweiten gibt.«

»Das ist wahr, Major, und deshalb dürfen wir ihm nicht bloß aus Egoismus hinderlich sein, überall wo er hingeht, eine Leuchte und eine Zierde zu sein und vielleicht sogar einmal ein großer Mann zu werden, nicht wahr, Major? Er wird meine ganzen kleinen Ersparnisse erben, wenn einst meine Arbeit getan ist, denn er ist mein alles, und wir müssen versuchen, einen weisen und guten Menschen aus ihm zu machen, nicht wahr, Major?«

»Madam«, antwortete er, indem er sich aufrichtet, »Jemmy Jackman ist schon ein älterer Geselle geworden, als ich gedacht hätte, und Sie machen ihn schamrot. Sie haben vollkommen recht, Madam. Sie haben einfach und unbestreitbar recht. – Wenn Sie mich entschuldigen wollen, so werde ich jetzt einen Spaziergang machen.«

Als der Major das Haus verlassen hatte und da Jemmy zu Hause war, führte ich den Kleinen in meine Kammer und ließ ihn neben meinen Stuhl treten, legte meine Hand auf seine Locken und sprach liebevoll und ernsthaft zu ihm. Und als ich dem Liebling zu bedenken gegeben hatte, daß er nun schon bald zehn Jahre alt war, und als ich ihm über seine zukünftige Laufbahn im Leben so ziemlich dasselbe gesagt hatte, was ich dem Major gegenüber geäußert hatte, eröffnete ich ihm, daß die Trennung notwendig sei. Aber da mußte ich innehalten, denn plötzlich sah ich die wohlbekannte zitternde Lippe, und dieser Anblick rief mir die Vergangenheit so lebhaft wieder ins Gedächtnis! Aber mit der Tapferkeit, die ihm eigen war, hatte er sich bald gefaßt und sagte, durch seine Tränen hindurch ernsthaft nickend:

»Ich verstehe, Großmutti – ich weiß, es muß sein – sprich weiter, Großmutti, habe keine Angst vor mir.«

Und als ich alles gesagt hatte, was mir nur in den Sinn kam, wandte er mir sein ruhiges, freundliches Gesicht zu und sagte, wenn auch hier und da mit ein wenig gebrochener Stimme:

»Du sollst sehen, Großmutti, daß ich ein Mann sein kann und daß ich alles tun kann, um dir meine Dankbarkeit und Liebe zu beweisen – und wenn ich nicht das werde, was du von mir erwartest, dann hoffe ich, es wird nur deshalb sein, weil – weil ich sterben werde.«

Und damit setzte er sich neben mich hin, und ich erzählte ihm weiter von der Schule, über die ich ausgezeichnete Empfehlungen hatte: wo sie wäre, wie viele Schüler sie hätte, was für Spiele sie dort spielten, wie ich gehört hätte, und wie lang die Ferien wären, was er alles mit hellem und fröhlichem Gesicht mit anhörte. Schließlich sagte er:

»Und nun, liebe Großmutti, laß mich hier, wo ich mein Gebet zu sprechen pflegte, niederknien, laß mich mein Gesicht auf eine Minute in deinem Rock verbergen und laß mich weinen, denn du bist mehr als Vater, mehr als Mutter, mehr als Geschwister und Freunde für mich gewesen sind!«

Und so weinte er und ich auch, und wir fühlten uns danach beide viel besser.

Von dieser Zeit an hielt er getreulich Wort und war stets fröhlich und munter, und selbst als ich und der Major ihn nach Lincolnshire brachten, war er bei weitem der munterste von uns dreien. Das war freilich nicht schwer, aber er heiterte auch uns auf; und nur als es zum letzten Lebewohl kam, meinte er mit einem ernsten Blick:

»Du möchtest doch nicht, daß es mir wirklich nicht naheginge, Großmutti?«

Und als ich sagte: »Nein, mein Liebling, Gott behüte!« rief er: »Das freut mich!« und rannte ins Haus hinein.

