Einunddreißigstes Kapitel.

Abgeschlossen.

Die Sonne war untergegangen, und die Straßen in ihrem staubigen Zwielicht waren düster, als die Gestalt, die für sie so lange schon eine ungewöhnliche Erscheinung war, durch sie dahineilte. In der unmittelbaren Umgebung des alten Hauses zog sie wenig Aufmerksamkeit auf sich, denn es trieben sich dort nur wenige Leute umher, die sie hätten bemerken können; als sie jedoch vom Flusse heraufkam und durch die krummen Straßen ging, die nach der London Bridge führen, und die große Hauptstraße betrat, wurde sie von Staunen umringt.

Entschlossen und wilden Blickes, raschen Fußes und doch schwach und unsicher, auffallend gekleidet in ihrem schwarzen Anzug und mit der flüchtig übergeworfenen Kopfbedeckung, hager und leichenblaß eilte sie durch die Masse, ihrer so wenig achtend wie ein Schlafwandler. Auffallender noch durch die Scheidewand zwischen ihr und der Menge, unter der sie sich befand, als wenn sie auf einen Sockel gehoben gewesen, um gesehen zu werden, zog die Gestalt aller Augen auf sich. Müßiggänger richteten ihre Aufmerksamkeit auf sie; geschäftige Leute, die an ihr vorüberkamen, gingen langsam, um ihr nachzusehen; wo zwei und zwei beisammenstanden, flüsterten sie einander zu und machten sich auf die gespenstische Frau aufmerksam, die vorüberkam; und die Schleppe dieser Gestalt schien, während sie so vorübereilte, einen Wirbel aufzutreiben, der die Müßigsten und Neugierigsten nach sich zog.

Schwindlig gemacht durch das stürmische Eindringen dieser Masse von gaffenden Gesichtern in ihre viele Jahre verschlossene Zelle, durch das verwirrende Gefühl, in der Luft zu sein, und durch das noch verwirrendere Gefühl, auf den Füßen zu stehen, durch die unerwartete Veränderung, die mit halb in ihren Erinnerungen lebenden Gegenständen vorgegangen war, und den Mangel an Ähnlichkeit zwischen den willkürlich zu gestaltenden Bildern, die ihre Phantasie sich oft von dem Leben entworfen, von dem sie ausgeschlossen war, und dem überwältigenden Drängen und Treiben der Wirklichkeit, ging sie ihres Weges dahin, mehr als wäre sie von zerstreuenden Gedanken als von leibhaft beobachtenden Menschen umgeben. Nachdem sie jedoch über die Brücke und noch eine Strecke weiter geradeaus gegangen, fiel ihr ein, daß sie nach der Richtung fragen müsse; und erst jetzt, als sie stehenblieb und nach einem Orte sich umsah, wo sie fragen könnte, sah sie sich von neugierigen Blicken umgeben.

»Warum drängt ihr euch um mich?« fragte sie zitternd.

Keiner von denen, die um sie her standen, antwortete; aber aus dem Kreis der Entfernterstehenden ertönte der gelle Ruf: »Weil Sie verrückt sind!«

»Ich bin so gesund wie jeder andere. Ich wünsche nach dem Marschallgefängnis zu kommen.«

Der gelle Ruf der Entfernterstehenden versetzte: »Wenn nichts anderes, würde uns das beweisen, daß Sie verrückt sind, denn das Gefängnis liegt gerade gegenüber!«

Ein kleiner, sanfter, ruhig aussehender junger Mann drängte sich durch die Masse zu ihr, als auf diese Antwort ein Zischen entstand, und sagte: »Verlangten Sie nicht nach dem Marschallgefängnis zu kommen? Ich gehe gerade in Geschäften dahin. Kommen Sie mit mir.«

Sie legte die Hand auf seinen Arm, und er führte sie über den Weg, während die Masse, die etwas ungehalten war, daß man ihr das Schauspiel zu entziehen im Begriff stand, sich vorn und hinten und auf beiden Seiten herandrängte und einen Aufenthalt in Bedlam empfahl. Nach einem kurzen Gedränge in dem äußeren Hofe öffnete sich das Gefängnistor und schloß sich hinter ihnen. Im Pförtnerstübchen, das im Gegensatz zu dem Geräusch draußen ein Ort der Ruhe und des Friedens zu sein schien, stritt bereits eine gelbe Lampe mit dem Gefängnisschatten.

