Achtes Kapitel

Wie Mr. Winkle, anstatt auf Mr.Tupman zu zielen und die Krähe zu töten, auf die Krähe schoß und Mr. Tubman traf; wie der Kricketklub von Dingley Dell gegen Muggleton spielte und wie Muggleton auf Kosten von Dingley Dell speiste, nebst andern anziehenden und lehrreichen Vorfällen.

Die Strapazen des Tages oder die einschläfernde Wirkung Erzählung des Geistlichen hatten einen solchen Einfluß auf Mr. Pickwick ausgeübt, daß er wenige Minuten, nachdem er in sein behagliches Schlafzimmer geführt worden war, in einen gesunden und traumlosen Schlaf verfiel, aus dem er nicht eher erwachte, als bis die goldenen Strahlen der Morgensonne vorwurfsvoll in sein Zimmer schienen. Von Natur jeder Untätigkeit abhold, sprang Mr. Pickwick aus dem Bette wie ein streitbarer Krieger aus seinem Zelt.

„Herrliche, herrliche Gegend“, seufzte er begeistert, als die Jalousien öffnete. „Wer möchte da noch Tag für Tag auf Ziegel- und Schieferdächer starren, wenn er jemals die Wonnen einer solchen Natur empfunden? Wer möchte da bleiben, wo man keine andern Kühe sieht als die Kühe auf den Porzellantöpfen, kein andres Gestein als das Pflaster?“

Die süßen Wohlgerüche der Rosenhecken drangen zu ihm empor, die balsamischen Düfte des kleinen Blumengartens füllten die Luft um ihn her, die dunkelgrünen Wiesen glänzten im Morgentau, der auf jedem Blättchen schimmerte, wie es im sanften Lufthauch erzitterte, und die Vögel sangen, als wäre jeder funkelnde Tropfen eine Quelle der Begeisterung. Mr. Pickwick versank in eine süße, wonnige Träumerei, aus der ihn plötzlich ein lautes „Hallo“ weckte.

Er wandte sich nach rechts, sah aber niemand, er spähte nach links und suchte, irgend etwas Außergewöhnliches zu entdecken. Alles vergeblich. Er sah zu den Wolken empor, aber sie schienen sein nicht zu begehren. Endlich tat er, was ein gewöhnlicher Mensch gleich anfangs getan haben würde: er sah in den Garten, und richtig – da stand Mr. Wardle.

„Ausgeschlafen?“ fragte der gutmütige Herr fröhlich. „Ein schöner Morgen, wie? Freut mich, daß Sie so früh auf sind. Geschwind, kommen Sie herunter, ich warte hier auf Sie.“

Mr. Pickwick ließ sich das nicht zweimal sagen, und nach 7ehn Minuten stand er an der Seite des alten Herrn.

„Hallo!“ sagte er, als er seinen Wirt, mit einer Flinte bewaffnet und eine zweite neben ihm im Grase, sah. „Was haben Sie vor?“

„Ihr Freund und ich wollen vor dem Frühstück ein paar Krähen schießen. Er ist doch ein famoser Schütze – oder?“

„Er behauptet es wenigstens“, erwiderte Mr. Pickwick. „Allerdings war ich noch nie Zeuge.“

„Na“, sagte der alte Herr, „ich wollte, er käme endlich. Joe – Joe!“

Der fette Junge, der unter dem belebenden Einfluß der Morgenluft nicht halb so schläfrig zu sein schien als sonst, trat aus dem Hause.

„Geh hinauf und rufe den Herrn. Sag ihm, er kann mich und Mr. Pickwick beim Krähenhorst finden. Zeig dem Herrn den Weg, hörst du?“

Der Knabe entfernte sich gehorsam, und der alte Herr verließ, ein zweiter Robinson Crusoe, beide Flinten auf den Schultern, mit seinem Begleiter den Garten.

„Hier sind wir an Ort und Stelle“, sagte er, als sie nach einem Gang von wenigen Minuten in eine Allee gekommen waren.

Die Bemerkung war unnötig, denn das unaufhörliche Gekrächze der ahnungslosen Krähen verriet ihren Aufenthalt ohne weiteres.

Der alte Herr legte die eine Flinte auf den Boden und lud die andre.

„Da kommen sie“, sagte Mr. Pickwick und deutete auf die Gestalten der Herren Tupman, Snodgraß und Winkle im Hintergrunde. Der fette Junge, ungewiß, welchen Herrn er holen sollte, brachte scharfsinnigerweise alle drei, um jedem Irrtum vorzubeugen.

