Oliver Twist

Handelt von dem Orte, wo Oliver Twist geboren ward, und von Umständen, die seine Geburt begleiteten

In einer Stadt, die ich aus mancherlei Gründen weder nennen will, noch mit einem erdichteten Namen bezeichnen möchte, befand sich unter anderen öffentlichen Gebäuden auch eines, dessen sich die meisten Städte rühmen können, nämlich ein Armenhaus. In diesem wurde an einem Tage, dessen Datum dem Leser kaum von Interesse sein kann, der Kandidat der Sterblichkeit geboren, dessen Namen die Kapitelüberschrift nennt.

Lange noch, nachdem er bereits durch den Armenarzt in dieses irdische Jammertal eingeführt war, blieb es höchst zweifelhaft, ob das Kind lange genug leben würde, um überhaupt eines Namens zu bedürfen. Es hielt nämlich ungernein schwer, Oliver zu bewegen, die Mühe des Atmens auf sich zu nehmen, allerdings eine schwere Arbeit, die jedoch die Gewohnheit zu unserm Wohlbefinden nötig gemacht hat. So lag er, eine geraume Zeit nach Luft ringend, auf einer kleinen Matratze, wobei sich die Waagschale seines Lebens entschieden einer besseren Welt zuneigte. Wäre Oliver damals von sorglichen Großmüttern, ängstlichen Tanten, erfahrenen Wärterinnen und hochgelehrten Ärzten umgeben gewesen, so wäe er unzweifelhaft mit dem Tode abgegangen, so aber war niemand bei ihm als eine arme alte Frau, die infolge ungewohnten Biergenusses ziemlich benebelt war, und ein Armenarzt, der vertragsgemäß bei Geburten Hilfe leisten mußte. Oliver hatte deshalb die Sache mit der Natur allein auszufechten. Das Ergebnis war, daß Oliver nach einigen Anstrengungen atmete, nieste und endlich damit zustande kam, den Bewohnern des Armenhauses die Ankunft einer neuen Bürde für die Gemeinde durch ein so lautes Schreien anzukündigen, als sich füglich von einem Jungen erwarten ließ, der die ungemein nützliche Beigabe einer Stimme erst seit drei und einer viertel Minute besaß. Da erhob sich das bleiche Gesicht einer jungen Frau mit Mühe von den Kissen und eine schwache Stimme flüsterte kaum vernehmbar: „Lassen Sie mich das Kind sehen, dann will ich gern sterben.“

Der Arzt saß vor dem Kamin und war bemüht, seine Hände bald durch Reiben, bald durch Ausstrecken über die Kohlen warm zu halten; als aber die junge Frau sprach, stand er auf, trat an das Kopfende des Bettes und sagte mit mehr Freundlichkeit, als man ihm zugetraut hätte: „Oh! Sie müssen nicht vom Sterben sprechen!“

Die Wöchnerin streckte die Hand nach ihrem Kinde aus, der Arzt legte es ihr in die Arme. Sie küßte es leidenschaftlich auf die Stirn, dann fuhr sie mit den Händen über ihr Gesicht, blickte wild um sich, schauderte, sank zurück – und starb.

„Sie hat ausgerungen“, sagte der Arzt nach einer kurzen Untersuchung zu der alten Frau. „Ihr braucht nicht nach mir zu schicken, wenn das Kind schreit, wahrscheinlich wird es etwas unruhig sein.“ Er zog bedächtig seine Handschuhe an. „Ihr könnt ihm dann ein wenig Haferschleim geben.“ Er setzte den Hut auf und trat, bevor er das Zimmer verließ, noch einmal ans Bett und sagte: „Es war ein hübsches Mädchen; woher kam sie?“

„Sie wurde gestern abend auf Anordnung des Armenvorstehers hier eingeliefert“, antwortete die alte Frau. „Man fand sie auf der Straße ohnmächtig; sie muß weit gelaufen sein, denn ihre Schuhe waren ganz zerrissen, jedoch, woher sie kam oder wohin sie wollte, weiß niemand.“

Der Arzt beugte sich über die Verblichene und hob ihre linke Hand hoch.

„Ich sehe schon, es ist die alte Geschichte“, sagte er kopfschüttelnd, „kein Trauring. Na! Gute Nacht!“

Er ging zu seinem Abendessen, und die alte Frau setzte sich auf einen Schemel in der Nähe des Kamins und begann das Kind zu kleiden.

In der Decke, die Oliver bisher umhüllt hatte, konnte man ihn ebensogut für das Kind eines Edelmannes als für das eines Bettlers halten. Aber jetzt in dem alten verwaschenen Kinderzeug, dlas durch langjährige Benutzung gelb geworden war, trug er Zeichen und Abzeichen seiner Stellung, nämlich die eines Gemeindekindes, einer Waise des Armenhauses, eines zum Hungern bestimmten Lasttieres, das von allen verachtet und von niemand bemitleidet, durch die Welt geknufft und gepufft wird.

Oliver schrie laut und kräftig; hätte er wissen können, daß er eine Waise war und der zärtlichen Fürsorge von Kirchen- und Armenvorstehern ausgeliefert, so hätte ervielleicht noch lauter geschrien.

Handelt davon, wie Oliver Twist heranwuchs, erzogen und ernährt wurde

In den ersten acht oder zehn Monaten war Oliver das Opfer eines systematischen Betrugs und einer unausgesetzten Gaunerei. Er wurde nämlich aufgepäppelt. Die Armenhausbehörde meldete den ausgehungerten und elenden Zustand des Waisenkindes pflichtschuldigst an den Gemeindevorstand. Dieser forderte einen Bericht darüber, ob sich „in dem Hause“ keine Frauensperson befände, die in der Lage sei, dem kleinen Oliver Twist die Nahrung zu reichen, deren er bedurfte. Die untertänige Antwort der Armenhausbehörde fiel verneinend aus, worauf der Gemeindevorstand den hochherzigen und menschenfreundlichen Entschluß faßte, Oliver in einem fünf Kilometer entfernten Filialarmenhaus unterzubringen. Dort wuchsen unter der mütterlichen Aufsicht einer älteren Frau zwanzig bis dreißig andere jugendliche Übertreter der Armengesetze auf, ohne von Kleidung und Nahrung allzusehr belästigt zu werden. Die Matrone nahm die kleinen Verbrecher gegen eine Entschädigung von wöchentlich sieben und einem halben Pence für den Kopf auf, und damit läßt sich ein Kind recht gut ernähren. Der Betrag reicht sogar zu, den Magen zu überladen und das Kind krank zu machen. Die alte.Dame war eine kluge und erfahrene Frau, sie wußte, was für Kinder – und noch mehr, was für sie selber gut war. Sie verwendete den größeren Teil des Kostgeldes zu ihrem eigenen Nutzen und setzte die heranwachsende Jugend auf noch kleinere Rationen, als von der Behörde beabsichtigt war.

Jedermann kennt die Geschichte eines praktischen Philosophen, der eine herrliche Theorie erfunden hatte, die ein Pferd befähigte, gänzlich ohne Nahrung zu leben. Der Versuch gelang so weit, daß er sein eigenes Pferd bis auf einen Strohhalm den Tag herunterbrachte und auch ohne Zweifel ein sehr mutiges, feuriges und gar nichts fressend des Tier aus ihm gemacht hätte, wenn es nicht vierundzwanzig Stunden vor dem Tage krepiert wäre, wo es sich zum ersten Male ausschließlich von der Luft ernähren sollte. Unglücklicherweise hatte das System der Frau, deren Fürsorge Oliver Twist anvertraut war, gewöhnlich einen ähnlichen Erfolg. Gerade wenn ein Kind so weit gekommen war, von dem kleinstmöglichen Teile der möglichst schwächsten Nahrung zu leben, so kam es acht-, bis neunmal in zehn Fällen vor, daß es an Hungertyphus erkrankte, oder sich verbrannte oder einen schweren Fall tat, lauter Zufälligkeiten, durch die das bedauernswerte kleine Wesen in eine andere Welt abgerufen und zu den Vätern versammelt wurde, die es in dieser nicht gekannt hatte.

Man kann nicht erwarten, daß diese Erziehungsmethode glänzende Ergebnisse zeitigte. Oliver Twist war an seinem neunten Geburtstage ein blasses, schmächtiges, im Wachstum zurückgebliebenes Kind. Aber Natur oder Vererbung hatte in seine Brust einen gesunden, kräftigen Geist gepflanzt, der auch, dank der spärlichen Diät der Anstalt hinreichend Raum hatte, sich auszudehnen. Vielleicht ist es nur diesem Umstande zuzuschreiben, daß er sich überhaupt seines neunten Geburtstages erfreuen durfte. Er feierte denselben in der erlesenen Gesellschaft zweier anderen jungen Herren im Kohlenkeller, wo sie nach einer tüchtigen Tracht Schläge eingesperrt worden waren, weil sie sich erdreistet hatten, hungrig zu sein. An diesem Tage wurde Frau Mann, die würdige Vorsteherin der Anstalt durch die unerwartete Erscheinung des Gemeindedieners, Herrn Bumble, in Schrecken gesetzt. Er bemühte sich gerade, die Gartentür zu öffnen.

„Herr du meine Güte! Sind Sie es, Herr Bumble?“ rief Frau Mann, indem sie ihren Kopf aus dem Fenster steckte, anscheinend hocherfreut dem Kirchendiener zu.

„Susanne, hole rasch den Oliver und die beiden anderen Rangen aus dem Keller und wasche sie. – Ach, wie mich das freut, Herr Bumble. Freue mich wirklich, Sie mal wiederzusehen“

Herr Bumble war ein dicker und außerdem jähzornige Mann und anstatt die freundliche Begrüßung zu erwidern, gab er der Gartentür einen Stoß, wie ihn nur der Fuß eines Gemeindedieners zu geben imstande ist.

„Mein Gott“, sagte Frau Mann hinauseilend – denn die drei Jungen waren inzwischen aus dem Keller geholt worden – „daß ich das vergessen konnte. Der lieben Kinder wegen hatte ich ja die Tür verriegelt. Treten Sie näher, Herr Bumble, bitte kommen Sie rein.“

Obgleich diese Einladung mit einer Liebenswürdigkeit vorgebracht wurde, die sogar das Herz eines Kirchenältesten erweicht, hätte, besänftigte sie den Gemeindediener durchaus nicht.

„Ist es etwa ein geziemendes und höfliches Benehmen, Frau Mann“, fragte Herr Bumble, „die Gemeindebeamten am Gartentor stehen zu lassen, wenn sie in Angelegenheiten, die die Gemeindewaisen betreffen, hierher kommen?‘

„Glauben Sie mir, ich war gerade dabei, den lieben Kindern zu erzählen, daß Sie kämen“, erwiderte Frau Mann unterwürfig.

Herr Bumble hatte eine hohe Meinung von seiner Beredsamkeit und seiner Wichtigkeit. Die eine hatte er entfaltet und die andere geltend gemacht. Er wurde dadurch milde gestimmt.

„Schon gut, Frau Mann“, entgegnete er in sanfterem Tone, „ich will es Ihnen glauben. Gehen Sie nur voran, Frau Mann, ich komme dienstlich und habe Ihnen etwas auszurichten.“

Frau Mann führte den Gemeindediener in ein kleines Zimmer, holte einen Stuhl herbei und nahm ihm dienstbeflissen den dreieckigen Hut und seinen Stock ab. Sie legte beides auf den Tisch vor ihm. Herr Bumble wischte sich den Schweiß von der Stirn und blickte wohlgefällig auf den dreieckigen Hut. Dann lächelte er. Tatsächlich, er lächelte. Gemeindediener sind auch nur Menschen, und Herr Bumble lächelte.

„Nehmen Sie mir nicht übel, was ich Ihnen jetzt sage“, bemerkte Frau Mann mit bestrickender Liebenswürdigkeit, „aber Sie haben einen weiten Spaziergang gemacht, darf ich Ihnen mit einem Gläschen aufwerten, Herr Bumble?“

„Nicht einen Tropfen, nicht einen!“ erwiderte Herr Bumble und wehrte mit seiner rechten Hand würdevoll, aber nicht unfreundlich ab.

„Sie dürfen’s mir nicht abschlagen“, sagte Frau Mann, der der Ton seiner Weigerung und die ihn begleitende Gebärde nicht entgangen war. „Nur ein kleines Gläschen mit ein wenig kaltem Wasser und ’nem Stückchen Zucker.“ Herr Bumble hustete.

„Nur einen Tropfen!“ fuhr Frau Mann im überredenden Tone fort.

„Was ist es denn?“ fragte der Gemeindediener.

„Nun, es ist etwas, von dem ich immer einen kleinen Vorrat haben muß, um es den lieben Kindern in den Kaffee gießen zu können, wenn sie nicht wohl sind“, versetzte Frau Mann, indem sie einen Eckschrank öffnete und eine Flasche nebst Glas zum Vorschein brachte. „Es ist Wachholder.“

„Den geben Sie den Kindern mit dem Kaffee, Frau Mann?“ fragte er, dabei mit seinen Augen den interessanten Vorgang der Mischung verfolgend.

„Ja, der liebe Gott weiß es, ich tu’s, so teuer er auch ist. Sie wissen ja, mein Herr, daß ich sie nicht vor meinen Augen leiden sehen könnte!‘

„Nein“, sagte Herr Bumble, „nein, das könnten Sie nicht. Ich weiß, daß Sie eine menschlich denkende Frau sind, Frau Mann“ (hier setzte sie ihm das Glas hin), „ich werde bei passender Gelegenheit den Gemeindevorstand besonders darauf aufmerksam machen.“ (Er zog das Glas näher an sich.) „Sie fühlen wie eine Mutter“ (er hob das Glas), „ich – mit Vergnügen trinke ich auf Ihre Gesundheit, Frau Mann“, damit trank er das Glas zur Hälfte leer.

„Doch nun zu unserm Geschäft!“ rief der Gemeindediener, indem er eine lederne Brieftasche herauszog. „Das mit der Nottaufe versehene Kind Oliver Twist ist heute neun Jahre alt geworden.“

„Gott segne ihn!“ fiel Frau Mann ein und rieb sich mit dem Schürzenzipfel ihr linkes Auge rot.

„Und trotz der angebotenen Belohnung von zehn Pfund, die nachher auf zwanzig erhöht wurde, trotz der äußersten – ich möchte fast sagen übernatürlichen – Anstrengungen seitens der Gemeinde sind wir nicht imstande gewesen, seinen Vater oder die Heimat, noch den Namen und den Stand seiner Mutter ausfindig zu machen.“

„Wie kommt es aber, daß er überhaupt einen Namen hat?“ fragte Frau Mann.

Der Gemeindediener warf sich in die Brust und entgegnete: „Den habe ich erfunden!“

„Sie, Herr Bumble?“

„Jawohl. Wir geben unsern Findlingen Namen nach dem Alphabet. Der letzte war ein S – ich taufte ihn Swubble. Dieser war ein T – ich benannte ihn Twist.“

„Sie sind ja ein wahrer Gelehrter, Herr Bumble.“

„Vielleicht“, sagte der Gemeindediener geschmeichelt, „kann sein, Frau Mann. – Oliver ist nun zu alt für dieses Haus, der Vorstand hat beschlossen, ihn wieder zurückzunehmen,.und ich soll ihn abholen. Bringen Sie ihn mal her.“

„Ich werde ihn sofort holen“, sagte Frau Mann und verließ das Zimmer. Oliver war inzwischen von dem Schmutz, der sein Gesicht und seine Hände bedeckte, so weit gereinigt worden, als es durch eine einmalige Wäsche geschehen konnte. An der Hand seiner wohlwollenden Beschützerin betrat er nun das Zimmer.

„Mach einen Diener vor dem Herrn, Oliver“, sagte Frau Mann.

Oliver machte eine tiefe Verbeugung sowohl vor Herrn Bumble auf dem Stuhl, als auch vor dem Dreispitz auf dem Tische.

„Willst du mit mir gehen, Oliver?“ fragte Herr Bumble mit hoheitsvoller Stimme.

Oliver wollte gerade sagen, daß er gern mit jedem fortgehen würde, als er bemerkte, daß ihm Frau Mann, die hinter den Stuhl des Gemeindedieners getreten war, mit wütender Miene die Faust zeigte. Er verstand diese Zeichensprache.

„Wird sie auch mitgehen?“ fragte der arme Junge.

„Nein, aber sie wird dich hin und wieder besuchen“, sagte Herr Bumble.

Das war kein sonderlicher Trost für Oliver. Trotz seiner Jugend war er jedoch klug genug, sich so zu gehaben, als verließe er Frau Mann nur ungern. Es wurde ihm nicht schwer, Tränen ins Auge zu locken, da Hunger und kürzlch überstandene Mißhandlungen recht geeignet sind, sie herbeizuführen. So weinte Oliver sehr natürlich. Frau Mann umarme ihn wohl tausendmal und gab ihm ein großes Butterbrot, damit er nicht allzu hungrig im Armenhuse ankäme. Unnötig zu sagen, daß ihm das Butterbrot leber war als die tausend Umarmungen der Frau Mann. Mit einer kleinen braunen Tuchmütze auf dem Kopf vere ließ nun Oliver die armselige Stätte, wo nie ein freundliches Wort oder ein zärtlicher Blick das Dunkel seiner Kinderjahre erhellt hatte.

Herr Bumble holte mit weiten Schritten aus, und der kleine Jnge trabte neben ihm her, wobei er alle fünf Minuten fragte, ob sie nicht bald „da“ seien.

Oliver war noch keine Viertelstunde im Armenhause und kaum mit der Vertilgung eines zweiten Stückchen Brotes fertig, als Bumble ihm sagte, daß heute abend eine Vorstandssitzung sei, und daß er unverzüglich vor dem Kollegium zu erscheinen habe.

Die Begriffe von Sitzung und Kollegium waren Oliver nicht besonders klar. Er wußte deshalb nicht, ob er bei dieser Nachricht lachen oder weinen sollte. Bumble führte ihn in ein großes weißgetünchtes Zimmer, wo acht bis zehn wohlbeleibte Herren um einen Tisch saßen. Oben am Tische machte sich auf einem Lehnstuhl, der etwas höher als die übrigen Stühle war, ein besonders wohlgenährter Herr mit einem sehr runden, roten Gesichte breit.

„Verbeuge dich vor den Vorstandsmitgliedern!“ sagte Bumble, und Oliver tat es.

„Wie heißt du, Junge?“ fragte der Mann im hohen Lehnstuhl.

Der Anblick so vieler Herren brachte Oliver so aus der Fassung, daß er zu zittern anfing. Er antwortete daher nur leise und schüchtern.

„Junge!“ sagte der Vorsitzende, „du weißt doch, daß du eine Waise bist?“

„Was ist das?“ fragte der arme Kerl.

„Du weißt doch, daß du keinen Vater und keine Mutter hast und daß du von der Gemeinde erzogen wirst, nicht wahr?“

„Jawohl, Herr“, erwiderte Oliver, bitterlich weinend.

„Warum heulst du?“ fragte ein Herr mit einer weißen Weste. In der Tat, der Grund, weshalb er weinte, war sehr schwer zu finden.

„Ich hoffe, du betest jeden Abend vorm Zubettgehen für die Leute, die dich aufziehen, wie es sich für einen Christen geziemt“, fragte ein anderer Herr mit barscher Stimme.

„Ja, Herr“, stotterte der Junge.

„Nun, wir haben dich hierherkommen lassen, damit du erzogen wirst und ein nützliches Gewerbe lernst“, sagte der Vorsitzende.

„Du wirst daher morgen früh um sechs Uhr anfangen, Werg zu zupfen“, fügte der Herr mit der weißen Weste hinzu.

Für die Verbindung dieser beiden Wohltaten machte Oliver auf einen Wink des Gemeindedieners eine tiefe Verbeugung und wurde dann schnell in einen großen Saal geführt, wo er sich auf einer harten Pritsche in den Schlaf weinte.

Armer Oliver! Er dachte nicht daran, als er so in einer glücklichen Selbstvergessenheit schlummernd dalag, daß jene Männer am selben Tage einen Entschluß gefaßt hatten, der den größten Einfluß auf sein künftiges Geschick haben sollte. Und doch war es der Fall, wie wir in folgendem sehen werden.

Die Mitglieder des Gemeinderats waren sehr weise, einsichtsvolle, philosophische Männer. Als sie ihre Aufmerksamkeit dem Armenhaus zuwandten, fanden sie mit einem Male, was bisher noch kein gewöhnlicher Sterblicher entdeckt hatte, daß es den Armen darin zu gut gefiel. Es war in ihren Augen ein rechtes Vergnügungslokal für die besitzlosen Klassen, ein Wirtshaus, wo nichts bezahlt wurde jahrein, jahraus Frühstück, Mittagessen, Tee und Abendbrot auf öffentliche Kosten –, ein Elysium aus Backsteinen und Mörtel mit Spiel und Tanz, ohne jede Arbeit.

„Oho“, sagten die Gemeinderäte, „das muß anders werden, und zwar sofort.“ Sie setzten daher als Richtlinie fest, daß die armen Leute die Wahl haben sollten (denn es war nicht ihre Absicht, jemand zu zwingen), in dem Hause langsam oder außer dem Hause schnell Hungers zu sterhen. Zu diesem Zwecke schlossen sie mit den Wasserwerken einen Vertrag über die Lieferung einer unbegrenzten Menge Wasser und trafen mit dem Getreidelieferanten eine Übereinkunft, von Zeit zu Zeit kleine Mengen Hafermehl herbeizuschaffen. So erhielten dann die Insassen des Armenhauses dreimal täglich einen dünnen Haferschleim, außerdem zweimal in der Woche eine Zwiebel und sonntags eine halbe Semmel.

Schon in den ersten sechs Monaten nach Olivers Rückkehr war dieses System in vollem Gange. Der Raum, in dem die Jungen abgefüttert wurden, war eine große Halle aus Stein, an deren einem Ende ein kupferner Kessel stand. Aus diesem schöpfte der Speisemeister, unterstützt von einigen Frauen, zur Essenszeit den Haferschleim. Von dieser köstlichen Speise erhielt jeder Junge einen Napf voll, und nicht mehr – festliche Anlässe ausgenommen, an denen sie auch noch ein nicht allzu großes Stück Brot bekamen. Die Näpfe brauchten nicht abgewaschen zu werden, die Jungens bearbeiteten sie mit ihren Löffeln so lange, bis sie wieder spiegelblank waren.