»Nun John«, sagte der Schließer, der sie eingelassen. »Was gibt es?«

»Nichts, Vater; diese Dame wußte den Weg nicht und wurde von den Straßenjungen gehetzt. Zu wem wollten Sie, Madame?«

»Zu Miß Dorrit. Ist sie hier?«

Des jungen Mannes Interesse wuchs bei diesen Worten. »Ja, sie ist hier. Wie ist wohl Ihr Name?« »Mrs. Clennam.«

»Mr. Clennams Mutter?« fragte der junge Mann.

Sie preßte ihre Lippen zusammen und zögerte. »Ja, Sie würden besser daran tun, wenn Sie sagten, es sei seine Mutter.«

»Sehen Sie«, sagte der junge Mann, »da die Familie des Marschalls im Augenblicke auf dem Lande ist, so hat der Marschall Miß Dorrit eines von den Zimmern in seinem Hause gegeben, um es zu benutzen, wenn sie Lust hätte. Würden Sie es nicht für besser halten, wenn Sie dahin gingen und ich Miß Dorrit zu Ihnen brächte?«

Sie gab ihre Zustimmung zu erkennen, und er schloß eine Tür auf und führte sie eine Seitentreppe hinauf in ein Wohnhaus. Dort zeigte er ihr ein halbdunkles Zimmer und verließ sie. Das Zimmer ging auf den halbdunklen Gefängnishof hinab, wo die Insassen da und dort auf- und abschlenderten, zu den Fenstern herauslehnten, soweit es möglich, abgesondert von den andern, mit abschiednehmenden Freunden sprachen und im allgemeinen ihre Gefangenschaft, so gut es ging, hinbrachten. Es war ein Sommerabend. Die Luft war schwer und heiß, die Enge und Abgeschlossenheit des Raumes drückend, und draußen hörte man den Lärm freier Stimmen, wie man die wirre Erinnerung solcher Töne bei Kopf- und Herzweh hat. Sie stand an dem Fenster und schaute verwirrt gleichsam aus ihrem eigenen Gefängnis in dieses andere Gefängnis, als ein oder zwei sanfte Worte der Ueberraschung sie aufschreckten und Klein-Dorrit vor ihr stand.

»Ist es möglich, Mrs. Clennam, daß Sie sich so glücklich erholt haben, um –«

Klein-Dorrit hielt inne, denn es lag weder Glück noch Gesundheit in dem Gesicht, das sich ihr zuwandte.

»Das ist keine Erholung; es ist keine Stärke; ich weiß nicht, was es ist.« Mit einem unruhigen Wink ihrer Hand wies sie das alles von sich ab. »Es wurde Ihnen ein Päckchen überbracht, das Sie Arthur geben sollten, wenn es nicht vor Torschluß heute abend reklamiert würde.«

»Ja.«

»Ich reklamiere es.«

Klein-Dorrit zog es aus ihrem Busen und gab es ihr in die Hand, die ausgestreckt blieb, nachdem sie es empfangen hatte.

»Haben Sie eine Ahnung von seinem Inhalt?«

Eingeschüchtert durch die Anwesenheit dieser Frau, die eine neue Bewegkraft in sich hatte, die nicht Stärke sein sollte, und auf die zu blicken so unheimlich war, als wenn ein Bild oder eine Statue lebendig würde, antwortete Klein-Dorrit: »Nein!«

»Lesen Sie.«

Klein-Dorrit nahm das Päckchen aus der noch immer ausgestreckten Hand und erbrach das Siegel. Mrs. Clennam gab ihr dann das innere Päckchen, das an sie selbst adressiert war, und behielt das andre. Der Schatten der Mauer und der Gefängnisbauten, die das Zimmer schon am Mittag verdüsterten, machten es bei der rasch zunehmenden Dämmerung zu dunkel, wenn man nicht am Fenster stand. Im Fenster, wo ein Streifen von dem hellen Sommerabendglanze auf sie fallen konnte, stand Klein-Dorrit und las. Nach einem kurzen Ausruf des Staunens und Schreckens las sie still weiter. Als sie zu Ende war, sah sie sich um, und ihre alte Herrin beugte sich vor ihr.

