Vierundfünfzigstes Kapitel.
Die Flüchtlinge.
Die Zeit, eine Stunde vor Mitternacht. Der Ort eine französische Wohnung, ein halb Dutzend Gemächer umfassend – nämlich einen düsteren kalten Flur, ein Speisezimmer, ein Besuchzimmer, ein Schlafgemach und ein inneres Besuchzimmer oder Boudoir, das kleiner und abgeschiedener ist, als die übrigen. Alle diese Räume konnten durch eine große Flügeltür an der Haupttreppe abgesperrt werden. Aber jedes Zimmer hatte wieder zwei oder drei eigene Flügeltüren, die die Vermittlung mit den übrigen Teilen der Wohnung oder mit gewissen kleinen Gängen in der Mauer herstellten, die, wie es in solchen Häusern nicht ungewöhnlich ist, nach einer Hintertreppe mit einem bedeckten Ausgang unten führten. Das Ganze lag in dem ersten Stock eines so großen Hotels, daß es nicht einmal eine ganze Fensterreihe auf der einen Seite des viereckigen Mittelhofes einnahm, den die vier Seiten des Hauses einschlossen.
In den Gemächern herrschte ein Firnis von Pracht, hinreichend verblichen, um sich melancholisch auszunehmen, aber auch noch blendend genug, um das Leben im einzelnen mit einer Vorstellung von Vornehmheit zu belästigen. Die Wände waren schön bemalt und vergoldet, die Zimmerboden gebohnt und poliert, Fenster, Türen und Spiegel mit Scharlach-Draperien behangen. An den Wänden sah man Kandelaber eingelassen, deren Arme sich wie Baumzweige oder Hirschgeweihe verschlangen. Bei Tag aber, wann die jetzt geschlossenen Jalousien offen standen und das Licht hereinfiel, zeigten sich unter diesem Prunk Spuren von Abnützung und Staub, die Einwirkung von Sonne, Feuchtigkeit und Rauch, auf die langen Pausen des Nichtbewohntseins hindeutend, in der dieser glänzende Tand des Lebens, gleich dem Leben empfindlich, wie ein im Gefängnis eingesperrter Mensch zu verbleichen schien. Sogar bei Nacht konnte die Menge brennender Kerzen diese Abzeichen nicht ganz vertilgen, obschon sie durch das allgemeine Geflitter in den Schatten gedrängt wurden.
Das Flimmern der hellen Kerzen und ihr Widerschein in den Spiegeln, in den Streifen Vergoldung und in den bunten Farben beschränkte sich an jenem Abend nur auf ein einziges Zimmer, das kleinste von den vorhin aufgezählten. Von der Halle aus gesehen, wo eine matte Lampe brannte, nahm es sich durch die dunkle Perspektive der offenen Türen wie ein funkelnder, kostbarer Edelstein aus, und in der Mitte seines Glanzes saß eine schöne Frau – Edith.
Sie war allein. Noch immer dieselbe trotzige, hochmütige Frau. Die Wangen ein wenig bleich, die Augen dem Anschein nach etwas größer und blitzender, aber ganz die frühere stolze Haltung. Keine Scham auf ihrer Stirn und ihr Nacken so aufrecht, daß die beugende Gewalt der Reue nicht daran zu bemerken war. Herrisch und vornehm, zugleich aber ohne Rücksicht auf sich selbst und alles übrige, saß sie da, die dunkeln Augen zu Boden gesenkt, als ob sie jemanden erwarte.
Sie hatte kein Buch, keine Arbeit, keine Beschäftigung irgendeiner Art, als ihre Gedanken, um sich die träg hinschleichende Zeit zu kürzen, obschon ein Entschluß, kräftig genug, um jede Pause auszufüllen, sich an ihr bemerklich machte. Ihre Lippen waren zusammengepreßt und bebten, wenn für einen Augenblick die Spannung auf dem Gesicht wich, ihre Nasenlöcher erweiterten sich, ihre Brust wogte unter der Gewalt ihrer Gedanken, und ihre Hände schlangen sich krampfhaft ineinander. So saß sie da und wartete.
Bei dem Ton eines Schlüssels in der äußeren Tür und eines Fußtritts in der Halle fuhr sie auf und rief: »Wer da?« Die Antwort wurde in französischer Sprache gegeben, und zwei Männer kamen mit klappernden Servierbrettern herein, um Vorbereitungen für das Nachtessen zu treffen.
»Wer hat Euch dazu beauftragt?« fragte sie.
