„Nun hör auf“, fiel der Jude gereizt ein, „sonst passiert dir was, das dir recht unangenehm sein könnte.“

Das Mädchen sagte nichts mehr, aber zerraufte sich wie eine Verrückte das Haar und zerriß sich das Kleid, dann stürzte sie wütend auf den Juden los. Im rechten Augenblick packte Sikes sie jedoch am Handgelenk, sonst hätte sie ohne Zweifel sehr deutliche Zeichen ihrer Rache in des Juden Gesicht zurückgelassen. Nachdem sie vergeblich versuchte, sich von Sikes Griff zu befreien, fiel sie plötzlich in Ohnmacht.

„Nun ist alles wieder in Ordnung“, meinte Sikes und trug sie in eine Ecke des Zimmers. .Sie hat eine Riesenkraft, wenn sie in Wut ist!“

Der Jude wischte sich die Stirn und lächelte: „mit Weibern zu tun zu haben, ist schlimm, aber sie sind schlau, und ohne sie geht’s in unserm Geschäft nicht. – Karl, bring Oliver zu Bett!“

„Nicht wahr, Fagin, er soll morgen seinen Sonntagsstaat nicht tragen?“ Der Jude verneinte. Oliver wurde nun in das anstoßende Gemach geführt, wo ein Bett aus alten Säcken in der Ecke stand. Karl brachte lachend denselben alten Anzug zum Vorschein, den Oliver in Brownlows Hause dem Dienstmädchen geschenkt hatte. Fagin hatte die Lumpen von einem Juden gekauft und dadurch die erste Spur von unseres Helden Aufenthalt erhalten.

„Zieh deinen Sonntagsanzug aus“, sagte Karl; „ich will ihn Fagin zum Aufheben geben. Das wird ein Hauptspaß.“

Widerwillig gehorchte Oliver und wurde dann von Karl im Finstern gelassen, der hinausging und die Tür hinter sich abschloß. Karls Lachen und die Stimme Betsys, die gekommen war, um ihrer Freundin beizustehen, hätten ihn unter glücklicheren Umständen wach erhalten. Er war jedoch krank und müde und verfiel deshalb in einen tiefen Schlaf.

Olivers Schicksal bleibt dauernd ungünstig. Ein großer Mann kommt nach London, um seinem Rufe zu schaden

Wir bitten den Leser jetzt, uns nach der Stadt zu begleiten, wo unser kleiner Held zur Welt kam.

Herr Bumble trat eines Morgens früh aus dem Armehause und ging würdevoll die Straße hinunter. Er trug zwar seinen Kopf immer gebührend hoch, heute jedoch noch höher als gewöhnlich. Herr Bumble hielt sich nicht mit den kleinen Krämern auf, die ihn ansprechen wollten, sondern grüßte sie nur mit einer leichten Handbewegung. An dem Landhaus machte er schließlich halt, wo Frau Mann die armen Kinder nach den Grundsätzen der Armenbehörde betreute.

„Was mag dieser verwünschte Gemeindediener schon in aller Herrgottsfrühe wollen?“ sagte Frau Mann, als sie sein bekanntes, ungeduldiges Klopfen an der Gartentür vernahm. – „Ah! Sieh da, Herr Bumblel freut mich, Sie zu sehen. Bitte, treten Sie näher.“

„Frau Mann“, sagte Herr Bumble, indem er sich würdevoll setzte, „Frau Mann, ich wünsche Ihnen einen guten Morgen!“

„Danke, gleichfalls, Herr Bumble“, versetzte Frau Mann liebenswürdig lächelnd. „Es geht Ihnen hoffentlich gut?“

„So, so Frau Mann“, erwiderte Herr Bumble; „man ist nicht auf Rosen gebettet.“

„Ach, das ist nur zu wahr!“ Hätten die Armenkinder das hören können, sie hätten alle ausnahmslos Frau Mann beigepflichtet.

„Das Leben eines Gemeindebeamten, Frau Mann“, fuhr Bumble fort und schlug mit seinem Stock auf den Tisch, „ist ein Leben voll Mühe, Arbeit und Ärger. Dagegen ist jedoch nichts zu machen, alle Leute im öffentlichen Leben müssen sich Anfeindungen gefallen lassen.“

Obgleich Frau Mann nicht wußte, was er damit sagen wollte, seufzte sie teilnahmsvoll.

„Ich gehe nach London, Frau Mann“, fuhr Bumble fort.

„Ach, wirklich?“

„Ja, und zwar in der Postkutsche. Ich und zwei Arme. Es handelt sich um die Feststellung ihrer Heimatszustädigkeit. Die Armenhausbehörde hat mich mit ihrer Vertretung betraut. Es wird sich dann herausstellen“, fuhr Herr Bumble fort und richtete sich stolz auf, „ob die Herren vom Gericht in Clerkenwell sich nicht in mir gewaltig verrechnet haben. So leicht werden Sie mit mir nicht fertig.“

„Sie reisen also mit der Post. Ich dachte, man transportiere die Armen immer auf Karren?“

. „Nur, wenn sie krank sind. Bei Regenwetter setzen wir die armen Kranken auf offene Karren, damit sie sich nicht erkälten.“

„Ach so!“

„Es ist eine Retourkutsche und daher sehr billig“, sagte Herr Bumble. „Die beiden Armen sind in einem ziemlich elenden Zustande, und die Gemeinde fährt um zwei Pfund besser, wenn sie sie fortschickt, als wenn sie sie begraben lassen muß. Das heißt, wir müssen sie einer andern Gemeinde zuweisen können, was, wie ich glaube, gehen wird. Sie dürfen uns nur nicht den Possen spielen und unterwegs sterben. Ha! Ha! Ha!“

„Doch wir vergessen unser Geschäft“, sagte der Gemeindediener, nachdem er genügend gelacht hatte. „Hier ist das Kostgeld für den Monat.“ Er holte eine kleine Rolle Silbergeld aus seiner Tasche hervor und bat um Quittung, die Frau Mann auch sofort ausschrieb. Dann fragte Bumble nach dem Wohlergehen der Kinder.

„Gott segne die lieben kleinen Herzblättchen. Sie sind alle so gesund, als es die Umstände erlauben – bis auf die zwei, die in der letzten Woche starben.“

Herr Bumble verabschiedete sich nun nach einer Weile und ging heim.

Am nächsten Morgen um sechs Uhr nahm er mit den beiden Armen seinen Sitz auf der Außenseite der Kutsche ein und langte fahrplanmäßig in London an. Nachdem Herr Bumble seine Schützlinge, die halb erfroren waren, für die Nacht untergebracht hatte, ließ er sich in dem Gasthause, wo die Kutsche hielt, ein bescheidenes Essen, bestehend aus Beefsteak, Austernsauce und Porter, bringen und studierte dann die Zeitung.

Das erste, was Herrn Bumble ins Auge fiel, war folgende Ankündigung:

Fünf Guineen Belohnung.

Letzten Donnerstagabend ist ein Knabe, namens Oliver Twist, aus seiner Wohnung in Pentonville verschwunden und hat nichts mehr von sich hören lassen. Die Möglichkeit besteht, daß er entfüht wurde. Obige Belohnung soll derjenige erhalten, der über den Verbleib des besagten Oliver Twist Angaben machen kann, oder der sonst etwas von seiner Herkunft weiß, da der Inserent sich auch für diese lebhaft interessiert.

Der Anzeige war eine genaue Besch reibung von Oliver nebst Herrn Brownlows Adresse beigegeben.

Herr Bumble machte große Augen und las die Anzeige dreimal durch. Doch ehe fünf Minuten vergingen, war er auf dem Wege nach Pentonville. –

„Ist Herr Brownlow zu Hause?“ fragte Bumble das Mädchen, welches die Tür öffnete.

„Ich weiß nicht – was wünschen Sie?“

Herr Bumble hatte kaum den Namen Oliver Twist genannt, als Frau Bedwin, die an der Tür gehorcht hatte, hastig in den Hausflur eilte.

„Kommen Sie herein“, sagte die alte Frau; „ich wußte ja, daß wir von ihm hören würden. Der arme Junge. Gott segne ihn.«‘

Das Mädchen war inzwischen die Treppe hinaufgegangen und kehrte jetzt mit der Bitte zurück, daß Herr Bumble ihr folgen möchte.

Er wurde in das kleine Studierzimmer geführt, wo Herr Brownlow und sein Freund Grimwig sich bei einer Flasche Wein gütlich taten.

„Sie kommen auf meine Anzeige?“ fragte BrownIow.

„Jawohl.“

„Sie sind Gemeindediener?“

„Jawohl.“

„Wissen Sie, wo der arme Junge sich befindet?“

„So wenig, wie irgendein anderer“, versetzte Bumble.

„Nun, was wissen sie von ihm?“ fragte der alte Herr. „Sprechen Sie, lieber Freund, wenn Sie etwas zu sagen haben. Was wissen Sie von ihm?“

„Wahrscheinlich nichts Gutes“, bemerkte Herr Grimwig beißend, nachdem er Herrn Bumbles Gesichtszüge aufmerksam betrachtet hatte.

Dieser schüttelte feierlich den Kopf.

„Sehen Sie?“ sagte Grimwig triumphierend.

Herr Brownlow ersuchte Bumble nun, ihm in kurzen Worten mitzuteilen, was er von Oliver wüßte.

Es würde ermüdend sein, die Erzählung mit den Worten des Gemeindedieners wiederzugeben, da sie volle zwanzig Minuten dauerte. Ihr Inhalt war kurz der: Oliver sei ein Findling, das Kind geineiner und lasterhafter Eltern, tückisch, undankbar und boshaft. Er habe auf einen harmlosen Jungen einen blutdürstigen und hinterlistigen Angriff gemacht und sei dann bei Nacht und Nebel aus dem Hause seines Lehrherrn entlaufen. Zum Beweise, daß er wirklich der Mann sei, als den er sich vorstellte, legte Herr Bumble seine Papiere vor.

„Ich fürchte, es ist alles nur zu wahr“, sagte der alte Herr, nachdem er die Papiere flüchtig durchgesehen hatte. „Nehmen Sie das Geld, es ist nicht viel für die Wichtigkeit Ihrer Mitteilungen. Ich hätte gern das Dreifache gegeben, wenn sie für den Jungen günstiger gelautet hätten.“

Hätte Herr Bumble das früher gewußt, so würde er wahrscheinlich seiner Erzählung eine ganz andere Färbung gegeben haben. Kopfschüttelnd steckte er die fünf Guineen ein und entfernte sich.

Herr Brownlow war so niedergeschlagen, daß selbst Herr Grimwig es für richtig hielt, seine bissigen Bemerkungen einzustellen. Der alte Herr zog heftig an der Klingel.

„Frau Bedwin“, sagte Herr Brownlow, nachdem die Haushälterin eingetreten war, „der Junge ist ein Betrüger.“

„Unmöglich“, versetzte die alte Frau mit Nachdruck, „rein unmöglich.“

„Ich sage Ihnen aber, es ist so“, entgegnete der alte Herr scharf. „Es war sein ganzes Leben läng ein kleiner Bösewicht.“

„Das werde ich nie glauben“, erwiderte Frau Bedwin fest. „Er war ein liebes, sanftes und dankbares Kind!“

„Ruhig!“ sagte Brownlow. „Ich will den Namen des Jungen nie wieder hören. Um Ihnen das zu sagen, hatte ich geklingelt. Sie können jetzt gehen, aber denken Sie daran, ich habe im Ernst gesprochen.“

In Herrn Brownlows Hause gab es in dieser Nacht betrübte Herzen, aber auch Olivers Herz war todtraurig, wenn er seiner gütigen Freunde gedachte. Hätte er geahnt, was sie über ihn gehört hatten, es wäre gebrochen.

Wie Oliver in der sittenverbessernden Gesellschaft seiner ehrenwerten Freunde die Zeit verbrachte

Am Mittag des nächsten Tages, als der Gannef und Karl Bates zu ihren gewöhnlichen Geschäften ausgegangen waren, benutzte Herr Fagin die Gelegenheit, Oliver eine lange Rede über die schreckliche Sünde der Undankbarkeit zu halten. Er setzte ihm eingehend auseinander, wie er sich derselben in ganz ungewöhnlich hohem Grade schuldig gemacht habe, indem er sich von seinen besorgten Freunden entfernte und ihnen sogar zu entfliehen versuchte. Dabei hätte man doch auf seine Wiederauffindung so viel Mühe und Kosten verwendet. Herr Fagin legte großes Gewicht auf den Umstand, daß er Oliver ins Haus genommen und verpflegt habe. Ohne die ihm rechtzeitig gewährte Hilfe wäre er doch wahrscheinlich Hungers gestorben. Aber sie würden noch die besten Freunde werden, wenn sich Oliver folgsam und anstellig zeige. Der Jude nahm jetzt seinen Hut, zog einen alten geflickten Überrock an und ging fort, nicht ohne vorher das Zimmer abzuschließen.

So blieb Oliver während des ganzen Tages und einer Anzahl nachfolgender Tage eingesperrt und sich selbst überlassen. Er hatte genügend Zeit, seinen Gedanken nachzuhängen, die sich immer mit seinen Freunden in Pentonville beschäftigten, und was diese wohl für eine Meinung von ihm gefaßt haben mochten. Nach Ablauf einer Woche ließ der Jude die Tür unverschlossen, und Oliver stand es frei, im Hause umherzugehen.

Es war überall schmutzig im Hause, aber die Zimmer im oberen Stockwerk hatten große Türen und hölzerne Wandtäfelchen. Es mußte vor langer Zeit mal besseren Leuten gehört haben und war wohl einmal schön und heiter gewesen, so traurig und verkommen es auch jetzt aussah. In den Ecken der Wände hatten Spinnen ihre Netze ausgespannt, und wenn er leise in ein Zimmer trat, liefen die Mäuse erschreckt in ihre Löcher zurück. In allen Zimmern waren die morschen Fensterläden fest verschlossen. Das Licht konnte nur durch kleine, eingebohrte Löcher eindringen und erfüllte die Zimmer mit seltsamen Schattengestalten. Hintenhinaus befand sich eine Dachkammer, deren Fenster keine Läden hatten, sondern die nur vergittert waren. Hier sah Oliver oft stundenlang hinaus, aber er hatte nur einen Blick auf ein Gewirr von .Dächern, Schornsteinen und Giebeln.

Eines Nachmittags, als der Gannef und Karl Bates sich zu einer Abendunternehmung vorbereiteten, setzte jener es sich in den Kopf, eine größere Sorgfalt auf seine Toilette zu verwenden. Eine Schwäche, die wir, um gerecht zu sein, nur als eine ausnahmsweise vorkommende bezeichnen müssen. Er befahl Oliver gnädig, ihm bei diesem Geschäft an die Hand zu gehen.

Oliver war froh, sich nützlich machen zu können. Er kniete auf dem Boden nieder und nahm, während der Gannef auf dem Tische saß, dessen Füße in seinen Schoß, und putzte ihm die Stiefel.

Der Gannef blickte eine Weile gedankenvoll auf Oliver nieder und sprach dann halb für sich, halb zu Karl Bates:

„Wie schade, daß er kein Gannove ist!“

„Ach“, sagte Karl, „er weiß seinen Vorteil nicht auszunützen.“

„Ich glaube, du weißt nicht einmal, was ein Gannove ist?“

„Doch, ich glaube, ich weiß es“, versetzte Oliver hastig aufsehend. „Es ist ein Dieb. Du bist einer, nicht wahr?“ fügte er schüchtern hinzu.

„Ja“, erwiderte der Gannef, „und ich bin stolz darauf. Ich bin ein Dieb, wir alle sind Diebe – Karl – Fagin –Sikes – Nancy – Betsy – bis auf den Hund hinunter, und der ist nicht der schlechteste!“

„Jedenfalls verrät er keinen“, fügte Karl Bates hinzu.

„Warum gehst du eigentlich nicht bei Fagin in die Lehre, Oliver?“

„Könntest dein Glück machen“, sagte der Gannef grinsend.

„Und dich später mal als Rentier zurückziehen – ja, und wie ein Herr leben, wie ich es zu tun gedenke in dem nächsten vierten Schaltjahr, am zweiundvierzigsten Dienstage in der Trinitatiswoche“, fuhr Karl fort.

„Es gefällt mir nicht“, sagte Oliver schüchtern, „ich wollte, man ließe mich fort. Ich – ich – möchte lieber gehen.“

„Und Fagin möchte lieber, daß du bliebst“, entgegnete Karl.

Oliver wußte das nur zu gut, er hielt es aber für gefährfich, noch weiter darüber zu sprechen, deshalb fuhr er seufzend im Stiefelputzen fort.

„Geh“, rief der Gannef, „hast du gar kein Ehrgefühl? Möchtest du wieder hingehen und. deinen Freunden zur Last fallen? Ich könnte nicht so sein.“

„Aber ihr könnt eure Freunde im Stich lassen“, erwiderte Oliver mit mattem Lächeln, „und sie einer Strafe preisgeben, die ihr verdient habt?“

„Das geschah nur mit Rücksicht auf Fagin. Die Greifer wissen, daß wir gemeinschaftlich arbeiten, und er hätte Uhgelegenheiten gehabt. Das war der Grund, weshalb wir ausgerissen sind, nicht wahr, Karl? Guck mal hier“, fuhr der,Gannef fort und zog aus der Tasche eine Handvoll Schillinge, „so leben wir! Wer schert sich drum, wo es herkommt. Greif zu! Wo ich diese erwischt habe, gibt’s noch eine ganze Masse. Du willst nicht, du willst nicht? O du Dummkopf.“

„Nicht wahr, Oliver, es ist nicht recht?“ fragte Karl Bates. „Er wird dafür noch mal Bammelmann machen, nicht?“

„Ich weiß nicht, was das ist“, versetzte Oliver.

„Das will es heißen“, sagte Karl und machte mit seinem Taschentuch die Pantomime des Gehängtwerdens.

„Du bist schlecht erzogen“, meinte der Gannef, „aber Fagin wird schon noch etwas aus dir machen. Fang nur gleich an, sonst verlierst du nur Zeit.“

Karl Bates unterstützte diesen Rat mit einigen moralischen Nutzanwendungen und schilderte in glühenden Farben das Leben, was sie jetzt führten.

„Und dann bedenke, Nolly(*Oliver*)“, sagte der Gannef, „wenn du die Taschentücher und Uhren nicht nimmst, so stiehlt sie ein anderer. Wer sich daher eine solche Gelegenheit nicht zunutze macht, ist ein Dummkopf.“

„Er hat vollkommen recht, vollkommen“, sagte Fagin, der inzwischen leise eingetreten war. „Er gibt dir das Ganze in der Nußschale, ja in einer Nußschale, Freundchen. Dem Gannef kannst du glauben. Ha! Ha! Ha! Er kennt genau den Katechismus seines Geschäfts!“

Das Gespräch wurde nicht weiter fortgesetzt, denn der Jude war mit Fräulein Betsy und einem Herrn nach Hause gekommen, den Oliver noch nie gesehen hatte.

Dieser, als Tom Chitling angeredet, war etwas älter als der Gannef und mochte wohl achtzehn, Lenze zählen. Er benahm sich gegen diesen mit einer Ehrerbietung, die bewies, daß er sich bewußt war, dem Gannef an Geist und Geschäftsgewandtheit nicht ebenbürtig zu sein. Tom hatte kleine blinzelnde Augen und ein pockennarbiges Gesicht. Er trug eine Pelzmütze, eine dunkle Jacke, schmierige Barchenthosen und eine Schürze. Er sah ziemlich heruntergekommen aus und entschuldigte es damit, daß seine „Zeit“ erst seit einer Stunde um sei und er noch nicht dazu gekommen war, seinen Anzug zu wechseln. Er schloß daran die Bemerkung, daß er in zweiundvierzig langen, harten Arbeitstagen keinen Tropfen Schnaps angerührt hätte. Er wolle sich hängen lassen, wenn er nicht so sei wie ein Pulverfaß.

„Was glaubst du wohl, woher dieser Herr kommt, Oliver?“ fragte der Jude grinsend, als die anderen Jungen eine Schnapsflasche auf den Tisch stellten.

„Ich – weiß nicht“, stotterte Oliver.

„Wer ist denn das?“ fragte Tom Chitling, Oliver verächtlich ansehend.

„Ein junger Freund von mir“, antwortete Fagin.

„Dann ist er gut aufgehoben“, sagte Tom und sah Fagin bedeutungsvoll an. „Kümmere dich nicht darum, woher ich komme, Junge. Ich wette einen Taler, daß du den Weg dahin schnell genug finden wirst.“

Man lachte, und dann flüsterte Tom dem Juden einige Worte zu. Sie setzten sich an den Kamin, und Fagin ließ Oliver an seiner Seite Platz nehmen. Man sprach von den großen Gewinnen des Geschäfts, der Geschicklichkeit des Gannefs und der Freigebigkeit Fagins. Als dieses Thema und zu gleicher Zeit auch Herr Tom Chitling erschöpft war – denn der Aufenthalt im Gefängnis wird nach einigen Wochen etwas angreifend –, entfernte sich Betsy, und die ganze Bande begab sich zur Ruhe.

Von diesem Tage an wurde Oliver nur noch selten allein gelassen. Er war fast dauernd in Gesellschaft von Jack oder Karl, die Tag für Tag mit dem Juden das alte Spiel spielten. Ob zu ihrer eigenen oder zu Olivers Ausbildung, wußte Fagin am besten. Manchmal erzählte der alte Mann auch Geschichten von Diebstählen, die er in jüngeren Jahren begangen hatte. Er mischte darin so viel Drolliges und Spaßhaftes, daß Oliver häufig nicht umhin konnte, herzlich mitzulachen und die Geschichten lustig zu finden. Trotz seiner besseren Einsicht!

Der schlaue alte Jude hatte den Jungen im Netz. Er hatte Olivers Geist durch Einsamkeit und Langeweile darauf vorbereitet, jede Gesellschaft seinen traurigen Grübeleien vorzuziehen. Langsam flößte er ihm das Gift ein, das die Unschuld seiner Seele trüben und sein Herz für immer schwarz machen sollte.

In dem ein denkwürdiger Plan beraten und beschlossen wird

Es war eine kalte und windige Nacht, als der Jude gut vermummt aus seiner Höhle auftauchte. Er blieb auf der Schwelle stehen, während die Jungen die Tür von innen verschlossen und verriegelten. Nachdem dies geschehen, eilte er so schnell, als er konnte, die Straße hinab.