Kinder haben fast immer Hunger. Oliver und seine Kameraden hatten die Qualen des langsamen Hungertodes drei Monate lang ausgehalten. Da erklärte ein ziemlich großer Junge, dessen Vater eine kleine Kneipe hatte, und der daher reichliches Essen gewöhnt war, er fürchte seinen Schlafkameraden einmal nachts aufzuessen, wenn er nicht noch einen weiteren Napf Haferschleim täglich erhielte. Dabei rollten seine Augen wild. Die Jungen beratschlagen und losten dann, wer nach dem Abendessen zum Speisemeister gehen und um mehr bitten solle. Das Los fiel auf Oliver Twist.

Der Abend kam heran, der Speisemeister stellte sich an den Kessel, und nachdem ein langes Tischgebet über das kurze Mahl gesprochen war, wurde der Haferbrei aus, geteilt. Dieser war schnell im Magen der Kinder verschwunden, als Oliver aufstand und mit Napf und Löffel vor den Speisemeister hintrat. Hunger und Elend ließen ihn alle Rücksichten vergessen, doch zitterte er, als er sagte:

„Bitte, Herr, ich möchte noch etwas mehr.“

Der wohlgenährte, rotbäckige Koch wurde bei diesen Worten blaß und mußte sich am Kessel festhalten. Er blickte mit starrem Entsetzen auf den kleinen Rebellen und stieß schließlich mit schwacher Stimme aus: „Was?“

„Bitte, Herr, ich möchte noch etwas mehr!“

Da schlug ihn der Küchenmeister mit dem Löffel über den Kopf, packte Oliver bei den Händen und rief laut nach dem Gemeindediener.

Der Verwaltungsausschuß hielt eben eine Sitzung ab, als Herr Bumble aufgeregt ins Zimmer stürzte. Er wandte sich an den Vorsitzenden:

„Verzeihung, Herr Limbkins! Oliver Twist hat mehr haben wollen!“

Alle waren starr.

„Mehr?“ fragte Herr Limbkins. „Nehmen Sie sich zu, sammen, Bumble, und antworten Sie mir klar und deutlich. Habe ich das so zu verstehen, daß er noch mehr verlangte, nachdem er bereits seinen vorschriftsmäßigen Anteil erhalten hatte?“

„Jawohl, Herr!“

„Der Junge wird am Galgen enden“, sagte der Herr mit der weißen Weste. „Ich bin ganz sicher, daß der Bursche dereinst gehängt wird!“

Niemand widersprach dieser Prophezeiung. Nach kurzer Beratung wurde Oliver eingesperrt. Am nächsten Morgen wurde ein Anschlag an das Tor geklebt, der jedem, der Oliver der Gemeinde abnähme, eine Summe von fünf Pfund verhieß. Mit anderen Worten, Oliver Twist wurde nebst fünf Pfund jedem Mann oder jeder Frau – wer eben einen Lehrling oder einen Laufburschen brauchte – angeboten.

Berichtet, wie Oliver Twist dicht daran war, eine Stellung zu bekommen, die keine Sinekure gewesen wäre

Oliver blieb eine Woche lang in einer dunklen, eisamen Kammer eingesperrt. Er weinte den ganzen Tag über bitterlich. Wenn dann die lange, traurige Nacht kam, legte er seine Händchen auf die Augen, um nicht ins Dunkel starren zu müssen, kroch in eine Ecke und versuchte zu schlafen. Alle Augenblicke aber fuhr er aus seinem Schlaf auf und drückte sich dann dichter an die Mauer, als ob er sich selbst in ihrer kalten, harten Fläche einen Schutz gegen die ihn umgebende Finsternis verspräche.

Nun begab es sich, daß eines Morgens der Schornsteinfegermeister Gamfield die Landstraße entlangzog. Er dachte darüber nach, wie er gewisse Mietsrückstände, um die ihn sein Hauswirt ziemlich energisch gemahnt hatte, bezahlen solle. Er wußte nicht, wie er die ihm fehlenden fünf Pfund herbeischaffen könnte, und marterte damit bald sein Gehirn, bald den Kopf seines Esels. Da fiel ihm plötzlich der Anschlag ins Auge, als er beim Armenhause vorbeikam.

„Halt!“ sagte der Meister zu dem Esel, doch dieser, ebenfalls in tiefes Sinnen versunken, trabte, ohne auf den Befehl seines Herrn zu achten, ruhig weiter. Gamfield fluchte wie ein Heide und versetzte dem Esel einen Schlag auf den Kopf, daß dieser halb betäubt war und stillstand. Dann begann der Meister aufmerksam den Anschlag zu lesen.

Der Herr mit der weißen Weste stand, die Hände auf dem Rücken, am Tore. Er hatte dem kleinen Streit zwischen Gamfield und seinem Esel gespannt zugeschaut und lächelte gutgelaunt. Gamfield lächelte gleichfalls, als er das Schriftstück durchgelesen hatte, denn fünf Pfund waren gerade die Summe, die er brauchte. Was die Beigabe des Jungen anbelangt, so wußte der Meister, der die Armenhauskost kannte, daß es sich nur um ein ziemlich schmächtiges Menschenexemplar handeln könnte. Er buchstabierte also den Anschlag nochmals von Anfang bis zu Ende durch und redete dann den Herrn mit der weißen Weste an, indem er gleichzeitig grüßend die Hand an seine Pelzmütze legte:

„Diesen Jungen hier will also die Gemeinde als Lehrling vergeben?“

„Ja, lieber Freund“, erwiderte der Herr mit der weißen Weste leutselig, „warum?“

„Wenn die Gemeinde ihn ein leichtes, angenehmes Handwerk lernen lassen will, so möchte ich mein Schornsteinfegergeschäft empfehlen“, entgegnete der Meister. „Ich brauche einen Lehrling und bin bereit, ihn zu nehmen!“

„Kommen Sie rein“, sagte der Herr mit der weißen Weste.

Gamfield folgte diesem in das Sitzungszimmer und trug Herrn Limbkins seinen Wunsch vor.

„Es ist ein schmutziges Handwerk, man hat auch erlebt, daß Jungens in den Schornsteinen erstickt sind“, meinte Limbkins.

„Dies kommt daher“, versetzte Gamfield, „daß man das Stroh anfeuchtete, ehe man es im Kamin anzündete, um die Jungen herunterzuholen. Es gab nur Rauch aber kein Feuer. Rauch hat aber keinen Zweck, denn er veranlaßt einen Jungen nicht runterzukommen, er macht ihn nur schläfrig, und das ist es ja gerade, was solch ein Bursche will. Jungen sind faul und widerspenstig, meine Herren, und ein schönes, heißes Feuer das beste, um sie im Galopp herunterzubringen. Es ist auch ein humanes Mittel, meine Herren, denn wenn einer im Schornstein steckenbleibt und sich die Füße verbrennt, dann tut er schon selbst alles mögliche, um sich aus dieser Lage zu befreien.`

Die Vorstandsmitglieder berieten sich einige Minuten, dann verkündete Herr Limbkins:

„Wir haben Ihren Vorschlag überlegt, können aber nicht drauf eingehen.“

„Ganz und gar nicht“, sagte der Herr mit der weißen Weste.

„Entschieden nicht“, fügten die andern Vorstandsmitglieder hinzu.

„So soll ich ihn also nicht haben, meine Herren?“ fragte Gamfield.

„Nein“, antwortete Herr Limbkins, „oder Sie müßten mit einer kleineren Summe zufrieden sein, da es doch ein zu schmutziges Handwerk ist.“

„Was wollen Sie geben, meine Herren? Seien Sie nicht zu hart gegen einen armen Mann!“

„Nun, ich meine, drei Pfund und zehn Schillinge wären genug“, sagte Herr Limbkins.

„Schon zehn Schilling zuviel“, bemerkte der Herr mit der weißen Weste.

„Also, sagen wir vier Pfund, meine Herren“, versetzte Gamfield, „und Sie sind den Jungen für immer los. Vier Pfund, das ist anständig.“

„Drei Pfund und zehn Schillinge“, wiederholte Herr Limbkins unbeugsam.

„Wir wollen die Differenz teilen, meine Herren, drei Pfund und fünfzehn Schillinge also!“

„Nicht einen Penny mehr“, lautete die feste Antwort Herrn Limbkins.

„Sie sind mächtig hart zu mir“, sagte Gamfield kleinlaut.

„Unsinn“, sagte der Herr mit der weißen Weste. „Es wäre ein feines Geschäft auch ohne jeden Zuschuß. Greifen Sie zu, Mann. Er ist gerade der richtige Junge für Sie. Ab und zu hat er den Rohrstock nötig, und sein Essen braucht auch nicht üppig zu sein, denn er ist von seiner Geburt an nie überfüttert worden. Ha! Ha! Ha!

Der Handel wurde also geschlossen, und Bumble bekam den Auftrag, Oliver Twist noch am selben Nachmittag vor den Friedensrichter zu führen, um seinen Lehrbrief genehmigen und unterzeichnen zu lassen.

Der kleine Oliver wurde daher zu seinem großen Erstaunen aus der Haft entlassen und erhielt den Befehl, ein reines Hemd anzuziehen. Er hatte kaum diese ungewohnte gymnastische Übung beendet, als ihm Herr Bumble eigenhändig einen Napf voll Haferschleim und das sonntägliche Stück Brot brachte. Bei diesem Anblick fing Oliver kläglich an zu weinen, denn er dachte nichts anderes, als daß die Behörde ihn zu irgendeinem nützlichen Zwecke schlachten lassen wollte, da sie ihn wohl sonst kaum in dieser Weise mästen würde.

„Weine dir nicht die Augen rot, Oliver, sondern iß und sei dankbar“, sagte Herr Bumble würdevoll. „Du sollst Lehrling werden, Ofiver!“

„Lehrling, Herr?!“ rief der Junge zitternd.

„Jawohl, Oliver, die guten Herren, die an dir Elternstelle vertreten haben, wollen dich in die Lehre geben, damit du später im Leben vorwärts kommst und ein tüchtiger Kerl wirst. Das kostet der Gemeinde drei Pfund und zehn Schillinge, denke mal, Oliver, drei Pfund zehn Schillinge – siebzig Schillinge! – hundertvierzig Sixpences – und all das für einen ungezogenen Waisenjungen, den keiner leiden kann.“‚

Als Herr Bumble innehielt, um Atem zu schöpfen, rannen dem armen Oliver nur so die Tränen über die Backen, und er schluchzte bitterlich.

„Weine nicht!“ sagte Herr Bumble, der von der Wirkung seiner Beredsamkeit sehr befriedigt war. „Wisch dir die Tränen mit dem Ärmel ab und laß sie nicht -in die Suppe fallen. Das ist töricht.“ Das stimmte, denn in der Suppe war ohnehin schon Wasser genug.

Auf dem Wege zum Friedensrichter belehrte Herr Bumble seinen kleinen Begleiter, daß er dort weiter nichts zu tun habe, als recht glücklich auszusehen. Wenn ihn dann der Herr frage, ob er in die Lehre gehen wolle, so müsse er sagen, furchtbar gern. Oliver versprach zu gehhorchen, um so mehr als Herr Bumble die zarte Andeutung fallen ließ, er könne nicht sagen, was man ihm antun würde, wenn er nicht diesen seinen Unterweisungen getreulich nachkäme. Als sie an Ort und Stelle eintrafen, wurde Oliver in ein kleines Zimmer gebracht und von Herrn Bumble ermahnt, dort so lange zu verweilen, bis er ihn holen würde.

Klopfenden Herzens wartete der Junge bereits eine halbe Stunde, als endlich Herr Bumble seinen Kopf, der jetzt der Zierde des dreieckigen Hutes entbehrte, durch die Tür steckte und laut sagte:

„Nun, liebes Kind, komm zu dem Herrn.“ Dabei warf er Oliver einen drohenden Blick zu und flüsterte ihm zu: „Denke dran, was ich dir sagte, Bengel.“

Oliver sah bei diesem sich widersprechenden Ton der Anreden unschuldig zu Herrn Bumble auf. Dieser führte ihn sogleich in ein anstoßendes Zimmer, dessen Tür offen stand. Hinter einem Pult saßen dort zwei alte Herren mit gepuderten Perücken. Einer las eine Zeitung, der andere studierte mit Hilfe einer Schildpattbrille ein kleines vor ihm liegendes Pergament. Herr Limbkins stand vorn an einer Seite des Pultes und Meister Gamfield mit teilweise gewaschenem Gesicht auf der anderen.

Der alte Herr mit der Brille war über seinem Pergament eingenickt, und es entstand eine kurze Pause, nachdem Herr Bumble Oliver vor das Pult geführt hatte.

„Das ist der Junge, Euer Gnaden“, sagte Herr Bumble.

Der die Zeitung lesende Herr sah auf und zupfte den andern alten Herrn am Ärmel, worauf dieser erwachte.

„Ach, das ist also der Junge?“ fragte er.

„Ja, Euer Gnaden“, versetzte Herr Bumble. „Mach dem Herrn Richter eine Verbeugung, Oliver.“

Oliver machte seinen schönsten Diener.

„Der Junge will also gern Kaminfeger werden?“ sagte der Friedensrichter.

„Er ist ganz verrückt danach, Euer Gnaden“, sagte Bumble, „er würde davonlaufen, wenn wir ihn zwingen wollten, etwas anderes zu lernen!“

„Und dieser Mann da soll sein Meister sein, nicht wahr? Sie werden ihn doch gut behandeln, und was das Essen und die Kleidung anbelangt, nicht Not leiden lassen, versprechen Sie das?“

„Wenn ich einmal gesagt habe, ich will, so werde ich esauch tun“, entgegnete Gamfield mürrisch.

„Ihre Ausdrucksweise ist nicht gerade fein, mein Freund, aber Sie scheinen ein offener, ehrlicher Mensch zu sein“, sprach der Richter, den Meister dabei durch seine Brillengläser flüchtig anguckend. Wäre er nicht halb blind und beinahe schon kindisch gewesen, so hätte ihm die Brutalität in Gamfields Gesicht auffallen müssen.

„Ich denke das zu sein“, entgegnete der Meister mit einem häßlichen Blick.

„Daran zweifle ich nicht, mein Freund“, fuhr der alte Herr fort und suchte nach dem Tintenfaß.

Es war für Olivers Schicksal ein kritischer Augenblick. Hätte das Tintenfaß da gestanden, wo es der alte Herr vermutete, so hätte er seine Feder eingetaucht und den Lehrbrief unterzeichnet. Gamfield hätte dann Oliver gleich mitgenommen. Aber da es unmittelbar vor seiner Nase stand, so suchte er natürlich vergebens nach ihm auf dem Pulte herum. Er begegnete dabei dem verstörten Blicke Olivers, der trotz aller ermahnenden Winke und Püffe Bumbles seinen künftigen Lehrherrn mit Furcht und Schrecken betrachtete. Halb blind wie er war, fiel es doch dem Friedensrichter auf. Er hielt daher inne, legte die Feder hin und schaute von Oliver zu Herrn Limbkins hinüber, der unbefangen zu erscheinen versuchte und lächelnd eine Prise nahm.

„Mein Junge“, sagte der alte Herr und beugte sich über das Pult. Oliver fuhr bei diesem Tone zusammen, denn er war einer freundlichen Anrede nicht gewohnt. „Mein Kind, du siehst blaß und verstört aus. Was ist dir?“

„Tretet ein wenig auf die Seite, Bumble“, sagte der andere Ratsherr, die Zeitung weglegend. Er sah Oliver teilnahmsvoll an und sprach: „Junge, sag uns, was dir ist, habe keine Angst!“

Oliver fiel auf die Knie und bat mit gefalteten Händen, man möge ihn lieber in die finstere Kammer sperren, ihm nichts zu essen geben, ihn prügeln, ja totschlagen, nur solle man ihn nicht mit diesem schrecklichen Manne fortschicken.

„Nun“, sagte Herr Bumble, indem er feierlich Augen und Hände gen Himmel hob, „von allen lügnerischen, hinterlistigen Waisenkindern, die mir je vorgekommen sind, bist du der frechste.“

„Haltet den Mund, Gemeindediener!“ sagte der zweite alte Herr, als sich Herr Bumble in dieser Weise Luft gemacht hatte.

„Verzeihung, Euer Gnaden!“ entgegnete Bumble, der seinen Ohren nicht traute, „haben Euer Gnaden mich gemeint?“

„Jawohl. Sie sollen den Mund halten!“

Herr Bumble war starr. Einem Gemeindediener den Mund zu verbieten Das war ja Revolution.

Der Friedensrichter guckte seinen Kollegen bedeutungsvoll an und sagte dann:

„Wir versagen dem Lehrbriefe unsere Genehmigung“; damit schob er das Pergament beiseite.

„Ich hoffe“, stotterte Herr Limbkins, „Sie werden nicht glauben, daß die Behörde fahrlässig gehandelt hat, noch dazu auf das unhaltbare Zeugnis eines Kindes hin.“

„Wir sind nicht berufen, darüber eine Meinung auszusprechen“, versetzte der alte Herr ziemlich scharf. „Nehmen Sie den Jungen wieder mit und behandeln Sie ihn anständig. Er scheint’s nötig zu haben.“

Am nächsten Morgen wurde Oliver wieder für fünf Pfund ausgeboten.

Oliver findet eine Stelle und macht den ersten Schritt ins Leben

Angesehene Familien schicken die jüngeren Söhne, die sonst keine Aussicht haben vorwärtszukommen, gern auf die See. Der Armenhausvorstand beschloß dieses weise Beispiel nachzuahmen. Er glaubte, es wäre das beste für Oliver. Vielleicht würde ihn ein Schiffer in der Trunkenheit zu Tode prügeln oder sonstwie um die Ecke bringen. Herr Bumble erhielt also den Auftrag, einen Schiffer ausfindig zu machen, der Oliver nehmen würde. Als er von dieser Mission zurückkehrte, traf er in der Haustür den Leichenbestatter Herrn Sowerberry. Dieser war trotz seines ernsten Berufes keinem Scherze abgeneigt. Er schüttelte Herrn Bumble die Hand und sagte:

„Ich habe den beiden Weibern, die gestern abend starben, eben Maß genommen.“

„Sie werden noch reich werden, Herr Sowerberry.“

„Glauben Sie? Aber die von der Gemeinde bewilligten Preise sind zu gering, Herr Bumble.“

„Die Särge sind auch dementsprechend klein“, erwiderte der Gemeindediener würdevoll lächelnd.

Herr Sowerberry fand diesen Witz furchtbar komisch und lachte anhaltend. Endlich sagte er:

„Größere sind bei dem neuen Verpflegungssystem auch nicht nötig.“

„Übrigens, Herr Sowerberry, wissen Sie keinen, der einen Lehrjungen gebrauchen kann?“ fragte Herr Bumble, der das Gespräch ablenken wollte. „Sehr günstige Bedingungen, sehr günstig.“

Währenddessen zeigte er mit seinem Stock nach dem Anschlag an der Tür und schlug dreimal bedeutungsvoll auf die großgedruckten Worte „fünf Pfund“.

„Nun, wie wär’s?“

„Ach, Sie wissen, Herr Bumble, daß ich viel Armensteuer bezahle.“

„Nun?“

„Da dachte ich, wenn ich soviel bezahle, hätte ich auch ein Recht, wieder etwas davon rauszukriegen. Ich möchte deshalb schon den Jungen nehmen.“

Herr Bumble faßte den Leichenbestatter am Arme und führte ihn ins Haus. Dort hatte Herr Sowerberry eine Unterredung von fünf Minuten mit dem Vorstand, und man kam überein, daß Oliver ihm noch am selben Abend auf Probe übergeben werden solle. Dies wurde Oliver von den Herren mitgeteilt und ihm gleichzeitig angedroht, daß man ihn auf die See schicken würde, wenn er es in der Lehre nicht aushielte und der Gemeinde nochmal lästig fiele. Oliver hörte das schweigend an, dann führte ihn der würdige Herr Bumble an den neuen Schauplatz von Leiden. Als sie dem Orte ihrer Bestimmung näher kamen, sagte Herr Bumble:

„Schiebe dir die Mütze aus dem Gesicht, und halte den Kopf hoch.“

Der Leichenbesorger hatte eben die Fensterladen seiner Werkstätte geschlossen und trug beim Schein einer Kerze einige Posten in sein Buch ein, als Herr Bumble eintrat.

„Sind Sie es, Bumble?“ sagte Sowerberry und blickte von seinem Buche auf.

„Niemand anders“ versetzte der Gemeindediener, „und da ist der Junge.“

Oliver machte einen Diener.

„Also das ist der Junge“, sagte der Leichenbesorger und hob die Kerze hoch, um ihn besser betrachten zu können. „Liebe Frau, komm doch mal herein.“

Frau Sowerberry kam aus einem kleinen Zimmer hinter der Werkstätte, sie war eine kleine, magere Person mit einem Gesicht wie eine Xanthippe.

„Das ist der Junge aus dem Armenhause, von dem ich dir gesprochen habe.“

„,Mein Gott“, sagte sie, der ist aber doch zu klein.“

„Klein ist er freilich“, bemerkte Herr Bumble, „aber er wird wachsen, sicher, er wird wachsen.“

„Das glaub‘ ich wohl“, sagte Frau Sowerberry, „aber von unserer Kost. – Da, geh die Treppe herunter, kleines Gerippe! Charlotte, gib dem Jungen etwas von dem, was für den Hund zurückgestellt war, der kriegt nichts mehr, da er heute morgen nicht nach Hause gekommen ist“, rief sie dem Dienstmädchen zu.

Oliver verschlang mit Gier den Hundefraß.

„Nun“ sagte Frau Sowerberry, „bist du fertig?“ Sie hatte mit Entsetzen und düsterer Ahnungen voll zugesehen, wie ein solcher Appetit in Zukunft zu befriedigen sei. Oliver bejahte.

