38. Kapitel Eine Trennung


38. Kapitel Eine Trennung

Ich ließ meinen Entschluß hinsichtlich der Parlamentsdebatten nicht in Vergessenheit geraten. Ich erstand ein gutes Lehrbuch über die Mysterien der Stenographie um 10 sh 6 d und stürzte mich in ein Meer von Verworrenheit. Und binnen wenigen Wochen stand ich am Rand der Verzweiflung.

Die mannigfaltigen Bedeutungen, die von Punkten abhingen, die in dieser Stellung das und in einer andern das Gegenteil bedeuteten, die tollen Streiche, die gewisse Kreise anstellten, die unberechenbaren Folgen, die aus Zeichen wie Fliegenbeinen entstanden, die entsetzlichen Wirkungen eines Hakens an falscher Stelle beunruhigten mich nicht nur im Wachen, sondern erschienen mir auch im Schlaf.

Als ich mir endlich Bahn gebrochen und das Alphabet bemeistert hatte, das an sich schon ein ägyptischer Tempel war, tauchte eine Reihe neuer Schrecken, die man »Charaktere« nannte, auf, – die despotischsten Charaktere, die mir jemals vorgekommen sind und die zum Beispiel behaupten, daß ein Ding am Anfang einer Spinnwebe »Erwartung« heißt und daß eine Tintenfleckrakete soviel wie »unvorteilhaft« bedeutet. – Als ich mir diese unglückseligen Zeichen ins Gehirn genagelt, bemerkte ich, daß sie mir alles übrige aus dem Kopf getrieben hatten. Dann fing ich wieder von vorn an und vergaß die Charaktere; wenn ich sie wieder nachholte, kamen mir die andern Fragmente der Kunst abhanden; kurz, es war zum Herzzerbrechen.

Es hätte mir vielleicht auch das Herz gebrochen ohne Dora, die den Anker meines im Sturm treibenden Bootes bildete. Jeder Strich in dem System war eine knorrige Eiche im Walde der Schwierigkeiten, und ich hieb eine nach der andern mit solcher Kraft um, daß ich in drei oder vier Monaten imstande war, mich an einen der Hauptsprecher in den Commons heranzumachen. Nie werde ich vergessen, wie mir der Mann entschlüpfte, ehe ich noch anfing, und wie mein Bleistift auf dem Papier herumstolperte wie besoffen.

So ging es also nicht, das war klar. Ich strebte zu hoch und konnte auf diese Art nichts erreichen. Traddles, den ich um Rat fragte, schlug mir vor, er wolle mir Reden diktieren, meiner Ungeübtheit angepaßt, langsam und mit angemessenen Pausen. Dankbar nahm ich seine freundliche Mithilfe an, und lange Zeit hielten wir, wenn ich von Doktor Strong nach Hause kam, eine Art Privatparlament in der Buckingham Straße ab.

Meine Tante und Mr. Dick stellten, je nachdem, die Regierung oder die Opposition vor, und Traddles richtete mit Hilfe von Enfields Rhetorik oder eines Bandes Parlamentsreden erstaunliche Angriffe gegen sie. Am Tische stehend, den Finger im Buch, um die Stelle zu behalten, und mit der Linken lebhaft gestikulierend, versetzte sich Traddles als Mr. Pitt, Mr. Fox, Mr. Sheridan, Mr. Burke, Lord Castlereagh, Viscount Sidmouth oder Mr. Canning in die entsetzlichste Aufregung und schleuderte die vernichtendsten Anklagen der Bestechlichkeit und Verderbtheit auf meine Tante und Mr. Dick, während ich mit dem Notizbuch auf dem Knie mit größter Anstrengung mitstenographierte.

Die Inkonsequenz und Rücksichtslosigkeit Traddles konnte von keinem Politiker übertroffen werden. Er wechselte jede Woche seine Meinung und hißte alle möglichen Flaggen auf seinem Maste. Meine Tante, die ganz wie ein steinerner Kanzler dasaß, warf gelegentlich eine Bemerkung dazwischen, ein Hört! oder Oho! je nachdem es der Text erforderte, was immer das Signal für Mr. Dick abgab, der ganz auf der Partei der Landedelleute stand, kräftig in denselben Ruf mit einzustimmen. Es wurden ihm im Verlauf seiner parlamentarischen Laufbahn so viel Vorwürfe ins Gesicht geschleudert und er wurde für so viel schreckliche Folgen verantwortlich gemacht, daß ihm zuweilen ganz bange wurde. Ich glaube, er fürchtete manchmal wirklich, an der britischen Verfassung zum Schaden des Landes gerüttelt zu haben.

Oft setzten wir die Debatten fort, bis die Lichter herabgebrannt waren und die Uhr auf Mitternacht zeigte. Die Folge der vielen Übungen war, daß ich allmählich mit Traddles leidlich Schritt halten konnte; nur wäre ich froh gewesen, wenn ich hätte herausbekommen können, was meine stenographischen Notizen eigentlich bedeuteten. Aber ebensowenig hätte ich die chinesischen Inschriften auf einer Teekiste oder die goldnen Zeichen auf den großen roten und grünen Flaschen in den Apothekerläden lesen können.

Da gab es keinen Ausweg, als noch einmal von vorn anzufangen. Das war sehr schlimm, aber ich versuchte es, wenn auch mit schwerem Herzen, und ging die ganze langweilige Arbeit im Schneckentempo noch einmal durch und verglich sorgfältig jede einzelne Stelle. Trotzdem war ich immer pünktlich in der Kanzlei und bei dem Doktor und arbeitete, sozusagen, wie ein Karrengaul.

Eines Tages, als ich wie gewöhnlich nach den Commons ging, sah ich Mr. Spenlow mit sehr ernstem Gesicht und mit sich selbst sprechend in der Türe stehen. Da er manchmal über Kopfschmerzen klagte – er hatte von Natur einen kurzen Hals und meiner Meinung nach viel zu steif gestärkte Kragen –, so kam mir zuerst der Gedanke, es sei etwas in dieser Hinsicht nicht in Ordnung; aber von meinem Irrtum befreite er mich bald.

Anstatt mein »Guten Morgen« mit der gewohnten Leutseligkeit zu erwidern, blickte er mich sehr kalt und zeremoniell an und forderte mich auf, ihm in ein gewisses Kaffeehaus zu folgen, das zu jener Zeit einen Eingang in den kleinen Torweg des St. Pauls-Kirchhofs hatte.

In recht unbehaglicher Stimmung und mit einem Gefühl von Wärme im ganzen Körper, als ob meine Befürchtungen Knospen treiben wollten, folgte ich ihm.

Als ich ihn wegen der Enge des Weges vorausgehen ließ, fiel es mir auf, daß er seinen Kopf in einer Weise, die durchaus nichts Gutes versprach, hoch trug, und eine böse Ahnung sagte mir, daß er meinem Verhältnis mit Dora auf die Spur gekommen sei.

Wenn ich es nicht schon unterwegs erraten hätte, so mußte es mir klar werden, als ich ihm in ein Zimmer eine Treppe hoch folgte und dort Miss Murdstone fand, an einen Seitentisch voll umgekehrter Gläser, Zitronen und zwei altmodische Messerkasten gelehnt.

Miss Murdstone, steif und aufrecht, reichte mir ihre kalten Fingernägel, Mr. Spenlow schloß die Türe, hieß mich auf einem Sessel Platz nehmen und stellte sich vor den Kamin.

»Wollen Sie die Güte haben, Miss Murdstone«, sagte er, »Mr. Copperfield zu zeigen, was sich in Ihrem Strickbeutel befindet.«

Ich glaube, es war der alte Strickbeutel mit dem Stahlbügel, der schon in meiner Kindheit wie ein Gebiß schloß. Mit zusammengepreßten Lippen öffnete ihn Miss Murdstone und zog meinen letzten Brief an Dora, der von Ausdrücken zärtlichster Liebe überfloß, heraus.

»Ich glaube, das ist Ihre Handschrift, Mr. Copperfield«, sagte Mr. Spenlow.

Mir war sehr heiß, und die Stimme, die ich vernahm, als ich sagte, »so ist es, Sir«, klang der meinen sehr unähnlich.

»Wenn ich nicht irre«, fuhr Mr. Spenlow fort, als Miss Murdstone ein ganzes Paket Briefe, zugebunden mit einem allerliebsten blauen Band aus dem Strickbeutel hervorholte, »sind auch diese von Ihrer Hand, Mr. Copperfield.«

Ich nahm sie mit der trostlosesten Empfindung entgegen und meine Anreden wie »Meine ewig teuerste, einzige Dora! Mein bester geliebter Engel! Mein Herzensschatz!« und dergleichen überfliegend, errötete ich tief und neigte bejahend das Haupt.

»Nein, nein, ich danke Ihnen«, sagte Mr. Spenlow kalt, als ich sie ihm mechanisch hinreichte. »Ich will Sie der Briefe nicht berauben. Miss Murdstone, haben Sie die Güte, fortzufahren.«

Dieses liebenswürdige Geschöpf betrachtete eine Weile gedankenvoll den Teppich und begann dann salbungsvoll wie folgt:

»Ich muß gestehen, schon längere Zeit hatte ich Miss Spenlow wegen David Copperfield im Verdacht. Ich beobachtete Miss Spenlow und David Copperfield, als sie sich das erste Mal sahen, und der Eindruck, den ich damals empfing, war durchaus nicht günstig. Die Verderbtheit des menschlichen Herzens ist so groß –«

»Sie würden mich verbinden, Ma’am«, unterbrach Mr. Spenlow, »wenn Sie sich lediglich auf Tatsachen beschränkten.«

Miss Murdstone schlug die Augen nieder, schüttelte wie gegen diese unpassende Bemerkung protestierend den Kopf und fuhr stirnrunzelnd würdevoll fort:

»Da ich mich also auf Tatsachen zu beschränken habe, will ich sie so trocken, wie ich es vermag, vortragen. Vielleicht wird das als das geeignetste Verfahren Gnade finden. Ich habe bereits gesagt, Sir, daß ich schon längere Zeit gegen Miss Spenlow wegen David Copperfield Verdacht hegte. Ich hatte mich des öfteren bemüht, eine entscheidende Bestätigung meiner Vermutung zu finden, jedoch ohne Erfolg. Ich habe mich daher enthalten, etwas davon Miss Spenlows Vater« – sie sah ihn dabei streng an – »zu verraten, wohl wissend, wie wenig Neigung oft in solchen Fällen vorhanden ist, gewissenhafte Pflichterfüllung anzuerkennen.«

Mr. Spenlow, ganz eingeschüchtert von Miss Murdstones männlicher Unbeugsamkeit, suchte ihre Strenge durch eine konziliante Handbewegung zu mildern.

»Als ich nach der Hochzeit meines Bruders zurückkehrte«, fuhr Miss Murdstone mit verachtungsvoller Stimme fort, »und als Miss Spenlow von dem Besuch bei ihrer Freundin, Miss Mills, nach Hause kam, schien mir Doras Benehmen noch mehr Veranlassung zum Argwohn als früher zu geben. Deshalb beobachtete ich sie auf das schärfste.«

Arme, liebe, kleine Dora! So ahnungslos dem Auge dieses Drachen preisgegeben!

»Aber trotzdem«, fuhr Miss Murdstone fort, »fand ich keine Beweise bis gestern abend. Es schien mir, daß Miss Spenlow merkwürdig viel Briefe von ihrer Freundin, Miss Mills, erhielt; da aber Miss Mills ihre Freundin war, und zwar mit ihres Vaters vollständiger Beistimmung« – wieder ein scharfer Hieb auf Mr. Spenlow –, »so durfte ich mich ja nicht weiter einmischen. Wenn es mir schon nicht erlaubt ist, von der Verderbtheit des menschlichen Herzens zu sprechen, so darf ich mir doch vielleicht erlauben, mich hier des Wortes ›übel angebrachtes Vertrauen‹ zu bedienen.«

Mr. Spenlow murmelte eine Zustimmung.

»Gestern abend nach dem Tee«, fuhr Miss Murdstone fort, »bemerkte ich, wie der kleine Hund aufsprang, knurrend im Zimmer hin und her lief und etwas herumzerrte. Ich sagte zu Miss Spenlow: »Dora, was hat der Hund im Maul, – es ist ein Papier.« Miss Spenlow fühlte nach ihrer Tasche, schrie auf und lief zu dem Hunde. Ich trat dazwischen und sagte: »Meine liebe Dora, Sie werden schon erlauben.«

O Jip, elender Schoßhund, das Unglück war also dein Werk!

»Miss Spenlow versuchte, mich mit Küssen, Arbeitskästchen und kleinen Schmucksachen zu bestechen – darüber gehe ich natürlich hinweg –, der Hund flüchtete sich unter das Sofa, als ich mich ihm näherte, und ließ sich nur schwer mit dem Schüreisen wieder hervortreiben. Selbst, als das gelungen war, hielt er immer noch den Brief mit den Zähnen fest, und als ich, auf die Gefahr hin, gebissen zu werden, mich bemühte ihm denselben zu entreißen, hielt er ihn so fest, daß er sich daran emporheben ließ. Endlich gelangte ich in den Besitz des Briefes. Nachdem ich ihn gelesen, sagte ich Miss Spenlow auf den Kopf zu, daß sie noch viele derartige besitzen müsse, und erhielt schließlich von ihr das Paket, das sich jetzt in David Copperfields Hand befindet.«

Dann schloß sie den Mund, ließ den Strickbeutel wieder zuschnappen und sah aus, als ob man sie wohl beugen, nie aber brechen könnte.

»Sie haben Miss Murdstone gehört«, sagte Mr. Spenlow zu mir. »Darf ich fragen, Mr. Copperfield, ob Sie etwas drauf zu erwidern haben?«

Ich sah den lieben kleinen Herzensschatz die ganze Nacht schluchzend und weinend in Angst und Kummer – wie sie das hartherzige Frauenzimmer kläglich gebeten und angefleht, ihm umsonst Küsse, Arbeitskästchen und Schmucksachen aufgedrängt, um mich und nur um mich von tiefstem Schmerz erfüllt – vor mir, und das tat dem bißchen Würde, das ich hätte auftreiben können, nicht wenig Abbruch. Ich glaube, ich zitterte, obgleich ich mein möglichstes tat, es zu verbergen.

»Ich habe nichts darauf zu erwidern, Sir«, gab ich zur Antwort, »außer, daß mich die ganze Schuld trifft. Dora –«

»Miss Spenlow, wenn ich bitten darf.«

»– wurde durch meine Unüberlegtheit verleitet«, fuhr ich fort, ohne auf die formelle Berichtigung Rücksicht zu nehmen, »die Sache geheim zu halten, und ich beklage es bitter.«

»Sie sind sehr zu tadeln, Sir«, sagte Mr. Spenlow, schritt auf dem Teppich vor dem Herd auf und nieder und verlieh jedem seiner Worte wegen der Steifheit seines Kragens und Rückens statt mit dem Kopf mit seinem ganzen Körper Nachdruck. »Sie haben sich einer hinterlistigen und unschicklichen Handlungsweise schuldig gemacht, Mr. Copperfield. Wenn ich einen Gentleman in mein Haus einführe, mag er neunzehn, neunundzwanzig oder neunzig Jahre alt sein, so setze ich in ihn vollkommenes Vertrauen. Wenn er mich darin hintergeht, so macht er sich einer unehrenhaften Handlung schuldig, Mr. Copperfield.«

»Ich fühle das jetzt selbst, glauben Sie mir«, erwiderte ich. »Aber ich habe es vorher nie bedacht. Aufrichtig und ehrlich kann ich Ihnen sagen, Mr. Spenlow, ich habe es nicht bedacht. Ich liebe Miss Spenlow derart –«

»Pah, Unsinn«, sagte Mr. Spenlow und wurde rot, »ich bitte mir nicht ins Gesicht zu sagen, daß Sie meine Tochter lieben, Mr. Copperfield.«

»Könnte ich denn mein Benehmen rechtfertigen, wenn es nicht der Fall wäre, Sir?« wandte ich in aller Demut ein.

»Und können Sie es rechtfertigen, wenn es der Fall ist, Sir?« fragte Mr. Spenlow, auf dem Teppich stehenbleibend. »Haben Sie an Ihr Alter und das meiner Tochter gedacht, Mr. Copperfield? Haben Sie bedacht, was das heißt, das Vertrauen zu untergraben, das zwischen mir und meiner Tochter bestehen sollte; haben Sie an die Lebensstellung meiner Tochter, an die Pläne, die ich zu ihrem Besten im Sinne habe, an die testamentarischen Bestimmungen, die ich ihretwegen getroffen habe, gedacht? Haben Sie überhaupt irgend etwas gedacht, Mr. Copperfield?«

»Ich fürchte, sehr wenig, Sir«, gestand ich, so ehrerbietig und sorgenvoll, wie mir zumute war, »aber glauben Sie mir, ich habe meine eigne Stellung nicht aus dem Auge verloren. Als ich sie Ihnen damals klarlegte, waren wir bereits verlobt –«

»Ich bitte«, sagte Mr. Spenlow, einem Policcinell, als er jetzt energisch die Hände zusammenschlug, ähnlicher sehend, als mir je aufgefallen war – »ich muß Sie sehr bitten, Mr. Copperfield, mir nicht von Verlobungen zu sprechen, Mr. Copperfield.«

Miss Murdstone ließ ein kurzes verächtliches Lachen hören.

»Als ich meine so plötzlich veränderten materiellen Verhältnisse Ihnen auseinandersetzte, Sir, hatte also das heimliche Verhältnis, zu dem ich Miss Spenlow unglücklicherweise verleitet habe, bereits begonnen. Seit ich mich in dieser veränderten Lebenslage befinde, habe ich keine Anstrengung gescheut, sie zu verbessern. Ich bin überzeugt, sie noch mit der Zeit wesentlich verbessern zu können. Wollen Sie mir Zeit lassen, – eine Reihe von Jahren, wir sind noch beide jung, Sir –«

»Sie haben recht«, unterbrach mich Mr. Spenlow, immerwährend mit dem Kopf nickend und die Stirn runzelnd, »Sie sind beide noch sehr jung. Es ist der reinste Unsinn. Machen Sie diesem Unsinn ein Ende. Werfen Sie diese Briefe ins Feuer. Geben Sie mir Miss Spenlows Briefe, damit ich sie ebenfalls verbrennen kann. Und da sich in Zukunft unser Verkehr natürlich bloß auf die Commons beschränken wird, wollen wir die Sache nicht mehr weiter erwähnen. Kommen Sie, Mr. Copperfield, Sie sind doch sonst ein einsichtsvoller junger Mann, es ist das Gescheiteste, was Sie tun können.«

Nein. Ich konnte nicht einschlagen. Es tat mir unendlich leid, aber hier galt es mehr als bloße Verständigkeit. Die Liebe ging über alle irdischen Rücksichten hinaus, und ich liebte Dora abgöttisch, und Dora liebte mich. Ich sagte es nicht mit denselben Worten und milderte es, soviel ich konnte; aber ich ließ es durchblicken und blieb fest.

»Nun gut, Mr. Copperfield«, sagte Mr. Spenlow. »Dann muß ich meinen Einfluß bei meiner Tochter geltend zu machen suchen.«

Miss Murdstone gab durch einen ausdrucksvollen hörbaren Atemzug, der wie ein Seufzer und Stöhnen zugleich klang, ihre Meinung dahin ab, daß er das gleich anfangs hätte tun sollen.

»Ich muß meinen Einfluß«, wiederholte Mr. Spenlow, dadurch bestärkt, »also bei meiner Tochter geltend zu machen suchen. Verweigern Sie die Annahme dieser Briefe, Mr. Copperfield?« – ich hatte das Paket nämlich auf den Tisch gelegt.

»Ja.« Ich sagte, ich hoffte, er werde es mir nicht übelnehmen, aber ich könnte sie unmöglich von Miss Murdstone annehmen.

»Auch von mir nicht?«

»Nein«, erwiderte ich mit dem tiefsten Respekt. »Auch nicht von Ihnen.«

»Gut«, sagte Mr. Spenlow.

Es trat eine Pause ein, und ich wußte nicht, ob ich gehen oder bleiben sollte. Endlich ging ich ruhig nach der Türe und wollte gerade sagen, daß ich wohl seine Gefühle am besten berücksichtigen würde, wenn ich mich zurückzöge, da fuhr er fort, die Hände in die Taschen steckend oder wenigstens nach Möglichkeit bemüht, es zu tun, und mit einer Miene, die man eigentlich hätte fromm nennen können:

»Es ist Ihnen wahrscheinlich bekannt, Mr. Copperfield, daß ich nicht ganz ohne Vermögen dastehe und daß meine Tochter meine nächste und mir teuerste Verwandte ist.«

Ich beeilte mich, ihm in dem Sinne zu erwidern; daß ich hoffte; mein Irrtum, zu dem mich die Heftigkeit meiner Liebe verleitet, veranlasse ihn nicht, mich für berechnend zu halten.

»Ich meine es nicht deswegen«, sagte Mr. Spenlow. »Es würde besser für Sie und uns alle sein, wenn Sie berechnender wären, Mr. Copperfield, – ich meine, wenn Sie verständiger wären und sich weniger von solch jugendlichem Unverstand leiten ließen. Nein. Ich frage in ganz anderer Absicht, nämlich ob Sie wissen, daß ich meiner Tochter einiges Vermögen zu vermachen habe?«

Ich sagte, daß ich das annehme.

»Bei den Erfahrungen, die Sie täglich in den Commons hinsichtlich der so häufigen, ganz unverantwortlichen Nachlässigkeit der Menschen betreffs testamentarischer Verfügungen gemacht haben – es ist vielleicht einer der Punkte, wo sich die menschliche Inkonsequenz am seltsamsten offenbart –, können Sie doch kaum glauben, daß ich meine Verfügungen noch nicht getroffen hätte.«

Ich nickte zustimmend.

»Ich würde nicht zugeben«, sagte Mr. Spenlow, sichtlich von einer frommen Empfindung ergriffen, den Kopf schüttelnd und sich abwechselnd auf seinen Zehen und Absätzen wiegend, »daß die passende Versorgung meines Kindes durch eine solche jugendliche Torheit wie die gegenwärtige beeinflußt würde. Es ist nackte Torheit. Reiner Unsinn. In kurzer Zeit wird es leichter wiegen als eine Feder. Aber ich könnte, ich könnte, – wenn sich diese alberne Geschichte nicht von selbst erledigen sollte, mich in einem Augenblick der Besorgnis verleiten lassen, meine Tochter durch gewisse Schutzmaßregeln vor einer törichten Heirat zu bewahren. Ich hoffe nun von Ihnen, Mr. Copperfield, daß Sie mich nicht zwingen werden, auch nur eine Viertelstunde lang eine abgeschloßne Seite im Buche des Lebens wieder zu öffnen und ernste, längst geregelte Bestimmungen umzustoßen.«

Er sprach dies mit einer seelenvollen Ruhe, die sich nur mit einem stillen Sonnenuntergang vergleichen ließ, so daß ich ganz gerührt war. Er sah so friedvoll und ergeben aus, hatte, das stand fest, alle seine Angelegenheiten in so vollständiger Ordnung, daß es ihm wohl anstand, bei solcher Betrachtung Rührung zu empfinden. Wahrhaftig, ich glaube, Tränen glänzten in seinen Augen, so tief ergriff es ihn.

Aber was konnte ich tun?! Ich konnte doch nicht Dora und mein eignes Herz verleugnen. Als er mir eine Woche Bedenkzeit gab, um mir seine Worte zu überlegen, wie durfte ich sie ausschlagen, aber ich mußte auch fühlen, daß überhaupt keine Zahl von Wochen Eindruck auf eine Liebe wie die meinige machen konnte.

»Unterdessen gehen Sie mit Miss Trotwood oder irgend jemand anders von einiger Lebenserfahrung zu Rate«, sagte Mr. Spenlow, indem er seine Halsbinde mit beiden Händen zurechtrückte. »Ich gebe Ihnen eine Woche Bedenkzeit, Mr. Copperfield.«

Ich mußte mich darein ergeben und verließ mit einem Gesicht, in das ich soviel Ausdruck niedergeschlagener und verzweifelnder Beharrlichkeit legte wie nur möglich das Zimmer. Miss Murdstones dräuende Augenbrauen sahen mir nach, ihre Augenbrauen, nicht ihre Augen, weil sie das Wichtigste in ihrem Gesichte waren; sie sah genau so aus wie damals in unserer Stube in Blunderstone, so daß ich eine Sekunde wieder glaubte, meine Lektion verlernt zu haben, und jenes entsetzliche alte ABC-Buch mit den ovalen Holzschnitten, die mir in meiner jugendlichen Phantasie wie Brillengläser vorgekommen waren, vor mir sah.

Als ich in die Kanzlei kam, mich an mein Pult setzte und an dieses so unerwartet hereingebrochene Erdbeben dachte und in der Bitternis meines Herzens Jip verfluchte, verfiel ich in einen Zustand so qualvoller Sorgen um Dora, daß es mich heute noch wundernimmt, wieso ich nicht den Hut nahm und wie ein Wahnsinniger nach Norwood stürmte. Der Gedanke, daß sie sie in Schrecken und Tränen versetzen würden und ich sie nicht trösten könnte, war mir so qualvoll, daß ich mich veranlaßt sah, einen verzweifelten Brief an Mr. Spenlow zu schreiben und ihn zu bitten, die Folgen des Geschehens nicht das Haupt seiner Tochter treffen zu lassen. Ich bat ihn, ihre weiche Natur zu schonen, eine zarte Blume nicht zu zertreten, und sprach zu ihm, als ob er nicht ihr Vater, sondern ein Werwolf oder der Drache von Wantley gewesen wäre. Diesen Brief versiegelte ich und legte ihn auf sein Pult, und als er zurückkam, sah ich durch die halboffne Tür seines Zimmers, wie er ihn erbrach und las.

Er sprach den ganzen Morgen nichts davon. Aber bevor er nachmittags wegging, rief er mich herein und sagte, ich brauchte mir wegen des Glücks seiner Tochter durchaus keine Sorgen zu machen. Er würde sie überzeugen, daß alles Unsinn sei, und weiter habe er ihr nichts zu sagen. Er glaube, ein nachsichtiger Vater zu sein – und das war er allerdings –, und ich könnte mir jede Sorge in dieser Hinsicht ersparen.

»Sie könnten mich vielleicht dazu zwingen, Mr. Copperfield, wenn Sie wirklich töricht oder widerspenstig sind«, bemerkte er, »meine Tochter wiederum ein halbes Jahr ins Ausland zu schicken, aber ich habe eine bessere Meinung von Ihnen. Ich hoffe, Sie werden in wenigen Tagen einsichtsvoller geworden sein. Was Miss Murdstone betrifft«, ich hatte ihrer im Briefe Erwähnung getan – »so hege ich alle Achtung von der Wachsamkeit dieser Dame und fühle mich ihr sehr verbunden, aber sie hat strengsten Befehl, von der Sache nicht mehr zu sprechen. Ich wünsche weiter nichts, Mr. Copperfield, als daß die Angelegenheit einfach in Vergessenheit gerät. Auch Sie haben weiter nichts zu tun, als zu vergessen.«

Weiter nichts! In meinem Briefe an Miss Mills führte ich diese Äußerung mit Bitterkeit an. Ich hätte weiter nichts zu tun, schrieb ich mit düsterem Sarkasmus, als Dora – zu vergessen. Das sei alles!!

Und was sei das?! Ich bat Miss Mills, sie heute abend besuchen zu dürfen. Wenn es nicht mit Mr. Mills‘ Zustimmung geschehen könnte, so bäte ich um ein heimliches Zusammentreffen in der Waschküche, wo die Mangel stehe. Ich versicherte ihr, daß mein Verstand zu wanken beginne und daß nur sie, Miss Mills, mich vor dem Wahnsinn retten könnte. Ich unterzeichnete: »In tiefster Verzweiflung Ihr usw. usw.« Und als ich den Brief noch einmal überflog, mußte ich mir gestehen, daß sein Stil ein wenig an den Mr. Micawbers erinnerte.

Nichtsdestoweniger sandte ich ihn ab. Abends begab ich mich nach Miss Mills‘ Wohnung und ging dort auf und ab, bis ihre Zofe mich heimlich hereinholte und die Hintertreppe hinauf in die Waschküche führte. Ich habe heute guten Grund zu glauben, daß nichts hindernd im Wege stand, wenn ich ruhig die Haupttreppe hinaufgegangen und in den Salon getreten wäre, außer höchstens Miss Mills‘ Hang zum Romantischen und Geheimnisvollen.

In der Waschküche raste ich, wie es sich für mich ziemte. Ich glaube, ich ging hin, um mich wie ein Wahnsinniger zu benehmen, und das gelang mir vollkommen. Miss Mills hatte ein hastig geschriebenes Billett von Dora erhalten, des Inhalts, daß alles entdeckt sei, und mit der Bitte: »Ach komm, Julia, komm, komm!« Aber Miss Mills fürchtete, ihre Anwesenheit würde den höheren Mächten mißfallen, und war deshalb noch nicht gegangen. Und uns alle umfing die finstere Nacht der Wüste Sahara.

Miss Mills besaß einen wunderbaren Redefluß und liebte es, ihn sich schrankenlos ergießen zu hören. Es entging mir nicht, daß sie in unserer Trübsal schwelgte, obgleich sie ihre Tränen mit den meinen vermischte. Sie wühlte förmlich in Gram. Ein klaffender Abgrund, sagte sie, habe sich zwischen Dora und mir geöffnet, und nur die Liebe könne ihn mit ihrem Regenbogen überspannen. Die Liebe müsse leiden in dieser finstern Welt, es sei immer so gewesen und werde immer so sein. Aber das tue nichts, bemerkte sie, die mit Spinnennetzen umwobenen Herzen würden schließlich brechen, und dann sei die Liebe gerächt.

Das klang wenig tröstlich, aber Miss Mills wollte nicht trügerische Hoffnungen erweckt sehen. Sie machte mich noch viel unglücklicher, als ich bereits war, aber ich fühlte und sagte es ihr auch mit der größten Dankbarkeit, daß sie eine wahre Freundin sei.

Wir beschlossen, daß sie am nächsten Morgen in aller Frühe zu Dora gehen und auf Mittel sinnen sollte, ihr durch Blick oder Wort Nachricht von meiner unwandelbaren Liebe und meinem Kummer zu geben. Wir schieden überwältigt von Schmerz, und ich glaube, Miss Mills empfand große Genüsse dabei.

Ich vertraute alles meiner Tante an, als ich nach Hause kam, und ging trotz aller ihrer Trostreden voll Verzweiflung zu Bett. Ich stand voll Verzweiflung auf und ging voll Verzweiflung aus. Es war Samstag früh, und ich ging geradewegs nach den Commons. Ich war überrascht, als ich von weitem die Austräger in einer Gruppe vor unserer Kanzleitür stehen sah. Ich beschleunigte meine Schritte, ging an ihnen vorbei, wobei mir ihr Aussehen auffiel, und trat hastig ein.

Die Schreiber waren alle versammelt, arbeiteten aber nicht. Der alte Tiffey saß, ich glaube, zum ersten Mal in seinem Leben, auf einem andern Stuhl und hatte seinen Hut nicht aufgehängt.

»Ein schreckliches Unglück, Mr. Copperfield«, sagte er, als ich eintrat.

»Was ist denn?« rief ich aus. »Was ist vorgefallen?«

»Sie wissen es noch nicht?« riefen Tiffey und alle übrigen, die mich jetzt umdrängten.

»Nein«, sagte ich und blickte von einem zum andern.

»Mr. Spenlow!«

»Was ist mit ihm?«

»Er ist tot.«

Ich glaubte, die Kanzlei schwankte und nicht ich, als einer der Schreiber mich mit seinen Armen auffing. Sie setzten mich auf einen Stuhl, banden mir das Halstuch ab und brachten mir ein Glas Wasser. Ich weiß nicht, wieviel Zeit darüber verging.

»Tot?« sagte ich.

»Er speiste gestern in der Stadt und kutschierte seinen Phaeton allein«, erzählte Tiffey, »denn er hatte den Kutscher vorausgeschickt, wie er es manchmal zu tun pflegte.«

»Nun, und?«

»Der Wagen kam ohne ihn an. Die Pferde blieben vor der Stalltür stehen, der Diener ging mit einer Laterne hinaus. Es saß niemand im Wagen.

»Waren sie durchgegangen?«

»Sie schwitzten nicht«, sagte Tiffey und setzte die Brille auf. »Sie schwitzten nicht mehr als gewöhnlich. Die Zügel waren wohl zerrissen, aber auf dem Boden geschleift worden. Alle wurden sogleich geweckt, und drei von den Leuten gingen auf die Straße hinaus. Sie fanden ihn eine Meile vom Hause.«

»Mehr als eine Meile, Mr. Tiffey«, unterbrach ein jüngerer Schreiber.

»So? Ja, ich glaube, Sie haben recht, – also mehr als eine Meile vom Hause, – nicht weit von der Kirche. Er lag halb auf dem Fahrweg, halb auf dem Fußsteig auf dem Gesicht. Ob er vom Schlag getroffen vom Bock fiel oder ausstieg, weil ihm übel wurde, oder ob er überhaupt schon tot war, als sie ihn fanden, oder nur besinnungslos, scheint niemand zu wissen. Keinesfalls hat er sich wieder erholt. Ärztliche Hilfe wurde so schnell wie möglich geholt, – alles umsonst …«

Ich kann nicht schildern, in welchen Gemütszustand mich diese Nachricht versetzte. Der Schreck über die Plötzlichkeit des Ereignisses, das einen Menschen betraf, mit dem ich in jeder Hinsicht entzweit war, die grausige Leere in seinem Bureau, wo sein Tisch und sein Stuhl auf ihn zu warten schienen, und das, was er gestern noch geschrieben, wie gespensterhaft erschien, – die unerklärliche Unmöglichkeit, ihn von dem Orte zu trennen und jeden Augenblick, wenn die Türe aufging, zu glauben, daß er hereintreten müßte, die träge Stille und Ruhe in der Kanzlei, das unersättliche Behagen, mit dem unsere Leute immerwährend von dem Vorfall sprachen und andere den ganzen Tag ein- und ausgingen und sich das Gehirn mit dem Thema vollstopften, – alles das kann sich jeder selbst ausmalen. Ganz sonderbar war, daß ich in den tiefsten Tiefen meines Herzens eine heimliche Eifersucht selbst auf den Tod empfand; wie es mir vorkam, bangte mir, daß mich seine Macht aus Doras Gedanken verdrängen könnte. Ich empfand es wie einen Stich, daß ich auf ihren Schmerz neidisch war. Der Gedanke erfüllte mich mit Unruhe, daß sie vor andern weinte und von andern getröstet wurde. Ein selbstsüchtiger Wunsch erfüllte mich in dieser unpassendsten aller Zeiten, jeden von ihr fernzuhalten außer mich und ihr alles in allem zu sein.

In dieser wirren Stimmung ging ich abends nach Norwood, und da ich von der Dienerschaft erfuhr, daß Miss Mills dort gewesen, veranlaßte ich meine Tante, an diese einen Brief zu adressieren, den ich selbst schrieb. Ich beklagte aufrichtig den unerwarteten Tod Mr. Spenlows und vergoß Tränen dabei. Ich bat Miss Mills, Dora in einem passenden Moment zu sagen, daß ihr Vater mit mir mit der größten Güte und Rücksicht gesprochen und bei Erwähnung ihres Namens nur Worte der Liebe und nicht des Vorwurfs gebraucht hätte. Ich weiß, ich tat dies aus Selbstsucht, damit mein Name ihr vor Augen komme, aber ich bemühte mich zu glauben, daß ich damit nur seinem Andenken Gerechtigkeit widerfahren ließe. Vielleicht glaubte ich es wirklich.

Meine Tante erhielt am nächsten Morgen ein paar Antwortzeilen; sie waren außen an sie adressiert, inwendig an mich gerichtet. Dora war von Schmerz überwältigt gewesen und als ihre Freundin sie gefragt hatte, ob sie mir Grüße bestellen sollte, habe sie nur unter vielen Tränen gerufen: »Ach mein lieber Papa, ach mein lieber Papa!« Aber sie hatte nicht nein gesagt. Und das nahm ich als sehr viel auf.

Mr. Jorkins, der seit dem Vorfall in Norwood gewesen war, kam ein paar Tage später auf die Kanzlei. Er und Tiffey schlossen sich ein paar Minuten lang ein, dann steckte Tiffey den Kopf heraus und winkte mir einzutreten.

»O«, sagte Mr. Jorkins, »Tiffey und ich, Mr. Copperfield, stehen im Begriff, das Pult, die Schränke und ähnliche Repositorien des Verblichenen zu untersuchen, um seine Privatpapiere zu versiegeln und nach einem Testament zu suchen. Nirgends ist eine Spur davon zu finden. Würden Sie vielleicht so gut sein, uns ein wenig zu helfen?«

Ich war in größter Sorge gewesen, wie sich wohl Doras Verhältnisse gestalteten, unter wessen Vormundschaft sie kommen würde, und so weiter, und hier konnte ich etwas erfahren. Wir begannen sofort zu suchen; Mr. Jorkins schloß die Pulte und Kasten auf, und wir nahmen alle Papiere heraus. Die Akten legten wir auf die eine Seite, die nicht sehr zahlreichen Privatpapiere auf die andere. Wir waren sehr ernst, und wenn wir ein Siegel, einen Bleistift, einen Ring oder irgendeine andere Kleinigkeit fanden, die besonders an ihn erinnerte, sprachen wir besonders leise.

Wir hatten schon verschiedene Pakete gesiegelt und immer noch nichts gefunden, als Mr. Jorkins mit denselben Worten, die sein verstorbener Kompagnon immer auf ihn anzuwenden pflegte, zu uns sagte: »Mr. Spenlow war sehr schwer von seinem gewohnten Wege abzubringen. Sie wissen, wie er war. Ich neige der Ansicht zu, daß er kein Testament gemacht hat.«

»O nein, ich weiß es bestimmt«, sagte ich.

Sie hielten beide inne und sahen mich an.

»An dem Tag, als ich das letzte Mal mit ihm sprach, redete er zu mir davon und sagte, seine Angelegenheiten seien längst geordnet.«

Die beiden schüttelten den Kopf.

»Das sieht schlimm aus«, meinte Tiffey.

»Sehr schlimm«, bestätigte Mr. Jorkins.

»Sie glauben doch nicht etwa –« fing ich an.

»Mein guter Mr. Copperfield«, sagte Tiffey, legte die Hand auf meinen Arm und machte beide Augen zu, während er den Kopf schüttelte, »wenn Sie in den Commons so lang gewesen wären wie ich, so würden Sie wissen, daß es keinen Punkt gibt, hinsichtlich dessen die Menschen so inkonsequent und so wenig verlässig sind.«

»Aber mein Gott, ganz dieselbe Bemerkung ließ er mir gegenüber fallen«, wandte ich mit Beharrlichkeit ein.

