50. Kapitel Mr. Peggottys Traum geht in Erfüllung

Mehrere Monate waren seit unserer Begegnung am Ufer des Flusses verstrichen. Ich hatte Marta seitdem nicht mehr wiedergesehen, aber Mr. Peggotty war verschiedene Male mit ihr zusammengetroffen. Trotz ihres eifrigsten Bemühens hatte sie bisher nichts erreicht. Aus dem, was ich erfuhr, ging nichts über Emlys Schicksal hervor. Ich fing bereits an zu zweifeln, ob es jemals gelingen würde, sie wieder aufzufinden, und machte mich allmählich mit dem Gedanken, sie sei tot, vertraut.

Mr. Peggottys Glaube hingegen blieb unerschütterlich. Soviel ich weiß – und ich glaube, sein ehrliches Herz verbarg mir keinen seiner Gedanken –, wankte er niemals in seiner felsenfesten Überzeugung, daß er sie auffinden werde. Er wurde nie müde auszuharren, und es lag etwas so Religiöses, etwas so Rührendes in seiner Zuversicht, daß ich ihn von Tag zu Tag mehr achten und hochschätzen mußte.

Sein Glaube war kein träges Vertrauen, das nur hofft und nichts tut. Er war sein ganzes Leben lang ein Mann der Arbeit gewesen und wußte, daß er in allem, wo er Hilfe brauchte, selbst Hand anlegen und sich selbst helfen mußte. Ich kann mich erinnern, daß er einmal mitten in der Nacht aufstand, um nach Yarmouth zu wandern, von der Ahnung gequält, das Licht könnte durch einen Zufall nicht im Fenster des alten Bootes stehen. Ein andermal nahm er seinen Wanderstab, als er etwas in den Zeitungen gelesen hatte, was sich auf Emly beziehen konnte, und machte eine Reise von einigen Dutzend Meilen. Er fuhr zur See nach Neapel und zurück, nachdem er meinen Bericht, zu dem mir Miss Dartle verholfen, angehört hatte. Auf allen diesen Reisen gönnte er sich nicht die geringste Bequemlichkeit, denn er wollte Geld sparen um Emlys willen, wenn sie gefunden würde. In dieser ganzen langen Zeit hörte ich ihn niemals unwillig werden, hörte ihn niemals über Ermüdung oder Mutlosigkeit klagen.

Dora hatte ihn oft während unserer Ehe gesehen und recht lieb gewonnen. Ich sehe ihn noch vor mir neben ihrem Sofa stehen, die grobe Mütze in der Hand, während ihre blauen Augen mit schüchterner Verwunderung auf seinem Gesicht ruhten.

Manchmal abends in der Dämmerstunde, wenn er mich besuchte, bewog ich ihn, während wir langsam im Garten auf und ab gingen, seine Pfeife zu rauchen, und dann trat das Bild seines verlassenen Herdes und der trauliche Eindruck, den es auf meine Kinderaugen gemacht hatte, wenn das Feuer brannte und der Wind um die Hütte stöhnte, lebhaft vor meine Seele.

Um eine solche Stunde sagte er mir eines Tages, Marta habe am Abend vorher vor seiner Wohnung gewartet, bis er nach Hause kam, und ihn gebeten, er möge jetzt um keinen Preis London verlassen, ehe sie ihn nicht abermals gesprochen hätte.

»Sagte sie Ihnen, warum?« fragte ich.

»Ich fragte sie, Masr Davy, aber sie sprach nur wenige Worte, ließ sich bloß mein Versprechen geben und ging wieder.«

»Sagte sie nicht, wann sie wiederkommen wollte?«

»Nein, Masr Davy«, entgegnete er und strich sich mit der Hand gedankenvoll über die Stirn. »Ich fragte sie auch das, aber sie antwortete, sie wüßte es nicht.«

Da ich mir längst abgewöhnt hatte, Hoffnungen zu bestärken, die an Spinnfäden hingen, sagte ich weiter nichts, als daß ich hoffte, es werde bald geschehen. Die Vermutungen, die mir durch den Kopf schossen, behielt ich für mich.