„So komm mit. Dein Bett ist unter dem Ladentisch. Ich denke, es macht dir nichts aus, unter den Särgen zu schlafen. Doch gleichviel, eine andere Schlafstelle können wir dirnicht geben.“

Oliver lernt seine neue Umgebung kennen und nimmt zum erstenmal an einem Leichenbegängnis teil. Er faßt eine ungünstige Meinung vom Geschäfte seines Meisters

Am Morgen wurde Oliver durch lautes Pochen an der Ladentür geweckt. Während er in seine Kleider fuhr und die Sperrkette zu lösen begann, ließ sich eine Stimme vernehmen:

„Öffne die Tür, ein bißchen schnell!“

„Sofort, Herr“, antwortete Oliver und schloß an der Tür.

„Ich vermute, du bist der neue Lehrling, nicht wahr?“ sagte die Stimme durchs Schlüsselloch.

„Jawohl“

„Wie alt?“

„Zehn Jahre.“

„Dann setzt es Keile, wenn ich erst drin bin. Paß bloß auf, du Armenhäusler!“ Dann hörte man pfeifen.

Oliver schob zitternd die Riegel zurück und machte die Tür auf. Ein paar Augenblicke sah Oliver die Straße rauf und runter, im Glauben, der Unbekannte sei einige Schritte weitergegangen. Er sah aber niemand als einen dicken Bengel, der auf einem Stein vor dem Hause saß und ein Butterbrot verschlang.

Da Oliver sonst niemand in der Nähe sah, sagte er zu ihm:

„Verzeihung, haben Sie geklopft?“

„Jawohl“, antwortete der Bengel.

„Wünschen Sie einen Sarg?“ fragte Oliver harmlos.

Der Bengel schnitt ein grimmiges Gesicht und schrie ihn an, es werde nicht lange dauern, bis er selbst einen brauchte, wenn er sich derartige Witze mit seinem Vorgesetzten erlaube.

„Du weißt wohl nicht, wer ich bin, Armenhäusler?“ fuhr der Bengel fort und kam näher.

„Allerdings nicht!“.

„Ich bin Herr Noah Claypole, und du bist mein Untergebener“, sagte der Bengel. „Mach die Fensterladen auf, Faultier!“ Mit diesen Worten versetzte Herr Claypole unserm Oliver einen Tritt und ging mit gewichtiger Miene in den Laden.

Bald nachdem Oliver die Fensterladen aufgemacht hatte, kamen Herr und Frau Sowerberry herunter. Claypole und Oliver gingen nun die steile Treppe zur Küche hinab, um zu frühstücken. Charlotte, die Köchin, legte Noah die besten Bissen vor, während Oliver mit dem Abfall vorliebnehmen mußte.

Noah war zwar der Zögling einer Armenschule, aber keine Waise. Seine Mutter war eine Waschfrau, und sein Vater ein abgedankter, immer betrunkener Soldat. Sie wohnten in der Nachbarschaft. Die Ladenschwengel schimpften Noah „Lederhose“ , „Barmherzigkeitsschüler“ und dergleichen, und er steckte es schweigend ein. Nun warf ihm der Zufall eine namenlose Waise in den Weg, und an dieser nahm er nun mit Wucherzinsen Rache.

Oliver war schon drei Wochen im Hause des Leichenbesorgers, als eines Morgens Herr Bumble in die Werkstätte trat und aus seiner großen ledernen Brieftasche ein Blatt Papier herausnahm, das er Herrn Sowerberry einhändigte.

„Aha“, sagte letzterer, „wohl eine Bestellung auf einen Sarg, nicht wahr?“

„Zuerst auf einen Sarg und dann auf ein Begräbnis“, erwiderte Herr Bumble, sich verabschiedend.

„Nun“, meinte Herr Sowerberry und nahm den Hut, „je eher dieses Geschäft erledigt wird, desto besser ist es. Noah, du bleibst in der Werkstatt, und du, Oliver, setzt die Mütze auf und kommst mit mir.“ Sie zogen los und waren bald vor dem Haus, wo man ihrer Dienste bedurfte. Es stand in einer schmutzigen, armseligen Gasse. Sie stiegen die Treppe hinauf und machten an einer offenenen Tür halt, die weder Klingel noch Klopfer hatte. Herr Sowerberry pochte. mit dem Finger an. Ein junges Mädchen von vierzehn Jahren öffnete. Sie waren am richtigen Orte. In einem kleinen, der Tür gegenüberliegenden Alkoven lag unter einer Decke die Leiche.

Der Leichenbesorger zog ein Band aus der Tasche, kniete an der Seite der Toten, eines jungen Mädchens, nieder und nahm Maß. Dann eilte er, Oliver hinter sich herziehend, rasch hinaus.

Am nächsten Tage kehrten Oliver und sein Meister wieder nach diesem Ort des Jammers zurück, wo sie bereits Herrn Bumble mit vier Männern aus dem Armenhause trafen, die Trägerdienste leisten sollten. Der rohe Sarg wurde zugeschraubt und auf die Straße gebracht. „Ihr müßt rasch machen“, flüsterte Sowerberry der Mutter der Toten zu. „Wir haben uns etwas verspätet, und es wäre unschicklich, den Geistlichen warten zu lassen. Los, Leute, – und so schnell wie ihr könnt.“

Man hätte übrigens nicht nötig gehabt, sich so zu beeilen, denn als sie den Kirchhof erreichten, war noch kein Geistlicher zu sehen. Der Küster, der in der Sakristei saß, meinte, es könne wohl noch eine Stunde dauern, bis der Prediger käme. Man setzte den Sarg am Rande des Grabes nieder. Zerlumpte Jungen, die dieses Schauspiel nach dem Friedhof gelockt hatte, spielten herum und machten sich das Vergnügen, über den Sarg hin und her zu springen. Sowerberry und Bumble saßen in der Sakristei beim Küster und lasen die Zeitung. Endlich, nach einer guten Stunde, sah man Herrn Bumble, Sowerberry und den Küster nach dem Grabe eilen, und gleich darauf erschien der Geistliche. Herr Bumble prügelte, um den Anstand zu wahren, ein paar Jungen durch. Der Prediger las aus dem Gebetbuch so viel als sich in fünf Minuten zusammenfassen ließ. Drauf gab er dem Küster seinen Talar und eilte fort.

„Nun, Bill“, sagte der Leichenbesorger ztim Totengräber, „wirf das Grab zu.“

Nachher wurde der Kirchhof geschlossen, und Sowerberry fragte auf dem Heimweg Oliver, wie es ihm gefallen hätte. Mit einigem Zögern sagte dieser, nicht sehr gut.

„Ach, mit der Zeit wirst du dich schon dran gewöhnen“, meinte der Meister. „Wenn man es gewöhnt ist, ist’s einem gar nichts, Junge.“

Oliver machte sich so seine Gedanken, ob Herr Sowerberry lange gebraucht habe, sich an etwas der Art zu gewöhnen. Er hielt es aber für besser, seine Frage für sich zu behalten.

Oliver erlaubt sich kräftiger aufzutreten

Der Probemonat war vorüber und Oliver wurde endgültig als Lehrling eingestellt. Die Jahreszeit war damals gerade ungesund und Särge fanden guten Absatz. Im Laufe einiger Wochen hatte Oliver ziemlich Erfahrung gesammelt. Da er seinen Meister in den meisten Geschäften begleitete, um sich die Ruhe des Gemütes und jene Herrschaft über seine Nerven anzueignen, die ein so notwendiges Erfordernis für einen Leichenbesorger sind, so hatte er oft Gelegenheit, Zeuge der Ergebung und Seelenstärke zu sein, mit der soviele Menschen ihre Heimsuchungen und Verluste trugen.

Wurde ein reicher alter Herr oder eine reiche alte Dame beraben, die von einer ganzen Anzahl Neffen und Nichten zur letzten Ruhe begleitet wurden, so konnte Oliver in den meisten Fällen beobachten, daß dieselben Verwandten, die während der Krankheit der Verblichenen sich ganz trostlos gebärdet hatten, recht fröhlich miteinander plauderten, als ob nichts in der Welt imstande wäre, ihre gute Launezu trüben. Männer ertrugen den Verlust ihrer Frauen mit der heldenmütigsten Ruhe. Frauen, die um den dahingeschiedenen Gatten Trauerkleider anlegten, schienen nur darauf bedacht zu sein, recht anziehend auszusehen.

Daß Oliver sich durch das Beispiel dieser guten Leute in eine gleiche Gemütsruhe hineingearbeitet hätte, wage ich als sein Lebensbeschreiber nicht zu behaupten. Ich kann nur sagen, daß er monatelang die schlechte Behandlung Noahs mit Geduld über sich ergehen ließ. Charlotte mißhandelte ihn, weil es Noah tat, und Frau Sowerberry war seine erklärte Feindin, da Herr Sowerberry ihn gern zu haben schien.

Oliver fühlte sich daher zwischen diesen drei Gegnern und den vielen Leichenbegängnissen nicht ganz so behaglich als das hungrige Ferkel, das aus Versehen in die Kornkammer einer Brauerei eingeschlossen wurde.

Oliver und Noah befanden sich eines Tages zur Essenszeit allein in der Küche. Charlotte war gerade abgerufen worden, und so mußte man aufs Essen warten. Die Wartezeit glaubte Noah nicht würdiger ausfüllen zu können, als daß er Oliver höhnte und neckte. Noah legte also seine Beine auf das Tischtuch, zupfte Oliver an den Haaren, kniff ihn in die Ohren, nannte ihn einen Kriecher und versprach ihm, dabei zu sein, wann und wo immer man ihn hängen würde. Da diese Neckereien ihren Zweck verfehlten, Oliver zum Weinen zu bringen, wurde Noah noch ausfallender. Er fragte:

„Armenhäusler!Wie geht’s deiner Mutter?“

„Sie ist tot“, versetzte Oliver, „unterstehdich aber nicht, über sie zu reden.“ Dabei wurde er feuerrot im Gesicht und um seinen Mund zuckte es verräterisch, als ob er im nächsten Augenblick losweinen müßte. Noah sah dies mit Befriedigung und fuhr fort:

„Woran starb sie denn?“

„An gebrochenem Herzen, wie mir eine alte Wärterin gesagt hat“,murmelte Oliver vor sich hin. „Ich kann mir denken, was das heißt.“

Als Noah eine Träne über Ollvers Backen rinnen sah, pfiff er ein lustiges Lied und sagte dann:

„Was bringt dich denn so zum Heulen?“

„Du nicht“ versetzte Oliver, indem er rasch die Träne wegwischte. „Glaub das nur nicht.“

„Was, ich nicht?“ höhnte Noah.

„Nein, du nicht“, entgegnete Oliver scharf. „Nun ist’s aber genug. Wenn du noch ein Wort über sie sagst, dann sollst du mal sehen.“

„Na, was denn? Was soll ich sehen. Armenhäusler, du wirst frech! Und deine Mutter! Wird auch ’ne feine Nummer gewesen sein. Du lieber Himmel!“ Noah rümpfte die Nase.

Oliver fraß seinen Ärger in sich und schwieg. Dadurch ermuntert, fuhr Noah im Ton spöttischen Mitleides fort:

„Du weißt, da ist nichts mehr zu ändern, auch tust du uns allen leid, aber du mußt doch wissen, daß deine Mutter eine ganz schlimme Person war, vollkommen herunter gekommen.“

„Was sagst du da“, fragte Oliver schnell aufblickend.

„Ein ganz heruntergekommenes Frauenzimmer, Armenhäusler“, versetzte Noah kühl, „und es ist nur gut, daß sie auf diese Weise starb, sonst hätte sie sicher im Gefängnis oder am Galgen geendet.“

Glutrot im Gesicht, sprang Oliver auf und Noah an die.Kehle, nahm dann seine ganze Kraft zusammen und schmetterte ihn mit einem Schlag zu Boden.

„Er bringt mich um!“ schrie Noah. „Charlotte! Frau Sowerberry! Hilfe, Hilfe! Oliver mordet mich! Er ist verrückt geworden! Char – lotte!“

Noahs Hilfegeschrei wurde durch ein lautes Kreischen Charlottens,und ein noch lauteres der Meisterin erwidert. Erstere eilte durch eine Seitentür in die Küche, während Frau Sowerberry so lange auf der Treppe stehen blieb, bis sie sich überzeugt hatte, daß keine Gefahr für ihr Leben zu fürchten sei.

„Du verfluchter Lump“, schrie Charlotte, indem sie Oliver mit kräftiger Faust packte, „du undankbarer, meuchelmörderischer, nichtswürdiger Schurke“, dabei schlug sie unbarmherzig auf ihn ein. Nun stürzte auch noch Frau Sowerberry in die. Küche und zerkratzte Oliver das Gesicht. Diesen günstigen Stand der Angelegenheit machte sich Noah zunutze, er sprang auf und knuffte Oliver von hinten.

Als alle drei müde waren und nicht mehr weiter prügeln konnten, schleppten sie den sich wehrenden, aber keineswegs entmutigten Oliver in den Keller und schlossen ihn da ein. Frau Sowerberry sank in einen Stuhl und brach in Tränen aus.

„Himmel, sie stirbt“, rief Charlotte. „Schnell, liebster Noah, ein Glas Wasser.“

„Ach, Charlotte“, stöhnte die Meisterin, „wir müssen Gott danken, daß wir nicht alle in unseren Betten ermordet wurden.“

„Ja, der arme Noah war schon halbtot, als ich hinzukam.“

„Armer Junge!“ sagte Frau Sowerberry mitleidig. „Doch was machen wir nun? Der Meister ist nicht zu Hause, und in zehn Minuten wird Oliver die Tür eingestoßen haben!“

Seine Fußtritte hörte man auch schon gegen diese donnern.

„Ich glaube, das beste wäre, man holte die Polizei“ , meinte Charlotte.

„Oder das Militär“, fügte Herr Noah Claypole hinzu.

„Nein“, rief Frau Sowerberry, die sich plötzlich an Olivers alten Freund erinnerte, lauf zu Herrn Bumble, Noah, und bitte ihn, er möge unverzüglich hierherkommen. Renne, eine Mütze brauchst du nicht.“

Ohne Zeit zu verlieren, stürzte Noah fort.

Oliver bleibt widerspenstig

Noah Claypole rannte ohne Aufenthalt nach dem Armenhause, wo er atermlos ankam. Nachdem er sich einige Minuten an der Tür ausgeruht hatte, setzte er eine klägliche Miene auf und klopfte dann laut an das Pförtchen. Nächdem man ihm geöffnet hatte, schrie Noah in ängstlichem Tone:

„Herr Bumble, Herr Bumble!“ Dieser eilte herbei.

„Ach, Herr Bumble!“ rief Noah, „Oliver hat – –“

„Was, – doch nicht etwa weggelaufen?“

„Nein, Herr, weggelaufen ist er nicht, aber ganz bösartig ist er geworden. Er hat mich umbringen wollen, und dann wollte er auch Charlotte und die Meisterin ermorden. Es war ganz schrecklich.“ Noah fing laut zu heulen an. Der Herr mit der weißen Weste ging gerade über den Hof; er trat auf Bumble zu und fragte, was mit dem Jungen los sei.

„Es ist ein Junge aus der Armenschule“, versetzte Herr Bumble, „der von dem jungen Twist beinahe ermordet worden wäre, jawohl, Herr.“

„Donnerwetter“, rief der Herr, „habe ich’s nicht gesagt? Ich hatte immer das Gefühl, daß Oliver Twist mal gehängt werden würde.“

„Er wollte auch die Köchin umbringen“, fuhr Herr Bumble bleichen Gesichts fort.

„Und die Meisiterin auch“, fügte Noah hinzu.

„Und den Meister ebenfalls –, so, sagtest du doch, Noah?“ ergänzte Herr Bumble.

„Nein, der war ausgegangen, sonst würde er ihn auch ermordet haben. Er sagte aber, er wolle –“

„So, sagte er das wirklich, er wolle“, fragte der Hery mit der weißen Weste.

„Ja, Herr!“ erwiderte Noah, „und die Meisterin wünscht zu wissen, ob Herr Bumble Zeit hat, hinüberzukommen und Oliver durchzuprügeln. Der Meister ist nämlich nicht zu Hause.“

„Gewiß, mein Junge, gewiß!“ sagte der Herr und streichelte Noahs Kopf. „Du bist ein guter Junge. Hier hast du einen Penny. Gehen Sie schnell mit Ihrem Stock zu Sowerberrys und schonen Sie Oliver Twist nicht.“

„Gewiß nicht,. Herr“, sagte Bumble und holte dann seinen Hut. Er begab sich in aller Eile, soweit es sich mit seiner Würde vertrug, nach der Werkstatt des Leichenbesorgers.

Hier hatte sich der Stand der Dinge nicht geändert. Da Oliver fortfuhr, mit ungeminderter Kraft gegen die Kellertüre zu stoßen, so hielt es Herr Bumble für klug, erst zu parlamentieren, bevor er die Tür öffnete. Er rief deshalb durchs Schlüsselloch:

„Oliver!“

„Lassen Sie mich raus“, erwiderte dieser von innen.

„Kennst du meine Stimme?“ fragte Herr Bumble.

„Und du fürchtest dich nicht, Junge? Zitterst nicht?“

„Nein!“

Eine solche Antwort hatte Herr Bumble nicht erwartet. Er war baff.

„Wissen Sie, Herr Bumble sagte Frau Sowerberry, der Junge muß verrückt sein, sonst würde er es nicht wagen, so mit Ihnen zu sprechen.“

„Das ist nicht Verrücktheit“, versetzte Herr Bumble nach einigen Augenblicken tiefen Nachdenkens, „das ist das Fleisch.“

„Was für Fleisch?“ fragte die Meisterin.

„Jawohl, das Fleisch. Sie haben ihn überfüttert. Daher kommt diese störrische Seele und der Geist des Widerspruchs, die für einen Menschen in seiner Lage nicht passen. Was haben überhaupt Arme mit Seele und Geist zu schaffen. Es ist genug, daß wir ihren Körper leben lassen. Hätten Sie dem Bengel nichts als Haferschleim gegeben, so wäre so etwas nie vorgefallen.“

In diesem Augenblick kam Herr Sowerberry nach Hause, und man erzählte ihm Olivers Verbrechen mit so viel Übertreibungen, daß er in einen mächtigen Zorn geriet. Er schloß die Kellertür im Nu auf und packte Oliver beim Kragen.

„Du bist mir ja ein nettes Früchtchen“, brüllte der Meister und gab ihm ein paar Maulschellen.

„Noah schmähte meine Mutter“, erwiderte Oliver trotzig.

„Wenn schon, du Strolch“, schrie die Meisterin. „Sie. hat’s verdient und noch viel mehr.“

„Sie hat’s nicht verdient“, entgegnete Oliver.

„Doch“, geiferte Frau Sowerberry.

„Das ist ’ne Lüge“, schrie der Junge.

Frau Sowerberry brach in einen Strom von Tränen aus, und dies ließ dem Meister keine Wahl. Er mußte seine teure Gattin zufriedenstellen, und so prügelte er denn, wenn auch ungern, den armen Jungen in einer Weise durch, die Herrn Bumbles nachträgliche Anwendung des Amtsstockes eigentlich unnötig machte. Dann wurde Oliver bei Wasser und Brot wieder eingeschlossen und durfte spät am Abend unter den Stichelreden Noahs und Charlottes sein trauriges Bett bei den Särgen aufsuchen.

Als Oliver in der düsteren Werkstätte allein war, ließ er seinen Gefühlen freien Lauf. Er hatte die Schmähungen mit Verachtung angehört und jede Mißhandlung ohne einen Schmerzenslaut hingenommen. Hier aber, wo ihn niemand sehen konnte, fiel er auf die Knie, verbarg sein Gesicht in den Händen und weinte heiße Tränen. Lange blieb Oliver in dieser Stellung. Als er wieder aufstand, war das Licht fast heruntergebrannt. Er horchte und entfernte dann leise die Riegel von der Tür. Er sah hinaus. Es war eine kalte, finstere Nacht. Kein Lüftchen wehte. Er schloß leise wieder die Tür, dann band er seine wenigen Kleidungsstücke mit einem Taschentuch zusammen und erwartete den Morgen auf einer Bank. Als die Sonne aufging, öffnete er aufs neue die Tür, sah sich scheu um und drückte sie dann hinter sich ins Schloß. Auf der Straße sah er sich nach rechts und links um, unschlüssig, wohin er fliehen sollte. Schließlich nahm er den Weg, der bergan führte, und bemerkte nach kurzer Zeit, daß er ganz nahe der Anstalt war, wo er seine ersten Kinderjahre zugebracht hatte.

Er langte bei dem Hause an. Niemand schien zu dieser frühen Stunde in demselben wach zu sein. Oliver blieb stehen und guckte durch das Gartengitter. Ein Kind jätete eben auf einem Beete Unkraut aus. Als es sein blasses Gesicht erhob, erkannte Oliver die Züge eines seiner früheren Kameraden.

„Pst, Dick!“ rief Oliver, und der Junge lief ans Tor und streckte seine dünnen Armchen zum Gruße durch das Gitter. „Ist niemand auf, Dick?“

„Außer mir, keiner“, entgegnete der Junge.

„Hör mal, du darfst nicht sagen, daß du mich gesehen hast, Dick“, sprach Oliver. „Ich bin weggelaufen. Man hat mich geschlagen und schrecklich mißhandelt. Ich will jetzt mein Glück in der Fremde versuchen. – Du siehst aber blaß aus, Dick.“

„Ich hörte, wie der Doktor sagte, ich müßte sterben“, sagte Dick mit einem schwachen Lächeln. „Ach, wie ich mich freue, dich wiedergesehen zu haben, Oliver, aber halt dich nicht auf. Eile.“

„Erst sage ich dir jedoch Lebewohl“, entgegnete Oliver. Ich werde dich wiedersehen, Dick; ganz gewiß. Du wirst noch gesund und glücklich werden.“

„Das hoffe ich auch, wenn ich einmal tot bin, früher nicht. Ich fühle, daß der Doktor recht hat, denn ich träume soviel vom Himmel und von Engeln und freundlichen Gesichtern, die ich nie sehe, wenn ich wach bin. Küsse mich“, sagte. der Kleine, indem er an dem niedrigen Tore emporkletterte und seine Ärmchen um Olivers Nacken schlang. „Lebwohl, lieber Oliver! Gott segne dich!“

Es war der Segenswunsch eines kleinen Kindes, aber es war der erste, den Oliver je über sein Haupt herabrufen hörte. Er vergaß ihn nie in allen Kämpfen, Mühen und Leiden seines späteren Lebens.