Das Haus, in das man Ofiver gebracht hatte, befand sich in der Nähe von Whitechapel. – Der Jude stand an der nächsten Ecke einen Augenblick still und sah sich argwöhnisch um. Dann ging er über die Straße und schlug die Richtung nach Spitalfields ein.

Der Schmutz lag dicht auf dem Pflaster, und ein dunkler Nebel hing über den Straßen. Es regnete, und alles war kalt und feucht anzufühlen. Eine Nacht, so recht geeignet für die Unternehmungen eines Wesens, wie der Jude es war. Als der greuliche Alte unter dem Schutz der dunkeln Mauern und Torwege dahinschlich, glich er ganz einem eklen Gewürm, welches in dem Schlamm und Dunkel, das ihn geboren, nach einem leckeren Mahle sucht.

Er kam auf seinem Gange durch viele krumme und enge Gassen nach Bethnal Green. Hier bog er plötzlich links ab und tauchte dann in ein Labyrinth von schmutzigen Straßen unter, die es in diesem bevölkerten Stadtteil zu Dutzenden gibt.

Der Jude war augenscheinlich mit der Gegend gut vertraut, denn ohne irgendwelches Zögern eilte er durch mehrere Straßen, bis er eine Gasse erreichte, an deren äußerstem Ende nur eine Laterne brannte. Er klopfte an die Tür eines Hauses und stieg die Treppe hinauf, nachdem man ihm gegen Bekanntgabe des Losungswortes geöffnet hatte.

Als er die Klinke einer Tür berührte, hörte man das Knurren eines Hundes, und eine rauhe Mannesstimme fragte, wer da sei.

„Nur ich, Bill; nur ich, Freundchen“, sagte der Jude und guckte herein.

„So bring deinen schuftigen Leichnam ‚rein“, erwiderte Sikes. – „Kusch, dummes Vieh! Kennst du denn den Teufel nicht, auch wenn er vermummt ist.“

Der Hund hatte sich augenscheinlich durch Fagins Regenmantel täuschen lassen, denn sobald der Jude ihn abwarf, zog sich das Tier wieder in seine Ecke zurück und wedelte mit dem Schwanze.

„Nun?“ fragte Sikes.

„Tja, mein Lieber! – Ach Nancy.“

Der Jude war etwas verlegen, da er nicht wissen konnte, wie er von dem Mädchen empfangen werden würde. Doch Nancy tat ganz harmlos; sie winkte Fagin zu sich an den Kamin heran und meinte: es wäre eine kalte Nacht und sie wolle das Mißverständnis vergessen.

„Ja, es ist wirklich kalt“, entgegnete der Jude. .Es geht einem durch und durch.“

„Gib ihm was zu trinken, Nancy. Donnerwetter, spute dich! Es wird einem ja ganz übel, wenn man das dürre Gerippe so klappern sieht, als sei es eben erst dem Grabe entstiegen.“

Nancy holte eiligst eine Flasche und Sikes füllte ein Glas mit Brandy, das er dem Juden hinhielt.

Der Jude berührte es mit den Lippen und sagte dann:

„Danke, Bill, nicht mehr, habe genug.“

„Du hast wohl Angst, wir wollen dir was“, fragte Sikes, den Juden mit einem Blick durchbohrend. Er ergriff mit einem heiseren Grunzen das Glas und goß den Rest seines Inhalts in den Kamin. Dann füllte er es aufs neue und trank es aus.

Fagin sah sich im Zimmer um, nicht aus Neugierde, denn er war schon öfters dagewesen, sondern aus Argwohn, wie es ihm zur zweiten Natur geworden war. Es war ein ärmlich möbliertes Gemach, und man sah darin nichts Verdächtiges als ein paar schwere Knüttel in einer Ecke und einen ‚Totschläger‘ auf dem Kaminsims.

„Weshalb bist du gekommen“, fragte jetzt Sikes den Juden.

„Wegen der Villa in Chertsey“, erwiderte dieser leise.

„Nun und – Was weiter?“

„Ach, lhr wißt schon, was ich meine, Bill. Nicht wahr, Nancy, er weiß es recht gut?“

„Nein, er weiß es nicht“, sagte Sikes höhnisch, „oder will es nicht wissen, was auf dasselbe rauskommt. Schleime dich nur ruhig aus und nenne die Dinge beim rechten Namen. Tue doch nicht so, als ob du nicht das Ding ausbaldowert hast!“

„Pst, Bill“, machte Fagin, der sich umsonst bemüht hatte, Sikes Unwillen zu beschwichtigen. „Man wird uns hören, Freundchen, man wird uns hören!“

„Meinetwegen“, erwiderte Sikes, „mir ist’s gleich.“ Er dämpfte aber doch unwillkürlich seine Stimme.

„Nun, es war von mir aus doch nur Vorsicht“, sagte der Jude schmeichelnd, „weiter nichts als Vorsicht. Also was die Villa in Chertsey anbelangt – wann soll es sein, Bill, sprich? – Großartiges Silbergeschirr!“ fügte er händereibend hinzu und seine Augen funkelten beutegierig.

„Gar nicht“, erwiderte Sikes kalt.

„Was, gar nicht?“ wiederholte der Jude in grenzenlosem Erstaunen.

„Gar nicht, wenigstens geht’s nicht so, wie wir dachten.“

„Dann habt Ihr die Sache nicht richtig angefaßt“, meinte Fagin ärgerlich. „Mir könnt Ihr doch nichts erzählen!“

„Ich werde es dir schon erzählen“, entgegnete Sikes höhnisch. „Also, Toby Crackit hat seit ‚vierzehn Tagen alle möglichen Versuche gemacht, einen von der Dienerschaft zu gewinnen.“

„Ihr wollt also sagen“, unterbrach ihn der Jude, „daß keiner der beiden Bedienten überredet werden konnte?“

„Gerade das wollte ich sagen“, antwortete Sikes. „Sie sind schon zwanzig Jahre im Hause der alten Frau und würden’s nicht tun, selbst wenn wir ihnen fünfhundert Pfund bieten würden!“

„Und das weibliche Personal?“ fragte Fagin.

„Auch nicht dran zu denken.“

„Nicht mal durch den schneidigen Toby Crackit? Wie doch die Weiber nun einmal sind!“

„Auch vergeblich, trotzdem er sich einen Backenbart angeklebt und eine schöne gelbe Weste getragen hatte.“

„Er hätte es mit einem Schnurrbart und Soldatenhosen versuchen sollen“, meinte der Jude nach kurzem Besinnen.

„Das hat er auch getan, hatte aber ebensowenig Zweck.“

Fagin machte ein langes Gesicht dazu und versank in tiefes Nachdenken. Dann meinte er seufzend, wenn Crackits Berichte stimmen, müßte man den Plan wohl aufgeben. „Es ist furchtbar traurig, so viel zu verlieren, wenn, man sein Herz daran gehängt hat.“

„Ja“, sagte Sikes, „es ist ein mächtiges Pech.“

Es folgte nun ein langes Schweigen. Der Jude versank in tiefe Gedanken, wobei sein Gesicht den Ausdruck wahrhaft teuflischer Spitzbüberei annahm. Sikes warf ihm von Zeit zu Zeit verstohlene Blicke zu, während Nancy sich mäuschenstill verhielt und so tat, als hätte sie vom ganzen Gespräch nichts gehört.

„Fagin“, sagte Sikes, plötzlich die Stille unterbrechend, „ist es fünfzig Scheine extra wert, wenn man’s durch Einbruch schafft?“

„Ja!“ sagte der Jude, aufschnellend.

„Gilt’s?“ fragte Sikes.

„Ja, abgemacht“, antwortete Fagin, die Hand des andern drückend. Er strahlte im Gesicht und seine Augen glänzten.

„Dann“, erwiderte Sikes und schob die Hand des Juden verächtlich beiseite, „dann kann es sofort losgehen. Toby und ich sind gestern nacht über die Gartenmauer geklettert und haben die Türen und Fensterläden untersucht. Die Villa ist zwar in der Nacht gut verrammelt, aber es gibt eine Stelle, wo man bequem einbrechen kann.“

„Wo ist denn die Stelle?“ fragte Fagin lebhaft.

„Also, man geht über den Rasenplatz“, flüsterte Sikes, „und –“

„Ja, und –“ unterbrach ibn Fagin mit aufgerissenen Augen, dabei beugte er sich gespannt vor.

„Dann –“, rief Sikes schnell abbrechend, als ihm das Mädchen, fast ohne den Kopf zu bewegen, einen warnenden Blick zuwarf. „übrigens geht dich die Stelle gar nichts an, ohne mich kannst du es doch nicht machen. Wenn man mit dir zu tun hat, muß man verdammt vorsichtig sein.“

„Wie Ihr denkt, mein Lieber. Braucht Ihr keine Hilfe, schafft Ihr beide es allein?“

„Wir brauchen nur noch ein Brecheisen und ’nen Jungen. Das erstere haben wir, den Buben mußt du uns besorgen!“

„Einen Jungen?“ rief der Jude. „Ach, dann geht’s durchg ein Fenster, nicht wahr?“

„Kann dir gleich sein“, erwiderte Sikes. „Der Junge darf aber nicht zu groß sein.“ Nachdenklich fuhr er fort: „Wenn ich nur den Buben des Schornsteinfegers Ned kriegen könnte, der hätte ihn mir billig ausgeliehen. Aber da haben sie den Vater eingespunnt, und mit einemmal kommt solch ein Verein für verlassene Kinder und nimmt den Bengel aus einem Geschäft, wo er Geld verdienen konnte. Man lehrt ihn schreiben und lesen, damit er Handwerker werden kann. Aber so ist ’s“, fuhr Herr Sikes fort, der über diese Ungerechtigkeit immer mehr in Wut geriet „so ist’s, und wenn diese Vereine Geld genug hätten – was aber Gott sei Dank nicht der Fall ist – so würden für unsern Beruf in einigen Jahren kaum ein halbes .Dutzend Jungen übrigbleiben.“

„So viel würden uns kaum bleiben“, stimmte der Jude zu, der während dieser Rede seine Gedanken ganz wo anders hatte und nur die letzten Worte aufschnappte.

„Was ist los?“

Der Jude machte mit dem Kopf ein Zeichen, als wenn es ihm lieb wäre, daß Nancy, die immer noch mit dem Gesicht gegen den Kamin saß, jetzt das Zimmer verließe. Erst zuckte Sikes ungeduldig die Achseln, er hielt diese Vorsicht für unnötig, dann aber forderte er doch Nancy auf, ihm einen Krug Bier zu holen.

„Du brauchst kein Bier“, sagte Nancy, ruhig sitzenbleibend, und schlug die Arme übereinander.

„Ich habe aber Durst!“ erwiderte Sikes.

„Unsinn!“ versetzte das Mädchen gelassen. „Fahrt nur weiter fort, Fagin. Ich weiß, was er sagen will, Bill, vor mir braucht er sich nicht zu genieren!“

Der Jude zögerte, und Sikes guckte verwundert erst Nancy und dann Fagin an.

„Nanu, du wirst dich vor unserer alten Nancy nicht fürchten?“ sagte er schließlich. „Die kennst du doch lange genug, um ihr zu mißtrauen, zum Donnerwetter! Die verpfeift uns nicht, nicht wahr, Mädel?“

„Das sollt‘ ich meinen, Bill!“ erwiderte die junge Dame, dabei rückte sie ihren Stuhl an den Tisch und stützte den Kopf auf die Ellbogen.

„Das schon, mein Lieber. Ich weiß das, aber –“ Fagin hielt inne.

„Aber was?“ fragte Sikes.

„Aber vielleicht kriegt sie wieder einen Rappel, wie neulich“, antwortete der Jude.

Bei diesen Worten brach das Mädchen in ein lautes Gelächter aus und stürzte ein Glas Brandy hinunter. Sie schüttelte den Kopf herausfordernd und sagte, das wäre ja lächerlich. Sie könnten vor ihr ruhig sprechen. „Redet nur ungeniert von Oliver, Fagin.“

Dies schien die beiden Herren zu beruhigen, denn der Jude nahm mit zufriedenem Lächeln seinen Sitz wieder ein, und Herr Sikes folgte seinem Beispiel.

„Die Nancy ist doch ein schlaues Mädel, wie mir selten eines vorgekommen ist“, dabei klopfte ihr der Jude schmunzelnd auf die Schulter. „Sie hat ganz recht, ich wollte tatsächlich von Oliver reden, ha! Ha! Ha!“

„Wieso?“ fragte Sikes.

„Das ist für Euch der Junge, mein Lieber“, erwiderte Fagin, heiser flüsternd. Sein Gesicht verzog sich zu einem breiten Grinsen.

„Der?“ rief Sikes aus.

„Den kannst du nehmen sagte Nancy. „Wenigstens ich täte es an deiner Stelle. Er ist vielleicht nicht so abgefeimt wie die anderen, aber das ist ja auch nicht nötig. Er hat ja nur eine Tür aufzumachen, darin ist er zuverlässig, Bill.“

„Stimmt das ist er“, sagte Fagin. „Er ist die letzten Wochen in einer guten Schule gewesen, und es wird Zeit, daß er anfängt, sich sein Brot selbst zu verdienen. Außerdem sind die anderen alle zu groß.“

„Ja, die richtige Figur hat er“ meinte Sikes.

„Und er wird auch alles tun, was ihr verlangt, Bill. Er kann nicht anders, vorausgesetzt daß Ihr ihn gut in Zucht haltet.“

„Daran soll es nicht fehlen, verlaß dich drauf“, entgegnete Sikes. „Macht der Bengel dumme Geschichten, wenn wir bei der Arbeit sind, siehst du ihn lebend nicht wieder, Fagin. Teufel auch! Überlege dir das wohl, ehe du ihn mir schickst.“ Er holte ein schweres Brecheisen unter der Bettstelle vor und schwang es drohend.

„Habe bereits älles überlegt“, sagte der Jude entschieden. „Habe ihn scharf beobachtet. Laßt ihn nur einmal klar werden, daß er einer der Unsrigen ist! Wenn sich der Gedanke in seinem Kopf festgesetzt hat, er sei ein Dieb gewesen, so ist er uns verfallen. Für sein ganzes Leben. Ha! Ha! Es hätte gar nicht besser kommen können.“

Er kreuzte seine Arme über der Brust und wand den Kopf und die Schultern, sozusagen, in einen Knäuel zusammen. Er umarmte sich buchstäblich selber vor Freude.

„Uns verfallen?“ sagte Sikes. „Dir, willst du wohl sagen.“

„Vielleicht stimmt’s, mein Lieber“, sagte Fagin schrill lachend. „Mein also, wenn es Euch so besser gefällt.“

„Und warum“, sprach Sikes grollend, „gibst du dir eigentlich soviel Mühe mit dem Gelbschnabel? Du hast doch die Auswahl unter fünfzig Jungen, die jede Nacht im Hyde Park pennen!“

„Die kann ich nicht gebrauchen“, versetzte Fagin etwas verwirrt. „Sie sind nichts wert, denn wenn sie in Schlamassel geraten, so steht ihnen gleich auf dem Gesicht geschrieben, was sie ausgefressen haben, und sie gehen kapores. Mit Oliver, richtig dressiert, kann man mehr erreichen als mit zwanzig andern. Zudem“, fuhr er gefaßter fort, „hat er uns jetzt in der Hand, wenn er wieder entwischen sollte. Er muß deshalb mit uns in dasselbe Boot. Es ist gleichgültig, wie er dareingekommen ist, aber bleiben muß er. Und ist dies nicht besser, als wenn wir den armen Jungen um die Ecke bringen müßten. Abgesehen davon, daß das gefährlich wäre, würden wir auch dabei verlieren.“

„Wann soll es geschehen?“ fragte Nancy. Sie schnitt dadurch einen heftigen Gefühlsausbruch des Herrn Sikes ab, der die geheuchelte Menschenfreundlichkeit Fagins nicht gut anhören konnte.

„Ja, Bill“, fragte ebenfalls der Jude, „wann soll es sein?“

„Ich habe mich mit Toby auf übermorgen nacht verabredet“, versetzte Sikes mürrisch, „wenn ich ihm nicht noch vorher absage.“

„Schön“, sagte Fagin, „es ist doch kein Mondschein?“

„Nein!‘

„Habt Ihr auch alle nötigen Vorkehrungen zur Fortschaffung der Beute getroffen?“ fragte der Jude.

Sikes nickte.

„Und wegen –“

„Ach, es ist alles in Ordnung“, fiel ihm Sikes ins Wört, „kümmere dich nicht um die Einzelheiten. Bringe den Jungen morgen abend her, eine Stunde nach Tagesanbruch geht’s los. Du hast weiter nichts als das Maul und den Schmelztiegel bereit zu halten. Mehr verlangen wir nicht.“

Nach einigen Hin, und Herreden aller drei wurde beschlossen, daß Nancy am nächsten Abend Oliver von Fagin abholen solle. Dieser meinte nämlich, er würde dem Mädchen lieber als irgendeinem anderen folgen, weil sie neulich so energisch für ihn eingetreten war. Man war sich ferner darüber einig, daß der arme Oliver zum Zwecke der beabsichtigten Unternehmung Herrn William Sikes ohne Vorbehalt übergeben werden solle. Dieser könne nach Gutdünken mit dem Jungen verfahren und wäre nicht verantwortlich für irgendeinen möglichen Unfall oder eine notwendige Züchtigung.

Nach Abschluß dieser Verhandlungen fing Sikes an, ein Glas Brandy nach dem anderen hinunterzustürzen und fuchtelte dabei mit dem Brecheisen in beunruhigender Weise herum. Darauf begann er gemeine Lieder zu singen, die er dann und wann mit wilden Flüchen unterbrach. Endlich bestand er in einem Anfall von Zunftstolz darauf, seine Einbrecherwerkzeuge vorzuführen. Er hatte jedoch kaum den Kasten mit ihnen gebracht und aufgemacht, um die Eigentümlichkeiten der verschiedenen Instrumente auseinanderzusetzen und auf die besondere Schönheit ihrer Konstruktion hinzuweisen, als er zu Boden stürzte und auf der Stelle einschlief.

„Gute Nacht, Nancy“, sagte Fagin und vermummte sich wieder.

„Gute Nacht.“

Ihre Blickt trafen sich, und der Jude faßte sie scharf ins Auge. Doch er fand keinen Anlaß zum Argwohn, denn sie benahm sich ruhig und gelassen. Indem er dem wie tot daliegenden Herrn Sikes noch einen leichten Tritt gab, ging er hinaus und die Treppe hinunter.

„So ist es immer“, brummte der Jude auf dem Nachhauseweg vor: sich hin. „Es ist das schlimmste bei diesen Weibern, daß die unbedeutendste Kleinigkeit in ihnen irgendein längst vergessenes Gefühl wieder weckt – gut ist nur, daß es nie lange währt. Ha! Ha! Der Kerl gegen den Jungen! Ich halte einen Beutel Gold auf den Kerl!“

Mit diesen angenehmen Gedanken beschäftigt, verfolgte Fagin seinen Weg durch Dreck und Nässe, bis er seine Höhle wieder erreichte. Der Gannef war noch wach und erwartete ungeduldig seine Rückkehr.

„Ist Oliver zu Bett? Ich muß ihn sprechen!“ waren des Juden erste Worte, als sie die Treppe hinaufstiegen. „Schon lange“, antwortete der Gannef und öffnete eine Tür. „Hier ist er.“

Der Junge schlief fest auf einer harten Matratze auf dem Fußboden. Angst, Kummer und die lange Gefangenschaft hatten ihm die Blässe des Todes aufgedrückt – des Todes, nicht wie er im Sarge erscheint, sondern wie man ihn wahrnimmt. Wenn das Leben aus dem Körper entflohen ist, und die Seele gen Himmel fliegt, ohne daß die schwere Luft der Erde schon Zeit hatte, den Staub umzuwandeln, den sie heiligte.

„Jetzt nicht“, murmelte der Jude und wandte sich still weg. „Morgen, morgen.“

In dem Oliver Herrn William Sikes übergeben wird

Als Oliver am Morgen erwachte, war er nicht wenig überrascht, statt seiner alten ein Paar neue Schuhe mit starken, dicken Sohlen neben seinem Lager zu finden. Anfangs freute er sich über diese Entdeckung, denn er hoffte, sie wäre die Vorläuferin seiner Erlösung. Er gab diesen Gedanken aber bald auf, als ihm der Jude beim Frühstück mitteilte, daß er am Abend nach Bill Sikes Wohnung gebracht werden solle.

„Muß – muß ich – dort bleiben?“ fragte Oliver ängstlich.

„Nein, Liebling, du sollst nicht dort bleiben“, versetzte Fagin. „Wir möchten dich nicht gern verlieren. Sei unbesorgt, Oliver, du kommst wieder zu uns zurück. Ha! Ha! Ha! So grausam werden wir nicht sein, dich wegzuschicken. O, nein!“

Der alte Mann, der sich über das Kaminfeuer gebückt hatte und eine Brotschnitte röstete, blickte sich bei diesen ironischen Worten um und kicherte, um zu zeigen, er wisse recht wohl, wie gern Oliver weglaufen würde.

„Ich glaube, du möchtest gern wissen“, fuhr Fagin fort, ihn dabei scharf anblickend, „was du bei Bill sollst, nicht wahr?“

Oliver errötete unwillkürlich bei diesen Worten, denn er glaubte, der Alte habe seine Gedanken gelesen. Er erwiderte jedoch dreist:

„Ja, ich möchte es wohl wissen.“

„Nun, was denkst du wohl?“ fragte Fagin ausweichend.

„Weiß es wirklich nicht“, versetzte Oliver.

„Na. dann warte, bis es dir Bill sagen wird.“ Er wandte sich damit mißvergnügt ab, denn er ärgerte sich, daß der Junge keine größere Neugierde verriet.Nach einer Weile sagte der Alte. „Du kannst ein Licht anzünden“ und legte eine Kerze auf den Tisch. „Da ist ein Buch, in dem du lesen magst, bis man dich abholt. Gute Nacht.“

„Gute Nacht“, sagte Oliver leise.

Der Jude ging auf die Tür zu. Ehe er sie öffnete, sah er sich nach dem Jungen um und rief ihn mit Namen an.

Oliver sah auf; der Jude zeigte auf die Kerze und bedeutete ihm, sie anzuzünden. Der Junge gehorchte und bemerkte, als er den Leuchter auf den Tisch stellte, daß Fagin ihn mit düsteren Blicken betrachtete.