Aber jetzt, als das Kind die Pension verlassen hatte, wurde der Major ganz und gar trübsinnig. Alle Mieter merkten, daß er den Kopf hängen ließ, und er sah nicht einmal mehr so stattlich aus wie sonst. Selbst seine Stiefel wichste er nur noch mit einem kleinen Schimmer von Interesse.

Eines Abends kam der Major in mein kleines Zimmer, um eine Tasse Tee und eine gebutterte Röstschnitte zu genießen und dabei Jemmys letzten Brief zu lesen, der an diesem Nachmittag eingetroffen war. Er war von demselben Briefträger wie früher gebracht worden, der, jetzt schon ein Mann in reiferem Alter, noch immer diesen Bezirk hatte. Da der Brief den Major ein wenig aufheiterte, sagte ich zu ihm:

»Major, Sie dürfen sich keinen trüben Stimmungen hingeben.«

Der Major schüttelte den Kopf.

»Jemmy Jackman, Madam«, sagte er mit einem schweren Seufzer, »ist ein älterer Geselle, als ich dachte.«

»Trübsinn ist kein Mittel, um jünger zu werden, Major.«

»Meine teure Madam«, erwiderte er, »gibt es überhaupt ein Mittel, um jünger zu werden?«

Da ich fühlte, daß der Major in diesem Punkt recht behalten würde, lenkte ich auf einen anderen ab.

»Dreizehn Jahre! Drei-zehn Jahre! Viele Mieter sind in den dreizehn Jahren, die Sie im ersten Stock wohnen, gekommen und gegangen.«

»Ja!« sagte der Major, warm werdend. »Viele, Madam, viele.«

»Und Sie haben sich mit allen gutgestanden?«

»In der Regel (die, wie alle Regeln, ihre Ausnahmen hat), meine teure Madam«, sagte der Major, »haben sie mich mit ihrer Bekanntschaft beehrt, häufig sogar mir ihr Vertrauen geschenkt.«

Ich beobachtete den Major, wie er sein weißes Haupt senkte, seinen schwarzen Schnurrbart strich und wieder in Trübsinn verfiel, und ein Gedanke, der, wie ich glaube, umherwanderte und sich irgendwo nach einem Eigentümer umsah, fiel in meinen alten Kopf, wenn Sie mir den Ausdruck gestatten wollen.

»Die Wände meiner Pension«, sagte ich beiläufig – denn, meine Liebe, es ist zwecklos, mit einem Mann, der trübsinnig ist, geradeheraus zu sprechen –, »könnten sicher etwas erzählen, wenn sie dazu imstande wären.«

Der Major machte weder eine Bewegung noch sprach er ein Wort, aber ich sah an seinen Schultern, daß er zuhörte, meine Liebe – daß er mit seinen Schultern auf das achtete, was ich sagte. Ich sah tatsächlich, wie es auf seine Schultern Eindruck machte.

»Der liebe Junge hat stets gern Geschichten gelesen«, fuhr ich fort, als spräche ich zu mir selbst; »und dieses Haus – sein eignes Heim – könnte wahrlich einige Geschichten aufzeichnen, die er später einmal lesen könnte.«

In den Schultern des Majors gab es einen Ruck, und sein Kopf kam in seinem Hemdkragen in die Höhe. Der Kopf des Majors kam in seinem Hemdkragen in die Höhe, wie ich ihn, seit Jemmy zur Schule fortging, nicht in die Höhe hatte kommen sehen.

»Es ist nicht zu bestreiten, daß ich in den Pausen eines freundschaftlichen Cribbage-Spiels oder Rubbers, meine teure Madam«, sagte der Major, »und auch über dem, was in meiner Jugend – in den grünen Tagen Jemmy Jackmans – das volle Glas genannt zu werden pflegte, manche Erinnerung mit Ihren Mietern ausgetauscht habe.«

Meine Bemerkung darauf war – ich gestehe, daß ich sie mit der verborgensten und hinterlistigsten aller Absichten machte:

»Ich wünschte, daß unser lieber Junge sie gehört hätte!«

»Ist das Ihr Ernst, Madam?« fragte mich der Major, in die Höhe fahrend und sich mir zuwendend.

