31. Kapitel
Mr. Pinch wird einer Pflicht enthoben, die er im Grunde genommen niemals hatte, und Mr. Pecksniff erfüllt eine Pflicht, die er der gesamten Menschheit schuldig zu sein glaubt
Die Schlußworte des vorigen Kapitels leiten sehr passend den Anfang des gegenwärtigen ein, denn dieses hat ebenfalls mit einer Kirche zu tun, und zwar mit einer Kirche, die wir schon oft erwähnt haben und in der Tom Pinch gratis die Orgel zu spielen pflegte.
Eine Woche nach Miss Charitas‘ Abreise nach London machte Mr. Pecksniff an einem schwülen Nachmittag einen einsamen Spaziergang, und dabei fiel es ihm ein, auch einmal den Kirchhof zu besuchen. Wie er so zwischen den Grabsteinen umherschlenderte und die eine oder andere brauchbare Sentenz auf den Grabinschriften seinem Gedächtnis einzuprägen bemüht war – versäumte er doch nie eine Gelegenheit, sich mit moralischen Raketen zu versehen, die er bei passender Gelegenheit loslassen konnte –, begann Tom gerade mit seinem Orgelspiel.
Tom benützte fast jeden freien Augenblick dazu, und da es ein einfaches kleines Instrument war, das man allein mit den Füßen bedienen konnte, so waren keine Blasbalgtreter nötig, obgleich sämtliche Knaben oder Männer des Dorfes ihm gewiß mit Freuden ihre Dienste angeboten haben würden und ihm geholfen hätten, bis sie vor Anstrengung umgefallen wären.
Mr. Pecksniff hatte im allgemeinen gegen Musik nichts einzuwenden – nicht das mindeste – das betonte er stets –, hielt aber die Tonkunst im großen und ganzen für eine Art Spielerei, die gerade gut genug wäre für Toms geistige Fähigkeiten. Mit Bezug auf das Orgelspiel seines Faktotums war er ganz besonders nachsichtig, denn wenn Tom an Sonntagen spielte, hatte er so die Empfindung, er selbst werde dadurch zum Wohltäter an der ganzen Gemeinde. Sooft es daher unmöglich war, Tom anderweitig auszunutzen, erlaubte er ihm gern, sich auf diesem Instrumente zu üben – ein Beweis von Rücksicht, den Mr. Pinch stets dankbar anerkannte. Der Nachmittag war sehr schwül, und Mr. Pecksniff hatte einen weiten Spaziergang hinter sich. Er erfreute sich, wie gesagt, keines besonders musikalischen Gehörs, wußte es aber zu würdigen, wenn eine Melodie einen beruhigenden Einfluß auf seine Seele übte. Und das war eben jetzt der Fall. Tönte sie ihm doch zu wie ein harmonisches Schnarchen. Er näherte sich der Kirche, blickte durch die Fensterscheiben neben dem Eingang und erblickte Tom, wie er hinter den zurückgeschlagenen Vorhängen der Emporkirche ausdrucksvoll und mit tiefer Innigkeit spielte.
Die Kirche hatte etwas Einladendes in ihrer Kühle; die alte eichene Decke, von Querbalken getragen, die altersgrauen Mauern, die marmornen Täfelungen und der geborstene steinerne Fußboden boten einen erfrischenden Anblick. Efeublätter schlugen sanft an die Fenster gegenüber, und das Sonnenlicht fiel schräg herein, und der Hintergrund des Kirchenschiffs lag in verlockendem Schatten.
Aber das verführerischste Plätzchen von allen war ein mit roten Vorhängen und weichen Kissen versehener Kirchenstuhl, in dem die Würdenträger des Ortes, deren Oberhaupt Mr. Pecksniff war, sich sonntags einschlossen. Mr. Pecksniffs Sitz befand sich in der Ecke – in einer sehr behaglichen Ecke, wo sich in diesem Augenblick sein umfangreiches Gebetbuch auf dem Pulte breitmachte. So beschloß Pecksniff denn hineinzugehen und ein wenig auszuruhen.
Leise trat er ein, teils, weil es eine Kirche war, teils, weil er immer einen sehr leisen Schritt hatte, teils, weil Tom eine feierliche Melodie spielte, teils, weil er nicht bemerkt werden wollte. Er klinkte die Türe des hohen Kirchstuhls auf, schlüpfte hinein und machte sie wieder hinter sich zu. Dann setzte er sich auf seinen gewohnten Platz, streckte sich bequem aus und schickte sich an, der Musik zu lauschen.
Es ist ein unerklärlicher Umstand, daß er sich schläfrig fühlen konnte, wo doch die Macht der Ideenverbindung hätte hinreichen müssen, ihn wach zu erhalten, aber dennoch war es der Fall. Er hatte noch keine fünf Minuten in seinem verborgenen Winkelchen gesessen, als er einzunicken begann. Sooft er träge seine Augen öffnete, so oft nickte er abermals wieder ein. Die Lider fielen ihm zu, und er nickte aufs neue und verfiel auf diese Art in eine Art Halbbewußtsein, bis auch dieses verschwamm und er so unbeweglich schlummerte wie die Kirchenwände selbst.
Lange noch nachdem er eingeschlafen, hörte er die Orgel, wenn er sich auch nicht klarmachen konnte, daß es eine Orgel war – so wenig wie es ein Ochse imstande gewesen wäre. Nach einer Weile fing er an, in Zwischenräumen traumhafte Stimmen zu hören. Eine Art träge Neugierde weckte ihn. Er schlug die Augen auf. Schlaftrunken blickte er auf die Vorhänge und in seinem Stuhl umher, und eben war er wieder auf bestem Wege einzunicken, als es ihm schien, als ob doch wirkliche Stimmen in der Kirche zu vernehmen wären – gedämpfte Stimmen, die in seiner Nähe angelegentlich miteinander sprachen und in murmelndem Echo von den Wänden widerhallten. Er setzte sich auf und horchte. Ehe er noch ein Dutzend Sekunden gelauscht hatte, war er so vollkommen wach wie nur je in seinem Leben. Augen, Ohren und Mund weit offen, beugte er sich mit äußerster Vorsicht ein wenig vor, lüftete den Vorhang und blickte hinaus.
Tom Pinch und Mary waren es.
Natürlich.
Er hatte ihre Stimme erkannt und wußte bereits, was sie sprachen. Wie der Schädel eines Guillotinierten guckte sein Kopf hervor, mit dem Kinn gerade über dem Rande des Kirchenstuhles, so daß er sogleich wieder untertauchen konnte, falls einer der Sprechenden sich umdrehte. In dieser Stellung horchte Mr. Pecksniff. Und er horchte mit solcher Anstrengung, daß selbst sein Haar und sein Hemdkragen sich aufzurichten schienen, als wollten sie ebenfalls mithorchen.