„Nimm dich in acht, Oliver, hüt‘ dich!“ sagte der Alte und hob warnend die rechte Hand hoch. „Er ist ein roher Mensch und scheut kein Blutvergießen, wenn er in Wut ist. Was auch passiert, schweige und tue, was er dir, befiehlt. Denke daran!“ Er sagte die letzten Sätze mit starker Betonung, und sein finsterer Gesichtsausdruck wich einem gräßlichen Grinsen; dann nickte er mit dem Kopf und verließ das Zimmer.

Als Fagin verschwunden war, stützte Oliver seinen Kopf auf die Hand und dachte mit Herzklopfen den eben vernommenen Worten nach. Je mehr er über des Juden Warnung nachsann, desto weniger vermochte er sich den Sinn derselben zu erklären. Er konnte sich nicht denken, daß man Böses gegen ihn im Schilde führe, wenn man ihn zu Sikes schickte. Das hätte man ebenso bequem gehabt, wenn er bei Fagin bliebe. Nach langem Grübeln kam er zu dem Schlusse, daß er dazu bestimmt sei, Sikes so lange als Aufwärter zu dienen, bis ein anderer, besser geeigneter Junge ihn ablösen würde. Er blieb einige Minuten in Gedanken versunken und putzte dann seufzend das Licht. Darauf nahm er das Buch zur Hand, das ihm der Jude gegeben hatte, und fing zu lesen an.

Er blätterte anfangs rein mechanisch in dem Buche, doch wurde bald seine Aufmerksamkeit durch eine Stelle gefesselt, die ihn veranlaßte, eifriger im Lesen fortzufahren. Es waren Schilderungen des Lebens und der Taten großer Verbrecher. Die abgegriffenen, schmutzigen Seiten des Buches ließen darauf schließen, daß es viel studiert worden war. Er las von furchtbaren, das Blut erstarrenden Verbrechen, von geheimen Mordtaten, die an einsamen Wegen begangen wurden, von Leichen, die man in tiefen Abgründen und Brunnen vor den Augen der Menschen verbergen wollte, die aber nicht in ihren Gräbern bleiben konnten, so tief sie auch sein mochten. Die vielmehr nach Jahren wieder zum Vorschein kamen und durch ihren Anblick ihre Mörder so entsetzten, daß sie vor Grausen ihre Schuld bekannten und flehten, man möge sie hinrichten und so die Qual ihres Gewissens endigen. Die entsetzlichen Schilderungen waren so natürlich und lebendig, daß die schmutzigen Blätter sich vom Blute zu röten schienen.

In wahnsinniger Angst klappte der Junge das- Buch zu und warf es in eine Ecke. Dann fiel er auf die Knie und betete zu Gott, er möge ihn vor solchen Taten bewahren und ihn lieber gleich sterben lassen, als ihn für solche entsetzliche Verbrechen aufbewahren. Dann wurde er allmählich ruhiger und betete mit leiser, gebrochener Stimme um Errettung aus den ihn umgebenden Gefahren.

Er war mit seinem Gebet zu Ende, aber noch hielt er das Gesicht mit den Händen bedeckt, als ihn ein Rascheln weckte.

Er fuhr auf, und als er an der Tür eine Gestalt erblickte, rief er:

„Was ist das? Wer ist da ?“

„Ich – ich bin es nur!“ antwortete eine bebende Stimme.

Oliver hob das Licht in die Höhe und erkannte Nancy.

„Stell das Licht wieder hin“, sagte das Mädchen und wandte das Gesicht zur Seite; „es blendet meine Augen.“

Der Junge sah, daß sie sehr blaß war, mitleidig fragte er daher, ob sie krank wäre. Doch ohne zu antworten, warf sie sich auf einen Stuhl, so daß sie Oliver den Rücken kehrte, und rang die Hände.

„Gott verzeihe es mir“. rief sie endlich – „ich habe nie an alles dies gedacht.“

„Ist etwas vorgefallen?“ fragte Oliver. Kann ich Ihnen helfen? Wenn ich kann, will ich’s gerne tun.“

Sie wiegte sich hin und her, faßte sich an die Kehle und schnappte nach Luft.

„Nancy!“,schrie Oliver, „was ist Ihnen?“

Des Mädchens Arme und Beine zuckten wie im Krampf, sie hüllte sich fröstelnd in ihren Schal.

Oliver fachte das Feuer im Kamin zu größerer Glut an, sie rückte ihren Stuhl an den Kamin und saß eine Weile stumm da. Endlich hob sie den Kopf und blickte umher.

„Ich weiß nicht, wie mir zuweilen wird“, sagte Nancy und tat so, als ob sie mit dem Ordnen ihres Kleides beschäftigt sei. „Ich glaube, die dumpfe Luft in dieser Stube ist schuld daran. Nun, Nolly, bist du bereit?“

„Soll ich mit Ihnen gehen?“

„Ja, ich komme. von Bill“, antwortete Nancy.

„Ich will dich zu ihm bringen.“

„Wozu?“ fragte der Junge zurückweichend.

„Wozu?“ wiederholte das Mädchen, indem sie die Augen emporhob, aber schnell wegsah, als sie Olivers Blick begegnete. „Oh, zu nichts Bösem,“

„Das glaube ich nicht“, sagte Oliver, der sie aufmerkosam beobachtet hatte.

„Das kannst du halten, wie du willst“, erwiderte sie mit gezwungenem Lachen. „Also zu nichts Gutem!“

Oliver hatte erkannt, daß das Mädchen zuweilen bessere Regungen hatte und dachte einen Augenblick daran, ihr Mitleid anzuflehen. Dann fiel ihm jedoch ein, daß es kaum elf Uhr sei und mithin wohl noch Leute auf den Straßen sein würden. Von diesen würde der eine oder der andere sicher seiner Erzählung Glauben schenken und ihm helfen. Als ihm dies durch den Kopf flog, ging er auf Nancy zu und sagte hastig, er sei bereit.

Dieser war nicht entgangen, was in seinem Innern vorging und sah ihn, während er sprach, scharf an.

„Pst“, sagte sie, als sie sich über ihn beugte und, vorsichtig um sich blickend, auf die Tür zeigte. „Du kannst dir nicht helfen. Ich habe alles Mögliche deinetwegen versucht, aber vergebens. Du bist von allen Seiten umstellt, und wenn du auch vielleicht einmal loskommst, jetzt ist noch nicht der richtige Augenblick dafür gekommen!“

Betroffen durch die Entschiedenheit in ihrem Benehmen, blickte ihr Oliver verwundert ins Gesicht. Sie schien es aufrichtig zu meinen, sie war blaß und aufgeregt und zitterte stark.

„Ich habe dich schon einmal vor Mißhandlungen geschützt und werde es auch künftig tun, – ich tue es sogar jetzt“, fuhr das Mädchen lauter fort, „denn wenn jemand anders dich geholt hätte, wäre man weit gröber mit dir umgegangen. Ich habe mich für dich verbürgt, daß du ruhig und artig sein würdest. Wenn du mir Schande machst, so wirst du mir und dir schaden, vielleicht an meinem Tode schuld sein. Sieh her! das alles habe ich schon für dich erduldet! So wahr, als Gott sieht, daß ich es dir zeige.“ Sie wies ihm einige blaue Flecken an Hals und Armen vor und fuhr dann hastig fort: „Vergiß das nicht und laß mich deinetwegen nicht noch mehr ausstehen. Wenn ich dir helfen könnte, würde ich es gern tun, aber es steht nicht in meiner Macht. Sie wollen dir kein Leid zufügen, und wozu man dich auch immer zwingen mag – dich trifft keine Schuld. Gib mir die Hand. Schnell, deine Hand!“

Sie ergriff Olivers Hand, die er ihr unwillkürlich reichte, blies das Licht aus und zog ihn die Treppe hinunter. Die Tür wurde von jemand, den man in der Dunkelheit nicht erkennen konnte, geöffnet und, sobald sie auf der Straße waren, ebenso schnell wieder geschlossen. Vor dem Hause hielt eine Droschke, sie zog ihn hinein und schloß die Fenster. Der Kutscher bedurfte keiner Weisung, sondern fuhr sofort in scharfem Trabe fort.

Nancy hielt Oliver noch immer fest an der Hand und flüsterte ihm weiterhin Warnungen und Versprechungen ins Ohr. Alles war so rasch vor sich gegangen, daß er sich kaum besinnen konnte, wo er wäre und wie er hierher käme. Da hielt auch schon die Droschke vor dem Hause, in dem Sikes wohnte.

Oliver warf einen schnellen Blick auf die leere Straße und ein Ruf um Hilfe schwebte ihm auf den Lippen. Nancys bittende Stimme, sie zu schonen, tönte ihm im Ohr. Er zögerte, und damit war die günstige Gelegenheit verpaßt; er befand sich plötzlich im Hause, das sofort verriegelt wurde.

„Wir sind da“, sagte das Mädchen, zum erstenmal seine Hand loslassend. – „Bill!“

„Hallo“, antwortete dieser, der mit einem Licht oben an der Treppe erschien. „Ihr kommt zur rechten Zeit! Nur herein!“

Das war für einen Menschen von Sikes‘ Temperament eine ungewöhnlich herzliche Begrüßung, und Nancy war darüber augenscheinlich sehr vergnügt.

„Tom hat den Hund mitgenommen“, bemerkte Sikes, während er leuchtete, „er wäre uns im Wege gewesen.“

„Das ist gut“, erwiderte Nancy.

„Du hast also den Bengel“, sagte Bill, die Tür schließend, nachdem sie ins Zimmer getreten waren.

„Ja, hier ist er“, antwortete Nancy.

„Ging er ruhig mit?“ fragte Sikes.

„Wie ein Lamm“, entgegnete das Mädchen.

„Freut mich zu hören“, sagte Sikes, Oliler drohend anblickend, „es wäre ihm sonst auch schlecht ergangen. Komm her, Junge, ich muß dir eine Vorlesung halten, je eher, desto besser!“

Mit diesen Worten riß Sikes seinem neuen Zögling die Mütze vom Kopfe und warf sie in eine Ecke. Dann setzte er sich an den Tisch und rief Oliver zu sich heran.

„Weißt du, was das ist?“ fragte Sikes, eine Pistole ergreifend, die auf dem Tische lag.

Oliver bejahte.

„Nun denn, guck her! Dies ist Pulver, dies eine Kugel und dies ein Pfropfen.“

Oliver flüsterte, daß er das alles begreife.

Nun lud Herr Sikes die Pistole mit großer Umständlichkeit und sagte dann:

„So, jetzt ist sie geladen.“

„Ja, ich sehe es“, sprach Oliver, am ganzen Leibe zitternd.

„Nun“, fuhr der Räuber fort und setzte den Lauf der Pistole an Olivers Schläfe. Dieser konnte einen Angstschrei nicht unterdrücken. „Wenn du auf der Straße das Maul auftust, ohne gefragt zu sein, kriegst du die Kugel in den Hirnkasten. Hast du dir also vorgenommen, ohne Erlaubnis zu reden, so sprich erst vorher dein letztes Gebet. Soviel ich weiß, wird sich keiner viel nach dir erkundigen, wenn du in dieser Weise erledigt bist. Wenn ich mir die Mühe machte, dir dies auseinanderzusetzen, so geschah es nur zu deinem eigenen Besten. Hast du mich verstanden?“

„Du willst mit kurzen Worten sagen, Bill“, nahm jetzt Nancy das Wort und sah dabei Oliver bedeutungsvoll an, „daß du ihm durch eine Kugel in den Kopf das Ausplaudern verleiden willst, falls er dir einen schlimmen Streich spielt. Selbst auf die Gefahr hin, dafür gehängt zu werden. Eine Gefahr, die du ja täglich wegen vieler anderer Dinge in deinem Berufsleben auf dich nimmst.‘

„Ganz recht“, bemerkte Sikes beifällig. „Die Weiber können doch immer alles in die kürzesten Worte fassen, ausgenommen, wenn sie zanken, denn da können sie kein Ende finden. Und nun, da er Bescheid weiß, kannst du uns etwas zu essen geben. Nachher wollen wir noch ein bißchen pennen, ehe wir aufbrechen.“

Dieser Aufforderung nachkommend, deckte Nancy schnell den Tisch und holte eine Schüssel Hammelfleisch und einen Krug Bier aus der Küche. Als das Abendessen beendet war, goß Herr Sikes noch ein paar Gläser Brandy hinter die Binde und befahl Nancy, ihn Punkt fünf Uhr zu wecken. Dann warf er sich auf sein Lager. Oliver legte sich, dem Befehle seines neuen Herrn gehorchend, ohne sich auszuziehen, auf eine Matratze neben Sikes‘ Bett. Nancy blieb vor dem Kamin sitzend, wach, um die beiden zur bestimmten Zeit zu wecken.

Oliver glaubte, das Mädchen würde ihm vielleicht noch einige Ratschläge zuflüstern, sie rührte sich aber nicht. So schlief er endlich ein.

Als er erwachte, stand eine Teekanne auf dem Tisch, und Nancy war eifrig mit der Bereitung des Frühstücks beschäftigt. Sikes war dabei, verschiedene Sachen in die Taschen seines über einer Stuhllehnie hängenden Mantels zu stecken. Der Tag war noch nicht angebrochen; die Kerze brannte noch; draußen war dunkle Nacht. Ein starker Regen schlug gegen die Fensterscheiben., und der Himmel sah schwarz und wolkig.aus.

„Nun“, brummte Sikes, als Oliver aufsprang, „bereits halb sechs! spute dich oder du kriegst kein Frühstück mehr. Es ist schon spät.“

Nachdem der Junge ein wenig gefrühstückt hatte, band ihm Nancy ein Halstuch um, und Sikes hing ihm einen großen, groben Mantelkragen über die Schultern. Sikes ergiff ihn nun bei der Hand und zeigte ihm mit drohender Gebärde, daß die Pistole in einer Seitentasche seines Mantels stecke. Nachdem er sich kurz von Nancy verabschiedet hatte, zog er Oliver mit sich fort.

Dieser wandte sich an der Tür einen Augenblick um, in der Hoffnung, von dem Mädchen noch einen Blick zu erhaschen, doch Nancy hatte ihren Platz vor dem Kamin wieder eingenommen und rührte sich nicht.

Unterwegs

Der Morgen war unfreundlich, als sie auf die Straße traten. Es regnete in Strömen und düstere Wolken bedeckten den Himmel. Auf den Straßen standen große Pfützen, und die Rinnsteine flossen über. Alles schien in diesem Stadtteil noch in den Federn zu sein, denn die Fensterläden waren überall fest geschlossen und die Straßen öde und leer.

Als sie in die Bethnal Greenstraße gelangten, schien der Tag erst wirklich anzubrechen. Die Wirtshäuser, in denen die Gaslampen noch brannten, waren bereits geöffnet. Allmählich machten auch die anderen Läden auf, und hin und wieder begegnete man Menschen. Je näher sie der City kamen, desto mehr nahm der Lärm und das Geschäftsgewühl zu. Es war nun so hell, wie es an einem solchen trüben Tage sein konnte. Sie kamen nach länger Wanderung nach Holborn.

„Junge“, sagte Sikes mit einem Blick auf die Uhr der Andreaskirche, „beinahe sieben Uhr. Du mußt schneller ausschreiten, Faulpelz.“ Er riß ihn mit sich fort. Auf der Straße nach Kensington holten sie einen leeren Karren ein, und Sikes fragte den Kutscher mit so viel Höflichkeit, als ihm zu Gebote stand, ob er sie in Richtung Isleworth mitnehmen wolle. Der Kärrner bejahte, und sie fuhren bis Brentford mit, wo Sikes mit Oliver abstieg. Sie schlugen einen Seitenweg ein und erreichten Hampton. Dort kehrten sie in einer kleinen Gastwirtschaft ein und ließen sich kaltes Fleisch geben. Als sie damit fertig waren, zündete sich Sikes eine Pfeife an, so daß Oliver glaubte, die Reise ginge nicht weiter. Da er von dem vielen Laufen sehr müde war, verfiel er in einen tiefen Schlaf.

Es war dunkel, als er durch Sikes wieder wach gerüttelt wurde. Sie machten sich nun auf den Weg und kamen nach Shepperton. Da bemerkte Oliver, daß gerade unter ihnen Wasser rauschte und sie bei einer Brücke angelangt waren. Sikes bog links zum Ufer hinab.

„Ach, das Wasser!“ dachte Oliver, vor Furcht fast vergehend. „Er hat mich an diesen einsamen Platz gebracht, um mich umzubringen!“

Er war gerade im Begriff, sich niederzuwerfen und verzweifelt um sein Leben zu kämpfen, als er sah, daß sie vor einem einsamen, verfallenen Hause standen. Es war dunkel und scheinbar unbewohnt.

Sikes, der dauernd Oliver an der Hand hielt, näherte sich leise der niedrigen Tür und drückte auf die Klinke. Diese wich dem Drucke, und sie traten ein.

Der Einbruch

„Hallo!“ rief eine laute, aber heisere Stimme, als sie den Fuß in den Hausflur setzten.

„Mach nicht solchen Radau“, sagte Sikes, die Tür verriegelnd. „Bring eine Funzel, Toby!“

„Aha, mein Kumpel“, sagte dieselbe Stimme. „Eine Kerze, Barney, eine Kerze! Führe den Herrn hinein, Barney. Wache aber vorher auf, wenn’s dir recht ist!“

Der Sprecher schien einen Stiefelknecht oder einen ähnlichen harten Gegenstand nach der angeredeten Person zu werfen, um ihn aus dem Schlafe zu wecken, denn man hörte etwas Schweres zu Boden fallen und kurz darauf ein undeutliches Brummen, wie das eines aus dem Schlaf gestörten Menschen.

„Hörst du nicht?“ rief dieselbe Stimme, „Bill Sikes ist da, und du pennst, als ob du Opium genommen hättest oder noch Stärkeres! Nun, wird’s bald? – oder muß ich den Feuerhaken gebrauchen, um dich ganz munter zumachen?“

Ein Paar bepantoffelte Füße schlürften jetzt hastig über den Fußboden, und aus einer Tür zur Rechten tauchte erst ein schwaches Licht und dann die Gestalt desselben Individuums auf, das wir von dem Wirtshaus zu Saffron-Hill her kennen.

„Ah, Herr Sikes“, rief Barney mit wahrer oder erheuchelter Freude. „Willkommen, Herr!“

„Marsch“, sagte Sikes jetzt zu Oliver. „Vorwärts, oder ich trete dir die Hacken ab.“

Mit einem Fluch über die verwünschte Langsamkeit des Jungen.stieß er Oliver in ein niedriges, dunkles Zimmer. Dort lag auf einem furchtbar schmutzigen Bett ein Mann lang ausgestreckt und rauchte aus einer langen Tonpfeife. Herr Crackit, denn dieser war es, besaß nicht viel Haare. Weder auf dem Kopfe, noch im Gesicht; die wenigen aber, die er hatte, waren von rötlicher Farbe und in Locken gedreht. Er war etwas über Mittelgröße und augenscheinlich schwach auf den Beinen.

„Bill, mein Junge“, sagte er, den Kopf nach der Seite drehend, „freue mich, dich zu sehen. Ich fürchtete schon, du hättest die Sache aufgegeben, dann hätte ich die Geschichte auf eigene Faust unternommen. Nanu, wer ist denn das?“

„Das ist der Junge!“ versetzte Sikes und schob einen Stuhl vor den Kamin.

„Einer von Figins Buben?“ fragte Barney mit höhnischem Grinsen.

„Ach so – von Fagin“, sagte Toby und musterte Oliver aufmerksam. „Ein Prachtjunge für die Taschen der alten Weiber in der Kirche. Sein Ponim ist so gut wie ein Kapital.“

„Ach, laß das“, sagte Sikes ungeduldig und flüsterte seinem Freunde einige Worte ins Ohr. Herr Crackit brach darauf in lautes Lachen aus und beehrte Oliver mit einem langen Blick der Verwunderung.

„Nun“, meinte Sikes, indem er Platz nahm, „wenn ihr für uns etwas zu essen und zu trinken habt, her damit. Es wird uns Mut machen, mir wenigstens. Setz dich ans Feuer, Junge, und ruhe dich aus. Du mußt heute nacht mit, weit ist es zwar nicht.“

Oliver sah ihn schüchtern und verwundert an, rückte einen Schemel an den Kamin und verbarg seinen schmerzenden Kopf in den Händen. Er wußte kaum, wo er war und was um ihn vorging.

„Da“, sagte Toby, als der Judenjüngling etwas Essen und eine Brandyflasche auf den Tisch stellte. „Auf glückliches Gelingen!“

Er stand dem Trinkspruch zu Ehren auf, stellte die ausgerauchte Pfeife behutsam in eine Ecke, trat an den Tisch und füllte ein Weinglas mit Brandy. Er hob es hoch und trank es mit einem Zuge aus. Herr Sikes tat das gleiche.

„Einen Tropfen für den Jungen“, fuhr Toby fort und goß das Glas halb voll. „Hinunter damit, du Unschuld vom Lande!“

„Ich weiß nicht“, stotterte Oliver mit kläglichem Gesicht, „habe noch nie –“

„Hinunter damit!“ wiederholte Toby. „Denkst du vielleicht, ich weiß nicht, was dir gut ist? Sag du ihm, daß er trinkt, Bill!“

„Es wäre gut, wenn er’s täte“, sprach Sikes drohend.

„Hol mich der Teufel, man hat mit dem Jungen mehr Mühe als mit einer ganzen Familie Gannoven. Sauf, du Teufelsbraten!“

Eingeschüchtert durch die drohenden Gebärden der beiden, schluckte Oliver den Inhalt hastig hinunter und mußte gleich darauf furchtbar husten. Darob brachen Toby und Barney in ein lautes Gelächter aus, und selbst der mürrische Herr Sikes verzog den Mund zu einem Lächeln. . Als Sikes seinen Hunger gestillt hatte, denn Oliver konnte weiter nichts als eine Brotrinde essen, die man ihm aufzwang, legten sich die beiden Männer zu einem kurzen Schlafe nieder. Oliver blieb auf seinem Schemel beim Kamin sitzen, während sich Barney, in eine Decke gehüllt, vor dem Kamin auf den Boden ausstreckte.

Um halb zwei Uhr sprang Toby Crackit auf und sagte, es wäre Zeit.