»Weshalb nicht, Major?«

»Madam«, sagte der Major, einen seiner Ärmel aufkrempelnd, »sie sollen für ihn niedergeschrieben werden.«

»Ah! Das läßt sich hören«, meinte ich, indem ich vor Vergnügen die Hände zusammenschlug. »Jetzt sind Sie auf dem besten Weg, aus dem Trübsinn herauszukommen, Major!«

»In der Zeit von jetzt bis zu seinen Ferien – ich meine, denen des lieben Jungen«, sagte der Major, seinen andern Ärmel aufkrempelnd, »kann schon viel fertig werden.«

»Major, Sie sind ein kluger Mann, Sie haben vieles gesehen, und Ihre Worte sind nicht zu bezweifeln.«

»Ich werde morgen anfangen«, sagte der Major, der auf einmal so groß wie nur je aussah.

Meine Liebe, in drei Tagen war der Major ein anderer Mensch, und in einer Woche war er wieder ganz der alte, und er schrieb und schrieb und schrieb, indem er mit seiner Feder kratzte, wie Ratten hinter dem Wandgetäfel. Ob alles, was er schrieb, auf Wahrheit beruhte, oder ob er dabei ein bißchen aufschnitt, das kann ich Ihnen nicht sagen, aber das Manuskript liegt hinter der Glasscheibe des linken Seitenfachs in dem kleinen Bücherschrank gerade hinter Ihnen.

Zweites Kapitel

Ein paar Worte, die der erste Stock selbst hinzufügte

Ich habe die Ehre, mich Ihnen vorzustellen. Mein Name ist Jackman. Ich halte es für ein stolzes Vorrecht, daß ich auf Veranlassung meiner würdigen und im höchsten Grade geachteten Freundin, Mrs. Lirriper, von Norfolk Street Nummer einundachtzig, Strand, in der Grafschaft Middlessex im Vereinigten Königreich von Großbritannien und Irland, und zur Belehrung des bemerkenswertesten Jungen, der jemals lebte – mit Namen Jemmy Jackman Lirriper –, auf die Nachwelt komme.

Es kommt mir nicht zu, das Entzücken zu schildern, mit dem wir diesen lieben und im höchsten Grade hervorragenden Jungen während seiner ersten Weihnachtsferien empfingen. Nur soviel soll bemerkt sein, daß, als er mit zwei prachtvollen Preisen (in Arithmetik und ausgezeichnetem Betragen) ins Haus gestürmt kam, Mrs. Lirriper und ich ihn mit Rührung umarmten und sofort mit ihm ins Theater gingen, wo wir uns alle drei wunderbar unterhielten.

Auch ist es nicht meine Absicht, den Tugenden der Besten ihres guten und geehrten Geschlechts – die ich aus Rücksicht für ihre Bescheidenheit hier nur mit den Anfangsbuchstaben E. L. bezeichnen will – meine Huldigung dadurch zu bezeigen, daß ich diesen Bericht zu dem Bündel von Manuskripten hinzufüge, über die unser Junge sein Entzücken ausgedrückt hat, bevor ich dieses Bündel wieder in das linke Seitenfach von Mrs. Lirripers kleinem Bücherschrank lege.

Auch geschieht es nicht deshalb, um den Namen des alten, originalen, ausgedienten, unbekannten Jemmy Jackman, früher (zu seiner Herabwürdigung) bei Wozenham, jetzt seit langem (zu seiner Erhebung) bei Lirriper, ungebührlich vorzudrängen. Wenn ich mich mit Bewußtsein einer solchen geschmacklosen Handlungsweise schuldig machen könnte, so wäre es wirklich ein ganz überflüssiges Unterfangen, jetzt, wo der Name von Jemmy Jackman Lirriper getragen wird.