„Kommen Sie“, rief der alte Wardle, sich an Mr. Winkle wendend, „ein Nimrod wie Sie sollte schon lange bei der Hand sein, und wenn’s sich auch nur um Krähen handelt.“

Mr. Winkle antwortete mit einem gezwungenen Lächeln und nahm die herrenlose Flinte mit der Miene eines philosophischen armen Sünders, der den Tod durch den Strick vor sich sieht. Vielleicht war es Mut, aber immerhin sah es der Angst merkwürdig ähnlich.

Der alte Herr winkte, und zwei zerlumpte Jungen begannen alsbald auf zwei der Bäume zu klettern.

„Was haben die Burschen vor?“ fragte Mr. Pickwick hastig.

Er war etwas unruhig, denn er wußte nicht, ob sich die Jungen nicht vielleicht aus Armut, wie er schon so oft gehört hatte, zur Zielscheibe ungeschickter Schützen hergeben wollten, um sich durch dieses gefährliche Mittel einen kläglichen Erwerb zu sichern.

„Nur das Wild zu stellen“, antwortete Mr. Wardle lachend.

„Wozu?“ fragte Mr. Pickwick.

„Nun, in schlichten Worten: um die Krähen aufzuscheuchen.“

„Oh! Sonst nichts?“

„Sind Sie jetzt beruhigt?“

„Vollkommen.“

„Schön. Soll ich anfangen?“

„Wie’s gefällig ist“, sagte Mr. Winkle, froh ob der Galgenfrist.

„Treten Sie zur Seite. Also los.“

Der Junge schrie und schüttelte einen Ast, auf dem sich ein Nest befand. Ein halb Dutzend junger Krähen, in lebhafter Unterhaltung begriffen, flog auf, um zu sehen, was es gäbe. Der alte Herr gab Feuer. Eine fiel herunter, und die andern flogen davon.

„Nimm sie, Joe“, sagte der alte Herr.

Ein Lächeln umspielte das Antlitz des Jungen. Unbestimmte Visionen von einer Krähenpastete umgaukelten seine Seele. Er lachte, als er mit dem Vogel zurückkam. – Er war sehr fett. Der Vogel nämlich.

„Nun, Mr. Winkle“, sagte der alte Herr, seine Flinte von neuem ladend, „schießen Sie!“

Mr. Winkle trat vor und legte an. Mr. Pickwick und seine Freunde bückten sich unwillkürlich, um den Krähen auszuweichen, die, wie sie zuversichtlich glaubten, auf den mörderischen Schuß ihres Freundes hageldicht herabfallen würden. Eine feierliche Pause – die Jungen auf den Bäumen schreien – Flügelschläge – ein Laut wie vom Schnappen eines Hahnes.

„Hallo?“ rief der alte Herr.

„Will es nicht losgehen?“ fragte Mr. Pickwick.

„Es hat versagt“, antwortete Mr. Winkle, totenbleich, wahrscheinlich vor Enttäuschung.

„Seltsam“, sagte der alte Herr, die Flinte betrachtend. „Sie hat noch nie versagt. Aber Sie haben ja kein Zündhütchen drauf.“

„Meiner Treu“, sagte Mr. Winkle, „das habe ich ganz vergessen.“

Die Sache war bald in Ordnung gebracht, und Mr. Pickwick bückte sich abermals. Mr. Winkle trat mit entschloßner Miene vor, und Mr. Tupman lugte hinter einem Baum hervor. Der Junge schrie – vier Vögel flogen auf. Mr. Winkle drückte ab. Da. Ein Schrei. – Nicht von einer Krähe. – Ein Angstschrei. Mr. Tupman hatte das Leben unzähliger Krähen gerettet, indem er einen Teil der Ladung mit dem linken Arm aufgefangen hatte.

Die Verwirrung, die jetzt folgte, spottete jeder Beschreibung. In der ersten Aufregung nannte Mr. Pickwick Mr. Winkle ein „Scheusal“, Mr. Tupman lag am Boden, und Mr. Winkle kniete, von Entsetzen geschüttelt, neben ihm. Mr. Tupman flüsterte, geistesabwesend, einen weiblichen Taufnamen und schloß zuerst das eine und dann das andre Auge. Erst allmählich kehrte er wieder ins Leben zurück, als man seinen Arm mit Taschentüchern verband und ihn, gestützt, langsamen Schrittes nach Hause führte.