Im Nu waren alle auf den Beinen. Sikes und sein Kumpel vermummten Hals und Kinn mit schwarzen Tüchern und zogen ihre weiten Mäntel an. Barney öffnete einen Schrank und entnahm ihm verschiedene Gegenstände, die er eilig in ihre Taschen verpackte. Nachdem Sikes sich überzeugt hatte, daß von ihren Einbrecherwerkzeugen nichts fehlte, nahm er und Toby einen tüchtigen Knüttel in die Hand und hängte Oliver den Mantelkragen wieder um.

„Nun los!“ sagte Sikes und streckte seine Hand aus.

Oliver reichte ihm mechanisch die seinige.

„Nimm ihn bei der anderen Hand, Toby“, fuhr Sikes fort. „Barney, sieh draußen nach!“

Dieser ging hinaus und kam mit der Nachricht zurück, daß alles ruhig sei. Die beiden Einbrecher verließen nun mit Oliver in ihrer Mitte das Haus. Es war pechschwarze Nacht. Sie gingen über die Brücke und waren bald in Chertsey.

„Tippeln wir schon durch die Stadt“, flüsterte Sikes. „In dieser Nacht wird niemand unterwegs sein, der uns beobachten könnte.“

Toby war einverstanden, und so schritten sie hastig durch die Hauptstraße der kleinen Stadt, die zu so später Stunde ganz verödet war. Um zwei Uhr hatten sie das Städchen im Rücken. Sie gingen nun schneller und bogen in einen Weg ein, der nach links führte. Nach zehn Minuten machten sie vor einer Villa halt, die von einer Mauer umgeben war und welche Toby sofort erklomm.

„Jetzt den Jungen!“ sagte Toby. „Reiche ihn mir herauf.“

Ehe Oliver sich’s versah, hatte ihn Sikes hochgehoben und im nächsten Augenblicke lag er neben Toby auf der anderen Seite der Mauer im Grase. Sikes folgte gleich darauf, und dann schlichen sie vorsichtig dem Hause zu. Jetzt wurde es dem armen Jungen, der vor Angst und Schrecken fast wahnsinnig war, zum erstenmal klar, daß die beiden Halunken auf Raub und Einbruch, wenn nicht gar auf Mord ausgingen. Er schlug dit Hände zusammen und seinen Lippen entfloh unwillkürlich ein Ausruf des Entsetzens. Seine Augen umflorten sich, kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn, er wankte und sank in die Knie.

„Steh auf!« knirschte Sikes wutbebend. „Steh auf, oder ich jage dir eine Kugel durch den Kopf.“ Damit zog er seine Pistole aus der Tasche.

„Ach, um Gotteswillen, lassen Sie mich doch gehen“, schrie Oliver, „lassen Sie mich doch Iaufen. Ich will nie wieder nach London kommen, niemals! Ach, seien Sie doch barmherzig und zwingen Sie mich nicht zum Stehlen! Haben Sie doch Erbarmen!“

Sikes.stieß einen fürchterlichen Fluch aus und spannte den Hahn der Pistole. Toby schlug sie ihm aber aus der Hand und hielt Oliver den Mund zu. Dann zog er ihn fort nach dem Hause hin. Er sagte:

„Pst! Zum Bitten ist jetzt keine Zeit. Wenn du noch einmal die Schnauze aufreißt, kriegst du eins auf den Schädel. Das ist ebenso gut und macht keinen Lärm. – Komm, Bill, brich den Fensterladen auf. Ich wette, daß der Junge jetzt gehorcht. Hab‘ schon ältere und erfahrenere Burschen gesehen, die in solcher Lage mit einemmal die Hosen voll hatten.“

Sikes rief schreckliche Verwünschungen auf Fagins Haupt herab, daß er ihm zu einem solchen Unternehmen einen Jungen wie Oliver geschickt hatte. Er setzte geräuschlos das Brecheisen an, und mit Tobys Beistand war in kurzer Zeit der Fensterladen erbrochen.

Es war ein kleines Gitterfenster an der Hinterseite des Hauses, etwa fünf Fuß über der Erde. Die Öffnung war zwar klein, aber doch groß genug, um einen Jungen von Olivers Größe durchzulassen. Dank Sikes‘ Geschicklichkeit war das Gitter schnell ausgebrochen und kein Hindernis mehr vorhanden.

„Nun paß auf, kleiner Strolch“, flüsterte Sikes, indem er eine Blendlaterne aus der Tasche zog, „ich steck‘ dich jetzt durchs Fenster. Dann gehst du mit der Laterne die Treppe herauf und über den Flur zur Haustür. Die machst du auf und läßt uns herein!“

„Oben an der Tür ist ein Riegel vor, an den du wahrscheinlich nicht herankannst“, fiel Toby ein. „Du mußt daher auf einen Stuhl klettern, es sind ihrer drei im Flur.“

Er stellte sich nun unter das Fenster, den Kopf gegen die Wand gestemmt. Die Hände hatte er auf die Knie gestützt, so daß man über seinen Rücken wegklettern konnte.

Dies tat Sikes sofort und steckte Oliver, mit den Füßen voran, sachte durchs Fenster.

„Nimm die Laterne“, flüsterte Bill. „Siehst du die Treppe da vor dir?“

Oliver, mehr tot als lebendig, hauchte „Ja!“ Sikes deutete mit dem Pistolenlaufe nach der Haustür und sagte, daß er ihn für den Fall des geringsten Zögerns sofort erschießen würde. Seine Kugel träfe sicher.

„In einer Minute kannst du es gemacht haben“, flüsterte Sikes, „Horch!“

„Was ist los?“ fragte Toby.

Sie lauschten gespannt.

„Nichts!“ sagte Sikes. „Nun vorwärts, Oliver!“

Der Junge hatte sich inzwischen gesammelt und war fest entschlossen, die Treppe hinaufzurennen und Lärm zu schlagen, selbst wenn es ihm das Leben gekostet hätte. Von diesem Gedanken erfüllt, schlich er leise vorwärts.

„Komm zurück!“ schrie Sikes plötzlich laut. „Zurück, zurück!“

Erschreckt durch diese plötzliche Unterbrechung der Totenstille und einen darauffolgenden lauten Schrei, ließ Oliver die Laterne fallen und wußte nicht, ob er weitergehen oder fliehen solle.

Das Geschrei wiederholte sich – ein Licht erschien – die Gestalten von zwei bestürzten, halb angekleideten Männern oben auf der Treppe schwammen vor seinen Augen – ein Blitz -ein Knall – Rauch – ein Krachen, er wußte nicht wo –, dann taumelte er zurück.

Sikes war auf einen Augenblick verschwunden, aber nur für einen Augenblick, denn noch ehe der Rauch verzogen war, hatte er Oliver am Kragen. Er feuerte seine Pistole auf die sich zurückziehenden Männer ab und zog ihn durchs Fenster.

„Halte dich fester an mich“, sagte Sikes. „Toby, ein Halstuch – schnell. Sie haben ihn getroffen. Donnerwetter, wie der Junge blutet!“

Oliver hörte noch verschwommen lautes Geklingel, vermischt mit dem Knall von Gewehrschüssen und dem Geschrei von Menschen. Dann fühlte er sich rasch fortgetragen. Nach und nach erstarb der Lärm in der Ferne, eine tödliche Kälte durchschauerte ihn – er war bewußtlos geworden.

Welches das Wesentliche einer anmutigen Unterhaltung zwischen Herrn Bumble und einer Dame enthält und zugleich offenbart, daß auch ein Gemeindediener für manche Sachen empfänglich sein kann

Es war ein bitterkalter Abend, und der Schnee lag fußhoch. Es war ein Abend, an dem jeder, der ein Heim hat, sich dicht an das flackernde Kaminfeuer drängt und Gott dankt, daß er zu Hause ist – eine Nacht, wo die Unglücklichen ohne Heim und Obdach nichts Besseres tun können, als sich hinzulegen und zu sterben.

So sah es draußen aus, als Frau Corney, die Hausmutter der Armenanstalt, wo Oliver Twist das Licht der Welt erblickte, sich in ihrem kleinen Zimmer an den Kamin setzte., in dem ein lustiges Feuer prasselte, und wohlgefällig den kleinen runden Tisch überschaute. Sie war nämlich im Begriff, sich an einer Tasse Tee zu letzen; und als sie ihren Blick wieder dem Feuer zuwandte, wo der kleinste aller nur erdenklichen Teekessel sein lustiges Lied sang, wuchs ihre innere Zufriedenheit in einem solchen Maße, daß sie vergnügt lächelte.

„Nun“, sprach die würdige Dame vor sich hin, indem sie ihren Ellbogen auf den Tisch stützte und sinnend ins Feuer sah, „gewiß haben wir alle große Ursache, Gott dankbar zu sein, wollten wir es nur einsehen.“

Frau Corney schüttelte traurig den Kopf, als ob sie die Geistesblindheit der Armen beklage, die es nicht erkannten, fuhr dann mit einem silbernen Löffel (Privateigentum!) in eine zinnerne Teebüchse und begann den Tee zu bereiten.

Was für geringfügige Anlässe nicht die Ruhe schwacher Gemüter stören können! Der schwarze kleine Teetopf lief über, während Frau Corney in diesen moralischen Betrachtungen versunken war, und das Wasser verbrühte ein wenig ihre Hand.

„Verwünschter Topf“, sagte sie und setzte ihn hastig nieder, „das dumme Ding hält nur ein paar Tassen. Ach, du lieber Himmel!“

Der kleine Teetopf und die einzelne Tasse hatten in ihrer Seele traurige Erinnerungen an Herrn Corney geweckt, der noch nicht länger als fünfundzwanzig Jahre tot war. Eine tiefe Rührung bemächtigte sich ihrer.

„Ich bekomme nie wieder einen solchen Mann“, sagte sie mißmutig. „Nie wieder einen wie er.“

Sie kostete gerade die erste Tasse Tee, als leise an die Tür geklopft wurde.

„Nur herein!“ rief Frau Corey ärgerlich. Wahrscheinlich will wieder eines von den alten Weibern sterben, denn die sterben immer, wenn ich beim Essen bin. Bleibt nicht in der Tür stehen, es kommt kalt herein. Was ist denn los?“

„Nichts, gar nichts“, antwortete eine männliche Stimme.

„Ach, du meine Güte“, rief die Matrone schon freundlicher, „sind Sie’s, Herr Bumble?“

„Zu Diensten“, erwiderte dieser und trat, seinen Dreispitz in der einen und ein Bündel in der andern Hand, ins Zimmer. „Soll ich die Tür schließen?“

Die Dame zögerte verschämt mit der Antwort. Es hätte als unschicklich angesehen werden können, wenn sie mit Herrn Bumble bei geschlossener Tür geplaudert hätte. Dieser benutzte das Zaudern und machte die Türe zu, ohne weitere Erlaubnis abzuwarten.

„Schlechtes Wetter, Herr Bumble“, sagte die Matrone.

„In der Tat, sehr schlecht“, erwiderte dieser, „besonders für die Gemeinde! Wir haben heute nachmittag zwanzig Brote und anderthalb Käse verteilt, Frau Corney, und doch sind die Armen nicht zufrieden.“

„Wann wären sie es je“, entgegnete die Dame, behaglich ihren Tee schlürfend.

„Wann? Sie haben recht. Da ist ein Mann, der in Anbetracht seiner großen Familie ein Brot und ein ganzes Pfund Käse erhielt. Glauben Sie wohl, daß er sich dafür bedankt hat? Jawohl, um Kohlen hat er noch gebeten, wenn es auch nur ein Taschentuch voll wäre, sagte er. Kohlen! Was will er mit Kohlen? Wahrscheinlich seinen Käse damit rösten und dann wiederkommen und mehr erbetteln! So machen’s diese Leute, Frau Corney.“

Die hielt mit ihrem Unwillen nicht zurück.

»Vorgestern kam ein Mann“, fuhr Bumble fort, „sie waren ja verheiratet, also kann ich’s sagen – der kaum ein Hemd auf dem Leibe hatte, (Frau Corney schlug verschämt die Augen nieder) an die Tür unseres Direktors, als dieser gerade eine Mittagsgesellschaft hatte. Er bat um Unterstützung. Der Direktor ließ ihm ein Pfund Kartoffeln und ein halbes Pfund Hafermehl geben. ‚Mein Gott‘ sagte der Undankbare, ‚was soll ich damit. Sie hätten mir ebensogut ein Brille geben können!‘ ‚Schön‘,versetzte unser Direktor und nahm die Gabe wieder an sich, ‚dann .werdet Ihr gar nichts kriegen‘ – ‚So werde ich auf offener Straße sterben‘, erwiderte der Landstreicher – ‚Das werdet Ihe Euch noch überlegen‘, meinte der Direktor.“

„Ha! Ha! Das war gut. Das sieht Herrn Grannett ähnlich! Und was geschah weiter?“

„Was geschah?“ wiederholte Bumble. „Er ging weg und starb tatsächlich auf der Straße. Was sagen Sie zu solchem Eigensinn?“

„Unglaublich! Aber halten Sie eine Unterstützung außer dem Hause nicht für direkt zwecklos? Sie sind ein Mann von Erfahrung und müssen das wissen.“

„Nein, Frau Corney“, sagte der Gemeindediener überlegen, „Unterstützung außer dem Hause richtig angewandt – wohlgemerkt, richtig angewandt –, ist für die Gemeinde das Beste. Man befolgt dabei den Grundsatz, den Armen gerade das zu geben, was sie nicht brauchen. Es wird ihnen dann über, wiederzukommen. – Doch das sind Amtsgeheimnisse, so etwas dürfen wir nur unter uns Gemeindebeamten laut werden lassen!“

Er fing jetzt an sein Bündel auszupacken und sagte:

„Hier ist Portwein, den der Vorstand für die Kranken bewilligt hat, echter Portwein, glockenklar, ohne den geringsten Bodensatz.“

Er stellte die beiden mitgebrachten Flaschen auf die Kommode und wollte sich verabschieden. Frau Corney fragte nun verschämt, ob sie ihm nicht ein Täßchen Tee anbieten dürfe. Herr Bumble legte Hut und Stock auf einen Stühl und rückte einen andern an den Tisch. Während er sich langsam niederließ, blickte er die Matrone an. Sie hatte ihre Augen auf den kleinen Teetopf geheftet. Herr Bumble hustete und verzog sein Gesicht zu einem Lächeln.

Frau Corney holte eine zweite Tasse aus dem Schrank, und als sie sich wieder setzte, begegneten ihre Augen denen des galanten Gemeindedieners. Sie errötete und machte sich an dem Teetopf zu schaffen. Herr Bumble hustete abermals.

„Süß?“ fragte die Matrone und nahm die Zuckerdose in die Hand.

„Sehr süß, bitte.“

Er sah dabei Frau Comey zärtlich an, soweit ein Gemeindediener zärtlich blicken kann.

„Sie haben eine Katze, wie ich sehe, und auch ein Kätzchen“, plauderte Herr Bumble.

„Sie können gar nicht glauben, Herr Bumble, wie gern ich diese Tierchen habe“, entgegnete die Matrone.

„Niedliche Dingerchen“, sagte Herr Bumble beistimmend, „und so ans Haus gewöhnt.“

„O ja“ sagte die Dame, „sie sind zu gerne bei mir, und ich habe sie so lieb.“

„Frau Corney“, sagte Bumble feierlich, „ich muß sagen, eine Katze, die bei Ihnen lebt und Sie nicht liebhat, muß ein rechter Esel sein.“

„Ach, Herr Bumble“, sagte sie mit verweisendem Ton.

„Warum soll man nicht reden dürfen, wie es einem ums Herz ist. – Eine solche Katze würde ich mit Vergnügen ersäufen.“

„Dann sind Sie ein hartherziger Mensch.“

„Hartherzig?“ wiederholte Bumble und rückte seinen Stuhl näher. „Sind Sie hartherzig, Frau Corney?“

„Mein Gott, was ist das für eine komische Frage von einem ledigen.Manne! Warum wollen Sie das wissen?“

Herr Bumble trank seinen Tee bis zum letzten Tropfen aus, wischte sich die Lippen ab und brachte der Matrone bedächtig einen Kuß bei.

„Herr Bumble!“ rief die zartfühlende Dame – aber nur ganz leise, denn sie hatte vor Schreck fast die Stimme verloren, „Herr. Bumble, ich werde schreien.“

Dieser gab keine Antwort, sondern schlang langsam und würdevoll seinen Arm um den Leib der Matrone.

Da Frau Corney erklärt hatte, sie werde schreien, so hätte sie es auch sicher getan, wenn nicht ein Klopfen an die Tür eine solche Anstrengung überflüssig gemacht hätte. Herr Bumble sprang hastig auf und fing mit großem Eifer an, die Portweinflaschen abzustauben, während die Matrone mit scharfer Stimme „Herein!“ rief.

Eine abschreckend häßliche, alteArmenhäuslerin steckte den Kopf durch die Tür und sagte: „Ich bitte um Verzeihung, Frau Corney, die alte Sally liegt im Sterben.“

„Was geht mich das an?“ sagte die Matrone.ärgerlich, „kann ich es ändern, wie?“

„Nein“, sagte die alte Frau, „niemand kann das. Menschliche Hilfe kann ihr nichts mehr nützen. Aber sie hat noch etwas auf dem Herzen, so sagt sie, sie habe Ihnen noch etwas anzuvertrauen und könne nicht ruhig sterben, bis sie es Ihnen gesagt habe.“

Nun fing die würdige Frau Corney an, mächtig auf die alten Weiber zu schimpfen, die nicht mal sterben könnten, ohne ihre Vorgesetzten absichtlich zu belästigen. Sie wickelte sich in einen dicken Schal und bat Herrn Bumble zu bleiben, bis sie wiederkäme. Dann ging sie mit der alten Frau keifend aus dem Zimmer.

Als Herr Bumble allein war, benahm er sich auf eine ziemlich eigentümliche Weise. Er öffnete den Schrank und zählte die Teelöffel, wog die Zuckerzange in der Hand, dann prüfte er eine silberne Milchkanne auf ihre Echtheit. Nachdem er so seine Neugierde befriedigt hatte, setzte er seinen Dreispitz schief auf den Kopf und tanzte etlichemal mit vielem Anstand um den Tisch herum. Nach dieser Tanzaufführung nahm er seinen Hut wieder ab und lehnte sich gegen den Kamin.Er schien im Geiste eine Bestandaufnahme von dem im Zimmer befindlichen Mobiliar zu machen.

Handelt von einem äußerst armen Geschöpf

Das arme Weib, das Frau Corney in ihrer Bequemlichkeit gestört hatte, war keine unpassende Todesbotin. Ihr Körper war unter der Last der Jahre gekrümmt, alle ihre Glieder zitterten, und ihr durch einen Schlaganfall schiefgezogenes Gesicht glich mehr der grotesken Schöpfung eines phantastischen Malers, als einem Werke aus den Händen der Natur.

Ach, wie selten trifft man bei alten Leuten Gesichter, die uns durch ihre Schönheit erfeuen. Die Sorgen und die Leiden der Welt ändern sowohl das Antlitz als auch die Herzen.

Die alte Frau humpelte durch die Gänge und über die Treppen, bis sie erschöpft stehenblieb und Frau Corney das Licht in die Hand gab mit dem Bemerken, sie käme nach, sobald sie könne. Die Matrone ging nun rasch dem Zimmer zu, wo die Sterbende lag.

Es war eine kalte Bodenkammer, in der ein düsteres Licht brannte. Neben dem Krankenbette saß eine alte Frau, während der Lehrling des Armenhausapothekers am Kamin stand und sich aus einer Federpose einen Zahnstocher schnitt.

„Es ist heute abend kalt, Frau Corney“, sagte der Jüngling, als die Matrone eintrat.

„Sehr kalt, in der Tat“, versetzte die Dame sehr höflich und neigte den Kopf.

„Sie sollten von Ihrem Lieferanten bessere Kohlen fordern“, sagte der Apothekerlehrling, „diese taugen nichts.“

„Das ist Sache des Vorstandes. Das wenigste, was er tun könnte, wäre freilich, für ein warmes Zimmer zu sorgen, denn unser Amt ist schwer genug.“

Hier unterbrach ein Stöhnen der kranken Frau das Gespräch.

„Ach“, sagte der junge Mann und schaute nach dem Bette hin, „mit der ist es bald vorbei.“

„Ist’s schon so weit?“

„Würde mich wundern, wenn sie’s noch ein paar Stunden machte. – Hallo, schläft sie, Alte?“

Die Wärterin beugte sich über das Bett und sah nach, dann nickte sie. Plötzlich richtete sich jedoch die Kranke. auf und streckte die Arme nach der Wärterin aus.

„Wer ist das?“ fragte sie diese mit hohler Stimme.

Der Apothekerlehrling schlich auf den Zehenspitzen aus dem Zimmer.

„Leg dich wieder hin“ sagte die Wärterin.

„Nein, nein, ich will es ihr sagen. Kommen Sie hier her. Näher. Ich werde es Ihnen ins Ohr flüstern.“

Frau Corney setzte sich auf einen Stuhl an Ihrem Bette.

„Schicken Sie die Wärterin fort, geschwinde!“ sagte die Kranke, und jene verließ das Zimmer.