»Nein«, hörte er Tom sagen, »außer dem einzigen aus New York ist kein Brief weiter an mich gelangt. Aber seien Sie deshalb nicht beunruhigt. Es ist höchst wahrscheinlich, daß sie weiter ins Land hineingezogen sind, wo die Briefpost noch nicht so regelmäßig funktioniert. Er bemerkte es gleich in dem Schreiben, daß es in der Stadt, in die sie zu gehen gedächten, wohl so sein werde. In Eden, Sie wissen.«
»Es ist eine schwere Sorge für mich«, klagte Mary. »Sie dürfen es nicht als solche empfinden«, tröstete Tom; »sagt doch das Sprichwort, daß nichts so schnell wandert wie schlimme Neuigkeiten, und wenn Martin nur das Geringste zugestoßen wäre, so würden Sie zuverlässig längst davon erfahren haben. Ich habe oft gewünscht, Ihnen dies sagen zu können«, fuhr er einigermaßen verlegen fort, »aber Sie haben mir niemals Gelegenheit dazu gegeben.«
»Ich habe immer gefürchtet«, sagte Mary, »Sie könnten glauben, ich scheute mich, Ihnen mein Vertrauen zu schenken, Mr. Pinch.«
»N-nein«, stammelte Tom, »ich kann Ihnen versichern, daß ich niemals etwas Derartiges geglaubt habe; – ich – ich – hätte den Gedanken sogleich unterdrückt. Als eine Ungerechtigkeit gegen Sie. Ich fühle, wie delikat es für Sie sein muß, sich gerade mir anzuvertrauen«, setzte er rasch hinzu, »aber seien Sie überzeugt, ich würde mein Leben dransetzen, Ihnen nur einen Tag Unruhe zu ersparen, weiß Gott. Ich fürchtete, manchmal Ihr Mißfallen zu erregen, – weil – weil ich die Kühnheit hatte, zuweilen Ihre Gedanken erraten zu wollen. Dann wieder bildete ich mir ein, daß Ihr gutes Herz Sie veranlasse, sich von mir fernzuhalten.«
»Wirklich?«
»Es war sehr töricht, sehr anmaßend und lächerlich, etwas Derartiges zu glauben«, fuhr Tom fort, »aber ich fürchtete, Sie könnten es für möglich halten, daß ich – daß ich – Sie zu viel bewundern und darüber – – meinen eigenen Seelenfrieden verlieren könnte und – daß Sie deshalb auf die geringe Hilfe verzichteten, die Sie sonst von mir angenommen hätten. – – Wenn Ihnen je ein solcher Gedanke kam«, stotterte er, »bitte, so lassen Sie ihn jetzt fallen. Ich brauche nur wenig zu meinem Glück und werde hier zufrieden leben, wenn Sie und Martin mich längst vergessen haben. Ich bin ein armes, schüchternes und unbeholfenes Geschöpf und kein Mann von Welt; und Gott behüte, daß Sie je mehr an mich dächten als an einen alten Mönch.«
»Lieber Mr. Pinch«, Mary reichte Tom die Hand, »ich kann Ihnen nicht sagen, wie sehr mich Ihre Güte rührt. Ich habe Ihnen nie durch den geringsten innern Zweifel unrecht getan, – nie aufgehört zu fühlen, daß Sie uns alles das – ja mehr als alles – waren, was Martin mir von Ihnen sagte. Ohne Ihre stumme und zartsinnige Freundschaft hätte ich mich hier sehr unglücklich gefühlt, aber Sie sind mir ein guter Engel gewesen, der mir Dankbarkeit, Hoffnung und Mut eingeflößt hat«
»Ich fürchte, ich gleiche so wenig einem Engel«, entgegnete Tom kopfschüttelnd, »wie einem von den steinernen Cherubim auf den Gräbern hier. Ich glaube nicht, daß es viele wirkliche Engel dieser Art gibt. Aber ich möchte wissen (wenn Sie es mir sagen wollen), warum Sie so ganz und gar über Martin geschwiegen haben.«
»Weil ich fürchtete, Ihnen wehe zu tun.«
»Mir wehe zu tun!« rief Tom.
»Ich meine, Ihnen zu schaden bei Ihrem Herrn.«
– Der Ehrenmann, von dem die Rede war, duckte sich unter den Kirchenstuhl. –
»Bei Pecksniff?« rief Tom, freudig erregt. »O du mein Himmel! Der denkt nicht an so etwas! Er ist der beste aller Sterblichen. Er würde nur um so glücklicher sein, je wohler Sie sich fühlen. Nein, nein, vor Pecksniff brauchen Sie sich nicht zu fürchten, der ist wahrhaftig kein Spion.«
So mancher an Mr. Pecksniffs Stelle würde, wenn es möglich gewesen wäre, augenblicklich durch den Boden des Prunkstuhls getaucht sein, um in Kalkutta oder irgendeiner unbewohnten Gegend bei den Antipoden wieder zum Vorschein zu kommen. Mr. Pecksniff kauerte sich nur zusammen, horchte noch gespannter als früher und lächelte bloß.
Mary schien inzwischen widersprochen zu haben, denn Tom fuhr fort und beteuerte mit ehrlichem Eifer:
»Ich weiß wirklich nicht, wie es kommt, aber sooft ich mich in dieser Weise auslasse, muß ich finden, daß niemand Mr. Pecksniff Gerechtigkeit widerfahren lassen will. Es ist dies eine der außerordentlichsten Merkwürdigkeiten, die ich mir nur denken kann, aber dennoch ist es der Fall. Da haben wir zum Beispiel Mr. John Westlock, der als Zögling hier weilte. In allen andern Sachen ist er sonst der beste Mensch von der Welt, aber ich glaube wirklich, er würde Pecksniff am liebsten durchgepeitscht haben, wenn er hätte können. Und John ist nicht der einzige. Jeder Zögling, der noch hier gewesen ist, ist mit demselben eingefleischten Haß gegen Pecksniff wieder fortgegangen. Da war zum Beispiel Mark Tapley. Wenn er auch eine ganz andere Lebensstellung bekleidete«, fuhr Tom fort, »so ist es doch ganz entsetzlich, wie auch er, als er noch im ›Drachen‹ angestellt war, sich über Pecksniff ausließ. Und dann Martin! – Martin war der Schlimmste von allen. Aber ich vergesse ja ganz: natürlich war er es, der Sie darauf brachte, Mißtrauen gegen Mr. Pecksniff zu hegen; Sie kamen offenbar deshalb mit Vorurteilen hierher. Sie werden einsehen, Miss Graham, unter solchen Umständen ist man kein unbefangener Beobachter.«
Und voll Triumph über diese große Entdeckung rieb sich Tom mit großer Selbstzufriedenheit die Hände.
»Mr. Pinch«, rief Mary, »Sie täuschen sich.«
»Nein, nein«, widersprach Tom, »Sie täuschen sich in ihm. Aber«, fuhr er, rasch seinen Ton ändernd, fort, »was gibt es, was haben Sie denn nur, Miss Graham?«
Langsam brachte Mr. Pecksniff sein Haar, seine Stirne, seine Augenbrauen und schließlich sein Auge über den Kirchenstuhlrand. Das junge Mädchen saß neben der Türe auf einer Bank und hatte die Hände vors Gesicht geschlagen. Tom beugte sich über sie.
»Was ist Ihnen?« rief Tom abermals. »Habe ich etwas gesagt, was Sie kränken konnte? Oder hat sich irgend jemand erlaubt, Ihnen wehe zu tun. Bitte, weinen Sie doch nicht. Bitte, sagen Sie mir, was Ihnen fehlt. Ich kann es nicht mit ansehen, daß Sie so betrübt sind. Barmherziger Himmel, ich war in meinem ganzen Leben noch nie so außer mir und so tief ergriffen.«
Mr. Pecksniff hielt sein Auge wie gebannt noch immer auf dieselbe Stelle gerichtet. Nur ein Bohrer oder ein glühendroter Draht wäre imstande gewesen, seinem Blick eine andere Richtung zu geben.