So näherte sich der Zug dem Landhaus. Die Damen standen an der Gartentür und warteten auf die Ankunft der Schützen zum Frühstück. Die jugendliche Tante zeigte sich, lächelte und winkte den Herren, schneller zu gehen. Sie ahnte nicht, was vorgefallen. Armes Geschöpf! Es gibt Fälle im menschlichen Leben, wo Unwissenheit ein Glück ist. Sie kamen näher.

„Aber was hat denn der alte Herr?“ fragte Isabella Wardle.

Jungfer Tante achtete nicht auf die spöttische Frage; sie glaubte, sie bezöge sich auf Mr. Pickwick. In ihren Augen war Tracy Tupman ein Jüngling; sie betrachtete seine Jahre durch ein Verkleinerungsglas.

„Nur keine Aufregung“, rief Mr. Wardle, um seine Töchter nicht zu beunruhigen, die wegen des Gedränges um Mr. Tupman die wahre Natur des Unfalls nicht genau zu erkennen vermochten. „Nur keine unnötige Aufregung.“ „Was ist denn geschehen?“ riefen die Damen. „Mr. Tupman ist ein kleiner Unfall zugestoßen. Das ist alles.“

Die jungfräuliche Tante stieß einen durchdringenden Schrei aus, bekam einen hysterischen Lachkrampf und sank ihren Nichten in die Arme.

„Bespritzt sie mit kaltem Wasser“, riet der alte Herr.

„Nein, nein“, murmelte die jungfräuliche Tante, „es ist mir schon besser. Bella, Emilie, einen Arzt! Ist er verwundet? – Ist er tot? – Ist er … Hahaha!“ Ein zweiter Lach- und Weinkrampf befiel sie.

„Beruhigen Sie sich“, sagte Mr. Tupman, durch diesen Beweis von Teilnahme bis zu Tränen gerührt. „Teuerstes Fräulein, beruhigen Sie sich.“

„Es ist seine Stimme!“ rief die Tante, und heftige Symptome eines dritten Anfalls stellten sich ein.

„Seien Sie unbesorgt, ich bitte Sie, meine Teuerste“, bat Mr. Tupman in einschmeichelndem Ton. „Die Verletzung ist ganz unbedeutend, ich versichere es Ihnen.“

„So sind Sie also nicht tot?“ schrie die hysterische Dame. „Oh, sagen Sie, daß Sie nicht tot sind.“

„Sei nicht närrisch, Rachel“, mengte sich Mr. Wardle in etwas rauherem Tone ein, als sich mit der poetischen Natur des Auftrittes vertrug. „Was zum Teufel soll es denn helfen, wenn er sagt, er sei nicht tot.“

„Nein, nein, ich bin nicht tot“, versicherte Mr. Tupman. „Ich verlange keinen Beistand als den Ihren. Erlauben Sie, daß ich mich auf Ihren Arm stütze. – Ach, Miß Rachel!“ fügte er flüsternd hinzu.

Bebend trat die Dame vor und bot ihm den Arm. So gingen sie ins Frühstückszimmer. Mr. Tracy Tupman drückte ihre Hand zärtlich an seine Lippen und sank auf das Sofa.

„Fühlen Sie sich schwach?“ fragte Miß Rachel besorgt.

„Nein“, antwortete Mr. Tupman. „Es ist nichts. Es wird mir im Augenblick wieder wohler sein.“ – Er schloß die Augen.

„Er schläft“, flüsterte Miß Wardle, denn seine Sehwerkzeuge blieben nahezu zwanzig Sekunden geschlossen. „Geliebter – geliebter – Mr. Tupman!“

Mr. Tupman sprang auf. „Oh, sagen Sie diese Worte noch einmal!“ rief er aus.

Die Dame war äußerst verwirrt. „Sie haben es doch nicht gehört?“ fragte sie, vor Scham errötend.

„Ja, ich habe sie gehört“, versetzte Mr. Tupman. „Wiederholen Sie. Wenn Sie wünschen, daß ich genesen soll, wiederholen Sie.“

„Pst!“ flüsterte die Dame. „Mein Bruder.“

Mr. Tracy Tupman nahm seine frühere Lage wieder ein, und Mr. Wardle trat mit einem Arzt ins Zimmer.

Der Arm wurde untersucht, die Wunde verbunden und für höchst unbedeutend erklärt. Die Gesellschaft war beruhigt und ging wieder mit fröhlichem Gesicht an die Befriedigung ihres Appetits. Nur Mr. Pickwick war verstimmt und sprach kein Wort. Zweifel und Enttäuschung spiegelten sich in seinen Zügen. Sein Vertrauen auf Mr. Winkle hatte durch die Vorfälle des Morgens einen argen Stoß erlitten.