»Sie wissen jetzt, was ich getan habe.«

»Ich glaube. Ich fürchte, obgleich mein Gemüt so aufgeregt und schmerzerfüllt ist und so viel Mitleid fühlt, daß es nicht imstande war, alles ganz zu fassen, was ich gelesen!« sagte Klein-Dorrit mit zitternder Stimme.

»Ich will Ihnen ersetzen, was ich Ihnen vorenthalten habe. Vergeben Sie mir. Können Sie mir vergeben?«

»Ich kann, und der Himmel weiß, ich tue es auch! Küssen Sie mein Kleid nicht, und knien Sie nicht vor mir. Sie sind zu alt, um vor mir zu knien; ich vergebe Ihnen, frei und ungezwungen, auch ohne das.«

»Ich habe noch mehr von Ihnen zu fordern.«

»Nicht in dieser Stellung«, sagte Klein-Dorrit. »Es ist unnatürlich, Ihr graues Haar tiefer als das meine zu sehen. Bitte, stehen Sie auf; lassen Sie mich Ihnen helfen.« Damit hob sie sie auf und stand etwas gebeugt vor ihr, sah sie jedoch ernst an.

»Die große Bitte, die ich an Sie richte (es bleibt noch eine andre, die aus ihr erwächst), die große Bitte, die ich an Ihr mitleidiges und liebevolles Herz richte, ist, daß Sie dies nicht früher Arthur mitteilen, als bis ich tot bin. Wenn Sie, nachdem Sie sich die Sache einige Zeit überlegt, der Ansicht sind, es könne ihm irgendwie von Nutzen sein, es zu wissen, solange ich noch lebe, so sagen Sie es ihm. Aber Sie werden nicht dieser Ansicht sein; und wollen Sie in solchem Falle mir versprechen, mich zu schonen, bis ich tot bin?«

»Ich bin so niedergeschlagen, und was ich gelesen, hat mich so verwirrt in meinen Gedanken«, versetzte Klein-Dorrit, »daß ich kaum eine bestimmte Antwort zu geben imstande bin. Wenn ich völlig überzeugt wäre, daß die Bekanntschaft mit dieser Sache Mr. Clennam von keinem Nutzen wäre –«

»Ich weiß, Sie hängen an ihm und werden die erste Rücksicht auf ihn nehmen. Es ist recht und billig, daß Sie das tun; ich wünsche das selbst. Aber wenn Sie sein Interesse berücksichtigt haben und noch finden, daß Sie mich für die kurze Zeit, die ich auf Erden zubringe, schonen können, wollen Sie es dann tun?«

»Ja.«

»Gott segne Sie!«

Sie stand im Schatten, so daß sie Klein-Dorrit, die im Lichte stand, nur wie eine verschleierte Gestalt erschien; aber der Klang ihrer Stimme, als sie diese drei Worte des Dankes sagte, war zu gleicher Zeit inbrünstig und gebrochen. Gebrochen durch die Rührung, die ihren starren Augen so ungewohnt war als Bewegung ihren starren Gliedern. »Sie werden sich vielleicht wundern«, sagte sie in kräftigerem Tone, »daß ich es leichter nehme, von Ihnen gekannt zu sein, der ich Unrecht zugefügt habe, als dem Sohne meiner Feindin, die mir Unrecht zugefügt. Denn sie hat mir Unrecht zugefügt! – Sie sündigte nicht allein furchtbar gegen den Herrn, sondern sie fügte mir Unrecht zu. Wie sich Arthurs Vater gegen mich benahm, das war ihre Schuld. Von unsrem Hochzeitstage an war ich sein Schrecken, und dazu machte sie mich. Ich war die Geißel für beide, und daran ist sie schuld. Sie lieben Arthur (ich kann die Röte auf Ihren Wangen sehen!), und Sie werden bereits gedacht haben, er sei so barmherzig und freundlich wie Sie, warum ich mich deshalb nicht so gut an ihn als an Sie gewandt habe. War das nicht Ihr Gedanke?«