»Ich würde Ihnen gegenüber schweigen, Mr. Pinch«, schluchzte Mary, »wenn ich’s nur übers Herz bringen könnte! Aber Ihre Selbsttäuschung hat etwas so Schreckliches und übersteigt so alles Maß, und es ist so durchaus nötig für uns, auf unsrer Hut zu sein und uns keine Blöße zu geben, daß mir keine andere Wahl bleibt, als Ihnen mitzuteilen, wer mich bedrängt. Ich bin ausdrücklich hierher gekommen, um Ihnen davon Mitteilung zu machen. Ich glaube, dennoch würde mir der Mut gefehlt haben, wenn Sie mich nicht zufälligerweise gerade auf das Thema gebracht hätten.«
Tom blickte sie fest an und schien durch seine Miene sagen zu wollen: »Was wird da wohl noch alles herauskommen«, aber er ließ kein Wort laut werden.
»Dieser Mensch, den Sie für den besten aller Sterblichen halten – « begann Mary aufblickend, mit bebenden Lippen und blitzenden Augen.
»Gott im Himmel«, stöhnte Tom, »halten Sie noch einen Augenblick inne. – Dieser Mensch, den ich für den besten aller Sterblichen halte? Sie meinen natürlich Pecksniff? Ja, natürlich, Sie müssen Pecksniff meinen. Barmherziger Himmel, überlegen Sie sich, was Sie sagen! Was hat er getan? Wenn er nicht der beste Mensch ist, was wäre er sonst?«
»Er ist der schlechteste, der falscheste, hinterlistigste, niederträchtigste, grausamste, schmutzigste, schamloseste Schuft!« rief das junge Mädchen bebend vor Entrüstung.
Tom ließ sich auf seinen Sitz zurückfallen und schlug die Hände zusammen.
»Wie wollen Sie einen Menschen nennen«, fuhr Mary fort, »der mich in seinem Hause als Gast aufnimmt – als Gast wider Willen! –, der meine Verhältnisse kennt, meine Verlassenheit und Hilflosigkeit, und sich dennoch untersteht, mich vor seinen Töchtern in ein so schiefes Licht zu bringen, daß sogar ein Kind, wenn es mein Bruder wäre, mir instinktiv zur Hilfe käme?«
»Einen Schurken!« rief Tom. »Einen solchen Menschen würde ich einen Schurken nennen.«
Mr. Pecksniff tauchte unter.
»Als mein einziger Freund«, fuhr Mary fort, »– und er ist ein lieber und wohlwollender Freund – noch im Besitz seiner vollen Geisteskraft war, demütigte er sich vor ihm, wurde aber fortgewiesen wie ein Hund, weil man ihn damals durchschaute. Jetzt kriecht er wieder an diesen Freund heran, wo dieser in geistesschwachen Zustand versunken ist, und mißbraucht den Einfluß, den er sich erschlichen, zu bösen und niedrigen Zwecken!«
»Ein solcher Mensch wäre ein Schurke«, rief Tom.
»Und wie, Mr. Pinch, würden Sie einen Menschen nennen, der in der Annahme, es müßte seine Pläne fördern, wenn ich seine Frau wäre, mich mit der niederträchtigen Drohung zum Schweigen zwingt, falls ich ihn nicht heirate, solle Martin, auf dessen Haupt ich leider schon soviel Unglück gehäuft habe, noch tiefer ins Verderben gestürzt werden? Wie ist ein Mensch zu nennen, der sogar meine Treue gegen den, den ich von ganzer Seele liebe, zu einer Qual für mich selbst und zu einem Unrecht an dem Gegenstand meiner Neigung macht – der mich, mag ich tun, was ich will, zu seinem Werkzeug stempelt, um dem wehe zu tun, auf dessen Haupt ich Segen über Segen herabflehen möchte?! Was ist der Mensch, der mich in alle diese grausamen Schlingen verstrickt, der mir bei hellichtem Tage mit glatter Zunge und lächelndem Gesicht seine selbstsüchtigen Ziele auseinandersetzt – der mich wider meinen Willen umarmt und seine Lippen auf meine Hand drückt«, fuhr das aufgeregte Mädchen fort, »die ich am liebsten abhauen möchte, wenn ich dadurch die Schande der Herabwürdigung seiner Berührung wegwaschen könnte?«
»Ich sage«, rief Tom mit Feuer, »er ist ein Schurke! Und ein Bösewicht! Und wer es auch sein mag – ich sage – er ist ein doppelzüngiger und niederträchtiger Schurke!«
Mary bedeckte ihr Gesicht wieder mit ihren Händen und ließ ihren Tränen freien Lauf. Die Leidenschaft, die sich während dieser Enthüllungen aufrechterhalten, schien sich jetzt in dem überwältigenden Gefühl der Schmach und des Kummers aufzulösen.
Jeder Anblick von Schmerz wäre imstande gewesen, Tom an seiner empfindungsreichsten Stelle zu fassen, aber ein Anblick wie dieser war es ganz besonders. Marys Tränen und Schluchzen waren Pfeile in sein Herz. Er versuchte sie zu trösten, setzte sich neben sie und bot seine ganze schwache Beredsamkeit auf, indem er in Worten des Lobes und der Hoffnung von Martin zu ihr sprach. Trotzdem er sie mit einer Hingebung liebte, wie wohl nur selten ein Weib geliebt wird, so redete er doch ohne Unterlaß von Martin. Nicht alle Schätze Indiens hätten ihn verlocken können, sich selbst auch nur zu erwähnen.
Als sich Mary einigermaßen beruhigt, stellte sie Tom vor, der von ihr geschilderte Mensch sei Pecksniff in seiner wahren Gestalt. Wort für Wort, Satz für Satz, soweit ihr Gedächtnis ausreichte, erzählte sie Tom, was zwischen ihr und dem Ehrenmanne im Gehölz vorgefallen war – ohne Zweifel zur größten Erbauung des Betreffenden selbst, der in seinem Verlangen, hinter dem Vorhang hervorzugucken, und andererseits in seiner Furcht, gesehen zu werden, fortwährend auf- und niedertauchte wie der schlaue Gockel im Puppenkasten, der sich fürchtet, mit dem Prügel eins auf den Kopf zu bekommen. Als sie ihre Erzählung beendet und Tom ersucht hatte, so zu tun, als ob er von dem, was vorgefallen, nicht die geringste Ahnung habe, dankte sie ihm für seine Teilnahme, und dann trennten sie sich, da Fußtritte draußen im Kirchhof hörbar wurden. Tom blieb allein in der Kirche zurück.