„Nun hören Sie mich an“, sagte die Sterbende so laut, als es ihre schwindenden Kräfte gestatteten. „In diesem Zimmer – ja, sogar in diesem Bette lag einst ein hübsches, junges Geschöpf. Es wurde mit wunden Füßen, staub- und schmutzbedeckt ins Haus gebracht. Sie gab in meiner Anwesenheit einem Knaben das Leben und starb. Ich will mal nachdenken – in welchem Jahr war es doch?“

„Das tut nichts zur Sache“, versetzte die Matrone uno geduldig. „Sagen Sie lieber, was es mit der Verstorbenen für eine Bewandtnis hat.“

„Was es mit ihr für eine Bewandtnis hat? Ich habe sie bestohlen“, schrie die Sterbende gellend, und ihr Gesicht glühte – „ich habe sie bestohlen, sie war noch nicht kalt, als ich sie bestahl.“

„Um Gottes willen – was häben Sie ihr gestohlen?“

„Es! Das einzige, was sie hatte. Sie brauchte Kleider, um nicht zu frieren, Nahrung, um nicht zu hungern, aber sie hatte es an ihrem Herzen aufbewahrt. Es war von Gold, echtem Gold,. und sie hätte sich dadurch das Leben retten können.“

„Gold?“ wiederholte Frau Corney, sich schnell über das Weib hinbeugend, als es auf das Bett zurücksank. „Weiter, weiter! Was ist damit? Wer war die Mutter? Wann war es?“

„Sie trug mir auf, es aufzuheben, und vertraute es mir an als der einzigen Frau, die um sie war. Ich stahl es Ihr schon in Gedanken, als sie es mir zuerst zeigte. Ach, vielleicht bin ich auch an des Kindes Tod schuld! Man hätte ihn wohl besser behandelt, wenn man alles gewußt hätte.“

„Was gewußt? Reden Sie doch!“

„Der Junge wurde seiner Mutter so ähnlich“, fuhr das Weib fort, ohne die Frage zu beachten, „daß ich immer an sie erinnert wurde, sooft ich sein Gesicht sah. Armes Mädchen! Und noch so jung – und so sanft! – Warten Sie, ich habe noch mehr zu sagen. Nicht wahr, ich habe Ihnen noch nicht alles gesagt?“

„Nein, nein“, antwortete Frau Corney, „nur schnell, ehe es zu spät ist.“

„Die Mutter“, sagte die Sterbende und nahm ihre letzten Kräfte zusammen, „die Mutter flüsterte mir ins Ohr, als sie den Tod nahen fühlte, daß, wenn ihr Kind am Leben bliebe, einst der Tag kommen dürfte, an dem es keinen Grund haben würde, sich des Namens seiner Mutter zu schämen.“

„Des Kindes Name?“ drängte die Matrone.

„Oliver!“ sagte die Sterbende mit matter Stimme. „Und das Gold, das ich. stahl, war –“

„Jja, was war es?“ fragte Frau Corney. Sie beugte sich schnell über das Weib, um die Antwort zu vernehmen, aber sie prallte zurück, als die Sterbende sich noch einmal langsam und steif aufrichtete, die Decke mit beiden Händen krampfhaft faßte, und nachdem sie einige unverständliche Worte gemurmelt hatte, leblos auf die Kissen zurücksank.

– – – – – – – – – – –

„Maustot“, sagte die Wärterin, als Frau Corney die Tür wieder geöffnet hatte.

„Und wußte auch nichts Wichtiges zu erzählen“, bemerkte die Matrone in gleichgültigem Tone. Damit ging sie.

Worin unsere Geschichte zu Herrn Fagin und Genossen zurückkehrt

Während sich diese Ereignisse im Armenhause zutragen, saß Herr Fagin am rauchenden Kamin, still vor sich hinbrütend, in seiner alten Höhle, aus der Oliver von Nancy neulich abgeholt worden war. Er war in tiefe Gedanken versunken und blickte in völliger Geistesabwesenheit in das trübe Feuer.

An einem Tische hinter ihm saßen der Gannef, Karl, Bates und Herr Chitling bei einer Partie Whist. Der Gannef spielte mit dem Strohmann gegen die beiden anderen. Es war merkwürdig, daß diese dauernd verloren, ein Umstand, der Herrn Bates nicht etwa aufbrachte, sondern höchlichst amüsierte. Er lachte nach Beendigung jedes Spiels hell auf und versicherte, daß er sich noch nie so gut unterhalten hätte. Als Herr Chitling nach Bezahlung seiner Spielschuld mit kläglicher Miene sagte: „Ich habe nie einen Spieler wie dich giesehen, Jack, denn du gewinnst ja immer. Selbst wenn wir gute Karten haben, können wir gegen dich nicht aufkommen“, brach Karl Bates in ein derartiges Gelächter aus, daß der Jude aus seinen Grübeleien gerissen wurde und verwundert fragte, was los sei.

„Ich wollte, Sie hätten dem Spiele zugesehen, Fagin. Tommy Chitling hat nicht einen Point gewonnen.“

„Ei, ei“, sagte der Jude grinsend, der des Gannefs Mogelei hinreichend kannte, „versuch’s nochmal, Tom, versuch’s nochmal!“

„Danke, Fagin, ich verzichte, habe vollkommen genug. Der Gannef hat ein solches Schwein, da ist nichts zu machen.“

„Ja, Freundchen, wenn du gegen den Gannef gewinnen willst, mußt du früher aufstehen“, versetzte der Alte.

„Nein“, sagte Karl Bates, „er muß am besten auch noch die ganze Nacht die Stiefel anbehalten und sich für jedes Auge ein Fernrohr besorgen. Dann kommt er vielleicht früh genug und ist passend ausgerüstet, um gegen den Gannef erfolgreich anzukämpfen.“

Herr Dawkins nahm diese Schmeicheleien mit philosophischer Ruhe hin und zeichnete zu seinem Vergnügen einen Plan des Newgate-Gefängnisses mit Kreide auf den Tisch. Er pfiff sich dazu ein Lied.

Nach einer Weile sagte der Gannef zu Herrn Chitling:

„Weißt du, Tommy, du bist doch mächtig stumpfsinnig. – An was mag er wohl denken, Fagin?“

„Wie sollte ich das wissen, wahrscheinlich an seinen Verlust oder an den sechswöchigen Landaufenthalt, den er eben hinter sich hat. Ha, ha! Stimmt’s, Tommy?“

„Ach wo“, rief der Gannef, Herrn Chitling in die Rede fallend, der eben antworten wollte. „Was meinst du, Karl?“

„Ich glaube“, sagte dieser grinsend, „er denkt an Betsy, hinter der er mächtig her ist. Seht, wie er rot wird. Das ist ein Hauptspaß! Tommy Chitling verliebt! Fagin, ist es nicht zum Totlachen?“

„Ach, laß Ihn in Ruhe“, sagte der Jude mißbilligend und puffte Karl in die Seite. „Betsy ist ein nettes Mädel. Mach dich nur an sie ‚ran, Tommy.“

„Ein für allemal, Fagin“, schrie Herr Chitling mit rotem Kopf, „das ist meine Sache, die keinen Menschen hier etwas angeht.“

„Du hast vollkommen recht“, sagte der Jude, „aber Karl muß immer schwatzen, das weißt du doch. Betsy ist ein nettes Mädel, und wenn du tust, was sie dir rät, wirst du dein Glück machen.“

„Horcht!“,rief der Gannef in diesem Augenblick, „ich habe die Klingel gehört.“ Er ergriff das Licht und schlich sachte die Treppe hinauf.

Während die übrigen sich im Dunkeln befanden, ertönte die Klingel abermals. Nach einer Minute erschien der Gannef wieder und flüsterte Fagin geheimnisvoll etwas zu.

„Was?“ schrie der Jude, „allein?“

Der Gannef nickte und gab Karl einen vertraulichen Wink, weniger lustig zu sein.

Der alte Mann biß sich in seine gelben Finger und überlegte einige Augenblicke. Sein Gesicht zeigte Spuren großer Aufregung, als fürchte er schlimme Nachrichten zu erhalten. Endlich erhob er den Kopf und fragte:

„Wo ist er?“

Der Gannef deutete nach oben und machte Anstalten, das Zimmer zu verlassen.

„Ja“, sagte der Jude als Antwort auf diese stümme Frage, „bring ihn herunter. Pst! – stille, Karl! – leise! – Tom! Sachte!“

Totenstille trat ein, als der Gannef mit einem Mann die Treppe herunterkam, der ein großes, sein Gesicht halb verhüllendes Tuch abwarf, nachdem er sich vorher hastig im Zimmer umgesehen hatte. Es war der schmucke Toby Crackit, ungewaschen und unrasiert.

„Wie geht’s dir, Fagin?“ sagte er. „Steck das Tuch nur in meinen Hut, daß ich es finden kann, wenn ich wieder gehe, Gannef. Aber ehe ich von Geschäftssachen rede, schafft erst etwas zu essen und trinken herbei, damit ich zum erstenmal seit drei Tagen wieder ein paar Krümel in den Magen bekomme.“

Fagin befahl dem Gannef, was an Eßbarem da war, aufzutischen, und setzte sich dem Einbrecher gegenüber, der Mitteilungen harrend, die dieser nun machen würde.

Es hatte nicht den Anschein, als ob es Toby sehr eilig habe, das Gespräch zu eröffnen. Anfangs begnügte sich der Jude, geduldig sein Gesicht zu beobachten, um darin etwas zu lesen. Vergebliche Mühe. Toby sah zwar ermüdet und übernächtigt aus, aber seine Gesichtszüge‘ zeigten dieselbe selbstgefällige Ruhe, die ihm gewöhnlich eigen war. Fagin zählte ungeduldig jeden Bissen, den der Einbrecher in den Mund steckte. Plötzlich sprang der Jude auf und ging unruhig im Zimmer auf und ab. Toby aß gleichmütig weiter, bis er nicht mehr konnte. Dann forderte er den Gannef auf, sich zu entfernen, und schickte sich endlich zu sprechen an.

„Zuerst und vor allen Dingen, Fagin was macht Bill?“

„Was?“ schrie der Jude vom Stuhl aufschnellend, auf den er sich inzwischen wieder gesetzt hatte.

„Donnerwetter, du willst doch nicht etwa sagen, daß –“‚, stotterte Toby und wurde blaß wie der Tod.

„Was sagen?“ schrie Fagin wütend und stampfte mit dem Fuße auf. „Wo sind sie? – Sikes und der Junge! – wo sind sie? – wo sind sie geblieben? – wo stecken sie? – warum sind sie nicht hier?“

„Der Einbruch mißglückte“, erwiderte Toby leise.

„Das weiß ich“, sagte der Jude und riß eine Zeitung aus seiner Tasche; „da steht es drin. Was noch?“

Sie schossen, und der Junge wurde getroffen. Wir rannten wie die Besessenen, querfeldein, über Hecken und Gräben. Man machte Jagd auf uns. Es war zum Teufel holen, die ganze Gegend war hinter uns her, und Hunde uns auf den Hacken!“

„Und der Junge?“ keuchte Fagin.

„Bill hatte ihn auf dem Rücken und jagte mit ihm dahin wie der Wind. Nach einer Weile blieben wir stehen, um ihn zwischen uns zu nehmen; er ließ jedoch den Kopf hängen und rührte sich nicht. Die Verfolger kamen immer näher, und da hieß es, jeder ist sich selbst der Nächste, wenn er nicht Bekanntschaft mit dem Henker machen wollte. Wir trennten uns und ließen den Jungen in einem Graben liegen, ob tot oder lebendig, weiß ich nicht.“

Der Jude wollte nichts mehr hören, er raufte sich die Haare und brüllte laut auf. Dann rannte er aus dem Zimmer auf die Straße hinaus.

In dem eine geheimnisvolle Person auf der Bildfläche erscheint und mancherlei Dinge sich ereignen, die sich von dieser Geschichte nicht trennen lassen

Der alte Mann war bereits an der Straßenecke, ehe er anfing, sich von dem Schrecken einigermaßen zu erholen, den ihm Tobys Bericht eingejagt hatte. Er unterbrach seinen Lauf nicht, sondern stürmte wie von Sinnen unentwegt weiter. Ein Wagen hätte ihn um ein Haar überfahren, wenn nicht die lauten Zurufe des Publikums ihn auf die drohende Gefahr aufmerksam gemacht hätten. Er vermied soviel wie möglich die Hauptstraßen und gelangte auf Nebengäßchen endlich nach Snow-Hill. Hier beschleunigte er seine Schritte noch mehr und verfiel erst wieder in seinen gewöhnlichen schiebenden Gang, als er in eine Sackgasse eingebogen war, in der er sich in seinem Element fühlte.

Unweit der Stelle, wo Snow-Hill und Holborn-Hill zusammentreffen, führt ein enges und häßliches Gäßchen nach Saffron-Hill. In seinen schmutzigen Läden sind große Haufen seidener Taschentücher von jeder Größe und den verschiedensten Mustern zum Verkauf gestellt,

denn hier wohnen die Handelsleute, die sie den Dieben abkaufen. Hunderte solcher Tücher flattern, mit hölzernen Klammern befestigt, an Ladentür und Schaufenster, während im Innern ganze Stöße derselben in den Regalen liegen. So klein auch das Gäßchen, mit Namen Fieldo-Lane, ist, so hat es doch seinen Friseur, sein Café, seine Kneipe und seine Garküche. Es bildet eine eigene Handelskolonie, ein Stapelplatz gestohlener Waren. Frühmorgens und im Abenddunkel erscheinen schweigsame Handelsleute, die in düsteren Hinterzimmern ihre Geschäfte abschließen und dann ebenso geheimnisvoll wieder verschwinden, wie sie gekommen sind. Hier legt der Trödler und Lumpenhändler seine Ware als Aushängeschild für den kleinen Dieb aus.

Dies war der Ort, wohin der Jude seine Schritte lenkte.

Er war den Bewohnern des Gäßchens gut bekannt, denn viele von ihnen, die sich des Kaufs oder Verkaufs wegen lauernd vor ihren Läden aufhielten, nickten ihm bei seinem Vorübergehen vertraulich zu. Er erwiderte die Begrüßung in gleicher Weise, jedoch ohne anzuhalten. Am äußersten Ende der Gasse blieb er endlich stehen und redete einen kleinen Mann an, der so viel von seiner Person in einen Kinderstuhl gezwängt hatte, als dieser aufnehmen konnte. Der Handelsmann saß vor seinem Laden und rauchte eine Pfeife.

„Ach, Herr Fagin, Ihr Anblick ist Labsal für Verschmachtende!“ sagte der ehrenwerte Händler in Erwiderung auf des Juden Frage nach seinem Befinden.

„Die Nachbarschaft war mir ein wenig zu heiß, Lively“, versetzte Fagin und zog die Augenbrauen hoch.

„Ja, diese Klagen sind mir auch ein paarmal zu Ohren gekommen“, antwortete der Trödler, „aber es wird auch mal wieder weniger heiß; meinen Sie nicht auch?“

Fagin nickte zustimmend und fragte dann, indem er nach Saffron-Hill zeigte, ob heute abend wohl jemand dort wäre.

„In den ‚Krüppeln‘?“ fragte das Männchen. Fagin nickte.

„Muß mal nachdenken. Ja, soviel ich mich entsinnen kann, sind ungefähr ein halbes Dutzend hingegangen. Ich glaube aber nicht, daß Ihr Freund dabei war!“

„Sikes also nicht?“ fragte Fagin enttäuscht.

„Non est ventus, wie die Rechtsgelehrten sagen“, entgegnete der kleine Mann mit einem pfiffigen Blick und schüttelte verneinend den Kopf. „Haben Sie heute nichts zu verkaufen?“

„Nein, heute nicht“, sagte der Jude und wandte sich zum Gehen.

„Gehen Sie in die ‚Krüppel‘, Fagin?“ fragte das kleine Männchen. „Warten Sie einen Augenblick, ich komme mit.“

Doch der Jude gab ihm zu verstehen, daß er es vorziehe, allein zu sein. Und da sich obendrein der kleine Mann nicht so leicht von seinem Kinderstuhl losmachen konnte, so mußte für diesmal das angesehene Wirtshaus „Zu den Krüppeln“ der Ehre verlustig gehen, Herrn Lively zu seinen Gästen zu zählen. Bis er sich auf die Beine gebracht hatte, war Fagin verschwunden, und so zwängte .sich Herr Lively wieder in den Kinderstuhl und nahm mit wichtiger Miene seine Pfeife wieder in die Hand.

Die „Drei Krüppel“ oder vielmehr die „Krüppel“ waren das Gasthaus, in dem wir Herrn Sikes und seinen Hund schon mal getroffen hatten. Es war einer gewissen Sorte von Gästen wohlbekannt. Fagin gab dem Mann am Schenktisch nur ein Zeichen und ging dann geradezu die Treppe hinauf. Oben öffnete er die Tür eines Zimmers und trat leise ein. Er sah sich, die Augen mit der Hand beschattend, vorsichtig um.

Das Zimmer war durch zwei Gaslampen erhellt, deren Licht jedoch nicht durch die mit Läden gut geschlossenen Fenster nach außen drang. In dem von Tabaksrauch angefüllten Raum konnteFagin kaum etwas erkennen. Nach und nach aber, als sich der Rauch durch den Luftzug der offenen Tür etwas verzogen hatte, tauchte eine Anzahl von Köpfen aus dem Qualm auf. Wenn sich das Auge mehr an den Schauplatz gewöhnt hatte, so konnte der Beobachter allmählich eine zahlreiche, aus Männern und Frauen bestehende Gesellschaft wahrnehmen, die sich um einen langen Tisch drängte. An dessen oberem Ende saß der Vorsitzende, in der Hand das Zeichen seiner Würde, einen Holzhammer haltend, während an einem verstimmten Piano in der entgegengesetzten Ecke ein Musiker sich niedergelassen hatte, der sich einer bläulichen Nase erfreute und eine von Zahnweh geschwollene Backe hatte.

Als der Jude leise ins Zimmer trat, hatte der Klavierspieler gerade durch einen präludierenden Lauf über alle Tasten die kunstbegeisterten Gäste zu einem Verlangen nach einem Liede veranlaßt, und sie gaben ihren Wunsch in ziemlich lärmender Weise zu erkennen. Als die Ruhe einigermaßen wiederhergestellt war, unternahm es eine junge Dame, die Gesellschaft mit einer aus vier Strophen bestehenden Ballade zu unterhalten. Der die Sängerin begleitende Künstler zappelte sich aus Leibeskräften ab, um seiner Musik den gehörigen Schwung zu geben. Als dieser Kunstgenuß zu Ende war, gab der Herr Vorsitzende mit dem Hammer ein Zeichen, und sofort begannen ein paar Herren zu seiner Rechten und Linken ein Duett, wofür sie großen Beifall ernteten.

Die Gesellschaft wies einige interessante Typen auf. Da war zuerst mal der Herr Vorsitzende in der Person des Wirtes selbst – ein schwerfälliger ungehobelter Kerl – der während des Gesanges seine Augen überall umherschweifen ließ und auf alles, was geschah und gesprochen wurde, sorgfältig achtete. Dann die Sänger neben ihm die mit Künstlergleichmut die Lobsprüche der Gesellschaft hinnahmen und sich nebenbei herabließen, ein Dutzend Gläser Grog zu leeren, die ihnen von ihren lärmendsten Bewunderern gespendet wurden. Man sah hier Verschmitztheit, Brutalität und Trunkenheit in allen Abstufungen. Den dunkelsten und traurigsten Teil dieses düsteren Gemäldes bildeten jedoch die Weiber – lauter Mädchen oder junge Frauen, die sich alle noch im Mai ihres Lebens befanden, und von denen einige die letzten Spuren einstiger Jugendfrische zeigten, während bei den meisten in ihrem wüsten Aussehen kein Zeichen edler Weiblichkeit mehr zu entdecken war.

Während der Gesangsdarbietungen sah sich Fagin die Gesellschaft scharf an, konnte aber augenscheinlich das Gesicht, welches er suchte, nicht finden. Schließlich gelang es ihm den Blick des vorsitzenden Wirtes auf sich zu ziehen und ihm einen Wink zu geben. Dann verließ er das Zimmer so unauffällig, wie er eingetreten war.

„Was wünschen Sie, Herr Fagin“, fragte der Wirt, der dem Juden auf den Treppenabsatz gefolgt war. „Wollen Sie nicht an unserem Tisch Platz nehmen? Wir würden es uns zur Ehre schätzen!“

Der Jude schüttelte ungeduldig den Kopf und fragte flüsternd:

„Ist er da?“

„Nein“, antwortete der Wirt.

„Und keine, Nachricht von Barney?“ fragte Fagin.

„Keine, er wird sich auch nicht rühren, bis die Luft rein ist. – Verlassen Sie sich darauf, man ist ihnen auf der Spur, und sobald er sich zeigte, würde man ihn klappen. Barney wird sich in Sicherheit gebracht haben, sonst hätte ich schon etwas von ihm gehört. Darüber können Sie ganz ruhig sein.“

„Kommt er heute nacht nicht her?“ fragteeter Jude, das „er“ stark betonend.

„Sie meinen Monks?“ entgegnete der Wirt zögernd.

„Pst, ja doch.“

„Sicherlich“, versetzte der Mann und zog eine goldene Uhr aus der Tasche. „Er müßte eigentlich schon hier sein. Wenn Sie zehn Minuten warten wollen, so –“

„Nein, nein“, sagte Fagin hastig, als käme ihm die Abwesenheit der betreffenden Person sehr gelegen, so gerne er sie auch gesehen hätte. „Sagen Sie ihm doch, ich hätte ihn besuchen wollen, und er solle heute abend noch – nein, morgen – er solle also morgen zu mir kommen. Da er nicht hier ist, wird’s wohl auch bis morgen Zeit haben!“

„Schön , sagte der Wirt. „Weiter nichts?“

„Nein, kein Wort mehr“, sagte der Jude und ging die Treppe hinunter.

„Hören Sie mal“, rief ihm der Mann im Flüsterton nach, „hier ist noch ein Schlag zu mächen. Phil Barker ist hier – mächtig duhn, dermaßen, daß ihn ein Kind neppen könnte!“

„So, so! Aber Phil Barkers Zeit ist noch nicht gekommen“, antwortete der Jude leise zurück. „Er hat noch etwas zu tun, ehe wir uns mit ihm verkrachen können. Also gehen Sie nur wieder zu Ihrer Gesellschaft zurück und sagen Sie den Leuten, sie sollen ihr Leben nur ordentlich genießen – wer weiß, wie lange noch. Ha! Ha! Ha!“ –

Der Wirt stimmte in das Lachen des Alten ein und kehrte zu seinen Gästen zurück. Sobald der Jude allein war, verdüsterten sich seine Mienen wieder. Nach kurzem Besinnen winkte er eine Droschke heran und ließ sich nach Bethnal Green fahren. Ein paar hundert Schritte von Sikes Wohnung stieg er aus und legte den Rest seines Weges zu Fuß zurück.

„Nun“, brummte der Jude vor sich hin, als er an die Tür klopfte, „wenn man hier ein abgekartetes Spiel mit mir treibt, so werde ich es bald heraushaben, meine Liebe, so verschlagen du auch bist.“

Fagin schlich leise die Treppe hinauf und trat ohne anzuklopfen in Nancys Zimmer. Das Mädchen war allein und lag mit dem Kopf auf dem Tisch. Das Haar hing ihr in Strähnen herunter.‘

„Sie ist betrunken“, dachte der Jude, „Oder ihr ist schlecht zumute.“

Als der Alte die Tür schloß, wurde das Mädchen durch das Geräusch wach. Sie fragte ihm offen ins Gesicht sehend, was es Neues gäbe, und hörte aufmerksam zu, als er Toby Crackits Bericht wiederholte. Ohne ein Wort zu sagen, nahm sie nach Beendigung der Erzählung ihre frühere Stellung wieder ein. Sie schob das Licht ungeduldig beiseite, wechselte verschiedenemal nervös ihre Lage und scharrte mit den Füßen. Das war jedoch alles.