Oliver geht nach London, unterwegs begegnet er einem schnurrigen jungen Herrn

Bis Mittag wanderte Oliver, ohne zu rasten, die Landstraße entlang. Der Meilenstein, an dem er jetzt wagte auszuruhen, sagte ihm, – daß er noch hundert Kilometer von London entfernt sei. Dieser Name erweckte in der Seele des Knaben eine Flut von Gedanken. – London! – Diese große Stadt! – Niemand – nicht einmal Herr Bumble – konnte ihn dort auffinden. Er hatte im Armenhause oft alte Leute sagen hören, daß ein pfiffiger Junge in London nicht Hungers sterben würde. Nachdem er weiter sechs Kilometer zurückgelegt hatte, überlegte er, wie er wohl am besten hinkommen könne. Er hatte eine Brotrinde, ein Hemd, zwei Paar Strümpfe in seinem Bündel und einen Penny – ein Geschenk Sowerberrys – in der Tasche.

Ein reines Hemd, dachte Oliver, ist etwas sehr Angenehmes – wie auch das Paar gestopfter Strümpfe und der Penny aber für einen Marsch von vierundneunzig Kilometern nur geringe Hilfe. Oliver legte an diesem Tage dreißig Kilometer zurück und genoß die ganze Zeit über nichts als seine trockene Brotrinde und einige Glas Wasser. Mit Einbruch der Nacht kroch er in einen Heuhaufen und schlief bald fest ein. Er erwachte am nächsten Morgen durchgefroren und hungrig. Sein Penny ging für ein kleines Laib Brot drauf. An diesem Tage konnte er nicht mehr als achtzehn Kilometer schaffen. Nach einer weiteren im Freien zugebrachten Nacht fühlte er sich noch elender und konnte sich kaum auf den Beinen halten.

Er wartete am Fuße eines steilen Berges, bis eine Postkutsche kam, deren außensitzende Passagiere er anbettelte. Diese wollten sehen, wie weit er für einen halben Penny laufen könnte. Eine Weile versuchte Oliver mit der Kutsche Schritt zu hälten, aber die wunden Füße und seine Müdigkeit ließen es nicht lange zu. Als die Reisenden dies sahen, steckten sie ihren halben Penny wieder in die Tasche und nannten ihn einen faulen Hund.

In einigen Ortschaften waren große Warnungstafeln aufgestellt, die jeden Bettler mit Gefängnis bedrohten. Wenn sich nicht ein gutherziger Schrankenwärter und eine gutmütige alte Frau seiner erbarmt und ihm zu essen gegeben hätten, so.wäre es Oliver wahrscheinlich wie seiner Mutter ergangen; er wäre vor Hunger auf der Landstraße umgefallen.

Am siebenten Tage nach seiner Flucht hinkte Oliver morgens früh langsam in die kleine Stadt Barnet hinein. Die Fensterläden waren geschlossen, die Straßen leer. Die Sonne erhob sich soeben in all ihrer Herrlichkeit, aber, ihre Strahlen dienten nur dazu, dem Jungen, der mit blutenden Füßen auf einer Türschwelle saß, seine ganze trostlose Lage und Verlassenheit zu zeigen.

Allmählich öffneten sich die Fensterläden, und auf den Straßen zeigten sich Menschen. Einige blieben stehen, um Oliver anzustarren, aber niemand half ihm, ja, man nahm sich nicht einmal die Mühe, ihn zu fragen, woher er käme.

Da trat plötzlich ein Junge auf ihn zu, der ihn schon lange heimlich beobachtet hatte. Er sagte:

„Hallo, Dicker, was ist los mit dir?“

Der Junge mochte ungefähr von Olivers Alter sein und hatte ein ziemlich gemeines Gesicht, Stumpfnase, niedrige Stirn, kleine, stechende Augen, krumme Beine und war für sein Alter klein, dabei furchtbar schmutzig. Er benahm sich jedoch ganz wie ein Erwachsener. Sein Rock war zu weit und reichte ihm bis zu den Hacken. Der Hut saß so leicht auf seinem Kopfe, daß er jeden Augenblick herunterzufallen drohte, doch gab ihm der Junge dann mit einem Ruck einen Schwung, wodurch er wieder in die richtige Lage kam.

„Ich bin hungrig und müde“, antwortete Oliver mit Tränen in den Augen, „sieben Tage bin ich in einem fort gewandert.“

„In einem fort? Sieben Tage? Ich verstehe, wohl auf Schenkels Befehl? – Ich glaube, du weißt nicht mal, was ein Schenkel ist?“

„Doch“, erwiderte Oliver sanft, „das ist der obere Teil des Beins.“

„Mensch, du bist naiv!“ rief der junge Herr aus. „Ein Schenkel ist ein Friedensrichter, und wer auf Schenkels Befehl geht, kommt nicht vorwärts. Er muß immer aufwärts, ohne daß es je bergab ginge. Noch nie in der Mühle gewesen?“

„In was für einer Mühle?“ fragte Oliver.

„Na in der Tretmühle. – Doch du schiebst Kohldampf und mußt was zwischen die Zähne kriegen. Viel Moos habe ich ja auch nicht, aber es wird für dich schon reichen. Stell dich auf deine Hammelbeine und komm.“

Der junge Herr half Oliver aufstehen und nahm ihn mit in eine Schenke. Dort ließ er Bier, Brot und Schinken bringen. Oliver machte sich tüchtig über die Mahlzeit her, wobei ihn sein neuer Freund aufmerksam beobachtete. Als er mit dem Essen fertig war, fragte ihn der fremde Junge:

„Du willst nach London?“

„Ja.“

„Hast du schon ’ne Wohnung?“

„Nein.“

„Geld?“

„Nein.“

Der junge Herr pfiff durch die Zähne.

„Wohnst du in London?“ fragte jetzt Oliver.

„Ja, wenn ich zu Hause bin. – Aber du brauchst ’ne Schlafstelle, nicht wahr?“

„Freilich, ich habe seit einer Woche unter keinem Dach mehr geschlafen.“

„Laß dir darum keine grauen Haare wachsen, ich muß heute abend wieder nach London und kenne dort einen ganz respektablen alten Herrn, bei dem du umsonst wohnen kannst. Es muß dich allerdings ein Bekannter bei ihm einführen. Mich kennt er aber zur Genüge“, fügte der fremde Junge verschmitzt lächelnd hinzu.

Dieses unerwartete Anerbieten war zu verführerisch, um ausgeschlagen zu werden. Es entspann sich nun zwischen den beiden Jungen eine vertrauliche Unterhaltung, in deren Verlauf Oliver erfuhr, daß sein neuer Freund Jack Dawkins heiße und ein besonderer Liebling jenes alten Herrn sei. Dawkins Äußeres sprach allerdings nicht zugunsten einer solchen Protektion, da er aber ziemlich lockere Redensarten führte und auch gestand, daß seine Freunde ihn den pfiffigen Gannef(*Spitzbuben*) nannten, so folgerte Oliver, er möge wohl ein leichtsinniger Mensch sein, an dem die guten Lehren seines Wohltäters verlorengingen. Er beschloß daher bei sich, sich die gute Meinung des alten Herrn zu verschaffen und den weiteren Verkehr mit dem Gannef abzubrechen, wenn er ihn, wie er bereits jetzt schon vermutete, unverbesserlich finden sollte.

Da Dawkins nicht vor Einbruch der Nacht in London eintreffen wollte, so wurde es fast elf Uhr, als sie den Schlagbaum von Islington erreichten. Der Gannef riet Oliver, sich dicht hinter ihm zu halten, und eilte durch ein Gewirr kleiner Straßen und Gäßchen mit einer Geschwindigkeit, daß unser Held mächtig aufpassen mußte, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren.

Trotzdem konnte sich Oliver nicht enthalten, ein paar hastige Blicke auf seine Umgebung zu werfen. Er befand sich jetzt an einer Stelle, wie er sie nie armseliger und schmutziger gesehen hatte. Die sich bergab ziehende Straße war schmal und dreckig und ihre Luft mit Gestank erfüllt Er konnte zwar ziemlich viel kleine Läden bemerken, aber die einzigen Warenvorräte schienen in Haufen von Kindern zu bestehen, die sogar in dieser späten Stunde vor den Türen herumkrochen. Die einzigen Stellen, die in dieser Atmosphäre gediehen, waren die Kneipen, in denen sich die niedrigste Klasse der Irländer mit Schimpfen und Raufen unterhielt. Bedeckte Gänge und Höfe, die sich von der Hauptstraße abzweigten, führten zu kleineren Häusergruppen, wo sich betrunkene Männer und Frauen buchstäblich im Kote wälzten. Aus dem Schatten der Torwege lösten sich große, verdächtig aussehende Kerle, die nichts Gutes im Schilde zu führen schienen, und schlichen scheuen Blicks über die Straße.

Sie waren am oberen Ende der Straße angelangt, und Oliver überlegte gerade, ob es nicht besser sei, davonzulaufen, als ihn sein Führer am Arm ergriff und durch die offene Tür in ein Haus in der Nähe der Field Lane zog. Sobald sie drin waren, schloß Dawkins die Tür ab.

„Der Gannef pfiff und antwortete auf eine Stimme von unten: „Was ist los?“

„Gannoven(*Spitzbuben*)!“

Unmittelbar darauf zeigte sich am hinteren Ende des Ganges ein schwacher Lichtschein, und das Gesicht eines Mannes erschien am zerbrochenen Geländer einer alten Kellertreppe.

„Ihr seid zwei, wer ist der andere?“

„Ein neuer Kumpel(*Kamerad*)“,.versetzte Jack Dawkins und stieß Oliver vorwärts.

„Wo kommt er her?“

„Aus der Fremde. Ist Fagin oben?“

„Ja, er sortiert die Rotzlappen(*seidene Taschentücher*). Geht hinauf.“ Die Kerze und das Gesicht verschwanden.

Oliver stolperte an der Hand Dawkins die Treppe hinauf. Oben angelangt, öffnete dieser die Tür eines Hinterzimmers und zog Oliver hinein.

Die Wände und die Decke des Gemachs waren von Alter und Schmutz ganz schwarz. Auf einem elenden Tisch brannte eine Kerze, die in den Hals einer Bierflasche gesteckt war. Über dem Feuer hing eine Bratpfanne, in der einige Würste prasselten, und daneben stand, eine Gabel in der Hand, ein alter, zusammengeschrumpfter Jude, dessen spitzbübisches Gesicht von verfilztem, rotem Haar umrahmt war. Er hatte einen schmierigen flanellenen Schlafrock an und schien seine Aufmerksamkeit zwischen der Bratpfanne und einem Kleiderständer zu teilen, auf dem eine Anzahl seidener Taschentücher hing. Um den Tisch saßen vier oder fünf Jungen, keiner älter als der Gannef, und rauchten aus langen Tonpfeifen Tabak und tranken Schnaps wie Alte. Sie drängten sich um Dawkins, als dieser dem Juden etwas zuflüsterte, und grinsten dann Oliver an.

„Das ist er, Fagin“, sagte Jack Dawkins laut; „mein Freund, Oliver Twist.“

Der Jude grinste, machte Oliver eine tiefe Verbeugung, nahm seine Hand und sagte, er freue sich, seine Bekannt,schaft gemacht zu haben. Hierauf umringten ihn die rauchenden jungen Herren und schüttelten ihm kräftig die Hände. Einer war besorgt, ihm die Mütze abzunehmen und aufzuhängen, während ein anderer seinen Diensteifer so weit trieb, ihm in die Taschen zu greifen, um ihm die Mühe zu ersparen, sie vor Schlafengehen auszuleeren. Hätte der Jude nicht mit der Gabel die Köpfe der liebenswürdigen Jünglinge bearbeitet, so hätten sich deren Höflichkeiten noch viel weiter erstreckt.

„Wir freuen uns alle sehr, dich kennenzulernen, Oliver“, sagte der Jude. „Gannef, nimm die Würste weg und laß Oliver an den Kamin, damit er sich wärmen kann. Du guckst nach den Taschentüchern, Liebling? Sind ’ne ganze Menge, nicht wahr? Wir haben sie für die Wäsche zusammengesucht, das ist alles, Oliver, ja, das ist alles! Ha! Ha! Ha!

In das Gelächter stimmten die hoffnungsvollen Schüler des alten Herrn laut ein. Dann setzte man sich zu Tisch.

Als Oliver seinen Teil gegessen, reichte ihm der Jude ein Glas Grog und ließ es ihn sogleich austrinken, weil noch ein anderer des Glases bedürfe. Nachdem Oliver dies getan, fiel er in einen tiefen Schlaf und wurde von seinem Freunde Jack auf ein aus alten Säcken bereitetes Lager getragen.

Enthält weitere Mitteilungen über den spaßhaften alten Herrn und seine hoffnungsvollen Schüler

Oliver erwachte am nächsten Morgen erst spät aus einem langen und festen Schlafe. Es befand sich nur noch der alte Jude im Zimmer, der sich zum Frühstück Kaffee kochte und leise vor sich hinpfiff. Oliver schlief zwar nicht mehr, er war aber auch noch nicht hellwach. Er sah mit halbgeschlossenen Augen den Juden und hörte sein leises Pfeifen.

Als der Kaffee fertig war, setzte der Alte die Pfanne auf den Kaminrost und stand einige Minuten unschlüssig da, als ob er nicht wisse, was er nun machen solle. Er drehte sich nach Oliver um und rief ihn an. Dieser antwortete jedoch nicht, sondern schien zu schlafen.

Der Jude beruhigte sich hierbei und verriegelte leise die Tür. Dann hob er eine Diele hoch und brachte ein Kästchen zum Vorschein, das er behutsam auf den Tisch stellte. Seine Augen funkelten, als er es öffnete und hineinsah. Er zog einen alten Stuhl an den Tisch, setzte sich und nahm eine herrliche, mit Brillanten besetzte, goldene Uhr heraus.

„Aha“, sagte der Jude, indem sich sein Gesicht zu einem scheußlichen Grinsen verzog, „verflucht schlaue Hunde! – Dichte gehalten bis zuletzt! Dem alten Pfaffen nicht das Versteck verpfiffen! Alten Fagin nicht reingelegt. Nu, was hätt’s auch genützt? Wären dem Strick doch nicht entgangen. Nein, nein, nein! Brave Jungens!“

Unter diesen und ähnlichen halblaut gesprochenen Betrachtungen legte der Jude die Uhr wieder behutsam an ihre Stelle zurück und holte dann wenigstens ein halbes Dutzend andere aus dem Kästchen, die er alle mit dem gleichen Vergnügen betrachtete. Dann kam die Reihe an Ringe, Busennadeln, Armbänder und solche Kostbarkeiten, die Oliver nicht einmal mit Namen kannte. Zuletzt nahm der Alte ein ganz kleines Geschmeide heraus. Es schien sich eine schwer zu lesende Inschrift darauf zu befinden, denn :der Jude legte es auf den Tisch, beschattete es mit der Hand und brütete lange darüber. An dem Gelingen seines Versuches verzweifelnd, lehnte er sich schließlich in seinen Stuhl zurück und murmelte vor sich hin:

„Es ist doch was Schönes ums Hängen! Tote bereuen nicht und machen keine Dummheiten. Plaudern auch nichts aus. Das ist gut fürs Geschäft. Fünf aufgehängt der Reihe nach, und keiner übriggeblieben, mich zu verpfeifen.“

Plötzlich fielen des Alten Augen auf Oliver, dessen Blicke in stummer Neugier auf ihn gerichtet waren. Er warf den Deckel des Kästchens hastig zu und ergriff das auf dem Tische liegende Brotmesser, dabei zitterte er am ganzen Körper.

„Was ist das?“ schrie Fagin. „Warum beobachtest du mich? Warum bist du wach? Was hast du gesehen? Rede, Junge, schnell, wenn dir dein Leben lieb ist.“

„Ich konnte nicht länger schlafen, Herr“, erwiderte Oliver demütig. „Es tut mir sehr leid, wenn ich Sie gestört habe.“

„Bist du nicht schon seit einer Stunde wach?“ fragte der Jude mit finsterem Blick.

„Nein, Herr, bestimmt nicht“, antwortete Oliver.

„lst’s auch wahr?“ versetzte der Jude, und er nahm eine noch drohendere Haltung ein.

„Auf mein Wort, es ist wahr, ich bin wirklich nicht wach gewesen“, entgegnete Oliver ernst.

„Schon gut, schon gut, mein Lieber!“ sagte der Jude, indem er sein früheres Wesen wieder annahm. Er spielte noch ein wenig mit dem Messer, ehe er es weglegte, um Oliver glauben zu machen, er hätte es nur aus Zerstreuung in die Hand genommen. „Ich wußte das schon vorher und wollte dir nur einen kleinen Schreck einjagen. Du bist ein braver Junge. Ha! ha! du bist ein braver Junge, Oliver.“ Er rieb sich kichernd die Hände, guckte aber unruhig nach dem Kästchen hin.

„Hast du etwas von den hübschen Sachen gesehen, Liebling?“ sagte dei Jude nach einer kurzen Pause und legte die Hand auf das Kästchen.

„Ja, Herr“, erwiderte Oliver.

„Ach!“ rief erblassend der Jude. „Sie sind – ja sie sind mein Eigentum, Oliver, mein winziges Eigentum, mein alles für meine alten Tage. Die Leute nennen mich einen Geizhals. Ja, das tun sie.“

Oliver dachte, der alte Herr müßte tatsächlich ein rechter Geizhals sein, sonst würde er nicht so elend wohnen. Dann fiel ihm aber ein, daß die Fürsorge für den Gannef und die übrigen Jungen ihn ein schönes Geld kosten möge. Oliver fragte nun bescheiden, ob er aufstehen dürfe.

„Gewiß, Liebling“, antwortete der Jude. „Dort in der Ecke steht ein Krug Wasser, hole ihn, ich werde dir eine Waschschüssel geben.“

Oliver tat, wie ihm geheißen, und als er sich umdrehte, war das Kästchen verschwunden. Nachdem er sich gerade gewaschen hatte, trat der Gannef mit einem jungen Kameraden ins Zimmer. Dieser wurde Oliver als Karl Bates förmlich vorgestellt, er war einer von den rauchenden Jungen des gestrigen Abends.

Sie setzten sich zum Frühstück nieder, und der Jude fragte mit einem bedeutungsvollen Blick auf Oliver den Gannef:

„Liebe Kinder, hoffentlich habt ihr heute morgen schon fleißig gearbeitet?`

„Aber mächtig“, entgegnete Dawkins.

„Wie ’n Pferd“, fügte Bates hinzu.

„Ihr seid brave Jungen! Was hast du erwischt, Gannef?“

„Ein paar Brieftaschen.“

„Gespickte?“ fragte der Jude aufgeregt.

„So ziemlich“, sagte Dawkins und holte eine rote und eine grüne aus der Tasche.

Der Alte durchsuchte sie sorgfältig und meinte dann: „Nicht so schwer, als sie hätten sein können, aber schöne Stücke, gediegene Arbeit. Nicht wahr, Oliver?“

„Ja, allerdings, Herr“, erwiderter Oliver. Bei dieser Antwort brach Karl Batees in ein lautes Gelächter aus, zur großen Verwunderung Olivers, der absolut keinen Grund dazu sah.

„Und was hast du mitgebracht?“ fragte Fagin den Karl Bates.

„Rotzlappen“, versetzte der junge Herr; dabei zog er vier Schnupftücher aus der Tasche.

Der Jude besichtigte sie genau und sagte dann: „Sie sind gut, sehr sogar. Aber du hast sie nicht richtig gezeichnet, wir müssen die Buchstaben mit der Nadel wieder auftrennen. Das kann Oliver machen. Willst du? Ha! ha! ha!“

„Gern“, sagte dieser.

„Möchtest du nicht auch so leicht wie Karl Bates Taschentücher besorgen, hättest du Lust, Liebling?“ fragte der Jude.

„Große Lust, wenn Sie es mich lehren wollten, Herr.“

Karl Bates fand in dieser Antwort etwas so unwiderstehlich Komisches, daß er abermals in ein schallendes Gelächter ausbrach. Er wäre dabei fast erstickt, da er gerade den ganzen Mund voll Kaffee hatte. „Er ist doch gar zu naiv!“ sagte Karl gleichsam als Entschuldigung für sein unhöfliches Benehmen. Der Gannef strich Oliver über das Haar und sagte, er würde es schon noch lernen. Als der Jude sah, daß Oliver rot wurde, brachte er das Gespräch auf einen anderen Gegenstand. Er fragte, ob bei der heutigen Hinrichtung viele Leute da waren. Aus den Antworten der beiden Jungen ging hervor, daß sie auch zugeguckt hatten. Oliver wunderte sich deshalb nicht wenig, wie sie trotzdem noch soviel hatten arbeiten können.