 

Etwa vierzehn Tage später ging ich allein eines Abends in meinem Garten auf und ab. Ich kann mich noch recht auf den Tag besinnen. Es war der zweite in der von Mr. Micawber festgesetzten Woche. Es hatte von früh an geregnet, und die Luft war feucht. Die Blätter auf den Bäumen waren schwer von Tropfen, und der Regen hatte aufgehört, obgleich der Himmel noch voll Wolken hing, und die Vögel zwitscherten fröhlich. Ich ging im Garten auf und ab, die Dämmerung umschloß mich dichter und dichter, und allmählich verstummte das Zwitschern; die eigentümliche Stille, die an solchen Abenden auf dem Lande herrscht, wo kein Geräusch außer dem Fallen der Regentropfen von den Zweigen in der Luft zu hören ist, fing an einzutreten.

An unserm Landhaus entlang führte ein kleiner Laubengang von Efeu, durch den ich aus dem Garten auf die Straße draußen blicken konnte. In Gedanken verloren wandte ich zufällig meine Blicke dorthin und sah eine Gestalt in einem einfachen Mantel draußen stehen. Sie beugte sich zu mir herüber und winkte.

»Marta!« rief ich und eilte auf sie zu.

»Können Sie mitkommen?« fragte sie mit erregtem Flüstern. »Ich war bei ihm, und er ist nicht zu Hause. Ich habe das Haus, wohin er kommen soll, aufgeschrieben und die Adresse selbst auf seinen Tisch gelegt. Es hieß, er könne nicht lang ausbleiben. Ich habe Nachrichten für ihn. Können Sie gleich mitkommen?«

Ich trat augenblicklich durch das Gartentor hinaus. Sie winkte mir hastig mit der Hand, als wollte sie mich um Geduld und Schweigen bitten, und wendete sich London zu, von wo sie, wie ihr Kleid verriet, zu Fuß gekommen sein mußte.

Ich fragte, ob das unser Ziel sei, und da sie mit derselben hastigen Gebärde wie vorhin bejahte, ließ ich einen vorbeifahrenden Fiaker anhalten, und wir stiegen ein. Als ich sie fragte, wohin uns der Kutscher fahren sollte, gab sie zur Antwort: »In die Nähe von Golden Square, und so rasch wie möglich! – « Dann lehnte sie sich in die Ecke, winkte mir ab, als ob sie keine Menschenstimme ertragen könnte, und bedeckte sich mit zitternder Hand das Gesicht.

In größter Spannung, voll Furcht und Hoffnung, sah ich sie fragend an. Aber als ich begriff, wie viel ihr daran lag zu schweigen, gab ich meinen Versuch auf. Wir fuhren weiter, ohne ein Wort zu sprechen. Zuweilen sah sie zum Fenster hinaus, wie in Ungeduld, obgleich wir sehr rasch fuhren.

Wir stiegen endlich in der Nähe des von ihr bezeichneten Platzes aus, und ich ließ den Wagen warten, da ich nicht wußte, ob wir ihn nicht vielleicht später wieder brauchen würden. Sie hatte die Hand auf meinen Arm gelegt und riß mich rasch fort nach einer der dunkeln Straßen, wo damals die Häuser seit langem zu Armenwohnungen herabgesunken waren. Als wir zu der offenen Tür eines dieser Gebäude kamen, ließ sie meinen Arm los und winkte mir, ihr die Treppe hinauf zu folgen.

Das Haus war überfüllt von Bewohnern. Frauen und Kinder, deren Neugierde wir erregt zu haben schienen, spähten in den Fenstern über Blumentöpfen herab, und als wir die Treppe hinaufgingen, kamen uns Leute entgegen; es öffneten sich Zimmertüren, und Gesichter guckten heraus. Die Treppen waren breit – an der einen Seite mit dunkelm Getäfel versehen, an der andern mit massiven Ballustraden aus dunkelm Holz, über den Türen reich mit Früchten und Blumen verzierte Friese und in den Fenstern breite Sitze. Aber alle diese Zeichen entschwundener Pracht sahen jetzt greulich verfallen und schmutzig aus; Schwamm, Fäulnis und Alter hatten den an vielen Stellen baufälligen und eingebrochnen Flur angegriffen. Wie ich bemerkte, waren Versuche gemacht worden, neues Blut in den verfallenden Körper zu bringen, indem man die kostbare alte Holzarbeit hie und da mit ordinärem Fichtenholz ausgebessert hatte; es sah aus wie die Verbindung eines herabgekommenen alten Adligen mit einem armen Weib aus dem Volke, und jeder Teil dieser Mesalliance zog sich scheu vor dem andern zurück. Mehrere Treppenfenster waren verdunkelt oder ganz zugemauert, und in den vorhandenen saßen nur noch wenige Scheiben in morschen Rahmen. Sie boten die Aussicht auf andre scheibenlose Fenster in Häusern ähnlicher Beschaffenheit gegenüber, und schwindelnd sah ich hinab in den schmutzigen Hof, der den gemeinsamen Kehrichtplatz des ganzen Gebäudes bildete.