„Spielen Sie Kricket?“ fragte Mr. Wardle den Schützen. Zu jeder andern Zeit würde Mr. Winkle die Frage unbedingt bejaht haben. Aber jetzt fühlte er das Prekäre seiner Lage und hauchte ein bescheidenes: „Nein.“

„Und Sie?“ fragte Mr. Snodgraß.

„Jetzt nicht mehr“, antwortete der alte Herr, „ich habe es aufgegeben; ich gehöre zwar noch dem hiesigen Klub an, spiele aber selbst nicht mehr.“

„Heute findet, glaube ich, ein großes Match statt?“ fragte Mr. Pickwick.

„Ja“, erwiderte der alte Herr. „Sie werden doch zusehen kommen?“

„Ich wohne sehr gern jederlei Sport bei“, versetzte Mr. Pickwick, „wenn man dabei seines Lebens sicher ist und nicht Gefahr läuft, durch die ungeschickte Hand unerfahrener Leute Schaden zu nehmen.“ Er schwieg und sah starr auf Mr. Winkle, der unter seinen Flammenblicken beinahe in die Erde sank. Nach einigen Minuten wandte der große Mann seine Augen weg und fügte hinzu: „Können wir mit gutem Gewissen den Verwundeten der Pflege der Damen überlassen?“

„Sie können mich in keinen besseren Händen wissen“, sagte Mr. Tupman.

„Unmöglich“, bestätigte Mr. Snodgraß.

So wurde denn beschlossen, Mr. Tupman solle unter der Pflege der Damen zu Hause bleiben und die übrige Gesellschaft mit Mr. Wardle an der Spitze dem Match beiwohnen, das Muggleton aus seinem Schlummer geweckt und Dingley Dell in ein heftiges Fieber versetzt hatte.

Da ihr Weg, der mehr als zwei englische Meilen betrug, ;durch schattige Heckengänge und schmale Fußpfade führte und sich ihre Unterhaltung immerwährend um die reizende Landschaft drehte, die sie rings umgab, war Mr. Pickwick beinahe geneigt, den Ausflug zu bereuen, als er sich plötzlich mitten in der Hauptstraße der Stadt Muggleton befand.

Neugierig und wissensdurstig blickte er um sich. Er sah einen viereckigen Marktplatz und in dessen Mittelpunkt einen großen Gasthof mit einem Schild, das ein in der Kunst sehr gewöhnliches, in der Natur aber höchst seltenes Geschöpf darstellte: einen blauen Löwen, der drei Beine in die Lüfte streckte und auf der Spitze der mittleren Klaue des vierten balancierte. In der Nähe wohnten ein Auktionator, ein Agent der Feuerversicherungsgesellschaft, ein Kornhändler, ein Leinweber, ein Sattler, ein Branntweinbrenner, ein Spezereikrämer und ein Schuhmacher, in dessen Laden außer den Erzeugnissen für Fußbekleidung auch noch Hüte, Mützen, Anzüge, baumwollne Regenschirme und Artikel für Allgemeinwissen zu haben waren. Einige Jungen eilten dem Schauplatze des Wettspiels zu, und zwei oder drei Krämer standen in ihren Ladentüren und sahen aus, als hätten sie ebenfalls Lust, der Festlichkeit beizuwohnen, was sie auch ohne große Beeinträchtigung ihres Berufs getrost hätten wagen dürfen. Nachdem Mr. Pickwick diese Beobachtungen angestellt hatte, um sie später in sein Gedenkbuch einzutragen, eilte er schnellen Schrittes seinen Freunden nach, die die Hauptstraße verlassen hatten und bereits den Kampfplatz in der Ferne vor sich sahen.

Die Wickets waren bereits ausgesteckt, und ein paar Rast- und Erfrischungszelte für die Teams und die Zuschauer aufgeschlagen. Noch hatte das Spiel nicht begonnen. Zwei oder drei Dingley-Deller und einige Muggletoner belustigten sich damit, den Ball mit blasierter Miene von Hand zu Hand zu schlagen; einige andere Gentlemen in demselben Dreß, mit Strohhüten, Flanelljacken und weißen Hosen, ein Anzug, in dem sie wie Amateursteinmetze aussahen, standen um die Zelte herum, und Mr. Wardle führte seine Gesellschaft eben in eins derselben.