Und jetzt brach ein Sturm von Aufregung und das ganze Elend plötzlicher Erkenntnis über ihn herein. Der Stern, der ihm von Jugend auf durch sein ganzes Leben geleuchtet, war im Nu in eklen Dunst aufgelöst. Nicht daß Pecksniff, wie er ihn sich vorgestellt, zu existieren aufgehört hätte, nein – er hatte niemals existiert. Wäre er gestorben, wäre Tom doch wenigstens eine teure Erinnerung geblieben, aber nach dieser Entdeckung war auch das vorüber. Da Toms Blindheit in dieser Hinsicht total und nicht partiell gewesen, so stand jetzt alles mit einem Schlage in entsetzlicher Deutlichkeit vor ihm. Sein Pecksniff hatte sich niemals die Schurkereien zuschulden kommen lassen können, von denen er soeben gehört; – es konnte nur ein Pecksniff sein, der zu allem fähig war und ohne Zweifel sein ganzes Leben lang Niederträchtigkeiten verübt hatte. Von der erhabenen Höhe, auf die Tom das Ideal seines Herzens gestellt, war es auf einmal kopfüber heruntergestürzt und
»Nicht des Königs Gebot und Heeresmacht reichten hin,
die Statue wieder aufzurichten.«
Legionen von Titanen hätten nicht vermocht, Pecksniff aus dem Schlamme hervorzuziehen und wieder rein zu waschen. Aber er – Tom –, der darunter litt, hatte seinen Kompaß verloren, seine Himmelskarte war zerrissen, seine Uhr stehengeblieben, sein Mast war über Bord gegangen, sein Anker losgerissen, und er selbst trieb wie ein Wrack im weiten Meer.
Mr. Pecksniff beobachtete ihn mit lebhaftem Interesse. Er erriet die Bedeutung von Toms innerlichen Selbstgesprächen und war gespannt, wie er sich wohl weiter benehmen würde. Eine Zeitlang raste Mr. Pinch wie ein Verrückter im Kirchenschiff auf und nieder, hin und wieder haltmachend, um sich an einen Stuhl zu lehnen und nachzugrübeln. Dann wieder starrte er ausdruckslos auf ein altes, geschmackvoll mit Menschenschädeln und gekreuzten Knochen verziertes Monument, als wäre es das schönste Kunstwerk, das er je gesehen, trotzdem er es zu andern Zeiten mit größter Verachtung behandelt haben würde, setzte sich nieder oder ging abermals auf und ab, bis er endlich zur Orgel emporstieg und mit zögernder Hand nach den Tasten suchte. Aber der sonst so vertraute Klang und die hehren Töne waren dahin. Er schlug einen langen wehmütigen Akkord an, dann ließ er den Kopf auf die Hände sinken und überließ sich ganz seiner hoffnungslosen Stimmung.
»Ich würde mir noch nicht soviel daraus machen«, jammerte er, erhob sich von seinem Stuhl und starrte in die Kirche hinunter, »ich würde mir noch nicht soviel daraus machen, wenn ich es wäre, dem er so Schreckliches zugefügt, denn ich habe seine Geduld oft auf die Probe gestellt, war auf seine Nachsicht angewiesen und war ihm nie eine Hilfe, wie es ein anderer hätte sein können. Ich würde es mir nicht so zu Herzen nehmen, Pecksniff«, fuhr er fort, ohne zu ahnen, wer ihm unten im Kirchenstuhl zuhörte, »wenn du mir unrecht getan hättest, denn ich würde hinreichende Entschuldigung dafür gefunden haben; und wie weh du mir auch getan hättest, so würde ich dich doch immer noch haben achten können. O Gott, warum mußtest du so tief in meinen Augen sinken! Ach, Pecksniff, es gibt nichts auf der Welt, das ich nicht mit Freuden hingeben würde, wenn ich mir meine alte Verehrung für dich dadurch wieder erkaufen könnte.«
Mr. Pecksniff setzte sich auf das Polster nieder und zupfte seinen Hemdkragen in die Höhe, während Tom, bis ins Innerste aufgewühlt, sich in diesen Ausrufen erging. Nach einer Weile hörte er Mr. Pinch die Treppe hinunterkommen und mit den Kirchenschlüsseln klirren. Als er vorsichtig das Auge über den Rand des Kirchenstuhls erhob, sah er ihn langsam hinausgehen und die Türe hinter sich schließen.
Lange wagte er nicht, sein Versteck zu verlassen, denn er bemerkte durch die Kirchenfenster, wie Tom zwischen den Gräbern hin und her wandelte und manchmal an einem Gedenkstein stehenblieb wie ein Leidtragender, der den Verlust eines lieben Freundes betrauert. Selbst als Tom den Kirchhof verlassen, blieb Mr. Pecksniff noch immer sitzen, nicht sicher, ob Tom nicht am Ende doch noch einmal zurückkomme. Endlich trat er aus der Kirche hinaus und ging mit unbefangener Miene in die Sakristei, wo sich knapp am Boden ein Fenster befand, durch das er bloß hinauszusteigen brauchte.
Er befand sich in höchst seltsamer Gemütsverfassung und eilte sich durchaus nicht, fortzukommen. Er schien sogar eher Lust zu haben, noch ein Viertelstündchen zu vertrödeln, wenigstens öffnete er den Schrank in der Sakristei und betrachtete sich in dem kleinen Spiegel des Pfarrers, der an der Türe hing. Da er bemerkte, daß sein Haar einigermaßen in Unordnung war, erlaubte er sich, von der kanonischen Bürste Gebrauch zu machen. Dann öffnete er einen zweiten Schrank, machte ihn aber sogleich wieder zu, da ihn der Anblick eines schwarzen und eines weißen Chorrocks erschreckte, die, an ihren Haken baumelnd, ganz den Eindruck machten, als ob sich zwei Pfarrer in der Garderobe erhängt hätten. Sich plötzlich erinnernd, im ersten Schrank eine Flasche Portwein und einen Rest Zwieback gesehen zu haben, sperrte er lieber wieder diesen auf und führte sich mit großem Behagen die beiden Labsale zu Gemüte – alles mit höchst tiefsinniger Miene, als wären seine Gedanken ganz anderswo.
Dann schien er plötzlich einen festen Entschluß zu fassen – wenn er überhaupt geschwankt hatte –, stellte Flasche und Zwieback wieder an ihren Ort und öffnete das Fenster. Ohne Schwierigkeiten gelangte er auf den Kirchhof und ging geraden Weges nach Hause.
»Mr. Pinch zu Hause?« fragte er die Dienstmagd.
»Er ist soeben gekommen, Sir.«
»Soeben gekommen, so?« wiederholte Mr. Pecksniff gut gelaunt. »Er ist wahrscheinlich oben?«
»Ja, Sir, er ist hinaufgegangen. Soll ich ihn rufen?«
»Nein«, sagte Mr. Pecksniff, »nein, du brauchst ihn nicht zu rufen, Jane, ich danke dir, Jane. Was machen übrigens deine Verwandten, Jane?«
»Sie befinden sich ziemlich wohl, ich danke Ihnen, Sir.«
»Freut mich, freut mich. Sag ihnen, daß ich mich nach ihrem Befinden erkundigt habe, Jane. – Ist Mr. Chuzzlewit drinnen?«
»Ja, Sir, er ist im Zimmer drin und liest.«
»Im Wohnzimmer und liest. So, so. Sehr gut. Ich denke, ich werde ihm ein wenig Gesellschaft leisten.«
Noch nie hatte man Mr. Pecksniff in besserer Laune gesehen.
Als er jedoch in das Zimmer trat, wo der alte Herr mit Feder, Tinte und Papier tätig war – Mr. Pecksniff sah immer darauf, daß er mit Schreibmaterialien wohlversehen war –, da machte er ein minder heiteres Gesicht. Er war nicht etwa erzürnt oder rachsüchtig, mürrisch oder verdrießlich – nein, durchaus nicht –, aber betrübt war er, schmerzlich betrübt. Und als er neben dem alten Herrn Platz nahm, da stahlen sich zwei Tränen – nicht Tränen wie die, mit denen die Engel eine Sündenschuld auslöschen, sondern eher solche, bei denen sie eine Schuld eintragen –, zwei solche Tränen also stahlen sich über seine menschenfreundlichen Wangen herab.