Wir stiegen bis ins oberste Stockwerk. Zwei- oder dreimal glaubte ich unterwegs in dem ungewissen Licht die Schleppe eines Frauenkleides vor uns hinaufsteigen gesehen zu haben. Als nur mehr eine Treppe zwischen uns und dem Dach war, bemerkten wir, daß die Gestalt einen Augenblick vor einer Tür stehenblieb und dann eintrat.

»Wer ist das?« flüsterte Marta mir zu. »Sie ist in mein Zimmer gegangen! Ich kenne sie nicht!«

Ich hatte sie sehr wohl erkannt. Es war zu meinem Erstaunen Miss Dartle.

Ich erklärte meiner Führerin mit wenigen Worten, daß es eine mir bekannte Dame sei, und hatte kaum ausgesprochen, als wir die Stimme Miss Dartles im Zimmer drin hörten, wenn wir auch nicht verstehen konnten, was sie sagte. Mit verwundertem Gesichte bedeutete mir Marta zu schweigen und führte mich leise die Treppe hinauf und durch eine kleine Seitentür ohne Schloß, die sie mit der Hand aufstieß, in eine kleine leere Dachkammer.

Aus diesem Raum führte in ihr Zimmer eine kleine Tür, die jetzt halb offenstand. Hier blieben wir stehen, noch außer Atem vom Treppensteigen, und sie legte ihre Hand leise auf meine Lippen. Von dem andern Zimmer konnte ich nur sehen, daß es ziemlich geräumig war, daß ein Bett darin stand und an den Wänden einige kunstlose Abbildungen von Schiffen hingen. Weder ich noch meine Gefährtin konnten Miss Dartle oder die Person, die sie angeredet hatte, sehen.

Marta hielt mir immer noch die Hand auf meine Lippen und horchte.

»Es ist mir gleichgültig, ob sie zu Hause ist«, sagte Rosa Dartle hochmütig. »Ich kenne sie gar nicht. Ich komme zu Ihnen!«

»Zu mir?« fragte eine sanfte Stimme.

Bei ihrem Klange durchzuckte es mich. Es war Emlys Stimme.

»Ja«, gab Miss Dartle zur Antwort, »ich komme, um Sie zu sehen. Schämen Sie sich nicht des Gesichtes, das so viel Unheil angestiftet hat?«

Bei dem Tone entschlossen und unbarmherzigen Hasses und der mit Gewalt niedergehaltnen Wut sah ich Miss Dartle so deutlich vor mir, als ob sie leibhaftig vor mir stünde. Ich sah die flackernden schwarzen Augen, die von Leidenschaft verzehrte Gestalt, sah die Narbe mit dem weißen Streif quer über die Lippen zittern und zucken, wie sie sprach:

»Ich wollte James Steerforths Liebste sehen. Die Dirne, die mit ihm davonlief und das Stadtgespräch der gemeinsten Leute ihres Geburtsortes ist, – die freche abgefeimte Gefährtin eines Menschen wie James Steerforth. Ich wollte wissen, wie so ein Geschöpf aussieht!«

Ich hörte ein Geräusch, als ob die Unglückliche nach der Tür eilte und Miss Dartle rasch dazwischenträte. Dann folgte eine kurze Pause.

Als Miss Dartle wieder anfing zu reden, sprach sie durch die Zähne und stampfte auf den Fußboden:

»Hierbleiben!« sagte sie, »oder ich will dem ganzen Haus und der ganzen Straße sagen, wer Sie sind! Wenn Sie versuchen, mir davonzulaufen, werde ich Sie festhalten und wenns an den Haaren sein müßte!«

Ein eingeschüchtertes Murmeln war die einzige Antwort, die an mein Ohr drang. Wieder folgte ein Schweigen. Ich wußte nicht, was ich tun sollte. So sehr ich wünschte, dem Gespräch ein Ende zu machen, so fühlte ich doch, daß ich kein Recht hätte, mich hineinzumischen und daß nur Mr. Peggotty dies tun dürfte. Kommt er immer noch nicht? dachte ich voll Ungeduld.