Nein. Ich ergreife meine bescheidene Feder vielmehr, um einen kleinen Bericht über unseren erstaunlich bemerkenswerten Jungen zu verfassen, der, wie ich in meinem einfachen Verstand glaube, ein hübsches kleines Bild von dem Geist des lieben kleinen Jungen bietet. Das Bild wird vielleicht für ihn selbst interessant sein, wenn er erwachsen ist.

Der erste Weihnachtstag, den wir nach unserer Wiedervereinigung verbrachten, war der schönste, den wir je miteinander verlebt haben. Jemmy war keine fünf Minuten still, ausgenommen in der, Kirche. Er schwatzte, als wir am Kamin saßen, er schwatzte, als wir spazierengingen, er schwatzte, als wir wieder am Kamin saßen, er schwatzte ohne Unterlaß beim Essen, obwohl er mit einem Appetit aß, der fast so bemerkenswert war wie er selbst. Es war die Quelle des Glücks, die in seinem frischen jungen Herzen unaufhörlich überströmte, und sie befruchtete (wenn ich ein so kühnes Bild gebrauchen darf) meine Freundin und J. J., den Schreiber dieser Zeilen.

Am Tisch saßen nur wir drei. Wir aßen in dem kleinen Zimmer meiner geschätzten Freundin, und das Mahl war vollkommen. Aber alles im Hause ist, was Sauberkeit, Ordnung und Behaglichkeit angeht, stets vollkommen. Nach dem Essen glitt unser Junge auf sein altes Stühlchen zu Füßen meiner geschätzten Freundin, und dort saß er mit seinen gerösteten Kastanien und seinem Glas braunen Sherry (wirklich, ein ganz ausgezeichneter Wein!), während seine Wangen röter waren als die Äpfel in der Schale.

Wir sprachen von diesen meinen Schreibereien, die Jemmy inzwischen gelesen und wieder gelesen hatte; und so fügte es sich, daß meine geschätzte Freundin, während sie Jemmys Locken streichelte, bemerkte:

»Und da du auch zum Hause gehörst, Jemmy – und zwar viel mehr als die Mieter, da du doch darin geboren bist –, so bin ich der Meinung, deine Geschichte sollte eines Tages zu den übrigen hinzugefügt werden.«

Jemmys Augen leuchteten bei diesen Worten, und er sagte:

»Das denke ich auch, Großmutti.«

Dann saß er eine Weile da und blickte ins Feuer. Plötzlich begann er zu lachen, als ob er dem Feuer etwas anvertrauen wollte, und sagte dann, seine Arme auf dem Schoß meiner geschätzten Freundin kreuzend und sein strahlendes Gesicht zu dem ihrigen erhebend:

»Möchtest du die Geschichte eines Jungen hören, Großmutti?«

»Aber gern«, erwiderte meine geschätzte Freundin.

»Möchtest du es, Pate?«

»Natürlich, gern«, erwiderte ich.

»Gut denn«, sagte Jemmy, »ich will euch eine erzählen.«

Hier schloß unser unbestreitbar bemerkenswerter Junge sich selbst in die Arme und ließ wieder ein melodisches Lachen ertönen bei dem Gedanken, daß er sich in dieser neuen Eigenschaft als Erzähler zeigen sollte. Dann wandte er sich wieder, wie zuvor, dem Feuer zu, als wollte er ihm etwas vertraulich mitteilen, und begann:

»Einst in alter Zeit, als Ferkel Wein tranken und Affen Tabak kauten, es war weder zu eurer noch zu meiner Zeit, doch darauf kommt es nicht an …«

»Lieber Himmel, bewahre das Kind!« rief meine geschätzte Freundin. »Was geht in seinem Kopf vor?«

»Es ist ein Gedicht, Großmutti«, erwiderte Jemmy, sich vor Lachen schüttelnd. An der Schule fangen wir unsere Geschichten immer damit an.«

»Hat mir einen richtigen Ruck gegeben, Major«, sagte meine geschätzte Freundin, sich mit einem Tellerchen fächelnd. »Ich glaubte, er wäre wirr im Kopf!«

»In jenen bemerkenswerten Zeiten, Großmutti und Pate, gab es einstmals einen Jungen – nicht mich, müßt ihr verstehen.«

»Nein, nein«, sagte meine geehrte Freundin, »nicht du. Er nicht, Major, verstehen Sie?«

»Nein, nein«, sagte ich.