»Monsieur hat so befohlen, als es ihm beliebte, die Wohnung zu nehmen. Wie sich Monsieur eine Stunde en route hier aufhielt«, sagte er – »ach, er hat einen Brief für Madame zurückgelassen; Madame hat ihn doch erhalten?«
»Ja.«
»Bitte tausendmal um Verzeihung!« Die plötzliche Besorgnis, der Brief könnte vergessen worden sein, hatte ihn, einen kahlköpfigen, langbärtigen Mann aus dem Hause eines benachbarten Restaurants, seiner Versicherung nach mit Verzweiflung erfüllt. Monsieurs Befehlen zufolge sollte das Souper zu dieser Stunde bereit sein, und Monsieur habe in seinem Schreiben Madame von seinen Weisungen Mitteilung gemacht. Monsieur habe dem goldenen Kopf die Ehre erzeigt, zu befehlen, daß das Souper auserlesen und fein sein müsse. Er werde finden, daß sein Vertrauen zu dem goldenen Kopf nicht unrecht angebracht sei.
Edith sprach nichts weiter, sondern schaute gedankenvoll zu, während die beiden für zwei Personen den Tisch deckten und Wein aufstellten. Noch ehe sie zu Ende waren, stand sie auf, ergriff eine Lampe und begab sich nach dem Schlafgemach und dem Besuchzimmer, wo sie hastig, aber doch zugleich sorgfältig, alle Türen untersuchte, namentlich eine in dem Schlafzimmer, die nach dem Gang in der Wand hinausging. Aus dieser nahm sie den Schlüssel und setzte ihn an der Außenseite ein. Dann kam sie wieder zurück.
Die Männer, von denen der zweite ein sauber rasierter, ockerfarbiger Mensch in einer Jacke und mit kurz geschnittenem Haar war, hatten ihre Tafelvorbereitungen beendigt und standen nun zusehend da. Derjenige, der früher gesprochen hatte, stellte die Frage, ob Madame wohl glaube, daß Monsieur bald eintreffen werde.
Sie konnte dieses nicht sagen. Es war ihr gleichgültig.
Pardon, aber hier sei das Souper, das schnell gespeist werden müsse. Monsieur, der französisch rede wie ein Engel – oder wie ein Franzose – was gleichbedeutend sei – habe mit großem Nachdruck von seiner Pünktlichkeit gesprochen. Die englische Nation zeichne sich stets durch Pünktlichkeit aus. Ach, welch ein Lärm! Gütiger Himmel, hier sei Monsieur. Sehe man ihn!
Und in der Tat wurde jetzt Monsieur durch den andern Kellner eingelassen. Seine Zähne glänzten durch die dunkeln Zimmer wie ein Hochofen, und als er in dem Heiligtum des Lichts und der Farbe anlangte, umarmte er Madame und redete sie in französischer Sprache als seine bezaubernde Gattin an.
»Mein Gott, Madame wird ohnmächtig. Madame ist hingerissen von Freude!« rief der kahle Mann mit dem Bart.
Madame war nur schaudernd zurückgewichen, und noch ehe die vorerwähnten Worte ausgesprochen worden, stand sie in vollkommen aufrechter Haltung mit unbeweglichem Gesicht da, die Hand auf die Samtlehne eines großen Sessels gelegt.
François ist nach dem goldenen Kopf hinübergeflogen, um das Nachtessen zu holen. Er fliegt bei solchen Gelegenheiten wie ein Engel oder wie ein Vogel. Das Gepäck von Monsieur ist auf seinem Zimmer. Alles befindet sich in Ordnung. Das Souper wird im Augenblick da sein – diese Tatsachen meldete der kahle Mann unter lächelnden Verbeugungen, und unmittelbar darauf wurde das Nachtessen hereingetragen.
Die warmen Speisen befanden sich in einem erhitzten Einsatz, die kalten waren bereits aufgetragen, und auf einem Seitentisch lag das Service zum Wechseln. Monsieur war mit dieser Anordnung zufrieden. Es gefiel ihm wohl, daß der Soupertisch klein war. Sie sollten den Einsatz auf den Boden stellen und gehen. Er könne die einzelnen Gerichte selbst holen.
»Pardon!« versetzte der kahle Mann höflich, da er dies für unmöglich hielt.
Monsieur war anderer Ansicht. Er brauchte für den Abend keine weitere Bedienung.
Aber Madame – – deutete der kahle Mann an.
Madame habe ihr eigenes Mädchen, entgegnete Monsieur. Das sei genug.
Tausendmal Pardon, nein; Madame habe kein Mädchen.