Während sie schwieg, blickte der Jude unruhig im Zimmer umher. Er schien sich überzeugen zu wollen, ob Sikes nicht etwa heimlich zurückgekehrt sei. Durch seine Untersuchung anscheinend zufriedengestellt, hustete er einigemal und machte verschiedene vergebliche Versuche, ein Gespräch mit dem Mädchen anzuknüpfen. Schließlich fragte er im liebenswürdigsten Tone:

„Und was meinen Sie wohl, Kindchen, wo Bill jetzt ist?“

Das Mädchen antwortete in kaum verständlichen Worten, sie könne das nicht wissen. Sie schien zu weinen.

„Und der Junge?“ fuhr Fagin fort und versuchte einen Blick auf ihr Gesicht zu werfen. „Das arme Kindl Denken Sie nur, Nancy, sie haben es in einem Graben liegengelassen!“

„Da ist es besser dran als bei uns“, versetzte das Mädchen aufblickend. „Und wenn es Bill nicht nachteilig wäre, würde ich wünschen, Oliver läge tot im Graben, und seine Gebeine vermoderten dort.“

„Was?“ rief der Jude in großem Erstaunen.

„Ja, es ist mein Ernst. Ich bin froh, wenn ich ihn nicht mehr sehen muß und weiß, daß er das Schlimmste überstanden hat. Es ist mir furchtbar, ihn in meiner Nähe zu haben. Wenn ich ihn sehe, muß ich mich selbst und euch alle verabscheuen!‘

„Ach, du bist betrunken, Mädel“, sagte der Jude verächtlich.

„Wirklich? Deine Schuld ist’s nicht, wenn ich es nicht bin! Wenn’s nach dir ginge, wäre ich immer betrunken, nur jetzt nicht. Meine Gemütsverfassung paßt dir nicht, nicht wahr?“

„Allerdings nicht“, sagte Fagin aufgebracht.

„So ändert’s“, versetzte das Mädchen mit einem Auflachen.

„Werde ich auch“, schrie der Jude, durch die unerwartete Störrigkeit des Mädchens und die Verdrießlichkeiten des Abends im höchsten Grade erbittert. „Paß auf, Dirne, höre gut auf die Worte eines Mannes, der nur drei Worte zu sagen braucht, und Sikes wird gehängt. Wenn er zurückkommt und den Jungen nicht mitbringt – wenn er glücklich davongekommen ist und liefert mir Oliver, tot oder lebend, nicht wieder ab –, so ist es besser, Mädchen, du bringst ihn selbst um, wenn du nicht willst, daß er Bammelmann macht!“

„Was soll das heißen?“ fragte Nancy unwillkürlich.

„Das will heißen, daß der Junge mir viele hunderte Pfund wert ist“, schrie Fagin sinnlos vor Wut. „Soll ich, was mir der Zufall gefahrlos in die Hände gespielt hat durch die Dummheiten einer betrunkenen Bande verlieren, deren Leben ich in meiner Hand halte. Und soll ich mich auch noch an einen richtigen Teufel ketten, der die Macht hat und nur zu wollen braucht, um –“

Er keuchte vor Wut und rang nach Worten, doch plötzlich zügelte er seinen Zorn und nahm sich zusammen. Hatte er vorher noch mit geballten Fäusten in der Luft herumgefuchtelt, so sank er jetzt in einen Stuhl zurück und bebte bei dem Gedanken, eine Schurkerei selbst ausgeplaudert zu haben. Nach kurzem Schweigen sah er sich verstohlen nach Nancy um und war beruhigt, als er sie in der teilnahmslosen Stellung wie zuerst sah.

„Nancy, Kindchen“, krächzte Fagin jetzt wieder in seinem gewöhnlichen Tone, „hast du alles gehört, was ich sagte?“

„Ach, laßt mich zufrieden. Ist es Bill diesmal nicht geglückt, dann ein andermal. Er hat manche feine Sache für Euch geschoben und wird’s auch in Zukunft tun. Wenn’s aber nicht geht, dann geht’s eben nicht. Also nun Schluß!“

„Aber der Junge, Kindchen?“ sagte der Jude und rieb sich nervös die Hände.

„Ich hoffe, er ist tot“, fiel das Mädchen schnell ein, „und dadurch allem Ungemach, besonders aber Euren Händen entronnen – wenn nur Bill nicht dabei zu Schaden gekommen ist. Das glaube ich jedoch nicht, denn wenn Toby sich in Sicherheit bringen konnte, so kann es Bill jedenfalls zweimal!“

„Und was meine vorigen Worte anbelangt, liebes Kind“, bemerkte der Jude, und sah sie mit seinen schielenden Augen lauernd an.

„Ihr müßt es nochmals sagen, wenn Ihr was von mir wollt. Es wäre aber besser, bis morgen zu warten. Für einen Augenblick habt Ihr mich munter gemacht, jetzt ist mir aber schon wieder ganz dämlich zumute.“

Fagin stellte noch mehrere Fragen an sie, um sich zu überzeugen, ob das Mädchen seine unvorsichtigen Andeutungen beachtet und behalten hätte. Sie antwortete jedoch so unbefangen und ließ sich durch seine lauernden Blicke so wenig in Verlegenheit bringen, daß sich sein ursprünglicher Gedanke zu bestätigen schien, sie hätte zu tief ins Glas geguckt. Nancy war allerdings nicht frei von diesem Laster, das bei Fagins Schülerinnen so häufig war und von ihm auch noch ermutigt wurde. Ihr unordentliches Aussehen und der starke Branntweingeruch, der das Zimmer erfüllte, schien ein Beweis für Fagins Annahme zu sein. Er fühlte sich durch diese Feststellung sehr erleichtert und schickte sich zum Gehen an. Er verließ also seine junge Freundin, die noch immer mit dem Kopfe auf dem Tische lag und schlief.

Es war elf Uhr und bitterkalt, er eilte deshalb, nach Hause zu kommen. Der scharfe Wind schien die Straßen sowohl von Menschen, als auch von Schmutz leer gefegt zu haben. Für den Juden war der Wind günstig, denn er trieb denselben vor sich her.

Herr Fagin hatte seine Straßenecke erreicht und wollte eben seinen Hausschlüssel aus der Tasche holen, als eine dunkle Gestalt aus dem tiefen Schatten eines gegenüberliegenden Hauses auftauchte und sich geräuschlos an seine Seite schlich.

„Fagin!“ flüsterte eine Stimme dicht an seinem Ohre.

„Ist das –“

„Ja“, fiel der Fremde schnell ein. „Ich laure hier schon zwei Stunden auf Euch, wo zum Teufel seid Ihr denn gewesen?“

„War in Ihren Angelegenheiten fort, mein Lieber“, antwortete : der Jude, ihn unruhig ansehend und seine Schritte mäßigend, „die ganze Nacht in Ihren Angelegenheiten.“

„Das wäre“, versetzte höhnisch der Fremde. „Nun – und was ist dabei herausgekommen?“

„Nicht viel Gutes“, entgegnete Fagin.

„Doch auch nichts Schlimmes, hoffe ich“, sagte der Mann und blieb bestürzt stehen.

Der Jude schüttelte den Kopf und wollte antworten, doch der Fremde unterbrach ihn und meinte, er solle ihm das zu Hause erzählen, er wäre halb erfroren. Fagin schnitt ein Gesicht, als wenn ihm das unangenehm wäre, und murmelte etwas von ungeheizter Stube. Der Mann wiederholte jedoch seinen Wunsch so gebieterisch, daß derJude ihn in sein Haus hineinließ.

„Hier ist’s dunkel wie im Grabe“, sagte der Mann, ein paar Schritte vorwärts tappend. „Beeilt Euch, Licht zu holen, ich kann so etwas nicht leiden.“

„Schließen Sie die Tür“, flüsterte Fagin und hatte noch nicht ausgesprochen, als jene mit lautem Krachen zuflog.

„Dafür kann ich nicht“, sprach der andere und tappte weiter, „der Wind hat sie zugeschlagen. Sorgt für Licht, oder ich stoße mir noch in diesem verwünschten Loch den Schädel ein.“

Fagin schlich die Küchentreppe hinab und kehrte bald mit einem brennenden Licht und der Kunde zurück, daß Toby Crackit im Hinterzimmer und die Jungen im Vorderzimmer schliefen. Er winkte nun dem Fremden und führte ihn die Treppe hinauf.

„Wir können uns die paar Worte hier sagen“, meinte Pagin und öffnete im ersten Stockwerk eine Tür. „Da in den Fensterläden Löcher sind und wir unsern Nachbarn nie Licht zeigen, so will ich den Leuchter auf die Treppe stellen. – So!“

Bei diesen Worten bückte sich der Jude, setzte das Licht auf die Treppe gerade der Zimmertür gegenüber und trat ins Gemach. Mit Ausnahme eines zerbrochenen Lehnstuhles und eines hinter der Tür stehenden alten Sofas ohne Bezug waren weiter keine Möbel vorhanden. Der Fremde warf sich sofort aufs Sofa, indes der Jude den Lehnstuhl näher rückte. Es war nicht ganz finster, denn die Tür stand halb offen; so saßen sie sich zuerst schweigend gegenüber. Nach einer Weile flüsterten sie miteinander, und ein Horcher hätte leicht gewahren können, daß der Fremde mächtig aufgeregt zu sein schien und Fagin sich gegen einige seiner Ausführungen verteidigte. Sie mochten in dieser Weise wohl eine Viertelstunde verhandelt haben, als Monks (mit diesem Namen redete der Jude den Fremden im Laufe des Gespräches an) mit etwas lauterer Stimme fortfuhr:

„Ich sage Euch, es war schlecht überlegt. Warum habt Ihr ihn nicht hier behalten und einen Taschendieb aus ihm gemacht?“

„Nun höre einer bloß mal an“, sagte Fagin achselzuckend.

„Wie, wollt Ihr etwa damit sagen, Ihr hättet’s nicht gekonnt, wenn Ihr gewollt,hättet?“ sagte Monks finster. „Habt Ihr es nicht dutzendmal mit anderen Jungen verstanden? Hättet Ihr ein Jahr Geduld mit ihm gehabt, wäre es Euch eine Kleinigkeit gewesen, daß er vom Gericht verurteilt und deportiert worden wäre, vielleicht auf Lebenszeit.“

„Wem wäre damit gedient gewesen, lieber Freund?“ sagte der Jude unterwürfig.

„Mir!“ antwortete Monks.

„Aber mir nicht“, entgegnete Fagin noch demütiger. „Er hätte mir vielleicht noch nützlich werden können. Wenn zwei bei einem Geschäft beteiligt sind, so ist es nur recht und billig, daß beider Vorteil berücksichtigt wird, nicht wahr?“

„Schön, was weiter?“ fragte Monks verdrießlich.

„Ich hatte bald heraus, daß es nicht leicht war, ihn fürs Geschäft zu erziehen. Er war nicht wie die anderen Jungen unter solchen Umständen!“

„Hol’s der Teufel, nein“, brummte der Mann, „er wäre sonst längst ein Dieb geworden.“

„Es war unmöglich, ihn zum Schlechten anzuhalten“, fuhr Fagin fort und betrachtete dabei ängstlich Monks Miene. „Mit Drohungen und Strenge war auch nichts bei ihm auszurichten. Was konnte ich tun? Ihn wieder mit Karl und dem Gannef auf Tour schicken? Wir hatten an dem ersten Mal genug, es war für uns alle gefährlich.“

„Dafür kann ich doch nichts“, bemerkte Monks.

„Sicher nicht“, versetzte der Jude, „ich klage ja auch nicht, denn ohne diesen Vorfall wären Sie nie auf den Jungen aufmerksam geworden. Sie hätten nie die Entdeckung gemacht, daß er es sei, den Sie suchten. Schön, ich brachte ihn mit Hilfe des Mädchens wieder zurück und jetzt hält sie ihm mit einemmal die Stange.“

„Erwürgt das Frauenzimmer“, schrie Monks unwirsch.

„Ja, das geht nicht, lieber Freund“, erwiderte Fagin lächelnd. „Ich kenne diese Art Mädels gut. Sobald der Junge weniger unschuldig sein wird, wird sie sich nicht mehr um ihn kümmern. Sie wollen einen Dieb aus ihm machen. Wenn er noch am Leben ist, werde ich’s nochmal versuchen, und wenn – wenn –“ sagte der Jude und rückte mit seinem Stuhl näher, „doch es ist nicht wahrscheinlich – aber wenn es zum Schlimmsten gekommen ist und Oliver ist tot – -„

„Dann ist’s nicht meine Schuld!“ fiel Monks mit bestürzter Miene ein und umklammerte Fagins Arm mit zitternden Händen. „Ihr wißt genau, daß ich dabei meine Hand nicht im Spiele hatte. Alles, nur nicht seinen Tod, sagte ich gleich anfangs. Ich will kein Blut vergießen, es kommt stets ans Tageslicht und läßt einem außerdem keine Ruhe. Wenn sie ihn totgeschossen haben, ich bin nicht schuld, verstanden! – Donnerwetter, was ist in dieser verfluchten Kabache los! – Was war das? –“

„Was?“ schrie der Jude und umfaßte den Erschrockenen, als er aufsprang, mit beiden Armen. „Was – Wo?“

„Dort!“ brüllte der Mann, nach der gegenüberliegenden Wand stierend. „Der Schatten – ich sah den Schatten eines Weibes in Hut und Mantel, wie einen Hauch an der Wandtäfelung vorbeigleiten.“

Beide stürzten aufgeregt aus dem Zimmer ins Treppenhaus. Sie horchten angespannt, allein tiefe Stille herrschte im ganzen Hause.

„Es war Einbildung!“ sagte Fagin und nahm das Licht auf.

„Ich will drauf schwören, daß ich’s sah“, versetzte Monks zitternd. „Der Schatten beugte sich vor, als ich ihn zuerst bemerkte und glitt weg, sobald ich von ihm sprach.“

Der Jude warf ihm einen verächtlichen Blick zu und forderte ihn höflich auf, ihm zu folgen. Sie stiegen die Treppe hinauf und sahen sich in allen Zimmern um, sie waren kahl und leer. Dann stiegen sie zum Hausflur und von da in den Keller hinunter, alles war öde und still wie der Tod.

„Was sagen Sie nun?“ fragte Fagin, als sie wieder auf dem Hausflur anlangten. „Außer uns sind nur noch Toby und die Jungen im Hause, und die sind gut aufgehoben. Sehen Sie her.“

Er zog zwei Schlüssel aus der Tasche und erklärte, daß er seine Zöglinge eingeschlossen hatte, um jede Störung ihrer Unterhaltung unmöglich zu machen.

Herr Monks wurde wankend und gab zu, daß ihm seine aufgeregte Phantasie einen Streich gespielt haben könnte. Die Unterhaltung wollte er heute aber nicht mehr fortsetzen, da es schon ein Uhr sei. So trennte sich denn das würdige Paar.

Sucht die Unhöflichkeit eines früheren Kapitels wieder gutzumachen, das eine Dame ohne weiteres im Stiche ließ

Da es einem Schriftsteller wegen seiner Unbedeutendheit nicht ziemt, eine so wichtige Person, wie ein Gemeindediener ist, mit über die Arme geschlagenen Rockschößen am Kamin stehen zu lassen, bis es dem Geschichtserzähler beliebt, ihn zu erlösen; und da es sich mit seiner Stellung oder seiner Galanterie noch weit weniger verträgt, in ähnlich vernachlässigender Weise eine Dame zu behandeln; der der besagte Beamte zärtliche und verliebte Blicke zugeworfen und süße Worte ins Ohr geflüstert hat, Worte, die aus dem Munde eines solchen Mannes das Herz eines jeden Mädchens oder einer jeden Frau erbeben machen müßten, – so beeilt sich der gewissenhafte Erzähler mit seiner höchst wahren Geschichte.

Herr Bumble hatte also die Teelöffel abermals gezählt, die Zuckerzange aufs neue gewogen, den Milchtopf noch genauer untersucht und sich über den Zustand der Möbel bis auf die Roßhaarpolster der Stühle herunter die nötige Gewißheit verschafft – ehe ihm auch nur der Gedanke kam, es wäre nachgerade Zeit, daß Frau Corney zurückkehrte. Da fiel Herr Bumble auf den unschuldigen Zeitvertreib, seine Neugierde durch einen Blick in das Innere der im Zimmer befindlichen Kommode zu befriedigen.

Um sich zu vergewissern, daß niemand käme, horchte Herr Bumble am Schlüsselloch und fing dann mit der untersten der drei Schubladen an. Die verschiedenen Kleider von gutem Stoff gefielen ihm ausnehmend wohl. In einem der oberen Schubfächer stieß er auf ein kleines, verschlossenes Kästchen, das er schüttelte; der Klang von Gold- und Silbermünzen war seinen Ohren liebliche Musik. Nun schritt Herr Bumble würdevoll wieder zum Kamin und nahm seine alte Stellung wieder ein. Mit entschlossenem Gesichtsausdruck sagte er dann zu sich selbst: „Ich werde es tun!“ Darauf lächelte er pfiffig, als wollte er sagen, was für ein verfluchter Schwerenöter er doch sei, dabei betrachtete er mit Interesse und Vergnügen seine strammen Waden.

Er war noch in deren bewundernden Anblick versunken, als Frau Corney ins Zimmer stürzte, sich atemlos auf einen Stuhl am Kamin warf und mit einer Hand die Augen bedeckte. Die andere legte sie aufs Herz und rang nach Luft.

„Frau Corney“, sagte Herr Bumble, sich über sie beugend, „was ist Ihnen? Ist etwas passiert? Bitte reden Sie doch, ich stehe hier, wie auf – auf –“ Er konnte in seiner Bestürzung nicht das Wort „Nadeln“ finden und sagte daher. – „Flaschenscherben“.

„Ach, Herr Bumble, ich bin wie zerschlagen.“

„Wer hat das gewagt, zerschlagen? Ich weiß schon“, fuhr er mit angeborener Majestät fort, „dieses gottverlassene Armenpack.“

„Schrecklich, dran zu denken“, sagte die Matrone schaudernd.

„Denken Sie nicht dran!“ versetzte Herr Bumble.

„Ich kann’s nicht lassen“, wimmerte Frau Corney.

„Dann stärken Sie sich und trinken ein Glas Wein“, meinte der Gemeindediener teilnahmsvoll.

„Nicht um die ganze Welt“, erwiderte die Matrone. „Das könnte ich nicht – oh, nein! – Im Wandschrank auf dem obersten Brett – ach –“

Die gute Frau, die jetzt in Krämpfe fiel, konnte nur schwach mit der Hand hinzeigen, aber Herr Bumble stürzte auf denselben zu und entnahm ihm eine grüne Flasche. Er goß eine Teetasse voll und hielt sie der Dame an die Lippen.

„Es wird mir schon besser“, sagte Frau Corney, nachdem sie die Tasse halb geleert hatte.

Herr Bumble erhob voller Dankbarkeit gegen Gott seine Augen zur Zimmerdecke, senkte sie dann auf die Tasse und brachte diese an seine Nase.

„Pfefferminze“, erklärte Frau Corney mit schwacher Stimme und lächelte dabei Herrn Bumble an. „Kosten Sie es mal – es ist noch ein bißchen anderes darin.“

Dieser kostete mißtrauisch die Arznei, leckte darauf die Lippen, kostete abermals und setzte die Tasse leer nieder.

.Es ist sehr stärkend“, sagte die Dame.

„Sehr, in der Tat.“

Nach diesen Worten rückte er seinen Stuhl an die Seite der Matrone und fragte zärtlich, was ihr passiert wäre.

„Ach nichts“, versetzte Frau Corney, „ich bin ein recht törichtes, schwaches Geschöpf.“

„Nicht schwach“, sagte Bumble und rückte noch näher. „Sind Sie wirklich schwach, Frau Corney?“

„Wir sind alle schwache Geschöpfe“, erwiderte die Matrone, damit eine Bibelstelle zitierend.

„Ja, das stimmt“, meinte Herr Bumble.

Beide schwiegen einige Minuten, dann erwies der Gemeindediener die Wahrheit dieses Satzes dadurch, daß er seinen linken Arm von Frau Corneys Stuhllehne fortnahm und mit sanftern Druck um ihre Taille legte.

„Wir sind allesamt schwache Geschöpfe“, sagte Herr Bumble.

Frau Corney seufzte.

„Seufzen Sie doch nicht, Frau Corney!“

„Ich kann nicht anders“, antwortete diese und seufzte nochmal.

„Das ist ein sehr gemütliches Zimmer meinte Herr Bumble. „Noch eins dazu, und es wäre eine ideale Wohnung.“

„Das wäre für eine einzelne Person zu viel“, flüsterte die Matrone.

„Aber nicht für zwei“, flötete Herr Bumble. ..Was meinen Sie, Frau Corney?“

Bei seinen Worten senkte sie den Kopf, und er tat dasselbe, um ihr ins Gesicht sehen zu können. Frau Corney blickte züchtig seitwärts und machte ihre Hand los, um nach dem Taschentuch zu greifen. Unwillkürlich legte sie sie aber wieder in seine Hand.

„Die Behörde liefert Ihnen die Kohlen, nicht wahr?“ fragte Herr Bumble und drückte zärtlich ihre Hand.

„Und das Licht“, antwortete die Matrone, den Händedruck leicht erwidernd.

„Heizung, Licht und Wohnung frei“, sagte Herr Bumble. „Frau Corney, Sie sind ein Engel!‘

Einem derartigen Gefühlsausbruch konnte die Dame nicht widerstehen. Sie sank in Bumbles Arme, und dieser drückte einen feurigen Kuß auf ihre keusche Nase.

„Sie sind die Krone der Schöpfung“, rief Herr Bumble entzückt. „Sie wissen doch, mein Engel, daß Herr Slout heute abend kränker geworden ist?“

„Ja“, sagte Frau Corney verschämt.