»Kein Gedanke«, sagte Klein-Dorrit, »kann meinem Herzen ganz fremd sein, der aus dem Bewußtsein entspringt, daß man auf Mr. Clennam immer vertrauen könne, weil er freundlich, edel und gut ist.«

»Ich zweifle nicht daran. Aber Arthur ist die einzige Person auf der Welt, vor der ich dies verbergen möchte, solange ich noch lebe. Ich erzog ihn in den frühesten Tagen seiner Erinnerung mit züchtigender Hand. Ich war streng gegen ihn, da ich wußte, daß die Vergehen der Eltern an ihren Nachkommen heimgesucht werden und daß ein Zorneszeichen ihm bei seiner Geburt aufgeprägt wurde. Ich sah, wenn ich mit ihm und seinem Vater zusammen war, wie die Schwäche seines Vaters ihn von diesen Fesseln loszubinden sich sehnte; und drängte diesen Wunsch zurück, damit das Kind in Banden und Druck frei zu werden lerne. Ich sah, wie er mit seiner Mutter Gesicht scheu von seinen kleinen Büchern zu mir aufblickte und mich in dem Ton seiner Mutter, der mich hart machte, zu erweichen suchte.«

Der Schauer ihrer Zuhörerin machte, daß sie den Fluß ihrer mit einer durch den Blick auf die Vergangenheit düster klingenden Stimme vorgebrachten Worte für einen Augenblick unterbrach.

»Es geschah um seinetwillen. Nicht um mich für das mir angetane Unrecht zu rächen. Was war ich und was wollte es heißen gegenüber dem Fluch des Himmels! Ich sah das Kind heranwachsen, nicht zu hoher Frömmigkeit (dazu lag das Vergehen seiner Mutter zu schwer auf ihm), doch zu Rechtschaffenheit und Aufrichtigkeit und Demut gegen mich. Er liebte mich nicht, wie ich mir einst die schwache Hoffnung gemacht – so schwach sind wir, und so streiten die verdorbenen Neigungen unseres Fleisches mit unserer Aufgabe, unserer Mission: aber er achtete mich und ordnete sich treulich mir unter. Er tut es noch bis auf diese Stunde. Mit einem leeren Platze in seinem Herzen, dessen Bedeutung er nie gekannt, hat er sich von mir abgewandt und ist seinen gesonderten Weg gegangen; aber auch dies tat er rücksichtsvoll und mit Ehrerbietung. Das waren seine Beziehungen zu mir. Die Ihrigen waren schwächere und von nicht so altem Datum. Wenn Sie mit Ihrer Näharbeit in meinem Zimmer saßen, fürchteten Sie sich vor mir, aber Sie waren der Ansicht, ich wolle Ihnen eine Güte erzeigen. Nun sind Sie besser unterrichtet und wissen, daß ich Ihnen ein Unrecht zugefügt. Ihre Mißdeutung und Ihr Mißverstehen der Ursachen und Gründe, deretwegen ich dies getan, ist leichter zu ertragen, als es das seinige wäre. Ich möchte um keinen Preis der Welt, daß er einen Augenblick, wenn auch blindlings, mich von dem Standpunkt herabriß, den ich sein ganzes Leben ihm gegenüber eingenommen, mir seinen Respekt entzöge, daß ich mich entdeckt und bloßgestellt sähe. Mag es geschehen, wenn es geschehen soll, aber nur lassen Sie mich nicht mehr leben, um es zu sehen. Lassen Sie mich immer fühlen, solange ich lebe, daß ich vor seinem Antlitz sterbe und gänzlich vor ihm zugrunde gehe wie einer, den der Blitz verzehrt oder ein Erdbeben verschlingt.«

Ihr Stolz trat mächtig zutage, und die Qualen, die der Stolz und ihre alten Leidenschaften ihr verursachten, waren peinlicher denn sonst, als sie diese Worte sprach. Nicht geringer aber, als sie hinzufügte:

»Auch jetzt noch sehe ich Sie vor mir beben, als wenn ich grausam gewesen wäre.«

Klein-Dorrit konnte dem nicht widersprechen. Sie suchte es nicht zu zeigen, aber sie schauerte bei dem Gedanken an den Gemütszustand, unter dessen Druck sie so lange geseufzt. Der Gedanke drängte sich ihrer einfachen Natur ohne Sophisterei in seiner ganzen Peinlichkeit auf.