»Ich bin allein hierhergekommen«, sagte Edith. »Es war mir lieber so. Ich bin ans Reisen gewöhnt und brauche keine Bedienung. Es ist nicht nötig, daß mir jemand gesendet wird.«
Monsieur beharrte demnach auf seiner zuerst beantragten Unmöglichkeit und folgte den beiden Dienern nach der äußeren Tür, um sie abzuschließen. Der kahle Mann, der sich vor dem Abgang noch einmal umwandte, um eine Verbeugung zu machen, bemerkte, daß Madame noch immer ihre Hand auf der Samtlehne des großen Sessels ruhen hatte und daß sie nicht im mindesten auf ihn achtete, sondern geradeaus vor sich hinsah.
Während der Ton des Türschließens durch die dazwischen liegenden Zimmer hallte, bis er gedämpft und erstickt in dem letzten anlangte, verkündete die Glocke der Kathedrale die Stunde zwölf. Edith hörte, wie Carker dabei innehielt, als lausche er auf die Glockenschläge. Dann kam er zu ihr zurück, mit einer langen Kette von Fußtritten das Schweigen unterbrechend und alle Türen hinter sich absperrend. Ediths Hand verließ einen Augenblick den Samtstuhl, um auf dem Tisch ein Messer in ihren Bereich zu bringen; dann nahm sie wieder die frühere Haltung ein.
»Wie seltsam, daß Ihr allein hierhergekommen seid, meine Liebe?« sagte er beim Eintreten.
»Wie?« entgegnete sie.
Der Ton war so hart, das rasche Wenden ihres Kopfes so ungestüm, ihre Haltung so abstoßend und ihre Stirne so düster, daß er mit der Lampe in der Hand stehen blieb und sie ansah, als habe ihn ein Blitzstrahl regungslos gemacht.
»Ich sagte«, wiederholte er endlich, indem er mit dem höflichsten Lächeln die Lampe niederstellte, »es sei mir befremdlich, daß Ihr allein hierherkommt. Das war gewiß eine unnötige Vorsicht. Ihr hättet in Havre oder Rouen eine Dienerin nehmen sollen, da es Euch nicht an Zeit dazu fehlte; aber Ihr seid, wie die schönste, so auch die launenhafteste und eigensinnigste von allen Frauen.«
Ihre Hand ruhte noch immer auf der Sessellehne. Ohne ein Wort zu sprechen, sandte sie ihm nur einen eigentümlichen Blick zu.
»Ich habe Euch nie so schön gesehen«, nahm Carker wieder auf, »wie Ihr es heute nacht seid. Sogar das Bild, das ich während dieser grausamen Prüfungszeit im Geiste mit mir herumgetragen und Tag und Nacht betrachtet habe, wird durch die Wirklichkeit übertroffen.«
Kein Wort. Kein Blick. Ihre Augen bargen sich vollständig unter den gesenkten Wimpern, aber ihr Kopf war aufrecht.
»Es waren harte, herbe Bedingungen!« sagte Carker mit einem Lächeln; »aber nun sie erfüllt und vorüber sind, machen sie die Gegenwart nur um so köstlicher und sicherer. Sizilien soll unsere Zuflucht sein. In dem müßigsten und gemächlichsten Teil der Welt wollen wir beide Ersatz suchen für alte Sklaverei.«
Er wollte heiter auf sie zutreten, prallte aber wieder einen Schritt zurück, als er sah, daß sie hastig nach dem Messer auf dem Tische griff.
»Bleibt stehen, oder ich ermorde Euch!« sagte sie.
Der plötzliche Wechsel in ihr, die drohende Wut und der tiefe Abscheu, der in ihren Augen funkelte und auf ihrer Stirne blitzte, geboten ihm Halt, als ob ein Feuermeer vor ihm läge.