»So!« sagte Rosa Dartle mit einem verächtlichen Lachen. »Sehe ich Sie endlich! Wie erbärmlich er sein muß, daß er sich von einem solchen duckmäuserischen scheinheiligen Geschöpf fangen ließ.«

»Um Gottes willen, seien Sie barmherzig!« rief Emly. »Wer Sie auch sein mögen, Sie kennen meine jammervolle Geschichte. Um Gottes willen, seien Sie barmherzig, wenn Gott gegen Sie dereinst barmherzig sein soll.«

»Wenn Gott gegen mich barmherzig sein soll!« entgegnete die andere heftig. »Was glauben Sie eigentlich, daß wir miteinander gemein haben!«

»Nichts als unser Geschlecht!« sagte Emly und brach in Tränen aus.

»Und das ist ein derartig starker Anspruch, wenn er von so einer infamen Person erhoben wird«, sagte Miss Dartle, »daß ich Ihnen den Mund verbieten würde, wenn ich ein anderes Gefühl als Verachtung und Abscheu vor Ihnen hätte. Unser Geschlecht! Sie sind mir eine Ehre für unser Geschlecht!«

»Ich habe das verdient«, rief Emly, »aber es ist entsetzlich! O, bedenken Sie, was ich gelitten habe und wie tief ich gefallen bin! Marta, Marta, um Gottes willen, komm, komm zurück!«

Miss Dartle setzte sich auf einen Stuhl der Türe gegenüber und blickte zu Boden, als ob Emly vor ihr läge. Da sie jetzt zwischen mir und dem Lichte saß, konnte ich ihre von Hohn verzognen Lippen und ihre grausamen Augen sehen, die sich in gierigem Triumph auf eine Stelle außer meinem Sehbereich hefteten.

»Hören Sie jetzt, was ich Ihnen sage, und sparen Sie Ihre heuchlerischen Künste für Ihre Dummköpfe auf. Sie werden doch nicht glauben, daß Sie mich durch Ihre Tränen rühren können? Sowenig Sie mich durch Ihr Lächeln täuschen könnten, Sie feige Sklavin!«

»Haben Sie Erbarmen!«, jammerte Emly. »Haben Sie Erbarmen oder ich werde wahnsinnig!«

»Das wäre keine genügende Strafe für Ihr Verbrechen. Wissen Sie, was Sie getan haben? Denken Sie jemals an das Haus, das Sie verwüstet haben?«

»O, es gibt keinen Tag und keine Nacht, wo ich nicht daran dächte«, rief Emly; und jetzt konnte ich sie sehen, wie sie auf den Knieen lag, den Kopf zurückgeworfen, verzweiflungsvoll die Hände ringend, während ihr das Haar in Unordnung auf die Schultern fiel. »Ist jemals im Wachen oder im Träumen eine einzige Minute vergangen, wo ich das alte Haus nicht vor mir sah, so deutlich wie an jenem unglücklichen Tage, wo ich ihm auf ewig den Rücken kehrte! Mein Heim! Mein Heim!«

Sie sank mit dem Kopf nieder auf den Boden vor der hochmütigen Gestalt auf dem Stuhl und machte einen Versuch, flehend deren Kleid zu fassen.

Rosa Dartle blieb sitzen und sah auf sie herab, so unbeweglich wie eine Erzfigur. Sie preßte ihre Lippen fest zusammen, als müßte sie sich Zwang antun, die Ärmste nicht mit dem Fuß von sich zu stoßen.

Ich sah sie deutlich, und alles in ihr schien sich in diesem Ausdruck zusammenzudrängen.

»Kommt er denn noch immer nicht!?«

»Die jämmerliche Eitelkeit dieses Ungeziefers«, sagte sie, als sie ihre Wut so weit bezwungen hatte, daß sie wieder sprechen konnte. »Ihre Familie! Bilden Sie sich ein, daß ich nur einen Moment daran denke, oder glauben Sie wirklich, Sie könnten denen einen Schaden tun, den Geld nicht reichlich ersetzen könnte? Ihre Familie! Sie gehörten mit zum Geschäft Ihrer Familie und wurden gehandelt wie jede andere Ware. Nichts weiter!«

»Sagen Sie das nicht!« rief Emly. »Sagen Sie von mir, was Sie wollen, aber lassen Sie meine Schmach und Schande nicht Leuten entgelten, die so ehrenhaft sind wie Sie. Haben sie Achtung vor ihnen, wenn Sie eine Dame sind, wenn Sie schon kein Erbarmen mit mir fühlen.«