Einige Dutzend „Äh, Befinden?“ schallten dem alten Herrn entgegen, und ein allgemeines Hutlüften und Verbeugen der Flanelljacken folgten der Vorstellung seiner Gäste, dreier Herren aus London, die außerordentlich begierig wären, dem Ereignis des Tages beizuwohnen.

„Wollen Sie nicht lieber ins Hauptzelt treten, Sir?“ fragte ein sehr stattlich aussehender Gentleman, dessen untere Hälfte einem halbierten gigantischen Flanellballen glich, aus dem ein Paar aufgeblasene Kissenüberzüge als Beine herausragten.

„Sie sehen es hier am besten“, riet ein andrer stattlicher

Gentleman, der genau der zweiten Hälfte des erwähnten Flanellballens entsprach.

„Sie sind sehr gütig“, versetzte Mr. Pickwick.

„Hierher!“ sagte der erstgenannte Gentleman. „Hier wird gekerbt – es ist der beste Punkt auf dem ganzen Felde“, und schritt der Gesellschaft voran in das bezeichnete Zelt.

„Kapitalspiel – famoser Sport – feines Match“, waren die Worte, die an Mr. Pickwicks Ohren schlugen, als er in das Zelt trat, und das erste, was er sah, war sein grüngekleideter Freund aus der Postkutsche in Rochester, der gerade vor einem auserlesenen Kreise von Muggletonern zur nicht geringen Ergötzung und Erbauung seines Auditoriums einen Vortrag hielt. Sein Anzug hatte sich ziemlich gebessert, und er trug Halbschuhe, aber an seiner Identität war nicht zu zweifeln.

Auch der Fremde erkannte die Freunde sogleich. Er sprang auf, nahm Mr. Pickwick bei der Hand und führte ihn mit seiner gewohnten Hast zu einem Sitz, unaufhörlich schwatzend, als ob das ganze Fest unter seiner besonderen Leitung stände.

„Hierher – hierher – Kapitalspaß – massenhaft Bier – Rinderviertel – ganze Ochsen – Senf – Wagen voll – glorreicher Tag – setzen Sie sich – tun Sie, als ob Sie zu Hause wären – freut mich, Sie zu sehen – außerordentlich.«

Mr. Pickwick setzte sich, aber auch Mr. Winkle und Mr. Snodgraß unterwarfen sich dem Willen ihres geheimnisvollen Freundes. Mr. Wardle sah mit stummer Verwunderung zu.

„Mr. Wardle, ein Freund von mir“, stellte Mr. Pickwick vor.

„Freund von Ihnen? – Werter Herr, wie befinden Sie sich? – Ein Freund von meinem Freund. Ihre Hand, Sir!“

Der Fremde ergriff Mr. Wardles Hand mit der Glut einer mehrjährigen innigen Freundschaft, trat dann einen oder zwei Schritte zurück, als wollte er ihn erst recht genau von Angesicht zu Angesicht betrachten, und schüttelte dann seine Hand von neuem und womöglich noch wärmer als zuvor.

„Hm. Und wie kommen Sie eigentlich hierher?“ fragte Mr. Pickwick mit einem Lächeln, in dem Wohlwollen mit Überraschung kämpfte.

„Hierher kommen?“ erwiderte der Fremde. „In der ,Krone‘ abgestiegen – ,Krone‘ in Muggleton – Gesellschaft getroffen – Flanelljacken – weiße Hosen – Sandwiches mit Sardellen – Pfeffernieren – splendide Jungens – glorreich.“

Mr. Pickwick war mit dem stenographischen System des Fremden hinlänglich vertraut, um aus seinen abgebrochenen Mitteilungen zu entnehmen, daß er auf die eine oder andre Weise mit den Muggletonern eine Bekanntschaft angeknüpft und sie, vermittels des ihm eignen Verfahrens, bis zur Kameradschaft gesteigert hatte, worauf wahrscheinlich eine allgemeine Einladung erfolgt war. Mr. Pickwicks Wißbegier war somit befriedigt; er setzte seine Brille auf und schickte sich an, dem Spiele zuzusehen, das eben seinen Anfang nahm.