»Bleibt stehen!« wiederholte sie. »Kommt mir nicht näher, so lieb Euch Euer Leben ist!«
Beide sahen einander an. Wut und Erstaunen malten sich in seinem Gesicht. Aber er unterdrückte diese Bewegungen und sagte leichthin:
»Laßt das! Ruhig! Wir sind allein. Niemand sieht oder hört uns. Glaubt Ihr, Ihr könnt mich mit solchen Tugendpossen einschüchtern?«
»Glaubt Ihr, Ihr könnt mich einschüchtern?« antwortete sie mit Heftigkeit, »und mich von einem fest gefaßten Entschlüsse abbringen, indem Ihr mich an die Einsamkeit dieses Platzes und an die Tatsache erinnert, daß keine Hilfe in der Nähe sei – mich, die ich absichtlich hier allein bin? Würde ich Euch nicht vermieden haben, wenn ich Euch fürchtete? Wäre dies der Fall, würde ich hier sein, mitten in totenstiller Nacht, um Euch ins Gesicht zu sagen, was ich jetzt sprechen will?«
»Und das wäre, meine schöne Spröde?« versetzte er. »Schöner so, als jedes andere Weib in ihrer besten Stimmung.«
»Ich sage Euch nichts«, erwiderte sie, »bis Ihr nach jenem Stuhl zurückgegangen seid – nur dieses noch einmal – kommt mir nicht nahe! Keinen Schritt näher. Wagt Ihr es, so schwöre ich bei dem Himmel, der uns sieht, daß ich Euch ermorden werde!«
»Ihr haltet mich wohl für Euren Gatten?« versetzte er mit einem Grinsen.
Ohne ihn einer Antwort zu würdigen, streckte sie ihren Arm aus und deutete auf den Stuhl. Er biß sich auf die Lippe, furchte die Stirne, lachte und setzte sich mit ärgerlicher, ungeduldiger Miene, die er nicht zu verbergen vermochte, nieder. Dabei nagte er an seinen Nägeln und blickte in dem bitteren Gefühl seiner Niederlage seitwärts nach ihr hin, obschon er sich stellte, als ergötze ihn ihre Launenhaftigkeit.
Sie legte das Messer wieder auf den Tisch, fuhr mit der Hand nach ihrer Brust und sagte:
»Ich habe hier etwas liegen, das kein Liebesandenken ist, und ehe ich wieder Eure Berührung dulde, werde ich gegen Euch davon Gebrauch machen. Ihr wißt, was ich meine, und ich nehme dabei ebensowenig Anstand als irgendeinem andern kriechenden Geschöpf gegenüber.«
Er erkünstelte ein scherzhaftes Lachen und bat sie, ihre Rolle rasch zu Ende zu bringen, da das Nachtessen sonst kalt werde. Doch wurde der verstohlene Blick, mit dem er sie betrachtete, düsterer und lauernder. Auch murmelte er einen Fluch vor sich hin und stieß mit dem Fuß auf den Boden.
»Wie oft«, fuhr Edith fort, indem sie das düster überschattete Auge auf ihm haften ließ, »wie oft hat Eure kühne Schurkerei mir mit Schimpf und Kränkung zugesetzt! Wievielmal habt Ihr in Eurer glatten Weise und mit Euren spottenden Reden und Blicken mir meinen Brautstand und meine Ehe vorgerückt! Wie oft legtet Ihr die Wunde meiner Liebe für jenes holde, gekränkte Mädchen bloß und zerfleischtet sie! Wie oft habt Ihr das Feuer angefacht, das mich im Lauf der zwei Jahre sengte, und mich zu verzweifelten Racheschritten verlockt, wenn mir die Folter am schmerzlichsten wurde!«
»Ich zweifle nicht, Ma’am«, versetzte er, »daß Ihr gut Rechnung geführt habt und daß sie ziemlich genau ist. Doch laßt dies, Edith. Bei Eurem Gatten, dem armen Tropf, ging es wohl an –«
»Ich erkläre Euch«, sagte sie, ihn mit so hochmütigem Abscheu betrachtend, daß er darunter erbebte, wie sehr er auch seinen Mut zusammennahm, »wenn alle meine andern Gründe, ihn zu verachten, wie Federn hätten hinweggeblasen werden können, so würde der Umstand, daß er Euch zum Ratgeber und Günstling hatte, fast allein ausgereicht haben, ihnen Dauer zu verleihen.«
»Das ist also der Grund, warum Ihr mit mir entlaufen seid?« fragte er höhnend.
»Ja, und eben deshalb sehen wir uns auch heute zum letztenmal Angesicht in Angesicht. Elender, wir sind in dieser Nacht zusammengetroffen, um uns für immer zu trennen. Nachdem ich zu sprechen aufgehört habe, werde ich keinen Augenblick mehr hier bleiben.«
Er warf ihr einen seiner häßlichsten Blicke zu und ergriff den Tisch mit der Hand, ohne übrigens aufzustehen, ihr zu drohen oder anderweitig Antwort zu geben.