»Das möchte ich fast ausschlaggebend nennen«, bemerkte Tiffey. »Meine Meinung ist jetzt: – kein Testament.«

Das erschien mir wunderbar; aber es zeigte sich wirklich, daß es sich so verhielt. Mr. Spenlow hatte niemals daran gedacht, ein Testament aufzusetzen, soweit das aus seinen Papieren hervorgehen konnte; es fand sich keine Notiz, kein Entwurf, kein Wort, das auf ein solches hindeutete. Was mich nicht weniger in Verwunderung setzte, war, daß sich seine Angelegenheiten in der denkbar größten Unordnung befanden. Wie ich hörte, hielt es außerordentlich schwer, herauszubekommen, was er schuldete oder bezahlt hatte oder wie hoch sich bei seinem Tode sein Vermögen belief. Er schien es offenbar seit Jahren selbst nicht gewußt zu haben. Allmählich zeigte sich, daß er in seinem Eifer, in den Commons in Äußerlichkeiten zu glänzen, mehr als sein Einkommen aus der Kanzlei verbraucht und sein nie sehr großes Vermögen stark angegriffen hatte.

Norwood wurde verkauft, und Tiffey sagte mir, ohne zu wissen, wie sehr mich seine Mitteilungen interessierten, daß er nach Bezahlung aller Schulden und nach Abzug der schlechten und zweifelhaften Außenstände nicht tausend Pfund für den Rest geben würde.

So stand die Sachlage nach Ablauf von ungefähr sechs Wochen. Ich hatte die ganze Zeit über unsäglich gelitten und glaubte wirklich, ich müßte Hand an mich legen, wenn Miss Mills mir immer wieder mitteilte, daß meine arme kleine Dora bei Nennung meines Namens nichts als: »Ach armer Papa, ach mein guter Papa!« riefe. Ich erfuhr auch, daß sie keine andern Verwandten hatte als zwei unverheiratete Schwestern Mr. Spenlows, die in Putney wohnten und seit vielen Jahren mit ihrem Bruder nicht mehr in Verkehr standen. Man hatte sie bei Doras Taufe, sagte Miss Mills, bloß zum Tee und nicht zum Mittagessen eingeladen, und daraufhin hätten sie sich schriftlich ausgesprochen, es sei wohl besser für das Wohl aller Beteiligten, wenn sie wegblieben. Seitdem waren sie ihre Wege gegangen und ihr Bruder die seinigen.

Diese beiden Damen tauchten jetzt aus ihrer Zurückgezogenheit auf und schlugen Dora vor, nach Putney zu ziehen. Dora hatte sich in ihre Arme geworfen und weinend ausgerufen: »O ja, liebe Tanten, bitte nehmen Sie Julia Mills und mich und Jip nach Putney!«

So verließ sie denn Norwood kurz nach dem Begräbnis.

Wie ich Zeit fand, mich bis in die Umgebung von Putney herumzutreiben, begreife ich heute wirklich nicht, aber durch irgendwelche Mittel wußte ich es ziemlich häufig zu bewerkstelligen. Um ihre Freundschaftspflichten besser zu erfüllen, führte Miss Mills ein Tagebuch und las es mir vor, wenn sie manchmal mit mir auf der Heide zusammenkam, oder lieh es mir, wenn sie dazu keine Zeit hatte. Einige Stellen lauteten:

Montag. Meine liebe D. immer noch sehr niedergeschlagen. Kopfweh. Machte sie aufmerksam, wie hübsch glatt J. gekämmt sei. D. streichelte ihn. Die Erinnerungen öffneten die Schleusen des Schmerzes. Heftiger Ausbruch von Kummer (sind Tränen Tautropfen des Herzens? J. M.).

Dienstag. D. angegriffen und nervös. Schön in ihrer Blässe (bemerken wir dies nicht zuweilen auch am Monde? J. M.). D., ich und J. fahren aus. J. sieht zum Fenster hinaus und bellt den Straßenverkehr heftig an. Ein Lächeln überzieht D.s Züge. (Aus solch unbedeutenden Gliedern ist die Kette des Lebens geschmiedet! J. M.).

Mittwoch. D. verhältnismäßig heiter. Ich sang ihr als passende Melodie »Die Abendglocken« vor. Wirkung nicht besänftigend, eher das Gegenteil. D. unaussprechlich gerührt. Ich fand sie später in ihrem Zimmer schluchzend. Ich rezitierte einige Verse, die das Ich mit einer jungen Gazelle vergleichen. Wirkungslos. Erwähnte auch »Geduld« auf einem Denkmal (Frage: Warum auf einem Denkmal? J. M.).

Donnerstag. D. offenbar ein wenig getröstet. Besser geschlafen. Ein leichter Hauch von Rot wieder auf den Wangen. Beschloß D. C. zu erwähnen. Sprach von ihm vorsichtig während des Ausfahrens. D. sogleich vom Schmerz überwältigt. »O liebe, liebe Julia! Ich bin ein böses und unfolgsames Kind gewesen!« Beruhigte und liebkoste sie. Entwarf ein ideales Bild von D. C. am Rande des Grabes. D. abermals vom Schmerz überwältigt. »Ach, was soll ich tun! Was soll ich tun! Ach bring mich irgendwohin!« Bin sehr erschrocken. D. fällt in Ohnmacht, und ich hole ein Glas Wasser aus dem Wirtshaus (poetische Verwandtschaft: Buntscheckiges Schild über der Tür – Buntscheckigkeit des menschlichen Lebens. Ach! J. M.).

Freitag. Tag großer Ereignisse. Ein Mensch kommt in die Küche mit einem blauen Sack und will Damenstiefel zum Ausbessern abholen. Die Köchin sagt: Kein Auftrag. Der Mann will es nicht glauben: Die Köchin geht hinaus, um zu fragen, und läßt den Mann mit Jip allein. Wie die Köchin zurückkehrt, will es der Mann immer noch nicht glauben, aber geht endlich. J. fehlt. – D. außer sich. Nach der Polizei geschickt. Der Mann beschrieben: breite Nase und Beine wie Brückenpfeiler. Nachforschungen in allen Richtungen. Kein J. zu finden. D. weint bitterlich und ist untröstlich. Erwähne abermals die junge Gazelle. Passend, aber nutzlos. Gegen Abend kommt ein fremder Junge. Wird ins Zimmer geführt. Breite Nase, aber keine Brückenpfeiler. Sagt, er wisse von einem Hund, und will ein Pfund haben. Will sich nicht weiter erklären, obgleich wir sehr in ihn dringen. Dora gibt ihm ein Pfund, und er führt die Köchin in ein kleines Haus, wo J. an ein Tischbein gebunden ist. Große Freude, Dora umtanzt J., während er sein Abendbrot verzehrt. Ermutigt durch diesen glücklichen Zufall erwähne ich oben D. C. – D. fängt wieder zu weinen an und zu seufzen: »Ach ich bitte dich, ich bitte dich. Es ist so schlecht, an jemand anders zu denken als an den armen Papa.« Umarmt J. und weint sich in Schlaf. (Muß nicht D. C. den mächtigen Schwingen der Zeit vertrauen? J. M.)

 

Miss Mills und ihr Tagebuch waren zu jener Zeit mein einziger Trost. Sie, die bei Dora noch vor ein paar Augenblicken geweilt, zu sehen, den Anfangsbuchstaben von Doras Namen in dem Tagebuch aufzusuchen, sich von ihr immer unglücklicher und unglücklicher machen zu lassen, war meine einzige Erquickung.

39. Kapitel Wickfield und Heep


39. Kapitel Wickfield und Heep

Meine Tante, wahrscheinlich über meine fortdauernde Niedergeschlagenheit ernstlich besorgt, stellte sich, als ob ihr sehr viel daran läge, wenn ich nach Dover nachsehen führe, wie es mit der Mietsverlängerung stünde, und um geeigneten Falles mit dem gegenwärtigen Inwohner einen neuen Kontrakt abzuschließen.

Janet stand jetzt in Mr. Strongs Diensten, wo ich sie jeden Tag sah. Als sie von Dover wegzog, schwankte sie, ob sie die Lossagung von der Männerwelt, zu der man sie erzogen hatte, dadurch krönen sollte, daß sie einen Lotsen heiratete; aber sie entschied sich dagegen. Nicht so sehr des Prinzips willen, als weil er ihr nicht gefiel.

Obwohl es mich viel kostete, Miss Mills zu verlassen, ging ich doch ziemlich gern auf den Plan meiner Tante ein, da er mich instand setzte, ein paar ruhige Stunden mit Agnes zu verleben. Ich bat den guten Doktor um einen Urlaub von drei Tagen – er wollte mir viel mehr bewilligen, aber meine Arbeitsenergie sträubte sich dagegen ? und entschloß mich, die kleine Reise anzutreten.

Wegen meiner Pflicht in den Commons brauchte ich mir keine großen Skrupel zu machen. Die Wahrheit zu gestehen, wir kamen allmählich in keinen sehr guten Geruch bei den eleganteren Proktoren und sanken rasch zu einer recht zweifelhaften Stellung herab. Das Geschäft war vor Mr. Spenlows Eintritt schon nicht sehr bedeutend gewesen, hatte sich durch den Glanz, den derselbe zur Schau trug, gebessert, besaß jedoch keine genügend solide Grundlage, um ohne Schaden den plötzlichen Verlust seines eigentlichen Leiters zu ertragen. Es sank sehr schnell. Mr. Jorkins, trotz seines Ansehens in der Firma selbst, ein nachlässiger unfähiger Mann nach außen, war bei dem wenigen guten Ruf, den er in der Stadt genoß, nicht imstande, das Geschäft zu heben. Ich kam jetzt unter seine Leitung, und als ich sah, wie er immer zur Tabaksdose griff und das Geschäft ruhig treiben ließ, reuten mich die tausend Pfund meiner Tante mehr als je.

Aber das war nicht das Schlimmste. In den Commons gab es eine Anzahl Mitläufer, die, ohne selbst Proktoren zu sein, doch in Rechtsgeschäften herumpfuschten und sich zu deren Besorgung gegen einen Anteil an der Beute die Namen von wirklichen Proktoren liehen; und es gab eine ziemliche Menge solcher Leute. Da unsere Firma Beschäftigung um jeden Preis brauchte, so verbanden wir uns mit dieser noblen Schar.

Trauscheine und Bestätigungen kleiner Testamente waren das Rentabelste, und um sie riß man sich am meisten. In allen Eingängen der Commons lauerten Aufpasser und Schlepper, mit der genauen Instruktion, alle Leute in Trauer und Herren, die etwas verschämt aussahen, anzufallen und sie in die Kanzleien zu bringen, für die ihre Auftraggeber Geschäfte betrieben. So gut wurden diese Instruktionen befolgt, daß ich selbst, ehe man mich kannte, zweimal in die Kanzlei unseres Hauptgegners geschleppt wurde. Die einander widerstrebenden Interessen dieser Aufpasser machten Kollisionen nicht selten. Hinsichtlich der Trauscheine war der Wetteifer so groß, daß oft um irgendeinen blöde aussehenden Herrn so lange geboxt wurde, bis er als Beute dem Stärksten zufiel. Einmal stürzte ein höflicher Mann mit einer weißen Schürze unter einem Torweg hervor auf mich los, flüsterte mir das Wort »Trauschein« ins Ohr und war nur sehr schwer abzuhalten, mich auf die Arme zu nehmen und zu einem Proktor zu tragen.

Also, ich fuhr eines Tages nach Dover. Ich fand das Häuschen in bester Ordnung und konnte meine Tante mit der Nachricht erfreuen, daß auch ihr Mieter die Fehde mit den Eseln fortführte.

Nachdem ich das Geschäft abgemacht und eine Nacht dort geblieben war, begab ich mich frühzeitig nach Canterbury. Es war jetzt wieder Winterzeit, und der frische, kalte, windige Tag und die salzige Luft auf den Dünen stärkten meine Hoffnungsfreudigkeit ein wenig.

In Canterbury angekommen, schlenderte ich durch die alten Straßen, was mein Gemüt sehr beruhigte und mir das Herz erleichterte.

Seltsam. Den beschwichtigenden Zauber, der von Agnes ausging, schien selbst die Stadt zu teilen, wo sie wohnte. Die ehrwürdigen Domtürme und die Dohlen und Krähen, deren Stimmen hoch oben in der Luft die Stimmung noch ernster machten, als vollständiges Schweigen vermocht hätte, die verfallenen Portale, einst mit Bildwerken geschmückt, die längst herabgefallen und zu Staub geworden wie die ehrwürdigen Pilger, die zu ihnen emporgeblickt, – die stillen Winkel, wo vielhundertjähriger Efeu sich über spitze Giebel und Mauerruinen schlang, – die alten Häuser – das ländliche Bild von Feldern und Gärten und Obsthainen –, überall ruhte dieselbe stillheitere Luft, derselbe ruhige, sinnige, besänftigende Geist.

Als ich in Mr. Wickfields Haus trat, fand ich in der kleinen Stube im Erdgeschoß, wo früher Uriah Heep zu sitzen pflegte, Mr. Micawber eifrig mit Schreiben beschäftigt. Seinem jetzigen Stande gemäß schwarz angezogen, thronte er feierlich in der kleinen Kanzlei.

Mr. Micawber freute sich außerordentlich mich zu sehen, schien aber auch ein wenig verlegen. Er wollte mich sogleich zu Uriah führen, aber ich schlug es aus.

»Ich kenne das Haus von früher, Sie wissen doch«, sagte ich, »und werde mich schon hinauffinden. Wie gefällt Ihnen übrigens die Jurisprudenz, Mr. Micawber?«

»Mein lieber Copperfield, auf einen Mann, der ausgestattet ist mit den höheren Gaben der Phantasie, wirkt das Übermaß von Detail, das den juristischen Studien eigentümlich ist, einigermaßen unangenehm. Selbst in unserer Geschäftskorrespondenz«, sagte Mr. Micawber mit einem Blick auf ein paar Briefe, die er eben schrieb, »ist es dem Geiste nicht erlaubt, sich zu einer höhern Form des Ausdrucks aufzuschwingen. Aber dennoch ist es ein großartiges Studium. Ein wundervoller Beruf.«

Er teilte mir dann mit, daß er Uriah Heeps ehemalige Wohnung gemietet habe, und versicherte, daß sich Mrs. Micawber freuen werde, mich wieder einmal unter ihrem eignen Dach zu empfangen.

»Es ist eine niedrige Wohnung«, sagte er, »um einen Lieblingsausdruck meines Freundes Heep zu gebrauchen, aber sie bildet die erste Stufe zu einer anspruchsvolleren häuslichen Einrichtung.«

Ich fragte ihn, ob er bis jetzt mit seinem Freunde Heep zufrieden sei. Er stand auf, um sich zu versichern, daß die Türe gehörig geschlossen sei, ehe er mit leiserer Stimme antwortete:

»Lieber Copperfield, ein Mann, der unter dem Druck pekuniärer Verlegenheiten schmachtet, befindet sich der Mehrzahl der Menschen gegenüber im Nachteil. Diese Situation wird nicht besser, wenn der Druck der Lage die Annahme von pekuniären Akzidenzien nötig macht, ehe diese Akzidenzien eigentlich fällig sind. Ich kann nur sagen, daß mein Freund Heep auf Ansuchen, die ich nicht weiter auszumalen brauche, in einer Weise geantwortet hat, die ebensosehr seinem Kopf wie seinem Herzen zur Ehre gereichen muß.«

»Ich hätte nicht geglaubt, daß er mit seinem Geld so freigebig sein würde«, bemerkte ich.

»Verzeihen Sie«, sagte Mr. Micawber mit gezwungener Miene, »ich spreche von meinem Freunde Heep, wie ich ihn kennengelernt habe.«

»Es freut mich, daß Ihre Erfahrungen in diesem Punkte so günstig ausfielen«, erwiderte ich.

»Sie sind sehr gütig, lieber Copperfield«, sagte Mr. Micawber und summte ein Liedchen vor sich hin.

»Sehen Sie Mr. Wickfield häufig?« fragte ich, um von etwas anderem zu sprechen.

»Nicht oft«, sagte Mr. Micawber leichthin. »Mr. Wickfield ist, darf ich wohl sagen, ein Mann von vortrefflichen Absichten; aber er ist kurz, er ist invalid.«

»Ich fürchte, sein Kompagnon will ihn dazu machen«, sagte ich.

»Lieber Copperfield«, sagte Mr. Micawber und rutschte unruhig auf seinem Stuhle hin und her, »erlauben Sie mir eine Bemerkung. Ich befinde mich hier in einer Vertrauensstellung. Die Besprechungen mancher Themen, selbst mit Mrs. Micawber, einer Frau von so bemerkenswerter Klarheit des Geistes, ist meiner Überzeugung nach unverträglich mit den Funktionen, die mir jetzt obliegen. Ich möchte mir daher die Freiheit nehmen, Ihnen vorzuschlagen, daß wir in unserm freundschaftlichen Verkehr – der, hoffe ich, niemals gestört werden wird – eine Linie ziehen. Auf der einen Seite dieser Linie«, sagte Mr. Micawber und stellte sie auf dem Pulte mit dem Lineal dar, »ist das ganze Bereich des menschlichen Geistes mit einer einzigen unbedeutenden Ausnahme. Auf der andern liegt diese Ausnahme, nämlich die Angelegenheiten von Messrs. Wickfield & Heep mit allem, was dazu gehört. Ich gebe mich der Hoffnung hin, daß der Gefährte meiner Jugend es mir nicht verübeln wird, wenn ich seiner kühlern Überlegung diesen Vorschlag unterbreite.«

Obgleich ich an Mr. Micawber eine gewisse Unruhe wahrnahm, die ihn in beständiger Spannung zu erhalten schien, wie wenn seine neuen Pflichten ihm nicht recht paßten, fühlte ich mich doch nicht berechtigt beleidigt zu sein. Es schien ihn zu erleichtern, als ich ihm dies versicherte; und er schüttelte mir herzlich die Hand.

»Ich bin geradezu entzückt von Miss Wickfield, lassen Sie mich Ihnen das gestehen, Copperfield. Sie ist eine ausgezeichnete junge Dame von ungewöhnlichen Reizen, Eigenschaften und Tugenden. Auf Ehre!« sagte Mr. Micawber, küßte sich die Hand und verbeugte sich auf seine vornehmste Weise. »Ich liege Miss Wickfield zu Füßen! Hem.«

»Das wenigstens freut mich«, sagte ich.

»Lieber Copperfield, wenn Sie uns nicht an jenem prächtigen Nachmittag, den wir bei Ihnen zuzubringen das Vergnügen genossen, versichert hätten, daß D. Ihr Lieblingsanfangsbuchstabe sei, würde ich fraglos vorausgesetzt haben, es müßte das A. sein.«

Wir alle haben wohl schon das Gefühl kennengelernt, das uns gelegentlich überkommt, als wäre etwas schon lange, lange vorher gesagt und getan worden, als hätten wir in altersgrauer Zeit dieselben Gesichter, Gegenstände und Verhältnisse erlebt und wüßten genau, was im nächsten Augenblick geschehen wird, – ebenfalls aus alter Erinnerung her. Diese geheimnisvolle Empfindung war nie im Leben stärker in mir als bei diesen Worten Mr. Micawbers.

Ich verabschiedete mich von ihm vorläufig und trug ihm die besten Grüße an seine Familie auf.

Als er sich wieder auf seinen Stuhl setzte, die Feder nahm und den Kopf in dem steifen Kragen zurechtrückte, um bequemer schreiben zu können, fühlte ich deutlich, daß sich seit seiner neuen Beschäftigung zwischen ihm und mir eine Schranke erhoben hatte, die unserm Verkehr einen ganz andern Charakter gab.

Es war niemand in dem altertümlichen Besuchszimmer zugegen, obgleich mir Spuren von Mrs. Heeps Anwesenheit nicht entgingen. Ich warf einen Blick in das anstoßende Zimmer und fand Agnes neben dem Kamin an einem hübschen altmodischen Pulte schreibend.

Mein Schatten in der Tür veranlaßte sie aufzublicken.

Welch ein Genuß, die Ursache der freudigen Veränderung auf ihrem aufmerksamen Gesicht und der Gegenstand ihres lieblichen Aufschauens und Willkommengrußes zu sein!

»Ach, Agnes«, sagte ich, als wir nebeneinander saßen; »ich habe dich wieder so sehr vermißt.«

»Wirklich, Trotwood? Wieder und so bald!«

Ich nickte. »Ich weiß es nicht, wie es kommt, Agnes; mir ist, als ob mir eine geistige Eigenschaft fehlte, die ich eigentlich besitzen sollte. Du nahmst mir in der schönen, alten Zeit so das Denken ab, und ich sah in dir meine Beraterin und meine Stütze immerwährend, daß ich wirklich glaube, ich habe mir diese Eigenschaft zu erwerben versäumt.«

»Und was ist das für eine?« fragte Agnes heiter.

»Ich weiß nicht, wie ich sie nennen soll. Ich glaube, ich besitze doch Ausdauer und ernstes Streben?«

»Sicherlich!«

»Und Geduld, Agnes?« fragte ich mit einigem Zögern.

»Ja«, gab Agnes lachend zu, »leidlich.«

»Und doch«, sagte ich, »fühle ich mich manchmal so unglücklich, bin so schwankend und unentschlossen und unfähig, ruhig zu bleiben, daß mir etwas fehlen muß. – Selbstvertrauen möchte ich es vielleicht nennen.«

»Nenn es so, wenn du willst«, sagte Agnes.

»Schau mal her«, fuhr ich fort. »Du kommst nach London, ich vertraue auf dich, und sofort liegen ein Ziel und eine Laufbahn vor mir. Umstände lenken mich von dem Wege ab, und ich komme hierher und bin im Augenblick wie umgewandelt. Die Verhältnisse, die mir Schmerz bereiteten, sind dieselben, aber seit ich im Zimmer bin, hat sich ein Einfluß meiner bemächtigt, der mich sie so viel leichter ertragen läßt. Was ist das? Worin besteht dein Geheimnis, Agnes?«

Ihr Haupt war gesenkt, und sie blickte ins Feuer.

»Es ist die alte Geschichte. Lach nicht, wenn ich sage, es war immer im kleinen so wie jetzt in wichtigen Dingen. Meine alten Sorgen waren Unsinn, und jetzt sind sie Ernst. Aber sooft ich meine Adoptivschwester verlasse –«

Agnes sah mich an – mit einem himmlischen Gesicht – und reichte mir ihre Hand hin.

Ich drückte einen Kuß darauf.

»Sooft du mir gefehlt hast, Agnes, um mir gleich zu Anfang zu raten, mir zur Seite zu stehen, da ging ich stets irr und geriet in allerlei Schwierigkeiten. Und wenn ich schließlich immer wieder zu dir kam, da fand ich Frieden und Glück. Ich komme jetzt heim wie ein müder Wanderer, und wieder erfüllt mich die Seligkeit der Ruhe.«

Ich fühlte so tief, was ich sagte, und es rührte mich so aufrichtig, daß mir die Stimme versagte und ich das Gesicht mit den Händen bedeckte und in Tränen ausbrach.

In ihrer stillen schwesterlichen Weise machte mich Agnes bald meine Schwäche vergessen und ließ sich alles von mir erzählen, was sich seit unserm letzten Zusammentreffen begeben hatte.

»So, das ist alles, Agnes«, sagte ich, als ich fertig war. »Jetzt vertraue ich auf dich.«

»Aber du darfst nicht allein auf mich vertrauen, Trotwood. Du hast auch noch jemand anders.«

»Dora?«

»Gewiß.«

»Ja, ich habe dir noch nicht gesagt, Agnes«, begann ich ein wenig verlegen, »daß man auf Dora eigentlich schwer«, – nicht um alles in der Welt hätte ich die Worte ›vertrauen kann‹ herausgebracht, – »aber sie ist schwer – ich weiß gar nicht, wie ich es ausdrücken soll, Agnes. Sie ist ein furchtsames kleines Geschöpf, leicht erschreckt und außer Fassung gebracht. Vor einiger Zeit, kurz vor ihres Vaters Tod, wollte ich – aber ich muß es dir ausführlich erzählen, wenn du Geduld hast.«

Ich erzählte Agnes von dem Kochbuch, dem Rechnungsführen, der Eröffnung meiner Armut und alles übrige.

»O Trotwood«, sagte sie mit einem Lächeln, »ganz deine alte überstürzte Weise! Du kannst ganz ernst in der Welt vorwärtsstreben und brauchst doch dabei nicht so mit der Tür ins Haus zu fallen bei einem furchtsamen, liebevollen und unerfahrenen Mädchen. Arme Dora!«

Ich hatte noch nie so liebliche und freundliche Milde in einer Stimme klingen hören. Ich empfand für Agnes so viel Dankbarkeit und bewunderte sie so sehr. Ich sah in einer schönen Zukunft die beiden nebeneinander als Freundinnen, jede der andern ein Schmuck und eine Zierde.

»Meiner Meinung nach wäre der ehrenhafteste Weg, an die zwei alten Damen zu schreiben«, sagte sie auf meine Frage, was wohl das beste sei. »Meinst du nicht auch, daß jedes Geheimnis ein unwürdiges Vorgehen bedeutet?«

»Ja, wenn du es meinst.«

»Ich kann solche Dinge nur schlecht beurteilen«, entgegnete Agnes mit bescheidenem Zögern, »aber meinem Gefühl nach ist Heimlichkeit deiner nicht würdig.«

»Meiner nicht würdig, weil du eine so hohe Meinung von mir hast, fürchte ich.«

»Deiner nicht würdig bei der Offenheit deines Charakters, und deshalb würde ich an diese beiden Damen schreiben. Ich würde so einfach und offen wie möglich alles Vorgefallene erzählen und sie um Erlaubnis bitten, manchmal ihr Haus besuchen zu dürfen. Da du jung bist und dir eine Stellung im Leben erst erringen willst, so glaube ich, du sagst am besten, du würdest dich selbstverständlich in alle Bedingungen fügen, die sie dir auferlegten. Ich würde sie bitten, dein Ersuchen nicht abzuschlagen, ohne erst mit Dora zu sprechen, wenn sie die Zeit für passend halten. Ich würde nicht zu leidenschaftlich sein«, sagte Agnes sanft, »oder zu viel versprechen. Ich würde mich auf meine Treue und Ausdauer verlassen – und auf Dora.«

»Aber wenn sie Dora durch Nennung meines Namens wieder erschrecken?« wandte ich ein. »Und wenn sie dann anfängt zu weinen und nichts von mir sagt?«

»Ist das wahrscheinlich?«

»Ach, sie ist so leicht einzuschüchtern wie ein Vögelchen. Es wäre doch möglich. Oder wenn die beiden Misses Spenlow – ältere Damen dieser Art sind manchmal recht wunderlich – nicht Personen sind, an die man sich in dieser Weise wenden könnte?«

»Ich glaube nicht, Trotwood, daß ich das weiter in Betracht ziehen würde. Vielleicht wäre es besser, nur zu bedenken, ob man recht handelt, und wenn man sich darüber klargeworden, es zu tun.«

Ich hatte keine Zweifel mehr. Mit erleichtertem Herzen, obgleich von der hohen Wichtigkeit meiner Arbeit ganz durchdrungen, widmete ich den ganzen Nachmittag dem Entwurf des Briefes, und Agnes überließ mir zu diesem großen Zweck ihr Pult. Aber zuerst ging ich hinunter, um Mr. Wickfield und Uriah Heep aufzusuchen.

Uriah fand ich in einem neuen, nach frischer Tünche riechenden Zimmer, das in den Garten hinausging. Inmitten eines Haufens von Büchern und Papieren sitzend sah er unaussprechlich niederträchtig aus. Er empfing mich mit seiner gewohnten kriecherischen Weise und stellte sich, als ob ihm Mr. Micawber von meiner Ankunft nichts gesagt hätte, – eine Vorspiegelung, die ich mir die Freiheit nahm zu bezweifeln. Er begleitete mich in Mr. Wickfields Zimmer, das ich kaum mehr wiedererkannte, so war es, um das des neuen Kompagnons auszustatten, der meisten Möbel beraubt worden. Hier stellte sich Uriah vor den Kamin, wärmte sich den Rücken und schabte sich mit der knochigen Hand das Kinn, während ich Mr. Wickfield begrüßte.

»Du bleibst bei uns, Trotwood, solange du in Canterbury bist?« sagte Mr. Wickfield, nicht ohne durch einen Blick Uriah um Erlaubnis zu fragen.

»Ist Platz für mich vorhanden?« fragte ich.

»O gewiß, Master Copperfield – ich wollte Mister sagen, aber es drängt sich mir immer so auf der Zunge«, sagte Uriah. »Ich mecht gern Ihr altes Zimmer räumen, wenns angenehm wäre.«

»Nein, nein«, Mr. Wickfield wehrte ab, »warum sollten Sie sich Unannehmlichkeiten bereiten? Es ist noch ein anderes Zimmer da.«

»Aber Sie wissen ja, ich mecht es von Herzen gerne tun, Sie kennen mich doch«, entgegnete Uriah mit einem Grinsen.

Um ein Ende zu machen, erklärte ich, nur das andere oder gar kein Zimmer annehmen zu wollen. Dabei blieb es, und ich verabschiedete mich bis Mittag und ging wieder hinauf.

Ich hatte gehofft, niemand anders zu finden als Agnes. Aber Mrs. Heep hatte um Erlaubnis gebeten, sich mit dem Strickzeug neben den Kamin in diesem Zimmer setzen zu dürfen. Sie behauptete, es läge bei der augenblicklichen Windrichtung besser für ihren Rheumatismus als das Gesellschafts- oder Speisezimmer. Obgleich ich sie ohne Reuegefühl der Barmherzigkeit des Windes auch auf der obersten Spitze des Doms überlassen haben würde, machte ich doch aus der Not eine Tugend und begrüßte sie freundschaftlich.

»Ich danke Ihnen allerergebenst«, sagte Mrs. Heep auf meine Frage nach ihrem Befinden, »aber ich befind mich nur leidlich wohl. Ich derf nicht sehr groß tun dermit; wenn ich meinen Uriah gut im Leben dastehen sehe, brauch ich nicht viel mehr anderes zu erwarten. Wie finden Sie mein Ury aussehen, Sir?«

Ich fand ihn natürlich genauso konfisziert aussehen wie immer und antwortete, daß ich keine Veränderung an ihm bemerkte.

»O, meinen Sie nicht, daß er sich verändert hat?« fragte Mrs. Heep. »Da mecht ich mir die Freiheit herausnehmen, anderer Meinung zu sein. Sehen Sie nicht etwas eine Abmagerung an ihm?«

»Keineswegs«, erwiderte ich.

»Wirklich nicht? Aber Sie sehen ihn nicht mit dem Auge einer Mutter an.«

Ihr Mutterauge war ein böses für die übrige Welt, dachte ich mir, als ich ihm begegnete, – so lieb sie auch ihren Sohn haben mochte – und ich glaube, sie und Uriah liebten einander wirklich. – Ihr Blick verließ mich und fiel auf Agnes.

»Bemerken Sie auch nicht, wie er sich abzehrt, Miss Wickfield?« forschte Mrs. Heep.

»Nein«, sagte Agnes und fuhr ruhig fort zu arbeiten. »Sie machen sich zu viel Sorge um ihn. Er ist vollkommen wohl.«

Mit einem kurzen verdrießlichen Schnaufen nahm Mrs. Heep ihren Strickstrumpf wieder vor.

Sie hörte nie auf zu stricken und ließ uns keinen Augenblick allein.

Ich war ziemlich zeitig vormittags gekommen, und wir hatten immer noch drei bis vier Stunden bis zum Essen vor uns, aber sie blieb sitzen und bewegte ihre Stricknadeln so einförmig, wie ein Stundenglas den Sand ablaufen läßt. Sie saß auf der einen Seite des Kamins, Agnes auf der andern und ich an dem Schreibpulte davor. Sooft ich über meinen Brief nachdenkend die Augen erhob, fühlte ich, wie Mrs. Heeps böser Blick an mir vorüberschweifte, dann zu mir zurückkehrte und wieder langsam auf das Strickzeug sank. Was sie strickte, weiß ich nicht, aber es sah aus wie ein Netz; in dem Glanze des Feuers glich sie einer bösen Zauberin, jetzt noch ohnmächtig der strahlenden Güte Agnes‘ gegenüber, aber in Bälde bereit, ihr Netz auszuwerfen.

Bei Tisch bewahrte sie mit derselben Unermüdlichkeit ihre beobachtende Haltung. Nach dem Essen kam ihr Sohn an die Reihe, der mich anschielte, als Mr. Wickfield, er und ich allein beisammen saßen und sich wand und krümmte, bis ich es kaum mehr aushalten konnte. Im Gesellschaftszimmer strickte und beobachtete die Mutter wieder. Die ganze Zeit über, wo Agnes sang und spielte, saß sie neben dem Piano. Einmal verlangte sie eine besondere Ballade, in die ihr Ury, – der in einem Lehnstuhl gähnte – ganz vernarrt wäre; und zuweilen sah sie sich nach ihm um und berichtete Agnes, daß er ganz ergriffen von der Musik sei. Sie sprach fast niemals, ohne ihn in irgendeiner Weise zu erwähnen; offenbar war das die ihr zugewiesene Pflicht.

Das dauerte bis zum Schlafengehen. Der Anblick von Mutter und Sohn, die wie zwei große Fledermäuse mit ihrem scheußlichen Anblick das Haus verdüsterten, machte mir die Nacht so unbehaglich, daß ich trotz Strickens und allem übrigen lieber unten geblieben wäre. Schlafen konnte ich fast gar nicht.

Am nächsten Tag begann das Stricken und Belauern von neuem und dauerte bis zum Abend.

Ich fand kaum Gelegenheit, zehn Minuten mit Agnes zu sprechen und ihr meinen Brief zu zeigen. Ich schlug ihr einen Spaziergang vor, aber da Mrs. Heep wiederholt über stärkeres Unwohlsein klagte, blieb Agnes aus Mitleid mit ihr zu Hause. In der Dämmerung ging ich selbst aus, um darüber nachzudenken, was ich zunächst tun sollte, und zu überlegen, ob ich Agnes länger verhehlen dürfte, was mir Uriah Heep in London gesagt hatte, denn es begann mich wieder sehr zu beunruhigen.

Ich hatte die letzten Häuser der Stadt auf der Straße nach Ramsgate noch nicht hinter mir, als mir durch die Dämmerung jemand nachlief. Der schleppende Gang und der ausgewachsene Überrock waren nicht zu verkennen. Ich blieb stehen, und Uriah Heep holte mich ein.

»Nun?« fragte ich.

»Wie schnell Sie gehen«, sagte er. »Meine Beine sind ziemlich lang, aber es hat mir wirklich Schweiß gekostet.«

»Wohin gehen Sie?« fragte ich.

»Ich wollte Sie begleiten, Master Copperfield, wenn Sie mir als einem alten Bekannten das Vergnügen eines Spaziergangs gestatten wollen.« Mit diesen Worten und einer schnellenden Bewegung seines Körpers, die ebensogut einschmeichelnd wie verhöhnend sein konnte, schritt er neben mir her.

»Uriah«, sagte ich nach einigem Schweigen so höflich wie möglich.

»Master Copperfield!«

»Die Wahrheit zu gestehen – Sie dürfen sich dadurch nicht verletzt fühlen –, ich wollte allein spazierengehen, weil ich zuviel Gesellschaft gehabt habe.«

Er sah mich von der Seite an und sagte mit seinem unangenehmsten Grinsen: »Sie meinen die Mutter.«

»Nun ja«, gab ich zu.

»Ach, Sie wissen, mir sind so niedrige Leut, und da mir uns unsrer Niedrigkeit bewußt sin, müssen mir wirklich Sorge tragen, daß mir nicht gegen die, was nicht so niedrig sin, zu kurz kommen. In der Liebe gelten alle Listen, Sir.«

Er erhob seine großen Hände bis zum Kinn, rieb sie sanft aneinander und kicherte in sich hinein und sah dabei einem bösartigen Pavian so ähnlich wie nur möglich.

»Schauen Sie«, fuhr er fort in seiner ekelhaften Art und wackelte mit dem Kopf. »Sie sind ein gefährlicher Nebenbuhler, Master Copperfield. Sie waren das immer. Sie begreifen.«

»Belauern Sie Miss Wickfield und vernichten Sie das Behagen ihrer Häuslichkeit also meinetwegen?« fragte ich.

»Ach, Master Copperfield, das sin sehr harte Worte.«

»Nennen Sie sie, wie Sie wollen. Sie wissen so gut wie ich, was ich sagen will, Uriah.«

»Gott, nein! Sie müssen es selbst in Worte bringen«, sagte er. »Wahrhaftig! Ich könnte es nicht.«

»Glauben Sie etwa«, – ich gab mir alle Mühe, Agnes‘ wegen so gemäßigt wie möglich gegen ihn zu sein, – »daß ich in Miss Wickfield etwas anderes sehe als eine mir sehr teuere Schwester?«

»Schauen Sie, Master Copperfield«, entgegnete er, »ich bin nicht verpflichtet diese Frage zu beantworten. Vielleicht ist es so, – vielleicht auch nicht.«

Etwas, was der niedrigen Listigkeit in seinem Gesicht und seinen wimperlosen Augen nur annähernd gleichgekommen wäre, habe ich nie gesehen.

»So hören Sie«, sagte ich. »Um Miss Wickfields willen.«

»Meine Agnes!« rief er mit einer verkrampften Windung seines Leibes aus. »Wollen Sie nicht so gut sein, sie Agnes zu nennen, Master Copperfield?!«

»Um Agnes Wickfields willen – der Segen des Himmels sei mit ihr.«

»Dank, Dank für diese Segnung, Master Copperfield!« unterbrach er mich.

»Ich will Ihnen sagen, was ich unter allen andern Umständen ebensogut, ich weiß nicht wem, gesagt hätte, meinetwegen dem Herrn Hans Strick –«

»Wem, Sir?« fragte Uriah mit vorgerecktem Halse und die Hände ans Ohr haltend.

»Dem Henker!« – Die unwahrscheinlichste Person, an die ich denken konnte, – obgleich Uriahs Gesicht dem Gedanken nicht so ganz fremd stand. »Ich bin mit einer andern jungen Dame verlobt. Ich hoffe, das genügt Ihnen.«

»Auf Ihre Seligkeit?« fragte Uriah.

Ich wollte empört meiner Erklärung die verlangte Bekräftigung geben, als er meine Hand ergriff und sie drückte.

»Ach, Master Copperfield. Wenn Sie sich herabgelassen hätten, mein Vertrauen zu erwidern, als ich an jenem Abend mein Herz vor Ihnen ausschüttete, hätte ich nie Zweifel in Sie gesetzt. Da es so steht, will ich Mutter gleich wegschicken und nur zu glücklich sein. Ich weiß, Sie werden die Vorsichtsmaßregeln eines liebenden Herzens entschuldigen, nicht wahr? Wie schade, Master Copperfield, daß Sie sich nicht herabließen, mein Vertrauen zu erwidern. Ich habe Ihnen gewiß jede Gelegenheit gegeben. Aber Sie haben sich nie bis zu mir herabgelassen, sosehr ich es gewünscht hätte. Ich weiß, Sie haben mich nie so gern gehabt wie ich Sie!«

Ununterbrochen drückte er mir mit seinen feuchten fischigen Fingern die Hand, während ich mir alle Mühe gab, sie ihm zu entziehen. Aber es gelang mir nicht. Er zog sie unter den Ärmel seines maulbeerfarbenen Überrockes, und ich ging fast gezwungen Arm in Arm mit ihm.

»Wollen mir nicht umkehren?« fragte er und wendete sich mit mir nach der Stadt zu, die jetzt der aufgehende Mond, die fernen Fenster versilbernd, beschien.