Muggleton hatte die ersten Innings, und die Spannung war ungeheuer, als die beiden berühmtesten Mitglieder des ausgezeichneten Klubs, Mr. Dumkins und Mr. Podder, mit den Bats in der Hand an ihre Wickets traten. Mr. Luffey, der Stolz Dingley Dells, hatte gegen den furchtbaren Dumkins den Ball zu werfen und Mr. Struggles seinerseits dem bisher unbesiegten Podder denselben Liebesdienst zu erweisen. Einige Spieler wurden aufgestellt, an verschiedenen Stellen des Feldes „aufzupassen“, und jeder nahm die erforderliche Stellung an, indem er die Hände auf die Knie stemmte, wie zum Bocksprung. Jeder Kricketer weiß, daß das so sein muß und daß es unmöglich ist, in irgendeiner andern Stellung gehörig aufzupassen.

Die Schiedsrichter stellten sich hinter die Wickets; die Skorer waren bereit zu kerben, und eine atemlose Stille trat ein. Mr. Luffey zog sich einige Schritte hinter das Wicket des untätigen Podder zurück und hielt einige Sekunden lang den Ball an sein rechtes Auge. Dumkins erwartete voll Zuversicht dessen Ankunft, die Blicke unverwandt auf Luffey geheftet,

„Play!“ rief plötzlich der Bowler.

Pfeilschnell flog der Ball aus Luffeys Hand geradenweges auf den mittleren Stab des Wickets zu. Aber Dumkins war auf der Hut; er fing ihn mit der Spitze seines Ballholzes auf und ließ ihn über die Köpfe der Aufpasser wegfliegen, die sich gerade tief genug bückten, um ihn über sich wegsausen zu lassen.

Die Sterne standen ungünstig für Dingley Dell.

Podder erntete Lorbeeren genug, um sich und ganz Muggleton damit zu bekränzen. Er schlug die zweifelhaften Bälle nieder, ließ die schlechten durch, fing die guten auf und gab sie nach allen Richtungen zurück; die Aufpasser waren erhitzt und müde; die Ballwerfer wechselten ab und bowlten, bis sie den Arm nicht mehr heben konnten; nur Dumkins und Podder blieben unermüdlich. Versuchte es ein älterer Herr, den Flug eines Balles zu hemmen, so rollte er ihm zwischen die Beine oder schlüpfte ihm durch die Hände. Wollte ihn ein flinker junger Mann auffangen, traf er ihn auf die Nase und flog mit doppelter Kraft lustig zurück, während sich die Augen des flinken jungen Mannes mit Tränen füllten. Schließlich zählte Muggleton vierundfünfzig, während das Kerbholz der Dingley-Deller so weiß war wie ihre Gesichter; der Vorsprung war zu groß, um wieder eingeholt werden zu können. Vergebens boten der gewandte Luffey und der selbstlose Struggles ihre ganze Geschicklichkeit und Erfahrung auf, um das Feld wieder zu erobern, das Dingley Dell im Kampfe verloren hatte; es war umsonst. Dingley Dell gab auf und erkannte damit Muggleton als Sieger an.

Der Fremde hatte mittlerweile rastlos gekaut, getrunken und gesprochen. Bei jedem guten Schlag drückte er in der herablassenden Weise des Gönners seine Zufriedenheit und seinen Beifall aus, wodurch sich die betreffende Partei notwendigerweise sehr geschmeichelt fühlen mußte, während er bei jedem Fehlschlag vor seinen demütigen Zuhörern sein persönliches Mißfallen durch die Worte: „Tj, tj – zu dumm – Butterfinger – fi – Patzer –“ und ähnliche Ausrufe zu erkennen gab: Ausrufe, die ihn in den Augen sämtlicher Anwesenden als einen vorzüglichen Kenner aller Mysterien des edlen Kricketspiels erscheinen ließen.

„Kapitalmatch – sauber hingelegt – einige bewundernswürdige Schläge“, sagte der Fremde, als sich nach dem Spiele beide Parteien im Zelt versammelten.

„Haben Sie früher auch Kricket gespielt, Sir?“ fragte Mr. Wardle, den die Geschwätzigkeit des Fremden ungemein amüsierte. „Gespielt? Will ich meinen – tausendmal – nicht hier – Westindien – ungeheure Anstrengung – heiße Arbeit – sehr heiß.“

„Es muß freilich unter jenem Himmelsstrich keine Kleinigkeit sein“, bemerkte Mr. Pickwick.