»Ich bin ein Weib«, fuhr sie fort, indem sie mit Festigkeit ihm gegenüber stehen blieb, »das von Kindheit auf an die Schmach gewöhnt und gegen sie gestählt wurde. Man hat mich feilgeboten und zurückgewiesen, zur Schau gestellt und bekrittelt, bis ich hätte vergehen mögen vor Scham. Ich besaß keine Gabe, keinen Vorzug, die mir als Hilfsquellen hätten dienen können, ohne daß sie zum Verkauf ausgelegt worden wären, um meinen Wert zu erhöhen, geradeso gut, als hätte sie der gewöhnliche Ausrufer durch die Straßen geschrien. Meine stolzen, armen Verwandten haben beifällig zugesehen, und jedes Band zwischen uns wurde in meinem Innern zerrissen. Unter ihrer ganzen Schar befindet sich kein einziger Mensch, um den ich mich mehr kümmerte als um einen Schoßhund. Ich stehe allein in der Welt, stets eingedenk, wie hohl sie gegen mich gewesen ist und welche elende Rolle ich selbst auf ihr gespielt habe. Das ist Euch bekannt; auch wißt Ihr, daß der dadurch errungene Ruf mir völlig wertlos ist.«
»Ja, ich dachte mir das«, entgegnete er.
»Und Ihr rechnetet darauf«, fuhr sie fort, »und setztet mir zu. Zu gleichgültig geworden, dem täglichen Wirken der Hände, die mich hierzu umgebildet hatten, einen andern Widerstand entgegenzusetzen als eben Gleichgültigkeit, und in dem Bewußtsein, daß meine Heirat wenigstens einem weiteren Verhökern landauf und landab vorbauen würde, ließ ich mich so schmählich verkaufen, wie nur je auf irgendeinem Marktplatz ein Weib mit einem Strick um den Hals verkauft wurde. Ihr wißt das.«
»Ja«, sagte er, alle seine Zähne zeigend. »Ich weiß das.«
»Und Ihr rechnetet darauf«, entgegnete sie noch einmal, »und setztet mir zu. Von dem Tage meiner Verheiratung an sah ich mich einer neuen Schmach preisgegeben – der Zudringlichkeit und Verfolgung eines gemeinen Elenden, so klar ausgedrückt, als würde sie mir in der gröbsten Schrift und auf allen meinen Wegen und Stegen in die Hände geschoben, so daß mir alle meine früheren Demütigungen wie gar nichts vorkamen. Diese Schande wurde mir von meinem Gatten aufgebürdet, der mich selbst damit umgab und eigenhändig hundert und hundert Male mich darin verhärtete. Durch diese beiden nun von jedem Ruhepunkt, den ich hatte, verdrängt – von ihnen gezwungen, die letzte Spur von Liebe und Zartheit in mir zum Opfer zu bringen oder neues Unglück auf den unschuldigen Gegenstand derselben zu häufen – von einem zum andern gehetzt und von dem einen verfolgt, wenn ich dem andern entrann, steigerte sich diesen beiden gegenüber mein Zorn fast zum Wahnsinn. Ich weiß nicht, nach welcher Seite hin höher – gegen den Herrn oder gegen den Knecht!«
Er verwandte keinen Blick von ihr, während sie so in dem eigentlichen Triumph ihrer entrüsteten Schönheit vor ihm stand. Er sah, sie war entschlossen, ließ sich nicht einschüchtern und fürchtete sich vor ihm ebensowenig wie vor einem Wurm.
»Wie könnte ich von Ehre oder Züchtigkeit gegen Euch reden!« fuhr sie fort. »Welchen Sinn würden solche Worte für Euch, welchen Sinn würden sie in meinem Munde haben. Wenn ich Euch aber sage, daß die leiseste Berührung Eurer Hand mich mit schauderndem Widerwillen erfüllt – daß ich von der Stunde an, als ich Euch zum erstenmal sah, bis auf den gegenwärtigen Augenblick Euch haßte – daß meine instinktartige Abneigung gegen Euch mit jeder Minute der näheren Bekanntschaft sich steigerte, bis Ihr für mich ein so ekelhaftes Geschöpf wurdet, dergleichen es nicht mehr auf Erden gibt – wie dann?«
Er antwortete mit einem erstickten Lachen:
»Ja, wie dann, meine Königin?«
»Was ging an jenem Abend vor«, sagte sie, »als Ihr, kühn gemacht durch den Auftritt, zu dem Ihr mir halfet, Euch erdreistetet, nach meinem Zimmer zu kommen und mit mir zu sprechen?«
Er zuckte die Achseln und lachte abermals.
»Was ging vor?« wiederholte sie.