»Ich spreche«, entgegnete Rosa Dartle, ohne das geringste Mitgefühl mit der vor ihr knienden Emly und ihr Kleid mit Ekel zurückziehend, »ich spreche von seiner Familie, – in der ich lebe!«

»Hier«, sagte sie und deutete mit der Hand auf die Kniende herab, »hier sehe ich die wertvolle Veranlassung des Zerwürfnisses zwischen einer vornehmen Dame und ihrem Sohn, – des Jammers in einem Hause, wo man Sie nicht als Dienstmagd angenommen hätte. Dieses Stück Schmutz aufgelesen am Meeresufer, um eine Stunde lang hochgehalten und dann wieder an seinen ursprünglichen Platz geworfen zu werden!«

»Nein, nein!« rief Emly und rang verzweiflungsvoll die Hände. »Als ich ihn das erste Mal sah, war ich so tugendhaft aufgewachsen wie Sie oder jede andere Dame und sollte das Weib eines so vortrefflichen Mannes werden, wie Sie oder irgendeine andere Dame auf der Welt nur heiraten können. Wenn Sie in seiner Familie leben und ihn kennen, so werden Sie vielleicht wissen, welche Gewalt er auf ein eitles schwaches Mädchen auszuüben vermag. Ich will mich nicht verteidigen, aber ich weiß so genau, wie er es weiß oder wissen wird, wenn seine Sterbestunde kommt und sein Gewissen ihm keine Ruhe mehr läßt, daß er alle seine Gewalt über mich dazu mißbrauchte, mich zu täuschen, und daß ich ihm glaubte, ihm vertraute und ihn liebte.«

Rosa Dartle sprang von ihrem Stuhle auf, taumelte zurück und schlug beim Taumeln nach Emly mit einem Gesicht voll solcher Bosheit, so verzerrt und entstellt von Leidenschaft, daß ich mich schon zwischen die beiden werfen wollte. Doch der blind geführte Schlag traf nur die Luft. Wie sie jetzt keuchend dastand und Emly mit dem äußersten Abscheu, dessen sie fähig war, ansah vom Kopf bis zu den Füßen, vor Wut und Verachtung am ganzen Leibe zitternd, da glaubte ich nie etwas Ähnliches gesehen zu haben. »Sie ihn lieben! Sie!« rief sie und ballte die Faust, als fehle ihr nur die Waffe, um die Ärmste niederzustoßen.

Emily war zurückgewichen, so daß ich sie nicht mehr sehen konnte. Ich hörte keine Antwort.

»Und mir das zu sagen, mit diesen schmachbedeckten Lippen! Warum peitscht man solche Geschöpfe nicht aus? Wenn ich zu befehlen hätte, würde ich diese Dirne zu Tode peitschen lassen.«

Und sie hätte es getan, das bezweifle ich keinen Augenblick. Ich hätte sie nicht zur Aufseherin über die Folterbank machen mögen, solange sie diesen wütenden Blick behielt.

Langsam, ganz langsam brach sie in ein Gelächter aus und deutete auf Emly wie auf ein Bild der Schmach für Gott und die Menschen.

»Sie lieben«, sagte sie, »dieses Aas! Und er sollte jemals etwas auf sie gegeben haben, möchte sie mir einreden! Haha! Wie diese feilen Dirnen lügen können.« Ihr Hohn war schlimmer gewesen als jetzt ihre schrankenlose Wut. Nur einen Augenblick war sie losgebrochen, dann hatte sie sie wieder festgekettet; und wie sehr es sie innerlich auch zerreißen mochte, sie gestattete ihr keinen neuen Ausbruch.

»Ich kam hierher, Sie reiner Liebesborn, um zu sehen, wie Geschöpfe Ihrer Art aussehen. Ich war neugierig und bin jetzt befriedigt. Ich wollte Ihnen auch sagen, daß Sie am besten tun, Ihre Familie sobald wie möglich aufzusuchen und Ihr Haupt unter den vortrefflichen Leuten zu verbergen, die Sie erwarten und die Ihr Geld trösten wird. Wenn es alle ist, können Sie ja wieder glauben und vertrauen und lieben. Ich hielt Sie für ein zerbrochenes ausgedientes Spielzeug, für einen wertlosen Flitter, der den Glanz verloren hat und weggeworfen wird, aber da Sie treues Gold sind, eine echte Dame und eine verführte Unschuld mit einem Herzen voll Liebe und Vertrauen – Sie sehen ganz danach aus, und es stimmt mit Ihrer Geschichte so gut überein –, so habe ich Ihnen noch etwas zu sagen. Merken Sie wohl auf, denn was ich Ihnen sage, werde ich auch ausführen. Hören Sie, Sie zarte Fee, was ich sage! Ich werde es auch ausführen!«

Ihre Wut gewann wieder einen Augenblick die Oberhand, aber sie ging über ihr Gesicht wie ein Krampf und ließ nur ein Lächeln zurück.