»Was gibt es?« fragte der alte Martin. »Pecksniff, Mensch, was fehlt Ihnen denn?«
»Es tut mir von Herzen leid, daß ich Sie stören muß, mein wertgeschätzter Freund, und noch mehr schmerzt mich die Ursache, die mich dazu zwingt. Mein guter, mein würdiger Freund, ich bin schmählich hintergangen worden!«
»Sie sind hintergangen worden?«
»Ach«, jammerte Mr. Pecksniff in tiefster Seelenqual, »betrogen auf die entsetzlichste Weise, grausam hintergangen von jemandem, Sir, in den ich das unbeschränkteste Vertrauen setzte. – Hintergangen, Mr. Chuzzlewit von – – Thomas Pinch!«
»Schlimm, schlimm, sehr schlimm«, murmelte Martin Chuzzlewit und legte sein Buch nieder, »sehr schlimm. Aber vielleicht irren Sie sich. Sind Sie Ihrer Sache auch ganz sicher?«
»Vollständig sicher, mein wertgeschätzter Freund. Meine eigenen Augen und Ohren sind meine Zeugen, ich hätte es sonst nicht geglaubt. Ich hätte es nicht geglaubt, Mr. Chuzzlewit, und wenn ein feuriger Drache es von der Spitze der Salisbury-Kathedrale verkündet hätte. Ich hätte gesagt«, rief Mr. Pecksniff, »der Drache lügt. Einen derartigen Glauben hegte ich zu Thomas Pinchs Treue, daß ich dem Drachen die Lüge in den Hals zurückgeschleudert und Thomas an mein Herz gedrückt hätte. Aber ich selbst, Sir, bin leider kein Drache, und es bleibt mir keine Hoffnung – keine Möglichkeit –, die Sache zu beschönigen.«
Martin Chuzzlewit schien diese so unerwartete Nachricht sehr zu beunruhigen. Er bat Mr. Pecksniff, sich zu fassen, und fragte, wieso Mr. Pinch ihn denn hintergangen habe.
»Das ist ja eben das Schlimme an der Sache, Sir«, rief Mr. Pecksniff. »Es betrifft eine Angelegenheit, die Sie sehr nahe angeht. Ach, ist es nicht genug«, rief er mit einem Aufblick zum Himmel, »daß mich ein so schwerer Schlag trifft, muß er auch meine Freunde treffen?!«
»Sie erschrecken mich!« rief der alte Mann sich verfärbend. »Ich bin nicht mehr so stark wie früher; Sie erschrecken mich, Pecksniff!«
»Fassen Sie sich, mein wertgeschätzter Freund«, redete ihm Mr. Pecksniff tröstend zu. »Wir wollen handeln, wie die Umstände es erheischen. Sie werden alles erfahren, Sir. Es soll Ihnen Genugtuung werden. Aber vorerst müssen Sie mich entschuldigen, Sir, Sie müssen mich entschuldigen. Ich habe eine Pflicht zu erfüllen, die ich der menschlichen Gesellschaft schuldig bin!«
Er zog die Klingel, und Jane erschien.
»Sei so gut und schicke Mr. Pinch herunter, Jane.«
Tom kam – gezwungen und verändert in seinem ganzen Benehmen, niedergeschlagen, gedrückt und sichtlich verlegen. Er brachte es nicht über sich, Mr. Pecksniff ins Gesicht zu sehen.
Der Ehrenmann warf Mr. Chuzzlewit einen Blick zu, als wolle er sagen: »Sie sehen selbst«, und redete Tom folgendermaßen an: »Mr. Pinch, ich habe das Fenster in der Sakristei offen gelassen. Würden Sie die Güte haben, es zuzusperren und mir dann die Schlüssel des Gotteshauses herzubringen!«
»Das Sakristeifenster, Sir?« stotterte Tom.
»Ich denke, Sie verstehen mich doch, Mr. Pinch«, entgegnete Mr. Pecksniff streng. »Jawohl, Mr. Pinch, das Sakristeifenster. Es tut mir leid, sagen zu müssen, daß ich nach einem ermüdenden Spaziergang in der Kirche einschlief und soeben erst einige Bruchstücke« – er legte einen besonderen Nachdruck auf dieses Wort – »eines gewissen Zwiegesprächs zwischen zwei Personen mit anhören mußte. Eine davon schloß die Kirche zu, als sie hinausging, und ich sah mich genötigt, das Gotteshaus durch das Sakristeifenster zu verlassen. Tun Sie mir also den Gefallen, das Sakristeifenster jetzt zu schließen, und kommen Sie dann zu mir zurück.« – Kein Physiognom auf der Welt hätte Toms Gesicht bei diesen Worten beschreiben können. Es lag Verwunderung darin und milder Vorwurf, aber weder Furcht noch Schuldbewußtsein, wenn auch ersichtlich eine Menge gewaltiger Gefühle miteinander um die Oberherrschaft rangen. Er verbeugte sich und ging, ohne auch nur ein einziges Wort – weder im Guten noch im Bösen – zu erwidern.
»Pecksniff!« rief Martin zitternd. »Was hat das alles zu bedeuten? Übereilen Sie sich nicht. Es könnte Ihnen später vielleicht leid tun.«
»Nein, mein wertgeschätzter Freund«, rief Mr. Pecksniff mit Festigkeit. »Ich habe eine Pflicht zu erfüllen, die ich der menschlichen Gesellschaft schuldig bin, und ich will mich ihrer entledigen, koste es, was es wolle.«
Um seine Pflicht gegenüber der menschlichen Gesellschaft erfüllen zu können, mußte Pecksniff Tom erst wieder zurückkehren lassen; er benützte daher die Zwischenzeit, seinen »wertgeschätzten« Freund entsprechend zu präparieren. Mary befand sich in ihrem Zimmer, und eine Störung von ihrer Seite stand nicht zu befürchten, da der stets rücksichtsvolle Mr. Pecksniff den alten Herrn gebeten hatte, ihr sagen zu lassen, sie solle vor einer halben Stunde nicht herunterkommen. Ihre Gefühle mußten selbstverständlich geschont werden.
»Haben Sie das Sakristeifenster geschlossen, Mr. Pinch?« fragte Pecksniff, als Tom zurückkehrte.
»Gewiß, Sir!«
»Ich danke Ihnen. Und jetzt sind Sie vielleicht so freundlich, mir die Schlüssel auszufolgen, Mr. Pinch.«
Tom legte sie auf den Tisch. Er hielt den ganzen Bund an dem Schlüssel zur Orgelgalerie, obgleich dieser einer der kleinsten war, und sah ihn noch lange traurig an, als er ihn aus der Hand gelegt. Er war ein alter, lieber Freund von ihm gewesen – ein Kamerad seit langer, langer Zeit.
»Mr. Pinch«, begann Mr. Pecksniff kopfschüttelnd. »Mr. Pinch, wirklich, ich wundere mich, daß Sie mir noch ins Gesicht sehen können!«
Aber Tom sah ihm dennoch ins Gesicht, und während er sonst für gewöhnlich eine gebückte Haltung zu haben pflegte, stand er jetzt doch so gerade vor ihm, wie nur ein Mensch stehen kann.