»Ehe wir von der Sache abbrechen, muß ich Ihnen sagen«, begann ich nach einem ziemlich langen Schweigen wieder, »daß ich der Meinung bin, Agnes Wickfield steht so hoch über Ihnen und ist allen Ihren Bewerbungen so weit entrückt wie der Mond dort oben.«

»Friedvoll! Nicht wahr, sie ist es!« sagte Uriah. »Ja. Jetzt gestehen Sie, Master Copperfield, selbst, daß Sie mich nicht so haben leiden können als ich Sie. Die ganze Zeit über haben Sie mich für zu niedrig gehalten, und das wundert mich nicht.«

»Ich liebe Beteuerungen der Demut nicht«, erwiderte ich, »überhaupt keine Beteuerungen.«

»Was sagt man!« wand sich Uriah, der in dem Mondschein ganz schwammig und bleifarben aussah. »Wußt ichs doch! Aber wie wenig bedenken Sie die Berechtigung der Unterwürfigkeit einer Person in meiner Stellung, Master Copperfield! Vater und ich, mir wurden beide in einer Stiftschule für Knaben erzogen, und Mutter ging in eine Freischule, was so eine Art Wohltätigkeitsanstalt war. Man lehrte uns allerlei Unterwürfigkeit – nicht viel anderes sonst vom Morgen bis Abend. Mir sollten uns demütigen vor dieser und jener Person; unsere Mützen hier abziehen und dort Verbeugungen machen und immer unsere Stellung kennen und denen, die über uns stehen, unterwürfig sein. Und deren waren so viele! Vater bekam die Anstaltmedaille, weil er so unterwürfig war. Ich auch. Vater wurde Küster und Totengräber, weil er demütig war. Er genoß unter den vornehmen Leuten den Ruf, sich so schicklich zu benehmen, daß man ihn anstellte. ›Sei demütig, Uriah!‹ sagte Vater stets zu mir, ›und du wirst es zu was bringen. Das wurde dir und mir immer in der Schule gepredigt. Und das fördert am meisten. Sei demütig‹, sagte Vater, ›und es wird dir gut anschlagen.‹ Und wirklich, es ist nicht schlecht gegangen.«

Mir fiel es heute zum ersten Mal ein, daß diese verabscheuenswürdige Hülle falscher Demut aus anderer Quelle stammen könnte als aus dem Blute der Familie Heep. Ich hatte wohl die Ernte gesehen, aber nie die Saat bedacht.

»Als ich noch ein kleiner Knabe war«, sagte Uriah, »erfuhr ich, was Demut ausrichten kann, und ich gewöhnte sie mir an. Ich aß bescheidne Rationen mit Appetit. Ich hielt bei meinem Lernen an einem bescheidnen Punkte still und sagte: halt ein. Als Sie mir anboten, mir Lateinisch zu lehren, da wußte ichs besser. ›Die Leute sehens gern, wenn sie über einem stehen‹, sagte Vater, ›darum halte dich unten.‹ Ich bin jetzt noch eine sehr demütige Person, Master Copperfield, aber ich habe ein bißchen Macht.«

Er sagte dies, – ich sah es in seinem vom Mondschein erhellten Gesicht – um mir zu verstehen zu geben, daß er diese Macht bis aufs letzte auszunützen entschlossen sei. An seiner Niederträchtigkeit, seiner List und Bosheit hatte ich nie gezweifelt, aber jetzt erkannte ich zum ersten Mal genau, welch niedriger, unbarmherziger und rachsüchtiger Geist in ihm durch die frühzeitige und langjährige Unterdrückung genährt worden war.

Die Auseinandersetzung seiner Erziehung hatte für mich wenigstens die angenehme Folge, daß er die Hand von meinem Arme nahm, um sich abermals das Kinn zu streicheln. Ich beschloß, keine neue Annäherung mehr zu dulden, und wir kehrten nebeneinander nach der Stadt zurück, ohne unterwegs viel Worte zu verlieren.

Ob ihn das von mir Gehörte oder der Rückblick auf seine Jugend aufgeheitert hatte, weiß ich nicht, aber er war aus irgendeinem Grunde gehobener Stimmung. Er sprach bei Tisch mehr als gewöhnlich, fragte seine Mutter, die vom Augenblicke seines Wiedererscheinens im Hause an ihre Wachsamkeit aufgab, ob er nicht zu alt werde für einen Junggesellen, und warf einmal auf Agnes einen solchen Blick, daß ich alles, was ich besaß, für die Erlaubnis hingegeben hätte, ihn zu Boden schlagen zu dürfen.

Als Mr. Wickfield, er und ich nach dem Essen allein waren, hob sich seine Laune noch mehr. Er hatte wenig oder gar keinen Wein getrunken, und ich vermute, es war nur seine Siegesgewißheit, die, vielleicht noch durch die Versuchung, meine Anwesenheit zur Entfaltung seiner Macht zu benutzen, gesteigert, ihn so anregte.

Es war mir schon am Tag vorher aufgefallen, daß er Mr. Wickfield zum Trinken zu verführen suchte, und gehorsam einem Blick von Agnes hatte ich mich selbst auf ein Glas beschränkt und dann vorgeschlagen, zu den Damen zu gehen. Ich wollte heute dasselbe tun, aber Uriah kam mir zuvor.

»Mir sehen nur selten unsern gegenwärtigen Gast, Sir«, begann er zu Mr. Wickfield gewendet, der von ihm in jeder Beziehung abstechend am entferntesten Ende des Tisches saß, »ich möchte vorschlagen, seine Anwesenheit noch mit ein paar Gläsern Wein zu feiern, wenn Sie nichts dagegen haben. – Mr. Copperfield, auf Ihr Wohl und Gesundheit!«

Ich mußte anstandshalber seine mir entgegengestreckte Hand annehmen, und dann ergriff ich mit ganz andern Gefühlen die meines gebrochnen alten Freundes, seines Teilhabers.

»Nun, Freund Partner«, sagte Uriah, »wenn ich mir die Freiheit nehmen derf, – wollen Sie nicht auch noch einen passenden Toast auf Copperfield ausbringen?«

Ich will darüber hinweggehen, wie Mr. Wickfield zuerst meine Tante, dann Mr. Dick, dann die Commons, dann Uriah leben ließ und jeden Toast zweimal trank – wie er, sich seiner Schwäche wohl bewußt, sich vergeblich bemühte, ihrer Herr zu werden, wie seine Scham über Uriahs Benehmen mit der Angst ihn zu reizen in ihm kämpfte, wie Uriah Heep sich mit sichtlichem Frohlocken wand und krümmte und ihn vor mir zur Schau stellte.

»Nun, Freund Partner«, sagte Uriah schließlich, »jetzt will ich noch einen andern Toast ausbringen und erlaube mir, um hohe Gläser zu bitten, denn er soll der Göttlichsten ihres Geschlechtes gelten.«

Mr. Wickfield hielt sein leeres Glas in der Hand. Ich sah, wie er es niedersetzte, wie er einen Blick auf das Bild warf, das Agnes so ähnlich sah, die Hand auf seine Stirne legte und in den Lehnstuhl zurücksank.

»Ich bin eigentlich eine viel zu niedrige Person, um ihre Gesundheit auszubringen«, fuhr Uriah fort, »aber ich bewundere sie – ich bete sie an.«

Kein physischer Schmerz, der Mr. Wickfields graues Haupt hätte treffen können, konnte mir schrecklicher sein als die geistige Qual, die er vergeblich durch Verkrampfen der Hände zu verbergen suchte.

»Agnes«, fuhr Uriah fort, der entweder nicht auf ihn sah oder seine Gebärde nicht verstand, »Agnes Wickfield ist, derf ich wohl sagen, die Göttlichste ihres Geschlechts. Derf ich unter Freunden offenherzig sprechen? Ihr Vater zu sein ist eine stolze Auszeichnung, aber ihr Gatte –«

Möge ich nie wieder einen solchen Schrei hören wie den, den Mr. Wickfield ausstieß, als er vom Tische aufsprang.

»Was ist los?« Uriah fuhr auf und wurde leichenblaß. »Sie sind doch nicht verrückt geworden, Mr. Wickfield, hoffe ich! Wenn ich sage, ich besitze so viel Ehrgeiz, Ihre Agnes zu meiner Agnes machen zu wollen, so habe ich dazu so gut ein Recht wie jeder andere.«

Ich hielt Mr. Wickfield mit meinen Armen umschlungen, beschwor ihn bei allem, was mir einfiel, und bei seiner Liebe zu Agnes, sich ein wenig zu beruhigen. Er gebärdete sich wie wahnsinnig, zerraufte sich das Haar, schlug sich vor die Stirn, versuchte sich von mir loszureißen, sprach kein Wort und starrte ins Leere. Blind gegen etwas Unsichtbares ankämpfend, das Gesicht verzerrt und mit stieren Augen – ein entsetzliches Schauspiel!

Ich beschwor ihn unzusammenhängend, aber in der inbrünstigsten Weise, sich nicht seiner Verzweiflung hinzugeben, sondern mich anzuhören. Ich bat ihn, an Agnes zu denken, mich mit ihr in Verbindung zu bringen, sich daran zu erinnern, wie sie und ich zusammen aufgewachsen waren, wie ich sie verehrte und liebte, sie, seine Freude und seinen Stolz!

Ich versuchte ihm ihr Bild in jeder Gestalt vorzuführen; ich warf ihm sogar vor, daß er nicht Festigkeit genug habe, ihr den Anblick einer solchen Szene zu ersparen. Vielleicht gelang es mir, ihn zu beruhigen, oder ließ seine Leidenschaftlichkeit von selbst nach, allmählich sträubte er sich weniger, sah mich anfangs leer, dann mit dankbarem Ausdruck in den Augen an und murmelte: »Ich weiß, Trotwood, ihr seid meine Lieblinge. Das Kind und du – ich weiß. Aber sieh ihn an.«

Er deutete auf Uriah, der bleich und starr in einer Ecke stand, ganz bestürzt, sich in seinen Berechnungen so getäuscht zu sehen.

»Sieh diesen Folterknecht an! Vor ihm habe ich Schritt um Schritt Namen und Ruf, Friede und Ruhe, Haus und Familie aufgegeben.«

»Ich habe für Sie Namen und Ruf, Friede und Ruhe, Haus und Familie erhalten«, sagte Uriah mit einer hastigen, bestürzten Miene, bemüht, einzulenken. »Seien Sie nicht verrückt, Mr. Wickfield! Wenn ich ein bißchen weiter gegangen bin, als Sie vorbereitet waren, kann ich doch einen Schritt zurück tun, dächte ich. Es ist doch noch nichts geschehen!«

»Ich forschte bei allem nach einfachen Beweggründen«, sagte Mr. Wickfield, »und begnügte mich mit dem Bewußtsein, seinen Eigennutz an mich gefesselt zu haben, als ich ihn aufnahm. Aber sieh ihn – sieh ihn an jetzt in seiner wahren Gestalt.«

»Sie täten auch besser, ihn zum Schweigen zu bringen, Copperfield«, rief Uriah und wies zitternd mit seinem langen Zeigefinger auf mich. »Er wird gleich etwas sagen – hören Sie doch zu –, was ihm später leid tun wird, Ihnen verraten zu haben.«

»Ich will alles sagen«, schrie Mr. Wickfield verzweifelt. »Warum sollte ich nicht in der Hand jedes Menschen sein, wenn ich in der Ihrigen bin!«

»Hüten Sie sich! Ich sag es Ihnen!« rief Uriah mir wieder warnend zu. »Wenn Sie ihn nicht zum Schweigen bringen, sind Sie nicht sein Freund. Warum Sie nicht in der Hand jedes Menschen sein dürfen, Mr. Wickfield? Weil Sie eine Tochter haben! Sie und ich wissen, was mir wissen, nicht wahr?! Lassen Sie die Toten ruhen – wer wird es zur Sprache bringen? Ich gewiß nicht! Sehen Sie denn nicht, daß ich so unterwürfig bin, wie es nur sein kann?! Ich sag Ihnen doch, ich bin zu weit gegangen, und es tut mir leid. Was wollen Sie denn mehr, Sir?!«

»Ach Trotwood, Trotwood!« rief Mr. Wickfield, die Hände ringend. »Was ist aus mir geworden, seitdem ich dich das erste Mal in diesem Hause sah! Es ging schon damals mit mir bergab, aber durch welche Wüsteneien bin ich seitdem gewandert. Schwaches Gewährenlassen hat mich zugrunde gerichtet. Ein Schwelgen in der Erinnerung und ein Schwelgen im Vergessen. Mein Gram um die Mutter meines Kindes wurde zu einer Krankheit. Alles, was ich berührte, habe ich angesteckt. Ich habe elend gemacht, was ich am teuersten liebe, und ich weiß es, und du weißt es. Ich hielt es für möglich, ein Wesen in dieser Welt wahrhaftig lieben zu können und alle übrigen auszuschließen; ich hielt es für möglich, für eine Dahingeschiedne wahrhaft trauern zu können, ohne Anteil an dem Kummer aller andern Trauernden zu nehmen. So haben sich die Lehren, die mir das Leben gab, verzerrt. Ich habe von meinem eignen kranken, feigen Herzen gezehrt, und es hat von mir gezehrt. Geizend mit meinem Gram, geizend mit meiner Liebe, selbstsüchtig in elender Scheu vor der dunkeln Seite der beiden Gefühle zurückschrecken – o, sieh her, welche Ruine ich bin, und hasse mich, verabscheue mich!«

Er sank in seinen Stuhl und schluchzte leise. Seine Aufregung ließ mehr und mehr nach. Uriah kam aus seiner Ecke hervor.

»Ich weiß es ja nicht, was ich alles im Zustande der Unzurechnungsfähigkeit getan habe«, sagte Mr. Wickfield und streckte die Hände gegen mich aus, als wolle er ein Verdammungsurteil bittend abwehren. »Er, er weiß es am besten«, – er blickte auf Uriah Heep – »denn er hat immer als Einflüsterer hinter mir gestanden. Da siehst du den Mühlstein um meinen Hals. Du findest ihn in meinem Haus und in meiner Kanzlei. Du hörst, was Heep noch vor wenigen Minuten sprach, was brauche ich noch mehr zu sagen!«

»Sie haben überhaupt nicht nötig, soviel oder nur halb soviel oder überhaupt etwas zu sagen«, sprudelte Uriah, halb tückisch, halb kriecherisch hervor. »Sie hätten auch gar nicht so viel Aufhebens davon gemacht, wenn nicht der Wein gewesen wäre. Sie werden morgen klarer drüber denken, Sir. Wenn ich zuviel gesagt habe oder mehr als ich meinte, was tut das! Ich habe es doch wieder zurückgenommen!«

Die Türe ging auf, und Agnes glitt herein, ohne eine Spur von Farbe auf ihrem Gesicht, legte den Arm um Mr. Wickfields Hals und sagte gefaßt: »Papa, du bist nicht wohl. Komm mit mir!«

Er legte seinen Kopf auf ihre Schulter wie in tiefer Scham und verließ mit ihr das Zimmer. Ihre Blicke begegneten den meinen nur eine Sekunde lang, aber ich erkannte, wie viel sie von dem Geschehenen wußte.

»Ich hätte nicht gedacht, daß er es so übel aufnehmen würde, Master Copperfield«, sagte Uriah. »Schadet nichts. Morgen werden mir wieder gute Freunde sein. Es ist zu seinem Besten. Ich bin immer demütigst um sein Bestes besorgt.«

Ich gab keine Antwort und ging hinauf in das stille Zimmer, wo Agnes so oft neben mir, wenn ich studierte, gesessen hatte. Es wurde spät nachts, doch niemand kam. Ich nahm ein Buch und versuchte zu lesen. Ich hörte die Uhren zwölf Uhr schlagen und las immer noch, ohne zu wissen was, als Agnes‘ Hand mich berührte.

»Du reisest morgen frühzeitig ab, Trotwood. Laß uns jetzt Abschied nehmen.«

Sie hatte geweint, aber ihr Antlitz war jetzt ruhig und schön.

»Gott segne dich!« sagte sie und gab mir die Hand.

»Liebste Agnes, ich sehe, du wünschest nicht von dem Vorfall heute abend zu sprechen ? aber läßt sich denn gar nichts tun?«

»Wir müssen unser Vertrauen auf Gott setzen«, gab sie zur Antwort.

»Kann ich nichts tun, ich – der immer mit seinen kleinen Schmerzen zu dir kommt.«

»Und die meinigen damit um soviel leichter macht«, erwiderte sie. »Nein, lieber Trotwood.«

»Es klingt anmaßend von mir, liebe Agnes, wo ich so arm an allem bin und du so reich an Güte, Entschlossenheit und allen edlen Eigenschaften, – an dir zu zweifeln oder dir Ratschläge zu geben, aber du weißt, wie sehr ich dich liebe und wie viel ich dir verdanke. Du wirst dich niemals einem falschen Pflichtgefühl aufopfern, nicht wahr, Agnes?«

Einen Augenblick lang viel aufgeregter als ich sie je gesehen, trat sie einen Schritt zurück.

»Sage, daß du nicht an so etwas denkst, liebe Agnes, die du mir mehr bist als eine Schwester! Denke, was es heißt, ein Herz und eine Liebe wie die deinige hinzugeben!«

Noch viele, viele Jahre später sah ich dieses Gesicht vor mir aufsteigen mit einem schnell verschwindenden Blick, nicht erstaunt, nicht anklagend, nicht bedauernd.

Gleich darauf wurde ihr Ausdruck zu einem lieblichen Lächeln, und sie sagte zu mir, sie habe ihretwegen keine Furcht, noch brauchte ich welche zu haben. Dann nahm sie Abschied von mir, nannte mich Bruder und ging.

 

Der Tag war noch nicht angebrochen, als ich vor dem Gasthof auf die Landkutsche stieg. Eben wollten wir abfahren, da tauchte in der Dämmerung Uriahs Kopf auf.

»Copperfield«, sagte er mit einem heiseren Flüstern, als er sich an dem eisernen Geländer des Daches festhielt, »ich glaubte, Sie würden es gerne hören vor Ihrer Abreise, daß alles zwischen uns wieder geebnet ist. Ich war heute früh in seinem Zimmer und habe alles in Ordnung gebracht. Obgleich ich nur eine niedrige Person bin, bin ich doch für ihn von Nutzen, und er versteht sich auf sein Interesse, wenn er nicht berauscht ist. Was für ein angenehmer Mann er doch im Grunde ist, Master Copperfield!«

Ich erwiderte bloß, ich freute mich, daß er ihn um Verzeihung gebeten habe.

»O selbstverständlich! Bei einer niedrigen Person, was ist da eine Bitte um Verzeihung! Nichts ist leichter! ? Noch eins. Haben Sie schon einmal«, sagte Uriah mit einem Zucken, »eine Birne gepflückt, ehe sie reif war, Master Copperfield?«

»Ich glaube wohl.«

»Das tat ich gestern abend, aber sie wird schon noch reif werden. Nur abwarten muß man es. Ich kann warten!«

Nach einem vor Worten übersprudelnden Abschied stieg er wieder hinunter, als der Kutscher sich auf den Bock setzte. Ich weiß nicht, ob er etwas kaute, um sich gegen die rauhe Morgenluft zu schützen, aber er machte Bewegungen mit seinem Mund, als wäre die Birne schon reif und er schmatze mit den Lippen danach.

40. Kapitel Der Wanderer


40. Kapitel Der Wanderer

Wir hatten über diese Vorfälle abends ein sehr ernstes Gespräch in der Buckingham Straße. Meine Tante nahm lebhaftesten Anteil daran und ging mehr als zwei Stunden lang mit verschränkten Armen im Zimmer auf und ab. Das tat sie stets, wenn ihre Stimmung besonders aus dem Gleichgewicht geraten war. Jetzt schien sie so beunruhigt, daß sie die Schlafzimmertür öffnete, um mehr Platz zum Auf- und Abgehen zu haben; und während Mr. Dick und ich ruhig am Kamin saßen, ging sie auf ihrer abgesteckten Bahn in immer gleichem Schritt und mit der Regelmäßigkeit eines Pendels auf und ab.

Als Mr. Dick schlafen gegangen war, setzte ich mich hin, um den Brief an die beiden alten Damen zu schreiben. Meine Tante, müde geworden, saß, den Oberrock wie gewöhnlich in die Höhe gesteckt, am Kamin. Anstatt wie sonst das Glas auf den Knien zu halten, ließ sie es unbeachtet auf dem Kaminsims stehen und sah mich gedankenvoll an, das Kinn auf die linke Hand gestützt. Sooft ich ihrem Blicke begegnete, sagte sie: »Ich bin in der allerbesten Stimmung, lieber Trot, aber ich bin unruhig und besorgt.«

In meiner Geschäftigkeit bemerkte ich erst, als sie schon zu Bett gegangen war, daß sie ihren Schlaftrunk unberührt auf dem Kaminsims hatte stehenlassen.

»Ich kann es heute nicht über das Herz bringen, ihn zu trinken, Trot«, erwiderte sie, als ich an die Tür klopfte und sie darauf aufmerksam machte.

Am Morgen las sie meinen Brief an die beiden alten Damen und billigte ihn. Ich brachte ihn zur Post und hatte dann weiter nichts mehr zu tun, als so geduldig wie nur möglich auf eine Antwort zu warten. In einer solchen Wartestimmung befand ich mich schon eine volle Woche, als ich eines Abends bei Schneewetter den Doktor verließ und nach Hause ging.

Es war bitterkalt und ein schneidender Nordost wehte. Gegen Abend legte sich der Sturm und es schneite in großen, schweren, dicken Flocken. Das Geräusch der Räder und Tritte klang so gedämpft, als wären die Straßen mit Federn bestreut.

Mein kürzester Nachhauseweg – den ich natürlich bei solchem Wetter wählte – ging durch die Saint Martin’s Lane. Die Kirche, die der Straße ihren Namen gibt, stand damals weniger frei als jetzt. Als ich an den Stufen des Portals vorüberging, begegnete ich einer Frauensperson. Sie sah mich an, ging über die schmale Straße und verschwand. Ich kannte doch das Gesicht! Irgendwo hatte ich es gesehen! Ich konnte mich nur nicht entsinnen, wo. Es knüpften sich an das Gesicht Erinnerungen, die mir tief ans Herz griffen. Aber ich dachte an ganz andere Dinge und war verwirrt.

 

Auf den Stufen der Kirche stand ein Mann, der, über ein Bündel gebückt, es ordnete, um es besser auf die Schulter nehmen zu können. Wir blickten einander im selben Augenblick ins Gesicht. Ich stand Mr. Peggotty gegenüber.

Jetzt besann ich mich auch auf das Frauenzimmer. Es war Marta Endell gewesen.

Wir schüttelten uns herzlich die Hände. Anfangs konnte keiner von uns ein Wort hervorbringen.

»Masr Davy«, sagte Mr. Peggotty und drückte mir fest die Hand. »Es tut meinem Herzen wohl, Sie zu sehen. Willkommen! Willkommen!«

»Willkommen, mein guter alter Freund!« sagte ich.

»Ich machte mir so meine Gedanken, ob ich Sie heute abend noch aufsuchen könnte, aber ich weiß, daß Sie mit Ihrer Tante zusammenwohnen – denn ich bin unten gewesen in Yarmouth –, und fürchtete, es sei zu spät. Ich wäre morgen früh ganz zeitig gekommen, ehe ich wieder abreiste.«

»Wieder?«

»Ja, Sir.« Er nickte geduldig mit dem Kopf. – »Ich will morgen wieder fort.«

»Wohin gehen Sie jetzt?«

»Ich wollte mir ein Nachtquartier suchen«, sagte er und schüttelte den Schnee aus seinem langen Haar. »Irgendwo.«

Zu jener Zeit führte ein Nebeneingang in den Hof des »Goldnen Kreuzes«, des Gasthofs, der mir in Verbindung mit Mr. Peggottys Unglück so denkwürdig war und in dessen unmittelbarer Nähe wir uns befanden. Ich wies auf den Torweg, hängte mich in Mr. Peggotty ein und wir gingen hinüber. Zwei oder drei Gastzimmer mündeten auf den Hof hinaus, und da das eine leer war und ein gutes Feuer darin brannte, zog ich ihn mit hinein.

Als ich ihn bei Licht sah, bemerkte ich, daß nicht nur sein Haar lang und wirr, sondern auch sein Gesicht von der Sonne braun gebrannt war. Die Furchen auf Wangen und Stirne schienen tiefer und die Haare grauer geworden zu sein, aber er sah sehr kräftig und wie ein Mann aus, den ein fester Wille aufrecht erhält und nichts ermüden kann. Er schüttelte den Schnee von Hut und Kleidern und Bart, während ich diese Beobachtung machte.

»Ick will Sej vertellen, wo ick wesen bün, Masr Davy, und wat ick erfahren hew. Ick bün wiet wesen und hew wenig erfahren, aber ick will et Sej verteilen.«

Ich schellte, um etwas Warmes zum Trinken zu bestellen. Er wollte nichts nehmen als Ale, und während es geholt und am Feuer gewärmt wurde, saß er in Gedanken da. Es lag ein schöner, tiefer Ernst auf seinem Gesicht, den ich nicht zu stören wagte.

»Als sie noch ein Kind war«, begann er endlich, »sprach sie mir oft von dem Meere und von den Ufern, wo die See dunkelblau wird und glänzend und funkelnd in der Sonne daliegt. Manchmal dachte ich, sie denke soviel daran, weil ihr Vater ertrunken war. Ich weiß nicht, ob sie vielleicht glaubte oder hoffte, er wäre hingetrieben nach jenen Ländern, wo die Blumen immer blühen und der Himmel immer heiter ist.«

»Wohl möglich, daß sie solch kindliche Phantasien gehabt hat.«

»Als sie – mir verlorenging, da wußte ich gleich, daß – er – sie nach jenen Gegenden bringen würde. Ich wußte es gleich, denn er hatte ihr oft Wunderdinge von ihnen erzählt und sich durch solche Geschichten zuerst Gehör bei ihr verschafft. Als wir bei seiner Mutter waren, da merkte ich gleich, daß mich meine Ahnung nicht täuschte. Ich ging über den Kanal nach Frankreich.«

Ich sah die Türe sich bewegen und Schnee hereinwehen. Dann öffnete sie sich noch ein wenig weiter, und eine Hand griff vorsichtig in die Spalte, um sie offenzuhalten.

»Ich machte einen englischen Gentleman ausfindig, der von der Regierung angestellt ist, und sagte ihm, ich wollte meine Nichte aufsuchen. Er verschaffte mir die nötigen Papiere – ich weiß nicht recht, wie sie heißen –, und er wollte mir auch Geld geben, aber ich dankte ihm, denn ich brauchte es nicht. Ich bin ihm dankbar für alles, was er getan hat. ›Ich habe schon an verschiedene Orte, durch die Sie kommen werden, Briefe vorausgeschickt‹, sagte er zu mir, ›und werde viele aufmerksam machen, die denselben Weg reisen, und viele werden Sie erkennen, wenn sie Ihnen begegnen, und Ihnen behilflich sein.‹ Ich sprach ihm, so gut ich konnte, meine Dankbarkeit aus und reiste durch Frankreich weiter.«

»Allein und zu Fuß?«

»Meistens zu Fuß, manchmal im Marktwagen mit den Landleuten, manchmal in leeren Leiterwagen. Manche Meile des Tags zu Fuß und oft mit irgendeinem armen Soldaten, der zu seinen Verwandten nach Hause wanderte. Ich konnte nicht mit ihnen reden«, sagte Mr. Peggotty, »und sie nicht mit mir, aber wir leisteten uns doch Gesellschaft auf der staubigen Straße.«

Ich hätte das schon an der Herzlichkeit seines Tones erraten.

»Wenn ich in eine Stadt kam, wartete ich vor einem Gasthof, bis sich jemand fand, der Englisch verstand, was meistens der Fall war.

Dann sagte ich ihm, daß ich meine Nichte suchte, und ließ mir erzählen, was für Herrschaften im Hause wären, und wenn ich glaubte, daß Emly dabei sein könnte, so wartete ich ab, bis sie heraustraten. Wenn ich später in ein Dorf zu armen Leuten kam, da kannten sie mich schon. Das Gerücht war mir vorausgeeilt. Sie räumten mir einen Platz in ihren Hütten ein und gaben mir das Beste, was sie hatten, zu essen und zu trinken und luden mich ein, bei ihnen zu schlafen. Und manche Frau, Masr Davy, die eine Tochter in Emlys Alter hatte, wartete draußen vor dem Dorf am Wegkreuz, um mir solche Freundschaft zu erweisen. Manchen waren die Töchter gestorben. Nur Gott weiß, wie gut diese Mütter gegen mich waren.«

Marta stand an der Tür. Ich sah ihr abgezehrtes, lauschendes Gesicht ganz deutlich. Ich fürchtete nur, er werde sich umdrehen und sie sehen.

»Oft setzten sie mir ihre Kinder, vornehmlich die Mädchen, auf den Schoß, und manchen Abend hätten Sie mich vor solchen Türen sitzen sehen können, als ob es meines Lieblings Kinder gewesen wären!«

Überwältigt von plötzlichem Schmerz schluchzte er laut. Ich legte meine bebende Hand auf die seinen, mit denen er sein Gesicht verdeckte.

»Ich danke Ihnen, Sir, beachten Sie es nicht weiter!«

Und er fuhr in seiner Erzählung fort. »Oft begleiteten sie mich wohl eine halbe Stunde lang; und wenn ich ihnen beim Abschied sagte: Ich danke euch, Gott segne euch! schienen sie es immer zu verstehen und antworteten freundlich. Endlich erreichte ich das Meer. Für einen Seemann wie ich ist es nicht schwer, sich die Überfahrt nach Italien zu verdienen. Das können Sie sich leicht denken. Dann wanderte ich weiter wie früher. Ich wäre vielleicht von Stadt zu Stadt, vielleicht durch das ganze Land gewandert, wenn ich nicht Nachricht erhalten hätte, man habe sie in den Schweizer Bergen gesehen. Jemand, der seinen Bedienten kannte, hatte sie dort alle drei getroffen und erzählte mir, wie sie reisten und wo sie sich aufhielten. Tag und Nacht wanderte ich, Masr Davy, den Bergen entgegen, Tag und Nacht, aber je weiter ich kam, desto weiter schienen sie vor mir zurückzutreten. Aber endlich kam ich doch hin. In der Nähe des Ortes, wo Emly sein sollte, fing ich an, bei mir zu denken: was soll ich tun, wenn ich sie vor mir sehe?«

Die lauschende Gestalt stand immer noch an der Tür, und ihre Hände flehten mich an, sie nicht zu verraten.

»Ich habe nie an ihr gezweifelt«, fuhr Mr. Peggotty fort. »Nein, nicht ein bißchen! Sie soll nur mein Gesicht sehen, meine Stimme hören, und sie wird sich erinnern an die Häuslichkeit, die sie verlassen hat, und an das Kind, das sie gewesen ist, – und wenn sie eine Königin geworden wäre, sie würde niedergefallen sein zu meinen Füßen. Ich weiß es gewiß. Wie oft in meinen Träumen hatte ich sie rufen hören: Onkel! und sie tot vor mir niederfallen sehen, und immer hatte ich sie aufgehoben und zu ihr gesagt: Liebe Emly, ich komme, um dir Verzeihung zu bringen und dich mit heimzunehmen.«

Er hielt inne, nickte mit dem Kopf und fuhr mit einem Seufzer fort zu erzählen.

»Er sollte mich nichts angehen. Emly war mir alles. Ich würde ein Bauernkleid für sie kaufen, und ich wußte, wenn ich sie einmal fände, würde sie neben mir hergehen auf diesen rauhen Wegen und mich nie, nie mehr verlassen. Ihr dieses Kleid anzuziehen und das, was sie getragen, wegzuwerfen, sie wieder auf meinen Arm zu nehmen und der Heimat entgegenzuwandern, – manchmal auf dem Weg auszuruhen und ihre wunden Füße und ihr noch wunderes Herz zu heilen, an weiter dachte ich nichts. Ich glaube kaum, daß ich ihn auch nur mit einem Blick angesehen hätte. Aber Masr Davy, es sollte nicht sein – noch nicht. Ich kam zu spät, und sie waren schon fort. Wohin, konnte ich nicht erfahren. Einige sagten hierhin, andere dorthin, aber nirgends fand ich Emly und reiste nach Haus.

»Wann war das?« fragte ich.

»Vor ein paar Tagen bekam ich das alte Boot nach Dunkelwerden zu Gesicht, und das Licht schimmerte im Fenster. Als ich herankam und durch die Scheiben blickte, sah ich die alte treue Mrs. Gummidge allein am Feuer sitzen, wie wir es ausgemacht hatten. Ich rief: »Erschrick nicht. Es ist Daniel«, und ging hinein. Ich hätte nie gedacht, daß mir das alte Boot würde so fremd vorkommen können.«

Er zog jetzt aus seiner Brusttasche sehr behutsam ein Paket von zwei oder drei Briefen heraus und legte es auf den Tisch.

»Der erste hier«, sagte er, »kam, ehe ich eine Woche fort war. Eine Fünfzig-Pfundnote in einen Bogen Papier gewickelt lag darin, an mich adressiert und nachts unter die Türe gesteckt. Sie hatte versucht, ihre Handschrift zu verstellen, aber vor mir kann sie nichts verbergen.«

Er faltete den Brief sehr sorgfältig genau in derselben Form wieder zu und legte ihn zur Seite.

»Dieser zweite kam einige Tage später an Mrs. Gummidge.«

Er sah ihn eine Weile an, reichte ihn mir und setzte mit leiser Stimme hinzu:

»Seien Sie so gut und lesen Sie ihn, Sir!«

Ich las folgendes:

O, was wirst Du nur fühlen, wenn Du diese Schrift siehst und weißt, sie kommt von meiner verruchten Hand! Aber versuche – nicht um meinetwillen, sondern um meines Onkels Güte willen – versuche, nur eine kleine, kleine Weile mit mildem Herzen meiner zu gedenken; versuche, bitte, tue es, barmherzig zu sein gegen ein unglückliches Mädchen und auf einen Zettel zu schreiben, ob er gesund ist und was er von mir sagte, bevor Ihr aufhörtet, meinen Namen unter Euch zu nennen, und ob er abends, wenn die alte Stunde meines Nachhausekommens naht, dreinschaut, als ob er an die denkt, die er einst so innig liebte. Mir ist, als wollte mir das Herz brechen, wenn ich daran denke. Ich knie vor Dir nieder und flehe Dich an, nicht so hart gegen mich zu sein, wie ich es verdiene – wie ich sehr wohl weiß, daß ich es verdiene –, sondern so sanft und gut zu sein, etwas über ihn auf einen Zettel zu schreiben und mir zu schicken. Nenn mich nicht Emly, nenne mich nicht bei dem Namen, den ich geschändet habe, aber höre auf mich in meiner Todesangst und habe Erbarmen mit mir und schreibe mir ein Wort von meinem Onkel, den meine Augen nie, nie mehr wiedersehen sollen.

Du Liebe, Gute, wenn Dein Herz hart ist gegen mich – mit Recht hart, das weiß ich wohl –, so bitte ich Dich, frage den, dem ich am wehesten getan habe, dessen Weib ich werden sollte, bevor Du mir meine armselige Bitte abschlägst. Wenn er so barmherzig ist Dir zu sagen, Du mögest eine Zeile an mich schreiben, – ich glaube, er tut es – er tut es, wenn Du ihn nur darum fragst, denn sein Herz war immer voll Güte und Verzeihung, – dann sage ihm, daß mir ist, wenn ich des Nachts den Wind brausen höre, als stürme er zornig vorbei, weil er ihn und den Onkel gesehen habe und hinauf ginge zu Gott, um gegen mich zu klagen. Sage ihm, wenn ich morgen sterben müßte – und wie gern würde ich sterben, wenn ich es mit gutem Gewissen könnte –, ich würde ihn und den Onkel mit meinen letzten Worten segnen und mit dem letzten Atemzuge um ein glückliches Heim für ihn beten.

Auch diesem Briefe lag Geld bei. Fünf Pfund. Es war ebensowenig berührt wie das andere, und Mr. Peggotty faltete es ebenso zusammen. Genaue Anweisungen hinsichtlich der Adresse einer Antwort waren hinzugefügt, und, obgleich der Brief durch mehrere Hände gegangen zu sein schien und auf ihren gegenwärtigen Aufenthalt daraus nicht geschlossen werden konnte, so war es doch nicht unwahrscheinlich, daß er von dem Orte ausging, wo sie zuletzt gesehen worden war.

»Was hat man ihr geantwortet«? fragte ich.

»Da Mrs. Gummidge nicht viel davon versteht, so verfaßte Ham den Brief, und sie schrieb ihn ab. Es stand darin, ich sei fort, um sie zu suchen, und meine letzten Worte an sie.

»Sie haben da noch einen Brief in der Hand.«

»Es ist Geld, Sir«, sagte Mr. Peggotty und öffnete ein wenig den Briefumschlag. »Zehn Pfund, sehen Sie her. Darinnen steht: »Von einem wahren Freunde!« wie in dem ersten, aber der erste wurde unter die Tür gesteckt, und dieser kam vorgestern mit der Post. Ich will sie an dem Orte suchen gehen, den der Stempel anzeigt.«

Er zeigte mir den Brief. Er kam aus einer Stadt des Oberrheins. Mr. Peggotty hatte in Yarmouth ein paar auswärtige Kaufleute aufgefunden, die die Gegend kannten, und sie hatten ihm eine flüchtige Skizze einer Karte entworfen, die er recht gut verstand. Er legte sie auf den Tisch und verfolgte seinen Weg darauf mit dem Finger, das Kinn auf die eine Hand gestützt.

Ich fragte ihn, wie es Ham gehe. Er schüttelte nur den Kopf.

»Er arbeitet, wie es einem Menschen nur irgend möglich ist«, sagte er. »Sein Name ist in der ganzen Gegend so gut angeschrieben wie der keines andern. Jedermann ist bereit, ihm zu helfen, und auch er hilft jedem gern. Klagen hört man ihn nie. Aber unter uns – meine Schwester meint, daß es ihn tief getroffen hat.«

»Der Arme! Ich kann es mir denken!«

»Sein Leben gilt ihm nichts, Masr Davy«, sagte Mr. Peggotty mit feierlichem Flüstern, »wenn man bei bösem Wetter jemand für ein gefährliches Unternehmen braucht, so ist er da. Wenns etwas Anstrengendes und Gefährliches zu tun gibt, ist er bei der Hand. Und doch ist er so sanft wie ein Kind. Jedes Kind in Yarmouth liebt ihn.«

Er nahm die Briefe gedankenvoll zusammen, glättete sie und steckte sie sorgfältig in die Tasche.

Das Gesicht war von der Tür verschwunden. Der Schnee wehte immer noch herein, aber sonst war nichts zu sehen.

»Nun, da ich Sie heute abend gesprochen habe, Masr Davy, – und es hat mir gutgetan«, sagte er und warf einen Blick auf sein Bündel, »so will ich mich morgen früh beizeiten auf den Weg machen. Sie wissen, was ich hier bei mir trage«, fuhr er fort und legte die Hand auf seine Brusttasche. »Ich habe nur die eine Sorge, daß mir etwas zustoßen könnte, ehe ich das Geld zurückgeben kann. Wenn ich sterben sollte, und es ginge verloren oder würde gestohlen, und – er – wäre im Glauben, ich hätte es angenommen, ich würde es in der andern Welt nicht aushalten können. Ich glaube, ich müßte zurück.«

Wir standen auf und drückten einander noch herzlich die Hand, ehe wir hinausgingen.