„Der Doktor meint, er macht keine Woche mehr. Durch seinen Tod würde die Stelle des Armenhausvaters frei und müßte wieder besetzt werden. Ach, Frau Corney, welche Aussichten! Was für eine schöne Gelegenheit, zwei Herzen und Haushaltungen zu vereinigen!“

Frau Corney schluchzte.

„Das kleine Wörtchen“, sagte Herr Bumble und beugte sich über die verschämte Matrone. „Das einzige kleine – kleine Wörtchen, angebetete Corney!“

Ja – a – a“, hauchte die Dame.

„Und noch eins“, fuhr Herr Bumble fort, „wann soll es sein?“

Frau Corney versuchte zweimal zu sprechen, aber jedesmal versagte ihre Stimme. Endlich faßte sie sich ein Herz, schlang ihre Arme um seinen Hals und sagte, sobald es ihm beliebe, denn er wäre doch ein zu großer Schwerenöter.

Nachdem die Angelegenheit in so befriedigender Weise erledigt war, wurde der Vertrag durch eine weitere Tasse Pfefferminzarznei feierlich bestätigt, was bei der Aufregung der Dame durchaus notwendig war. Dabei erzählte Frau Corney von dem Tode des alten Weibes.

„Gut“, sagte Bumble, seinen Pfefferminz schlürfend. „ich werde auf dem Nachhauseweg bei Sowerberry vorsprechen und ihn morgen früh herschicken. – Was hat dich so erschreckt, Liebling?“

„Ach, nichts Besonderes, Lieber“, antwortete die Dame ausweichend.

„Es muß doch aber etwas gewesen sein, Schatz. Du wirst es doch deinem Bumble anvertrauen.“

„Noch nicht“, erwiderte die Dame. „Später, wenn wir verheiratet sind.“

„Wenn wir verheiratet sind?“ rief Herr Burnble. „Hat sich etwa einer der Armenhäusler eine Unverschämtheit herausge – -?“

„Nein, nein, Liebster“, fiel Frau Corney hastig ein.

„Wenn ich das denken müßte“, fuhr Herr Bumble fort „daß einer dieser Gesellen seine gemeinen Augen zu erheben wagte –“

„Keiner hätte sich das getraut, Liebling“, antwortete die Dame.

„Das ist ihr Glück“, meinte Herr Bumble drohend und ballte die Faust. „Mit dem hätte ich aber auch gesprochen, daß er es ein zweites Mal nicht getan hätte.“ Herr Bumble begleitete diese Worte mit so vielen kriegerischen Gesten, daß die Dame von diesem Beweise seiner aufopfernden Liebe äußerst gerührt wurde. Sie beteuerte mit großer Zärtlichkeit, er wäre auch „ihr liebes Täubchen“.

Das Täubchen schlug nun den Rockkragen in die Höhe, setzte seinen Dreispitz auf und umarmte seine Zukünftige zärtlich und lange. Dann ging er, um wieder dem kalten Nachtwinde Trotz zu bieten. Er hielt sich noch einige Minuten im Zimmer der männlichen Armen auf, um sie ordentlich auszuschimpfen und sich selbst den Beweis zu erbringen, daß er dem Amte eines Armenhausvaters mit der nötigen Strenge vorzustehen imstande sei. Mit sich selbst zufrieden und voll schöner Träume hinsichtlich seiner zukünftigen Beförderung verließ er das Armenhaus und erreichte bald den Laden des Herrn Sowerberry.

Dieser war mit seiner Frau zu einer Abendgesellschaft eingeladen und deshalb abwesend. Da Noah Claypole zu keiner Zeit geneigt war, sich weitergehenderen physischen Anstrengungen zu unterziehen, als die Funktionen des Essens und Trinkens es erforderten, so stand der Laden offen, obgleich die Ladenschlußstunde längst vorbei war.

Herr Bumble klopfte mit einem Stock verschiedene Male vergebens auf den Ladentisch. Durch das Glasfenster des kleinen hinter dem Laden befindlichen Zimmers sah er Licht schimmern. Er trat heran, um zu sehen, was drinnen vorging. Was sich seinen Augen darbot, war erstaunlich.

Der Tisch war gedeckt und mit Brot und Butter, Tellern und Gläsern, einem Kruge schäumenden Bieres und einer Flasche Wein besetzt. Am oberen Ende der Tafel rekelte sich Herr Noah Claypole in einem Armsessel und hatte ein mächtiges Butterbrot in der Hand. Dicht neben ihm stand Charlotte und öffnete Austern, die Herr Claypole mit Gier verschlang. Eine ungewöhnliche Röte in der Nasengegend deutete an, daß der junge Herr angetrunken war.

„Hier ist noch eine riesig fette, lieber Noah“, sagte Charlotte, „die mußt du noch essen, die eine noch.“

„Wie gut doch Austern schmecken“, bemerkte Herr Claypole, nachdem er sie geschlürft hatte. „Schade, daß man nicht unendlich viel davon essen kann, ohne unwohl zu werden.“

„Ja, ’s ist wirklich traurig“, stimmte Charlotte zu. „Willst du noch eine, sieh mal diese mit dem schönen Bart?“

„Kann keine mehr unterbringen“, antwortete Noah, „tut mir leid! – Komm her, Charlotte, ich will dir einen Kuß geben.“

„Was?“ schrie Bumble, in das Zimmer stürzend, „willst du das nochmal sagen, Bürschchen?“

Charlotte stieß einen Schrei aus und verbarg ihr Gesicht hinter der Schürze, während Herr Claypole, ohne seine Stellung zu verändern, in trunkenem Schrecken den Gemeindediener anstarrte.

„Willst du das noch einmal sagen, du schamloser Wicht?“ tobte Herr Bumble. „Wie kannst da so etwas in den Mund nehmen; Schlingel? Und wie können Sie sich unterstehen, ihn dazu zu ermutigen, Sie freches Weibsbild, Sie? Von Küssen reden! Pfui!“

„Ich wollte es gar nicht“, sagte Noah weinerlich. „Sie küßt mich immer, ob ich es will oder nicht.“

„Ach, Noah!“ rief Charlotte vorwurfsvoll.

„Ist’s etwa nicht wahr? Du kannst es nicht abstreiten“, erwiderte Noah. „Immer küßt sie mich und faßt mich ans Kinn und ist zärtlich zu mir.“

„Schweig!“ schrie Herr Bumble streng.“ Packen Sie sich, Mamsell, und du, Noah, machst den Laden zu und redest kein Wort mehr, bis dein Meister nach Hause kommt – auf deine eigene Gefahr. Wenn er kommt, so sagst du ihm, Herr Bumble sei dagewesen, und der Meister solle morgen früh einen Sarg für ’ne alte Frau nach dem Armenhaus schicken. Hörst du, Bengel? – Küssen! Die Sündhaftigkeit und Verderbtheit der unteren Klassen in dieser Gemeinde ist himmelschreiend. Da müßte das Parlament einschreiten!“ Mit diesen Worten verließ er in würdevoller Haltung das Haus des Sarglieferanten.

Nun wollen wir uns ein wenig nach dem jungen Oliver Twist umsehen und schauen, ob er noch in dem Graben liegt, wo Sikes und Toby Crackit ihn verlassen haben.

Sieht sich nach Oliver um und berichtet über seine weiteren Abenteuer

„Daß euch die Wölfe an die Gurgel führen“, knirschte Sikes und legte den verwundeten Oliver über sein gebeugtes Knie, um sich nach seinen Verfolgern umzusehen.

Der Nebel und die Dunkelheit ließ nur wenig erkennen. Das Rufen der Menschen und Bellen der Hunde erfüllte die Luft, und schauerlich tönte die Sturmglocke.

„Halt, du feiger Hund“, rief der Einbrecher Toby Crackit nach, der von seinen langen Beinen den besten Gebrauch machte und schon einigen Vorsprung gewonnen hatte. „Halt!“

Die Wiederholung dieses Wortes brachte Toby zum Stehen, denn er war sich nicht ganz klar darüber, ob er schon außer Pistolenschußweite sei. Sikes schien in einer Laune zu sein, die keinen Scherz vertrug.

„Hilf mir den Jungen weiterschaffen“, brüllte Sikes, seinem Kumpan energisch zuwinkend. „Komm zurück!“

Toby tat, als ob er umkehre, wagte jedoch mit leiser, atemloser Stimme einige Einwendungen zu machen.

„Schneller!“ schrie Sikes, legte Oliver in einen trockenen Graben und zog die Pistole aus der Tasche. „Halte mich ja nicht zum Narren!“

In diesem Augenblick wurde der Lärm lauter, und als Sikes sich umsah, bemerkte er, daß die Verfolger schon über den Zaun des Feldes kletterten, auf dem er sich befand. Ein paar Hunde rannten bereits vorweg.

„Ist nichts mehr zu wollen, Bill“, rief Toby. „Laß den Jungen liegen und türme!“

Mit diesen Worten machte Herr Crackit rechtsum und rannte davon, so schnell ihn die Beine tragen konnten.

Sikes knirschte mit den Zähnen, sah sich nochmal schnell um und bedeckte Oliver mit dem Mantelkragen. Dann lief er längs der Hecke hin, um die Aufmerksamkeit der Verfolger von der Stelle, wo der Junge lag, abzulenken. An einer zweiten Hecke, die mit der ersten im rechten Winkel zusammenstieß, stand er still und setzte dann mit einem kühnen Sprung drüber weg, nachdem er noch vorher seine Pistole fortgeworfen hatte.

„Caesar! Neptun! Hierher! Zurück!“ rief eine zittrige Stimme. Die Hunde, die auch kein großes Vergnügen an der Hetzjagd zu haben schienen, gehorchten sofort. Und drei Männer machten nun halt, um gemeinsam zu beraten.

„Mein Rat – das heißt mein Befehl – ist, daß wir sofort wieder nach Hause gehen“, sagte der dickste von den dreien.

„Mir ist alles recht, was Herr Giles für richtig hält“, versetzte ein kleinerer, aber keineswegs schlanker Mann, der sehr blaß aussah und äußerst höflich war, wie man das häufig bei furchtsamen Leuten findet.

Ich möchte nicht unmanierlich erscheinen, meine Herren“, sagte der dritte Mann, der die Hunde zurückgerufen hatte, „Herr Giles muß es am besten wissen!“

„Gewiß“, sagte der kleinere, „und was auch immer Herr Giles sagen mag, wir dürfen ihm nicht widersprechen. Ich weiß, was sich gehört. Gott sei Dank weiß ich das!“ Dabei klapperten ihm die Zähne im Munde vor Furcht.

„Du fürchtest dich, Brittles!“ sagte Herr Giles.

„Durchaus nicht.“

„Doch“, meinte Herr Giles.

„Ist ein Irrtum“, entgegnete Brittles.

„Du lügst, Brittles!“ rief Herr Giles.

Der dritte Mann schlichtete den Streit In höchst philosophischer Weise, indem er meinte, daß sie sich alle drei fürchteten.

„Da mögt Ihr für Euch selbst gesprochen haben“, versetzte Herr Giles, der am meisten blaß war.

„Allerdings“ erwiderte jener, „es ist doch ganz natürlich, daß man sich in solcher Lage fürchtet. Ich fürchte mich.“

„Ich auch“, sagte Brittles, „aber es ist unnötig, daß einem das geradezu ins Gesicht gesagt wird.“

Diese freimütigen Eingeständnisse besänftigten Herrn Giles, der nun auch gestand, daß er sich gleichfalls fürchte. Alle drei machten jetzt kehrt und liefen in schönster Eintracht zurück. Nach einer kleinen Weile bestand der engbrüstige Herr Giles darauf, daß ausgeruht werde, außerdem wolle er sich für seine vorigen übereilten Worte entschuldigen.

„Es ist doch erstaunlich“, fuhr Herr Giles fort, nachdem er einige Entschuldigungsworte gesagt hatte, „wozu ein Mensch fähig sein kann, wenn sein Blut in Wallung gekommen ist. Ich hätte einen Mord begangen, wenn uns einer der Spitzbuben in die Hände gefallen wäre!“

Die beiden anderen meinten, sie hätten gegebenenfalls auch gemordet.

Dieses Gespräch führten die zwei Männer, welche die Einbrecher bei ihrer Tat überrascht hatten, und ein wandernder Kesselflicker, der in einem Nebengebäude ein Nachtlager erhalten hatte. Dieser hatte sich mit seinen zwei Hunden der Diebesjagd angeschlossen. Herr Giles versah in der Villa der alten Dame den Dienst eines Haus- und Kellermeisters, und Brittles war das Faktotum. Er war schon als Kind zu der alten Dame gekommen, und obgleich er bereits in den Dreißigern war, wurde er immer noch wie ein Junge behandelt.

Die drei eilten nun auf den Baum zu, wo sie ihre Laterne hatten stehenlassen, und nahmen sie an sich. Dann trabten sie heim.

Mit Tagesanbruch wurde es kälter, und dichter Nebel bedeckte das Land. – Oliver lag noch immer bewußtlos da, wo Sikes ihn hingelegt hatte. Es fing stark zu regnen an, aber Oliver fühlte die Nässe nicht. Nach einer ganzen Weile weckte ihn ein heftiger Schmerz, und er schrie laut auf. Sein linker, mit einem Halstuch notdürftig verbundener Arm hing schwer und regungslos an seiner Seite nieder, und der Verband war mit Blut getränkt. Er war so schwach, daß er sich kaum aufrichten konnte. Er machte dann den Versuch, sich zu erheben, aber es war vergebliches Bemühen, er fiel der Länge nach zu Boden.

Nachdem sich Oliver von diesem neuen Ohnmachtsanfalle erholt hatte, sagte er sich, daß er unfehlbar sterben müsse, wenn er liegenbleibe. Er versuchte deshalb aufs neue aufzustehen und zu gehen. Ihm war schwindelig, und er wankte wie ein Betrunkener hin und her. Er hielt sich trotzdem auf den Beinen und taumelte mit herabhängendem Kopfe vorwärts, ohne zu wissen wohin. Er kroch fast mechanisch durch die Lücken der Hecken, die ihm den Weg versperrten, bis er eine Straße erreichte. Er sah sich um und sah in nicht allzu großer Entfernung ein Haus, das er möglicherweise erreichen konnte. Vielleicht hatte man dort Mitleid mit ihm, und wenn nicht, dünkte es ihn besser, in der Nähe menschlicher Wesen als einsam auf freiem Felde zu sterben. Er nahm seine ganze Kraft zusammen und wankte auf das Haus zu. Als er näherkam, erinnerte er sich, es schon früher gesehen zu haben. Auf Einzelheiten konnte er sich zwar nicht besinnen, aber das Äußere des Gebäudes kam ihm bekannt vor.

Ach, diese Gartenmauer! Und dort auf dem Rasen hatte er vor den beiden Halunken auf den Knien gelegen. Es war dasselbe, in das sie eingebrochen waren.

Als Oliver dies erkannte, bemächtigte sich seiner eine solche Furcht, daß er darüber seine schmerzende Wunde ganz vergaß und nur an Flucht dachte. Flucht? Er konnte ja kaum stehen, und wenn er auch im vollen Besitz seiner Kräfte gewesen wäre, wohin hätte er fliehen können? Er stieß die Gartentür auf, sie war unverschlossen. Er wankte über den Rasenplatz, klomm die Eingangstreppe hinauf und klopfte leise an die Tür. Dann schwanden seine Sinne, und er sank ohnmächtig nieder.

Zur selben Zeit erholten sich die Herren Giles und Brittles sowie der Kesselflicker von den Strapazen der Nacht durch eine Tasse Tee und allerlei Kleinigkeiten. Es war sonst nicht die Art des Herrn Giles, sich zu einer allzu großen Vertraulichkeit gegen Untergebene herabzulassen. Gegen diese benahm er sich eher mit einer gewissen würdevollen Leutseligkeit, die, so gewinnend sie war, doch stets an seine höhere Stellung erinnerte. Aber Tod, Feuersnot und Einbruch machen alle Menschen gleich. Also Herr Giles saß mit ausgestreckten Beinen vor dem Küchenherd, den linken Ellenbogen auf den Tisch gestützt, und gestikulierte lebhaft mit dem rechten Arm, als er seinen Zuhörern einen genauen und umständlichen Bericht des Einbruchs gab. Diese hörten mit atemloser Spannung zu, besonders aber das Hausmädchen und die Köchin.

„Es war ungefähr halb drei Uhr“, erzählte Herr Giles, „ich will aber nicht darauf schwören, ob es nicht vielleicht ein bißchen näher an drei war – als ich aufwachte, mich in meinem Bette umdrehte, etwa so –“ hier drehte sich Herr Giles in seinem Stuhle und zog den Zipfel des Tischtuches über sich hin, um dadurch die Bettdecke zu versinnbildlichen – „und ein Geräusch zu hören glaubte!“

Bei dieser Stelle der Erzählung erblaßte die Köchin und forderte das Hausmädchen auf, die Türe zu schließen; diese sagte es Brittles; Brittles beauftragte damit den Kesselflicker, und dieser tat so, als ob er es nicht höre.

„Ich glaubte ein Geräusch zu hören“, fuhr Herr Giles fort, „doch sagte ich mir anfangs, es sei eine Täuschung. Gerade schickte ich mich an, wieder einzuschlafen, als ich das Geräusch aufs neue und deutlicher vernahm.“

„Was war es denn für ein Geräusch?“ fragte die Köchin.

„So eine Art von knarrendem Geräusch“, antwortete Herr Giles.

„Ich meine, es hörte sich eher so an, als wenn man eine Eisenstange über ein Reibeisen zieht“, sagte Brittles.

„So war es, als du es hörtest“, versetzte Herr Giles, „aber damals hatte es einen knarrenden Ton. Ich warf die Bettdecke ab, setzte mich im Bette auf und horchte.“

„Ach, du lieber Himmel“, riefen die Köchin und das Hausmädchen gleichzeitig und rückten mit den Stühlen näher zusammen.

„Ich hörte es jetzt ganz deutlich“, fuhr Herr Giles fort, „und sagte mir: da will jemand einbrechen; was tun? Zuerst den armen Jungen, den Brittles, wecken, damit er nicht im Bett umgebracht oder ihm die Kehle durchgeschnitten wird, ohne daß er es merkt.“

Hier richteten sich aller Blicke auf Brittles, der den Erzähler mit offenem Munde anstarrte, während sich auf seinem Gesicht Entsetzen malte.

„Ich warf also die Bettdecke beiseite“, berichtete Herr Giles weiter, und er nahm dasselbe Manöver mit dem Tischtuch vor, „stand leise auf, zog meine –“

„Es sind Damen anwesend, Herr Giles“, flüsterte ihm der Kesselflicker zu.

„- Schuhe an“, fuhr Giles mit großem Nachdruck fort und sah den Unterbrecher groß an, „langte nach der geladenen Pistole, die mit dem Silberzeugkasten immer heraufgebracht wird, und schlich auf den Zehen zu seiner Kammer. Als ich ihn weckte, sprach ich: ‚Brittles, erschrick nicht‘.“

„Ja, so sagten Sie“, bemerkte dieser leise.

„Wir sind verloren, aber hab keine Angst, Brittles!“

„War er erschrocken?“ fragte die Köchin.

„Nicht im geringsten“, erwiderte Herr Giles. „Er war so mutig – fast so unverzagt wie ich!“

„Wenn mir das passiert wäre, ich wäre auf der Stelle gestorben“, meinte das Hausmädchen.

„Sie sind eben ein Weib“, sagte Brittles, der den tapferen Helden herausbiß.

„Brittles hat recht“, sagte Herr Giles mit beifälligem Kopfnicken, „von Weibern läßt sich nichts anderes erwarten. Wir aber, als Männer, nahmen Brittles Laterne und tappten in der stockfinsteren Nacht die Treppe hinunter – ungefähr so.“

Herr Giles war von seinem Stuhl aufgestanden und, um seine Schilderung durch geeignete Mimik zu beleben, mit geschlossenen Augen einige Schritte vorwärts gegangen. Plötzlich fuhr er sowohl, als auch die übrige Gesellschaft heftig zusammen und eilte zu seinem Stuhle zurück. Die Köchin und das Hausmädchen kreischten.

„Man hat an die Haustür geklopft“, sagte Herr Giles, „jemand muß öffnen gehen.“

Niemand rührte sich.

„Es ist doch komisch, daß man am frühen Morgen schon Einlaß begehrt“, meinte Herr Giles, leichenblaß im Gesicht. „Aber die Tür muß aufgemacht werden. Jemand muß öffnen! Hört ihr nicht?“

Er sah bei diesen Worten Brittles an, dieser schien sich aber aus Bescheidenheit nicht als „Jemand“ zu betrachten. Er gab jedenfalls keine Antwort. Herr Giles heftete seinen Blick nun fragend auf den Kesselflicker, aber dieser war plötzlich eingeschlafen, und von dem weiblichen Personal konnte von vornherein natürlich nicht die Rede sein.

„Wenn Brittles die Tür lieber in Gegenwart von Zeugen öffnen will“, meinte Giles nach kurzem Schweigen, „so will ich gern mitgehen.“

„Ich auch“, fügte der Kesselflicker hinzu, der ebenso schnell wieder, aufwachte, als er eingeschlafen war.

Auf diese Bedingungen hin kapitulierte Brittles, und als man beim Öffnen der Fensterläden sah, daß es heller Tag sei, ging die ganze Gesellschaft mit den Hunden die Treppe hinunter, wobei die Weiber die Nachhut bildeten. Herr Giles riet, den Hunden in die Schwänze zu kneifen, damit sie recht wütend bellten und dadurch einem draußenstehenden Feinde Angst und Schrecken einjagten. Dann faßte er den Kesselflicker fest am Arm, damit dieser nicht ausrücke, wie er scherzend sagte, und befahl nun die Tür zu öffnen. Brittles gehorchte, ängstlich sah einer dem andern über die Schulter, aber nichts Verdächtiges war zu sehen. Nur der kleine Oliver Twist lag da, erschöpft und blaß, und schlug die Augen stumm um Mitleid flehend auf.

„Ein Junge!“ rief Herr Giles und drängte den Kesselflicker mutig zurück. „Was ist mit ihm los? Sieh mal, Brittles, erkennst du ihn?“

Dieser stieß, als er Oliver erkannte, einen lauten Schrei aus. Herr Giles ergriff den Jungen bei einem Arme und einem Beine – zum Glück nicht bei dem verwundeten – und zog ihn in den Hausflur.