»Ich habe getan«, sagte Mrs. Clennam, »was mir zu tun bestimmt war. Ich habe mich gegen das Böse gestemmt; nicht gegen das Gute. Ich war ein Werkzeug der Strenge gegen die Sünde. Haben nicht zu allen Zeiten bloße Sünder wie ich die Mission erhalten, die Sünde in den Staub zu beugen?«

»Zu allen Zeiten?« wiederholte Klein-Dorrit.

»Hätte ich, selbst wenn das mir zugefügte Unrecht bei mir in den Vordergrund getreten wäre und meine eigne Rache die Triebfeder meines Handelns gewesen, keine Rechtfertigung gefunden? Keine in jenen alten Zeiten, wo der Unschuldige mit dem Schuldigen unterging, tausend gegen einen? Wo der Zorn dessen, der das Ungerechte haßte, nicht einmal in Blut erlosch und doch Gnade fand?«

»Oh, Mrs. Clennam, Mrs. Clennam«, sagte Klein-Dorrit, »Gefühle des Zornes und Taten der Unversöhnlichkeit sind kein Trost und keine Richtschnur für Sie und mich. Mein Leben verfloß in diesem armseligen Gefängnis, und mein Unterricht war sehr mangelhaft; aber lassen Sie mich Sie bitten, späterer und besserer Tage zu gedenken. Lassen Sie sich einzig leiten durch den Heiler der Kranken, den Erretter vom Tode, den Freund aller Bekümmerten und Verlorenen, den geduldigen Meister, der Tränen des Mitleids über unsre Schwächen vergoß. Wir können nur auf dem rechten Wege sein, wenn wir alles übrige wegwerfen und alles im Gedanken an ihn tun. Keine Rache ist möglich, wenn wir ihm folgen und keine andren Fußstapfen als die seinen suchen; des bin ich gewiß!«

In dem sanften Lichte des Fensters, wie sie von dem Schauplatz ihrer ersten Prüfungen zu dem glänzenden Himmel aufschaute, stand sie in keinem grelleren Gegensatz zu der schwarzen Gestalt im Schatten als das Leben, und die Überzeugung, auf die sie baute, zu der Geschichte dieser Gestalt, die langsam ihr Haupt senkte und kein Wort sprach. So blieb sie, bis das erste Zeichen der Glocke ertönte.

»Horch!« rief Mrs. Clennam, aus ihrem Sinnen auffahrend. »Ich sagte, ich habe noch eine andre Bitte. Es ist eine Bitte, die keinen Verzug gestattet. Der Mann, der Ihnen das Päckchen brachte und die Beweise in Händen hat, befindet sich gegenwärtig in meinem Hause und will erkauft sein. Ich kann die Sache Arthur nur dadurch geheimhalten, daß ich diesen Mann erkaufe. Er verlangt eine große Summe; mehr, als ich für den Augenblick zusammenbringen kann, um ihn zu bezahlen. Er will nichts von einem Nachlaß wissen, denn er droht, wenn die Sache mit mir nicht ins reine komme, zu Ihnen zu gehen. Wollen Sie mit mir kommen und ihm zeigen, daß Sie die Sache bereits wissen? Wollen Sie mit mir kommen und ihn zu überreden suchen? Wollen Sie mit mir kommen und mir gegen ihn beistehen? Verweigern Sie mir nicht, was ich in Arthurs Namen bitte, obgleich ich es nicht um Arthurs willen zu bitten wage!«

Klein-Dorrit sagte bereitwillig zu. Sie eilte für einige Augenblicke nach dem Gefängnis, kehrte zurück und sagte, sie sei bereit zu gehen. Sie gingen über eine andre Treppe weg und vermieden das Schließerstübchen; als sie über den vordern Hof kamen, war alles still und öde, und sie traten auf die Straße.