»Ich würde zehntausend Meilen wandern«, sagte er, »bis ich tot niederfiele, um ihm das Geld vor die Füße zu werfen. Wenn ich das getan und meine Emly gefunden habe, dann bin ich zufrieden. Wenn ich sie nicht finde, so erfährt sie vielleicht einmal, daß ihr Onkel erst mit seinem Tode aufgehört hat, sie zu suchen; und kenne ich sie recht, wird dieser Gedanke sie nach Hause führen.«

Als wir hinaus in die kalte Nacht traten, sah ich die einsame Gestalt vor uns davoneilen. Unter einem Vorwand bewog ich Mr. Peggotty sich umzudrehen und hielt ihn im Gespräche fest, bis sie fort war.

Er sprach von einer kleinen Schenke auf der Straße nach Dover, wo er ein reinliches und einfaches Nachtquartier suchen wollte. Ich begleitete ihn über die Westminsterbrücke und wir schieden am Surreyufer. Mir war es, als ob alles vor ihm totenstill würde, wie er seine einsame Wanderung durch den Schnee wieder antrat.

Ich kehrte nach dem Gasthof zurück und sah mich, noch unter der Erinnerung an jenes Gesicht stehend, bange nach der Gestalt um. Sie war nicht mehr da. Der Schnee hatte unsere Fußstapfen verweht, und meine neue Spur war die einzig sichtbare, und selbst diese sah ich rasch verschwinden unter den fallenden Flocken, als ich zurückblickte.

36. Kapitel Enthusiasmus


36. Kapitel Enthusiasmus

Ich fing den nächsten Tag abermals mit einem Sprung in das römische Bad an und machte mich dann nach Highgate auf den Weg. Ich war jetzt nicht mehr mutlos, ich fürchtete mich nicht mehr vor einem schäbigen Rock und fühlte keine Sehnsucht nach feurigen Eisenschimmeln. Ich sah das Unglück, das uns betroffen, heute in einem ganz andern Licht als gestern. Alles, was ich tun konnte, war, daß ich meiner Tante zeigte, daß sie ihre Güte nicht an einen gefühllosen, undankbaren Menschen weggeworfen hatte. Es blieb mir nichts anderes übrig, als an die harte Schule meiner jungen Jahre zu denken, mit entschloßnem und standhaftem Herzen ans Werk zu gehen, die Axt zur Hand zu nehmen, um mir selbst durch den Wald von Hindernissen einen Weg zu bahnen – zu Dora. Und ich ging raschen Schrittes, als könnte ich es schon dadurch verrichten.

Als ich auf der vertrauten Straße nach Highgate dahineilte, diesmal zu einem ganz andern Zweck als damals, schien es mir, als ob sich mein Leben ganz und gar verändert hätte. Aber das entmutigte mich nicht. Mit dem neuen Leben kam neuer Zweck und neue Anstrengung. Groß war die Arbeit, unschätzbar der Preis. Dora war der Preis und Dora mußte gewonnen werden.

Ich geriet derartig in Begeisterung, daß es mir ordentlich leid tat, keinen schäbigen Rock anzuhaben. Ich sehnte mich danach, mit der Axt auf die Schwierigkeiten loszuhauen; am liebsten hätte ich einen alten Mann mit einer Drahtbrille, der am Weg Steine klopfte, um seinen Hammer gebeten, damit ich für Dora einen Pfad aus Granit bahnen könnte. Meine Aufregung versetzte mich so in Hitze und außer Atem, daß ich mir vorkam, als hätte ich wer weiß wieviel schon vollbracht. In dieser Verfassung trat ich in ein Häuschen, das zu vermieten stand. Ich besichtigte es genau, denn ich fühlte die Notwendigkeit, praktisch zu werden. Es paßte für mich und Dora ausgezeichnet. Vorn ein kleiner Garten, in dem Jip herumlaufen und durch das Gitter die Leute anbellen konnte, und oben ein schönes Zimmer für meine Tante. Ich verließ das Haus noch erhitzter als vorher und stürmte nach Highgate in einem Tempo, daß ich eine volle Stunde zu früh ankam und mich erst lange abkühlen mußte, ehe ich fähig war, vor anständigen Leuten zu erscheinen.

Meine erste Sorge war, das Haus des Doktors ausfindig zu machen. Es lag nicht in dem Teil von Highgate, wo Mrs. Steerforth wohnte, sondern auf der andern Seite des kleinen Städtchens. Sodann ging ich, von einem unüberwindlichen Drange getrieben, in ein Gäßchen neben Mrs. Steerforths Haus zurück und blickte über die Gartenmauer. Die Laden vor den Fenstern seines Zimmers waren geschlossen. Die Tür des Gewächshauses stand offen, und Rosa Dartle ging barhaupt und mit raschem, ungestümem Schritt auf einem Kiesweg im Garten auf und ab. Sie kam mir vor wie ein wildes Tier, das sich vor den Käfigstäben an seiner Kette hin und her schleppt und sich das Herz zergrämt.

Ich wünschte, ich wäre lieber gar nicht hergekommen, stahl mich wieder fort und schlenderte bis zehn Uhr herum.

Als ich das Häuschen des Doktors erreichte – ein hübsches, altes Bauwerk, an das ziemlich viel Geld gewandt worden sein mußte, um es auszubessern und teilweise umzubauen –, sah ich meinen ehemaligen Lehrer im Garten an der Seite des Hauses auf und ab gehen, genauso mit Gamaschen und Brille wie in meiner Schulzeit. Auch viele hohe Bäume standen in seiner Nähe wie damals, und wieder hüpften zwei oder drei Krähen auf dem Rasen herum und sahen ihn an, als ob sie mit ihren Schwestern in Canterbury in Briefwechsel stünden und ihn deshalb so genau beobachteten.

Ich wußte, wie nutzlos es war, aus der Entfernung seine Aufmerksamkeit erregen zu wollen, und entschloß mich, die Türe zu öffnen und hinter ihm dreinzugehen, damit wir einander begegneten, wenn er sich umdrehte. Als er auf mich zukam, sah er mich eine Weile gedankenvoll an, offenbar im Geiste ganz woanders –, dann plötzlich erhellte sich sein wohlwollendes Gesicht, strahlte vor Freude, und er ergriff meine beiden Hände.

»Aber, mein lieber Copperfield«, sagte er, »Sie sind ja zum Manne gereift. Wie geht es Ihnen denn? Ich bin außer mir vor Freude, Sie wiederzusehen. Mein lieber Copperfield, wie Sie sich herausgemacht haben! Sie sind ja ganz – ja – weiß Gott!«

Ich sprach die Hoffnung aus, ihn wohl zu finden, ebenso Mrs. Strong.

»O ja, ja. Ännie ist wohlauf und wird entzückt sein, Sie wiederzusehen. Sie waren immer ihr Liebling. Sie äußerte es schon gestern abend, als Ihr Brief kam. Und – ja – natürlich – Sie erinnern sich doch noch Mr. Jack Maldons, Copperfield?«

»Vollkommen, Sir.«

»Natürlich, natürlich! Auch ihm geht es gut.«

»Ist er wieder heimgekehrt, Sir?« fragte ich.

»Aus Indien? Ja. Mr. Jack Maldon konnte das Klima nicht vertragen. Mrs. Markleham – haben Sie nicht Mrs. Markleham vergessen?«

Den »General« vergessen! In der kurzen Zeit!

»Die arme Mrs. Markleham«, fuhr der Doktor wieder fort, »war ganz außer sich seinetwegen; so ließen wir ihn wieder zurückkehren und kauften ihm eine patente kleine Stellung, wo es ihm viel besser gefällt.«

Ich kannte Mr. Jack Maldon zu gut, um nicht zu vermuten, daß es eine Stelle war, die nicht viel Arbeit erforderte, aber desto mehr Gehalt trug. Der Doktor, die Hand auf meine Schulter gelegt und sein freundliches Gesicht mir aufmunternd zugewendet, fuhr fort, auf und ab zu gehen, und sagte:

»Um auf Ihren Vorschlag zurückzukommen, lieber Copperfield! Es ist mir gewiß höchst angenehm, aber können Sie Ihre Zeit nicht besser anwenden? Sie haben sich damals bei uns sehr ausgezeichnet. Sie eignen sich zu allem möglichen. Sie haben einen Grund gelegt, auf dem sich jedes Gebäude erheben kann, und ist es nicht jammerschade, wenn Sie die schönste Zeit Ihres Lebens einer so armseligen Beschäftigung, wie Sie sie bei mir finden, widmen?«

Ich wurde wieder sehr enthusiastisch und verlieh meiner Bitte durch poetischen Schwung einen großen Nachdruck und wies darauf hin, daß ich noch einen andern Beruf habe.

»Das ist wohl richtig«, entgegnete der Doktor, »jedenfalls macht es einen Unterschied, daß Sie schon ein bestimmtes Studium vor sich haben, aber mein lieber, junger Freund, was sind siebzig Pfund jährlich!«

»Sie verdoppeln unser Einkommen, Dr. Strong«, sagte ich.

»O Gott! Wie schrecklich! Ich wollte sagen, nicht daß ich meine, mich streng auf siebzig Pfund jährlich zu beschränken, ich habe von vorneherein daran gedacht, dem jungen Mann, den ich auf diese Weise beschäftige, noch außerdem ein Präsent zu machen. Selbstverständlich denke ich auch an eine jährliche Extravergütung.«

»Mein verehrter Lehrer«, sagte ich – diesmal ohne poetischen Schwung »ich schulde Ihnen bereits mehr, als ich jemals in Worte bringen kann –«

»Nein, nein«, unterbrach mich der Doktor, »ich bitte Sie!«

»Wenn Sie mich in meiner freien Zeit – das ist morgens und abends beschäftigen können und glauben, daß das wirklich siebzig Pfund jährlich wert ist, so erweisen Sie mir einen so großen Dienst, daß ich es gar nicht ausdrücken kann.«

»O Gott. Daß man mit so wenig Geld so viel ausrichten kann! Gott! Gott! Aber sowie Sie irgend etwas Besseres finden, müssen Sie es nehmen. Auf Ihr Wort jetzt!« Das war so seine alte Art von jeher gewesen, wenn er sich im Ernst an das Ehrgefühl von uns Schulknaben gewendet hatte.

»Auf mein Wort, Sir«, antwortete ich, unserer alten Schulgewohnheit gemäß.

»So sei es.« Er klopfte mir auf die Schulter und ging eingehängt mit mir auf und ab.

»Und ich werde noch zwanzigmal glücklicher sein, Sir«, brachte ich eine unschuldige Schmeichelei an, »wenn Sie mich mit dem Wörterbuch beschäftigen.«

Der Doktor blieb stehen, klopfte mir wieder lächelnd auf die Schulter und rief mit höchst ergötzlich anzusehendem Triumph, als ob ich bis an die äußersten Grenzen menschlichen Scharfsinns vorgedrungen wäre:

»Mein lieber junger Freund. Sie haben es erraten! Es handelt sich um das Wörterbuch.«

Wie konnte es auch anders sein. Seine Taschen waren damit so angefüllt wie sein Kopf. Er sagte mir, daß er wunderbare Fortschritte mit seiner Arbeit gemacht habe, seitdem er sich vom Unterricht zurückgezogen, und daß ihm nichts besser passen könnte als mein Vorschlag, früh und abends ein paar Stunden zu arbeiten, da er den Tag über nachdenken müsse. Seine Papiere seien ein wenig in Verwirrung geraten, weil Mr. Jack Maldon sich ihm als Sekretär angeboten habe und an diese Art Beschäftigung nicht sehr gewöhnt sei; aber wir würden bald alles in Ordnung haben und dann rasche Fortschritte machen.

Später fand ich, daß Mr. Jack Maldons frühere Bemühungen die Sache viel schwieriger gestalteten, als zu erwarten war, denn er hatte sich nicht darauf beschränkt, unzählige Fehler zu machen, sondern hatte auch auf das Manuskript des Doktors so viele Soldaten und Damenköpfe gezeichnet, daß man oft gar nichts mehr lesen konnte.

Der Doktor war sehr erfreut über die Aussicht, bald ans Werk gehen zu können, und wir setzten den Beginn auf nächsten Morgen sieben Uhr fest. Wir wollten jeden Morgen und Abend je zwei bis drei Stunden arbeiten mit Ausnahme der Samstage, wo ich mich ausruhen sollte. Dasselbe war natürlich mit den Sonntagen der Fall; die Bedingungen fielen also sehr angenehm für mich aus.

Nachdem unsere Pläne so zu unserer gegenseitigen Zufriedenheit geordnet waren, führte mich der Doktor ins Haus, um mich Mrs. Strong vorzustellen. Wir fanden sie in ihres Gatten neuem Studierzimmer beschäftigt, seine Bücher abzustauben, – eine Freiheit, die nur sie sich mit diesen Heiligtümern erlauben durfte.

Man hatte meinetwegen das Frühstück verschoben, und wir setzten uns zusammen zu Tisch. Wir saßen noch nicht lange, als ich in Mrs. Strongs Gesicht, noch ehe ich einen Laut hörte, Anzeichen, daß irgend jemand ankäme, wahrnahm. Ein Herr kam an das Tor geritten, führte das Pferd in den kleinen Hof, als ob er hier zu Hause sei, band es an einen Ring an der Mauer an und trat, die Reitpeitsche in der Hand, in das Frühstückszimmer. Es war Mr. Jack Maldon. Er schien mir in Indien durchaus nicht gewonnen zu haben. Allerdings war ich heute sehr fanatisch, besonders jungen Leuten gegenüber, die keine Bäume im Walde der Schwierigkeiten fällten, und mein Urteil muß daher mit Vorsicht aufgenommen werden.

»Mr. Jack«, stellte uns der Doktor vor, »Copperfield.« Mr. Jack schüttelte mir die Hand, nicht besonders herzlich, wie mir vorkam, und mit einer gelangweilten Gönnermiene, die mich insgeheim sehr wurmte.

»Haben Sie schon gefrühstückt, Mr. Jack?«

»Ich frühstücke fast nie, Sir«, erwiderte er, den Kopf in den Großvaterstuhl zurückgelehnt. »Es langweilt mich.«

»Gibts etwas Neues?« fragte der Doktor.

»Gar nichts, Sir. Es verlautet, die Leute oben im Norden seien hungrig und unzufrieden. Aber irgendwo sind sie immer hungrig und unzufrieden.«

Der Doktor machte ein ernstes Gesicht und sagte, als wollte er von etwas anderm sprechen: »Und so gibt es also gar nichts Neues? Keine Nachricht, sagt man, ist eine gute Nachricht.«

»In den Zeitungen steht etwas Langes und Breites über einen Mord. Aber irgendwo wird ja immer gemordet; ich habe die Geschichte nicht gelesen.«

Eine affektierte Gleichgültigkeit allen Begebnissen und Leidenschaften der Menschheit gegenüber galt damals noch nicht wie heute als besonders vornehm. Ich habe sie später so zur Mode werden sehen, daß ich elegante Herren und Damen gekannt habe, die ebensogut als Raupen hätten geboren sein können. Vielleicht fiel es mir damals mehr auf, weil es mir etwas Neues war, aber keinesfalls erhöhte es meine Meinung von Mr. Jack Maldon, noch auch mein Vertrauen zu ihm.

»Ich wollte fragen, ob Ännie heute abend in die Oper gehen will?« fragte Mr. Maldon, zu seiner Kusine gewendet. »Es ist die letzte gute Vorstellung in der Saison, und eine Sängerin tritt heute auf, die sie sich wirklich anhören sollte. Sie ist ganz ausgezeichnet. Außerdem entzückend scheußlich«, schloß er, wieder in Gleichgültigkeit versinkend.

Der Doktor, immer voll Freude, wenn es galt, seiner jungen Frau ein Vergnügen zu bereiten, sagte:

»Du mußt gehen, Ännie, du mußt gehen.«

»Ich möchte lieber zu Hause bleiben«, entgegnete Mrs. Strong, »ich möchte wirklich lieber zu Hause bleiben.«

Ohne ihren Vetter anzusehen, wendete sie sich an mich, erkundigte sich nach Agnes und fragte, ob sie vielleicht heute auch käme, und legte dabei eine so deutliche Unruhe an den Tag, daß ich mich wunderte, daß es dem Doktor nicht auffiel.

Aber er sah nichts. Er sagte ihr scherzend, sie sei doch jung und müsse sich unterhalten und zerstreuen und dürfe sich von so einem alten langweiligen Menschen wie er nicht anöden lassen. Außerdem möchte er sie später gerne die Lieder der neuen Sängerin singen hören, und wie könnte sie das tun, wenn sie nicht hinginge. So ließ sich der Doktor nicht abbringen, und Mr. Jack Maldon sollte zum Mittagessen wiederkommen.

Ich war am nächsten Morgen sehr gespannt, ob Mrs. Strong wirklich in der Oper gewesen. Sie war nicht hingegangen, sondern hatte nach London geschickt, um ihrem Vetter abzusagen, und eine Art Nachmittagbesuch bei Agnes gemacht.

Sie hatte ihren Gatten überredet mitzugehen. Dann waren sie zu Fuß nach Hause zurückgekehrt, da der Abend, wie der Doktor mir sagte, herrlich gewesen sei. Ich hätte gerne gewußt, ob sie wohl ins Theater gegangen wäre, wenn Agnes nicht in London geweilt hätte, denn es interessierte mich, ob Agnes auch auf sie ihren guten Einfluß ausübte.

Sie sah nicht sehr glücklich aus, wie mir vorkam, aber immerhin zufrieden; oder verstellte sie sich vielleicht? Sie saß die ganze Zeit, während wir arbeiteten, am Fenster und bereitete unser Frühstück, das wir bissenweise während der Arbeit verzehrten. Als ich um neun Uhr fortging, kniete sie vor dem Doktor nieder und zog ihm die Schuhe und Gamaschen an. Ein zarter Schatten von ein paar grünen Zweigen, die vom Garten hereinhingen, fiel auf ihr Gesicht, und ich mußte den ganzen Heimweg an jenen Abend denken, wo sie zu ihrem Gatten aufgeblickt, während er ihr vorlas.

Ich hatte jetzt ziemlich viel zu tun, stand um fünf Uhr auf und kam erst um neun oder zehn Uhr abends nach Hause. Aber es gewährte mir eine außerordentliche Befriedigung, so angestrengt beschäftigt zu sein. Ich ging immer schnellen Schrittes und sagte mir voll Begeisterung, je mehr ich mich abmühe, desto mehr tue ich, mir Dora zu verdienen.

Ich hatte ihr noch nichts von meinen veränderten Lebensverhältnissen sagen lassen können, weil sie zu Miss Mills erst in einigen Tagen kommen sollte und ich eine Mitteilung bis dahin aufgeschoben hatte. In meinen Briefen (unsern ganzen Briefverkehr besorgte Miss Mills) hatte ich bloß angedeutet, daß ich ihr viel erzählen müßte. Unterdessen setzte ich mich auf halbe Ration Bärenpomade, gab wohlriechende Seife und Lavendelwasser auf und verkaufte mit großen Opfern drei Westen als zu luxuriös für meine ernste Lebensbahn.

Damit noch nicht zufrieden und von Ungeduld erfüllt, noch mehr zu tun, suchte ich Traddles auf, der jetzt im Dachgiebel eines Hauses in Holborn, Castlestreet, wohnte. Ich nahm Mr. Dick mit, der mich schon zweimal nach Highgate begleitet und seine Bekanntschaft mit dem Doktor wieder erneuert hatte.

Ich nahm ihn mit, weil er, das Mißgeschick meiner Tante lebhaft mitfühlend und von dem aufrichtigen Glauben durchdrungen, daß kein Galeerensträfling angestrengter arbeiten könnte als ich, anfing, Laune und Appetit zu verlieren aus Kummer, nichts Nützliches zu tun zu haben. In dieser Verfassung war er unfähiger als je, die Denkschrift zu Ende zu bringende angestrengter er daran arbeitete, desto öfter kam der unglückselige König Karl I. hinein. Von ernster Besorgnis erfüllt, daß seine Krankheit sich verschlimmern könnte, wenn wir ihn nicht durch eine unschuldige Täuschung glauben machten, daß er für uns von Nutzen sein könnte, hatte ich mich entschlossen Traddles zu fragen, ob er nicht Hilfe wüßte. Ehe ich hinging, setzte ich ihm das Geschehene ausführlich auseinander, und Traddles schrieb mir einen prachtvollen Brief zurück, in dem er mich seiner vollsten Teilnahme und unwandelbaren Freundschaft versicherte.

Wir fanden ihn, erquickt durch den immerwährenden Anblick des Blumentopfs und des kleinen runden Tisches, in einer Ecke des Zimmers eifrig am Schreibtisch beschäftigt. Er empfing uns mit offenen Armen, und seine Freundschaft mit Mr. Dick war im Nu geschlossen. Mr. Dick gab seiner festen Überzeugung Ausdruck, ihn schon einmal irgendwo gesehen zu haben, und wir beide sagten dazu: »Sehr wahrscheinlich!«

Das erste, worüber ich Traddles zu Rate zog, war folgendes: Mir war bekannt, daß viele Leute, die sich später auf den verschiedensten Gebieten ausgezeichnet, ihre Laufbahn mit Berichterstatten über die Parlamentsdebatten begonnen hatten. Ich wußte, daß Traddles die Zeitungskarriere als eine seiner Hoffnungen im Auge hatte, und so bat ich ihn um Rat. Er sagte mir, daß die rein mechanische Kunst der Kammerstenographie fast ebenso schwer sei wie das Erlernen von sechs Sprachen und daß man dazu bei großer Ausdauer immerhin ein paar Jahre brauche. Er meinte natürlich, daß das genüge, um mich von meinem Entschluß abzubringen, aber ich sah nichts als die Möglichkeit, hier einige Bäume im Walde der Hindernisse niederzuhauen, und beschloß sofort, mir meinen Weg zu Dora durch dieses Dickicht zu bahnen.

»Ich bin dir sehr verpflichtet, lieber Traddles,« sagte ich. »Ich werde morgen anfangen.«

Traddles machte ein erstauntes Gesicht, denn er wußte noch nichts von meiner begeisterten Stimmung.

»Ich werde mir ein gutes Lehrbuch der Stenographie kaufen und mich damit in den Commons beschäftigen, wo ich wenig genug zu tun habe; ich werde zu meiner Übung die Reden in unserm Gerichtshof mitschreiben, lieber Freund, und werde es schon lernen.«

»Mein Gott«, sagte Traddles und riß die Augen auf, »ich wußte gar nicht, daß du so ein entschlossener Charakter bist, Copperfield.«

Wie hätte er es auch wissen können, war es mir doch selbst neu genug. Ich ging jedoch darüber hinweg und brachte Mr. Dick aufs Tapet.

»Ach, wenn ich irgend etwas tun könnte, Mr. Traddles«, fiel Mr. Dick betrübt ein, – »wenn ich die Pauke schlagen könnte oder irgendein Instrument blasen!«

Der Ärmste! Ich zweifle nicht, daß er eine solche Beschäftigung jeder andern vorgezogen haben würde.

Traddles, der um nichts in der Welt die Miene verzogen hätte, erwiderte ruhig:

»Sie schreiben doch eine sehr hübsche Handschrift, Sir. Sagtest du es mir nicht, Copperfield?«

»Eine wunderschöne«, bestätigte ich. Und das war auch der Fall; er schrieb ungewöhnlich sauber und hübsch.

»Könnten Sie nicht vielleicht Akten kopieren, wenn ich Ihnen welche verschaffte?«

Mr. Dick sah mich fragend an. »Was glaubst du, Trotwood?«

Ich schüttelte den Kopf. Mr. Dick schüttelte auch den Kopf und seufzte. »Sag ihm das von der Denkschrift, Trotwood«, bat er mich.

Ich setzte Traddles auseinander, daß es sehr schwer sei, König Karl I. aus Mr. Dicks Manuskripten fernzuhalten, und Mr. Dick hörte zu, sah Traddles ehrerbietig und ernsthaft dabei an und lutschte an seinem Daumen.

»Aber die Akten, die ich meine, sind ja schon ganz fertig und brauchen bloß abgeschrieben zu werden«, sagte Traddles nach einer Weile Nachdenkens. »Mr. Dick hat mit dem Inhalt nichts zu schaffen. Würde das nicht einen Unterschied machen, Copperfield? Sollte man es nicht auf alle Fälle versuchen?«

Das flößte uns neue Hoffnung ein; Traddles und ich streckten die Köpfe zusammen, während uns Mr. Dick von seinem Stuhle aus besorgt beobachtete, und heckten einen Plan aus, der sich schon am nächsten Tag als unerwartet erfolgreich erwies.

Auf einem Tisch am Fenster in der Buckingham Straße legten wir ihm die von Traddles verschaffte Arbeit, darin bestehend, daß er eine Anzahl Kopien eines gerichtlichen Dokuments über ein Wegerecht anzufertigen hatte, – vor, und auf den Tisch daneben legten wir das letzte unvollendete Original der großen Denkschrift. Wir belehrten Mr. Dick, daß er genau abzuschreiben habe, was vor ihm lag, ohne im geringsten vom Inhalt der Akten abzuweichen. Dagegen müsse er sich schleunigst zur Denkschrift verfügen, wenn er sich gedrungen fühlen sollte, König Karl I. auch nur im mindesten zu erwähnen. Wir ermahnten ihn, darin unerbittlich zu sein, und ließen meine Tante bei ihm sitzen, damit sie ihn bewachte.

Sie erzählte uns später, daß er sich zuerst wie jemand, der mehrere Instrumente zugleich spielen müßte, benommen und seine Aufmerksamkeit beständig zwischen den beiden Tischen geteilt habe, bald aber dabei sehr müde geworden sei und seine Abschrift gehörig und in ordentlicher geschäftsmäßiger Weise vorgenommen, die Denkschrift hingegen auf eine passendere Zeit verschoben habe. Mit einem Wort, er hatte bereits am Samstag abend der nächsten Woche, obgleich wir Sorge trugen, daß er sich nicht überarbeitete, zehn Schilling neun Pence verdient.

Mein Leben lang werde ich nicht vergessen, wie er in allen Läden der Nachbarschaft herumlief, um seinen Schatz in Sixpencestücke umzuwechseln, und sie meiner Tante auf einem Teller in der Form eines Herzens zusammengelegt mit Tränen der Freude und des Stolzes in den Augen brachte. Er stand von dem Augenblicke an, wo er nützlich beschäftigt war, wie unter dem Einfluß eines Zaubers. Und wenn es an jenem Samstagabend einen glücklichen Menschen auf der Welt gab, so war es dieses dankbare Geschöpf, das meine Tante für die wunderbarste Frau der Schöpfung und mich für den wunderbarsten jungen Mann hielt.

»Jetzt ist es mit der Hungersnot vorbei, Trotwood«, sagte Mr. Dick, als er mir in der Ecke des Zimmers die Hand schüttelte. »Ich werde für sie sorgen, Sir!« und er fuhr mit den zehn Fingern in der Luft herum, als ob der Raum voll Goldstücke hinge.

Ich weiß kaum, wer sich mehr freute, Traddles oder ich. »Ich habe wahrhaftig Mr. Micawber ganz darüber vergessen«, sagte Traddles plötzlich, zog einen Brief aus der Tasche und gab ihn mir.

Der Brief – Mr. Micawber ließ nie die geringste Gelegenheit zu schreiben vorübergehen – war an mich adressiert:

»Durch gütige Vermittlung von T. Traddles, Hochgeboren, vom innern Juristenkollegium.« Er lautete:

Mein lieber Copperfield!

Sie sind vielleicht nicht ganz unvorbereitet auf die Nachricht, daß sich etwas gefunden hat. Ich erwähnte wohl schon bei einer früheren Gelegenheit, daß ich ein solches Ereignis erwartete. Ich stehe im Begriffe, mich in einer Provinzstadt unserer grünen Insel, die mit Recht als eine glückliche Mischung des ackerbautreibenden und des geistlichen Standes bezeichnet werden kann, in unmittelbarer Beziehung zu einem der gelehrten Berufsfächer niederzulassen, Mrs. Micawber und unsere Sprößlinge werden mich begleiten. In einer spätern Epoche wird unsere Asche wahrscheinlich vermischt gefunden werden mit der heiligen Erde des Friedhofs in der Nähe des ehrwürdigen Doms, durch den die von mir erwähnte Stadt einen Ruf erlangt hat, der, wie ich wohl sagen darf, von China bis Peru reicht.

Indem ich von dem modernen Babylon scheide, wo wir so manchen Schicksalswechsel – wie ich hoffe, ehrenhaft – ertragen haben, können Mrs. Micawber und ich uns nicht verhehlen, daß wir jetzt für Jahre und vielleicht für immer von einem Wesen scheiden, das durch starke Bande an den Altar unseres häuslichen Lebens gefesselt ist. Wenn Sie am Vorabend eines solchen Abschieds unseren gemeinsamen Freund, Mr. Thomas Traddles, in unsere gegenwärtige Heimstätte begleiten und dort die einer solchen Gelegenheit angemessenen Wünsche austauschen wollen, so werden Sie unendlich verpflichten einen, der sich immer nennen wird

Ihr
    Wilkins Micawber

Ich war froh, daß Mr. Micawber nicht mehr von Asche und Staub reden mußte und endlich wirklich etwas gefunden hatte. Da ich von Traddles erfuhr, daß die Einladung für den heutigen Abend galt, nahm ich sie an, und wir gingen zusammen nach der Wohnung, die Mr. Micawber unter dem Namen Mr. Mortimer innehatte und die am untern Ende von Grays-Inn-Road lag.

Die Räume dieser Wohnung waren so beschränkt, daß die Zwillinge – jetzt acht oder neun Jahre alt – in einem Klappbett im Familienzimmer schliefen, wo Mr. Micawber in einem Waschtischkruge ein Gebräu des angenehmen Getränks, wegen dessen er sich eines so großen Rufes erfreute, vorbereitet hatte. Es machte mir ein besonderes Vergnügen, bei dieser Gelegenheit die Bekanntschaft Master Micawbers, der jetzt zu einem vielversprechenden Knaben von zwölf oder dreizehn Jahren herangewachsen und mit jener Ruhelosigkeit der Glieder, die bei Jünglingen seines Alters kein allzu seltenes Phänomen ist, behaftet war, zu erneuern. Ich sah auch seine Schwester wieder, Miss Micawber, in der, wie Mr. Micawber uns sagte, seine Gattin, dem Phönix gleich, wiederauflebte.

»Mein lieber Copperfield«, begann Mr. Micawber, »Sie und Mr. Traddles finden uns im Begriffe, unsere Pilgerfahrt anzutreten, und werden gewiß die kleinen Unannehmlichkeiten, die von einem solchen Zustand unzertrennlich sind, entschuldigen.«

Ich sah mich um, während ich in entsprechender Weise antwortete, und bemerkte, daß die Familieneffekten, in keiner Hinsicht verwirrend umfangreich, bereits gepackt zur Reise bereit standen.

Ich wünschte Mrs. Micawber zur bevorstehenden Veränderung viel Glück.

»Mein lieber Mr. Copperfield«, sagte sie. »Von Ihrer freundlichen Teilnahme an allen unseren Schicksalen bin ich fest überzeugt. Meine Familie mag es meinetwegen als Verbannung betrachten, aber ich bin Gattin und Mutter und werde Mr. Micawber nie verlassen.«

Traddles, auf dem Mrs. Micawbers Auge ruhte, stimmte gefühlvoll bei.

»Das wenigstens«, sagte Mrs. Micawber, »ist meine Ansicht von der Pflicht, die ich übernahm, als ich die unwiderruflichen Worte wiederholte: ›Ich Emma nehme dich Wilkins‹. Ich las die Trauungsformel gestern abend bei Kerzenschimmer durch und bin zu dem Schlusse gekommen, daß ich Mr. Micawber nie verlassen kann, und«, setzte sie hinzu, »wenn ich mich auch in meiner Auffassung der kirchlichen Zeremonie irren kann, so werde ich ihn trotzdem nie verlassen.«

»Meine Liebe«, sagte Mr. Micawber etwas ungeduldig, »es hat doch niemand von dir etwas anderes erwartet.«

»Ich bin mir bewußt, mein lieber Mr. Copperfield«, fuhr Mrs. Micawber fort, »daß mich jetzt das Schicksal mitten unter Fremde versetzt, und weiß auch, daß die verschiedenen Mitglieder meiner Familie, denen Mr. Micawber in der höflichsten Weise von der Welt die Angelegenheit anzeigte, nicht die mindeste Notiz von seiner Mitteilung genommen haben. Es mag Aberglaube sein, aber es scheint mir Mr. Micawbers Fatum zu sein, daß er niemals Antworten auf den größten Teil der Mitteilungen, die er schreibt, erhält. Aus dem Stillschweigen meiner Familie bin ich berechtigt zu mutmaßen, daß sie gegen meinen Entschluß Einwendungen erhebt, aber ich würde mich von dem Pfade der Pflicht selbst nicht von Papa und Mama, wenn sie noch am Leben wären, abbringen lassen.«

Ich sprach mich dahin aus, daß auch ich das für die einzige richtige Art hielte.

»Es ist vielleicht ein Opfer, sich in einer Episkopalstadt einzukerkern«, sagte Mrs. Micawber, »aber wenn es für mich ein Opfer bedeutet, ein wieviel größeres ist es, Mr. Copperfield, für einen Mann von meines Gatten Fähigkeiten!«

»O, Sie ziehen in eine Episkopalstadt?« fragte ich.

Mr. Micawber, der uns mittlerweile aus dem Waschtischkrug eingeschenkt hatte, erwiderte:

»Nach Canterbury. Die Sache ist die, lieber Copperfield. Ich habe mich kontraktlich gebunden und mit Handschlag verpflichtet, unserm gemeinsamen Freunde Heep in der Eigenschaft eines Privatsekretärs beizustehen und zu dienen.«

Ich starrte Mr. Micawber, dem meine Überraschung große Freude machte, erstaunt an.

»Ich fühle mich verpflichtet, Ihnen mitzuteilen«, fuhr er mit wichtiger Miene fort, »daß Mrs. Micawbers Geschäftskenntnis und kluge Ratschläge in hohem Maße zu diesem Ausgang beigetragen haben. Der Fehdehandschuh, dessen Mrs. Micawber bereits bei einer früheren Gelegenheit Erwähnung tat, wurde in Form einer Annonce hingeworfen. Mein Freund Heep hob ihn auf, und so kam eine Zusammenkunft zustande. Von meinem Freunde Heep, der ein Mann von bemerkenswertem Scharfblick ist, möchte ich nur mit der allergrößten Hochachtung sprechen. Mein Freund Heep hat die Remuneration, die ich im voraus verlangte, nicht allzu hoch angesetzt, aber er machte von dem Werte meiner Dienste abhängig, inwieweit er mich vom Druck meiner materiellen Schwierigkeiten erlösen wolle, und auf diesen Wert meiner Dienstleistungen setze ich nun meine Hoffnung. Mein bißchen Geschicklichkeit und Intelligenz«, fügte er mit prahlerischer Bescheidenheit hinzu, »werde ich meinem Freunde Heep zur Verfügung stellen. Ich habe bereits einigen Einblick in die Jurisprudenz gewonnen – als Beklagter im Zivilprozeß – und werde mich ohne Verzug in die Kommentare des hervorragendsten und bemerkenswertesten unserer englischen Juristen vertiefen. Ich brauche wohl nicht zu bemerken, daß ich den Richter Blackstone meine.«

Ich saß die ganze Zeit über da, bestürzt über Mr. Micawbers Mitteilungen und außerstande, mir sie zu erklären, bis Mrs. Micawber den Faden des Gesprächs aufnahm.

»Auf eines vorzüglich möchte ich Mr. Micawbers Aufmerksamkeit lenken«, sagte sie. »Er darf sich während seiner Beschäftigung mit diesen untergeordneten Zweigen der Jurisprudenz in keiner Hinsicht der Möglichkeit berauben, später den Gipfel des Baumes erklimmen zu können. Ich bin fest überzeugt, daß, wenn Mr. Micawber sich mit ganzer Seele einem Beruf widmet, der seinen reichen Fähigkeiten und seiner fließenden Rednergabe so angemessen erscheint, er sich darin auszeichnen muß. Ich denke an die Stellung eines Richters oder eines Kanzlers. Schließt sich ein Individuum, ich frage Sie, Mr. Traddles, durch die Annahme einer Stelle, wie sie Mr. Micawber in Kürze bekleiden wird, dadurch von vorneherein von der Möglichkeit aus, zu einem der soeben genannten Posten befördert zu werden?«

»Meine Liebe«, bemerkte Mr. Micawber, nicht ohne ebenfalls einen fragenden Blick auf Traddles zu werfen, »zur Erörterung solcher Punkte haben wir wahrlich noch Zeit genug.«

»Micawber«, entgegnete sie, »nein! Du hast von jeher den Fehler im Leben begangen, daß du nicht weit genug in die Zukunft blicktest. Deiner Familie, wenn nicht dir selbst, bist du es schuldig, auch die entlegensten Punkte am Rande des Horizontes, bis zu dem dich deine Fähigkeiten führen können, ins Auge zu fassen.«

Mr. Micawber hustete und trank seinen Punsch mit einer Miene außerordentlicher Befriedigung aus, – blickte aber dabei immer noch fragend auf Traddles.

»Die Sache liegt einfach so, Mrs. Micawber«, erklärte Traddles, bemüht, ihr so schonend wie möglich die nötige Aufklärung beizubringen, »ich meine die wirkliche prosaische Tatsache, Sie verstehen –«

»Ganz recht«, sagte Mrs. Micawber, »mein lieber Mr. Traddles. Auch mein Wunsch ist es, hinsichtlich eines so hochwichtigen Gegenstandes so prosaisch und buchstäblich wie möglich zu Rate zu gehen.«

»Die wirkliche prosaische Tatsache liegt so«, fuhr Traddles fort, »daß dieser Zweig der juristischen Laufbahn, selbst wenn Mr. Micawber ein wirklicher Anwalt wäre –«

»Ganz recht«, unterbrach Mrs. Micawber.

»– damit gar nichts zu tun hat. Nur ein Rechtsgelehrter ist zu diesen Ämtern wählbar. Und Mr. Micawber kann nicht eher Rechtsgelehrter werden, ehe er nicht fünf Jahre Jus studiert hat.«

»Verstehe ich recht?« fragte Mrs. Micawber mit ihrer leutseligsten Geschäftsmiene, »verstehe ich Sie recht, lieber Mr. Traddles, daß nach Ablauf dieser Zeit Mr. Micawber als Richter oder Kanzler wählbar wäre?«

»Er wäre wählbar«, sagte Mr. Traddles und legte großen Nachdruck auf das letzte Wort.