„Kleinigkeit? – Heiß – brennend heiß – rotglühend. Spielte einmal ein Match – ein einziges Wicket – mein Freund, der Oberst – Sir Thomas Blazo – wer die meisten Läufe bekommen sollte. – Gewann den Wurf – Vorhand – sieben Uhr abends – sechs Eingeborene zum Aufpassen – kamen. Hielten mit – enorme Hitze – die Eingebornen alle ohnmächtig – weggebracht – frisches halbes Dutzend aufgestellt – auch ohnmächtig – Blazo bowlt – von zwei Eingebornen unterstützt – konnte mich nicht ausbowlen – auch ohnmächtig – Oberst weggebracht – wollten sich nicht ergeben – treuer Diener – Quanko Samba – der letzte Mann übrig – Sonne so heiß, daß die Ballhölzer kohlten und der Ball schwarz wurde – fünfhundertundsiebzig Läufe – ganz erschöpft – Quanko strengte seine letzten Kräfte an – bowlte mich aus. – Ich nahm ein Bad und ging zum Essen.“

„Und was wurde aus dem … Wie nannten Sie ihn, Sir?“ fragte ein alter Herr.

„Blazo?“

„Nein, der andre.“

„Quanko Samba?“

„Ja.“

„Armer Quanko – erholte sich nicht mehr – ausgebowlt. – Tot, Sir.“ Der Fremde begrub sein Gesicht in einen braunen Krug; ob er seine Rührung verbergen oder sich den Inhalt einverleiben wollte, ist nicht mehr festzustellen. Wir wissen nur, daß er plötzlich absetzte, lang und tief Atem schöpfte und sich neugierig umsah, als zwei von den ersten Mitgliedern des Dingley-Dell-Klubs mit den Worten zu Mr. Pickwick traten:

„Wir haben im ,Blauen Löwen‘ ein Festessen, Sir, und hoffen, Sie und Ihre Freunde werden uns die Ehre schenken.“

„Natürlich“, sagte Mr. Wardle. „Zu unsern Freunden zählen wir auch Mr. –“, hier sah er den Fremden an.

„– Jingle“, ergänzte der weltgewandte Gentleman. „Jingle – Alfred Jingle, Esq. von Ohneschloß, Nirgendheim.“

„Es wird mir ein großes Vergnügen sein“, bedankte sich Mr. Pickwick.

„Mir auch“, bemerkte Mr. Alfred Jingle, nahm Mr. Pickwicks Arm und flüsterte ihm vertraulich ins Ohr: „Verteufelt gutes Essen – kalt, aber kapital – schielte diesen Morgen in die Küche – Geflügel, Pasteten und alles mögliche – famose Jungens, das – gut benommen – sehr gut.“

Da schon alle Vorbereitungen getroffen waren, schlenderte die Gesellschaft in Gruppen zu zwei und drei langsam in die Stadt, und nach Verlauf einer Viertelstunde saßen alle im großen Saal des „Blauen Löwen“ von Muggleton. – Mr. Dumkins führte den Vorsitz, und Mr. Luffey hatte die Würde des Vizepräsidenten.

Ein allgemeines Stimmengewirr und Messer-, Gabel- und Tellergeklapper erhoben sich. Drei dickköpfige Servierkellner liefen unaufhörlich aus und ein, und die handfesten Fleischstücke verschwanden mit Blitzesschnelle von der Tafel; zu all dieser Verwirrung trug der muntere Mr. Jingle wenigstens sechsmal soviel bei als irgendein andres Mitglied der Gesellschaft. Nachdem jeder gegessen hatte, so viel er konnte, wurde abgedeckt, um für Flaschen, Gläser und Dessert Platz zu machen. Die Kellner trugen ab oder, besser gesagt, retteten die Überreste der Speisen und Getränke aus dem Saal.

Mitten in dem allgemeinen Getöse der Tafelfreuden und der Gespräche bemerkte man einen kleinen Mann mit einem wichtigtuerischen Gesicht, das immer widersprechen zu wollen schien. Er sagte weiter kein Wort und warf nur zuweilen, wenn die Unterhaltung stockte, Blicke um sich, als wolle er irgend etwas höchst Bedeutsames vorbringen; dann und wann räusperte er sich auch mit einer unbeschreiblichen Würde. Endlich, während einer kleinen Pause, rief er mit sehr lauter, feierlicher Stimme:

„Mr. Luffey!“

Alles schwieg sofort, nur der Angeredete erwiderte:

„Sir?“

„Ich wünsche einige Worte an Sie zu richten, Sir, wenn Sie die Herren bitten wollen, ihre Gläser zu füllen.“

Mr. Jingle ließ begönnernd ein „Hört! Hört!“ vernehmen, das von den übrigen Mitgliedern der Gesellschaft wiederholt wurde, und nachdem die Gläser gefüllt waren, nahm der Vizepräsident eine Miene der gespanntesten Aufmerksamkeit an und sagte:

„Mr. Staple hat das Wort.“

„Sir“, begann der kleine Mann und erhob sich von seinem Sitz, „ich wünsche das, was ich zu sagen habe, an Sie zu richten, statt an unsern würdigen Präsidenten, weil unser würdiger Präsident gewissermaßen – ich darf sagen, in hohem Grade – der Gegenstand dessen ist, was ich zu sagen oder vielmehr – vielmehr –“

„– vorzutragen habe“, ergänzte Mr. Jingle.