Als sie fertig mit Frühstücken waren, spielte der lustige alte Herr mit den beiden Jungen ein gar seltsames Spiel. Der Alte steckte nämlich eine Schnupftabakdose in die eine und eine Brieftasche in die andere Hosentasche. Eine Uhr, die an einer um den Hals geschlungenen Kette hing, brachte er in seiner Westentasche unter. An sein Hemd befestigte er eine unechte Brillantnadel. Dann knöpfte er den Rock fest zu, verstaute sein Brillenfutteral und das Schnupftuch in den Rocktaschen. Mit einem Stock in der Hand, ging er im Zimmer auf und ab, ganz so wie man alte Herren in den Straßen der Stadt umherschlendern sieht. Er blieb hin und wieder bei dem Kamin oder bei der Tür stehen und tat so, als ob er aufmerksam ein Schaufenster besähe. Dabei guckte er sich aber immer um, als wenn er sich vor Dieben fürchtete. Von Zeit zu Zeit klopfte er auf die Taschen, um sich zu überzeugen, daß er nichts verloren habe. Er meinte die Sache so natürlich, daß Oliver lachen mußte, und zwar lachte er derart, daß ihm die Tränen über die Backen liefen. Die ganze Zeit über waren die beiden Jungen dem alten Herrn gefolgt. Sobald er sich jedoch umdrehte, zogen sie sich mit unnachahmlicher Geschwindig;keit zurück. Schließlich trat ihm der Gannef auf die Zehen, oder strauchelte wie zufällig über seinen Stiefel, während Karl Bates ihn von hinten anrempelte. In diesem Augenblick entwendeten sie ihm mit außerordentlicher Geschicklichkeit Schnupftabaksdose, Brieftasche, Busennadel, Uhr, Taschentuch und sogar das Brillenfutteral. Fühlte der alte Herr eine Hand in einer seiner Taschen, so kündigte er das durch einen Schrei an, und das Spiel begann von neuem.

Das war so eine ganze Weile fortgegangen, als ein paar Damen erschienen, die die jungen Herren besuchen wollten. Eine hieß Bet, die andere Nancy. Sie hatten üppiges Haar, waren aber nicht ordentlich frisiert. Ihre Schuhe und Strümpfe waren im schlechten Zustande. Hübsch konnte man die Mädchen eigentlich nicht nennen, aber sie hatten ein frisches Aussehen und sympathische Gesichtszüge. Auch benahmen sie sich so gefällig und ungezwungen, daß sie Oliver für recht artige Mädchen hielt, was sie ohne Zweifel auch waren.

Die Besucherinnen blieben ziemlich lange. Man trank Schnaps und die Unterhaltung wurde bald sehr heiter und lebhaft. Schließlich meinte Karl, es wäre Zeit sich auf die Socken zu machen, was nach Olivers Vermutung ein französischer Ausdruck für Ausgehen sein mußte, denn unmittelbar danach brachen alle vier auf, nachdem der freundliche alte Jude ihnen noch vorher reichlich Geld gegeben hatte.

Als sie fort waren, sagte Fagin:

„Nicht wahr, das ist ein lustiges Leben?“

„Haben sie denn ihre Arbeit schon getan?“

.Ja`, erwiderte der Jude, „das heißt, wenn sie nicht zufällig unterwegs neue bekommen. Die nehmen sie natürlich mit, darauf kannst du dich verlassen. An denen kannst du dir ein Beispiel nehmen, besonders an dem Gannef. Der wird noch mal werden ein großer Mann und auch dich zu einem machen, wenn du ihm dir nimmst zum Vorbilde. – Hängt mir übrigens das Schnupftuch aus der ‚Tasche?“

„Jawohl.“

„Versuch’s mal herauszuziehen, ohne daß ich es merke. Du hast ja heute mittag gesehen, wie man es machen muß.“‚

Oliver machte es so, wie er es beim Gannef gesehen hatte.

„Hast du es?“ fragte der Jude.

„Hier ist es, Herr.“

„Du bist ein gewandter Bursche“, sagte der alte Herr und fuhr mit der Hand über Olivers Haar. „Ich habe niemals einen gelehrigeren Jungen gesehen. Hier hast n‘ Schilling. Fahr nur weiter so fort, dann wirste noch werden der größte Mann deiner Zeit. – Und nun werde ich dir zeigen, wie man die Namen aus den Schnupftüchern macht.“

Oliver konnte nicht recht begreifen, wie er dadurch, daß er dem alten Herrn im Scherze das Schnupftuch aus der Tasche gezogen hatte, ein großer Mann werden könne. Er dachte aber, der Jude müsse das besser wissen, war dieser doch um soviel älter als er. Er machte sich also unbekümmert daran, die Buchstaben aus den Taschentüchern zu entfernen.

Oliver lernt seine neuen Bekannten besser kennen und muß die Erfahrung teuer bezahlen

Oliver blieb eine Reihe von Tagen dauernd im Zimmer des Juden und fing an, sich nach frischer Luft zu sehnen. Er machte die Zeichen aus den Taschentüchern heraus, die in ziemlich großer Zahl ins Haus gebracht wurden. Hin und wieder nahm er auch an dem erwähnten Spiel teil, das Fagin regelmäßig jeden Morgen mit den beiden Jungen aufführte. Oliver hatte den alten Herrn verschiedenemal gebeten, mit Jack und Karl gemeinsam auf Arbeit ausgehen zu dürfen, endlich erhielt er die ersehnte Erlaubnis. Da seit einigen Tagen keine Schnupftücher da waren, an denen Oliver hätte arbeiten können, so gab der alte Herr wohl aus diesem Grunde seine Zustimmung.

Die drei Jungen zogen los und schlenderten gemächlich die Straße-entlang. Oliver fand keinen Geschmack an dem langsamen Gang seiner Genossen und kam auf die Vermutung, daß sie den alten Herrn betrögen und der Arbeit aus dem Wege gingen. Der Gannef hatte außerdem noch die üble Gewohnheit, kleinen Jungen die Mütze vom Kopf zu reißen, während Karl Bates ziemlich freie Ansichten hinsichtlich des Eigentumsrechts an den Tag legte. Von den Ständen der Straßenhändler ließ er hier einen Apfel, dort eine Zwiebel verschwinden. Dies mißfiel unserm Oliver so sehr, daß er gerade zu erklären beabsichtigte, er wolle nach Hause gehen, als er durch das eigenartige Benehmen des Gannefs von diesem Vorhaben abgebracht wurde. Dieser stand plötzlich still, legte den Finger an die Lippen und hielt seine Genossen zurück.

„Was ist los?“ fragte Oliver.

„Pst!“ machte der Gannef. „Siehst du jenen alten Knacker-an der Bücherbude?“

„Den alten Herrn da drüben? Ja, den sehe ich.“

„Bei dem wollen wir arbeiten“, sagte Dawkins.

„Scheint erstklassig zu sein“, bemerkte Karl.

Oliver guckte in größter Überraschung von einem auf den anderen. Die beiden Jungen gingen unauffällig auf die andere Straßenseite und schlichen sich dann dicht hinter den alten Herrn. Oliver harrte mit stummer Verwunderung der weiteren Vorgänge.

Der alte Herr schien den besseren Kreisen anzugehören, trug Puder in den Haaren und hatte eine goldene Brille auf. Er hatte sich aus einem Regal ein Buch genommen und sich so ins Lesen vertieft, als säße er zu Hause in seinem Lehnstuhl. Möglich, daß er dort zu sein wähnte,.denn er war offensichtlich durch die Lektüre so abgelenkt, daß er weder für die Straße noch für die Jungen ein Auge übrig hatte.

Man denke sich Olivers Entsetzen, als er sah, wie der Gannef dem alten Herrn das Schnupftuch aus der Tasche zog und es dann Karl Bates zusteckte. Im Augenblick war ihm das Geheimnis der Taschentücher, der Uhren und Kleinodien des Juden klar. Als er die beiden wegrennen sah, fing er auch aus Leibeskräften zu laufen an. Doch gerade als Oliver Reißaus nahm, griff der alte Herr nach seinem Tuch in die Tasche und wandte sich rasch um, als er es nicht finden konnte. Wie er nun den Jungen so Hals über Kopf davonlaufen sah, kam er auf den naheliegenden Gedanken, daß dieser ihn bestohlen hätte. Das Buch in der Hand haltend, lief er mit dem Ruf: „Haltet den Dieb!“ hinter ihm her. Doch. er war nicht der einzige, der dieses Geschrei erhob. Der Gannef und Karl Bates hatten, um nicht durch Rennen aufzufallen, sich in den ersten besten Torweg an der Ecke zurückgezogen. Sobald sie das Gebrüll: „Haltet den Dieb“ vernahmen und Oliver laufen sahen, errieten sie schnell den Zusammenhang. Sie schlossen sich dessen Verfolgern an und riefen kräftig mit.

„Haltet den Dieb! Haltet den Dieb!“ Es liegt ein Zauber in diesem Rufe. Der Krämer verläßt seinen Ladentisch, der Kutscher seinen Wagen, der Schlächter seine Fleischbank, der Bäcker seinen Trog, der Milchmann seine Kannen, der Junge seine Murmel, der Steinsetzer seine Ramme, der Straßenhändler seinen Karren und das Kind seine Fibel. Alles eilt, Hals über Kopf, im hellen Haufen fort, schreit, brüllt, überrennt ruhige Spaziergänger und macht die Hunde wild. Straßen, Gassen, Höfe – alles hallt von dem Rufe wider.

„Haltet den Dieb! Haltet den Dieb!“ Die Leidenschaft, etwas zu jagen, ist der menschlichen Brust tief eingepflanzt. Ein armes, atemloses Kind, keuchend vor Erschöpfung, Todesangst im Auge und große Schweißtropfen im Gesicht, strengt alle seine Kräfte an, den Verfolgern einen Vorsprung abzugewinnen. Man läßt aber nicht von ihm ab. Jeden Augenblick rückt man ihm näher. Je mehr seine Kräfte sinken, desto lauter wird der Lärm, das Gebrüll und der Ruf: „Haltet den Dieb!“

Endlich ist er eingeholt, niedergeschlagen und liegt auf dem Pflaster. Die Menge drängt sich um ihn. Jeder will den Verbrecher sehen.

„Tretet zurück!“ „Laßt ihn doch zu Atem kommen!“

„Ach was, er verdient es nicht!“ „Wo ist der Herr?“

„Da. er kommt die Straße herunter.“ „Platz für den Herrn!“ „Ist das der Junge, Herr?“ „Ja.“

Oliver lag, ganz beschmutzt, mit blutendem Munde da. Er blickte verwirrt auf die ihn umgebende Menge.

„Ja, ich fürchte, daß er es ist“, wiederholte der alte Herr. „Der arme Junge hat sich sicher verletzt.“

„Das war ich, Herr“, sagte ein großer, ungeschlachter Kerl „Ich schlug ihn in die Fresse, daß er hinfiel.“

Der Bursche griff grinsend an seine Mütze und erwartete wohl eine Belohnung für seine Tat. Der alte Herr warf ihm jedoch einen Blick des Abscheus zu und sah sich ängstlich um, als ob er selbst davonzulaufen gedächte. Da kam endlich ein Polizist, wie denn bei solchen Anlässen die Polizei gewöhnlich immer zuletzt kommt. Er hatte sich einen Weg durch die Menge gebahnt und packte Oliver nun beim Kragen.

„Aufgestanden“, brüllte er.

„Ich bin’s wirklich nicht gewesen, Herr. Es waren zwei andere Jungen“, sagte Oliver mit gefalteten Händen, dann sah er sich um: „Sie müssen hier in der Nähe sein.“

„Ach nein, es ist keiner da“, sagte der Polizist. Er meinte es ironisch, dabei war es die reine Wahrheit, denn der Gannef und Karl Bates hatten sich bei der ersten Gelegenheit, aus dem Staube gemacht. „Steh auf!“

„Ach, tun Sie ihm nichts“, sagte der alte Herr mitleidig.

„Ich tue ihm schon nichts“, antwortete der Polizist und riß ihm zum Beweise dafür die Jacke beinahe vom Leibe. „Nun komm schon! Donnerwetter, steh auf, du kleiner Strolch, du!“

Oliver versuchte mühsam aufzustehen‘, er konnte sich kaum auf den Beinen halten. Der Polizist packte ihn beim Kragen und zerrte ihn im Laufschritt durch die Straßen. Der alte Herr ging neben dem Polizisten her und eine johlende Menge begleitete die drei auf ihrem Weg.

Handelt von dem Polizeirichter Herrn Fang und gibt eine kleine Probe seiner Gerechtigkeit

Das Vergehen war in der unmittelbaren Nachbarschaft eines sehr bekannten Polizeiamtes der Hauptstadt begangen. Die johlende Menge hatte daher nur das Vergnügen, Oliver durch zwei oder drei Straßen zu begleiten. Angekommen, wurde Oliver in eine furchtbar schmutzige Zelle gesperrt. Der alte Herr sah, als.sich der Schlüssel in dem Schlosse drehte, fast ebenso kläglich wie Oliver aus. Mit einem tiefen Seufzer blickte er auf das Buch, das die unschuldige Ursache dieses aufregenden Auftritts gewesen war.

„Es ist etwas im Gesicht des Jungen“, sagte der alte Herr gedankenvoll zu sich selbst, „ein Ausdruck ist darin, der mich rührt und mich für ihn einnimmt. Sollte er nicht unschuldig sein? Er sah aus, wie – ja wie –“, hier hielt der alte Herr plötzlich inne; „Herrgott im Himmel, wo habe ich ein ähnliches Gesicht früher schon mal gesehen?“

Der alte Herr sann einige Augenblicke nach und trat dann in ein Wartezimmer des Polizeiamtes. Hier zog er sich in einen Winkel zurück und ließ eine Reihe von Gesichtern an seinem geistigen Auge vorbeiziehen. „Nein, es muß Einbildung sein“, sagte der alte Herr, den Kopf schüttelnd. Er stieß einen Seufzer aus und vertiefte sich wieder in die alte Schwarte.

Ein Gerichtsdiener berührte ihn an der Schulter und ersuchte ihn, ihm ins Amtszimmer zu folgen. Er schloß eilig das Buch und stand alsbald dem berühmten Herrn Fang gegenüber.

Das Amtszimmer lag nach vorn hinaus und hatte getäfelte Winde. Herr Fang saß am oberen Ende hinter einer Schranke. Neben der Tür war ein hölzerner Verschläg in dem sich bereits der arme, am ganzen Körper zitternde Oliver befand. Herr Fang war ein Mann von mittlerer Größe. Mager, glatzköpfig, hatte er ein finsteres, stark gerötetes Gesicht. Wenn er wirklich nicht mehr trank, alt ihm zuträglich war, so hätte er gegen sein Gesicht eine Verleumdungsklage anstrengen können. Beträchtlicher Schadenersatz wäre ihm sicher gewesen.

Der alte Herr verbeugte sich höflich, trat an das Pult und überreichte seine Karte. Zufälligerweise las Herr Fang gerade in der Zeitung einen Artikel, der eine seiner neuen Entscheidungen abfällig besprach. Er war daher höchst übel gelaunt und guckte ärgerlich auf.

„Wer sind Sie?“ herrschte er den alten Herrn an.

Der alte Herr wies etwas überrascht auf seine Karte.

„Gerichtsdiener“, sagte Herr Fang, indem er mit der Zeitung die Karte verächtlich vom Pult fegte, „wer ist dieser Mensch?“

Mein Name“, sagte der alte Herr würdig, „mein Name, Herr, ist Brownlow. Gestatten Sie mir nun auch, nach dem Namen des Richters zu fragen, der ohne irgendeinen Anlaß einen anständigen Mann so beleidigend behandelt.“

„Gerichtsdiener!“ fuhr Herr Fang unbeirrt fort, „wessen ist dieser Bursche angeklagt?“

„Euer Gnaden, er ist kein Angeklagter, sondern tritt als Kläger gegen diesen jungen auf“, erwiderte der Gerichtsdiener.

Seine Gnaden wußten das sehr gut, konnten jedoch auf diese Weise ohne Gefahr unverschämt werden.

„Tritt als Kläger gegen den Jungen auf, – so, so!“ sagte Herr Fang und maß Brownlow mit einem verächtlichen Blick. – „Nehmen Sie ihm den Eid ab.“

„Ehe man mich vereidigt, bitte ich ein paar Worte sagen zu dürfen“, sprach Herr Brownlow: „närnlich, daß ich nie geglaubt hätte, wäre es mir nicht selbst passiert –“

„Halten Sie den Mund, Herr!“ rief Herr Fang im Befehlston.

„Nein, Herr“, versetzte der alte Herr.

„Wenn Sie nicht augenblicklich den Mund halten, lasse ich Sie hinausführenl“ brüllte Herr Fang. „Sie sind ein ganz unverschämter Mensch. Wie können Sie es wagen, einen Richter anzuschnauzen?“

„Was sagen Sie da?“ rief der alte Herr puterrot.

„Vereidigen Sie den Menschen!“ sagte Fang zu einem Schreiber. „Ich will nichts mehr hören. Vereidigen Sie ihn.“

Herrn Brownlows Entrüstang war aufs höchste gestiegen, und er wollte seinen Gefühlen auch Luft machen. Da er aber befürchtete, damit Oliver zu schaden, so unterdrückte er sie und ließ sich vereidigen.

„Nun“, beginn Herr Fang, „wessen wird der Junge beschuldigt. Was haben Sie vorzubringen, Herr?“

„Ich stand an einer Bücherbude –“

»Schweigen Sie, Herr!“ unterbrach ihn Herr Fang. „Wo ist der Polizist? Hier, vereidigen Sie den Polizisten. Nun, was wissen Sie von der Sache?“

Der Polizist berichtete mit gebührender Unterwürfigkeit, was ihm von der Anklage bekannt geworden war. Er habe auch Oliver untersucht und nichts bei ihm gefunden. Weiter könne er nichts angeben.

„Sind Zeugen da?“ fragte Herr Fang.

„Nein, Euer Gnaden“, erwiderte der Polizist.

Herr Fang saß einige Minuten schweigend da, wandte sich dann an den Kläger und sprach mit immer zunehmender Heftigkeit:

„Wollen Sie nun endlich sagen, wessen Sie diesen Knaben beschuldigen? Sie haben geschworen. Wenn Sie Ihr Zeugnis verweigern, so werde ich Sie wegen Nichtachtung des Gerichts in Strafe nehmen. Ja, das will ich bei –“

Bei wem oder bei was ließ sich nicht vernehmen, denn der Schreiber und der Gefängniswärter brachen in diesem Augenblick in ein lautes Husten aus. Ersterer ließ auch noch ein schweres Buch auf die Erde fallen, zufällig natürlich, so daß man das Wort nicht verstehen konnte.

Unter mancherlei Unterbrechungen und wiederholten Beleidigungen gelang es endlich Herrn Brownlow, den Tatbestand auseinanderzusetzen. Er drückte dabei den Wunsch aus, daß das Gericht so nachsichtig, als es das Gesetz erlaube, mit dem Jungen verfahren möchte. „Er ist bereits verletzt“, schloß der alte Herr seine Ausführungen, „und ich fürchte, er fühlt sich gar nicht wohl.“

„Ich glaube es auch“, sagte Herr Fang höhnisch lächelnd. „Höre mal, du kleiner Landstreicher, mach hier kein Theater, damit kommst du bei mir nicht durch. Wie heißt du?“

Oliver wollte antworten, konnte aber keinen Ton herausbringen. Er wurde leichenblaß, und alles schien sich um ihn zu drehen.

„Wie heißt du, verstockter Lümmel?“, schrie ihn Herr Fang wiederholt an. „Gerichtsdiener, wie heißt er?“

Dieser, ein alter Mann, beugte sich über Oliver und wiederholte die Frage. Als er fand, daß der Junge tatsächlich außerstande war zu antworten, nannte er, um den Richter nicht noch wütender zu machen, aufs Geratewohl einen Namen.

„Er sagt, er heiße Tom White, Euer Gnaden!“

„Wo wohnt er?“ fuhr Herr Fang fort.

„Wo er kann, Euer Gnaden“, antwortete der Gerichtsdiener, indem er sich so anstellte, als spräche er Oliver nach.

„Hat er Eltern?“ fragte Herr Fang.

„Er sagt, sie seien in seiner frühesten Jügend gestorben, Euer‘ Gnaden“, entgegnete der Gerichtsdiener, indem er auf gut Glück die in solchen Fällen übliche Antwort gab.

Oliver hob jetzt den Kopf hoch, sah mit flehenden Blicken um sich, und bat leise um einen Schluck Wasser.

„Quatsch!“ sagte Herr Fang. „Willst mich wohl zum Narren halten?“

„Ich glaube, ihm ist wirklich schlecht, Euer Gnaden“, wandte der Gerichtsdiener ein.

„Ich weiß das besser“, brülIte Herr Fang.

„Halten Sie ihn, Gerichtsdiener“, rief der alte Herr, unwillkürlich die Hände ausstreckend, „er fällt gleich.“

„Nichts da, Gerichtsdiener“, schrie Herr Fang, „lassen Sie ihn fallen, wenn er Lust hat.“

Oliver machte von dieser gütigen Erlaubnis Gebrauch und fiel ohnmächtig zu Boden.

„Ich wußte, daß es Verstellung war“, sagte Herr Fang. „Laßt ihn liegen, er wird’s bald müde werden!“

„Wie gedenken Sie in diesem Falle zu verfahren, Herr?“ frägte leise der Gerichtsschreiber.

„Summarisch“, antwortete Herr Fang. Er wird drei Monate eingesperrt –, natürlich mit harter Arbeit. Schafft ihn fort!“

Einige Beamte schickten sich gerade an, den bewußtlosen Oliver in seine Zelle zu tragen, als ein ältlicher Mann von anständigem, aber erbärmlichem Äußern atemlos ins Zimmer stürzte und vor den Richter trat:

„Halt, halt! Tragt ihn noch nicht fort. Um Himmels willen, wartet einen Augenblick!“

„Was ist los? Wer sind Sie? Hinaus mit dem Menschen. Räumt den Gerichtssaal!“ schrie Herr Fang.

„Ich will aussagen“, rief der. Mann .“Ich lasse mich nicht hinauswerfen. Ich sah alles mit an. Ich bin der Besitzer der Bücherbude. Ich verlange vereidigt zu werden. Ich lasse mich nicht abweisen. Sie müssen mich anhören, Herr Fang. Sie dürfen mein Zeugnis nicht ablehnen!“

Der Mann war in seinem Rechte und trat bestimmt auf. Man konnte nicht darüber hinweggehen.

„Lassen. Sie den Menschen schwören“, knurrte Herr Fang mürrisch. „Nun, was haben Sie zu bekunden?“

„Folgendes. Ich sah drei Jungen – diesen hier und zwei andere – auf der anderen Seite der Straße dahinschlendern, als dieser Herr vor meiner Bude stand und las. Der Diebstahl wurde von einem anderen Jungen begangen. Ich habe es genau gesehen und auch bemerkt, daß dieser Junge hier darüber ganz erstaunt und wie vor den Kopf geschlagen war!“

„Warum kamen Sie nicht schon früher?“ fragte Fang nach einer Pause.