»Ich danke Ihnen! Das genügt vollkommen. Wenn das der Fall ist und Mr. Micawber durch den Antritt seines neuen Amtes kein Recht aufgibt, so bin ich beruhigt. Ich spreche natürlich als Frau, aber ich bin von jeher der Meinung gewesen, daß Mr. Micawber das besitzt, was mein Papa ein juristisches Talent nannte. Und ich hoffe, Mr. Micawber betritt jetzt eine Laufbahn, wo sich diese Gabe entwickeln und ihm eine einflußreiche Stellung sichern wird.«

Mr. Micawber sah sich offenbar bereits am Ziele der Richterkarriere. Er strich sich mit der Hand wohlgefällig über den kahlen Kopf und sagte mit deutlich zur Schau getragener Resignation:

»Meine Liebe, wir wollen den Ratschlüssen des Schicksals nicht vorgreifen. Wenn es mir bestimmt ist, eine Richter-Perücke zu tragen, so bin ich wenigstens äußerlich auf diese Auszeichnung vorbereitet. Ich beklage den Verlust meines Haares nicht; wer weiß, ob ich nicht zu einem besonderen Zweck dessen beraubt wurde. – Es ist nebenbei bemerkt meine Absicht, lieber Copperfield, meinen Sohn für die Kirche zu erziehen, und ich will nicht leugnen, daß es mich seinetwegen glücklich machen würde, wenn ich zu bedeutender Stellung gelangte.«

»Für die Kirche?« fragte ich zerstreut, da ich immerwährend an Uriah Heep denken mußte.

»Ja«, sagte Mr. Micawber, »er hat eine sehr bemerkenswerte Kopfstimme und wird seine Laufbahn als Chorknabe beginnen. Unser Aufenthalt in Canterbury und unsere Konnexionen dortselbst werden ihn unzweifelhaft instand setzen, die erste sich bietende Stelle im Domchor zu erhalten.«

Als ich Master Micawber ansah und er uns, ehe er schlafen ging, das Lied vorsang: »Es klopft der Specht«, da schien es wirklich, als ob seine Stimme zwischen seinen Augenbrauen stäke und von dort ausginge. Er erntete viel Beifall, und dann wendete sich das Gespräch auf allgemeinere Themen. Meine veränderten Verhältnisse erfüllten mich zu sehr, als daß ich sie hätte für mich behalten können. Ich kann gar nicht in Worte fassen, wie außerordentlich entzückt Mr. und Mrs. Micawber waren, als sie von den Verlegenheiten meiner Tante erfuhren, und wie sehr es zur Vermehrung ihrer freundschaftlichen Stimmung beitrug.

Als es mit dem Punsch ziemlich auf die Neige ging, erinnerte ich Traddles, daß wir uns nicht trennen dürften, ohne unsern Freunden Gesundheit, Glück und Erfolg auf ihrer neuen Laufbahn zu wünschen. Ich bat Mr. Micawber unsere Gläser zu füllen und brachte den Toast in angemessener Form aus, worauf ich ihm über den Tisch die Hände schüttelte und zur Feier des großen Ereignisses Mrs. Micawber küßte. Im ersten Punkte ahmte mir Traddles nach. Hinsichtlich des zweiten hielt er seine freundschaftlichen Beziehungen nicht für alt genug, um es zu wagen.

»Mein lieber Copperfield«, antwortete Mr. Micawber, indem er aufstand, die Daumen in den Westentaschen, »Gefährte meiner Jugend, wenn ich diesen Ausdruck gebrauchen darf, und mein geschätzter Freund Traddles – wenn es mir gestattet ist, ihn so zu nennen, Sie werden mir beide erlauben, Ihnen im Namen Mrs. Micawbers, meiner selbst und unserer Sprößlinge in wärmster und rückhaltlosester Weise für Ihre guten Wünsche zu danken. Man dürfte mit Recht erwarten, daß ich am Vorabende einer Wanderung, die uns zu einem ganz neuen Dasein führen wird«, – er redete, als ob er fünfhunderttausend Meilen reisen sollte – »einige Bemerkungen zum Abschied zwei solchen Freunden gegenüber machen würde, aber alles, was ich in diesem Sinn zu sagen hatte, ist bereits gesagt worden. Welche Stellung in der Gesellschaft ich auch immer auf dem Umwege über den gelehrten Beruf, dessen unwürdiges Mitglied ich zu werden im Begriff stehe, erklimmen werde, ich werde stets bemüht sein, ihr keine Schande zu machen, und Mrs. Micawber wird ihr in jeder Beziehung zur Zierde gereichen. Unter dem Druck vorübergehender pekuniärer Verbindlichkeiten, die ich mit der Absicht einging, sie sofort zu tilgen, doch leider daran durch eine Verkettung von Umständen verhindert war, habe ich mich genötigt gesehen, eine Tracht anzulegen, die meinen natürlichen Gefühlen widerstrebt – ich meine die Brille –, und einen Namen anzunehmen, auf den ich keinerlei gerechtfertigte Ansprüche besitze. Alles, was ich in dieser Beziehung zu sagen habe, ist, daß die Wolken über dem Schauplatz der Trostlosigkeit gewichen sind und daß der Gott des Tages abermals hoch über dem Bergesgipfel strahlt. Nächsten Montag mit Ankunft der Nachmittagpost berührt mein Fuß in Canterbury die heimatliche Heide, und mein Name wird wieder Micawber sein.«

Nach diesen Worten nahm Mr. Micawber seinen Platz wieder ein und trank mit gewichtigem Ernst zwei Gläser Punsch hintereinander. Dann sprach er feierlich:

»Noch eins bleibt mir zu tun, ehe diese Trennung vor sich geht, und zwar eine Tat, die das Billigkeitsgefühl von mir fordert. Mein Freund Mr. Thomas Traddles hat mir bei zwei verschiedenen Gelegenheiten mit seinem Wechselgiro ausgeholfen. Bei der ersten Gelegenheit ließ ich Mr. Thomas Traddles, lassen Sie es mich kurz sagen, – in der Tinte. Die Verfallzeit des zweiten ist noch nicht abgelaufen. Der Betrag der ersten Verbindlichkeit« – hier sah Mr. Micawber mit prüfendem Blick in sein Notizbuch – »war, wenn ich nicht irre, 23 £ 4 sh. 9½, der des zweiten 18?6?2, diese Summen machen zusammen, wenn ich nicht irre, 41 £ 10 sh. 11½. Mein Freund Copperfield wird vielleicht die Güte haben, es nachzurechnen.«

Ich tat es, und es stimmte.

»Diese Metropole und meinen Freund Mr. Thomas Traddles zu verlassen«, sagte Mr. Micawber, »ohne mich des pekuniären Teils meiner Verpflichtungen entledigt zu haben, würde wie eine unerträgliche Last auf meinen Geist drücken. Ich habe daher für meinen Freund Mr. Thomas Traddles dieses Dokument hier, das den gewünschten Zweck erfüllt, entworfen. Ich erlaube mir, meinem Freunde Mr. Thomas Traddles einen Schuldschein mit meiner Unterschrift über 41 £ 10 sh 11½ zu überreichen, und schätze mich glücklich, meine sittliche Würde gewahrt zu haben und zu wissen, daß ich jetzt wieder mit erhobenem Haupte vor meine Mitmenschen hintreten kann.«

Mit diesen Geleitworten legte er seinen Schuldschein in Traddles Hände und fügte hinzu, daß er ihm in allen Lebenslagen viel Glück und jedmöglichen Erfolg wünsche. Ich bin überzeugt, daß nicht nur er das Gefühl hatte, seine Schuld bar bezahlt zu haben, sondern auch, daß Traddles selbst den Unterschied nicht sogleich begriff.

Er fühlte sich auf seine Handlungsweise so stolz, daß seine Brust noch einmal so breit aussah, als er uns die Treppen hinableuchtete. Wir schieden beiderseits mit großer Herzlichkeit, und als ich Traddles nach Hause begleitet hatte und heimwärts ging, dachte ich mir des öfteren, daß ich es wohl nur den Erinnerungen an die Zeit, wo ich bei Mr. Micawber als Knabe gewohnt, verdankte, daß er mich nie um Geld ansprach, so leichtsinnig er auch sonst mit dem anderer Leute umging.

Ich hätte gewiß nicht den Mut gehabt, ihm eine Bitte abzuschlagen, und ich bezweifle nicht, – zu seiner Ehre sei es gesagt – daß er das ebenso genau wußte wie ich.

37. Kapitel Eine kalte Dusche


37. Kapitel Eine kalte Dusche

Mein neues Leben hatte schon länger als eine Woche gedauert und ich war stärker als je in den furchtbar praktischen Entschlüssen, die die Krisis erforderte. Ich fuhr fort, raschen Schrittes zu gehen, und lebte beständig unter dem Gedanken, daß ich vorwärtskäme. Ich machte es mir zur Pflicht, mich in allem, was ich tat, so viel anzustrengen, wie ich nur irgend konnte. Ich verfiel sogar auf den Gedanken, mich auf vegetarische Diät zu setzen, wahrscheinlich von der dunkeln Ahnung erfüllt, daß ich Dora ein Opfer brächte, wenn ich mich zu einem pflanzenfressenden Lebewesen entwickelte.

Noch hatte Dora keine Ahnung von meiner verzweifelten Entschlossenheit, die nur in meinen Briefen gewisse dunkle Schatten vorauswarf. Aber es kam ein Samstag heran, und an diesem Samstagabend sollte sie bei Miss Mills sein; wenn Mr. Mills in seinen Whistklub gegangen sein würde – was man mir durch das Aufstellen eines Vogelkäfigs im Mittelfenster des Gesellschaftszimmers auf die Straße telegraphieren wollte –, sollte ich zum Tee hinkommen.

Um diese Zeit herum hatten wir uns in der Buckingham-Straße ganz eingewohnt, und Mr. Dick fuhr fort, in einem Zustand ungestörter Glückseligkeit abzuschreiben. Meine Tante hatte einen entscheidenden Sieg über Mrs. Crupp erfochten, indem sie sie ablohnte, den ersten auf die Treppe gestellten Wasserkrug zum Fenster hinauswarf und eine Zugeherin, die wir aufgenommen hatten, in eigner Person zum Schutze die Treppen auf und ab geleitete. Diese energischen Maßregeln erfüllten Mrs. Crupps Brust mit solchem Entsetzen, daß sie sich, in der Meinung, meine Tante sei verrückt geworden, stets in ihre Küche flüchtete, wenn sie sie kommen sah. Da meiner Tante Mrs. Crupps Meinung ebenso wie die irgend jemand andern vollständig gleichgültig war, so wurde die früher so kühne Mrs. Crupp in wenigen Tagen derart mutlos, daß sie es vorzog, ihre stattliche Gestalt hinter Türen zu verstecken – wobei jedoch immer ein breiter Rand des flanellnen Unterrocks vorguckte – oder sich in dunkle Ecken zu drücken, wenn meine Tante in der Nähe erschien. Dies bereitete meiner Tante ein so außerordentliches Vergnügen, daß ich glaube, sie stürmte nur die Treppe auf und ab, den Hut schief aufgesetzt, um Mrs. Crupp ununterbrochen in Schrecken zu erhalten.

Da sie ungewöhnlich ordnungsliebend und erfinderisch war, nahm sie in meiner Haushaltung so viel kleine Verbesserungen vor, daß es den Anschein hatte, als seien wir reicher statt ärmer geworden. Unter anderm verwandelte sie die Speisekammer in eine Garderobe für mich und kaufte mir eine Bettstelle, die zur Tageszeit einem Bücherschrank so ähnlich sah, wie es ein Bett nur konnte. Ich war der Mittelpunkt ihrer beständigen Sorgfalt, und meine arme Mutter selbst hätte mich nicht lieber haben und sich mehr um mich kümmern können.

Peggotty fühlte sich außerordentlich geehrt, daß sie an diesen Arbeiten teilnehmen durfte, und obgleich ihr immer noch etwas von der alten Scheu vor meiner Tante anhaftete, so hatte ihr diese doch so viele Beweise von aufmunternder Leutseligkeit und Vertrauen gegeben, daß sie die besten Freunde geworden waren. An dem Samstagabend, als ich zum Tee bei Miss Mills erwartet wurde, war gerade die Zeit gekommen, wo Peggotty heimfahren mußte, um ihren Pflichten gegenüber Ham nachzukommen.

»So leben Sie denn wohl, Barkis«, sagte meine Tante, »und nehmen Sie sich gut in acht. Ich hätte wahrhaftig nie gedacht, daß es mir so leid tun würde, Sie zu verlieren.«

Ich begleitete Peggotty auf die Station und sah sie fortfahren. Sie weinte beim Abschied und legte mir ihren Bruder ans Herz, so wie damals Ham. Wir hatten seit jenem sonnigen Nachmittag nichts mehr wieder von ihm gehört.

»Und jetzt, mein einziger lieber Davy«, bat sie mich, »noch eins! Wenn du Geld brauchst während deiner Lehrzeit oder später, um dich zu etablieren, so hat gewiß niemand ein so gutes Recht, dich zu bitten, es dir leihen zu dürfen, als meines lieben guten Mädels alte dumme Peggotty.«

Ich ließ nicht nach, ich mußte es ihr versprechen. Nur die sofortige Annahme einer großen Summe, glaube ich, hätte sie noch glücklicher gemacht.

»Und noch eines, liebes Kind«, flüsterte sie mir zu. »Sag dem hübschen kleinen Engel, daß ich sie so gern nur eine einzige Minute gesehen hätte. Und sage ihr, daß ich dein Haus gar so gern schön herrichten möchte, bevor sie mein Liebling heiratet, wenn sie es mir erlaubt.«

Ich versicherte ihr, daß niemand anders es anrühren dürfte, und darüber freute sie sich so sehr, daß sie in bester Laune wegfuhr.

Ich mühte mich soviel ich konnte den Tag über in den Commons auf die verschiedenartigste Weise ab und begab mich zur festgesetzten Stunde abends in die Straße, wo Miss Mills wohnte. Ihr Vater, der entsetzlich lang nach dem Essen zu schlafen pflegte, war noch nicht fort, und im Mittelfenster hing noch immer kein Vogelbauer.

Endlich trat Mr. Mills aus der Türe, und ich sah, wie Dora selbst den Käfig aufhängte und über den Balkon nach mir ausspähte und wieder hineinlief, als sie mich erblickte, während Jip draußen blieb und auf einen riesenhaften Fleischerhund herausfordernd herunterbellte, der ihn wie eine Pille hätte verschlucken können.

Dora kam mir an der Salontür entgegen, und Jip kam herausgesprungen und verschluckte sich über sein Geknurr, als er sah, daß ich kein Einbrecher war, und wir alle drei begaben uns so glücklich und voll Liebe wie nur möglich ins Zimmer. Ich vernichtete – gewiß nicht in böser Absicht, aber mich erfüllte das Thema so sehr – im Nu die freudige Stimmung, indem ich Dora, ohne sie im mindesten vorzubereiten, fragte, ob sie einen Bettler lieben könnte.

Die hübsche kleine Dora, wie erschrocken sie war! Ihr einziger Gedanke bei den Worten mußte ein gelbes Gesicht und ein grüner Augenschirm oder ein paar Krücken, ein Holzbein oder ein Hund mit einer blechernen Schale im Maul oder etwas der Art gewesen sein, denn sie starrte mich mit einem ganz allerliebst verwunderten Gesicht an.

»Wie kannst du nur so etwas Albernes fragen!« schmollte sie. »Einen Bettler lieben!!«

»Dora, mein Herzensschatz«, sagte ich, »ich bin ein Bettler.«

»Wie kannst du so albern sein«, und sie schlug mir auf die Hand, »hier sitzen und mir solche Geschichten erzählen! Warte, Jip soll dich beißen.«

Ihr kindisches Wesen war mir das köstlichste auf der Welt, aber ich mußte mich ihr doch deutlicher machen und so wiederholte ich feierlich:

»Dora, mein Herz, ich bin dein zugrunde gerichteter David.«

»Warte nur, Jip wird dich schon beißen«, sagte sie und schüttelte ihre Locken; »wenn du nicht mit dem dummen Zeug aufhörst.«

Aber ich machte ein so ernstes Gesicht, daß sie endlich aufhörte ihre Locken zu schütteln, ihre kleine Hand zitternd auf meine Schulter legte, zuerst erschrocken und besorgt dreinsah und dann anfing zu weinen.

Es war schrecklich. Ich fiel vor dem Sofa auf die Knie nieder, liebkoste sie und bat sie, mir nicht das Herz zu zerreißen. Aber eine lange Zeit konnte die arme kleine Dora bloß ausrufen: »O Gott, o Gott, wie erschrocken bin ich, wo ist Julia Mills? Führe mich zu Julia Mills und geh, geh, ich bitte dich«, bis ich fast von Sinnen war.

Endlich nach vielen Bitten und Beteuerungen brachte ich sie dazu, mich mit ihrem entsetzten Gesicht anzusehen, und es gelang mir ihr Grauen zu mildern, bis sie mich nur mehr liebend ansah und ihre weiche Wange an meiner ruhte. Dann sagte ich ihr, während ich sie mit meinen Armen umschlungen hielt, wie sehr und innig ich sie liebte, sie aber von ihrem Versprechen entbinden müßte, weil ich jetzt arm sei, und daß ich es kaum ertragen würde, wenn ich sie verlieren müßte. Ich für meinen Teil fürchte mich nicht vor der Armut, wenn sie es nicht täte, denn mein Arm und mein Herz würden durch den Gedanken an sie gestählt. Ich erzählte ihr, wie ich schon jetzt mit einem Mute arbeitete, den nur Liebende kennen, schon viel praktischer geworden sei und für die Zukunft sorge. Ein sauer verdienter Bissen Brot sei süßer als ein geerbtes Festgelage. Noch vieles Ähnliche sagte ich ihr und gab es mit einer leidenschaftlichen Beredsamkeit zum besten, die mich ganz überraschte, obgleich ich Tag und Nacht, seit mir meine Tante die Hiobsbotschaft gebracht, an weiter nichts gedacht hatte.

»Ist dein Herz noch immer mein, Dora?« fragte ich begeistert, denn ihr zärtliches Anschmiegen verriet es mir.

»O ja!« rief Dora. »O ja. Es ist ganz dein. O, sei nur nicht so schrecklich.«

»Ich schrecklich! Meiner Dora schrecklich!«

»Sprich nicht von Armsein und harter Arbeit«, sagte Dora und schmiegte sich noch dichter an mich. »O bitte, bitte nicht!«

»Mein teuerstes Herz, der wohlverdiente Bissen Brot –«

»Ja, ja, aber ich mag nichts mehr vom Bissen Brot hören, und Jip muß jeden Mittag Schlag zwölf Uhr ein Hammelkotelett bekommen oder er stirbt.«

Ich war ganz bezaubert von ihrer kindischen entzückenden Weise. Ich versicherte ihr unter Liebkosungen, daß Jip sein Hammelkotelett mit der gewohnten Regelmäßigkeit bekommen sollte. Ich malte unsere bescheidne Häuslichkeit aus und benutzte dazu das kleine Haus, das ich in Highgate gesehen, und wies meiner Tante das obere Zimmer an.

»Bin ich dir noch schrecklich, Dora?« fragte ich dann zärtlich.

»O nein, nein«, schluchzte Dora. »Aber ich hoffe, deine Tante wird hübsch in ihrem Zimmer bleiben. Hoffentlich ist sie keine keifende Alte.«

Hätte ich mich noch mehr in Dora verlieben können, so wäre es sicher jetzt der Fall gewesen. Aber ich fühlte, daß sie doch zu wenig praktisch war. Es kühlte meine neugeborne Begeisterung etwas ab, daß ich sie so schwer damit anstecken konnte. Ich versuchte es noch einmal. Als sie wieder ganz zu sich gekommen war und die Ohren Jips, der auf ihrem Schoße lag, um ihre Finger drehte, wurde ich ernst und sagte:

»Mein Schatz, darf ich noch etwas sagen?«

»O bitte, sei nicht praktisch!« sagte sie liebkosend. »Es erschreckt mich so!«

»Mein Liebling, dabei ist doch nichts Erschreckliches. Ich möchte, daß du es nicht in diesem Lichte siehst. Ich möchte dir Kraft geben und dich begeistern, Dora.«

»O, das ist abscheulich!«

»Aber durchaus nicht, mein Herzensschatz. Ausdauer und Charakterstärke befähigen uns, viel Schlimmeres zu ertragen.«

»Aber ich habe gar keine Stärke«, sagte Dora und schüttelte ihre Locken. »Nicht wahr, Jip? O bitte, gib Jip einen Kuß und sei wieder lieb.«

Ich konnte unmöglich widerstehen und mußte Jip küssen, als sie ihn mir hinhielt, ihren eignen rosigen Mund gespitzt, als sie die Zeremonie leitete, und ich küßte ihn, wie sie es wünschte, genau mitten auf die Nase. Ich entschädigte mich dann für meinen Gehorsam, und ihre Liebkosungen ließen mich meinen Ernst eine lange Zeit vergessen.

»Aber meine geliebte Dora«, fing ich endlich wieder an, »ich wollte dir ja etwas sagen.«

Der Richter des Prärogativgerichts hätte sich in sie verlieben müssen, wie sie ihre Hände faltete, sie emporhielt und mich bat und flehte, ja nicht wieder schrecklich zu sein.

»Ich werde es gewiß nicht sein, mein Liebling«, beruhigte ich sie, »aber wenn du manchmal denken wolltest – nicht wie an etwas Entmutigendes, beileibe nicht – aber wenn du manchmal daran denken wolltest, – bloß um dir selbst Mut zu machen, – daß du mit einem armen Menschen verlobt bist –«

»Nicht, nicht! Bitte, nicht! Es ist so schrecklich.«

»Aber durchaus nicht, Herzensschatz«, sagte ich ermunternd. »Wenn du manchmal daran denken und dich dann und wann in deines Papas Haushalt umsehen wolltest und dich ein wenig gewöhntest, vielleicht Rechnung zu führen –«

Die arme, kleine Dora nahm diese Zumutung mit einem Weheruf auf, der halb Seufzer, halb ein Schrei war.

»– so wird das später sehr nützlich sein. Und wenn du mir versprechen wolltest, manchmal ein kleines – ein ganz kleines Kochbuch zu lesen, das ich dir schicken will, so wäre das ausgezeichnet für uns; denn unser Lebenspfad, Dora«, sagte ich und wurde schon wieder bei meinem Thema wärmer, »ist steinig und rauh, und an uns ist es, ihn zu ebnen. Wir müssen uns emporringen! Wir müssen tapfer sein! Es gilt Hindernisse zu überwinden, und wir müssen ihnen entgegentreten und sie niedertreten.«

Ich sprach mit größter Begeisterung mit geballter Faust und höchst enthusiastischer Miene, aber es war ganz unnütz fortzufahren; ich hatte bereits genug gesagt und schon wieder das Schlimmste angerichtet. Dora war außer sich. »Wo ist Julia Mills! Bringe mich zu Julia Mills. Bitte, bitte, geh!« so daß ich ganz von Sinnen kam und im Salon herumraste.

Ich glaubte damals wirklich, ich hätte sie getötet. Ich bespritzte ihr Gesicht mit Wasser, fiel auf die Knie nieder und zerraufte mein Haar. Ich nannte mich einen hartherzigen Barbaren und ein wildes Tier. Ich bat sie um Verzeihung und flehte sie an, mich doch nur anzusehen. Ich wühlte in Miss Mills‘ Arbeitskästchen nach einem Riechfläschchen herum, erwischte in meiner Verzweiflung anstatt dessen eine elfenbeinerne Nadelbüchse und schüttete alle Nadeln über Dora aus. Jip, der ebenso raste wie ich, drohte ich mit der Faust. Ich verübte jede Tollheit, die sich nur verüben ließ, und hatte längst den Verstand verloren, als Miss Mills hereintrat.

»Wer hat das getan!« rief Miss Mills aus, ihrer Freundin zu Hilfe eilend.

»Ich, Miss Mills! Ich habe es getan!« schrie ich. »Sehen Sie sich den Barbaren an!« – Und ich verbarg mein Gesicht in dem Sofakissen vor dem Lichte.

Anfangs glaubte Miss Mills, wir hätten uns gezankt und näherten uns wieder der Wüste Sahara, aber bald erfuhr sie die Wahrheit, denn meine liebe kleine Dora fiel ihr um den Hals und erklärte ihr weinend, ich sei ein armer Arbeiter, und rief dann mich herbei und fiel mir um den Hals und fragte mich, ob sie mir all ihr Geld zum Aufheben geben sollte, und dann sank sie wieder an Miss Mills‘ Brust und schluchzte, als ob ihr zärtliches Herzchen brechen sollte.

Miss Mills war ein wahrer Segen für uns. Mit wenigen Worten erfuhr sie von mir, um was es sich handelte, dann tröstete sie Dora und brachte sie allmählich zu der Überzeugung, daß ich kein Arbeiter sei – aus meiner Erzählung schien Dora geschlossen zu haben, daß ich Mörtelträger sei und den ganzen Tag über mit einem Schubkarren auf einem Brett auf- und abführe –, und stiftete wieder Frieden zwischen uns. Als wir uns ein wenig beruhigt hatten und Dora hinausgegangen war, um sich die Augen mit Rosenwasser zu kühlen, klingelte Miss Mills nach dem Tee. In der Zwischenzeit beteuerte ich ihr, daß sie ewig meine Freundin sein würde und mein Herz zu schlagen aufhören müßte, bevor ich ihre Anteilnahme vergessen könnte.

Dann setzte ich ihr auseinander, was ich mich so ohne allen Erfolg Dora klarzumachen bemüht hatte. Sie stellte fest, daß die Zufriedenheit in der Hütte besser sei als die kalte Pracht des Palastes und daß, wo Liebe wohne, es an nichts fehle.

Ich gab ihr vollkommen recht. Niemand könne das besser wissen als ich, der Dora liebe, wie noch kein Sterblicher geliebt.

Dann fragte ich, ob sie meine Vorschläge hinsichtlich des Haushaltes und des Kochbuchs für praktisch halte oder nicht.

Nach längerer Überlegung erwiderte sie: »Mr. Copperfield, ich will mit Ihnen offen reden. Seelenleiden und Prüfungen ersetzen bei manchen Naturen die Zahl der Jahre, und ich will so aufrichtig gegen Sie sein, als wäre ich eine Äbtissin. Nein, der Rat paßt nicht für Dora! Unsere liebe Dora ist ein Schoßkind der Natur, sie ist wie aus Licht, Luft und Freude gewoben. Ich gestehe recht gern zu, daß der Rat an und für sich gut ist, aber –« Sie schüttelte den Kopf.

Ihre letzten Worte flößten mir den Mut ein, sie zu fragen, ob sie bei Gelegenheit Doras Aufmerksamkeit auf den Ernst des Lebens würde lenken wollen. Sie bejahte so bereitwillig, daß ich weiter fragte, ob sie nicht auch Dora überreden möchte, das Kochbuch anzunehmen. Auch dieses Amt übernahm Miss Mills, machte sich aber nicht allzu große Hoffnungen.

Dora sah so liebreizend aus, als sie zurückkehrte, daß ich mich wirklich mit Zweifel im Herzen fragte, ob man sie mit so etwas Gewöhnlichem belästigen dürfte. Sie liebte mich so sehr und war so entzückend, besonders als sie Jip um Röstschnitten aufwarten ließ und so tat, als ob sie ihm zur Strafe für seinen Ungehorsam seine Nase an die heiße Teekanne hielte, daß ich mir wie eine Art Ungeheuer in einem Feengarten vorkam, wenn ich bedachte, wie ich sie bis zu Tränen erschreckt hatte.

Nach dem Tee nahm sie die Gitarre und sang die hübschen, alten französischen Lieder von der Unmöglichkeit, jemals mit Tanzen aufzuhören, tarala, tarala, bis ich mich noch mehr als Ungeheuer fühlte als vordem.

Nur ein Schatten fiel auf unser Glück und zwar kurz vor meinem Fortgehen, als ich unvorsichtigerweise verlauten ließ, daß ich meiner Arbeiten wegen jetzt um fünf Uhr früh aufstünde. Ob Dora vielleicht glaubte, ich sei Privatnachtwächter, weiß ich nicht, aber jedenfalls machte es einen tiefen Eindruck auf sie, und sie spielte und sang nicht mehr.

Es lag ihr immer noch auf der Seele, als ich Abschied von ihr nahm, und sie sagte zu mir in ihrer entzückenden, liebkosenden Weise wie zu einer Puppe:

»Also steh nicht um fünf Uhr auf, du nichtsnutziger Junge! Es ist doch ein Unsinn.«

»Schatz«, sagte ich, »ich habe zu arbeiten.«

»So tu es nicht. Warum nur?«

Ihrem hübschen verwunderten Gesichtchen konnte man nur scherzend sagen, daß wir arbeiten müßten, um zu leben.

»Ach Gott, wie lächerlich!« rief Dora.

»Aber wie sollen wir denn leben ohne Arbeit, Dora?«

»Wie? Irgendwie!«

Sie schien zu glauben, daß die Frage damit gänzlich aus der Welt geschafft sei, und gab mir einen so triumphierenden Kuß aus ihrem unschuldigen Herzen heraus, daß ich sie nicht um ein Vermögen hätte berichtigen mögen.

Also gut! Ich liebte sie und liebte sie weiter, hingebend und vollkommen, und nur sie. Aber ich fuhr auch fort recht angestrengt zu arbeiten und geschäftig alle Eisen zu schmieden, die ich im Feuer hatte, und manchmal, wenn ich abends meiner Tante gegenübersaß, mußte ich daran denken, wie sehr ich Dora erschreckt hatte; dann grübelte und grübelte ich, wie ich mir am besten meinen Weg durch die Welt – am liebsten mit einem Gitarrenfutteral – bahnen könnte, bis es mir vorkam, daß mein Kopf grau würde.

57. Kapitel Die Auswanderer


57. Kapitel Die Auswanderer

Noch eins blieb mir zu tun. Ich mußte das Geschehen den Abreisenden verheimlichen und sie in glücklicher Unwissenheit scheiden lassen. Es galt keine Zeit zu verlieren.

Ich nahm Mr. Micawber noch am selben Abend beiseite und betraute ihn mit dem Auftrag, von Mr. Peggotty jede Nachricht von dem neuen Unglück fernzuhalten. Er übernahm das Amt mit großem Eifer und versprach jede Zeitung zu beseitigen, die unsere Maßnahme hätte vereiteln können.

»Wenn er eine in die Hand bekommt, Sir«, sagte Mr. Micawber und schlug sich auf die Brust, »so muß sie erst durch diesen Leib gehen.«

 

Mr. Micawber hatte sich in seiner Sucht, sich den neuen gesellschaftlichen Zuständen anzupassen, eine Art kühne Seeräubermiene angewöhnt, die, wenn auch nicht gerade aggressiv, so doch bereit aussah, jeden Angriff auf der Stelle zurückzuweisen. Man hätte ihn für einen Sohn der Wildnis halten können, der, seit langem gewohnt, sich jenseits der Grenzen der Zivilisation aufzuhalten, jetzt im Begriffe stand, in die heimatliche Steppe zurückzukehren.

Er hatte sich unter anderm einen vollständigen Ölzeuganzug angeschafft und einen Strohhut mit sehr niedrigem Kopf, der außen mit Pech gedichtet oder kalfatert war. In dieser Tracht, ein Seemannsfernrohr unter dem Arm und mit einer gewissen gewiegten Miene häufig nach Sturm in den Wolken spähend, sah er in seiner Weise viel nautischer aus als Mr. Peggotty. Die ganze Familie stand sozusagen in Schlachtordnung. Mrs. Micawber trug einen unglaublich engen und unbequemen Hut unter dem Kinn zugebunden und einen auf dem Rücken zugeknoteten Schal, der sie wie ein Bündel einhüllte. Miss Micawber hatte sich in ähnlicher Weise gegen stürmisches Wetter wohl verwahrt, und nichts Unzweckmäßiges war an ihr zu sehen. Master Micawber in seinem wollenen Matrosenhemd und den zottigsten Matrosenhosen, die es geben konnte, war kaum erkenntlich, und die Kinder waren wie Konserven in luftdichte Gehäuse eingeschlossen. Sowohl Mr. Micawber wie sein ältester Sohn trugen die Ärmel aufgestreift, zum Zeichen, daß sie bereit seien, überall Hand anzulegen und bei der geringsten Aufforderung aufzuspringen oder zu singen: Hoo, Jüh, Hoo.

So fanden Traddles und ich sie beim Anbruch der Nacht an der hölzernen Treppe, die damals Hungerford Stairs hieß, wo sie der Abfahrt eines Bootes mit einigen ihrer Sachen zusahen. Die Familie wohnte in einem kleinen schmutzigen baufälligen Wirtshaus, das dicht an der Treppe lag und dessen hölzerne Stockwerke über den Fluß hingen. Sie hatten als Auswanderer einiges Interesse in und um Hungerford erregt, und so viel Zuschauer waren herbeigeströmt, daß wir froh waren, uns in ihr Zimmer flüchten zu können. Es lag eine Treppe hoch, und unten strömte die Flut dahin.

Meine Tante und Agnes, emsig beschäftigt für die Kinder noch einige bequeme Kleidungsstücke zu verfertigen, saßen bereits dort. Peggotty half ruhig mit, das alte Arbeitskästchen, das Ellenmaß und den Wachsstumpf neben sich, die schon so viel mitgemacht hatten.

»Wann segelt das Schiff ab, Mr. Micawber?« fragte meine Tante.

Er glaubte wahrscheinlich, meine Tante oder seine Frau nur nach und nach vorbereiten zu dürfen, und antwortete: Früher, als er gestern geglaubt hätte.

»Das Boot hat Ihnen wohl die Nachricht gebracht?«

»Ja, Maam.«

»Nun, und wann geht das Schiff?«

»Maam, ich habe Nachricht erhalten, daß wir morgen früh Punkt sieben Uhr an Bord sein müssen.«

»Der Tausend«, sagte meine Tante. »Das ist früh. Ist es wirklich so, Mr. Peggotty?«

»Freilich, Maam. Es geht mit der Flut den Fluß hinunter. Wenn Masr Davy un mien Swester morgen nachmiddag in Gravesend an Burd kamen, warden Sei uns dat letzte Mal seihn.«

»Und wir kommen natürlich bestimmt.«

 

Es war nicht leicht, Peggotty und ihrem Bruder, ohne etwas von dem Unglücksfall zu verraten, zuzuflüstern, daß ich den Brief abgegeben, und daß alles in Ordnung sei. Aber ich tat beides und machte sie glücklich.

»Bis dahin und bis wir auf offnem Meere sind«, bemerkte Mr. Micawber und warf mir einen Blick des Einverständnisses zu, »werden Mr. Peggotty und ich beständig die schärfste Aufsicht über unsere Sachen führen. Meine liebe Emma«, sagte er und räusperte sich in seiner großartigen Weise, »mein Freund Mr. Thomas Traddles ist so gütig, mir ins Ohr zu flüstern, ob er die zur Anfertigung einer mäßigen Portion des Getränkes, dessen Name in unserm Geiste so unauflösbar mit dem bekannten Roastbeef Altenglands verknüpft ist, notwendigen Ingredenzien verschaffen solle. Ich meine – kurz Punsch. Unter normalen Umständen würde ich nicht wagen, Miss Trotwood und Miss Wickfield einzuladen, aber –«

»Was mich betrifft«, sagte meine Tante, »so werde ich mit dem größten Vergnügen auf Ihr Wohl und zukünftiges Glück trinken.«

»Und ich auch«, sagte Agnes mit einem Lächeln.

Mr. Micawber eilte unverzüglich in die Schenkstube hinunter, wo er ganz zu Hause zu sein schien, und kehrte bald darauf mit einem dampfenden Krug zurück. Ich bemerkte, daß er die Zitronen mit seinem eignen Klappmesser schälte, das wie ein echtes Trappermesser fast einen Fuß lang war und das er ostentativ an seinem Rockärmel abwischte. Mrs. Micawber und die beiden altern Mitglieder der Familie waren, wie ich jetzt entdeckte, im Besitz derselben ansehnlichen Waffen, während jedes Kind an einer starken Schnur seinen eignen hölzernen Löffel um den Leib trug. Als eine ähnliche Vorbereitung auf das Leben zur See und im australischen Busch schenkte Mr. Micawber den Punsch statt in die Weingläser, von denen ein ganzer Tisch voll im Zimmer stand, in abscheuliche kleine Zinntöpfe ein, und niemals habe ich ihn mit so großer Lust trinken sehen als jetzt aus seinem eignen Zinntopf, den er am Schluß des Abends in die Tasche steckte.

»Die Üppigkeiten des alten Landes«, sagte er mit außerordentlichem Genuß in Entsagung schwelgend, »werden jetzt aufgegeben. Die Bewohner des Urwaldes dürfen nicht an den Verfeinerungen des Landes der Freiheit teilnehmen.«

In diesem Augenblick trat ein Bursche herein und meldete, daß jemand Mr. Micawber zu sprechen wünschte.

»Eine Ahnung sagt mir«, rief Mrs. Micawber und setzte ihr Blechkännchen aus der Hand, »daß es ein Mitglied meiner Familie ist.«

»Sollte das der Fall sein, meine Liebe«, bemerkte Mr. Micawber mit seinem gewohnten Aufbrausen, »so kann das Mitglied deiner Familie – wer er, sie oder es auch immer sein mag – so lange warten, bis es mir gefällig ist. Sie haben lange genug nichts von sich hören lassen.«

»Micawber – in einem Augenblick wie diesem –«

»Emma, du hast recht«, lenkte Mr. Micawber ein und stand auf. »Es ist nicht billig, daß jede kleine Schuld sogleich ihren Tadel findet.«

»Der Verlust«, bemerkte Mrs. Micawber, »trifft meine Familie und nicht dich. Wenn sie endlich fühlen, um wieviel sie sich durch ihre eigne Schuld gebracht haben, und jetzt in Freundschaft die Hand ausstrecken, so stoße sie nicht zurück!«

»Liebe Frau, so sei es.«

»Wenn nicht ihretwegen, dann meinetwegen, Micawber!«

»Emma«, entgegnete er, »ich vermag dir nicht zu widerstehen. Kann ich mich auch in diesem Augenblick noch nicht bestimmt verpflichten, deiner Familie um den Hals zu fallen, so soll doch dem jetzt wartenden Mitglied die Wärme des Herzens durch meine Schuld nicht erstarren.«

Er entfernte sich und blieb geraume Zeit aus. Mrs. Micawber konnte sich der Befürchtung nicht erwehren, es möchte zwischen ihm und dem betreffenden Familienmitglied ein Streit entstanden sein. Endlich erschien derselbe Bursche wieder und übergab mir einen mit Bleistift geschriebenen Zettel, auf dem in juridischer Weise »Heep kontra Micawber« stand. Ich las, daß Mr. Micawber, abermals in Haft, sich im letzten Stadium der Verzweiflung befände und mich bäte, ihm durch den Überbringer sein Messer und seine zinnerne Kanne zu schicken, da sie ihm in dem noch übrigen kurzen Rest seiner Tage im Gefängnis vielleicht von Nutzen sein könnten. Er bat mich auch, als einen letzten Freundschaftsbeweis seine Familie in das Armenhaus der Gemeinde zu begleiten und zu vergessen, daß ein solches Geschöpf wie er jemals gelebt habe.

Natürlich beantwortete ich den Zettel damit, daß ich mit dem Burschen hinunterging und das Geld bezahlte. Ich fand hier Mr. Micawber in einer Ecke sitzen und den Sheriffbeamten, der ihn in Haft genommen, mit finsterer Miene betrachten.

Nach seiner Freilassung umarmte er mich mit unbeschreiblicher Innigkeit und trug die Summe in sein Taschenbuch ein, wobei er sehr viel Gewicht auf den halben Penny legte, den ich versehentlich nicht angegeben hatte.