»Und er ging zur Schule in Rutlandshire …«

»Weshalb nicht Lincolnshire?« fragte meine geehrte Freundin.

»Weshalb nicht, du liebe alte Großmutti? Weil ich in Lincolnshire zur Schule gehe, nicht wahr?«

»Oh, natürlich!« sagte meine geehrte Freundin. »Und es ist nicht Jemmy, Sie verstehen, Major?«

»Freilich, freilich«, meinte ich.

»Nun also!« fuhr unser Junge fort, indem er sich behaglich selbst in die Arme schloß und fröhlich lachte (wobei er sich wieder vertraulich ans Feuer wandte), bevor er aufs neue zu Mrs. Lirripers Gesicht aufblickte. »Und er war fürchterlich in die Tochter seines Schulmeisters verliebt. Sie war nämlich das schönste Mädchen, das man je gesehen hatte. Sie hatte braune Augen und braunes Haar, das wunderschön gelockt war, und eine liebliche Stimme. Sie war ganz und gar lieblich, und ihr Name war Seraphina.«

»Wie heißt die Tochter deines Schulmeisters, Jemmy?« fragte meine geehrte Freundin.

»Polly!« erwiderte Jemmy, mit dem Zeigefinger auf sie weisend. »Reingefallen! Ha, ha, ha!«

Meine geehrte Freundin und er lachten zusammen und umarmten sich, und dann fuhr unser unbestreitbar bemerkenswerter Junge mit großem Behagen fort:

»Nun gut. Er war also in sie verliebt. Er dachte stets an sie, träumte von ihr, schenkte ihr Orangen und Nüsse und hätte ihr gern Perlen und Diamanten geschenkt, wenn er es von seinem Taschengeld hätte erschwingen können, aber das konnte er nicht. Und ihr Vater – oh, der war ein Tatare. Er hielt die Jungen streng in Zucht, veranstaltete einmal im Monat ein Examen, hielt Vorträge über alle möglichen Gegenstände zu allen möglichen Zeiten und wußte alles auf der Welt aus Büchern. Und dieser Junge nun …«

»Hatte er einen Namen?« fragte meine geehrte Freundin.

»Nein, er hatte keinen, Großmutti. Ha, ha! Wieder reingefallen!«

Darauf lachten sie und umarmten sich wie vorher, und dann fuhr unser Junge fort:

»Nun, dieser Junge hatte einen Freund, ungefähr im gleichen Alter, der auf dieselbe Schule ging und der (denn der hatte nun einen Namen) – laßt mich nachdenken – Bobbo hieß.«

»Nicht Bob«, sagte meine geehrte Freundin.

»Natürlich nicht«, sagte Jemmy. »Wie kamst du darauf, Großmutti? Und dieser Freund war der gescheiteste und bravste und hübscheste und edelmütigste Freund, den es je gegeben hat; er war in Seraphinas Schwester verliebt, und Seraphinas Schwester war in ihn verliebt, und so wurden sie alle zusammen groß.«

»Gott behüte!« meinte meine geehrte Freundin. »Das ging aber schnell bei Ihnen.«

»Sie wurden alle zusammen groß«, wiederholte unser Junge, aus vollem Halse lachend, »und Bobbo und dieser Junge ritten davon, um ihr Glück zu suchen. Sie hatten ihre Pferde halb geschenkt und halb verkauft bekommen. Sie hatten nämlich sieben Schilling und vier Pence gemeinsam gespart, aber da die beiden Pferde, echte Araber, mehr wert waren, hatte der Mann gesagt, er wolle sich, weil sie es wären, damit zufriedengeben. Nun, sie machten also ihr Glück und kamen zur Schule zurückgaloppiert, die Taschen so voller Gold, daß es für immer reichte. Sie läuteten an der Glocke für die Eltern und Besucher (nicht am hinteren Tor), und als jemand kam, verkündeten sie: Genauso wie bei Scharlach! Jeder Junge geht auf unbestimmte Zeit nach Hause. Und da gab es ein großes Hurrageschrei, und dann küßten sie Seraphina und ihre Schwester – jeder sein eigenes Liebchen und auf keinen Fall das des anderen –, und dann ließen sie den Tataren augenblicklich einsperren.«