„Ich bin allein in meiner Bude und hatte keine Vertretung. Erst vor fünf Minuten konnte ich jemand auftreiben und bin dann Hals über Kopf hierhergeeilt.“

„Also der Ankläger las, nicht wahr?“, fragte Fang nach einer weiteren Pause.

„Ja“, erwiderte der Mann, „im selben Buche, das er jetzt noch in der Hand hat!“

„So – in diesem Buch? Ist es denn bezahIt?“erkundigte sich Herr Fang.

„Nein, noch nicht“, erwiderte der Buchhändler mit einem kleinen Lächeln.

„Himmel, das habe ich über der Geschichte hier ganz vergessen“, sagte der zerstreute alte Herr ganz unbefangen.

„Ein feiner Mann, aber eine Klage gegen einen armen Jungen vorbringen“, sagte Herr Fang und bemühte sich krampfhaft, eine menschenfreundliche Miene anzunehmen.

„Nach meiner Ansicht haben Sie sich unter sehr verdächtigen Umständen in den Besitz dieses Buches gesetzt und dürfen sich beglückwünschen, wenn der Eigentümer keine Anklage gegen Sie erhebt. Lassen Sie sich das zur Warnung dienen, sonst möchte das Gesetz einmal gegen Sie in Anwendung kommen. Der Junge ist freizulassen. Räumen Sie den Saal.“

„Donnerwetter“, schrie der alte Herr. Der so lange aufgespeicherte Zorn kam nunmehr zum Ausbruch. „Donnerwetter, ich will –“

„Gerichtsdiener! Räumen Sie den Saal! Hören Sie?“ brüllte der Richter.

Man führte den entrüsteten alten Herrn, der ein Bild der Wut und des Trotzes darbot, schnell auf den Hof heraus. Dort fand er den kleinen Oliver auf dem Steinpflaster liegend, sein Gesicht war leichenblaß, und ein krampfartiges Zittern ging durch seinen Körper. „Armes Kind!“ sagte Herr Brownlow, als er sich über ihn beugte. „Will niemand so gut sein und mir einen Wagen holen?“ Man holte einen und bettete Oliver auf einen Sitz, während Herr Brownlow auf dem anderenPlatz nahm.

„Darf ich Sie begleiten?“ fragte der Buchhändler.

„Himmel, ich hatte Sie ganz vergessen. Steigen Sie ein, lieber Freund. Und das unglückliche Buch habe ich auch noch. Der arme Junge! Geschwind, es ist keine Zeit zu verlieren.“

Nachdem der Buchhändler in den Wagen geklettert war, zogen die Pferde an.

In dem für Oliver besser gesorgt wird als je. Die Erzählung geht zu dem lustigen alten Herrn und seinen hoffnungsvollen Schülern zurück.

Nach ziemlich langer Fahrt hielt.die Kutsche vor einem hübschen Hause in einer ruhigen Straße, unweit Pentonville. Herr Brownlow ließ für seinen Schützling rasch ein Bett herrichten und sorgte für ihn mit einer Aufmerksamkeit, die keine Grenzen kannte.

Oliver blieb jedoch viele Tage für die Wohltaten seiner neuen Freunde unempfindlich. Ein starkes Fieber zehrte an seiner Kraft. Schwach, abgemagert und blaß erwachte er endlich wie aus einem langen, wüsten Traume. Er richtete sich mit Mühe in seinem Bette auf und blickte sich ängstlich um.

„Wo bin ich? Wer hat mich hergebracht?“ murmelte er leise. Der Vorhang vor seinem Bett wurde schnell zurückgezogen, und eine mütterliche alte Frau näherte sich ihm.

„Still, Liebling“, sagte die alte Dame sanft. „Du mußt dich ganz ruhig verhalten, sonst wirst du wieder kränker. Leg dich nur brav wieder hin.“ Mit diesen Worten drückte sie ihn sanft in die Kissen zurück. Drauf strich sie ihm das Haar aus der Stirn und schaute ihm so gütig und wohlwollend ins Gesicht, daß er sich nicht enthalten konnte, seine abgemagerten Händchen auf ihre zu legen und sie dann um seinen Nacken zu schlingen.

„Lieber Gott“, sagte die Frau mit Tränen in den Augen, „wie dankbar der Kleine ist. Was würde wohl seine Mutter fühlen, wenn sie so wie ich an seinem Krankenbette gesessen hätte und ihn jetzt sehen könnte.“

„Vielleicht sieht sie mich“, flüsterte Oliver und faltete die Hände. „Vielleicht hat sie bei mir gesessen. Mir ist ganz so, als ob sie hier gewesen wäre.“

„Das war das Fieber, Liebling“, sagte die alte Dame sanft.

„Wahrscheinlich“, erwiderte Oliver, „denn der Himmel ist weit weg, und man ist dort zu glücklich, als daß Engel an das Bett eines armen Jungen herunterkommen sollten. Aber wenn meine Mutter wußte, daß ich krank war, so mußte sie doch selbst im Himmel mit mir Mitleid haben. Denn sie war selbst sehr krank, ehe sie starb. Aber vielleicht weiß sie nichts von mir“, fügte Oliver nach kurzem Schweigen hinzu, „denn wenn sie gesehen hätte, wie man mich schlug, so muß sie traurig gewesen sein. Ach, ihr Gesicht sah immer so lieb und glücklich aus, wenn ich von ihr träumte.“

Die alte Dame sagte nichts, aber wischte sich gerührt die Augen. Dann streichelte sie ihm die Backen und ermahnte ihn, ganz ruhig zu liegen, damit es nicht wieder schlimmer werde.

Oliver verhielt sich daher still und fiel bald in einen sanften Schlaf. Aus diesem wurde er erst durch einen Herrn geweckt, der an seinem Bette stand und seinen Puls fühlte.

„Nicht wahr, mein Kind, du fühlst dich bedeutend wohler?“ fragte der Herr.

„Ja, ich danke“, entgegnete Oliver.

„Das wußte ich“, fuhr der Herr fort. Du hast auch Hunger, nicht wahr?“

„Nein, Herr“, antwortete Oliver.

„Hm! Ich wußte ja, du könntest nicht hungrig sein. Er hat keinen Hunger, Frau Bedwin“, sagte der Herr mit weiser Miene.

Die alte Dame neigte ehrfurchtsvoll den Kopf, womit sie andeuten wollte, daß sie den Doktor für einen sehr klugen Mann halte. Der Doktor schien so ziemlich dieselbe Meinung von sich zu haben.

„Du möchtest schlafen, nicht wahr, mein Kind?“ sprach der Doktor.

„Nein, Herr.“

„Nicht?“ versetzte der Doktor mit einem zufriedenen Blick. „Du fühlst dich also nicht schläfrig? Auch nicht durstig, wie?“

„Ja, Herr, durstig sehr.“

„Genau, wie ich’s erwartete, Frau Bedwin“, sagte der Doktor. Es liegt in der Natur der Sache, daß er Durst hat, vollkommen. Sie können ihm etwas Tee geben und eine geröstete Brotschnitte, aber ohne Butter. Halten Sie ihn nicht zu warm, Frau Bedwin, aber passen Sie gut auf, daß er sich nicht erkältet.“

Frau Bedwin knickste, und der Doktor verabschiedete sich. Oliver schlief bald darauf wieder ein, und als er erwachte, war es beinahe Mitternacht. Frau Bedwin sagte ihm freundlich gute Nacht und überließ ihn der Obhut einer dicken alten Frau, die eben gekommen war. Diese erzählte Oliver, daß sie die Nacht bei ihm wachen werde, und setzte sich eine große Nachtmütze aufs Haupt. Nachdem sie sich ihren Stuhl dicht an den Kamin gezogen und ein Gebetbuch vor sich auf den Tisch gelegt hatte, fing sie an einzunicken. In zehn Minuten war sie fest eingeschlafen.

Oliver lag noch einige Zeit wach, dann fiel er in jenen tiefen und ruhigen Schlaf, den nur das Genesungsstadium schwerer Krankheiten zu geben vermag.

Als Oliver die Augen öffnete, war es bereits heller, lichter Tag. Er fühlte sich froh und glücklich. Die Krisis war vorüber, er gehörte wieder der Welt an.

Nach drei Tagen konnte er schon, allerdings durch Kissen gestützt, in einem Lehnstuhl sitzen. Frau Bedwin hatte ihn in ihr eigenes Zimmer bringen lassen und fing vor Freude, ihn auf dem Weg zur Genesung zu sehen, laut zu weinen an.

„Kümmere dich nicht darum, Liebling“, sagte die alte Frau, „ich muß mich einmal recht ausweinen. Jetzt ist schon alles wieder vorüber, und mir ist leichter.“

„Sie sind auch zu gut zu mir“, sagte Oliver.

„Laß gut sein, liebes Kind“, versetzte Frau Bedwin. „Nun ist es aber Zeit, daß du deine Fleischbrühe kriegst. Der Doktor sagte, Herr Brownlow werde dich vielleicht heute vormittag besuchen.“ Sie machte ihm eine kräftige Brühe zurecht und beobachtete dabei, daß Oliver sein Auge aufmerksam auf ein Porträt geheftet hatte, das seinem Stuhle gegenüber an der Wand hing.

„Hast du Bilder gern, Liebling?“ fragte sie.

„Ich weiß nicht, ich habe noch zu wenig gesehen. Aber wie schön und sanft ist das Gesicht der Dame.“

„Ach“, sagte Frau Bedwin, „die Maler machen die Damen immer hübscher als sie sind, sonst würden sie keine Kundschaft kriegen.“

„Stellt es jemand vor?“

„Ja, es ist ein Porträt.“

„Von wem?“ fragte Oliver lebhaft.

„Ja, das kann ich dir nicht sagen. Es scheint dir zu gefallen, Kind?“

„Es ist gar zu schön!“

„Aber du fürchtest dich doch nicht davor?“ sagte Frau Bedwin, als sie verwundert den ängstlichen Blick bemerkte, mit dem das Kind das Gemälde betrachtete.

„O nein“, erwiderte Oliver rasch, „aber die Augen blicken so traurig und sind immer auf mich gerichtet; wo ich auch sitzen mag. Mir ist immer so, als sei das Bild lebendig und wolle mit mir sprechen, könne aber nicht.“

„Um Himmelswillen!“ rief Frau Bedwin aufspringend, „sprich nicht so, Kind. Du bist noch schwach und angegriffen von deiner Krankheit. Ich werde. deinen Sessel herumdrehen, dann kannst du es nicht mehr sehen!“

Oliver sah es jedoch im Geiste so deutlich, ab ob der Sessel nicht gerückt worden wäre. Da er aber die alte Dame nicht kränken wollte, so lächelte er ihr freundlich zu, als sie ihn anblickte. Jetzt ließ sich ein leises Pochen an der Tür vernehmen.

„Herein!“ rief Frau Bedwin, und ins Zimmer trat Herr Brownlpw.

Oliver machte einen vergeblichen Versuch aufzustehen, um seinen Wohltäter zu begrüßen, dem die Tränen in die Augen traten.

„Armer Junge, armer Junge“, sagte er, „wie geht es dir heute?“

„Sehr gut, Herr“, entgegnete Oliver, „und ich danke Ihnen auch für die große Güte, mit der Sie sich meiner angenommen haben.“

„Du bist ein guter Junge“, sagte Herr Brownlow, mit seinen Tränen kämpfend. „Was haben Sie ihm zu essen gegeben, Frau Bedwin? Wohl eine leichte Brühe?“

„Er hat eben einen Teller herrlicher, kräftiger Fleischbrühe bekommen“ sagte Frau Bedwin etwas empfindlich.

„Hm“, meinte Herr Brownlow mit leichtem Achselzucken, „ein paar Gläser Portwein hätten ihm vielleicht besser getan. Wie denkst du darüber, Tom White?“

„Ich heiße Oliver, Herr“, entgegnete der kleine Patient etwas verwundert.

„Oliver?“ fragte Herr Brownlow. „Oliver? – also Olliver White?“

„Nein, Twist. Oliver Twist.“

„Seltsamer Name. Warum sagtest du aber dem Richter, du heißest White?“

„Das habe ich ihm doch nicht gesagt“, erwiderte Oliver erstaunt.

Dies klang wie eine Lüge, so daß der alte Herr ihn strenge ansah. Es war aber unmöglich, die Aussage des Jungen zu bezweifeln, denn auf Olivers Stirn war die Wahrheit geschrieben.

„Ein Mißverständnis also“, bemerkte Herr Brownlow. Er behielt aber Oliver fest im Auge, da der frühere Gedanke einer Ahnlichkeit zwischen seinen Zügen und irgendeinem bekannten Gesicht sich ihm wieder aufdrängte.

„Ich hoffe, Sie sind mir nicht böse?“ sagte Oliver mit bittendem Augenaufschlag.

„Nein, nein – aber – großer Gott, was ist das? Frau Bedwin, sehen Sie – da!“ schrie der alte Herr.

Er deutete hastig auf das Porträt und dann auf Oliver.

Die Ähnlichkeit war sprechend.

Oliver entging die Ursache von Herrn Brownlows plötzlichem Ausruf und hatte einen furchtbaren Schrecken gekriegt. Er war ohnmächtig geworden.

Nachdem der Gannef und sein trefflicher Freund mit Befriedigung festgestellt hatten, daß die Menge in Oliver den vermeintlichen Dieb sah, und für sie nichts mehr zu befürchten war, machten sie sich auf den Heimweg.

„Was wird Fagin sagen?“ meinte der Gannef mit ernstem Gesicht.

„Na, was wird er sagen?“ erwiderte Karl Bates.

„Schließlich den Kopf kann er uns nicht abreißen“, meinte der Gannef. Das sollte ein Trost sein, aber keine Beruhigung. Karl Bates fühlte das auch und wurde nachdenklich.

Einige Minuten nach diesem kurzen Gespräch weckte das Geräusch von Fußtritten auf der knarrenden Treppe den alten Juden aus seinen Betrachtungen. Er war gerade beim Essen.

„Hm, was ist das?“ murmelte er, „ich höre bloß zwei. Wo mag der dritte sein? Sie werden ihn doch nicht geklappt haben? Horch!“

Langsam öffnete sich die Tür, und der Gannef und Karl Bates traten ins Zimmer.

Dem Leser werden einige neue Bekanntschaften vorgestellt, außerdem enthält es verschiedene hübsche Sachen, die zu dieser Geschichte gehören.

„Wo ist Ollver?“ rief der Jude wütend, „wo ist der Junge?“

Die jugendlichen Diebe waren über die Heftigkeit ihres Lehrmeisters so erschrocken, daß sie nicht sofort antworten konnten.

„Was ist aus dem Jungen geworden?“ schrie der Jude und packte den Gannef am Kragen, dabei schreckliche Verwünschungen ausstoßend. „Sprich, oder ich erwürge dich.“

„Die Polente(*Polizei*) hat ihn erwischt – das ist alles“, versetzte der Gannef mürrisch. „Nun lassen Sie mich mal los“, damit befreite er sich aus den Händen des Juden und ergriff äie Bratgabel. Er wollte damit gerade dem Alten zuleibe gehen, als die Tür aufging und ein stämmiger Kerl mit einem weißen, zottigen Hund eintrat.

„Was ist hier los, Fagin?“ Der Sprecher war ein Mann von ungefähr fünfundvierzig Jahren mit einem plumpen, unrasierten Gesicht, in dem zwei düster blickende Augen saßen. Eins davon schillerte in allen Regenbogenfarben, die Folgen eines gutgezielten Faustschlages.

„Warum bist du so aufgeregt, alter Gauner, und willst den Jungen verhauen?“ Er setzte sich bedächtig. „Es wundert mich nur, daß sie dir nicht den Hals abschneiden. Ich würde es an ihrer Stelle tun!“

„Stille, Herr Sikes, stille“, versetzte der Jude zitternd, „sprecht nicht so.laut.“

„Ich pfeife auf deine Anrede mit Herr“‚, sagte der Strolch, „du hast immer einen Schurkenstreich vor, wenn du mir so kommst. Du kennst meinen Namen, und ich werde ihm keine Schande machen, wenn meine Zeit gekommen ist.“

„Schön, nun denn – Bill Sikes“, sagte der Jude kriechend, „Ihr scheint schlechter Laune zu sein.“

„Kann sein“, erwiderte Sikes, ,bei dir scheint es jedoch auch der Fall zu sein. Aber nimm dich in acht, Halunke, wenn du schwatzst –“

„Seid Ihr verrückt?!“, rief der Jude, indem er Sikes am Ärmel erwischte und auf die Jungen zeigte.

Sikes begnügte sich pantomimisch unter seinem linken Ohre einen Knoten zu machen, und ließ dann den Kopf auf die rechte Schulter sinken. Eine sinnbildliche Darstellung, die der Jude vollkommen zu verstehen schien. Dann verlangte er Schnaps und fügte scherzend hinzu:

„Daß du mir aber kein Gift hineintust.“

Hätte er jedoch den teuflischen Seitenblick sehen können, mit dem der Jude sich in die Lippen biß, als er an den Wandschrank ging, so hätte er seine Mahnung sicher nicht für unnötig gehalten.

Nachdem Sikes einige Gläser Schnaps hinuntergestürzt hatte, zog er gnädig die beiden jungen Herrn in ein Gespräch. Der Gannef erzählte umständlich und mit allerhand Ausschmückungen von Olivers Verhaftung.

„Ich fürchte, er wird uns verpfeifen, und wir kommen dann in Teufels Küche“, sagte der Jude.

„Höchstwahrscheinlich“, antwortete Sikes boshaft grinsend. „Du fällst unbedingt rein.“

„Doch wenn mir das Handwerk gelegt wird“, fuhr der Jude fort, die andern dabei scharf ansehend, „kommen auch noch andere in den Schlamassel. Jedenfalls würde es Euch schlimmer ergehen als mir.“

Sikes sprang auf und wollte gegen Fagin heftig werden. Dieser zuckte jedoch nur mit den Achseln und starrte die gegenüberliegende Wand an. Es trat eine lange Pause ein. Schließlich begann Sikes im gedämpfen Tone:

„Wir müssen rauskriegen, was sich vor dem Richter mit Oliver zugetragen hat.“

Der Jude nickte zustimmend.

„Wenn er nicht gepfiffen hat und ist verurteilt, brauchen wir nichts zu befürchten, bis er wieder rauskommt. Dann aber müssen wir ein wachsames Auge auf ihn haben und versuchen, ihn in unsere Hände zu bekommen.“

Der Jude nickte wieder. Der Plan war gut, aber seiner Ausführung stellte sich ein großes Hindernis entgegen. Die vier Herren hatten einen nicht zu besiegenden Widerwillen dagegen, mit irgend etwas, das Polizei hieß, in Berührung zu kommen. Sie saßen stumm da und sahen sich unsicher an, als die zwei jungen Damen auftauchten, die Oliver bei einer früheren Gelegenheit kennengelernt hatte.

„Wie gerufen“, sagte der Jude. „Bet wird hingehen, nicht wahr, meine Liebe?“

„Wohin?“ fragte die junge Dame.

„Nur ein wenig auf die Polizei, Liebling“, sagte der Jude schmeichelnd.

Wir müssen der Dame Gerechtigkeit widerfahren lassen und sagen, daß sie dieses Ansinnen nicht geradezu ablehnte. Sie.erklärte bloß mit Nachdruck, der Henker solle sie holen, wenn sie auf die Polizei ginge. Eine ungemein zarte Ablehnung der Bitte, die beweist, daß das junge Mädchen zuviel Gutmütigkeit besaß, um ihre Mitmenschen durch eine runde und entschiedene Weigerung zu kränken. Der Jude wandte sich nun an Nancy:

„Was sagen Sie dazu, meine Liebe?“

„Geben Sie sich keine Mühe, Fagin, ich tue es auch nicht“, versetzte diese.

„Wie soll ich das verstehen?“ brauste Sikes auf.

„So, wie ich es gesagt habe, Bill“, sagte Nancy ruhig.

„Du bist gerade die rechte Person dazu“, entgegnete Sikes, „niemand kennt dich in dieser Gegend.“

„Ist mir auch sehr lieb, wünsche gar nichts anderes!“

„Also sie wird gehen, Fagin“, sagte Sikes.

„Sie wird sich hüten“, entgegnete Nancy.

„Doch, sie wird’s machen, Fagin“, bekräftigte Sikes. Und er hatte recht. Das Mädchen ließ sich durch Drohungen und Versprechungen endlich bewegen, den Auftrag auszuführen.

Aus den Vorräten des Juden wählte sie eine weiße Schürze, die sie umband, und einen Strohhut. In die Hand nahm sie ein Deckelkörbchen.

„Ach, mein Bruder! Mein armer, lieber, kleiner Bruder!“ rief Nancy, in Tränen ausbrechend. „Was ist aus ihm geworden? Wo hat man ihn hingebracht? Ach, habt Erbarmen, liebe Leute, und sagt mir, was mit dem Kinde geschehen ist. Bitte, bitte, sagt es mir doch.“

Als Nancy diese Worte im kläglichsten Tone hervorgebracht hatte, verbeugte sie sich lächelnd gegen die Zuhörer und verschwand.

„Das ist ein Mädel, Jungens“, sagte der Jude. „Da könnt ihr euch ein Beispiel dran nehmen.“

„Sie ist eine Zierde ihres Geschlechts“, rief Herr Sikes und hob sein Glas. „Sie lebe hoch!“

Nancy schlug indessen den nächsten Weg zur Polizei ein. Dort angekommen, trat sie durch die Hintertür in das Gebäude ein und klopfte leise mit dem Schlüssel an eine der Zellentüren. Dann horchte sie. Da sich nichts in der Zelle rührte, so hustete sie und horchte wieder. Abermals keine Antwort. Nancy wandte sich daher unmittelbar an den Gerichtsdiener und fragte mit den kläglichsten Jammertönen nach ihrem lieben Bruder.

„Er ist nicht hier“, sagte der alte Gerichtsdiener.