»Euer Gedächtnis ist so treu«, versetzte er, »daß Ihr es ohne Zweifel selbst wißt.«
»So hört!« sagte sie. »Ihr brachtet damals diese Flucht in Vorschlag – nicht diese Flucht, sondern eine Flucht, wie Ihr sie Euch dachtet. Ihr erklärtet mir, ich sei verloren, weil ich Euch jene Zusammenkunft gestattet habe, in der Ihr Euch betreten lassen wolltet, wenn es Euch gut dünkte – weil ich Euch so oft früher allein bei mir duldete – weil ich, wie Ihr sagtet, Euch selbst die Gelegenheit dazu an die Hand gab und weil ich offen und ohne Rücksicht auf mich gegen Euch erklärte, daß ich gegen meinen Gatten kein anderes Gefühl kenne als Abneigung. Ich habe es in Eure Macht gegeben, meinen Namen an den Pranger zu stellen, und behaupte meinen tugendhaften Ruf nur so lange, als Euer Atem mir denselben gönne.«
»Die Kriegslist der Liebe«, unterbrach er sie lächelnd. »Das alte Sprichwort –«
»An jenem Abend«, fuhr Edith fort, »und erst an jenem Abend endete der Kampf, den ich lange mit etwas Unbestimmtem gerungen hatte – ich weiß, es war nicht die Achtung für meinen guten Ruf, vielleicht aber das letzte Anklammern an diese Achtung vor ihrem Verscheiden. An jenem Abend wichen alle meine andern Gefühle der Leidenschaft und Rachsucht. Ich führte einen Streich, der Euern stolzen Gebieter in den Staub warf, und setzte Euch dorthin, von wo aus Ihr mich jetzt anseht, aufgeklärt über das, was ich meine.«
Er sprang mit einem wilden Fluch von seinem Stuhle auf. Sie steckte die Hand in ihre Brust, ohne daß ein Finger zitterte oder ein Haar auf ihrem Haupte sich bewegte. Er blieb stehen – sie gleichfalls. Der Tisch und der Stuhl trennten sie.
»Wenn ich vergesse, daß an jenem Abend dieser Mann seine Lippen an die meinen brachte, wie er heute wieder getan hat«, sagte Edith, nach ihm hindeutend; »wenn ich das Brandmal seines Kusses auf meiner Wange vergesse – der Wange, an die Florence wieder ihr schuldloses Gesicht legen wollte – wenn ich meine Zusammenkunft mit ihr vergesse, als jenes Zeichen des Schimpfs noch auf mir glühte – wenn ich vergesse, welche Flut von Erinnerungen in mir auftauchten, als ich sie sah und dabei denken mußte, um sie der Verfolgung zu entziehen, die meine Liebe über sie verhängte, habe ich durch meinen Namen Schande und Herabwürdigung auf den ihrigen gebracht. Ich müßte für alle künftigen Zeiten in ihren Augen als das einzige Geschöpf dastehen, vor dem zum ersten Male ihre reine Seele als vor einer schuldbeladenen Verbrecherin zurückbebte – wenn ich alles dies vergesse, o Gatte, von dem ich fortan geschieden bin, so will ich auch diese letzten zwei Jahre vergessen, das Geschehene wieder gutmachen und dich nicht mehr täuschen.«
Ihre blitzenden Augen, die für einen Moment sich gehoben hatten, fielen nun wieder auf Carker, dem sie in ihrer Linken nun einige Briefe hinhielt.
»Seht her!« sagte sie verächtlich. »Ihr habt sie unter der falschen Adresse, unter der Ihr geht, an mich adressiert; der eine traf mich hier, der andere unterwegs. Die Siegel sind unerbrochen. Nehmt sie zurück!«
Sie zerdrückte sie in ihrer Hand und warf sie ihm vor die Füße. Dann sah sie ihn aufs neue an, und ein Lächeln lag auf ihrem Gesicht.
»Wir sind in dieser Nacht zusammengetroffen, um uns für immer zu trennen«, fuhr sie fort. »Ihr ließt Euch zu bald von sizilianischen Tagen und sinnlicher Ruhe träumen. Ihr hättet in Eurer Verräterrolle noch eine Weile fortschmeicheln und wedeln sollen, um reicher zu werden. Euer genußsüchtiges Zurückziehen ist teuer erkauft.«
»Edith!« rief er, ihr mit der Hand drohend. »Setzt Euch nieder und macht dieser Geschichte ein Ende! Von welchem Teufel seid Ihr besessen?«
»Ihr Name ist Legion«, versetzte sie, ihre stolze Gestalt aufrichtend, als hätte sie ihn unter ihre Füße treten mögen. »Ihr beiden, Ihr und Euer Gebieter, habt sie in einem gedeihlichen Hause herangezogen, und sie werden Euch zerreißen. Ein Lügner gegen ihn, ein Lügner an seinem unschuldigen Kind, falsch überall und in jeder Weise, mögt Ihr hingehen und mit mir großtun, während Ihr Euch zähneknirschend sagen müßt, daß Ihr ein Lügner seid.«
Flüche murmelnd und drohend stand er vor ihr und sah sich nach etwas um, das ihm behilflich sein könnte, sie zu überwältigen; aber sie leistete mit demselben nicht zu erschütternden Geiste ihm Widerstand.