Dieses wichtige Taschenbuch erinnerte ihn gleichzeitig an ein anderes Geschäft. Bei unserer Rückkehr in das obere Zimmer zog er einen großen Bogen Papier heraus, der klein zusammengelegt über und über mit langen Zahlenreihen bedeckt war. Ich warf einen flüchtigen Blick darauf und kann sagen, nie, außer in einem Schulrechenbuch, sind mir solche Summen zu Gesicht gekommen. Es waren offenbar Zinseszinsberechnungen für ein Kapital von 41+£ +10+sh+11½ für verschiedene Perioden. Nach sorgfältiger Prüfung und einer detaillierten Abschätzung seiner Einkünfte hatte er die Summe herausgefunden, die den Betrag mit Zinseszinsen für zwei Jahre fünfzehn Monate und vierzehn Tage a dato repräsentierte. Über diesen Gesamtbetrag stellte er eine sauber geschriebene Schuldverschreibung aus und händigte sie unter vielen Dankesbeteuerungen Traddles als vollständige Tilgung seiner Schuld –, »wie es Männern geziemt«, aus.

»Ich habe immer noch die Ahnung«, sagte Mrs. Micawber und schüttelte gedankenvoll den Kopf, »daß meine Familie vor unserer Abreise an Bord erscheinen wird.«

Offenbar hatte Mr. Micawber über diese Ahnung seine besondere Meinung, aber er verschluckte sie mit einem Mund voll Punsch.

»Wenn Sie unterwegs Gelegenheit haben, Briefe abzuschicken, Mrs. Micawber«, sagte meine Tante, »müssen Sie uns natürlich Nachricht von sich geben.«

»Meine teuere Miss Trotwood, ich werde mich nur zu glücklich zu schätzen wissen, daß jemand von uns Nachricht erwartet. Ich werde gewiß nicht unterlassen zu schreiben. Ich hoffe, auch Mr. Copperfield wird als alter vertrauter Freund nichts dagegen haben, von Zeit zu Zeit Nachricht von jemand zu empfangen, der ihn kannte, als noch der Geist der Zwillinge schlummerte.«

Ich sagte, daß ich von ihr zu hören hoffte, sobald sie zum Schreiben Gelegenheit fände.

»Wenn es dem Himmel gefällt, wird sich oft derartige Gelegenheit ergeben«, mischte sich Mr. Micawber ein. »In dieser Jahreszeit ist der Ozean von einer Flotte von Schiffen bedeckt, und wir werden bei der Überfahrt zweifelsohne viele treffen. Es ist eine kurze Überfahrt«, sagte er und spielte mit seinem Augenglas. »Eine kurze Überfahrt. Entfernung ist etwas rein Imaginäres.« Es war sehr komisch, wie Mr. Micawber, der einstmals von einer Reise von London nach Canterbury gesprochen hatte, als ob er ans fernste Ende der Erde ginge, jetzt am Vorabend einer Fahrt von England nach Australien wie von einem kleinen Ausflug über den Kanal sprach.

»Auf der Fahrt werde ich den Leuten gelegentlich ein Seemannsgarn spinnen, und die melodiöse Stimme meines Sohnes Wilkins wird gewiß am Gallionenfeuer gerne gehört werden. Wenn Mrs. Micawber erst ihre Seebeine hat – ein Ausdruck, in dem, wie ich hoffe, keine konventionelle Ungehörigkeit liegt –, wird sie der Mannschaft voraussichtlich das Lied von ›Little Tafflin‹ vorsingen. Schweinsfische und Delphine werden häufig vor dem Bug unseres Schiffes auftauchen, und beständig wird auf Steuerbord oder Backbord irgendein interessanter Gegenstand zu bemerken sein. Kurz –«, sagte Mr. Micawber mit seiner alten großartigen Miene, »der Wahrscheinlichkeit nach werden wir alles in Luft und Wasser derart fesselnd finden, daß wir, wenn der Auslug vom Großmastkorb herab Land, ho! ruft, höchlichst überrascht sein werden.«

Damit schleuderte er die letzten Tropfen aus seinem Zinntöpfchen mit einem Gesicht fort, als ob er soeben die Reise vollendet und ein Examen ersten Ranges vor den höchsten Marineautoritäten abgelegt hätte.

»Was ich hauptsächlich hoffe, mein lieber Mr. Copperfield, ist, daß wir dereinst in einigen Zweigen unserer Familie wieder in dem alten Lande fortleben werden. Runzle nicht die Stirn, Micawber. Ich spreche nicht von meiner eignen Familie, sondern von unsern Kindeskindern. So kräftig auch der Schößling ist«, sagte Mrs. Micawber, »so kann ich doch den Mutterstamm nicht vergessen, und wenn unser Geschlecht Ehre und Reichtum erlangt, so möchte ich wünschen, daß dieser Reichtum in Britannias Schoß fällt.«

»Meine Liebe«, sagte Mr. Micawber. »Britannia muß sich schon bescheiden. Ich muß gestehen, daß sie niemals viel für mich getan hat und daß ich in dieser Hinsicht keinen besonders brennenden Wunsch hege.«

»Micawber, hierin hast du unrecht. Du ziehst hinaus ins ferne Land, Micawber, um das Band zwischen dir und Albion zu stärken, nicht, um es zu schwächen.«

»Das fragliche Band, meine Liebe, hat mir so oft Lasten persönlicher Verpflichtung auferlegt, daß ich vor der Anknüpfung neuer Verbindungen zurückschrecke.«

»Micawber, auch hierin bist du im Unrecht. Du kennst deine Kraft nicht, Micawber, und diese grade wird die Bande zwischen dir und Albion stets befestigen, selbst bei dem Schritt, den du jetzt vorhast.«

Mr. Micawber saß mit emporgezognen Augenbrauen in seinem Lehnstuhl, den Ansichten seiner Gattin halb anerkennend, halb ablehnend zuhörend.

»Lieber Mr. Copperfield«, fuhr Mrs. Micawber fort, »ich wünschte, daß mein Gatte seine Lage überschaue. Es scheint mir von höchster Wichtigkeit zu sein, daß er es von der Stunde seiner Einschiffung an tue. Ihre alte Bekanntschaft mit mir, lieber Mr. Copperfield, wird Ihnen bestätigen, daß ich nicht den sanguinischen Charakter Micawbers teile. Ich bin sozusagen eminent praktisch veranlagt. Ich weiß, daß eine lange Reise vor uns liegt. Ich weiß, daß sie viele Entbehrungen und Unbequemlichkeiten mit sich bringen wird. Ich kann mich diesen Tatsachen nicht verschließen, aber ich weiß auch, was Mr. Micawber ist. Ich kenne Mr. Micawbers schlummernde Kräfte, und darum halte ich es für unendlich wichtig, daß er seine Lage überschaue.«

»Liebe Frau, vielleicht wirst du mir die Bemerkung gestatten, es könne immerhin möglich sein, daß ich bereits im gegenwärtigen Augenblick meine Lage genau erkenne.«

»Ich glaube nicht, Micawber. Nicht so ganz! Lieber Mr. Copperfield, es liegt kein gewöhnlicher Fall vor. Mr. Micawber geht in ein fernes Land ausdrücklich deshalb, daß er dort zum ersten Mal vollkommen verstanden und gewürdigt werde. Ich wünsche, daß Mr. Micawber sich auf die Gallion des Schiffes stellt und mit fester Stimme sagt: ›Dieses Land will ich erobern, habt ihr Ehren, habt ihr Reichtümer? Habt ihr Ämter mit hoher Besoldung? Bringt sie mir dar, sie sind Mein.‹«

Mr. Micawber sah uns der Reihe nach mit einem Blick an, als ob viel Gutes in diesen Worten läge.

»Ich wünsche, daß Mr. Micawber, wenn ich mich so ausdrücken darf«, fuhr Mrs. Micawber in belehrendem Tone fort, »der Cäsar seines eignen Glückes wird. So, mein lieber Mr. Copperfield, scheinen mir die Dinge zu liegen. Vom ersten Augenblick der Reise an sollte sich Mr. Micawber auf die Gallion des Schiffes stellen und rufen: ›Genug des Harrens, genug der Enttäuschung, genug der ärmlichen Verhältnisse. Das war in dem alten Vaterlande. Hier liegt das neue. Sorgt für Entschädigung. Bringet sie dar!‹«

Mr. Micawber verschränkte mit entschlossenem Gesicht die Arme, als stünde er bereits auf dem Gallionenbilde.

»Und indem er das tut«, fuhr Mrs. Micawber fort, »und seine Stellung erfaßt, – habe ich nicht recht, wenn ich sage, er wird das Band mit Britannien kräftigen und nicht schwächen? Wenn er in jener Hemisphäre als einflußreicher Mann der Öffentlichkeit hervortritt, wird dann sein Einfluß nicht auch hier fühlbar sein? Wenn er den Zauberstab des Talentes und der Macht in Australien schwingt, dann sollte er in England nichts gelten? Das soll ich glauben? Ich bin nur ein Weib, aber ich würde Papas und meiner selbst unwürdig sein, wollte ich etwas Derartiges annehmen.«

Mrs. Micawbers feste Überzeugung, ihre Argumente seien unwiderleglich, verlieh ihrem Ton einen Schwung, wie ich ihn bei ihr noch nie gehört hatte.

»Und deshalb wünsche ich vor allem, daß wir in einer spätern Zukunft wieder den Boden des Vaterlandes betreten. Mr. Micawber kann gar leicht eine neue Seite im Buch der Geschichte bedeuten, und in dem Lande, das ihn geboren und ihn übersehen hat, muß er repräsentieren.«

»Liebe Frau«, fiel Mr. Micawber ein, »ich kann nicht anders, ich muß von deiner Liebe gerührt sein. Ich bin stets bereit, mich deiner größern Einsicht zu fügen. Was geschehen soll, wird geschehen. Der Himmel verhüte, daß ich meinem Vaterlande einen Teil der Schätze mißgönnen sollte, die vielleicht unsere Nachkommen anhäufen.«

»So ists recht«, bestätigte meine Tante und nickte Mr. Peggotty zu. »Und ich trinke euch allen meine Liebe zu, und mögen Segen und Erfolg euch begleiten.«

Mr. Peggotty setzte die beiden Kinder, die er auf den Knien geschaukelt hatte, nieder, um mit den Micawbers auf unser aller Wohl zu trinken; und als beim allgemeinen Händeschütteln ein Lächeln sein gebräuntes Gesicht erhellte, da wußte ich, er werde sich durchschlagen, einen guten Namen erringen und geliebt werden, mochte er hingehen, wohin er wollte. Selbst die Kinder mußten die hölzernen Löffel in Mr. Micawbers Blechtopf tauchen und uns damit zutrinken.

Dann standen meine Tante und Agnes auf und nahmen Abschied von den Auswanderern. Es war ein schmerzliches Lebewohl. Alle weinten; die Kinder hängten sich bis zum letzten Augenblick an Agnes, und wir verließen die arme Mrs. Micawber in sehr betrübter Gemütsverfassung, schluchzend und weinend bei dem trüben Licht, bei dem die Stube vom Flusse aus wie ein jämmerlicher kleiner Leuchtturm ausgesehen haben muß.

Ich ging am nächsten Morgen wieder nach dem Wirtshaus, um zu fragen, ob sie schon fort seien. Sie wären mit einem Boote schon früh um fünf Uhr abgefahren, hieß es. Es war für mich ein wunderbares Beispiel, welche Lücken ein Abschied reißen kann, als mir das baufällige Wirtshaus und die hölzerne Treppe zum Fluß, die ich doch erst seit gestern abend kannte, jetzt so öde und verlassen vorkamen.

 

Am nächsten Nachmittag fuhr ich mit meiner alten Kindsfrau hinaus nach Gravesend. Das Schiff lag im Flußhafen, umgeben von einer Flottille von Booten; ein günstiger Wind wehte, und das Signal zur Abfahrt flatterte an der Mastspitze. Ich mietete sogleich eine Jolle und fuhr nach dem Schiff, und wir stiegen an Bord.

Mr. Peggotty erwartete uns auf Deck. Er sagte mir, Mr. Micawber sei soeben wieder verhaftet worden, auf Betreiben Heeps, und er habe meiner Weisung gemäß das Geld ausgelegt. Dann nahm er uns hinunter ins Zwischendeck, und meine letzte Angst, daß er etwas von dem Unglück in Yarmouth gehört haben könnte, wurde von Mr. Micawber zerstreut, der aus dem Dunkel hervortrat, seinen Arm mit freundschaftlicher Gönnermiene nahm und mir erzählte, daß sie seit vorgestern abend kaum einen Augenblick voneinander getrennt gewesen wären. Alles war so fremdartig und in Dunkelheit gehüllt, daß ich anfangs kaum etwas erkennen konnte; erst allmählich gewöhnten sich meine Augen an die Finsternis, und mir war, als ob ich mitten in einem Gemälde von Ostade stünde. Zwischen den großen Balken, Ladungsstücken, Kisten, Fässern und bunten Haufen von Gepäck, hie und da von schwankenden Laternen an der Decke erleuchtet, während das gelbe Tageslicht sich da und dort durch die Luken hereinverirrte, standen dicht gedrängt Gruppen von Menschen, schlossen neue Freundschaften, nahmen Abschied voneinander, sprachen, lachten, weinten, aßen und tranken. Einige hatten sich bereits in dem ihnen zugewiesenen paar Fuß Raum häuslich eingerichtet, und kleine Kinder saßen auf Stühlchen oder Fußbänken; andere irrten trostlos umher, nach einem Zufluchtsort suchend. Vom Säugling an bis zu gebeugten Greisen und Greisinnen, die kaum mehr ein paar Wochen Leben vor sich hatten, von Ackerknechten, die buchstäblich Erde des alten England an ihren Stiefeln mit fortnahmen, bis zu den Schmieden, die Proben seines Rußes und Rauchs auf der Haut trugen, schienen jedes Alter und jeder Beruf in dem engen Raum des Zwischendecks eingepfercht zu sein.

Als ich umherblickte, glaubte ich an einer offenen Luke neben den kleinen Kindern eine Gestalt wie die Emlys sitzen gesehen zu haben. Sie zog zuerst meine Aufmerksamkeit durch eine andere Gestalt auf sich, die mit einem Kusse von ihr schied und, wie sie ruhig durch das Gewühl glitt, mich an – Agnes erinnerte. Aber in dem Getümmel verlor ich sie wieder, und ich wußte nur bei der Verwirrung meiner eignen Gedanken, daß die Zeit gekommen war, wo alle Besucher das Schiff verlassen sollten, daß meine Kindsfrau auf einer Kiste neben mir weinte und Mrs. Gummidge mit Hilfe einer jüngern Frauensperson in schwarzen Kleidern sich, über ihr Gepäck gebeugt, viel damit zu schaffen machte.

»Noch ein letztes Wort, Masr Davy. Haben wir noch etwas vergessen? Ehe wir Abschied nehmen.«

»Noch eins, Mr. Peggotty!« sagte ich, »nämlich Marta!«

Er legte die Hand auf die Schulter des schwarzgekleideten Mädchens neben Mrs. Gummidge, und Marta stand vor mir.

»Der Himmel segne Sie, Sie gutes Herz!« rief ich. »Sie nehmen Sie mit sich!«

Marta antwortete für ihn mit einem Tränenstrom. Ich konnte nicht reden, drückte ihm aber kräftig die Hand, und wenn ich jemals einen Menschen geliebt und hochgeschätzt habe aus tiefster Seele, so war es dieser.

 

Das Schiff wurde schnell von den Fremden geräumt. Noch blieb mir die größte Prüfung übrig. Ich richtete aus, was der Edle, der dahingegangen, mir zum Abschied aufgetragen hatte. Es rührte Mr. Peggotty tief. Und als er mir viele Worte der Liebe und Teilnahme für die Ohren, die jetzt tot und taub waren, auftrug, zerriß es mir das Herz.

Die Zeit des Abschieds war gekommen. Ich umarmte ihn, nahm die Hand meiner weinenden Kindsfrau und eilte fort. Auf dem Deck nahm ich Abschied von der armen Mrs. Micawber. Selbst jetzt noch wartete sie höchst beunruhigt auf ihre Familienmitglieder, und ihre letzten Worte waren, daß sie Mr. Micawber niemals verlassen werde.

Wir stiegen in unser Boot hinab und lagen in kleiner Entfernung still, um das Schiff abfahren zu sehen. Es lag zwischen uns und dem schönen stillen Abendrot, und jedes Tau und jede Spiere zeichneten sich scharf ab von der purpurnen Glut. Einen zugleich so schönen, so traurigen und hoffnungsreichen Anblick wie dieses herrliche Schiff, das ruhig auf dem bewegten Wasser lag, mit all seinem Leben an Bord, den Menschen, die sich hier an die Schanzverkleidungen drängten und dort zusammenstanden, schweigend und mit entblößtem Haupt, habe ich nie mehr gesehen. Wie die Brise die Segel schwellte und das Schiff sich zu regen begann, da erschollen aus all den Booten drei donnernde Hurras, die vom Schiffe her erwidert wurden. Mein Herz wollte zerspringen, als ich es hörte und die Hüte und Taschentücher schwenken sah. – Und dann erblickte ich – sie.

Dann sah ich sie an ihres Onkels Seite auf ihn gestützt. Er wies eifrig auf uns, und sie erblickte uns und winkte mir ein letztes Lebewohl zu.

Umgeben von dem rosigen Licht und hoch auf dem Verdecke stehend, sie an ihn gelehnt, er sie festhaltend, schwanden sie mir aus den Augen, ein feierliches Bild.

 

Die Nacht war auf die kentischen Hügel gesunken, als wir ans Ufer ruderten, und umfing mich dunkel und düster.

58. Kapitel Unterwegs


58. Kapitel Unterwegs

Eine lange finstere Nacht hüllte mich ein, von den Gespenstern teuerer Erinnerungen, vieler Irrtümer, mancher Sorge und Reue belebt.

Ich verließ England und erfaßte selbst da noch nicht, wie groß der Verlust war, den ich zu tragen hatte. Ich verließ alle, die mir lieb waren, und ging fort und glaubte, daß ich es überstanden hätte. Wie ein Soldat auf dem Schlachtfelde die Todeswunde empfängt und kaum weiß, daß er getroffen ist, so hatte ich, mit meinem ungeschulten Herzen jetzt allein gelassen, keinen Begriff von dem Schmerz, den es zu bekämpfen galt.

Die Erkenntnis kam über mich nicht schnell, sondern ganz langsam und allmählich. Das Gefühl der Öde, mit dem ich ins Ausland ging, wurde von Stunde zu Stunde weiter und tiefer. Zuerst war es der unbestimmte Druck von Gram und erlittenem Verlust, dann wurde es unmerklich ein hoffnungsloses Bewußtsein alles dessen, was ich verloren – Liebe, Freundschaft, Lust am Leben –, alles dessen, was zertrümmert war, – meines ersten Vertrauens, meiner ersten Liebe, des ganzen Luftschlosses meines Lebens, alles dessen, was mir blieb: – ein ödes, leeres Dasein, das mich umfing wie eine Wüste, soweit der dunkle Horizont reichte.

Wenn mein Gram egoistisch war, so wußte ich es wenigstens nicht. Ich trauerte um mein kindisches Frauchen, das so jung die blühende Welt hatte verlassen müssen. Ich trauerte um den, der sich die Liebe und Bewunderung von Tausenden hätte erwerben können, wie er sich die meine gewonnen vor langer Zeit. Ich trauerte auf meiner Wanderung um das gebrochene Herz, das Ruhe gefunden im stürmischen Meer, und die zertrümmerte Familie, in deren Mitte ich als Kind den Nachtwind hatte klagen hören.

Ich hatte keine Hoffnung mehr, mich aus diesem Trübsinn je wieder herausreißen zu können. Ich schweifte von Ort zu Ort und trug meinen Schmerz wie eine Bürde mit mir überall hin. Ich fühlte seine ganze Last und härmte mich ab unter ihr und sagte mir in meinem Herzen, daß sie nie leichter werden könnte.

Als meine Schwermut ihren Höhepunkt erreicht hatte, glaubte ich, ich würde sterben, und kehrte zuweilen um auf meinem Wege, um in meine Heimat zu reisen. Dann wieder fuhr ich weiter von Stadt zu Stadt und suchte, ich weiß nicht was.

Meine Träume lassen sich nur unvollkommen und unbestimmt beschreiben. Ich sehe mich gleich einem Träumer dahinwandeln durch die Sehenswürdigkeiten fremder Städte, – Paläste, Kirchen, Tempel, Gemälde, Schlösser, Gräber, phantastische Straßen, – alte Wohnstätten der Geschichte und der Sage –, die Last meines Grams überall mit mir herumtragend und kaum wissend, wie die Dinge vor mir kamen und gingen. Gleichgültigkeit gegen alles außer jenen brütenden Schmerz war die Nacht, die sich auf mein ungeschultes Herz senkte.

Monatelang reiste ich mit dieser immer dunkler werdenden Wolke über meiner Seele. Irgendwelche Gründe, nicht nach Hause zurückzukehren, die ich mir vergeblich klarzumachen suchte, ließen mich meine Pilgerfahrt fortsetzen. Ruhelos von Ort zu Ort wandernd, verweilte ich nie lange an ein und derselben Stelle. Nirgends hatte ich ein Ziel oder einen Gedanken, der mich aufrechthielt.

 

Ich war in der Schweiz. Ich kam aus Italien über einen der großen Alpenpässe und wanderte mit einem Führer in den Seitentälern der Gebirge umher. Was diese furchtbare Einsamkeit zu meinem Herzen gesprochen hat, weiß ich nicht. Ich habe Wunder und Erhabenheit gesehen in den schauerlichen Höhen und Abgründen, in den tosenden Wasserfällen, Eis– und Schneewüsten, aber weiter lehrten sie mich nichts.

Ich kam eines Abends vor Sonnenuntergang in ein Tal, wo ich die Nacht über bleiben wollte. Während ich auf dem vielgewundnen Pfad hinabstieg, überkam mich langentwöhntes Gefühl für Schönheit und Ruhe, und ein durch den Frieden der Umgebung erweckter, Milderung bringender Einfluß regte sich leise in meiner Brust. Ich weiß noch, daß ich einmal stehenblieb, erfüllt von einer Art Schmerz, die gar nicht erdrückend und nicht verzweifelt war. Fast hoffte ich, es könnte sich noch mit mir zum Bessern wenden.

Ich erreichte das Tal, als die Abendsonne auf die fernen, schneebedeckten Gipfel schien. Der Fuß der Berge war üppig grün, und hoch darüber wuchsen Wälder schwarzer Tannen, wie Keile in die winterliche Schneefläche eindringend und den Lawinen entgegengestemmt. Steile Wände, grauer Fels, schimmerndes Eis und samtene Rasenflächen erhoben sich Reihe um Reihe darüber, bis sie allmählich in den die Gipfel krönenden Schnee übergingen. Hie und da an den Berglehnen zerstreut, jeder winzige Fleck ein Heim, lagen vereinzelte hölzerne Hütten, durch den Anblick der ragenden Gipfel so zwerghaft verkleinert, daß sie zu winzig für ein Spielzeug erschienen. So auch das Dörfchen im Tal mit der Holzbrücke, unter der der Gebirgsbach über Felsentrümmer sprang und tosend weiter unter den Bäumen dahineilte. Durch die stille Luft ertönte ferner Gesang – Hirtenstimmen –, und mitten an der Berglehne hin schwebte eine einzelne lichte Abendwolke, daß ich fast hätte glauben können, das Singen käme von dort und sei keine irdische Musik … Ganz plötzlich aus diesem Frieden sprach die Natur zu mir, mein müdes Haupt auf den Rasen zu legen und zu weinen, wie ich seit Doras Tod noch nicht geweint hatte.

Ich fand ein Paket Briefe für mich vor und ging außerhalb des Dorfs spazieren, um sie zu lesen, während man das Abendessen fertig machte. Andere Briefsendungen hatten mich verfehlt, und lange hatte ich keine Nachricht aus der Heimat bekommen.

Ich hielt das Paket in der Hand; ich öffnete es und erblickte Agnes‘ Handschrift.

Sie fühlte sich glücklich, war vollauf beschäftigt und hatte den Erfolg, auf den sie gehofft. Das war alles, was sie von sich schrieb. Das Übrige bezog sich auf mich.

Sie gab mir keinen Rat, stellte mir keine Pflicht vor Augen, sie sagte mir nur in der ihr eignen innigen Weise, welche Hoffnungen sie auf mich setzte. Sie wüßte, sagte sie, Prüfungen und Kummer würden meinen Charakter nur stärken, – sie sei sicher, daß der Schmerz, den ich hatte ertragen müssen, meinem ganzen Streben nur eine festere und höhere Richtung geben würde. Sie sei so stolz auf meinen Ruhm und so überzeugt, daß er noch wachsen würde, und wisse bestimmt, ich werde weiter arbeiten.

Wie die schweren Tage meiner Kinderjahre mich zu dem gemacht, was ich war, so müßten mich die größern Leiden jetzt befähigen noch emporzusteigen. Sie wies mich an Gott, der meinen Liebling in sein Reich genommen, gedachte in schwesterlicher Liebe immer meiner, stolz auf das, was ich bereits vollbracht, aber noch unendlich stolzer darauf, was mir zu tun noch vorbehalten wäre.

Ich steckte den Brief in meine Brusttasche und dachte: was warst du vor einer Stunde noch! Als ich die Stimmen verklingen hörte, die goldne Abendwolke grau werden und alle Farben im Tal verbleichen und den schimmernden Schnee auf dem Gipfel zu einem Teil des Nachthimmels werden sah, da fühlte ich die Nacht von meiner Seele weichen und alle Schatten sich klären und fand keinen Namen für die Liebe, die mir von da an teuerer war als je zuvor.

Ich las ihren Brief viele Male. Ich schrieb an sie noch vor dem Schlafengehen. Ich sagte ihr, wie nötig ich ihren Beistand gehabt und ohne sie nie das geworden wäre, für das sie mich halte. Und daß ich versuchen wollte, mich aufzuraffen.

Und ich versuchte es. In drei Monaten jährte sich der Tag meines Leides. Ich beschloß vor Ablauf dieser Zeit keinen festen Entschluß zu fassen, aber den Versuch zu machen. Ich blieb die ganze Zeit über in diesem Tal und seiner Nachbarschaft.

Als die drei Monate um waren, beschloß ich noch einige Zeit von Hause wegzubleiben und mich vorderhand in der Schweiz, die mir durch die Erinnerung an jenen Abend wert geworden war, niederzulassen, um die Feder zur Hand zu nehmen und zu arbeiten.

Ich suchte die Natur auf und suchte nie vergebens; ich ließ in meine Brust die menschlichen Interessen, die ich in letzter Zeit zurückgedrängt hatte, wieder einziehen. Es dauerte nicht lange, so hatte ich fast so viele Freunde im Tal wie in Yarmouth, und als ich es vor Anbruch des Winters verließ, um nach Genf zu ziehen, und im Frühling zurückkehrte, hatten ihre herzlichen Begrüßungen einen heimischen Klang für mich.

Ich arbeitete früh und spät, geduldig und angestrengt. Ich schrieb einen Roman, dessen Inhalt nahezu meinen eignen Erlebnissen entsprang, und schickte ihn an Traddles, der seine Veröffentlichung unter sehr vorteilhaften Bedingungen für mich besorgte; und Nachrichten vom Wachsen meines Rufs begannen mich durch Reisende, die ich zufällig traf, zu erreichen. Nach einiger Rast und Zerstreuung machte ich mich wieder in meiner alten eifrigen Weise an ein neues Werk, das mich auf das lebhafteste beschäftigte. Je weiter ich damit vorrückte, desto mehr wuchs mein Interesse daran, und ich strengte meinen Geist aufs äußerste an, um es so gut wie möglich zu vollenden. Das war mein dritter Roman, und in einer Ruhepause dachte ich ans Nachhausereisen.

Seit langer Zeit hatte ich mich trotz eifrigen Studierens und Arbeitens an kräftige Leibesübung gewöhnt. Meine bei der Abreise aus England ernstlich angegriffene Gesundheit war wieder ganz hergestellt. Ich war in vielen Ländern gewesen, hatte viel gesehen und meine Kenntnisse vervollkommnet.

Ich habe von dieser Reisezeit alles, was ich für notwendig hielt, erzählt – mit einem Vorbehalt. Ich habe es nicht mit der Absicht getan, irgend etwas von meinen Gedanken zu verheimlichen, denn wie ich bereits sagte, ist diese Erzählung meine niedergeschriebene Erinnerung. Ich wünschte nur die geheime Seite meines Innern bis zuletzt aufzusparen. Ich gehe nun darauf ein.

Ich kann das Geheimnis meines Herzens nicht so vollständig durchdringen, als daß ich wissen könnte, wann ich zu denken begann, ich hätte meine frühesten und herrlichsten Hoffnungen auf Agnes stützen können. Ich weiß nicht, in welchem Zeitabschnitt meines Schmerzes mir zuerst der Gedanke kam, daß ich in jugendlicher Gedankenlosigkeit das Kleinod ihrer Liebe achtlos weggeworfen.

Ich glaube, eine Ahnung davon dämmerte in mir auf vor Jahren, als ich so etwas wie einen schmerzlichen Mangel oder eine Leere in meinem Innern fühlte. Aber der Gedanke trat wie ein neuer Vorwurf und ein neues Bedauern in meine Seele, als ich so bekümmert und einsam in der Welt dastand.

Wenn ich zu jener Zeit viel mit ihr beisammen gewesen wäre, würde ich es ihr in meiner Haltlosigkeit verraten haben. Eine solche Befürchtung veranlaßte mich im Anfange, von England fortzubleiben. Ich hätte es nicht ertragen können, auch nur den geringsten Teil ihrer schwesterlichen Liebe zu verlieren, und doch würde ich, wenn ich mich verraten hätte, eine Schranke zwischen uns aufgerichtet haben. Ich begriff, daß das Gefühl, das sie jetzt für mich empfand, durch meine eigne freie Wahl und Handlungsweise entstanden war. Wenn sie mich jemals mit einer andern Liebe geliebt, so hatte ich mir das selbst verscherzt. Die Glut meines Herzens hatte ich einer andern geschenkt, – was ich hätte tun können, hatte ich unterlassen, und zu dem, was Agnes jetzt für mich war, hatte ich sie selbst gemacht. Im Anfang der Veränderung, die allmählich in mir Platz griff, dachte ich daran, nach einer unbestimmten Prüfungsdauer sie um ihre Hand zu bitten. Aber im Verlauf der Zeit verblich diese schattenhafte Absicht und verließ mich zuletzt ganz. Ich sagte mir, wenn sie mich jemals geliebt, müßte ich sie jetzt um so heiliger halten, um des Sieges willen, den sie über sich selbst errungen. Und wenn sie mich früher nicht geliebt hätte, wie könnte ich dann glauben, daß sie mich jetzt lieben werde.

Ich wurde mir meines Fehlers immer mehr und mehr bewußt. Was wir einander hätten sein können, war jetzt vorüber. Ich hatte die Zeit verstreichen lassen und Agnes verloren.

Ich machte mir kein Hehl daraus, daß ich sie auf das innigste liebte, aber ich fühlte, daß es zu spät war, und daß ich unser so lange bestehendes Freundschaftsverhältnis nicht verrücken dürfte. So kam ich zu der Überzeugung, daß nie werden konnte, was ich wünschte.

Diese Gedanken mit ihren Wandlungen und Widersprüchen waren der wehende Triebsand meines Innern von der Zeit meiner Abreise bis zu der meiner Rückkehr, drei Jahre später.

Drei Jahre! Eine lange Zeit, wenn auch kurz und schnell vergangen. Und die Heimat war mir teuer, und Agnes, wenn sie auch nicht mein war und nie werden sollte. –

Das war vorbei.

59. Kapitel Rückkehr


59. Kapitel Rückkehr

Ich langte an einem winterlichen Herbstabend in London an. Es war dunkel und regnerisch, und ich bekam in einer Minute mehr Nebel und Schmutz zu Gesicht, als ich in einem Jahr gesehen. Ich mußte vom Zollhaus bis zum Monument zu Fuß gehen, ehe ich einen Wagen fand, und obgleich mich die Häuser, die auf die überlaufenden Gossen herabblickten, wie alte Freunde anmuteten, mußte ich mir doch gestehen, daß es recht schmutzige Freunde waren. Ich habe oft bemerkt, daß das Verlassen eines lang bewohnten Wohnorts ein Signal zu einer allgemeinen Veränderung zu geben scheint. Ich bemerkte aus dem Wagenfenster heraus, daß ein altes Haus in Fishstreet Hill, das ein Jahrhundert lang unberührt von Maler, Zimmermann und Maurer gestanden, während meiner Abwesenheit eingerissen und eine Straße von historischer Unsauberkeit und Enge kanalisiert und verbreitert worden war; halb und halb erwartete ich die St.-Pauls-Kathedrale älter aussehen zu finden.

Auf mancherlei Veränderungen in den Verhältnissen meiner Freunde war ich vorbereitet. Meine Tante war längst nach Dover gezogen, und Traddles hatte sich schon im ersten Halbjahr nach meiner Abreise eine Praxis als Advokat erworben. Er besaß jetzt eine Kanzlei in Grays Inn und hatte mir in seinen letzten Briefen geschrieben, er trage sich mit der Hoffnung, bald mit dem »besten Mädchen der Welt« verbunden zu sein.

Man erwartete meine Heimkehr erst kurz vor Weihnachten, und niemand ahnte, daß ich sobald zurückkehren würde. Absichtlich hatte ich ihnen nichts geschrieben, um das Vergnügen zu haben, sie zu überraschen, und dennoch war ich töricht genug, mich enttäuscht und verstimmt zu fühlen, als mir kein Willkommen zuteil wurde und ich allein und schweigend durch die neblichten Straßen fahren mußte. Die alten bekannten Läden mit ihrem heitern Lichterglanz heiterten mich jedoch bald auf, und als ich vor der Tür des Hotels in Grays Inn ausstieg, war ich wieder guter Laune.

»Wissen Sie, wo Mr. Traddles wohnt?« fragte ich den Kellner, als ich mich am Kamin wärmte.

»Holborn Court, Nummer zwei.«

»Mr. Traddles ist als Anwalt ziemlich bekannt, glaube ich?«

»Wohl möglich, Sir, aber ich weiß es nicht.«

Der Kellner, ein hagerer Mann in mittleren Jahren, sah sich hilfesuchend nach einem andern von mehr Autorität um, – einem großen, kräftigen, alten Mann von wichtigem Aussehen, einem Doppelkinn, schwarzen Kniehosen und Strümpfen, der sogleich aus einer Ecke wie aus dem Stuhl eines Kirchendieners im Hintergrunde des Kaffeezimmers hervorkam, wo er einer Geldkasse, einem Adreßbuch, einem Advokatenverzeichnis und andern Büchern und Papieren Gesellschaft geleistet hatte.

»Mr. Traddles«, sagte der magere Kellner zu ihm. »Nummer zwei im Hof.« Der wichtig aussehende Kellner winkte ihn weg und wandte sich würdevoll an mich.

»Ich fragte vorhin, ob Mr. Traddles als Advokat einen Ruf genießt?«

»Nie seinen Namen gehört«, sagte der Kellner mit kräftiger, etwas heiserer Stimme.

Ich fühlte mich für Traddles ein wenig gedemütigt.

»Er ist wohl noch ein junger Mann?« fragte der Kellner und musterte mich mit strengem Blick, »Wie lange ist er Advokat?«

»Ungefähr drei Jahre.«

Der Kellner, der in seinem Kirchenstuhl wahrscheinlich vierzig Jahre gelebt hatte, konnte doch einen so unbedeutenden Gegenstand nicht weiter verfolgen. Er fragte mich, was ich zu Mittag essen wollte.

Ich fühlte mich wieder ganz in England und war wegen Traddles wirklich recht niedergedrückt. Es schien so gar keine Hoffnung für ihn vorhanden zu sein.

Bescheiden bestellte ich Fisch und einige Schnitten Fleisch und lehnte mich an den Kamin, über meines Freundes Unberühmtheit nachsinnend. Als ich dem Oberkellner mit den Augen folgte, konnte ich mich des Gedankens nicht erwehren, daß der Garten, in dem der Mann zur Blume erblüht war, ein für das Wachstum recht unfruchtbarer Boden sei. Der ganze Ort hatte ein verjährtes, steifleinenes, herkömmliches, ältliches Aussehen. Ich sah mich im Zimmer um, dessen Fußboden, mit Sand bestreut, wahrscheinlich genau so ausgesehen hatte, als der Oberkellner noch ein Knabe war, wenn das überhaupt je der Fall gewesen, – betrachtete die glänzenden Tische, wo ich mich in den ungetrübten Tiefen alten Mahagoniholzes widerspiegelte, – die tadellos geputzten Lampen, die grünen Vorhänge an den schlanken Messingstäben über den Logen, – die zwei hellbrennenden Kohlenfeuer und die in Reihen aufgestellten Weinkaraffen, die sich aufblähten, wie erfüllt von dem stolzen Bewußtsein, daß noch ganze Oxhofte feinsten alten Portweins unten im Keller stünden; und sowohl England wie die Rechtswissenschaften erschienen mir sehr schwer im Sturmschritt zu nehmen.

Ich ging in mein Schlafzimmer hinauf, um mich umzuziehen, und die große Ausdehnung des alten Eichengetäfels, die würdevolle Unermeßlichkeit des Himmelbetts, der unerschütterliche Ernst der Kommode, alles schien sich in strengem Stirnrunzeln bei einem Hinblick auf die Zukunft Traddles‘ und anderer solcher kühner Jünglinge zu vereinigen. Ich kam zum Mittagessen wieder herunter, und selbst die langsame Behäbigkeit des Mahles und das gesetzte Schweigen des Ortes bildeten einen Kommentar zu Traddles‘ Verwegenheit und der Geringfügigkeit seiner Hoffnungen auf einen Lebensunterhalt innerhalb der nächsten zwanzig Jahre.

Seit ich aus dem Lande fortgewesen, hatte ich nichts dergleichen gesehen, und der bloße Anblick vernichtete vollständig meine Hoffnungen für meinen Freund. Der Oberkellner schien von mir vorläufig genug zu haben. Er kam mir nicht mehr nahe, sondern widmete sich einem alten Herrn in langen Gamaschen, für den eine ganz besondere Flasche Portwein freiwillig aus dem Keller heraufgekommen sein mußte, denn er hatte nichts bestellt. Der zweite Kellner erzählte mir flüsternd, daß dieser alte Herr ein in der Nähe wohnender, im Ruhestand lebender steinreicher Advokat sei, der wahrscheinlich sein Vermögen der Tochter seiner Wäscherin hinterlassen werde; es gehe das Gerücht, ein vollständiges silbernes Service, ganz blind geworden vom langen Liegen, stehe in seinem Schranke, aber kein sterbliches Auge habe bisher mehr als einen silbernen Löffel und eine Gabel in seiner Wohnung erblickt. Da gab ich Traddles ganz verloren und sah ein, daß für ihn keine Hoffnung mehr war.

Da ich jedoch meinen lieben alten Freund gar zu gern sehen wollte, erledigte ich mein Mittagessen in einer Weise, die durchaus nicht geeignet war, mich in der Achtung des Oberkellners zu heben, und enteilte aus einer Hintertür.

Nummer zwei im Hof war bald erreicht, und da mir ein Schild an der Tür verriet, Mr. Traddles‘ Kanzlei befinde sich im obersten Stockwerk, stieg ich hinauf. Es war eine alte gebrechliche Treppe, auf jedem Absatz schwach erleuchtet von einem kleinen dickköpfigen Öldocht, der in einem kleinen Kerker von schmutzigem Glas hinstarb.