„Mein Gott, wo ist er denn?“ meinte Nancy trostlos.

„Nun, der Herr hat ihn mitgenommen.“

„Was für ein Herr, um Himmelswillen?“ rief Nancy.

Der Gerichtsdiener erzählte ihr den ganzen Vorgang und schloß damit, daß der alte Herr unweit Pentonville wohne.

Nancy eilte auf schnellstem Wege zum Juden zurück.

Sie hatte sich kaum ihres Berichtes entledigt, als Herr Bill Sikes schnell seinen Hund rief, den Hut auf den Kopf stülpte und sich schleunigst ohne Gruß entfernte.

„Wir müssen Oliver finden“, sagte der Jude in großer Aufregung. „Nancy, mein Liebling, ich muß ihn wiederhaben. Auf Sie und den Gannef kann ich mich am besten verlassen. Hier habt ihr Geld. Ich schließe heute nacht diese Wohnung, ihr wißt ja, wo ihr mich finden könnt. Eilt, zögert keinen Augenblick.“ Mit diesen Worten schob er sie aus dem Zimmer, und nachdem er hinter ihnen die Tür doppelt verschlossen und verriegelt hatte, holte er das Kästchen aus seinem Versteck hervor und verbarg in aller Eile Uhren und Juwelen unter seinen Kleidern.

„Bis jetzt hat er noch nichts ausgeplaudert“, sprach der Jude zu sich, indem er in seiner Arbeit fortfuhr. „Wenn er uns aber bei seinen neuen Freunden zu verpfeifen gedenkt, so werden wir ihm wohl noch das Maul stopfen können.“

Umfaßt weitere Einzelheiten über Olivers Aufenthalt bei Herrn Brownlow, nebst der merkwürdigen Prophezeihung, die ein gewisser Herr Grimwig über ihn aussprach, als man Oliver mit einem Auftrage ausschickte.

Oliver erholte sich bald wieder von der Ohnmacht, in die er bei Herrn Brownlows plötzlichem Ausruf gefallen war. Der alte Herr und Frau Bedwin vermieden es sorgfältig, im Gespräch wieder auf das Gemälde zurückzukommen. Der Junge war noch zu schwach, um zum Frühstück zu gehen. Als er am nächsten Tage in das Zimmer der Haushälterin hinuntergebracht wurde, suchten seine Blicke sofort das Bildnis der schönen Dame. Das Gemälde war aber entfernt worden.

„Ja“, sagte Frau Bedwin, „es ist fort, wie du siehst.“

„Oh, warum hat man es weggenommen?“ versetzte Oliver mit einem Seufzer.

„Weil Herr Brownlow sagte, daß es dich zu beängstigen scheine und daher deiner Wiederherstellung hinderlich sein könnte“, entgegnete die alte Dame.

„Ach nein, es beängstigte mich gar nicht“, sprach Oliver, „ich mochte es gern ansehen.“

„Nun, nun, liebes Kind, mache nur, daß du bald wieder gesund wirst“, sagte die gute Frau. „Man wird es dann wieder aufhängen, das verspreche ich dir. Doch jetzt wollen wir von etwas anderm sprechen.“

Oliver hörte aufmerksam zu, als ihm Frau Bedwin von ihrem verstorbenen Manne und ihren wohlerzogenen Kindern erzählte. Sie plauderte munter drauflos, bis die Zeit zum Teetrinken herankam. Nachdem dieser eingenommen war, unterrichtete sie Oliver im Kartenspielen, was er ebenso schnell auffaßte, wie sie zu lehren imstande war. Dann vertieften sie sich angelegentlich in diese Beschäftigung, bis es für den Patienten Zeit war, ins Bett zu gehen.

Die Tage der Genesung waren für Oliver Tage des Glückes. Jedermann war so lieb und gütig zu ihm, daß er im Himmel zu sein glaubte. Er hatte kaum wieder soviel Kräfte erlangt, um sich ankleiden zu können, als ihm Brownlow einen neuen Anzug anfertigen ließ. Da man Oliver sagte, er könne mit den alten Kleidern anfangen, was er wolle, so schenkte er sie einem Dienstmädchen, die sehr gut zu ihm gewesen war. Er riet ihr, die Lumpen an einen Juden zu verkaufen und dadurch zu etwas Geld zu kommen.

Eines Abends, als Oliver plaudernd bei Frau Bedwin saß, ließ Herr Brownlow sagen, daß er.Oliver auf seinem Stüdierzimmer sprechen möchte.

Frau Bedwin putzte ihn schnell schön heraus und führte ihn bis an die Tür des Studierzimmers. Oliver klopfte an, und als Herr Brownlow „Herein“ rief, trat er in ein kleines, ganz mit Bilchern angefülltes Hintergemach, durch dessen Fenster man in einige schöne, kleine Gärten sah. Vor dem Fenster stand ein Tisch, an dem Herr Brownlow lesend saß. Bei Olivers Eintritt schob er das Buch von sich und hieß den Jungen, näherzukommen und sich zu setzen. Oliver gehorchte, nicht wenig verwundert, wo all die Leute herkommen sollten; eine derartige Menge von Büchern zu lesen. Bücher, die geschrieben schienen, um die Welt weiser zu machen. Eine Verwunderung, die tagtäglich erfahrenere Leute mit unserm Helden teilen.

„Das ist ein ansehnlicher Haufen Bücher, nicht wahr, mein Junge?“ fragte Herr BrownIow, als er die Neugierde gewahrte, mit der Oliver die vom Boden bis zur Decke reichenden Bücherschränke betrachtete.

„Ach ja, ich habe noch nie so viele gesehen!“

„Wenn du immer hübsch artig bleibst, so sollst du sie auch lesen. Das wird dir besser gefallen, als das bloße Anschauen des Einbandes – das heißt nicht immer. Es gibt nämlich auch Bücher, an denen die Außenseite das Beste ist.“

„Das sind gewiß diese schweren da“, erwiderte Oliver, indem er auf einige dicke Quartanten mit reicher Vergoldung des Einbandes deutete.

„Nicht immer“, sagte der alte Herr lächelnd.

„Möchtest du wohl gern ein Gelehrter werden und Bücher schreiben, wie?“

„Ich würde es vorziehen, sie lieber zu lesen.“

„Wie? du willst kein Bücherschreiber werden?“

Oliver sann eine Weile nach, dann sagte er, es dünkte Ihn weit besser, Buchhändler zu sein.

Der alte Herr lachte herzlich und bemerkte, er hätte etwas sehr Gescheites gesagt. Oliver freute sich darüber, obgleich er nicht wußte, was das Gescheite war.

„Nun“, sagte der alte Herr wieder ernst, „hab keine Angst. Wir wollen keinen Schriftsteller aus dir machen, solange es noch ein ehrliches Handwerk oder Gewerbe zu erlernen gibt.“

„Ich danke Ihnen“, entgegnete Oliver, und der alte Herr lachte von neuem, und zwar über den Ernst, mit dem unser Held diese Antwort vorbrachte. Er ließ auch noch einige Worte von einem merkwürdigen Instinkt fallen, auf die aber Oliver nicht besonders acht gab, da er sie nicht verstand.

„Nun, mein Sohn“, fuhr Herr Brownlow in einem ernsteren Tone fort, „du mußt jetzt wohl auf das merken, was ich dir zu sagen habe. Ich will ohne Rückhalt mit dir reden, denn ich glaube, du wirst mich so gut verstehen können, wie manche ältere Person!“

„Ach, sagen Sie nur nicht, daß Sie mich fortschicken wollen. Weisen Sie mir nicht die Tür, daß ich wieder auf den Straßen herumwandern muß. Lassen Sie mich hier bleiben und Ihnen dienen. Erbarmen Sie sich über einen armen Jungen, bitte!“

„Mein liebes Kind“, sagte der alte Herr gerührt, „hab keine Furcht, ich werde dich nicht fortjagen, wenn du mir keinen Anlaß dazu gibst.“

„Nie werde ich das, niemals.“

„Ich hoffe es nicht und glaube auch nicht, daß du es je tun wirst“, versetzte der alte Herr. „Ich habe mich zwar früher oft in denen getäuscht, welchen ich Wohltaten erweisen wollte. Dir will ich jedoch vertrauen, weil ich wärmeren Anteil an dir nehme, als ich mir selbst erklären kann. Diejenigen, welche ich am innigsten geliebt habe, schlummern längst in den Gräbern, aber obgleich das Glück und die Freude meines Lebens mit ihnen begraben sind, habe ich doch mein Herz zu keinem Sarge gemacht und meine schönsten Gefühle drin verschlossen.“

Der alte Herr sprach dies leise vor sich hin, mehr zu sich als zu Oliver, der kaum zu atmen wagte. Nach einer kleinen Weile fuhr er in heiterem Tone fort:

„Genug, ich sage das nur, weil dein Herz jung ist und ich hoffe, daß du dich um so mehr vorsehen wirst mich zu betrüben, wenn du weißt, daß ich bereits großen Kummer und viele Leiden erduldet habe. Du sagst, du wärest eine Waise und ohne Verwandte in der Welt. Erkundigungen, die ich angestellt habe, bestätigen deine Angaben. Erzähle mir jetzt deine Geschichte – woher du kommst wer dich erzogen hat und wie du in die Gesellschaft geraten bist, in der ich dich gefunden habe. Sprich aber die Wahrheit. Wenn ich sehe, daß du kein Verbrechen begangen hast, wirst du an mir zeitlebens einen Freund und Beschützer haben.“

Olivers Schluchzen erstickte eine Weile seine Worte. Als er gerade anfangen wollte zu erzählen, kündigte das Dienstmädchen den Besuch des Herrn Grimwig an.

„Kommt er herauf?“ fragte Herr Brownlow das Mädchen.

„Ja“, versetzte das Mädchen. „Er fragte, ob es Keks im Hause gäbe, und als ich bejahte, sagte er, er wolle hier Tee trinken.“

Herr Brownlow lächelte und bemerkte zu Oliver, daß Grimwig ein alter Freund von ihm wäre, ein ungeschliffener Diamant.

„Soll ich mich entfernen?“ fragte Oliver.

.“Nein, du kannst hierbleiben.“

In diesem Augenblick trat, auf einen starken Stock gestützt, ein starker, alter Herr ins Zimmer. Er war auf einem Bein etwas gelähmt und humpelte. Im ausgestreckten Arm hielt er seinem Freunde ein Stückchen Orangenschale entgegen und rief polternd:

„Da, sehen Sie das? Ist es nicht zum Wahnsinnigwerden, daß ich in keines Menschen Hause vorsprechen kann, ohne.so was auf der Treppe zu finden. Durch eine Orangenschale bin ich lahm geworden, und eine Orangenschale wird noch mal mein Tod sein. Ich will meinen eigenen Kopf aufessen, wenn mich nicht eine 0rangenschale noch unter die Erde bringt. – Hallo! was ist das?“ fügte er mit einem Blick auf Oliver hinzu und trat einige Schritte zurück.

„Der junge Oliver Twist, von dem wir bereits gesprochen haben“, versetzte Herr Brownlow.

Oliver verbeugte sich.

„Das ist also der Junge“, begann Herr Grimwig.

„Ja, das ist der Junge“,. versetzte Herr Brownlow und nickte Oliver dabei zu.

„Nun, wie geht’s dir?“ fragte Herr Grimwig.

„Ich danke, viel besser“, antwortete Oliver.

Herr Brownlow schien zu befürchten, daß sein absonderlicher Freund irgend etwas Unangenehmes auf der Zunge hätte. Er trug daher Oliver auf, Frau Bedwin zu bestellen, daß sie den Tee bereithalten solle. Nachdem Oliver gegangen, fragte Herr Brownlow:

„Ist es nicht ein hübscher Junge?“

„Weiß nicht“, erwiderte Grimwig mürrisch.

„Wie, Sie wissen es nicht?“

„Nein, ich weiß es nicht. Kann nie einen Unterschied an Jungen entdecken. Kenne nur zwei Arten von Jungen, nämlich Mehlsuppengesichter und Beefsteakgesichter.“

„Und zu welchen gehört Oliver?“

„Zu den Mehlsuppengesichtern. Ein Bekannter, von mir hat einen Jungen, dessen Gesicht so recht die Fleischmastung ausdrückt. Sie nennen ihn einen schönen Jungen, weil er einen so runden Kopf, rote Backen und glänzende Augen hat. Mir ist der Bursche etwas Schreckliches – ein Körper und Gliedmaßen, die die Nähte seines blauen Anzuges auseinanderzusprengen drohen. Dazu kommt noch die Stimme eines Schifferknechts und der Hunger eines Wolfes. Ich kenne den Schlingel.“

„Nun, derartige Eigenschaften besitzt Ofiver nicht und verdient deshalb nicht Ihren Zorn.“

„Wenn nicht derartige, so hat er vielleicht noch schlimmere“, entgegnete Herr Grimwig.

Herr Brownlow hustete nervös, was Herrn Grimwig mächtig zu ergötzen schien.

„Ja, er hat vielleicht noch schlimmere, sage ich“, wiederholte Hee Grimwig. „Woher kommt er? Was ist er? Er hat Fieber gehabt – warum? Fieber ist bei ordentlichen Leuten nicht gewöhnlich. Schlechtes Volk hat bisweilen Fieber. Ich habe einen Menschen gekannt, der in Jamaika gehängt wurde, weil er seinen Herrn umgebracht hatte. Er hatte sechsmal das Fieber und wurde deshalb nicht zur Begnadigung empfohlen.“

Im Innern seines Herzens mußte Herr Grimwig aber zugeben, daß Oliver etwas Gewinnendes an sich hatte. Sein starker Hang zum Widersprechen und sein Grundsatz, sich nie von einem andern ein Urteil über das Aussehen eines Jungen vorschreiben zu lassen, hatte ihn bewogen, seinem Freunde Opposition zu machen. Als daher Herr Brownlow zugestand, daß er sich noch nicht eingehend über Oliver erkundigt hätte, kicherte Herr Grimwig bdshaft und fragte mit höhnischem Lächeln, ob die Haushälterin auch abends immer das Silbergeschirr nachzähle, denn er würde sich nicht wundern, wenn einen schönen Tages mal ein paar Löffel fehlten – – usw.

Herr Brownlow, der selbst etwas temperamentvoll war, nahm jedoch all dies gemütlich hin, da er die Eigentümlichkeiten seines Freundes kannte. Als dieser die Keks und den Tee lobte, wurde die Unterhaltung wieder angenehmer, so daß selbst Oliver, der inzwischen zurückgekommen war, freier zu atmen begann.

„Und wann gedenken Sie sich den ausführlichen und wahrhaften Bericht von Oliver Twists Leben und Taten erstatten zu lassen?“ fragte Grimwig, nachdem der Tee getrunken war. Er streifte dabei Oliver mit einem Blick.

„Morgen früh“, entgegnete Herr Brownlow. „Ich möchte dann allein mit ihm sein. Komm morgen um zehn Uhr zu mir herauf, mein Kind!“

„Ja, Herr Brownlow“, sagte Oliver mit einigem Zögern. Er war etwas verwirrt, da ihn Grimwig scharf ansah.

„Ich will Ihnen etwas sagen“, flüsterte Herr Grimwig BrownIow zu, „er wird morgen früh nicht zu Ihnen heraufkommen. Haben Sie nicht bemerkt wie er zögerte? Er betrügt Sie, lieber Freund!“

„Ich möchte drauf schwören, daß dies nicht der Fall ist« , erwiderte Herr Brownlow mit Wärme.

,;Wenn es nicht so ist, wie ich sagte, so will ich meinen Kopf – -„, damit stieß Grimwig seinen Stock heftig auf die Erde.

„Ich setze mein Leben auf die Wahrhaftigkeit des Jungen“, sagte Herr Brownlow und schlug mit. der Hand auf den Tisch.

„Und ich meinen Kopf auf seine Tücke“, schrie Herr Grimwig.

„Nun, wir werden ja sehen“, sagte Herr Brownlow, seinen Unmut bezwingend.

„Allerdings, wir werden es sehen“, sagte Herr Grimwig mit einem herausforderndem Lächeln.

Das Schicksal wollte es, daß in diesem Augenblick Frau Bedwin mit einigen Büchern hereintrat, die Brownlow am Vormittag bei demselben Buchhändler gekauft hatte, der schon einmal in unserer Geschichte eine Rolle spielte. Sie legte sie auf den Tisch und wollte das Zimmer wieder verlassen, als Brownlow sagte:

„Lassen Sie den Boten einen Augenblick warten, er muß noch etwas mitnehmen.“

„Er ist bereits fort“, versetzte Frau Bedwin.

„Rufen Sie ihm nach, die Sache ist wichtig. Die Bücher sind noch nicht bezahlt, und der Mann braucht sein Geld. Auch will ich ihm einige mir zur Ansicht gesandten Bücher zurückgeben.“

Man lief dem Boten nach, dieser war aber nirgends mehr zu sehen.

„Schicken Sie doch Oliver damit hin“, sagte Grimwig mit ironischem Lächeln. „Sie wissen, er wird sie sicher abliefern.“

„Ja, lassen Sie sie mich hintragen“, sagte Oliver. „Ich renne schnell hin.“

Der alte Herr wollte gerade erklären, daß Oliver auf keinen Fall gehen sollte, als ein boshaftes Husten Grimwigs ihn bestimmte, den Jungen doch zu schicken. Sein Freund sollte die Ungerechtigkeit seines Argwohnes einsehen lernen.

„Du kannst gehen, Oliver. Die Bücher liegen auf dem Stuhle neben meinem Tische. Bringe sie her!“

Oliver war froh, sich nützlich machen zu können. Die Bücher unterm Arm und die Mütze in der Hand, erwartete er den Auftrag.

„Sage also dem Buchhändler“, sprach Brownlow und sah dabei Grimwig scharf an, „du brächtest die Bücher wieder zurück und wolltest die vier Pfund und zehn Schillinge, die ich ihm schuldig bin, bezahlen. – -Hier ist eine Fünfpfundnote; er wird dir zehn Schillinge herausgeben.“

„In zehn Minuten bin ich wieder zurück“, sagte Oliver lebhaft, verbeugte sich und verließ das Zimmer. Frau Bedwin folgte ihm zur Haustür und bezeichnete ihm den Weg zum Buchhändler. „Gott sei mit dir“, murmelte sie, als sie ihm nachblickte. Es tut mir leid, daß ich ihn aus den Augen lassen soll.“

In diesem Augenblick sah sich Oliver um und winkte ihr zu, ehe er um die Ecke bog. Frau Bedwin erwiderte seinen Gruß und ging dann nach ihrem Zimmer zurück.

„Nun wollen wir sehen, in spätestens zwanzig Minuten wird er wieder zurück sein“, sagte Herr Brownlow und zog seine Uhr aus der Tasche, die er auf den.Tisch legte. „Inzwischen wird es dunkel geworden sein.“

„Sie glauben also wirklich, daß er wiederkommt?“ fragte Grimwig ironisch.

„Sie nicht?“ fragte Brownlow lächelnd zurück.

„Nein“, sagte er, indem er mit der Faust auf den Tisch schlug. „Der Junge hat einen neuen Anzug auf dem Leibe, einen Packen wertvoller Bücher unter dem Arme und eine Fünfpfundnote in der Tasche. Er wird wieder zu seinen alten Freunden, den Langfingern, gehen und Sie auslachen. Wenn der Junge je wieder hierher zurückkehrt, will ich meinen Kopf aufessen.“

Mit diesen Worten rückte er seinen Stuhl näher an den Tisch und so saßen die beiden Freunde, die Uhr vor sich, in schweigender Erwartung da. – –

Es wurde so dunkel, daß man die Zahlen der Uhr nicht mehr erkennen konnte, aber die beiden alten Herren saßen immer noch schweigend da – und warteten.

Zeigt, wie lieb der alte Jude und Fräulein Nancy Oliver Twist hatten

In einer armseligen Kneipe einer finsteren Straße in der Gegend von Little Saffron Hill, saß über einer kleinen Kanne und einem Schnapsglase brütend Herr William Sikes. Zu seinen Füßen lag ein weißer, rotäugiger Hund, der bald seinem Herrn zublinzelte, bald eine an der Seite seiner Schnauze befindliche große, frische Wunde leckte.

„Ruhig, Biest!“ rief plötzlich Herr Sikes und gab dem Hunde einen Fußtritt. Dieser biß ihn dafür in den Stiefel und zog sich dann knurrend unter eine Bank zurück. Dies entflammte Herrn Sikes Zorn mächtig. Er kniete nieder und begann das Tier mit einem Feuerhaken aufs wütendste anzugreifen. Der Hund sprang,schnappend und knurrend bald nach rechts, bald nach links. Der Kampf schien eben für den einen oder den anderen der beiden Kämpfer eine bedenkliche Wendung nehmen zu wollen, als plötzlich die Tür aufging. Der Hund schoß sofort hinaus und ließ Herrn Sikes allein.

Zu einem Streite gehören wenigstens zwei, sagt das Sprichwort, und da der Hund entkommen war, band Herr Sikes mit dem Eintretenden an.

„Was zum Teufel brauchst du zwischen mich und meinen Hund zu treten?“ fragte Sikes grob.

„Das hab ich doch nicht gewußt, wirklich nicht“, antwortete Fagin demütig – denn der neue Gast war niemand anders als der Jude.

„Nicht gewußt, Spitzbube?“ brummte Sikes unwirsch. „Hast du denn den Radau nicht gehört?“

„Keinen Ton, so wahr ich lebe“, entgegnete der Jude.

„Ja, ja, du hörst nie etwas“, sagte Sikes mit Hohnlachen, „ebensowenig wie man dich hört, wenn du rein und raus schleichst. Ich wünschte nur, du wärst vor einer Minute der Hund gewesen!“

„Warum?“ fragte der Jude mit gezwungenem Lächeln. „Darum, weil das Gesetz einem nicht verbietet, seinen Hund abzumurksen, während es um das Leben von Leuten deines Schlages besorgt ist, die nicht halb so viel wert sind als ein Köter“, entgegnete Sikes grimmig.

Der Jude rieb sich die Hände und setzte sich an den Tisch nieder. Obgleich ihm nicht besonders wohl zumute war, zwang er sich doch zu einem Lächeln über den „Scherz“ des Freundes.