»Verbergen Sie sich irgendwo! Wenn nicht zu Hause, so irgendwo, wo man Sie nicht erreichen kann, in einem obskuren Leben – oder noch besser – im obskuren Tod. Ich möchte überhaupt gern wissen, warum Sie keinen Weg gefunden haben, Ihrem liebenden Herzen Stille zu gebieten, wenn es schon nicht brechen wollte. Ich habe von solchen Mitteln gehört. Ich glaube, sie müßten leicht zu finden sein!«

Ein leises Weinen Emlys unterbrach sie hier. Sie schwieg und horchte darauf, als ob es ihr Musik wäre.

»Ich bin vielleicht seltsam geartet«, fuhr Rosa Dartle fort, »aber ich kann nicht frei atmen in der Luft, die Sie atmen. Sie macht mich krank. Deshalb will ich sie rein haben. Sie soll nicht länger von Ihnen verpestet werden. Wenn Sie morgen noch hier sind, so soll das ganze Haus Ihre Geschichte erfahren und was Sie sind. Ich höre, es wohnen anständige Frauen im Hause, und es wäre jammerschade, wenn solch ein Geschöpf wie Sie unter ihnen leben dürfte. Wenn Sie hier wegziehen und sich in dieser Stadt unter einer andern Beschäftigung als Ihrer wahren verbergen wollen, so werde ich dasselbe tun, sowie ich Ihren Zufluchtsort erfahre. Da ich von einem Gentleman unterstützt werde, der vor nicht langer Zeit um die Ehre Ihrer Hand warb, werde ich schon dahinterkommen.«

 

Kommt er denn immer und immer noch nicht?!

 

»O Gott, o Gott!« rief die Unglückliche in einem Ton aus, der das härteste Herz hätte erweichen müssen; aber in Rosa Dartles Lächeln zeigte sich keine Veränderung.

»Was soll ich tun! Was soll ich tun!«

»Tun? In dem Glück Ihrer Erinnerung leben! Ihr Dasein der Erinnerung an James Steerforths Zärtlichkeit widmen; er wollte Sie doch seinem Bedienten zur Frau geben, nicht wahr –? Oder den trefflichen Menschen, der Sie von ihm übernehmen wollte, heiraten und in seiner Herablassung in Glück schwelgen. Und, wenn Sie keines von beiden tun wollen, so sterben Sie doch! Für solche Todesarten gibt es Hausflure und Kehrichthaufen genug … Suchen Sie einen und schweben Sie hinauf zum Himmel!«

Ich hörte Tritte auf der Treppe. Ich erkannte sie sogleich. Er war es! Gott sei Dank!

Miss Dartle war bei ihren letzten Worten von der Türe weggegangen, und ich sah sie nicht mehr.

»Also vergessen Sie nicht«, hörte ich sie noch sagen, als sie die Ausgangstüre öffnete. »Ich bin entschlossen, bewogen von gewissen Gründen und von Haßgefühl, Sie bis aufs äußerste zu verfolgen, wenn Sie nicht aus meinem Bereiche fliehen oder Ihre Maske fallen lassen. Das wollte ich Ihnen sagen, und was ich sage, führe ich auch aus.«

 

Die Tritte auf der Treppe kamen näher und näher, schritten an Rosa Dartle vorüber, als sie hinunterging, – traten ins Zimmer.

»Onkel!«

Ein schrecklicher Schrei folgte. Ich wartete einen Augenblick, blickte dann ins Zimmer und sah, wie er sie in seinen Armen hielt. Er sah ihr ein paar Sekunden ins Gesicht, dann küßte er es zärtlich und deckte ein Tuch darüber.

»Masr Davy«, sagte er darauf mit leiser bebender Stimme, »ich danke meinem himmlischen Vater, daß er meinen Traum wahr werden ließ! Ich danke ihm aus vollem Herzen, daß er mich auf seinen eignen Wegen zu meinem Liebling geführt hat.«

Mit diesen Worten hob er Emly in die Höhe und trug die Regungs- und Bewußtlose, das verhüllte Gesicht an seiner Brust geborgen, die Treppe hinunter.