„Hier ist er!“ schrie Herr Giles mächtig aufgeregt die Treppe hinauf. „Hier ist einer der Diebe, gnädige Frau! Wir haben einen Spitzbuben erwischt, gnädiges Fräulein! Er ist verwundet, ich habe ihn getroffen.“

Die Köchin und das Hausmädchen eilten die Treppe hinan, um die Nachricht zu hinterbringen, daß Herr Giles einen Einbrecher gefangen habe. Der Kesselflicker gab sich inzwischen die größte Mühe, Oliver wieder zu sich zu bringen, damit er nicht stürbe, bevor er gehängt würde. – Durch diesen Lärm ließ sich jetzt eine sanfte weibliche Stimme vernehmen, die sofort dem Tumult ein Ende machte. „Giles!“

„Hier bin ich, gnädiges Fräulein. Erschrecken Sie nicht, ich bin nicht zu Schaden gekommen. Er leistete keinen besonders starken Widerstand.“

„Pst!“ machte die junge Dame, „nicht so laut. Ist der arme Mensch schwer verwundet?“

„Sehr schwer, gnädiges Fräulein“, erwiderte Giles selbstgefällig.

„Es sieht so aus, als ob es mit ihm zu Ende ginge, gnädiges Fräulein“, brüllte Brittles nach oben. „Wollen Sie nicht herunterkommen und ihn ansehen, falls er –“

„Aber schreien Sie doch nicht so entsetzlich“, sagte die junge Dame, „ich werde mit meiner Tante sprechen.“

Sie eilte leichtfüßig weg und kehrte bald wieder mit dein Befehl zurück, den Verwundeten auf Herrn Giles Zimmer zu tragen. Brittles aber sollte nach Chertsey reiten und so schnell wie möglich einen Polizisten und einen Arzt holen.

„Wollen Sie nicht mal einen Blick auf ihn werfen, gnädiges Fräulein?“ fragte Giles stolz, als wenn Oliver ein seltener Vogel wäre, den er dank seiner Geschicklichkeit erlegt hatte.

„Jetzt nicht, nicht um alles in der Welt. Armer Kerl! Behandeln Sie ihn gut, Giles – um meinetwillen.“

Der alte Diener sah zu der Sprecherin, wie sie sich entfernte, voller Stolz und Bewunderung auf; als wäre sie seine eigene Tochter. Dann beugte er sich über Oliver und half ihn mit fast weiblicher Sorgfalt die Treppe hinauftragen.

Gibt einen einleitenden Bericht über die Bewohner des Hauses, in das Oliver geflüchtet war

In einem hübschen Zimmer mit altmodischen, aber bequemen Möbeln saßen zwei Damen an einem wohlbesetzten Frühstückstisch. Herr Giles in schwarzem Anzug wartete auf. Er stand kerzengerade zwischen dem Büfett und dem Frühstückstisch, hocherhobenen Hauptes, den linken Fuß vorgestellt und die rechte Hand in die Weste gesteckt. In der Linken hielt er ein Tablett und schien von der Wichtigkeit seiner Person ganz durchdrungen zu sein.

Die eine der Damen war schon hoch in Jahren, aber ihre Haltung war noch so gerade wie die steife Rückenlehne des Eichenstuhls, auf dem sie saß. Ihre Kleidung war gewählt aber altmodisch, mit einigen Zugeständnissen an den Tagesgeschmack, was aber dem Kostüm nur zum Vorteil gereichte. Würdevoll, mit gefalteten Händen, saß sie da und hatte ihre Augen – deren Glanz das Alter kaum hatte trüben können – auf ihre Gesellschafterin gerichtet. Diese, im Frühling ihres Lebens, war eine Jungfrauengestalt von solcher Lieblichkeit, daß wir in ihr ohne Vermessenheit die Wohnung eines Engels vermuten dürften, wenn es den Zwecken Gottes entspräche, die Himmelsbewohner in sterbliche Hüllen zu kleiden.

Sie befand sich im siebzehnten Lebensjahre, und ihre Erscheinung war so zierlich und edel, so mild und zart, so rein und schön, als sei die Erde nicht ihre Heimat und paßten deren Bewohner nicht für sie als Umgang. Der Geist, der aus ihren dunkelblauen Augen strahlte, schien weder ihrem Alter noch der Welt anzugehören. Ihr Lächeln aber, das frohe, glückliche Lächeln, verhieß häuslichen Frieden und häusliches Glück.

Sie war eifrig mit dem Zubereiten des Tees beschäftigt, und wenn sie zufällig die Augen erhob und die alte Dame sah, legte sie in den Blick so viel Zärtlichkeit und Liebe, daß selbst selige Geister bei ihrem Anblick wohlgefällig gelächelt hätten.

„Brittles ist bereits eine Stunde fort, nicht wahr, Giles?“ fragte die alte Dame.

„Eine Stunde und zwölf Minuten, gnädige Frau“, versetzte Herr Giles, auf seine silberne Uhr blickend, die er an einer schwarzen Schnur trug.

„Er ist immer so langsam“, bemerkte die Dame.

„Brittles war immer ein langweiliger Junge“, meinte Giles.

„Es wird mit ihm immer schlimmer anstatt besser“, sagte die alte Dame.

„Es wäre unverantwortlich, wenn er sich unterwegs aufhielte, um etwa mit anderen Jungen zu spielen“, fügte die junge Dame lächelnd hinzu.

Herr Giles überlegte gerade, ob es sich mit dem Respekt vertrüge, selbst ein wenig zu lächeln, als ein Einspänner vorfuhr, aus dem ein dicker Herr sprang und durch das Haus in das Zimmer stürzte, wo er beinahe Herrn Giles und den Frühstückstisch umgerannt hätte.

„Das ist ja unerhört!“ rief der dicke Herr. „Meine beste Frau Maylie – um Himmelswillen – und noch dazu mitten in der Nacht – so was ist mir noch nicht vorgekommen!“

Unter diesen Teilnahmebezeugungen schüttelte er beiden Damen die Hände, nahm Platz und fragte, wie es ihnen ginge.

„Sie hätten vor Schreck tot umfallen können – auf der Stelle. Warum schickten Sie nicht zu mir? Mein Diener wäre in einer Minute hiergewesen – ebenso ich und mein Assistent. Wir wären glücklich gewesen, Ihnen gefällig sein zu können. Unter solchen Umständen! So unerwartet und mitten in der Nacht.“

Der Doktor schien besonders darüber empört zu sein, daß der Einbruch so unerwartet und zur Nachtzeit versucht wurde, als ob es bei den Herren Mitgliedern der Verbrecherzunft üblich wäre, um die Mittagszeit an ihr Geschäft zu gehen und ihre Absicht ein paar Tage vorher durch die Post anzukündigen.

„Und Sie, Fräulein Rosa?“ fragte der Doktor, sich an die junge Dame wendend. „Ich –“

„Mir geht’s gut“, fiel ihm Rosa ins Wort, „aber oben liegt ein armer Mensch verwundet, und die Tante wünscht, Sie möchten nach ihm sehen.“

„Ach ja, richtig“, sagte der Doktor. „Das ist Ihr Werk, Giles, wie ich höre.“

Dieser errötete stark und erwiderte, er habe die Ehre gehabt.

„Die Ehre?“ fragte der dicke Herr, „nun ich weiß nicht; vielleicht ist es ebenso ehrenvoll, einen Dieb in einer Waschküche, wie einen Gegner auf zwölf Schritte zu treffen. Nehmen Sie an, er hätte in die Luft geschossen und Sie haben ein Duell gehabt, Giles.“

Herr Giles, der die scherzhafte Behandlung des Gegenstandes als einen ungerechten Versuch ansah, sein Verdienst zu schmälern, antwortete ehrerbietig, daß es seinesgleichen nicht zustände, ein Urteil abzugeben, daß er aber des Glaubens sei, die Sache sei für die Gegenpartei kein Spaß gewesen.

„Ohne Zweifel, ohne Zweifel“, sprach der Doktor. „Wo ist er? Führen Sie mich zu ihm. Wenn ich herunterkomme, spreche ich bei Ihnen nochmals vor, Frau Maylie. Das ist also das kleine Fenster, durch das er hereinkam? Das hätte ich kaum für möglich gehalten!“

Plaudernd folgte er Herrn Giles die Treppe hinauf. Inzwischen erlaube ich mir dem Leser mitzuteilen, daß Herr Losberne ein im Umkreise von zehn Meilen als „Der Doktor“ bekannter Wundarzt war, der seine Beleibtheit mehr seinem heiteren Gemüt als einem üppigen Leben verdankte. Er war ein gemütlicher und biederer, aber etwas wunderlicher alter Junggeselle, wie man ihn in einem fünfmal größeren Umkreise kaum wiederfindet.

Der Doktor blieb länger fort, als die Damen dachten. Es wurde ein flacher Kasten aus dem Wagen geholt, ziemlich oft geklingelt, und die Dienstboten liefen ununterbrochen die Treppen hinauf und hinunter; lauter Zeichen, aus denen man schließen konnte, daß oben etwas Wichtiges vorgehen müsse. Endlich kam er zurück, machte ein geheimnisvolles Gesicht und schloß die Tür behutsam hinter sich.

„Das ist etwas ganz Außerordentliches, Frau Maylie“, begann der Doktor und stellte sich mit dem Rücken gegen die Tür, als ob er verhindern wolle, daß jemand hereinkäme.

„Hoffentlich ist die Verwundung nicht gefährlich?“ fragte die alte Dame.

„Nun, das wäre den Umständen nach nichts Außergewöhnliches“, erwiderte der Doktor, „obgleich ich nicht glaube, daß es der Fall ist. Haben Sie den Dieb gesehen?“

„Nein“, sagte die alte Dame.

„Auch nichts über ihn gehört?“

„Nein.“

„Verzeihung, gnädige Frau“, fiel Giles ein, „ich wollte gerade von ihm erzählen, als Herr Doktor kam.“

Die Sache verhielt sich eigentlich so, daß Herr Giles es nicht hatte über sich gewinnen können, einzugestehen, das Opfer seines Schusses sei bloß ein Kind gewesen. Da er im Augenblick noch auf dem Gipfel seines Ruhmes stand und um seiner Heldentat willen von allen Seiten mit Lobsprüchen überhäuft wurde, so hätte es ihm schier das Herz gebrochen, wenn er nicht die Aufklärung, die aller seiner Herrlichkeit ein Ende machen mußte, um einige köstliche Minuten hätte hinausschieben können.

„Rosa wünschte den Menschen zu sehen“, sagte Frau Maylie, „ich habe es aber nicht zugegeben!“

„Hm“, meinte der Doktor, „es ist nichts besonders Abschreckendes in seinem Äußern. Haben Sie etwas gegen einen Besuch in meiner Anwesenheit?“

„Wenn es nötig ist, gewiß nicht“, erwiderte die alte Dame.

„Dann möchte ich darum bitten“, sagte der Doktor, Jedenfalls bin ich überzeugt, daß Sie es später bereuen würden, wenn Sie es unterlassen hätten. Er ist vollkommen ruhig und gut versorgt. Darf ich bitten, Fräulein Rosa? – Sie brauchen keine Angst zu haben, mein Ehrenwort!“

Was die beiden Damen und Doktor Losberne von Oliver dachten

Unter vielen geschwätzigen Versicherungen, daß sie der Anblick des Verbrechers angenehm überraschen werde, bot der Doktor Fräulein Rosa den Arm, reichte Frau Maylie die andere Hand -und führte die Damen mit etwas altfränkischer Galanterie die Treppe hinauf.

„Nun“, sagte der Doktor leise, als er sachte auf die Klinke der Tür drückte, „ich bin gespannt zu hören, was Sie von ihm halten. Er ist zwar unrasiert, sieht aber trotzdem nicht wie ein Räuber aus. Einen Augenblick – ich will erst nochmal nachsehen, ob er in der Verfassung ist, Besuch zu empfangen!“

Er ging zuerst ins Zimmer, sah sich darin um, winkte dann seinen Begleiterinnen hereinzukommen, schloß die Tür und schob langsam die Bettgardine zurück. Man sah im Bett statt eines wüst aussehenden Verbrechers, wie man erwartete, ein Kind, das vor Schmerz und Erschöpfung in tiefen Schlaf versunken war. Der verwundete Arm lag verbunden auf seiner Brust, während der Kopf auf dem anderen ruhte, der durch Olivers lang hinabwallendes Haar fast verdeckt wurde.

Der wackere Doktor hielt die Gardine in der Hand und sah den Kleinen schweigend an. Inzwischen trat die junge Dame näher und setzte sich auf einen Stuhl neben dem Bette. Sie strich dem Jungen das Haar aus dem Gesicht, und als sie sich über ihn beugte, fielen einige Tränen auf seine Stirn.

Oliver regte sich und lächelte im Schlaf, als ob dieses Zeichen von Mitleid und Erbarmen irgendeinen süßen Traum von nie gekannter Liebe in ihm hervorriefe.

„Was bedeutet das nur?“ rief die alte Dame. „Dieser arme Junge kann doch nie und nimmer ein Spitzbube sein.“

„Das Laster“, seufzte der Arzt und zog die Gardine wieder zu, „schlägt seinen Wohnsitz in gar vielen Tempeln auf, und wer kann sagen, ob es sich nicht auch hinter einer schönen Außenseite versteckt.“

„Aber doch nicht in so früher Jugend?“ meinte Rosa.

„Mein liebes Fräulein“, entgegnete der Doktor, traurig den Kopf schüttelnd, „das Laster ähnelt dem Tode und beschränkt sich nicht allein auf die Alten und Abgelebten, es sucht sich nur zu oft unter den Jüngsten und Schönsten seine Opfer.“

„Ach können Sie wirklich glauben, daß dieser zarte Knabe sich freiwillig dem Auswurf der Menschheit angeschlossen hat?“ fragte Rosa.

Der Doktor bewegte den Kopf in einer Weise, die anzudeuten schien, daß er es für möglich halte; dann führte er die Damen mit der Bemerkung, der Kranke könnte gestört werden, in ein anstoßendes Zimmer.

„Aber selbst, wenn er verbrecherisch gewesen wäre“, fuhr Rosa fort, „bedenken Sie, wie jung er ist. Vielleicht hat er nie Mutterliebe, vielleicht nie ein Heim gekannt und ist durch schlechte Behandlung, Prügel oder Hunger an Menschen geraten, die ihn zu Verbrechen zwangen. Tante, liebste Tante, bedenken Sie das, ehe Sie das kranke Kind ins Gefängnis schleppen lassen, das jedenfalls das Grab für jede Möglichkeit einer Besserung werden muß. Haben Sie daher Mitleid mit ihm, ehe es zu spät ist!“

„Liebes Kind“, sagte die alte Dame und drückte das weinende Mädchen an ihre Brust, „glaubst du, ich werde dem .Knaben ein Haar krümmen lassen?“

„O nein, sicher nicht“, versetzte Rosa lebhaft.

„Meine Tage sind gezählt“, fuhr die alte Dame fort, „und der HErr wird mir gnädig und barmherzig sein, wie ich auch mit anderen Erbarmen habe! Was kann ich zur Errettung des Knaben tun, Herr Doktor?“

„Ich will darüber nachdenken, gnädige Frau. Muß mal überlegen.“

Herr Losberne steckte die Hände in die Tasche und ging einigemal im Zimmer auf und ab. Er zog die Stirn in ernste Falten und murmelte vor sich hin: „ich hab’s“ und dann auch wieder: „nein, so geht’s nicht“. Endlich blieb er stehen und hob an:

„Wenn Sie mir unbeschränkte Vollmacht geben Giles und Brittles, den großen Jungen, ins Bockshorn zu jagen, glaube ich, läßt’s sich machen. Sie können es ihnen ja wiedergutmachen. Nicht wahr, Sie haben nichts einzuwenden?“

„Nein, vorausgesetzt, daß es kein anderes Mittel zur Rettung des Kindes gibt“, erwiderte Frau Maylie.

„Es gibt kein anderes, mein Wort darauf.“

„Dann gibt Ihnen Tante unbeschränkte Vollmacht“, sagte Rosa unter Tränen lächelnd. „Aber gehen Sie nicht härter mit den beiden um, als unumgänglich nötig ist.“

„Sie scheinen zu glauben“, entgegnete der Doktor, „daß alle Welt heute hartherzig ist, Sie selbst ausgenommen, Fräulein Rosa. Ich will nur hoffen, daß der erste Ihrer würdige junge Mann, der Ihr Mitgefühl in Anspruch nimmt, Sie in einer ebenso weichherzigen Stimmung treffen möge; und ich möchte wünschen, selbst ein junger Bursche zu sein, um von der günstigen Gelegenheit Nutzen ziehen zu können.“

„Sie sind ein ebenso großes Kind wie unser Brittles“, versetzte Rosa rotwerdend.

„Nun“, sagte der Doktor mit herzlichem Lachen, „dazu gehört nicht viel; aber um auf unsern Jungen zurückzukommen. Den Hauptpunkt unseres Übereinkommens haben wir noch gar nicht erörtert. Er wird etwa in einer Stunde aufwachen; und obgleich ich dem schafsköpfigen Ortspolizisten gesagt habe, daß man mit dem Jungen wegen seines gefährlichen Zustandes nicht sprechen dürfe, glaube ich doch, daß wir es unbedenklich tun können. Ich stelle nun die Bedingung, daß ich ihn in Ihrer Gegenwart ausfragen darf. Lassen seine Antworten erkennen, – und und ich halte es für mehr als möglich – daß er wirklich durchaus verdorben ist, so soll er ohne weiteres seinem Schicksal überlassen werden, wenigstens ich kümmere mich dann nicht mehr um ihn.“

„O nein, Tante!“ flehte Rosa.

„Doch, Tante!“ sagte der Doktor. „ist es abgemacht?“

„Er kann kein hartgesottener Verbrecher sein“, meinte Rosa, „das ist unmöglich.“

„Nun also“, erwiderte der Doktor, „um so weniger ist Grund vorhanden, auf meinen Vorschlag nicht einzugehen.“

Man einigte sich schließlich und setzte sich, um Olivers Erwachen zu erwarten.

Die Geduld der beiden Damen wurde auf eine härtere Probe gestellt, als man nach Herrn Losbernes Reden annehmen konnte. Stunde auf Stunde verging, und immer noch lag Oliver im tiefsten Schlaf. Es war Abend geworden, als ihnen der Doktor mitteilen konnte, daß Oliver erwacht und verhandlungsfähig sei. Der Junge wäre allerdings durch den großen Blutverlust sehr geschwächt, aber sein Gewissen verlange so dringend etwas zu beichten, daß es besser wäre, ihn reden zu lassen, als ihm bis morgen Ruhe und Schweigen zu verordnen, was unter anderen Umständen ratsamer gewesen wäre.

Die Unterredung währte lange, denn Oliver erzählte ihnen seine ganze Lebensgeschichte und mußte verschiedenemal vor Schmerz und Schwäche innehalten. Es hörte sich feierlich an, als im dunklen Zimmer die schwache Stimme des kranken Kindes flüsterte und einen traurigen Bericht gab von dem Jammer, Elend und Leiden, die schlechte, grausame Menschen über ihn gebracht hatten.

Sobald die Beichte zu Ende war, wurde Oliver wieder zur Ruhe gebracht, und der Doktor begab sich hinunter, um Herrn Giles aufs Korn zu nehmen. Er wischte sich die Augen und verfluchte dieselben wegen ihrer Schwäche.

In der Küche waren alle Dienstboten versammelt, Herr Giles, Herr Brittles, das weibliche Personal, der Kesselflicker, der in Anbetracht seiner geleisteten Dienste eine besondere Einladung erhalten hatte und der schafsköpfige Polizist. Dieser hatte einen Polizeiknüppel, einen Wasserkopf, einen großen Mund und große Stiefel an. Er sah aus, als ob er eine diesen großartigen Eigenschaften entsprechende Menge Bier sich einverleibt hätte, was auch tatsächlich der Fall war.

Man sprach immer noch über die Ereignisse der vergangenen Nacht, und Herr Giles war eben dabei, seinen Mut und seine Geistesgegenwart in das richtige Licht zu setzen, wobei ihm Brittles, den Bierkrug in der Hand, kräftig sekundierte, als der Doktor eintrat.

„Sitzengeblieben!“ rief derselbe mit einer Handbewegung.

„Danke“, sagte Herr Giles. „Die gnädige Frau ordnete an, daß Bier verteilt werden sollte, und da ich Verlangen nach Gesellschaft hatte, bin ich aus meinem Zimmer hierher gekommen, um meinen Schoppen zu trinken.“

Brittles und die übrigen Damen und Herren murmelten etwas von „großer Ehre“ und „Leutseligkeit des Herrn Giles“, worauf sich dieser mit einer Gönnermiene umsah, als wenn er sagen wollte, daß er ihre Gesellschaft nicht verlassen würde, solange sie sich anständig benähmen.

„Wie geht es dem Kranken, Herr Doktor?“ fragte Giles.

„So, so, la la, ich fürchte, Sie haben sich dabei in eine arge Patsche gebracht, Herr Giles.“

„Ich hoffe, Sie wollen damit nicht andeuten, daß er sterben muß“, sagte Giles erschrocken. „Ich würde meines Lebens nicht mehr wieder froh. Ich könnte keinen Jungen töten – nicht einmal den Brittles da, und wenn man mir das Silbergeschirr des ganzen Landes dafür böte.“

„Davon ist nicht die Rede“, erwiderte der Doktor. „Herr Giles, sind Sie ein guter Christ?“

„Ja, Herr Doktor, das hoffe ich“, stotterte dieser und wurde weiß wie die Wand.

„Und wie steht’s mit dir, Junge?“ fuhr der Doktor zu Brittles gewandt fort.

„Mein Gott“, sagte Brittles zusammenzuckend, „ich bin dasselbe wie Herr Giles.“

„Dann sagt mir, ihr beide, wollt ihr es auf euern Eid nehmen, daß der Junge derselbe ist, welcher in der vergangenen Nacht durch das kleine Fenster kam? Heraus mit der Sprache! Redet!“

Der Doktor, als gutmütig überall bekannt, stellte diese Frage in so drohendem Tone, daß Giles und Brittles sich vor Schreck und Erstaunen starr ansahen.

„Passen Sie auf ihre Antwort gut auf, Polizist, ich bitte darum“, sagte der Doktor und hob in feierlicher Weise seinen Zeigefinger hoch. „Es kann später darauf ankommen.“