Es war einer jener Sommerabende, wo keine größere Dunkelheit eintritt als ein langandauerndes Zwielicht. Die Aussicht auf Straße und Brücke war klar und der Himmel rein und schön. Die Leute standen und saßen an ihren Türen, spielten mit ihren Kindern und freuten sich des Abends; andere gingen spazieren, um Luft zu schöpfen; die Last des Tages hatte sich beinahe selbst erschöpft, und wenige, außer ihnen, hatten Eile. Als sie über die Brücke gingen, sahen die klarumrissenen Glockentürme der zahlreichen Kirchen aus, als ob sie aus der Dunkelheit herausgetreten, die sie gewöhnlich umhüllte, und näher gekommen wären. Der Rauch, der zum Himmel aufstieg, hatte seine schmutzige Farbe verloren und ein glänzendes Aussehen angenommen. Die Schönheit des Sonnenuntergangs war noch auf dem in friedlicher Ruhe mit leichten Wölkchen überzogenen Abendhimmel ausgebreitet. Aus einem leuchtenden Mittelpunkt ergossen sich über die ganze Länge und Breite des ruhigen Firmaments große Lichtströme zwischen die frühen Sterne, als Zeichen des heiligen neuen Friedens- und Hoffnungsbundes, der die Dornenkrone in eine Glorie verwandelt.

Weniger auffallend, weil sie nicht mehr allein und es auch schon dunkler war, eilte Mrs. Clennam unbelästigt an Klein-Dorrits Seite durch die Straßen. Sie verließen die Hauptstraße bei der Ecke, bei der sie sie betreten, und schlugen den Weg durch die stillen, leeren Querstraßen ein. Ihre Füße waren an dem Torweg, als sie ein plötzliches Geräusch wie Donner vernahmen.

»Was war das? Wir wollen rasch eintreten«, rief Mrs. Clennam.

Sie standen in dem Torweg. Klein-Dorrit hielt sie mit einem gellen Schrei zurück.

Einen flüchtigen Augenblick sahen sie noch das alte Haus vor sich, in dessen Fenster der rauchende Fremde saß: noch ein Donnerschlag, und es erhob sich, schwoll, ging an fünfzig Stellen auseinander, brach zusammen und lag in Trümmern. Betäubt durch das furchtbare Geräusch, atemlos, erstickt und geblendet durch den Staub, bedeckten sie ihre Gesichter mit der Hand und standen wie an den Boden gewurzelt da. Der Staubwirbel, der zwischen ihnen und dem heitern Himmel auftrieb, verteilte sich einen Augenblick und zeigte ihnen die Sterne. Als sie ungestüm nach Hilfe rufend wieder aufblickten, wankte die große Masse der Kamine, die allein noch stehengeblieben waren, wie ein Turm im Wirbelwind, brach zusammen und stürzte wie ein Hagel auf den Trümmerhaufen, als wenn jeder niederfallende Stein den zermalmten Schurken noch tiefer begraben wollte.

So bis zur Unkenntlichkeit durch die in der Luft umherfliegenden Teilchen des Schuttes geschwärzt, eilten sie weinend und schreiend nach der Straße zurück. Dort sank Mrs. Clennam auf die Steine, und sie bewegte von dieser Stunde keinen Finger wieder, noch konnte sie fortan ein Wort sprechen. Denn über drei Jahre lag sie in ihrem Räderstuhle und betrachtete aufmerksam die Umstehenden, während es das Aussehen hätte, als ob sie verstünde, was sie sprechen; aber das strenge Schweigen, das sie so lange beobachtet hatte, wurde jetzt auf immer zum Zwang für sie, und abgesehen davon, daß sie ihre Augen bewegen und Bejahen und Verneinen schwach mit dem Kopfe andeuten konnte, lebte und starb sie wie eine Statue.

Affery hatte im Gefängnis nach ihnen gefragt und sie unfern von der Brücke zu Gesicht bekommen. Sie eilte herbei, um ihre alte Herrin in ihren Armen aufzufangen, sie in ein benachbartes Haus tragen zu helfen und ihr dienstlich zu sein. Das Geheimnis des Geräusches war jetzt am Tage: Affery, wie bedeutendere Leute, hatte immer recht in Beziehung auf Tatsachen und immer unrecht in Beziehung auf die Theorie, die sie daraus entwickelte.