»Mr. Pinch«, Pecksniff griff nach seinem Taschentuch, ahnend, daß er es sehr bald brauchen werde, »ich will nicht von der Vergangenheit reden. Ich will Ihnen und mir diese Pein ersparen.«
Toms Auge war nicht sehr ausdrucksvoll für gewöhnlich, leuchtete aber jetzt um so mehr, als er Mr. Pecksniff anblickte und erwiderte:
»Ich danke Ihnen, Sir! Es freut mich sehr, daß Sie nicht von der Vergangenheit sprechen wollen!«
»Die Gegenwart genügt uns«, unterbrach ihn Mr. Pecksniff und ließ, um seine Verlegenheit zu verbergen, einen Penny fallen, »und je früher sie vorbei ist, desto besser. – – Ich will Sie nicht entlassen, Mr. Pinch, ohne nicht vorher ein Wort der Erklärung einzufügen. Nach dem, was vorgefallen ist, wäre es zwar vollkommen gerechtfertigt, wenn ich es täte, aber es könnte immerhin wie Übereilung aussehen, und das wünsche ich nicht«, er ließ abermals einen Penny fallen. »Ich bin vollkommen meiner selbst Herr, und deshalb will ich Ihnen jetzt wiederholen, was ich bereits zu Mr. Chuzzlewit gesagt habe.«
Tom sah den alten Herrn an, der hin und wieder, wie zur Billigung von Mr. Pecksniffs Gesinnungen und Aussprüchen, mit dem Kopfe nickte, sich sonst aber in keiner Weise in das Gespräch mischte.
»Aus diesen Bruchstücken einer Unterhaltung also, die ich soeben in der Kirche mit anhörte, Mr. Pinch – und zwar zwischen Ihnen und Miss Graham – ich sage ›Bruchstücke‹, weil ich ziemlich weit entfernt von Ihnen schlummerte, als ich von Ihren Stimmen aufgeweckt wurde –, und aus dem, was ich mit ansah, erkannte ich (und ich hätte viel darum gegeben, Mr. Pinch, wenn ich es nicht hätte müssen), daß Sie sich, alle Bande der Pflicht und Ehre vergessend, Sir, gegen die geheiligten Gesetze der Gastfreundschaft, denen Sie als Bewohner dieses Hauses Treue schuldig waren, unterfangen haben, Liebeserklärungen an Miss Graham zu richten.«
Tom sah ihm unverwandt ins Auge.
»Wollen Sie es leugnen, Sir?« fragte Mr. Pecksniff, ließ ein Pfund zwei Schillinge und vier Pence zu Boden fallen und tat sehr geschäftig, sie wieder aufzulesen.
»Nein, Sir«, erwiderte Tom, »ich leugne es nicht.«
»Sie leugnen es also nicht!« rief Mr. Pecksniff und warf dem alten Herrn einen triumphierenden Blick zu. »Bitte, haben Sie dann die Güte, das Geld zusammenzuzählen, Mr. Pinch, und Ihren Namen unter diese Quittung zu setzen – Sie leugnen es also nicht?«
Nein, Tom leugnete es nicht; er verschmähte es, zu leugnen. Er erkannte, daß Mr. Pecksniff als »Horcher an der Wand seine eigene Schand« gehört hatte und sich nicht das geringste daraus machte, in der Achtung – oder vielmehr Verachtung – seines ehemaligen Schülers noch tiefer zu sinken. Er sah, daß Pecksniff diese Fabel ersonnen hatte als das leichteste Mittel, ihn loszuwerden, und daß er auf sein Nichtleugnen gerechnet hatte. Er begriff sofort, daß die Wahrheit den alten Martin noch mehr gegen Mary und den jungen Martin aufbringen müsse. Pecksniff rechnete mit seinem Edelmut und hatte offenbar das Märchen von den Bruchstücken erfunden. – Leugnen? Nein!
»Der Betrag stimmt also? Wie, Mr. Pinch?« fragte Pecksniff.
»Vollkommen, Sir.«
»Es wartet ein Mann unten in der Küche«, fuhr Mr. Pecksniff fort, »um Ihr Gepäck dahin zu schaffen, wo Sie es wünschen. Sie scheiden jetzt, Mr. Pinch, aus diesem Hause, und ich kenne Sie von diesem Augenblick an nicht länger.«
Ein unnennbares Gefühl – Mitleid, Kummer, alte Anhänglichkeit, verkannte und zurückgewiesene Dankbarkeit, Enttäuschung: keines von diesen Gefühlen und doch etwas von allen – zerriß Toms empfindsames Herz beim Abschied. Es wohnte keine Seele in Pecksniffs Kadaver, und doch war Tom nicht imstande, den Mann in seiner wahren Gestalt bloßzustellen. Selbst jetzt nicht. Auch wenn er keinem geliebten Wesen dadurch geschadet haben würde, wenn er die Wahrheit enthüllt hätte.
»Ich will nicht in Worte fassen«, ächzte Mr. Pecksniff unter Tränen, »was für einen Schlag dies für mich bedeutet, wie es mich angreift und wie es auf mein Gefühl wirken und mein Innerstes verletzen muß. Ich achte es für nichts. Ich kann schwerere Bürde tragen als irgendein anderer, aber was ich hoffen will und was Sie hoffen müssen – wenn nicht eine große Verantwortlichkeit auf Ihnen lasten soll, Mr. Pinch –, ist, daß dieser Verrat meine Ansichten von der Menschheit im allgemeinen nicht ändern möge – oder der Reinheit meines Herzens schaden – oder, wenn ich so sagen darf, die Schwingen meiner Seele brechen. Ich hoffe, es wird nicht der Fall sein. Es soll Ihnen zum Troste gereichen – wenn nicht jetzt, so doch in Zukunft –, zu wissen, daß ich mich nach Kräften bemühen werde, nicht schlechter von meinen Nebenmenschen im allgemeinen zu denken, dessentwegen, was zwischen uns vorgefallen ist! – Leben Sie wohl!«
Tom hatte ihm anfänglich einen kleinen Lanzettstich, der in seiner Macht stand, ersparen wollen, als er ihn aber so reden hörte, besann er sich anders und sagte:
»Ich glaube, Sie haben etwas in der Kirche vergessen, Sir.«
»Nicht daß ich wüßte«, rief Mr. Pecksniff.
»Dies hier ist, glaube ich, doch Ihr Augenglas? Nicht wahr?«
»Oh! – Hm«, stotterte Mr. Pecksniff verlegen und verwirrt. »Hm. Ich danke Ihnen. Legen Sie es nur auf den Tisch, wenn ich bitten darf.«
»Ich habe es gefunden«, fuhr Tom, jedes Wort sorgsam abwägend, fort, »als ich das Sakristeizimmer zuschließen wollte, und zwar im Kirchenstuhl.«
Das war kompromittierend. Mr. Pecksniff hatte es weggelegt, als er mit dem Kopf im Kirchenstuhl auf- und abgetaucht war, um nicht damit gegen das Getäfel zu stoßen, und hatte es beim Fortgehen ganz vergessen. Als Tom nach der Emporkirche zurückkehrte und nachgrübelte, von wo aus man ihn denn habe belauschen können, wurde er auf die offenstehende Tür des Betstuhls aufmerksam. Er warf einen Blick hinein und fand das Glas. Er gab jetzt durch Rückerstattung der Lorgnette Mr. Pecksniff zu verstehen, daß er genau wußte, wo der Lauscher gesessen, und daß es sich durchaus nicht um das Mitanhören von »Bruchstücken« der Unterhaltung handeln konnte.