»In jeder von Euren Prahlereien liegt ein Triumph für mich«, sagte sie. »Ich wähle in Euch geradezu den gemeinsten Menschen, den ich kenne, den Schmarotzer und das Werkzeug des stolzen Tyrannen, damit die Wunde für ihn noch tiefer und schmerzlicher sei. Rühmt Euch immerhin und rächt mich an ihm! Ihr wißt, wie Ihr heute hierher kamt. Ihr wißt, wie geduckt Ihr dort steht. Ihr seht Euch in ganz so verächtlichen, wenn auch nicht in den verhaßten Farben, in denen Ihr mir erscheint. Rühmt Euch nur und rächt mich an Euch selbst.«
Seine Lippen schäumten, und der Schweiß stand auf seiner Stirne. Hätte sie einmal, wenn auch nur für einen halben Moment, gezaudert, so würde er sie ergriffen haben. Aber sie blieb so fest wie ein Fels, und ihre forschenden Augen hafteten unverwandt auf ihm.
»Wir kommen nicht so auseinander«, sagte er. »Glaubt Ihr, ich sei ein solcher Narr, um Euch in Eurer wahnsinnigen Stimmung gehen zu lassen?«
»Glaubt Ihr, daß man mich zurückhalten könne?« antwortete sie.
»Ich will’s versuchen, mein Schatz«, versetzte er mit einer wilden Bewegung seines Kopfes.
»Gott sei Euch gnädig, wenn Ihr es versucht, mir nahe zu kommen!« entgegnete sie.
»Und wie, wenn nun meinerseits die von Euch erwarteten Großtuereien und Prahlereien nicht stattfänden?« sagte er. »Wie, wenn auch ich umwendete? Ihr seht!« und seine Zähne kamen wieder ein wenig zum Vorschein, »wir müssen hierüber einen Vertrag abschließen, da sonst ich eine unerwartete Richtung einschlagen könnte. Setzt Euch nieder – setzt Euch nieder!«
»Zu spät!« rief sie mit Augen, die Feuer zu sprühen schienen. »Ich habe meinen Ruf und meinen guten Namen in die Winde geworfen! Ich habe beschlossen, die Schande zu tragen, die sich an mich heften wird – habe beschlossen, sie zu tragen, obschon wir beide wissen, daß sie mich nicht mit Recht trifft, nur damit er den wahren Sachverhalt nicht erfahre, was nicht der Fall sein wird oder kann. Und wenn ich sterben sollte, so würde ich durch kein Zeichen das Gegenteil verraten. Deshalb bin ich hier mit Euch allein mitten in der Nacht. Deshalb bin ich unter einem falschen Namen als Eure Frau hier mit Euch zusammengekommen. Deshalb blieb ich zurück, nachdem ich hier von jenen Männern gesehen wurde. Nichts kann Euch mehr retten.«
Er hätte seine Seele darum gegeben, wenn er imstande gewesen wäre, sie in ihrer Schönheit zu Boden zu reißen und ihren Hals zu umstricken, bis ihr die Arme an den Seiten niedersanken und sie seiner Gnade preisgegeben gewesen wäre. Aber er konnte nicht nach ihr hinsehen, ohne von Scheu erfüllt zu werden. Er bemerkte eine Kraft in ihr, gegen die kein Widerstand etwas fruchtete – sah, daß sie verzweifelt war und daß ihr unvertilgbarer Haß gegen ihn vor nichts zurückbeben würde. Seine Augen folgten der Hand, die mit so wilder, trotziger Entschlossenheit in den weißen Busen griff, und er glaubte, wenn sie nach ihm einen Fehlstoß täte, dürfte sie wohl ebenso bald das eigene Herz zu treffen wissen.
Er wagte es daher nicht, ihr näher zu kommen. Aber die Tür, durch die er eingetreten war, befand sich hinter ihm, und er ging zurück, um sie zu schließen.