Während meines Hinaufstolperns glaubte ich ein fröhliches Lachen zu hören; es war nicht das Lachen eines Notars, eines Advokaten oder Schreibers, sondern mußte von zwei oder drei lustigen Mädchen kommen. Als ich stillstand, um zu lauschen, geriet ich mit dem Fuße in ein Loch, das die ehrenwerten Bewohner von Grays Inn auszubessern unterlassen hatten, fiel geräuschvoll hin, und als ich aufstand, war alles still.

Ich tappte mich vorsichtig weiter, und mein Herz schlug laut, als ich die Außentür, auf die »Mr. Traddles« gemalt war, offenstehen sah. Ich klopfte. Ein Tumult entstand drinnen, sonst geschah weiter nichts. Ich klopfte daher noch einmal.

Ein kleiner Bursche mit pfiffigem Gesicht, halb Laufbursche, halb Schreiber, der sehr außer Atem war, aber mich ansah, als wollte er sagen, ich könne ihm nichts beweisen, erschien.

»Ist Mr. Traddles zu Hause?«

»Ja, Sir. Aber er ist beschäftigt.«

»Ich möchte ihn gerne sprechen.«

Nachdem mich der Bursche mit dem pfiffigen Gesicht eine Weile gemustert, entschloß er sich mich einzulassen, machte die Tür zu diesem Zweck ein wenig weiter auf und ließ mich durch einen winkeligen Vorraum in ein kleines Zimmer treten, wo ich meinen alten Freund, ebenfalls außer Atem, über Akten gebeugt an einem Tisch sitzend fand.

»Mein Gott«, rief Traddles, als er aufblickte, »Copperfield!« Und er stürzte mir in meine Arme.

»Alles wohl, lieber Traddles?«

»Alles wohl, mein lieber, lieber Copperfield, und nichts als gute Nachrichten.«

Wir weinten beide vor Freude.

»Mein lieber Junge«, sagte Traddles und fuhr sich mit den Fingern überflüssigerweise in die Haare, »lieber Copperfield, mein lang verlorner und höchst willkommner Freund, wie froh bin ich, dich zu sehen!

Und wie braun du bist! Wie ich mich freue! Bei meinem Leben und bei meiner Ehre, ich habe mich noch nie so gefreut, mein lieber Copperfield; noch nie.«

Ich konnte vor Rührung kein Wort sprechen.

»Mein lieber, lieber Freund! Und so bekannt geworden! Mein berühmter Copperfield! Mein Gott, wann bist du denn angekommen? Woher bist du gekommen? Was hast du getrieben?«

Ohne auf eine Antwort zu warten, drückte er mich in einen Lehnstuhl am Kamin, schürte das Feuer und zerrte an meinem Halstuch, beherrscht von dem Glauben, es sei ein Überrock. Ohne das Schüreisen wegzulegen, umarmte er mich wieder, und wir beide, lachend und uns die Augen trocknend, setzten uns hin und schüttelten einander in einem fort die Hände.

»Mein Gott, daß du sobald nach Hause gekommen bist, lieber alter Freund, und nicht einmal bei der Feierlichkeit warst.«

»Bei welcher Feierlichkeit, lieber Traddles?«

»Mein Gott!« rief Traddles und riß in seiner alten gewohnten Art die Augen auf, »hast du denn meinen letzten Brief nicht erhalten?«

»Gewiß nicht, wenn von einer Feierlichkeit etwas darin stand.«

»Lieber Copperfield«, sagte Traddles und strich sich das Haar mit beiden Händen gerade in die Höhe und legte dann seine Hand auf mein Knie, »ich bin verheiratet.«

»Verheiratet!« rief ich erfreut.

»Jawohl. Getraut von Seiner Hochwürden Horace Crewler mit Sophie, – unten in Devonshire. Bester Freund, sie steht doch dort hinter dem Fenstervorhang! Sieh nur hin!«

Zu meinem Erstaunen trat das »beste Mädchen der Welt« in diesem Augenblick lachend und errötend aus ihrem Versteck hervor. Ein muntereres, liebenswürdigeres, glücklicher strahlendes Gesicht einer jung verheirateten Frau, glaube ich, konnte es nicht geben, und ich mußte das auch auf der Stelle aussprechen. Ich küßte sie in meinem Recht als alter Bekannter und wünschte ihnen von ganzem Herzen Glück.

»Mein Gott«, sagte Traddles, »was für ein fröhliches Wiedersehen das ist. Du siehst unglaublich braun gebrannt aus, lieber Copperfield. Mein Gott, wie glücklich ich bin!«

»Und ich auch«, sagte ich.

»Und ich gewiß auch«, stimmte Sophie errötend und lachend ein.

»Wir sind alle so glücklich wie nur möglich«, bekräftigte Traddles. »Selbst die Mädchen sind glücklich. – Himmel, ich habe ganz auf sie vergessen.«

»Vergessen? Worauf?«

»Auf die Mädchen! Sophies Schwestern. Sie sind bei uns zu Besuch in London. Übrigens, warst du es, der die Treppe heraufstolperte, Copperfield?«

»Jawohl«, sagte ich lachend.

»Nun, als wir es hörten, spielten wir gerade Plumpsack. Aber da sich das nicht in Westminster Hall schickt und auch nicht sehr berufsmäßig ausgesehen hätte, wenn ein Klient gekommen wäre, sind sie ausgerissen. Sie horchen jetzt bestimmt«, und Traddles warf einen Blick nach einer Verbindungstür.

»Es tut mir wirklich leid, eine solche Störung verursacht zu haben«, entschuldigte ich mich lachend.

»Auf mein Wort«, entgegnete Traddles entzückt, »wenn du gesehen hättest, wie sie ausrissen und wieder zurückliefen, als du klopftest, um die Kämme zu holen, die ihnen aus den Haaren gefallen waren, würdest du das nicht sagen. Mein Schatz, möchtest du nicht die Mädchen hereinholen?«

Sophie lief fort, und wir hörten gleich darauf, wie sie im anstoßenden Zimmer mit fröhlichem Gelächter empfangen wurde.

»Wahre Musik, lieber Copperfield, nicht wahr? Es macht diese alten Stuben ordentlich hell. Für so einen unglücklichen Junggesellen, der sein ganzes Leben lang allein gewohnt hat, weißt du, ist es geradezu etwas Köstliches. Die armen Dinger haben viel verloren an Sophie, die, ich versichere dir, Copperfield, das beste Mädchen von der Welt ist und immer war. Es tut mir über alle Maßen wohl, sie jetzt in so guter Laune zu sehen. Mädchengesellschaft ist etwas sehr Angenehmes, Copperfield. Es schickt sich nicht recht für eine Advokatenkanzlei, ist aber sehr angenehm.«

Da ich bemerkte, daß seine Stimme etwas unsicher wurde, und wohl begriff, daß er in seiner Herzensgüte fürchtete, alte Wunden in mir aufzureißen, stimmte ich ihm mit einer Herzlichkeit bei, die ihn sichtlich tröstete und freute.

»Unsere häuslichen Einrichtungen, um die Wahrheit zu sagen, sind allerdings für eine Advokatenkanzlei recht unberufsmäßig, Copperfield, und selbst, daß Sophie hier ist, schickt sich nicht recht. Aber wir haben keine andere Wohnung. Wir haben uns in einer Nußschale auf das Meer gewagt, sind aber auf alles gefaßt. Sophie ist eine ausgezeichnete Hausfrau. Du würdest dich wundern, wie sie die Mädchen untergebracht hat, ich weiß wahrhaftig selber kaum, wie es möglich war.«

»Sind viele der jungen Damen bei euch zu Besuch?«

»Die älteste ist hier, die Schönheit«, sagte Traddles leise und vertraulich, »und Karoline und Sarah, von der ich dir erzählte, daß sie mit dem Rückenmark zu tun habe. Es geht ihr jetzt bedeutend besser! Und die beiden Jüngsten, die Sophie erzogen hat, sind auch hier. Und Luise.«

»Was du sagst!«

»Ja. Nun besteht die ganze Wohnung nur aus drei Zimmern, aber Sophie hat alles auf das Wunderbarste eingerichtet, und die Mädchen schlafen so bequem wie möglich. Drei in diesem Zimmer«, erklärte Traddles und wies mit dem Finger auf die Tür. »zwei in jenem.«

Ich konnte nicht umhin, mich nach dem Platze umzusehen, der für Mr. und Mrs. Traddles übrigblieb. Traddles verstand mich.

»Nun, wir sind auf alles vorbereitet, wie ich schon sagte, und versuchten es vorige Woche mit einem Bett auf dem Fußboden hier. Aber oben unter dem Dach ist noch ein Zimmerchen, das Sophie, um mich zu überraschen, selbst tapeziert hat, und das bildet gegenwärtig unser Schlafzimmer. Es ist eine ganz famose Zigeunerwirtschaft. Man hat sogar eine Aussicht aus dem Fenster.«

»Also du bist endlich glücklich verheiratet, mein lieber Traddles. Wie mich das freut!«

Wir schüttelten uns wieder die Hände.

»Ja, ich bin so glücklich, wie es nur möglich ist. Erinnerst du dich des alten Bekannten dort?« Er nickte frohlockend nach dem Blumentopf mit dem Untergestell hin, »und das ist der Tisch mit der Marmorplatte. Die ganze übrige Einrichtung ist einfach und bequem, wie du siehst. Und von Silber, mein Gott, haben wir nicht einmal einen Teelöffel.«

»Alles will erst verdient werden«, sagte ich heiter.

»Sehr richtig. Alles will erst verdient werden. Natürlich besitzen wir so etwas wie Teelöffel, womit wir unsern Tee umrühren. Aber sie sind aus Britannia-Metall.«

»Das Silber wird um so glänzender sein, wenn es kommt.«

»Das sagen wir auch immer! Du mußt wissen, lieber Copperfield«, vertraute er mir mit leisem vertraulichem Ton an, »nachdem ich in Sachen Jipes kontra Wigzell plädierte, wodurch ich bei meinen Kollegen viel Ehre einlegte, fuhr ich nach Devonshire hinunter und hatte dort mit seiner Ehrwürden eine ernste Privatunterredung. Ich verweilte bei der Tatsache, daß Sophie – sie ist das beste Mädchen von der Welt, ich versichere dir, Copperfield –«

»Davon bin ich überzeugt.«

»Du kannst es mir glauben«, beteuerte Traddles. »Aber ich fürchte, ich schweife ab. War ich nicht bei Seiner Ehrwürden?«

»Du sagtest, daß du bei der Tatsache verweiltest –«

»Richtig! Bei der Tatsache, daß Sophie und ich nun schon seit langem verlobt wären, und daß sie mit Erlaubnis ihrer Eltern willens sei, mich zu nehmen – kurz«, sagte Traddles mit seinem alten offenherzigen Lächeln, »auf unsere Britannia-Metall-Ausstattung hin. Ich schlug Seiner Ehrwürden vor, wenn ich in einem Jahr zweihundertfünfzig Pfund verdiente und eine kleine Wohnung wie diese hier einfach ausstatten könnte, wollte ich Sophie heiraten. Ich nahm mir die Freiheit, ihm vorzustellen, daß wir nun schon viele Jahre lang Geduld gehabt und Sophies außerordentliche Nützlichkeit im Elternhause doch kein Grund sein dürfte, sie vom Heiraten abzuhalten. Ist das nicht auch deine Meinung?«

»Gewiß.«

»Das freut mich. Ohne Seiner Ehrwürden etwas nachsagen zu wollen, bin ich nämlich der Ansicht, daß Eltern, Brüder usw. manchmal recht egoistisch sind. Nun weiter! Ich erklärte ihm, daß es mein ernstlichster Wunsch wäre, der Familie nützlich zu sein, und falls ich mein Fortkommen fände und ihm etwas zustoßen sollte – ich meine Seiner Ehrwürden –«

»Ich verstehe.«

»Oder Mrs. Crewler, so würde es mir zur größten Befriedigung gereichen, den Mädchen ein väterlicher Beschützer sein zu dürfen. Er gab mir eine vortreffliche Antwort, die außerordentlich schmeichelhaft für mich war, und übernahm es, Mrs. Crewlers Einwilligung zu erwirken. – Sie hatten eine schreckliche Zeit mit ihr. Es stieg ihr von den Beinen in die Brust und dann in den Kopf –«

»Was stieg denn?«

»Der Schmerz«, erklärte Traddles mit ernstem Blick. »Ihre Gefühle im allgemeinen. Wie ich schon früher einmal erwähnte, ist sie eine ausgezeichnete Frau, aber sie hat den Gebrauch ihrer Glieder eingebüßt. Alles, was sie angreift und aufregt, setzt sich meistens bei ihr in den Beinen fest, aber diesmal stieg es ihr in die Brust und dann in den Kopf, kurz, es durchdrang sie auf die allerbeunruhigendste Weise. Dennoch brachten sie sie durch unermüdliche liebreiche Pflege durch, und wir wurden gestern vor sechs Wochen getraut. Du kannst dir keine Vorstellung machen, Copperfield, wie ich mir als Ungeheuer vorkam, als ich die ganze Familie nach allen Richtungen ausbrechen und ohnmächtig werden sah.

Mrs. Crewler konnte mich nicht ansehen vor meiner Abreise und mir nicht vergeben, daß ich sie ihres Kindes beraubte. Aber sie hat ein gutes Herz und hat es inzwischen getan. Heute morgen noch erhielt ich einen prächtigen Brief von ihr.«

»Mit einem Wort, lieber Freund, du bist so glücklich, wie du es verdienst.«

»Du bist parteiisch«, lachte Traddles. »Aber in der Tat, ich bin ein höchst beneidenswerter Mensch. Ich arbeite viel und studiere unermüdlich. Ich stehe jeden Morgen um fünf Uhr auf, und es schadet mir gar nicht. Bei Tage verstecke ich die Mädchen, und abends sind wir fröhlich miteinander. Ich versichere dir, es tut mir sehr leid, daß sie Dienstag, wo die Gerichtsferien aufhören, wieder abreisen. Aber da sind ja die Mädchen«, Traddles brach seine vertrauliche Rede ab. »Mr. Copperfield – Miss Crewler – Miss Sarah, Miss Luise, – Margarete und Lucie.«

Die Mädchen glichen einem Rosenstrauß, so gesund und frisch sahen sie aus. Sie waren alle hübsch, und Miss Karoline sehr schön, aber in Sophies leuchtenden Blicken lag etwas so Gemütvolles, Zärtliches und Häusliches, das noch viel besser war und mir die Versicherung gab, daß mein Freund gut gewählt hatte.

Wir nahmen alle um den Kamin Platz, während der Bursche mit dem pfiffigen Gesicht, der, wie ich nun erriet, außer Atem gekommen war, weil er so schnell die Papiere auf dem Tisch ausgebreitet hatte, alles jetzt wieder wegräumte und das Teeservice brachte. Sodann entfernte er sich für den Abend. Mrs. Traddles, aus deren gemütvollen Augen eitel Freude und stille Ruhe strahlten, bereitete den Tee und röstete dann ruhevoll in ihrer Ecke am Feuer den Toast. Sie hätte Agnes besucht, erzählte sie mir dabei. Tom und sie hätten eine Hochzeitsreise nach Kent gemacht und bei dieser Gelegenheit auch meine Tante besucht, die sich, wie auch Agnes, wohl befände, und sie hätten von nichts als von mir gesprochen. Tom hätte überhaupt an nichts anderes als an mich gedacht während meiner ganzen Abwesenheit. Tom war die Autorität für alles. Tom war offenbar der Abgott ihres Lebens, der durch nichts von seinem Throne gestürzt werden konnte; sie hing an ihm mit dem ganzen Glauben ihres Herzens, komme, was da wolle.

Die Ehrerbietung, die sowohl sie wie Traddles vor der »Schönheit« an den Tag legten, machte mir viel Spaß. Es kam mir zwar nicht sehr verständig vor, aber erfreulich, und paßte sehr gut zu ihnen. Gewisse Anzeichen von Launenhaftigkeit, die ich an der »Schönheit« bemerkte, betrachteten er und seine Gattin offenbar als ein angestammtes Recht und eine Gabe der Natur. Wären sie selbst als Arbeiterbienen geboren worden und die »Schönheit« als Bienenkönigin, so hätten sie nicht zufriedener sein können.

Und diese Selbstlosigkeit freute mich an ihnen.

Ihr Stolz auf die Mädchen und ihre Nachgiebigkeit allen ihren Launen gegenüber waren das hübscheste Zeugnis ihres eignen Wertes, das man sich nur wünschen konnte.

Wenigstens zwölfmal in jeder Stunde wurde der »gute, liebste Traddles« von einer oder der andern seiner Schwägerinnen gebeten, das oder jenes zu reichen, wegzustellen oder aufzuheben, etwas zu holen oder zu suchen. Ebensowenig konnte etwas ohne Sophie geschehen. Der einen fiel der Zopf herunter, und bloß Sophie konnte ihn wieder aufstecken. Die eine konnte sich nicht auf eine bestimmte Melodie erinnern, und nur Sophie konnte sie richtig summen. Es war etwas nach Hause zu berichten, und nur Sophie konnte es übernehmen, nächsten Morgen vor dem Frühstück zu schreiben. Sie waren vollständig Herrinnen im Hause, und Sophie und Traddles warteten ihnen auf. Wieviel Kinder Sophie auf einmal hätte unter ihre Obhut nehmen können, kann ich mir nicht vorstellen, aber sie schien jedes Lied zu kennen, das einem Kinde in englischer Sprache je vorgesungen worden war, und sie sang auf Wunsch Dutzende hintereinander mit der hellsten, lieblichsten Stimme der Welt – jede Schwester bestellte ein anderes, und die »Schönheit« kam meistens zuletzt –, so daß ich ganz entzückt war.

Das beste von allem war, daß sämtliche Schwestern bei all ihren Ansprüchen Sophie und Traddles ungemein liebten und schätzten.

Als ich mich verabschiedete und Traddles mit mir fortging, um mich ins Kaffeehaus zu begleiten, regnete auf seinen struppigen Kopf eine Flut von Küssen nieder. Es war ein Anblick, an den ich lange noch, nachdem ich Traddles gute Nacht gesagt, mit Vergnügen denken mußte. Wenn ich tausend Rosen in einer Kanzlei im obersten Stockwerk dieses verwitterten Grays Inn hätte blühen sehen, sie würden es nicht halb so heiter haben machen können. Der Gedanke an diese Mädchen aus Devonshire, mitten unter den vertrockneten Federfuchsern und Advokatenbureaus, an die Kinderlieder in der gestrengen Atmosphäre von Radierpulver und Pergament, rotem Band, staubigen Oblaten, Tintenkrügen, Aktenpapier und Gerichtsschreiben, erschien mir so märchenhaft, als ob die berühmte Familie des Sultans von Tausendundeiner Nacht samt dem singenden Baum, dem redenden Vogel und dem goldnen Wasser mit nach Grays Inn übergesiedelt wäre.

Wie es kam, weiß ich nicht, aber als Traddles mir gute Nacht gesagt und ich wieder in mein Hotel getreten war, hegte ich keine Befürchtungen wegen seiner Zukunft mehr. Ich fühlte, er werde vorwärtskommen, allen Oberkellnern in England zum Trotz.

Ich zog im Kaffeehauszimmer einen Stuhl an den Kamin, um mit Muße an ihn zu denken, aber allmählich lenkte sich meine Aufmerksamkeit von der Betrachtung seines Glückes ab, und wie ich brütend in die Kohlen blickte und sie in der Glut zusammenfallen und ihre Gestalt verändern sah, fielen mir die Schicksalsfälle und Kümmernisse in meinem Leben wieder ein. Ich hatte an keinem Kohlenfeuer gesessen seit den drei Jahren meiner Abwesenheit. Ich konnte jetzt ernst, aber ohne Bitterkeit an die Vergangenheit denken und der Zukunft mutig ins Auge blicken. Ein Familienleben im eigentlichen Sinne gab es für mich nicht mehr. Sie, der ich eine innigere Liebe hätte einflößen können, hatte ich gelehrt, mir eine Schwester zu sein. Sie würde dereinst heiraten und ihre Liebe einem andern schenken und nie von der Liebe erfahren, die in meinem Herzen aufgekeimt. Was ich erntete, hatte ich selbst gesät.

Ich brütete noch darüber, als ich mich dabei ertappte, daß meine Augen auf einem Gesichte ruhten, das sich geradesogut aus der Glut hätte erhoben haben können, so eng verbunden war es mit meinen Jugenderinnerungen.

Der kleine Mr. Chillip, der Arzt, dessen Geschicklichkeit ich so viel von meiner Existenz verdankte, saß bei einer Zeitung in dem Schatten einer Ecke. Er mußte ziemlich alt sein, aber da er von jeher ein sanftes, ruhiges, stilles Männchen gewesen war, hatte es ihn wenig mitgenommen. Ich stellte mir vor, daß er damals, als er in unserm Wohnzimmer auf meine Geburt wartete, auch nicht viel anders ausgesehen haben konnte.

Mr. Chillip hatte Blunderstone vor sechs oder sieben Jahren verlassen und mich seitdem nicht mehr gesehen.

Er las ruhevoll seine Zeitung, den Kopf auf eine Seite geneigt und ein Glas Glühwein neben sich. Er war so bescheiden in seinem ganzen Wesen, daß er selbst die Zeitung um Verzeihung zu bitten schien, als er sie las.

Ich ging zu ihm hin und sagte:

»Wie geht es Ihnen, Mr. Chillip?«

Er machte ein sehr bestürztes Gesicht bei dieser unerwarteten Anrede seitens eines Fremden und antwortete in seiner alten langsamen Weise: »Ich danke Ihnen, Sir, Sie sind sehr gütig. Ich danke Ihnen, Sir. Ich hoffe, Sie befinden sich ebenfalls wohl.«

»Sie erinnern sich meiner nicht?«

»O gewiß, Sir«, antwortete Mr. Chillip mit sanftem Lächeln den Kopf schüttelnd: »Allerdings kommt es mir fast so vor, als ob mir Ihr Gesicht vertraut wäre, aber auf Ihren Namen kann ich mich wirklich nicht besinnen.«

»Und doch wußten sie ihn viel früher als ich selbst.«

»Wirklich, Sir? Wäre es möglich, daß ich die Ehre hatte, Sir, beizustehen, als –?«

»Ja.«

»Mein Gott!« rief Mr. Chillip. »Aber ohne Zweifel haben Sie sich seitdem sehr verändert, Sir?«

»Wahrscheinlich.«

»Ich hoffe, Sie werden entschuldigen, Sir, wenn ich Sie doch um Ihren Namen bitten muß.«

Als ich mich vorstellte, war er sehr bewegt. Er schüttelte mir regelrecht die Hand, – was für ihn einen Leidenschaftsausbruch bedeutete, denn gewöhnlich ließ er nur seine kleine Hand ein paar Zoll an seiner Hüfte sehen, wie ein Fisch seine Flosse, und kam ganz aus der Fassung, wenn sie jemand herzhaft erfaßte. Selbst jetzt steckte er sie sogleich in die Rocktasche, als ich sie wieder losließ, und schien sehr erleichtert, sie wieder in Sicherheit gebracht zu haben.

»Mein Gott«, sagte er und betrachtete mich, den Kopf auf die Seite geneigt, von oben bis unten. »Also Mr. Copperfield, wirklich? Ich glaube jetzt, ich hätte Sie bestimmt erkannt, wenn ich mir die Freiheit genommen haben würde, Sie schärfer anzusehen. Die Ähnlichkeit zwischen Ihnen und Ihrem seligen Vater ist außerordentlich, Sir.«

»Ich hatte nie das Glück, meinen Vater zu sehen.«

»Sehr wahr, Sir«, sagte Mr. Chillip in begütigendem Ton. »Es war in jeder Hinsicht sehr zu bedauern. Dort unten in unserer Gegend ist Ihr Ruhm nicht unbekannt geblieben. Große Aufregung muß hier herrschen, Sir«, sagte er und tupfte sich mit dem Zeigefinger auf die Stirn. »Eine anstrengende Beschäftigung, nicht wahr, Sir?«

»Wo wohnen Sie jetzt?« fragte ich ihn und setzte mich neben ihn.

»Ich habe mich einige Meilen von Bury St. Edmunds niedergelassen, Sir. Meine Frau erbte dort von ihrem Vater ein kleines Besitztum, und ich kaufte mir eine kleine Praxis dazu, in der es mir recht gut geht. Meine Tochter ist schon recht groß geworden. Erst vorige Woche hat meine Frau zwei Säume aus ihren Röcken auslassen müssen. Ja, ja, so vergeht die Zeit, Sir.« Da der kleine Doktor bei dieser Bemerkung in der Zerstreutheit sein leeres Glas an den Mund setzte, schlug ich ihm vor, es sich wieder füllen zu lassen, wobei ich ihm mit einem andern Gesellschaft leisten wollte.

»Es ist eigentlich mehr, als ich gewohnt bin, aber ich kann mir das Vergnügen, mich mit Ihnen zu unterhalten, nicht versagen. Es ist, als wäre es gestern gewesen, daß ich die Ehre hatte, Sie während der Masern zu behandeln. Sie haben sie prächtig überstanden, Sir.«

Ich dankte für das Kompliment und ließ mir ein Glas Glühwein kommen.

»Eine etwas ungewöhnliche Abschweifung«, bemerkte Mr. Chillip und rührte sein Getränk um, »aber ich kann einer so außerordentlichen Gelegenheit nicht widerstehen. Sie haben keine Familie, Sir?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Ich erfuhr, daß Sie vor einiger Zeit einen Verlust erlitten haben, Sir. Ich erfuhr es von Ihres Stiefvaters Schwester. Ein sehr entschiedner Charakter, diese Dame, Sir!«

»Nun ja«, sagte ich, »entschieden genug; wo haben Sie sie gesehen, Mr. Chillip?«

»Sie wissen nicht, mein Herr, daß Ihr Stiefvater wieder ein Nachbar von mir geworden ist?«

»Nein.«

»Ja, er ist wieder mein Nachbar, Sir. Er heiratete eine junge Dame aus jener Gegend mit einer sehr schönen kleinen Besitzung – armes Ding! Und diese Anstrengung Ihres Gehirns, Sir, ermüdet Sie nicht?« fragte er und sah mich an wie ein erstauntes Rotkehlchen.

Ich wich seiner Frage aus und fing wieder von den Murdstones an.

»Es ist mir nur bekannt, daß er sich wieder verheiratet hat. Behandeln Sie die Familie?«

»So gelegentlich. Starke phrenologische Entwicklung des Organs der Entschiedenheit bei Mr. Murdstone und seiner Schwester, Sir!«

Ich antwortete mit einem so ausdrucksvollen Blick, daß Mr. Chillip dadurch und durch den Glühwein ermutigt den Kopf wiegte und gedankenvoll ausrief: »Lieber Himmel, wie sehr erinnert uns alles an die alten Zeiten, Mr. Copperfield!«

»Bruder und Schwester gehen immer noch ihren alten Weg, nicht wahr?« fragte ich.

»Ja, sehen Sie, mein Herr, ein Arzt, der so viel bei Familien herumkommt, sollte eigentlich nur für seinen Beruf Augen und Ohren haben. Ich muß jedoch sagen, sie sind sehr streng, sowohl was dieses als was das künftige Leben anbetrifft.«

»Das künftige wird wohl wenig rücksichtsvoll mit ihnen verfahren, darf man wohl sagen«, erwiderte ich, »aber was machen sie in diesem?«

Mr. Chillip wiegte den Kopf, rührte seinen Glühwein um und nippte daran.

»Sie war eine reizende junge Frau«, bemerkte er in klagendem Ton.

»Die jetzige Mrs. Murdstone?«

»Eine reizende junge Frau. So liebenswürdig wie nur möglich! Mrs. Chillip meint, sie sei seit ihrer Heirat vollständig gebrochen und so gut wie trübsinnig. Und Frauen«, setzte Mr. Chillip schüchtern hinzu, »sind gute Beobachter, Sir.«

»Ich vermute, sie wollten sie auch in derselben abscheulichen Weise umformen, die Ärmste«, sagte ich, »und das scheinen sie erreicht zu haben.«

»Im Anfang gab es heftige Streitigkeiten, aber jetzt ist sie nur mehr ihr eigener Schatten. Ich weiß nicht, ob ich mir herausnehmen darf, Ihnen im Vertrauen zu verraten, daß, seit die Schwester mit dazukam, beide die Arme fast bis zur Geistesschwäche herabgebracht haben.«

Ich sagte ihm, daß ich mir das leicht vorstellen könnte.

»Ich zögere nicht zu konstatieren«, – Mr. Chillip stärkte sich wieder mit einem Schluck Glühwein, – »daß Ihre Mutter, Sir, daran gestorben ist. Diese Tyrannei, das finstere Wesen und die Quälereien haben die jetzige Mrs. Murdstone fast blödsinnig gemacht. Sie war ein lebhaftes junges Mädchen vor der Heirat, und diese finstere Strenge hat sie gebrochen. Sie gehen mit ihr wie Gefängniswärter, nicht wie Gatte und Schwägerin um. Das äußerte erst vorige Woche Mrs. Chillip gegen mich. Und ich versichere Ihnen, Sir, Frauen sind gute Beobachter. Mrs. Chillip selbst beobachtet sehr scharf.«

»Spielt er immer noch den Frommen? Ich schäme mich fast, das Wort in Verbindung mit ihm zu gebrauchen.«

»Sie gebrauchen fast dieselben Worte wie meine Gattin, Sir. Es gab mir ordentlich einen elektrischen Schlag, als mir Mrs. Chillip sagte, daß Mr. Murdstone sich selbst als Götzenbild hinstelle, um sich anbeten zu lassen. Sie hätten mich mit einem Federkiel zu Boden strecken können, versichere ich Ihnen, Sir, als Mrs. Chillip das aussprach. Ja, ja, die Damen sind scharfe Beobachter, Sir.«

»Intuition!« sagte ich, was Mr. Chillip in größtes Entzücken versetzte.

»Ich schätze mich glücklich, meine Meinung von Ihnen bestätigt zu sehen, Sir. Es geschieht nicht oft, ich versichere Ihnen, daß ich ein nichtärztliches Urteil abgebe. Mr. Murdstone hält manchmal Vorträge, und man sagt – kurz Mrs. Chillip sagt –, daß seine Lehren immer fanatischer werden, je tyrannischer er sich selbst zu Hause benimmt.«

»Ich glaube, Mrs. Chillip hat vollkommen recht.«

»Mrs. Chillip geht sogar so weit, zu behaupten«, fuhr der sanfteste aller kleinen Männer ermutigt fort, »daß das, was solche Leute fälschlich Religion nennen, nichts als ein Ventil für ihre bösen Launen und ihre Anmaßung ist. Und wissen Sie, Sir, daß ich keine Begründung für Mr. und Miss Murdstones Lehren im Neuen Testament finden kann?«

»Ich auch nicht.«

»Übrigens kann sie kein Mensch leiden. Und da sie sehr freigebig jedermann, der sie nicht leiden kann, der ewigen Verdammnis empfehlen, so haben wir wahrhaftig das reinste Fegefeuer in unserer Nachbarschaft. Doch wie Mrs. Chillip sagt, Sir, leiden sie selbst eine beständige Strafe, denn immer in sich gekehrt, müssen sie von ihrem eignen Herzen zehren. Und das ist ein mäßiges Futter. Aber um wieder auf Ihr Gehirn zu sprechen zu kommen, wenn Sie gestatten, strengen Sie sich geistig nicht zu sehr an, Sir?«

Es wurde mir bei der Aufregung Mr. Chillips infolge des ungewohnten Glühweins nicht schwer, seine Aufmerksamkeit von diesem Punkte auf seine eignen Angelegenheiten zu lenken, und er wurde in der nächsten halben Stunde sehr gesprächig. Unter anderm erzählte er mir, er befände sich jetzt hier, um vor einer Untersuchungskommission sein ärztliches Gutachten über den Geisteszustand eines Säuferwahnsinnigen abzugeben.

»Ich versichere Ihnen, Sir«, sagte er, »ich bin bei solchen Gelegenheiten sehr nervös. Ich vertrage es nicht, angefahren zu werden. Es raubt mir alle Fassung. Wissen Sie, daß ich mich erst nach einiger Zeit von dem beunruhigenden Benehmen jener strengen Dame an dem Abend Ihrer Geburt erholen konnte, Mr. Copperfield?«

Ich erzählte ihm, daß ich am nächsten Morgen früh zu der Tante, die sich in jener Nacht so drachenhaft benommen, reisen wollte, und daß sie eine der weichherzigsten und vortrefflichsten Frauen sei, wie er selbst einsehen würde, wenn er sie näher kennenlernte. Die bloße Andeutung der Möglichkeit, sie jemals wiedersehen zu müssen, schien ihn in Schrecken zu versetzen. Mit einem gezwungenen Lächeln erwiderte er: »Wirklich – in der Tat – ist sie das?« und fast unmittelbar darauf ließ er sich eine Kerze geben und ging zu Bett, als ob er nirgends anderswo mehr sicher wäre. Er schwankte nicht gerade von dem Glühwein, aber ich glaube, sein ruhiger kleiner Puls muß zwei oder dreimal mehr Schläge in der Minute gehabt haben als gewöhnlich seit der großen Nacht, wo meine Tante in ihrer Enttäuschung mit ihrem Hute nach ihm schlug.

 

Sehr ermüdet ging ich auch um Mitternacht schlafen, fuhr am nächsten Tag mit der Post nach Dover, stürmte frisch und munter in die alte Wohnstube meiner Tante, als sie gerade beim Tee saß, und wurde von ihr und Mr. Dick und der guten alten Peggotty, die die Wirtschaft führte, mit offnen Armen und Freudentränen aufgenommen. Als wir uns erst wieder ruhig unterhalten konnten, machte meiner Tante, die jetzt eine Brille trug, meine Erzählung von dem Zusammentreffen mit Mr. Chillip, und daß er immer noch soviel Angst vor ihr habe, vielen Spaß, und sie sowohl wie Peggotty konnten sich nicht genug über meiner verstorbnen Mutter zweiten Gatten und die »Mordschwester« auslassen.

60. Kapitel Agnes


60. Kapitel Agnes

Meine Tante und ich unterhielten uns bis spät in die Nacht. Die Auswanderer schrieben, erfuhr ich, nur hoffnungsvolle und gute Dinge nach Hause, Mr. Micawber hatte wirklich bei verschiedenen Gelegenheiten kleine Summen zur Tilgung seiner pekuniären Verpflichtungen, »wie es Männern geziemt«, abgezahlt, und Janet, die wieder bei meiner Tante bei deren Rückkehr nach Dover in Dienst getreten war, hatte ihrer Lossagung vom Männergeschlecht damit die Krone aufgesetzt, daß sie einem aufstrebenden Gastwirt ihre Hand reichte. Meine Tante hatte sie in ihrem Vorhaben bestärkt und die Trauung mit ihrer Anwesenheit beehrt. Dies und vieles andere, was mir zum Teil schon durch Briefe bekannt war, bildete unsere Gesprächsthemen. Mr. Dick wurde natürlich nicht vergessen. Meine Tante erzählte mir, er sei unablässig bemüht, alles mögliche abzuschreiben, um durch den Anschein von Beschäftigung König Karl I. in respektvoller Entfernung zu halten, und es sei eine der Hauptfreuden ihres Lebens, ihn in Freiheit und glücklich zu sehen, und nur sie allein könne wissen, was an diesem Manne sei.

»Und wann, Trot«, sagte sie und streichelte meine Hand wie früher, wenn wir vor dem Feuer saßen, »wann wirst du nach Canterbury gehen?«

»Ich werde mir morgen früh ein Pferd mieten und hinüber reiten. Außer, du wolltest mitfahren.«

»Nein«, sagte meine Tante in ihrer kurz angebundnen Weise. »Ich bleibe, wo ich bin.«

»Dann reite ich also. Wenn ich zu jemand anders als zu dir gereist wäre, hätte ich heute nicht ohne Aufenthalt durch Canterbury fahren können.«

Das freute meine Tante. Sie streichelte wieder sanft meine Hand und antwortete: »Ach was, Trot, meine alten Knochen würden auch noch bis morgen zusammengehalten haben«, während ich gedankenvoll ins Feuer sah.

Gedankenvoll! Konnte ich doch nicht hier so unmittelbar in Agnes‘ Nähe sein, ohne daß nicht die schmerzlichen Gedanken in mir wieder auflebten, die mich so lange beschäftigt hatten. Gemildert mochte der Schmerz sein, der mich lehrte, was ich in früheren Tagen zu lernen versäumt, aber es war trotz alledem Schmerz. »Trot«, hörte ich im Geiste meine Tante wieder sagen und verstand sie jetzt besser, – »blind, blind, blind!«

Wir schwiegen beide einige Minuten lang. Als ich wieder aufsah, bemerkte ich, daß sie mich unausgesetzt beobachtete. Vielleicht hatte sie meinen Gedankengang verfolgt; war es doch jetzt leicht, ihm nachzugehen, so kraus er früher gewesen sein mochte.

»Du wirst ihren Vater als weißköpfigen Greis wiederfinden«, sagte sie, »obgleich er in anderer Hinsicht ein besserer, ein wiedergewonnener Mensch ist. Du wirst auch nicht mehr hören, daß er alle menschlichen Interessen, Freuden und Schmerzen mit seinem armseligen kleinen Zollstab mißt. Glaube mir, Kind, derlei Dinge müssen sehr einschrumpfen, ehe man sie in dieser Weise messen kann.«

»Sehr richtig«, sagte ich.

»Und Agnes wirst du so gut, so schön, so ernst und selbstlos finden wie immer. Wenn ich ein größeres Lob wüßte, Trot, würde ich es ihr erteilen.«

Es gab kein größeres Lob für sie, keinen größern Vorwurf für mich. O, wie weit hatte ich mich verirrt!

»Wenn es ihr gelingt, die jungen Mädchen, die sie um sich hat, nach ihrem Vorbild zu erziehen«, sagte meine Tante, und Tränen traten ihr in die Augen, »so hat sie ihr Leben gut angewendet, weiß der Himmel. Nützlich und glücklich, wie sie damals sagte.«

»Hat Agnes einen –« dachte ich mehr laut, als ich sagte.

»Was? He? Einen – was?« fragte meine Tante scharf.

»Einen Bewerber?«

»Ein Schock!« rief meine Tante mit einer Art von entrüstetem Stolz. »Sie hätte zwanzigmal heiraten können, mein Lieber, während du fort warst.«

»Ohne Zweifel«, sagte ich. »Ohne Zweifel. Aber hat sie einen Bewerber, der ihrer würdig ist? Um einen andern würde sie sich nicht kümmern.«

Meine Tante saß eine Weile nachdenklich da, das Kinn auf die Hand gestützt, dann blickte sie langsam auf, sah mich fest an und sagte:

»Ich vermute, sie liebt, Trot.«

»Glücklich?«

»Trot«, erwiderte meine Tante mit großem Ernst, »das kann ich dir nicht sagen. Selbst nur soviel zu sagen, habe ich kein Recht. Sie hat es mir nie anvertraut, aber ich vermute es.«

Sie sah mich so aufmerksam und ängstlich an; sie zitterte sogar dabei, und ich fühlte jetzt genau, daß sie vorhin meine Gedanken verfolgt hatte.

Ich nahm alle meine Entschlossenheit, die ich mir in diesen vielen Tagen und Nächten erkämpft, zusammen.