»Ich bin froh, daß er fort ist«, sagte der alte Martin tief aufatmend, als Tom das Zimmer verlassen hatte.
»Es ist allerdings eine Erleichterung«, pflichtete Mr. Pecksniff bei. »Eine große Erleichterung! – Nachdem ich nunmehr – wie ich hoffe, mit leidlicher Festigkeit – mich der Pflicht entledigt habe, die ich der menschlichen Gesellschaft schulde, so will ich mich mit Ihrer Erlaubnis in den Garten zurückziehen, um in Demut und Schmerz ein paar Tränen zu vergießen.«
Tom ging die Treppe hinunter, räumte sein Büchersims ab, packte seine Werke, seine Noten und die alte Geige in seinen Koffer, langte seine Kleider heraus – es waren ihrer nicht viele –, legte sie auf die Bücher und verfügte sich in das Arbeitszimmer, um sein Instrumentenfutteral zu holen.
Es stand dort ein zerfetzter alter Stuhl, dem die Roßhaare aus dem Überzug herausstanden wie eine Perücke – eine wahre Bestie von einem Stuhl. Und dennoch hatte Tom seit seinem Hiersein täglich darauf gesessen. Er und der Stuhl waren immer älter und schäbiger geworden, Zöglinge hatten ihre Lehrzeit überstanden, Jahreszeiten waren gekommen und gegangen, und immer hatten Tom und das altbenutzte Möbel mitsammen durch dick und dünn ausgehalten. Dieser Teil des Zimmers wurde traditionell »Toms Ecke« genannt. Man hatte sie ihm zugewiesen, da sie in starker Zugluft und ziemlich weit vom Feuer entfernt lag. Von jeher hatte er dort gesessen. An die Wand waren mit Kohle Porträts von Pecksniff gezeichnet, von denen jedes die schwachen Seiten des Edelmannes fürchterlich karikierte, und diabolische Sprüche und Redensarten – schreiende Gegensätze seines Charakters – waren auf Schleifen geschrieben, die ihm aus dem Munde heraushingen. Jeder Zögling hatte etwas Neues dazu erfunden. Phantasieporträts von Toms Vater mit einem einzigen Auge mitten auf der Stirn, seiner Mutter mit einer ungeheuern Nase – und seiner Schwester, die, im Gegensatz dazu, durchwegs fabelhaft schön gehalten war und Tom infolgedessen mit den übrigen Scherzen versöhnte. Unter weniger ungewöhnlichen Umständen würde es ihm tief ins Herz geschnitten haben, all diese Dinge zu verlassen und dabei denken zu müssen, daß er sie heute wohl zum letzten Male sah. So aber fiel es ihm verhältnismäßig leicht. Es gab keinen Pecksniff, hatte nie einen Pecksniff gegeben, und alle übrigen Schmerzen traten vor diesem einen in den Hintergrund.
Als Tom wieder in seine Schlafkammer trat, um seinen Koffer und Reisesack zuzuschließen, mit Gamaschen und Überrock angetan, den Hut auf dem Kopf und den Stock in der Hand, sah er sich zum letztenmal darin um. An so manchem frühen Sommermorgen und in Winternächten beim Schein ersparter Lichtstümpchen hatte er sich in diesem Zimmer oft halb blind gelesen. Hier war es, wo er das erstemal versucht, unter der Bettdecke Violine spielen zu lernen – ein Experiment, von dem er übrigens auf die Vorstellungen der Zöglinge hin, wenn auch nur ungern, bald wieder abgestanden war. Zu jeder andern Zeit würde er bei dem Gedanken an alles, was er hier gelernt, an die vielen Stunden, die er hier verbracht, und sogar um der Träume willen, die er hier geträumt, mit Schmerz von dieser Stube geschieden sein. Aber es gab keinen Pecksniff – es hatte nie einen Pecksniff gegeben. Und Pecksniffs Unwirklichkeit erstreckte sich sogar bis in die Kammer, in der dieses jetzt so wesenlose Geschöpf, auf einem Bette sitzend, so oft mit größtem Nachdruck Moral gepredigt hatte, daß Tom die Augen feucht geworden waren, wie er atemlos auf die schwungvollen Worte gelauscht.
Der Mann, der den Koffer fortbringen sollte (ein alter Bekannter aus dem »Drachen«) kam jetzt die Treppe heraufgestampft und machte Tom (dem er unter gewöhnlichen Umständen kollegial zugenickt haben würde), eine linkische Verbeugung, als wisse er von dem Vorgefallenen, wünsche aber zu betonen, daß er diesbezüglich seine eigenen Gedanken habe. Die Ehrenbezeugung fiel ziemlich plump aus, denn der Mann war bloß ein Stallknecht, aber Tom liebte ihn darum, und der Abschied von ihm kam ihm schwerer an als der von dem Hause.
Tom wollte ihm das Gepäck tragen helfen, aber wie schwer es auch war, der Mann aus dem »Drachen« schien es so wenig zu fühlen wie ein Elefant seinen Palankin. Er schwang es auf den Rücken und schob sich damit die Treppe herunter, als sei es ihm leichter – er war ein handfester Kerl –, einen Koffer zu tragen, als krank und ledig zu gehen. In der Haustüre stand Jane, aus tiefstem Herzen schluchzend, und vor der Treppe Mrs. Lupin, die ebenfalls weinte und die Hand ausstreckte, um sich von »Mr. Pinch« zu verabschieden.
»Aber nicht wahr, Sie kommen doch noch einmal in den ›Drachen‹, Mr. Pinch?«
»Nein«, versetzte Tom, »nein. Ich gehe heute abend noch nach Salisbury, denn ich kann hier nicht bleiben. Um Gottes willen, machen Sie mir das Herz nicht so schwer, Mrs. Lupin.«
»Aber Sie müssen noch mit in den ›Drachen‹, Mr. Pinch! Und wenn’s auch nur für diese Nacht wäre. Wohlverstanden, nicht als Reisender, sondern als lieber Besuch für mich.«
»O Gott, o Gott«, jammerte Tom, sich die Augen wischend. »Die Freundlichkeit der Leute wird mir noch das Herz brechen. Wirklich, ich muß heute abend noch nach Salisbury, meine liebe, gute Mrs. Lupin; wenn Sie aber meinen Koffer in Ihre Obhut nehmen wollen, bis ich Ihnen darum schreibe, so würde ich das als den größten Gefallen betrachten, den Sie mir erweisen können.«
»Ich wollte«, rief Mrs. Lupin, »daß es zwanzig Koffer wären, Mr. Pinch; ich würde sie sämtlich wie meine eigenen behüten!«
»Ich danke Ihnen«, sagte Tom. »Das sieht Ihnen wieder ähnlich. Und jetzt Gott befohlen. – Gott befohlen.«
Es standen noch mehrere andere Leute, alte und junge, vor der Tür; einige weinten wie Mrs. Lupin, andere suchten wie Tom tapfer und mannhaft dreinzusehen, wieder andere waren in heimlicher Bewunderung Mr. Pecksniffs verloren, des Mannes, der sozusagen durch ein Augenblinzeln auf einen Bogen Papier eine Kirche zu bauen imstande war – während bei andern ein ähnliches Gefühl für Tom zu erkennen war.