»Hört noch zum Schluß meine Warnung – seht Euch vor!« sagte sie mit einem abermaligen Lächeln. »Gleich allen Verrätern seid auch Ihr verraten worden. Man hat erfahren, daß Ihr hier seid, hier sein werdet oder hier gewesen seid. So wahr ich lebe, ich sah heute abend meinen Gatten in der Straße fahren!«
»Elende, es ist nicht wahr!« rief Carker.
In diesem Augenblick erscholl laut die Klingel der Halle. Er erblaßte, da sie ihre Hand gleich einer Zauberin erhob, auf deren Ruf der Schall ertönt war.
»Horcht! Hört Ihr es?«
Er lehnte den Rücken gegen die Tür; denn er bemerkte eine Veränderung an ihr und bildete sich ein, sie wolle an ihm vorbeigehen. Im Augenblick jedoch war sie durch die andere Tür, die nach dem Schlafgemach führte, entwischt und hatte diese hinter sich zugedrückt.
Nachdem sie sich umgewandt hatte und in ihrem trotzigen, gebieterischen Blick einmal ein Wechsel vorgegangen war, fühlte er, daß er mit ihr ringen könne. In dem Glauben, ein plötzlicher Schrecken, durch den nächtlichen Lärm veranlaßt, habe sie zu Paaren getrieben und bei ihrer großen Überreiztheit eine um so tiefere Abspannung hervorgerufen, riß er die Tür auf und folgte ihr fast augenblicklich.
Aber das Zimmer war dunkel, und da sie auf seinen Ruf nicht antwortete, so mußte er wieder zurück, um die Lampe zu holen. Er hielt sie in die Höhe und sah sich überall um, ob er sie nicht in eine Ecke geduckt finde. Doch das Gemach war leer. Er durchspähte daher mit den unsicheren Tritten eines Mannes, der sich an einem fremden Ort aufhält, der Reihe nach das Speise- und Besuchzimmer, schaute furchtsam umher und suchte hinter den Schirmen und Sofas; aber sie war nicht da. Auch in der Halle befand sie sich nicht; denn diese war so leer, daß er sich mit einem einzigen Blick von dieser Tatsache überzeugen konnte.
Er nahm die Lampe wieder auf und kam rasch durch sämtliche Gemächer wieder zurück, wobei er jedesmal mit über dem Kopf erhobenen Licht eine kurze Weile haltmachte, um sich nach ihr umzusehen. So stand er auch in dem Schlafgemach, als ihm die Tür auffiel, die nach dem kleinen Gang in der Mauer führte. Er ging auf sie zu und fand sie von außen verschlossen; aber die Flüchtige hatte beim Durchgehen ihren Schleier fallen lassen, der in den Falz eingeklemmt war.
Diese ganze Zeit über wurde auf der Treppe draußen an der Klingel gerissen und mit Händen und Füßen geklopft. Er war nicht feig – aber diese Töne, das Vorgegangene, die Fremdheit des Platzes, die ihn sogar auf der Rückkehr von der Halle verwirrt hatte, die Vereitelung seiner Entwürfe (denn er würde viel kühner gewesen sein, wenn sie gelungen wären), die unpassende Zeit, das Bewußtsein, daß er niemanden in der Nähe hatte, vor allem aber das plötzliche Gefühl, unter dem ihm sein Herz bleischwer klopfte, daß der Mann, dessen Vertrauen er verletzt und den er so tückisch hintergangen hatte, zugegen sei, um ihm die Maske vom Gesicht zu reißen und ihn zu fordern; alles das jagte ihm einen panischen Schrecken ein. Er versuchte sich an der Tür, in die der Schleier eingeklemmt war, konnte sie aber nicht aufbringen. Dann öffnete er eines der Fenster und sah durch die Zwischenräume der Jalousien in den Hof hinunter; doch es war ein hoher Sprung, und die Steine kannten kein Erbarmen.
Das Klingeln und Klopfen hielt an – ebenso sein Schrecken. Er begab sich nach der Schlafzimmertür zurück, und durch eine erhöhte Kraftanstrengung gelang es ihm, sie aufzureißen. Er bemerkte die nahe kleine Treppe und fühlte die Nachtluft heraufkommen, weshalb er sich zurückschlich, um Hut und Überrock zu holen. Nachdem er die Türe so gut wie möglich hinter sich abgesperrt hatte, stieg er leisen Schritts hinunter, löschte, sobald er der Straße ansichtig wurde, die Lampe, stellte sie in eine Ecke und ging hinaus ins Licht der Sterne.