Als sich die Staubwolken verzogen und die Sommernacht wieder ruhig geworden, versperrten zahlreiche Menschenmassen jeden Straßenzugang, und es bildeten sich Abteilungen von Arbeitern, die sich im Durchsuchen der Trümmer ablösen sollten. Es waren hundert Menschen zur Zeit des Zusammenstürzens in dem Hause gewesen, dann wieder fünfzig, dann fünfzehn, dann zwei. Das Gerücht blieb bei der Zahl zwei stehen: nämlich dem Fremden und Mr. Flintwinch.

Die Arbeiter gruben die kurze Nacht hindurch beim flackernden Gaslicht, und auf gleicher Höhe mit der frühen Morgensonne, und tiefer und tiefer hinab, je mehr sich die Sonne zum Zenit erhob, und unter ihren schwachen Strahlen, als sie hinabsank, und wieder auf gleicher Höhe mit ihr, als sie schied. Das angestrengte Graben und Schaufeln und Wegführen in Karren, auf Tragbahren und in Körben dauerte ohne Unterbrechung Tag und Nacht fort. Aber es wurde zum zweiten Male Nacht, als sie den schmutzigen Klumpen fanden, der einst der Fremde gewesen war, ehe sein Kopf in Atome wie Glas von dem großen Balken, der auf ihm lag, zermalmt worden.

Aber sie waren noch nicht auf Flintwinch gestoßen. So dauerte das emsige Graben und Schaufeln und Wegführen ohne Unterbrechung Tag und Nacht fort. Das Gerücht ging, daß das alte Haus ein ausgezeichnetes Kellergeschoß gehabt (was wirklich wahr war), und daß Flintwinch in jenem Augenblick in einem Keller gewesen oder Zeit gehabt, in einen zu entkommen, und daß er unter dem starken Gewölbe sicher sei, ja, daß man ihn sogar in hohlen, unterirdischen, halberstickten Tönen habe rufen hören: »Ich bin hier!« Am entgegengesetzten Ende der Stadt wußte man sogar, daß die Ausgrabenden imstande gewesen, durch eine Röhre eine Verbindung mit ihm herzustellen, und daß er durch diesen Kanal Suppe und Branntwein erhalten, und daß er mit bewundernswürdiger Fassung gesagt habe, er befinde sich ganz wohl mit Ausnahme seines Schlüsselbeines. Aber das Graben und Schaufeln und Wegführen dauerte ohne Unterbrechung fort, bis die Trümmer alle weggeschafft und die Keller geöffnet waren, doch weder durch Picke noch durch Spaten wurde ein Flintwinch, lebendig oder tot, ganz wohl oder ganz übel, herausgeschafft.

Man merkte nun, daß Flintwinch zur Zeit des Einfallens gar nicht im Hause dagewesen; und man merkte ferner, daß er anderwärts ziemlich beschäftigt gewesen, indem er Wertpapiere in so viel Geld umsetzte, wie in der Eile zu erlangen war, und seine Vollmacht, für die Firma zu handeln, ausschließlich in seinem eigenen Interesse benutzt hatte. Affery, die sich erinnerte, daß der Gescheite gesagt, er wolle sich in vierundzwanzig Stunden weiter erklären, entschied sich dahin, daß sein Verschwinden in diesem Augenblick und mit allem, was er aufbringen konnte, die Summe und der wesentliche Inhalt seiner versprochenen Erklärung sei; aber sie verhielt sich ruhig, von Herzen dankbar, daß sie ihn los und seiner ledig war. Da es ein vernünftiger Schluß zu sein schien, daß ein Mann, der nicht begraben worden, auch nicht ausgegraben werden könne, so gaben ihn die Arbeiter auf, als ihre Arbeit geschehen war, und gruben nicht auch noch in den Tiefen der Erde nach ihm.

Dies vermerkte eine große Masse Menschen gar übel; denn sie beharrten bei der Ansicht, daß Flintwinch irgendwo unter den geologischen Formationen Londons liege. Auch war ihr Glaube nicht sonderlich erschüttert durch die wiederholte Nachricht, die im Verlauf der Zeit über den Kanal kam, daß ein alter Mann, der den Zipfel seines Halstuches unter einem Ohr trage und als Engländer bekannt sei, mit den Holländern an den saubern Ufern der Kanäle im Haag und in den Wirtshäusern von Amsterdam unter dem Titel und Namen eines Mynheer von Flyntevynge verkehre.