Mr. Pecksniff war zugleich mit seinem alten Schüler auf der Schwelle erschienen und hielt, während Tom mit Mrs. Lupin sprach, den Arm majestätisch ausgestreckt, als wolle er sagen: »So fahre denn hin!« Als Tom sich entfernt hatte und um die Ecke gebogen war, schüttelte er den Kopf, schloß die Augen, seufzte tief auf und zog die Türe hinter sich zu. Daraus mußten natürlich auch Toms beste Freunde schließen, Mr. Pinch habe etwas ganz Schreckliches begangen, denn sonst hätte sicherlich ein Mann wie Mr. Pecksniff nie und nimmer eine derartige Empfindung an den Tag legen können. Hätte sich’s um einen gewöhnlichen Zwist gehandelt, bemerkten sie, so würde er doch ein paar Worte des Abschieds gesprochen haben. So aber war es augenfällig, daß Mr. Pinch sich schwer an ihm vergangen haben mußte.
Tom hörte von all dem nichts mehr, denn er trabte, so rasch er konnte, des Weges, bis er das Chausseehäuschen erblickte, wo ihn die Familie des Mauteinnehmers an dem frostigen Morgen begrüßt hatte, als er einst mit dem jungen Martin denselben Weg gegangen war. Das Dorf hatte er bereits im Rücken, und der Schlagbaum war seine letzte Prüfung. Als die Kinder des Mautwächters ihm jubelnd entgegeneilten, wäre er am liebsten querfeldein davongelaufen.
»Mr. Pinch, lieber Mr. Pinch«, rief die Frau des Schlagbaumwächters, »zu so ungewöhnlicher Zeit kommen Sie – noch dazu mit einem Bündel – hier vorbei?«
»Ich gehe nach Salisbury«, erklärte Tom.
»Ja, und wo ist denn das Gig?« rief die Frau und spähte die Straße hinab in der Vermutung, Tom habe irgendwo umgeworfen, ohne daß sie es bemerkt hatte.
»Ich gehe heute zu Fuß«, sagte Tom. »Ich –« er konnte keine Ausrede erfinden, denn er fühlte, wie die nächste Frage lauten werde, wenn er der Antwort auswich. »Ich bin nicht mehr bei Mr. Pecksniff.«
Der Mautwächter – ein alter Brummbär, der stets eine Pfeife im Mund hatte und meistens auf einem Gartenstuhl saß, der absichtlich so zwischen zwei kleinen Fenstern aufgestellt war, daß man beide Seiten der Straße leicht übersehen konnte – kam im Nu herausgestürzt.
»Nicht mehr bei Mr. Pecksniff?« rief er.
»Nein«, sagte Tom. »Ich habe ihn verlassen.«
Der Schlagbaumwächter sah seine Frau an, überlegend, ob er sie ausfragen solle oder sie hineinschicken, damit sie nach den Kindern sehe. Er entschloß sich zu letzterem und befahl ihr barsch, sich augenblicklich in das Häuschen zu trollen.
»Sie haben Mr. Pecksniff verlassen?« rief er, die Arme verschränkend, und stellte sich breit hin. »Ebensogut hätte ich geglaubt, mir würde der Kopf davonfliegen.«
»Ach«, murmelte Tom, »gestern abend hätte ich mir’s auch noch nicht träumen lassen. Gute Nacht.«
Wenn nicht gerade in diesem Augenblick ein großer Zug Ochsen durchgekommen wäre, würde der Schlagbaumwächter schnurstracks ins Dorf gerannt sein, um sich zu erkundigen, was denn los sei. So aber griff er wieder zu seiner Pfeife und zog sein Weib ins Vertrauen. Allein auch der vereinigte Scharfsinn beider konnte nichts herausklügeln, und so gingen sie bildlich gesprochen »im Dunkeln« zu Bett. Sooft übrigens nachts ein Frachtwagen oder ein anderes Fuhrwerk durchkam und der Kutscher fragte: »Was gibt’s Neues?« betrachtete sich der Mauteinnehmer den Mann beim Lichte seiner Laterne, um sich zu überzeugen, ob es auch einer sei, der sich für das Thema interessiere, und fragte dann in einem solchen Fall, sich fester in seinen Mantel hüllend:
»Sie haben doch schon von Mr. Pecksniff da drunten gehört?«
»Natürlich!«
»Und auch von seinem jungen Mann, dem Mr. Pinch?«
»Freilich!«
»Pinch ist jetzt fort von ihm!«
Und jedesmal nach einer derartigen Mitteilung stürzte er wieder in seine Hütte und ließ sich nicht mehr blicken, während der andere sprachlos vor Erstaunen seines Weges zog.
Aber das alles geschah lange, nachdem Tom bereits schlafen gegangen war. Zur Zeit befand er sich noch auf der Straße nach Salisbury, das er so bald wie möglich zu erreichen strebte. Anfangs war der Abend wunderschön, der Himmel umwölkte sich jedoch gegen Sonnenuntergang, und gleich darauf fiel dichter Regen. Zehn lange Meilen marschierte Pinch so, gänzlich durchnäßt, bis endlich ferne Lichter auftauchten und das Weichbild der Stadt ihn aufnahm. Er begab sich unverzüglich in das Wirtshaus, wo er damals auf Martin gewartet, beantwortete in Kürze die Fragen, die man hinsichtlich Mr. Pecksniffs Befinden an ihn richtete, und bestellte ein Bett. Er hatte weder Lust, etwas zu essen, noch etwas zu trinken, sondern setzte sich, während das Schlafzimmer für ihn hergerichtet wurde, im Gastzimmer an einen leeren Tisch, dachte über die Ereignisse des Tages nach und überlegte, was er jetzt wohl anfangen solle oder könne. Ein Stein fiel ihm vom Herzen, als das Stubenmädchen eintrat und meldete, das Bett sei fertig.
Es war ein niedriger Vierpfoster, dieses Bett, der sich in der Mitte wie ein Trog vertiefte. Das Zimmer stand voll von überflüssigen Tischen und Kommoden mit offenen Schubladen, in denen nasse Wäsche lag. Das ölgemalte Porträt eines auffallend fetten Ochsen hing über dem Kamin, und das Bild eines ehemaligen Wirtes, der dem Ochsen so ähnlich sah, daß man ihn ganz gut für seinen Bruder hätte halten können, glotzte zu Füßen des Bettes herunter. Ein Gemisch der wunderlichsten Gerüche kämpfte mit dem Duft alten Lavendels, und das Fenster schien seit undenklichen Zeiten nicht geöffnet worden zu sein, wenigstens trotzte es erfolgreich allen Bemühungen, es zu öffnen. An und für sich waren das nur Kleinigkeiten, aber sie machten den Ort noch unbehaglicher und trugen keineswegs dazu bei, Tom seine Lage vergessen zu machen. Pecksniff war aus der Welt geschieden– hatte nie auf Erden gelebt–, und es wollte schon viel sagen, daß Tom es nicht über sich brachte, ihn wie sonst in sein Nachtgebet einzuschließen.
Aber er fühlte sich nachher wohler und ging zu Bett, um von dem zu träumen, der nie gewesen.