„Ja, vorzutragen habe“, sagte der kleine Mann. „Ich danke meinem ehrenwerten Freunde, wenn er mir erlauben will, ihn so zu nennen“ – (vier „Hört, hört!“, von denen mindestens eines aus dem Munde Mr. Jingles kam) –, „daß er mir mit dem richtigen Wort ausgeholfen hat. Mein Herr, ich bin ein Deller – ein Dingley-Deller. (Beifall.) Ich kann keinen Anspruch auf die Ehre machen, ein Mitglied der Bevölkerung von Muggleton zu sein, und ich gestehe offen, Sir, ich begehre auch diese Ehre nicht, und warum nicht, sollen Sie sogleich hören, Sir. (Hört!) Ich gönne Muggleton von Herzen alle und jede Ehre und Auszeichnung, die es mit so großem Recht ansprechen kann. Seine Verdienste sind zu zahlreich und allgemein bekannt, als daß ich sie hier aufzählen müßte. Doch wenn Muggleton auch einen Dumkins und einen Podder hervorgebracht, so lasset uns andrerseits nicht vergessen, daß Dingley Dell einen Luffey und einen Struggles aufzuweisen hat. (Tosender Beifall.) Ich bitte nicht, etwa zu glauben, ich wolle die Verdienste der erstgenannten Herren herabsetzen. Nein, Sir; ich beneide Sie um Ihre Triumphe bei dieser Gelegenheit. (Beifall) Jeder der verehrten Anwesenden ist wahrscheinlich mit der Antwort des gewissen Weisen vertraut, die dieser von seiner Tonne aus dem Kaiser Alexander gab: .Wenn ich nicht Diogenes wäre, so möchte ich Alexander sein.‘ Ich stelle mir vor, die Herren hier denken auch: ,Wenn ich nicht Dumkins wäre, so möchte ich Luffey sein; wenn ich nicht Podder wäre, so möchte ich Struggles sein.‘ (Stürmischer Beifall.) Doch, meine Herren von Muggleton, ist es bloß das Kricket, in dem sich Ihre Mitbürger so auszeichnen? Haben Sie nicht von Dumkins gehört, wenn von Entschlossenheit die Rede war? Haben Sie nie gelernt, mit dem Namen Podder alles, was Rechtsbegriff heißt, zu verbinden? (Großer Beifall.) Sind Sie je bei der Verteidigung Ihrer Rechte, Ihrer Freiheiten, Ihrer Privilegien, wenn auch nur für einen Augenblick, mutlos und verzweifelt gewesen? Und wenn Sie niedergedrückt waren, hat nicht der Name Dumkins das erloschene Feuer in Ihrer Brust wieder angefacht? Und ist es nicht durch ein Wort von diesem Manne wieder aufgelodert, als wäre es nie erloschen? (Großer Beifall.) Meine Herren, ich fordere Sie auf, den vereinten Namen Dumkins und Podder ein donnerndes Hoch zu bringen.“

Der Kleine schwieg, und die Gesellschaft schrie, schlug auf den Tisch, und für den ganzen Abend war der Lustbarkeit und des Lärmens kein Ende. Noch andre Toaste wurden ausgebracht. Mr. Luffey und Mr. Struggles, Mr. Pickwick und s Mr. Jingle wurden nacheinander in Lobeshymnen gefeiert, und jeder bedankte sich pflichtschuldigst für die ihm erwiesene Ehre.

Leider sind wir nicht in der Lage, alle Reden wiederzugeben. Wohl zeichnete Mr. Snodgraß mancherlei auf, doch ist seine Handschrift an diesem Abend fast unleserlich. Wirklich lesbar ist eigentlich nur der Hymnus:

„Wir gehn noch lange nicht,
Wir gehn noch lange nicht,
Wir gehn noch lange nicht,
Bis früh der Tag anbricht.“