»Armer Mann!« sagte meine geehrte Freundin.

»Augenblicklich einsperren, Großmutti«, wiederholte Jemmy, indem er sich bemühte, streng auszusehen, und sich dabei doch vor Lachen schütteln mußte, »und er durfte nichts zu essen bekommen als das Essen der Jungen und mußte täglich ein halbes Fäßchen von ihrem Bier trinken. So traf man denn Anstalten für die beiden Hochzeiten, und es gab Eingemachtes und Süßigkeiten und Nüsse und Briefmarken und alles mögliche sonst. Und sie waren so fröhlich, daß sie den Tataren herausließen, und er war fröhlich mit ihnen.«

»Es freut mich, daß sie ihn herausließen«, meinte meine geehrte Freundin, »weil er nur seine Pflicht getan hatte.«

»Oh, aber er hatte auch ein bißchen zuviel getan!« rief Jemmy. »Und darauf bestieg dieser Junge sein Pferd, mit seiner Braut in den Armen, und galoppierte davon und galoppierte weiter und weiter, bis er an einen gewissen Ort kam, wo er eine gewisse Großmutti und einen gewissen Paten hatte – nicht ihr beide, müßt ihr verstehen.«

»Nein, nein«, sagten wir beide einstimmig.

»Und dort wurden sie mit großen Freuden empfangen, und er füllte das Küchenbüfett und den Bücherschrank mit Gold, und er ließ es auf seine Großmutti und seinen Paten herabregnen, weil sie die beiden liebsten und besten Menschen waren, die je auf dieser Welt lebten. Und während sie bis zu den Knien in Gold dasaßen, vernahm man ein Klopfen an der Haustür, und wer sollte es anders sein als Bobbo, der sich ebenfalls zu Pferde mit seiner Braut in den Armen einstellte, und er war um nichts anderes gekommen, als um zu sagen, daß er (für doppelte Miete) alle Zimmer für immer nehme, die dieser Junge und diese Großmutti und dieser Pate nicht für sich brauchten, und daß sie alle zusammen leben und alle glücklich sein wollten. Und das waren sie auch, und ihr Glück nahm nie ein Ende!«

»Und gab es keinen Zank?« fragte meine geehrte Freundin, während sich Jemmy auf ihren Schoß setzte und sie umarmte.

»Nein! Niemand gab jemals Anlaß zu Zank.«

»Und wurde das Geld niemals alle?«

»Nein! Niemand konnte es jemals ganz ausgeben.«

»Und wurde keiner von ihnen jemals älter?«

»Nein! Nach dem wurde keiner mehr älter.«

»Und ist keiner von ihnen jemals gestorben?«

»O nein, nein, nein, Großmutti!« rief unser lieber Junge, seine Wange auf ihre Brust legend und sie fester an sich drückend. »Niemand ist jemals gestorben.«

»Ah, Major, Major!« sagte meine geehrte Freundin, mir gütig zulächelnd, »das ist besser als unsere Geschichten. Wir wollen mit der Geschichte des Jungen schließen, Major, denn die Geschichte des Jungen ist die beste, die je erzählt wurde!«

Diesem Wunsch von seiten der besten aller Frauen folgend, habe ich die Geschichte hier so getreu aufgezeichnet, wie es meine besten Fähigkeiten, unterstützt von meinen besten Absichten, zuließen, und unterschreibe sie mit meinem Namen.

J. Jackman

Mrs. Lirripers Pension.
Im ersten Stock.