„Ja, grinse nur“, sagte Sikes, „grinse nur immerzu. Über mich wirst du nicht lachen, ich habe dich in der Hand, Fagin, und der Teufel soll mich holen, wenn ich dich aus den Fingern lasse. Geh‘ ich verschütt, so gehst du auch. Also paß gut auf, daß sie mich nicht kriegen!“

„Schon gut, mein Lieber“, entgegnete der Jude, „wir haben das gleiche Interesse, ich weiß das ganz genau, Bill, dasselbe Interesse.“

„Na schön“, sagte Sikes, dem es so vorkam, als sei das Interesse mehr auf Seite des Juden, „was hast du mir eigentlich zu sagen?“

„Es ist alles glücklich durch den Schmelztiegel gewandert“, antwortete der Jude, „und dies ist Euer Anteil. Es ist zwar etwas mehr, als Euch zusteht, Bill, aber da, ich weiß, daß Ihr mir ein andermal wieder gefälfig sein werdet, so-„

„Hör bloß mit dem Geschmuse auf“, fiel der Dieb ungeduldig ein. „Wo ist’s? Rück heraus!“

„Ja doch, Bill, einen Augenblick“, versetzte der Jude begütigend. „Hier ist’s – bei Heller und Pfennig.“ Er brachte ein kleines, in braunes Papier eingeschlagenes Päckchen zum Vorschein, das ihm Sikes aus den Händen riß und hastig öffnete. Nachdem er die darin befindlichen Goldstücke gezählt hatte, fragte der Dieb:

„Ist das alles?“

„Jawohl“, antwortete der Jude.

„Hast du auch unterwegs das Päckchen nicht aufgemacht und ein paar Stücke verdrückt?“ fuhr Sikes argwöhnisch fort. „Stell dich nur nicht beleidigt, es wäre nicht das erstemal. Klingle mal.“

Fagin setzte den Klingelzug in Bewegung, und kurz darauf trat ein anderer Jude ein. Jünger zwar als Fagin, aber ebenso spitzbübisch und abstoßend in seinem Äußern.

Bill zeigte nur auf die leere Kanne, worauf der Jude, der den Wink verstand, sich entfernte, um sie wieder zu füllen. Beim Herausgehen hatte er jedoch Fagin einen bedeutungsvollen Blick zugeworfen, den dieser mit einem leichten Kopfschütteln beantwortete. Diese Zeichensprache ging Sikes verloren, da er sich gerade zufällig bückte. Hätte er sie bemerkt, würde er wohl wenig Gutes für sich selber daraus gefolgert haben.

„Ist jemand hier, Barney?“ fragte Fagin den wieder eintretenden Juden.

„Nur Fräulein Nancy“, erwiderte dieser.

„Nancy?“ rief Sikes. „Ein patentes Mädel.“

„Ja, sie ist drinnen am Büfett und hat sich einen Teller Rindfleisch geben lassen“, bemerkte Barney.

„Schick sie her! Schnell!“ rief Sikes.

Barney warf einen fragenden Blick auf Fagin, da ihm dieser aber kein Zeichen gab, so entfernte er sich und kehrte bald mit Nancy zurück.

„Du bist ihm auf der Spur, Nancy, nicht wahr?“ fragte Sikes und bot ihr ein Glas Schnaps an.

„Ja, Bill“, entgegnete die junge Dame und leerte das Glas mit einem Zuge. „Mühe genug hat es gekostet. Der Junge ist krank gewesen und mußte das Bett hüten, dann –“

„Sie sind ein Prachtmädel, Nancy!“ sagte Fagin. Ein Augenblinzeln des Juden warnte das Mädchen vor allzu großer Offenheit. Sie lenkte deshalb das Gespräch mit Herrn Sikes auf andere Gegenstände und erklärte nach ungefähr zehn Minuten, gehen zu müssen. Herr Sikes bemerkte, daß er denselben Weg habe, und sie gingen zusammen fort. Der Hund folgte in einiger Entfernung seinem Herrn. Nachdem Sikes das Zimmer verlassen hatte, schüttelte Fgin die geballte Faust hinter ihm her und murmelte einen schweren Fluch. Dann setzte er sich wieder an den Tisch und vertiefte sich in die Lektüre des Londoner Kriminalanzeigers.

Inzwischen eilte Oliver Twist dem Bücherladen zu und dachte darüber nach, wie glücklich und zufrieden er jetzt sei. Aus diesen Träumereien wurde er durch den Ruf geschreckt: „oh, mein lieber Bruder“. und fühlte gleichzeitig seinen Hals von einem Paar weiblichen Armen umschlungen.

.“Lassen Sie mich los“, rief Oliver sich wehrend. „Was wollen Sie denn von mir? Warum halten Sie mich auf?“

Die einzige Antwort hierauf war seitens des Mädchens:

„Gott sei Dank, ich habe ihn gefunden! O Oliver, böser Junge, wieviel Kummer hast du mir bereitet. Komm nach Hause, Liebling, komm! Ich bin ja so froh, ihn gefunden zu haben.“

Das junge Mädchen brach in Tränen aus und bekam so schreckliche Krämpfe, daß ein paar dabeistehende Weiber einen vorübergehenden Schlächterlehrling fragten, ob er es nicht für richtiger hielte, zum Arzt zu laufen. Der Lehrling, wenn auch nicht gerade gefühllos, schien aber ein ziemlich träger Bursche zu sein, denn er erwiderte, seiner Ansicht nach wäre das nicht nötig.

„Mir ist schon wieder besser“, sagte das Mädchen und nahm Oliver bei der Hand. „Aber nun komm schnell mit mir nach Hause, du böser, böser Junge, du!“

„Was ist denn los?“ fragte eine der Frauen.

„Ach, er ist vor ungefähr vier Wochen seinen Eltern, arbeitsamen und achtbaren Leuten, entlaufen und hat sich einer Diebesbande angeschlossen. Der armen Mutter ist darüber fast das Herz gebrochen.“

„Geh nach Hause, Bösewicht“, schrien die Weiber.

„Solch ein verdammter Bengel.“

„Das ist nicht wahr“, rief Oliver in großer Angst , „Ich kenne sie gar nicht. Ich habe weder Schwester noch Vater, noch Mutter. Ich bin eine Waise und wohne zu Pentonville.“

„Lieber Gott, wie frech er schon geworden ist“, schluchzte das junge Mädchen.

„Ach, Nancy!“ schrie Oliver, entsetzt zurückfahrend, als er ihr ins Gesicht sah.

„Ihr seht, er kennt mich“, sagte Nancy zu den Umstehenden. „Er kann es nicht leugnen. Helft mir, gute Leute, ihn nach Hause bringen, sonst sterben seine armen Eltern noch vor Kummer und Sorge, und mir bricht er das Herz.“

„Donnerwetter, was ist los?“ rief ein Mann, der aus einer Kneipe stürzte. „Ach, der junge Oliver, komm nach Hause zu deiner armen Mutter, du Galgenstrick. Sofort gehst du mit!“

„Ich gehöre nicht zu ihnen. Ich kenne sie nicht. Hilfe! Hilfe!“ brüllte Oliver und wehrte sich verzweifelt gegen den festen Griff des Mannes.

„Hilfe!“ wiederholte der Mann. „Ich will dir gleich helfen, Lümmel! Was sind das für Bücher? Wahrscheinlich gestohlen! Gib mal her.“

Mit diesen Warten entriß er ihm die Bände und gab ihm einen heftigen Schlag auf den Kopf.

„So ist’s recht, der einzige Weg, ihn wieder zur Vernunft zu bringen“, riefen die Zuschauer.

„Er kann noch mehr haben“, sagte Sikes, indem er Oliver einen zweiten Schlag versetzte und dann beim Kragen packte. „Marsch, du Taugenichts, und nimm dich vor meinem Hund dort in acht.“

Noch schwach von der eben erst überstandenen Krankheit, betäubt durch die Schläge und das Plötzliche des Angriffs, was konnte da wohl ein armes Kind machen? Es war dunkel geworden, nirgends Hilfe, so war jeder Widerstand fruchtlos. Oliver wurde in aller Eile durch ein Labyrinth enger, finsterer Höfe geschleppt und zu so schnellen Schritten gezwungen, daß die wenigen Hilferufe ungehört verhallten.

Die Gaslampen wurden angezündet. Frau Bedwin wartete besorgt an der offenen Haustür, und das Dienstmädchen war wohl zwanzigmal die Straße hinabgelaufen, ohne eine Spur von Oliver zu entdecken. Die beiden alten Herren saßen beharrlich im dunklen Zimmer, zwischen sich die Uhr auf dem Tische – und warteten.

Erzählt von Olivers Schicksalen nach seiner Begegnung mit Nancy

Die engen Straßen und Gassen endeten an einem großen Platz, der als Viehmarkt benutzt wurde. Sikes ging jetzt langsamer, da das Mädchen ganz außer Luft und Atem war. Er herrschte Oliver mit rauher Stimme an, Nancys Hand zu fassen.

„Hast du gehört?“ brüllte Sikes, als Oliver zögerte und sich umblickte.

Sie befanden sich in einem dunkeln, abgelegenen Teil der Stadt und Oliver erkannte, daß jeder Widerstand vergeblich sein würde. Er streckte daher seine Hand aus, die Nancy sofort mit der ihrigen erfaßte.

„Gib mir die andere“, sagte Sikes und packte ihn bei der noch freien Hand.

Sie kamen jetzt zum Smithfieldmarkt. Die Nacht war finster und neblig. Es schlug acht.

„Acht Uhr, Bill!“ sagte Nancy, als die Uhr ausgeschlagen hatte.

„Das brauchst du mir nicht zu erzählen, ich hab‘ ja Ohren“, erwiderte Sikes.

„Ob sie die Uhr auch schlagen hören?“ meinte Nancy.

„Natürlich“, versetzte Sikes. „Es war so um Bartholomae, als ich im Kittchen saß, und da war keine Pfennigtrompete auf dem ganzen Markt, die ich nicht quäken hörte.

„Die armen Jungens!“ seufzte Nancy. „Ach, Bill, was es für schneidige junge Kerle sind!“

„Ja, ja, so sind die Weiber, an etwas anderes denken sie nicht“, entgegnete Sikes. „Schneidige Kerle, meinetwegen; sie sind so gut wie tot, also kann’s mir gleichgültig sein.“

Mit diesem Trost schien Sikes eine Anwandlung von Eifersucht niederzukämpfen. Er faßte Olivers Handgelenk fester und eilte weiter. Nach einer halben Stunde bogen sie in eine enge, schmutzige Gasse, in der fast nur Trödler zu wohnen schienen. Vor einem anscheinend unbewohnten Laden machten sie halt.

„Gott sei Dank“, sagte Sikes und sah sich vorsichtig um.

Nancy bückte sich, und Oliver hörte eine Klingel. Sie gingen nun auf die andere Seite der Straße und stellten sich für einen Augenblick unter eine Laterne. Jetzt wurde geräuschlos die Haustür geöffnet, und Sikes packte Oliver ohne weitere Umstände am Kragen. In einer Sekunde befanden sich alle drei im Innern des Hauses. Sie warteten im dunklen Hausflur, bis die Person, die sie eingelassen, die Tür wieder verschlossen und verriegelt hatte.

„Ist jemand hier?“ fragte Sikes.

„Nein“, antwortete eine Stimme, die Oliver schon früher gehört zu haben glaubte.

„Ist der Alte da?“ fuhr der Spitzbube fort.

„Ja“, entgegnete die Stimme, „er geht aber mächtig sparsam mit seinen Worten um. Glaube nicht, daß er sehr erfreut ist, Sie zu sehen. Sicher nicht.“

„Bring eine Funzel!“, sagteSikes, „sonst brechen wir uns noch den Hals oder treten den Hund, und das ist gefährlich.“

„Einen Augenblick, werde sofort Licht bringen“, erwiderte eine Stimme. Nach einer Minute zeigte sich die Gestalt des Herrn John Dawkins, sonst auch der Gannef geheißen, in der rechten Hand eine brennende Kerze haltend. Der junge Herr gab Oliver kein anderes Zeichen des Wiedererkennens als ein höhnisches Grinsen, dann winkte er den Dreien, ihm zu folgen. Sie kamen durch eine leere Küche, und als sie die Tür eines niedrigen, dumpfen Gemaches öffneten, wurden sie mit einem schallenden Gelächter empfangen.

„Wer kommt denn da?“ brüllte Karl Bates, indem er sich vor Lachen die Seiten hielt. „Das ist er ja. Gucken Sie ihn an, Fagin. Sehen Sie ihn sich bloß mal an. Das ist ein Hauptspaß! Ich kann nicht mehr! Ich sterbe vor Lachen!‘ Damit legte er sich der Länge nach mit dem Rücken auf die Erde und strampelte minutenlang mit den Beinen. Dann sprang er auf, entriß dem Gannef die Kerze, und beleuchtete Oliver von allen Seiten. Zu gleicher Zeit machte der Jude, seine Nachtmütze abnehmend, unserm verwirrten Helden tiefe Verbeugungen. Der Gannef, ernster veranlagt und beim Geschäft keinen Spaß kennend, durchsuchte inzwischen eifrig Olivers Taschen.

„Ein vornehmer Herr“, sagte Bates. „Sehen Sie sich nur seine Klamotten an. Das feinste Tuch und der modernste Schnitt, Fagin! Und dann noch seine Bücher!“

„Entzückt Sie so wohl zu sehen, mein Herr“,. begann der Jude, indem er sich mit ironischer Höflichkeit vor Oliver verbeugte. Der Gannef wird Ihnen geben einen, anderen Anzug, damit Sie sich nicht gleich verderben Ihren Sonntagsstaat. Warum haben Sie uns nicht geschrieben, daß Sie kommen würden? Wir hätten Ihnen dann etwas Warmes zum Abendessen aufgehoben.“

Karl Bates begann aufs neue – und zwar so unbändig zu lachen, daß auch Fagin sein Gesicht verzog und sogar der Gannef lächelte. Da aber dieser in jenem Augenblick die Fünfpfundnote aus Olivers Tasche zog, so ist es zweifelhaft, ob die Lustigkeit seines Kameraden oder der wichtige Fund sein Lächeln hervorrief.

„Hallo, was ist, das?“ fragte Sikes vortretend, als der Jude die Banknote ergriff. „Das ist mein, Fagin!“

„Nein, mein“, sagte der Jude, „mein ist es. Ihr könnt die Bücher haben!“

„Wenn ich, das heißt, wenn ich und Nancy nicht die Fünfpfundnote kriegen“, sagte Sikes ganz energisch und setzte sich seinen Hut auf, „so nehme ich den Jungen wieder mit.“

Der Jude und Oliver fuhren zusammen, aber aus ganz verschiedenen Gründen. Hoffte doch letzterer, der Streit möchte damit endigen, daß er wieder zurückgebracht würde.

„Schnell, rück ‚raus! Was, du willst es nicht hergeben?“ ,schrie Sikes.

„Es ist ungerecht, Sikes, Nicht wahr, Nancy, er ist ungerecht?“ versetzte Fagin.

„Gerecht oder ungerecht! Gib her“, damit riß Sikes dem Juden die Banknote aus den Fingern. Er faltete sie zusammen und knüpfte sie in seine Halsbinde.

„Das ist für unsere Mühe“, fuhr Sikes fort, „und wenig genug. Du kannst meinetwegen die Bücher behalten und dazin lesen, wenn du Lust hast. Oder kannst sie auch verkaufen.“

„Sie gehören dem alten Herrn“, sagte Oliver händeringend, „dem guten, alten Herrn, der mich in sein Haus nahm und mich pflegte, als ich todkrank daniederlag. Ach, bitte, schicken Sie es ihm zurück, schicken Sie ihm Geld und Bücher zurück. Behalten Sie mich mein Leben lang hier, aber geben Sie ihm sein Eigentum wieder. Er wird sonst glauben, ich hätte ihn bestohlen; die alte Dame und.alle anderen, die so gut zu mir waren, werden denken, ich sei ein Dieb. Oh, haben Sie Mitleid mit mir und senden Sie Bücher und Geld zurück.“ Mit diesen Worten fiel Oliver vor dem Juden auf die Knie und rang verzweiflungsvoll die Hände.

„Der Junge hat recht“, sprach Fagin, sich im Kreise umsehend. „Man wird dich allerdings für den Dieb halten, Oliver. Ha! ha! ha! –“ kicherte der Jude. „Einen besseren Zeitpunkt hätten wir gar nicht wählen können.“

„Stimmt“, sagte Sikes. „Ich wußte das, als ich ihn mit den Büchern herankommen sah. Jetzt ist alles in schönster Ordnung.“

Oliver hatte wie ein Unzurechnungsfähiger während dieses Gespräches von dem einen Sprecher auf den anderen gesehen, er war sich nicht im geringsten darüber klar, was um ihn vorging. Plötzlich stürzte er aus dem Zimmer und rief laut und flehentlich um Hilfe. Das ganze Haus hallte von seinem Geschrei wider.

„Halt den Hund zurück, Bill!“ kreischte Nancy und schloß die Tür, durch die der Jude mit seinen beiden Zöglingen eben Oliver nachgeeilt war. „Halt den Hund zurück, er wird sonst den Jungen in Stücke reißen.“

„Geschieht ihm recht“, brüllte Sikes und suchte sich den Händen des Mädchens zu entwinden. „Laß mich los, oder ich schmeiß‘ dich an die Wand.“

„Mir gleich,“ schrie Nancy in heftigem Ringen mit dem Manne, „das Kind soll nicht vom Hunde zerrissen werden, da mußt du mich erst kaltmachen.“

„Das kann dir leicht passieren, wenn du mich nicht los läßt“, knirschte Sikes und schleuderte das Mädchen in eine Ecke des Zimmers. In diesem Augenblick kam der Jude mit seinen beiden Zöglingen zurück, die Oliver nachzerrten.

„Was ist denn hier, los?“ fragte der Jude sich umblickend.

„Das Weib ist verrückt geworden, glaub‘ ich“, erwiderte Sikes wütend.

„Durchaus nicht“, rief Nancy blaß und atemlos von dem Kampf. „Glauben Sie das ja nicht Fagin.“

„Dann halte den Mund“, schrie der Jude drohend.

„Habe ich nicht nötig“, kreischte Nancy..“Was sagst du nun?“

Fagin schien es im gegenwärtigen Augenblick nicht geraten, sich in einen weiteren Wortwechsel mit ihr einzulassen. Er wandte sich deshalb an Oliver und fuhr ihn an:

„Du wolltest also fortlaufen, mein Lieber“, dabei nahm er einen Knotenstock, der am Kamin lag, in die Hand. „Wolltest um Hilfe rufen, zur Polizei gehen! Das wollen wir dir austreiben.“ Hier packte er den Jungen und schlug ihn mit dem Stock über den Rücken. Als er zum zweiten Male ausholen wollte, eilte Nancy herbei und entwand den Stock seinen Händen. Sie schleuderte ihn in den Kamin, daß die Funken nur so im Zimmer herumflogen.

„Ich dulde es nicht“, schrie sie und stampfte mit dem Fuß zornig auf den Boden. „Ihr habt den Jungen, was wollt ihr mehr. Laßt ihn zufrieden, oder ich tue euch was an, selbst wenn es mich vor der Zeit an den Galgen bringen sollte.“

„Ach, Nancy!“ sagte- der Jude beschwichtigend nach einer Pause, während der er und Sikes sich verblüfft angeguckt hatten. „Sie spielen heute abend Ihre Rolle besser als je.“

„Wirklich?“ versetzte das Mädchen, „nehmt euch in acht, daß ich euch nicht tatsächlich mal was vorspiele. Das wäre schlimm für euch. Ich sage euch das rechtzeitig, damit ihr euch vorseht.“

„Was soll das heißen?“ tobte Sikes und stieß eine Flut von Verwünschungen gegen sie aus. „Der Teufel soll dich holen! Du hast wohl vergessen, wer du bist und was du bist?“

„O nein, ich weiß das ganz genau“, versetzte das Mädchen mit hysterischem Lachen.

„Na, dann sei ruhig“, sagte Sikes, „oder ich mach‘ dich für eine lange Zeit still.“

Das Mädchen lachte wieder und warf einen flüchtigen Blick auf ihn; dann drehte sie sich um und biß sich auf die Lippen, daß sie bluteten.

„Du bist mir gerade die Rechte, die Menschenfreundin ‚rauszubeißen“, fuhr Sikes im verächtlichen Tone fort. „Eine nette Freundin für das Kind, wie du den Jungen nennst.“

„Der Allmächtige ist mein Zeuge, daß ich es bin“, rief Nancy leidenschaftlich. „Lieber läge ich tot auf der Straße oder säße im Gefängnis, als daß ich mich dazu hergegeben hätte, ihn in euere Hände zu bringen. Er ist von diesem Augenblick an ein Dieb, ein Lügner, ein Teufel, kurz alles, was man sich nur Schlimmes denkt. Ist das nicht für den alten Halunken genug, muß er ihn auch noch prügeln?“

„Sehen Sie, Sikes“, sagte der Jude in einem belehrenden Tone, „wir müssen höflich sein und freundliche Worte gebrauchen. Immer höflich, Bill!“

„Höfliche Worte!“ schrie das Mädchen, das in seiner Wut schrecklich anzusehen war. „Freundliche Worte! Du Schurke! Du verdienst sie auch von mir. Ich stahl für dich, als ich noch ein Kind war, nicht halb so alt wie dieses (sie zeigte auf Oliver) und treibe nun seit zwölf Jahren dasselbe Gewerbe. Weißt du das nicht? Sprich!“

„Nun“, sagte der Jude begütigend, „wenn du es tatest, so hattest du doch dein Brot davon.“

„Das stimmt“, sprudelte das Mädchen mit steigender Heftigkeit heraus. Ihre Worte überstürzten sich förmlich.

„Es ist mein Brot, und die kalten, nassen, schmutzigen Straßen sind mein Heim. Und du bist der Lump, der mich heraustrieb und der mich Tag und Nacht hinaustreiben wird, bis ich verrecke!“