»Wenn es sich so verhält, und ich hoffe, es ist so –«

»Ich weiß es nicht«, unterbrach mich meine Tante kurz. »Du darfst dich nicht durch meine Vermutungen bestimmen lassen. Du mußt sie geheimhalten. Sie sind vielleicht ganz unbegründet. Ich habe kein Recht, darüber zu sprechen.«

»Sollte es der Fall sein«, wiederholte ich, »so wird es mir Agnes mitteilen, wenn die Zeit gekommen ist. Eine Schwester, der ich so viel anvertraut habe, wird gewiß in ihrem Vertrauen zu mir nicht kargen.«

Meine Tante wendete ihre Augen langsam und gedankenvoll von mir ab. Dann legte sie mir die Hand auf die Schulter, und so saßen wir beide schweigend da und blickten in die Vergangenheit zurück, bis die späte Stunde uns trennte.

 

Früh am Morgen ritt ich nach dem Schauplatz meiner Schulzeit. Ich kann nicht sagen, daß ich mich in der Hoffnung, einen großen Sieg über mich zu gewinnen, selbst bei der Aussicht, Agnes in einigen Stunden wiederzusehen, sehr glücklich fühlte.

Die wohlbekannte Gegend war schnell durchritten, und ich kam in die stillen Straßen, wo jeder Stein ein Kinderbuch für mich war. Ich ging zu Fuß nach dem alten Hause und kehrte wieder um, das Herz zu voll, um einzutreten. Ich kam wieder, und als ich im Vorbeigehen durch die niedrigen Fenster des Turmstübchens blickte, wo zuerst Uriah Heep und dann später Mr. Micawber gesessen, bemerkte ich, daß es jetzt ein kleines Wohnzimmer war und keine Kanzlei mehr. Sonst sah das stille alte Haus in seiner Reinlichkeit und Ordnung unverändert aus.

Ich ließ durch das neue Mädchen, das mir öffnete, Miss Wickfield sagen, ein Herr sei im Auftrage eines Freundes im Ausland hier, und sie führte mich die dunkle alte Treppe hinauf und warnte mich vor den mir doch so wohlbekannten Stufen. Die Bücher, die Agnes und ich zusammen gelesen, lagen auf ihren Regalen, und das Pult, an dem ich manchen Abend meine Schularbeiten gemacht, stand noch auf derselben Ecke des Tischs. Alle die kleinen Veränderungen, die sich mit den Heeps eingeschlichen hatten, waren beseitigt. Alles sah so aus wie in den alten glücklichen Zeiten.

Ich blickte über die alte Straße auf die gegenüberliegenden Häuser und mußte an die regnerischen Nachmittage in meiner Jugendzeit denken, wo ich mancherlei Betrachtungen über die Leute, die hinter den Fenstern auftauchten, angestellt und ihnen mit meinen Blicken treppauf, treppab, gefolgt war, während Frauen in Holzschuhen das Pflaster entlangklapperten und in schrägen Strichen der Regen fiel und aus der Wassertraufe in den Rinnstein schoß. Die Empfindungen, mit denen ich die Landstreicher betrachtet hatte, wie sie an solchen Regentagen in der Dämmerung durch die Stadt hinkten, triefende Bündel an Stöcken über der Schulter, kamen wieder über mich wie damals –, unzertrennlich verknüpft mit dem Geruch feuchter Erde, nasser Blätter und Dornsträucher und der Kühle des Windes, der mich auf meiner mühseligen Wanderung angeweht hatte.

Das Aufgehen der kleinen Tür in der getäfelten Wand schreckte mich aus meinem Brüten, und ich wandte mich um. Agnes‘ schöne klare Augen begegneten den meinen. Sie blieb stehen und legte die Hand aufs Herz, und ich schloß sie in meine Arme.

»Agnes, meine liebe Agnes, ich habe dich allzu unvorbereitet überrascht.«

»Nein, nein! Ich bin so froh, dich wiederzusehen, Trotwood.«

»Liebe Agnes, was für ein Glück für mich, dich wieder einmal zu sehen.«

Ich drückte sie an meine Brust, und eine Weile lang schwiegen wir beide. Dann setzten wir uns nebeneinander hin, und ihr Engelsgesicht blickte mich an mit dem Willkommen, von dem ich Jahre wachend und schlafend geträumt.

Sie war so schön, so gut, so offen, – ich schuldete ihr so viel Dank, daß ich keine Worte für meine Empfindungen zu finden vermochte. Ich versuchte ihr zu sagen und zu danken, wie schon so oft in meinen Briefen, welchen Einfluß sie auf mich gehabt habe; aber vergebens. Meine Liebe und meine Freude waren stumm.

Mit der ihr eignen lieblichen Ruhe besänftigte sie meine Aufregung, führte mich zurück zu der Zeit unseres Abschieds, erzählte mir von Emly, die sie vor der Auswanderung im geheimen viele Male besucht hatte, sprach mit zartsinnigem Mitleid von Doras Grab. Mit dem niemals irrenden Instinkt ihres Herzens berührte sie die Saiten in meiner Erinnerung so sanft und harmonisch, daß auch nicht eine einzige verstimmt erklang. Ich konnte der trauervollen fernen Musik zuhören, ohne Schmerz zu empfinden. Wie hätte es auch anders sein können, wo alles von ihr, dem guten Engel meines Lebens, durchdrungen war.

»Und du, Agnes?« fragte ich endlich, »erzähl mir von dir! Du hast mir noch kein Wort gesagt, wie es dir die ganze Zeit über ergangen ist.«

»Was soll ich dir erzählen!« gab sie mit ihrem strahlenden Lächeln zur Antwort. »Papa ist wohl. Du findest uns hier still und friedlich in unserm eignen Hause; unsere Sorgen sind zu Ende, unsere alte Umgebung ist wieder, wie sie war, und wenn du das weißt, lieber Trotwood, dann weißt du alles.«

»Alles Agnes?«

Sie sah mich an mit einer gewissen unruhigen Verwunderung.

»Weiter nichts, Schwester?«

Das Rot in ihren Wangen, das einen Augenblick verschwunden war, kehrte zurück und schwand wieder. Sie lächelte stilltraurig, wie mir schien, und schüttelte den Kopf.

Ich hatte sie auf das bringen wollen, was meine Tante angedeutet; so tief schmerzlich es auch für mich sein mußte, das Geheimnis zu erfahren, so mußte ich doch mein Herz bezwingen und meine Pflicht gegen sie erfüllen. Doch als ich sah, daß sie unruhig wurde, gab ich es auf.

»Du bist sehr beschäftigt, liebe Agnes?«

»Mit meiner Schule?« fragte sie und blickte mich wieder mit ihrer alten heiteren Fassung an.

»Ja. Es ist eine anstrengende Arbeit, nicht wahr?«

»Die Arbeit ist so angenehm, daß es fast undankbar ist, sie eine solche zu nennen.«

»Nichts Gutes ist schwer für dich«, sagte ich.

Abermals wechselte sie die Farbe, und wieder sah ich dasselbe trübe Lächeln, als sie den Kopf neigte.

»Du bleibst jetzt doch hier und wartest auf Papa?« fragte sie heiter, »und wirst den ganzen Tag mit uns verleben; vielleicht in deinem alten Zimmer schlafen. Wir nennen es immer noch dein Zimmer.«

Das ging nicht an, denn ich hatte meiner Tante versprochen, noch abends zurückzukehren. Aber mit Freuden wollte ich den Tag über dableiben.

»Ich habe noch eine kleine Weile zu tun«, sagte sie, »aber hier sind die alten Bücher, Trotwood, und die alten Musikalien.«

»Selbst dieselben Blumen sind noch da, wenn auch nicht die alten.«

»Ich habe während deiner Abwesenheit ein Vergnügen darin gefunden«, gab Agnes lächelnd zur Antwort, »alles so zu erhalten wie in unserer Kinderzeit. Damals waren wir sehr glücklich, nicht wahr?«

»Das weiß Gott.«

»Und jede Kleinigkeit, die mich an meinen Bruder erinnerte«, und ihre herzlichen Augen ruhten fröhlich auf mir, »war mir ein willkommener Gefährte. Selbst dieses«, – sie zeigte auf das Schlüsselkörbchen an ihrer Seite, – »scheint mir eine Art vertraute Melodie zu klimpern.«

Sie lächelte wieder und verließ durch die kleine Tür das Zimmer.

 

Ich empfand es als Pflicht, ihre schwesterliche Liebe mit frommer Sorgfalt zu hüten. Sie war alles, was mir noch blieb, und ein Schatz. Wenn ich ihr ein einziges Mal die Grundlage des geheiligten Vertrauens und der Gewohnheit, kraft deren sie mir geschenkt worden, entzog, so war sie verloren und für immer dahin. Ich stellte mir das klar vor Augen. Je mehr ich Agnes liebte, desto weniger durfte ich das vergessen.

Ich schlenderte durch die Straßen, und als ich meinen alten Gegner, den Metzger, sah, der jetzt Konstabler, wie der Amtsstab in seinem Laden verriet, war, ging ich auch nach dem Platz, wo ich mit ihm geboxt hatte, und dachte dort an Miss Shepherd und die älteste Miss Larkins und all die kindischen Liebeleien und Freundschaften von damals. Nichts schien diese Zeit überlebt zu haben, nur Agnes, und sie, die immer wie ein Stern gewesen war, strahlte heller und höher.

Als ich zurückkam, traf ich Mr. Wickfield zu Hause. Er beschäftigte sich fast täglich in einem Garten außerhalb der Stadt. Ich fand ihn ganz so, wie ihn meine Tante beschrieben hatte. Wir setzten uns mit einem halben Dutzend kleiner Mädchen zu Tisch, und er war wie der Schatten seines schönen Bildes an der Wand.

Der stille Frieden, der von alters her mit diesem Ort in meinem Gedächtnis verbunden ist, lag wieder auf allem. Da Mr. Wickfield nach dem Essen keinen Wein trank, gingen wir sogleich hinauf, wo Agnes und ihre kleinen Schülerinnen sangen, spielten und arbeiteten. Nach dem Tee gingen die Kinder, und wir drei setzten uns zusammen und plauderten von vergangenen Tagen.

»Wenn ich zurückdenke«, sagte Mr. Wickfield und schüttelte das weiße Haupt, »überkommt es mich wie tiefe Reue, lieber Trotwood, aber ich möchte nichts ausstreichen, wenn es auch in meiner Macht stünde.«

Ich glaubte ihm das gerne, wenn ich das Gesicht neben ihm erblickte.

»Ich würde damit so viel Geduld, Hingebung, so viel Treue und Kindesliebe ausstreichen, die ich nicht vergessen darf. Nein, nicht einmal, um mich selbst zu vergessen.«

»Ich verstehe«, sagte ich leise. »Ich verehre sie, – ich habe sie immer verehrt.«

»Aber niemand weiß, wieviel sie getan, wieviel sie gelitten, wie sehr sie gekämpft hat. Gute Agnes!«

Sie legte bittend die Hand auf seinen Arm, damit er schweige, und war ganz blaß geworden.

»Nun, sei es«, sagte er mit einem Seufzer und, wie ich wohl merkte, über etwas hinweggehend, was mit dem von meiner Tante Geäußerten in Verbindung stehen mußte. »Ich habe wohl noch nie etwas von ihrer Mutter erzählt?«

»Niemals, Mr. Wickfield.«

»Es ist nicht viel zu erzählen, – obgleich sie viel zu leiden hatte; sie heiratete mich gegen ihres Vaters Willen, und er verstieß sie. Sie bat ihn, ihr zu verzeihen, ehe Agnes auf die Welt kam. Er war ein sehr harter Mann, und ihre Mutter lag schon lange im Grabe. Er wies sie zurück. Er brach ihr das Herz.«

Agnes lehnte den Kopf an ihres Vaters Schulter und schlang sanft den Arm um seinen Hals.

»Sie hatte ein liebevolles und weiches Herz«, fuhr er fort, »und es brach. Ich wußte wohl, wie zart es war. Niemand konnte es so gut wissen wie ich. Sie liebte mich innig, fühlte sich aber nie ganz glücklich. Sie litt immer im geheimen unter diesem Kummer, und da sie zart war und schwermütig zur Zeit dieser letzten Abweisung – denn es war nicht das erste Mal –, siechte sie hin und starb. Sie hinterließ mir Agnes, zwei Wochen alt, und graues Haar –«

Er küßte Agnes auf die Wange.

»Meine Liebe zu dem teuern Kind war eine krankhafte Liebe, aber mein ganzes Innere war damals krank. Ich will nicht davon sprechen. Ich spreche nicht von mir, Trotwood, sondern von ihrer Mutter und ihr. Wie Agnes ist, brauche ich nicht zu sagen. Ich habe in ihrem Charakter etwas von der Geschichte ihrer armen Mutter gelesen und erzähle es heute abend, wo wir alle drei nach so viel Wechselfällen wieder beisammensitzen. Ich habe alles gesagt.«

Sein gebeugtes Haupt und Agnes‘ Engelsgesicht und ihre Kindesliebe erhielten dadurch für mich eine noch viel rührendere Bedeutung.

Nach einer kurzen Pause stand Agnes auf, ging von ihres Vaters Seite leise zum Klavier und spielte ein paar Melodien, denen wir so oft in diesem Zimmer gelauscht hatten.

»Beabsichtigst du England wieder zu verlassen?« fragte sie mich, als ich dann neben ihr stand.

»Was meinst du darüber?«

»Ich hoffe nicht.«

»Dann beabsichtige ich es auch nicht, Agnes.«

»Ich denke, du solltest es nicht tun, wenn du mich schon fragst«, sagte sie sanft. »Dein wachsender Ruf erschließt dir die Möglichkeit Gutes zu wirken, und wenn ich auch meinen Bruder entbehren könnte«, – ihre Augen ruhten still auf mir – »so könnte es vielleicht unsere jetzige Zeit nicht.«

»Nur du hast mich zu dem gemacht, was ich bin, Agnes. Das weißt du am besten.«

»Ich dich dazu gemacht, Trotwood?«

»Ja, meine liebe Agnes!« sagte ich und beugte mich über sie. Als wir heute beisammensaßen, versuchte ich, dir etwas zu sagen, was mir im Kopf herumging seit Doras Tod. Weißt du noch, als du zu mir in unser kleines Zimmer tratest, wie du aufwärts wiesest, Agnes?«

Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Ach, Trotwood, so liebevoll, vertrauend und so jung war sie! Wie könnte ich das jemals vergessen!«

»So, wie du damals vor mir standest, Schwester, habe ich deiner oft gedenken müssen. Du zeigtest mir immer nach oben, Agnes, und führtest mich zu immer Besserem und Höherem.«

Sie schüttelte nur den Kopf; durch ihre Tränen sah ich wieder das alte trübe Lächeln.

»Und ich bin dir so dankbar dafür, Agnes, daß ich keinen Ausdruck dafür finde. Wenn ich es dir auch nicht sagen kann, wie ich möchte, so will ich, daß du weißt, wie ich mein ganzes Leben lang zu dir aufblicken und mich von dir leiten lassen möchte, wie damals durch die Dunkelheit, die jetzt vorüber ist. Was auch geschehen mag, welche neue Bande du knüpfen wirst, welche Veränderungen zwischen uns treten mögen, immer werde ich zu dir aufblicken und dich lieben wie von jeher. Bis ich sterbe, meine liebe Schwester, werde ich dich immer so vor mir sehen, emporzeigend.«

Sie reichte mir ihre Hand und sagte mir, sie sei stolz auf mich und auf das, was ich eben gesagt, obgleich ich sie weit über ihr Verdienst lobe. Dann spielte sie leise weiter, ohne ihre Augen von mir abzuwenden.

»Weißt du, Agnes, daß das, was ich eben von deinem Vater hörte, seltsamerweise ein Teil des Gefühls zu sein scheint, mit dem ich dich schon betrachtete, als ich dich das erste Mal sah und dann neben dir saß in meinen ungestümen Schuljahren?«

»Du wußtest, daß ich keine Mutter hatte, und fühltest dich zu mir hingezogen.«

»Mehr als das, Agnes. Ich wußte fast, als ob ich diese Geschichte gekannt hätte, daß etwas unerklärlich Mildes dich umgibt, etwas, was bei einer andern traurig gewirkt hätte, nur an dir nicht.«

Sie spielte leise weiter und sah mich immer noch an dabei.

»Du lächelst vielleicht darüber, daß ich solchen Phantasien nachhänge, Agnes?«

»Nein.«

»Oder wenn ich dir sage, daß ich damals schon fühlte, du werdest trotz aller Entmutigungen getreulich ausharren in deiner Liebe und nie damit aufhören bis zum Tod?«

»O nein, o nein!«

Einen Augenblick flog ein kummervoller Schatten über ihr Gesicht, aber noch während des Schreckens, den ich darüber empfand, war er bereits verschwunden.

Als ich in der einsamen Nacht nach Hause ritt und der Wind an mir vorüberstrich wie ein Zug ruheloser Erinnerungen, mußte ich immerwährend daran denken und konnte die Befürchtung nicht loswerden, daß sie sich nicht glücklich fühle. Ich war sicher unglücklich. Aber soweit hatte ich getreulich mit der Vergangenheit abgeschlossen, und wenn ich sie im Geiste aufwärts deuten sah, da war mir, als wiese sie empor wie in eine unenträtselbare Zukunft, wo ich sie doch vielleicht dereinst mit einer auf Erden unbekannten Liebe umfangen und ihr sagen könnte, welchen Kampf ich hier unten durchgerungen.

34. Kapitel Eine große Überraschung


34. Kapitel Eine große Überraschung

Ich schrieb sogleich nach meiner Verlobung an Agnes einen langen Brief, in dem ich ihr begreiflich zu machen suchte, wie glücklich ich sei und welchen Schatz ich in Dora gefunden. Ich bat sie, es ja nicht als eine oberflächliche Leidenschaft zu betrachten, die jemals verfliegen könnte oder nur im mindesten den kindischen Verliebtheiten gliche, wegen deren sie mich immer zu necken pflegte. Ich versicherte ihr, daß die Tiefe unserer Gefühle unergründlich sei, und sprach die Überzeugung aus, daß so etwas noch nie existiert habe.

Zuweilen, wenn ich an Agnes an einem schönen Abend am offnen Fenster schrieb und die Erinnerung an ihr klares, ruhiges Auge und ihr sanftes Antlitz mich beschlich, kam ein solcher Frieden über mich, daß ich weich wurde bis zu Tränen.

Von Steerforth sagte ich nichts. Ich schrieb nur, daß Emlys Flucht in Yarmouth viel schweren Kummer angerichtet habe und daß ich deswegen doppelt litte. Ich wußte, sie würde sofort die Wahrheit erraten und nie seinen Namen zuerst erwähnen.

Auf meinen Brief erhielt ich umgehend Antwort. Als ich ihn las, da war mir, als spräche Agnes zu mir. Er klang in meinen Ohren wie ihre herzgewinnende Stimme. Was kann ich mehr sagen!

Während meiner Abwesenheit hatte Traddles ein paarmal bei mir vorgesprochen. Er hatte Peggotty angetroffen, von ihr gehört, daß sie meine alte Kindsfrau sei, sich mit ihr rasch angefreundet und war dageblieben, um mit ihr ein wenig über mich zu plaudern. So erzählte wenigstens Peggotty, aber ich fürchte sehr, daß das Plaudern nur von ihr allein ausging und gewöhnlich lang dauerte, da es sehr schwer war, ihren Redefluß zu bremsen, wenn es sich um mich drehte.

Das erinnert mich nicht bloß, daß ich Traddles an einem gewissen Nachmittag, den er selbst bestimmt hatte, erwartete, sondern auch daran, daß Mrs. Crupp ihr Amt, wenn auch nicht ihren Lohn, aufgegeben hatte, bis Peggotty nicht mehr ins Haus käme. Nachdem sie eines Tages mit sehr schriller Stimme auf der Treppe offenbar mit einem unsichtbaren Hauskobold, – denn körperlich war sie allein – verschiedene Zwiegespräche über Peggotty gehalten, richtete sie einen Brief an mich, in dem sie ihre Ansichten in Worte faßte. Beginnend mit jenem Ausdruck von universeller Tragweite, der für jedes Ereignis im Leben paßte, nämlich, daß sie selbst Mutter sei, – wies sie darauf hin, daß sie einst ganz andere Tage gesehen, aber zu allen Zeiten ihres Lebens einen stark ausgeprägten Widerwillen gegen Spione, Eindringlinge und Denunzianten empfunden habe. Sie nenne keinen Namen, sagte sie. Wer sich getroffen fühle, der nehme sich selbst beim Ohr, aber Spione, Eindringlinge und Denunzianten, vorzüglich solche in Witwenkleidern (das war unterstrichen), habe sie stets verachtet. Wenn ein Gentleman mit aller Gewalt Spionen, Eindringlingen und Denunzianten – (sie nenne noch immer keine Namen) zum Opfer fallen wolle, so sei das seine Sache, er könne sich das nach Gutdünken einrichten, nur das eine bedinge Mrs. Crupp sich aus, nämlich, daß sie mit solchen Personen nicht in »Kontrakt« gebracht würde. Aus diesem Grunde wolle sie von weitem Dienstleistungen im obern Stockwerk enthoben sein, bis die Dinge wieder wie früher stünden und so, wie sie dieselben wünschte.

Jeden Sonntagmorgen würde ich auf dem Frühstückstisch ihr kleines Verrechnungsbuch vorfinden, und sie bäte um jedesmalige umgehende Bezahlung desselben, damit »allen Teilen Mühe und Unannehmlichkeiten« erspart blieben.

Nach diesem Brief beschränkte sich Mrs. Crupp darauf, auf den Treppen vermittelst Wasserkannen Fallen zu stellen, um Peggotty zu einem Beinbruch zu verhelfen. Ich fand es ein wenig lästig, in einem derartigen Belagerungszustand zu leben, fürchtete mich aber zu sehr vor Mrs. Crupp, um an Abhilfe zu denken.

»Mein lieber Copperfield, wie gehts dir?« sagte Traddles, der allen diesen Hindernissen zum Trotz pünktlich in meiner Tür erschien.

»Lieber Traddles, ich freue mich außerordentlich, dich endlich wiederzusehen, und es tut mir nur leid, daß ich nicht früher mit dir zusammenkommen konnte. Aber ich war so viel in Anspruch genommen –«

»Natürlich«, sagte Traddles, »ich weiß schon. ›Die Deinige‹ lebt in London, glaube ich.«

»Was sagst du da?«

»Sie – entschuldige – Miss D. meine ich«, sagte Traddles und wurde vor lauter Zartgefühl rot, »wohnt in London, glaube ich.«

»Jawohl. In der Nähe von London.«

»Meine«, sagte Traddles mit ernstem Blick, »lebt unten in Devonshire – eine von zehn Schwestern. Demzufolge bin ich nicht soviel in Anspruch genommen als du; – in dieser Hinsicht.«

»Ich begreife nicht, wie du es aushalten kannst, sie so selten zu sehen.«

»Ha«, sagte Traddles gedankenvoll, »es ist auch das reinste Wunder. Wahrscheinlich ertrage ich es, Copperfield, weil ich es nicht ändern kann.«

»Wahrscheinlich«, sagte ich mit einem Lächeln und nicht ohne ein wenig zu erröten, »und weil du so geduldig und beständig bist, Traddles.«

»Mein Gott, komme ich dir wirklich so vor, Copperfield? Ich hätte mir das wirklich nicht zugetraut. Aber sie ist ein so außerordentlich liebes Mädchen, daß sie mich wahrscheinlich mit diesen guten Eigenschaften angesteckt hat. Es sollte mich gar nicht wundern. Ich versichere dir, sie denkt nie an sich und ist immer nur um die andern neun besorgt.«

»Ist sie die Älteste?«

»Ach Gott, nein. Die Älteste ist eine Schönheit.«

Er bemerkte wahrscheinlich, daß ich über die Einfalt seiner Antwort lächeln mußte, und fügte mit freundlicher Miene hinzu:

»Nicht etwa, daß meine Sophie – ein hübscher Name, Copperfield, nicht wahr –«

»Sehr hübsch.«

»Nicht etwa, daß Sophie in meinen Augen nicht auch schön wäre und in jedermanns Augen für eines der liebenswürdigsten Mädchen gelten müßte, aber wenn ich sage, die Älteste ist eine Schönheit, so meine ich, daß sie in Wirklichkeit eine –« er malte mit beiden Händen rings um sich her Wolken in die Luft. »Bezaubernd, du verstehst mich schon«, sagte er mit Energie.

»Gewiß.«

»O, ich versichere dir, wirklich etwas ganz Ungewöhnliches. Da sie aber ganz für die Gesellschaft und zum Bewundertwerden geschaffen ist, wegen der beschränkten Mittel der Familie jedoch wenig davon genießen kann, ist sie natürlich manchmal ein bißchen reizbar und verstimmt. Sophie gibt ihr aber immer ihre gute Laune wieder.«

»Sophie ist die Jüngste?«

»Ach Gott, nein«, sagte Traddles und rieb sich das Kinn. »Die beiden Jüngsten sind erst neun und zehn Jahre. Sophie erzieht sie.«

»Also die zweite Tochter?«

»Nein. Sarah ist die Zweite. Die Ärmste hat irgend etwas mit dem Rückenmark. Es wird allmählich ausheilen, sagen die Ärzte, aber vorläufig muß sie mindestens zwölf Monate im Bett liegen. Sophie pflegt sie. Sophie ist die Vierte.«

»Lebt die Mutter noch?«

»O ja, sie lebt noch. Sie ist eine ganz vorzügliche Frau, aber die feuchte Gegend ist ihrer Gesundheit nicht zuträglich und – kurz, sie ist gelähmt.«

»O Gott!«

»Das ist sehr traurig, nicht wahr«, sagte Traddles, »aber vom Gesichtspunkt einer Haushaltung aus betrachtet ist es nicht gar so schlimm, denn Sophie vertritt ihre Stelle. Sie ist selbst ihr gegenüber Mutter, wie auch den neun andern.«

Ich fühlte die größte Bewunderung für die Tugenden der jungen Dame und fragte dann, mit der besten Absicht, Traddles bei seiner Gutmütigkeit möglichst vor Schaden zu bewahren, wie sich Mr. Micawber befände.

»Er befindet sich ganz wohl, Copperfield, aber ich wohne jetzt nicht mehr bei ihm.«

»Nicht?«

»Nein. Die Sache ist nämlich die«, sagte Traddles geheimnisvoll, »er hat wegen seiner momentanen Geldverlegenheiten den Namen Mortimer angenommen und geht nur nach Dunkelwerden aus und auch dann nur mit Brille. Es gab eine Exekution in unserm Haus der Miete wegen; Mrs. Micawber befand sich in so schlechter Verfassung, daß ich nicht anders konnte, als meinen Namen für den zweiten Wechsel hergeben, von dem neulich gesprochen wurde. Du kannst dir denken, wie angenehm es für mich war, Copperfield, als Mrs. Micawber wieder frischen Mut faßte.«

»Hm«, sagte ich.

»Freilich war ihr Glück nicht von langer Dauer, denn leider kam schon in der nächsten Woche eine zweite Exekution. Das versetzte dem Haushalt den Todesstoß. Ich habe mir seitdem ein möbliertes Zimmer gemietet, und die Mortimers leben ganz zurückgezogen. Du wirst mich gewiß nicht für selbstsüchtig halten, Copperfield, wenn ich dir verrate, daß der Exekutor auch meinen kleinen, runden Tisch mit der Marmorplatte und Sophies Blumentopf mitgenommen hat.«

»Das ist ein Schlag!« rief ich entrüstet.

»Es gab – es gab einen Ruck«, sagte Traddles mit seinem gewohnten Zucken bei diesem Worte. »Ich erwähne es gewiß nicht, um jemand einen Vorwurf damit zu machen, sondern aus einem ganz besondern Grund. Die Sache ist die, Copperfield, ich konnte nämlich damals die Dinge nicht zurückkaufen, erstens, weil der Gläubiger merkte, daß mir viel an ihnen lag, und den Preis entsetzlich in die Höhe trieb, und zweitens, weil ich – kein Geld hatte. Aber ich habe den Laden, in dem die Gegenstände jetzt stehen, nicht aus dem Auge verloren.« – Traddles schwelgte ordentlich im Hochgenuß seines Geheimnisses. – »Er befindet sich am obern Ende der Tottenham Court Road, und heute endlich sind sie zum Verkauf ausgestellt. Ich habe sie bloß von der andern Seite der Straße anzusehen mich getraut, denn wenn der Mann mich erblickte, wäre der Preis unerschwinglich. Da ich nun das Geld habe, ist mir der Gedanke gekommen, dich zu fragen, ob du etwas dagegen hast, wenn deine gute Kindsfrau – ich kann ihr den Laden von weitem zeigen – sie so billig wie möglich für mich zurückkaufen würde.« Die Wonne, mit der mir Traddles diesen Plan auseinandersetzte, und seine Freude über seine unendliche Schlauheit waren unbeschreiblich und stehen mir heute noch deutlich vor Augen.

Ich sagte ihm, daß Peggotty ihm mit größtem Vergnügen beistehen würde und daß wir alle drei das Schlachtfeld besichtigen gehen wollten, aber ich möchte eine Bedingung stellen, und zwar müßte er mir das feierliche Versprechen geben, niemals mehr Mr. Micawber seinen Namen oder irgend etwas sonst zu leihen.

»Mein lieber Copperfield«, sagte Traddles, »das habe ich bereits gelobt, weil ich einzusehen beginne, daß ich nicht nur leichtsinnig, sondern geradezu rücksichtslos gegen Sophie gehandelt habe. Da ich mir bereits selbst das Wort gegeben habe, brauchst du weiter nichts mehr zu befürchten, aber ich gebe es auch dir noch einmal mit größter Bereitwilligkeit. Jenen ersten unglückseligen Wechsel habe ich bereits bezahlt. Ich zweifle keinen Augenblick, daß Mr. Micawber ihn eingelöst haben würde, wenn er gekonnt hätte. Aber er konnte nicht. Übrigens muß ich noch erwähnen, was mir an Mr. Micawber sehr gefällt, Copperfield. Es bezieht sich auf den zweiten Wechsel, der noch nicht fällig ist. Er sagte mir, daß zwar bisher noch keine Deckung dafür vorhanden sei, aber daß sie vorhanden sein werde. Ich finde das wirklich recht offen und ehrlich.«

Ich wollte meines Freundes guten Glauben nicht wanken machen und stimmte ihm daher bei. Sodann gingen wir Peggotty abholen, da Traddles den Abend nicht bei mir zubringen wollte, teils weil er in der lebhaftesten Angst schwebte, ein Fremder könnte ihm die Sachen vor der Nase wegkaufen, teils weil es der Abend der Woche war, an dem er an seine Braut zu schreiben pflegte.

Ich werde nie vergessen, wie er um die Straßenecke herumguckte, während Peggotty um die kostbaren Sachen schacherte, und wie aufgeregt er sich benahm, als sie nach vergeblichem Handeln langsam auf uns zukam, dann aber, von dem Händler zurückgerufen, wieder umkehrte. Das Resultat war, daß sie die Sachen verhältnismäßig billig zurückkaufte und Traddles vor Freude ganz außer sich geriet.

»Ich danke Ihnen wirklich recht sehr, Frau Peggotty«, sagte Traddles, als er vernahm, daß ihm die Gegenstände diesen Abend noch in die Wohnung geschickt werden sollten, »wenn ich aber noch um eins bitten dürfte, – du mußt mich nicht für überspannt halten, Copperfield –«

Ich versicherte ihm schon im voraus das Gegenteil.

»Also wenn es möglich wäre, den Blumentopf – er gehört ja Sophie, Copperfield, – gleich jetzt zu holen, so könnte ich ihn selbst nach Hause tragen.«

Peggotty erfüllte gern seine Bitte, und er überhäufte sie mit Danksagungen und ging dann, den Blumentopf zärtlich im Arm, mit dem freudigsten Gesicht von der Welt heimwärts.

Peggotty und ich kehrten zu meiner Wohnung zurück. Da die Läden immer auf sie einen ganz besondern Reiz ausübten, schlenderte ich gemächlich die Straße entlang und wartete, während sie mit großen Augen in alle Schaufenster guckte.

So brauchten wir eine ziemlich lange Zeit, um nach dem Adelphi zu kommen. Als wir die Treppe hinaufstiegen, fiel nur auf, daß frische Fußspuren sichtbar und Mrs. Crupps sämtliche Fallen verschwunden waren. Zu unserer größten Überraschung stand meine Gangtür offen, und wir hörten drinnen Stimmen. Wir sahen einander erstaunt an, konnten uns nicht erklären, was das zu bedeuten habe, und traten ins Zimmer. Von allen Menschen auf der Welt hätte ich meine Tante und Mr. Dick am wenigsten erwartet.

Meine Tante saß auf einem Haufen Koffer, auf dem Schoß ihre Katze und ihre zwei Vögel daneben, wie ein weiblicher Robinson Crusoe und trank Tee. Mr. Dick lehnte gedankenschwer auf dem großen Drachen, den wir zuweilen hatten steigen lassen, und auch er war von Koffern umgeben.

Wir umarmten uns innig, und Mr. Dick und ich schüttelten einander herzlich die Hände, und Mrs. Crupp, die Tee bereitete und sich vor lauter Aufmerksamkeit gar nicht zu lassen wußte, sagte mit innigem Ton, sie hätte wohl gewußt, wie Mr. Copperfield das Herz überfließen würde, wenn er seine lieben Verwandten sähe.

»Hallo!« rief meine Tante Peggotty zu, die vor ihrem gebieterischen Anblick zurückbebte. »Wie geht es Ihnen?«

»Du erinnerst dich doch meiner Tante, Peggotty«, sagte ich.

»Um aller Liebe und Barmherzigkeit willen, Kind«, rief meine Tante, »nenne die Frau nicht mit diesem Südseeinsulanernamen. Wenn sie verheiratet und ihn los ist, – übrigens das beste, was sie tun konnte warum soll sie daraus keinen Vorteil ziehen? Wie ist Ihr Name jetzt? P…?« fragte meine Tante als Kompromiß für den ihr so verhaßten Namen.

»Barkis, Maam«, antwortete Peggotty mit einem Knix.

»Gut. Wenigstens menschlich. Es klingt wenigstens nicht so, als ob Sie einen Missionär nötig hätten. Wie geht es Ihnen, Barkis? Hoffentlich gut?«

Ermutigt durch diese gnädigen Worte und durch die dargebotene Hand, trat Barkis vor, nahm die Hand und knixte dankend.

»Wir sind beide älter geworden, sehe ich«, sagte meine Tante. »Wir sind einander schon früher einmal begegnet. Das war eine recht nette Geschichte, damals! Trot, Liebling, bitte noch eine Tasse.«

Ich schenkte ihr pflichtschuldig ein; sie saß in ihrer gewöhnlichen steifen Haltung da, und ich wagte Einspruch gegen ihren unbequemen Sitz auf dem Koffer zu erheben.

»Ich will das Sofa herrücken oder den Lehnstuhl, Tante. Du hast es hier sehr unbequem.«

»Ich danke dir, Trot, aber ich ziehe vor auf meinem Eigentum zu sitzen.« Mit diesen Worten blickte meine Tante Mrs. Crupp scharf an und bemerkte: »Wir wollen Sie nicht länger bemühen, Maam.«

»Soll ich nicht vorher noch ein bißchen Tee aufgießen, Maam?« fragte Mrs. Crupp.

»Nein, ich danke Ihnen, Maam.«

»Oder noch ein Stück Butter heraufholen? Wollen Sie vielleicht ein frisches Ei, oder soll ich einen Schnitt Schinken rösten? Kann ich denn gar nichts für Ihre werte Tante tun, Mr. Copperfield?«

»Gar nichts, Maam«, schnitt ihr meine Tante das Wort ab. »Ich werde mir schon so behelfen. Ich danke.«

Mrs. Crupp, die unaufhörlich zum Zeichen ihrer Sanftmütigkeit gelächelt hatte und beständig den Kopf schief hielt, um auf ihre schwache Konstitution hinzuweisen, und sich zum Zeichen unbeirrbarer Dienstwilligkeit die Hände gerieben hatte, lächelte, knixte und schob sich allmählich zur Türe hinaus.

»Dick«, sagte meine Tante. »Wissen Sie noch, was ich Ihnen über Liebedienerei und Geldanbeter gesagt habe?«

Mr. Dick gab mit einem etwas erschreckten Blick, der verriet, daß er es eigentlich vergessen hatte, hastig eine bejahende Antwort.

»Mrs. Crupp gehört zu ihnen. Barkis, vielleicht sind Sie so freundlich und sehen nach dem Tee und schenken mir noch eine Tasse ein. Es war mir unangenehm, mir von der Frau einschenken zu lassen.«

Ich kannte meine Tante hinlänglich, um zu wissen, daß sie etwas Wichtiges auf dem Herzen hatte und daß ihre so unerwartete Ankunft mehr bedeutete, als ein Fremder hätte annehmen mögen. Ich sah, wie ihr Blick auf mir ruhte, wenn sie sich unbeobachtet glaubte und wie sie innerlich sonderbar schwankte, während ihr Äußeres seine ganze Steifheit und Fassung bewahrte. Ich fing an nachzudenken, ob ich etwas getan hätte, was sie kränkte, und das Gewissen schlug mir, daß ich ihr noch nichts von Dora gesagt. War es das vielleicht? Ich wußte, sie würde sprechen, wenn sie es für gut finden würde, setzte mich neben sie, streichelte die Vögel und spielte mit der Katze und tat so unbefangen wie möglich. In Wirklichkeit war mir keineswegs danach zumute und hätte es auch nicht sein können, ganz abgesehen davon, daß Mr. Dick, der hinter meiner Tante auf dem großen Drachen lehnte, jede Gelegenheit benützte, um düster den Kopf gegen mich zu schütteln und auf sie zu deuten.

»Trot«, sagte meine Tante endlich, als sie ihren Tee getrunken, sich das Kleid sorgfältig glattgestrichen und den Mund abgewischt hatte, – »Sie brauchen nicht hinauszugehen, Barkis, – Trot, bist du ein fester und selbständiger Charakter geworden?«

»Ich hoffe es, Tante.«

»Wie meinst du das?«

»Nun, ich glaube es, Tante.«

»Also rate einmal« – sie blickte mich ernst an – »warum, meinst du, sitze ich heute abend lieber auf diesem meinem Eigentum?«

Ich schüttelte ratlos den Kopf.

»Weil es alles ist, was ich habe. Weil ich ruiniert bin, mein Liebling.«

Wenn das Haus und wir mit ihm in den Fluß hinabgefallen wären, hätte ich kaum mehr erschrocken sein können.

»Dick weiß es«, sagte meine Tante und legte ihre Hand ruhig auf meine Schulter. »Ich bin ruiniert, lieber Trot. Alles, was ich noch auf der Welt besitze, befindet sich hier in diesem Zimmer, mit Ausnahme des Häuschens, und das sucht Janet zu vermieten. Barkis, ich möchte ein Bett für diesen Herrn haben! Der Ersparnis wegen könnten Sie vielleicht auch für mich hier irgend etwas zurechtmachen. Irgend etwas. Es ist nur für die eine Nacht. Wir werden morgen weiter darüber reden.«

Ich war ganz starr vor Erstaunen und Sorgen um sie und nur um sie und wurde nur dadurch herausgerissen, daß sie mir einen Augenblick lang um den Hals fiel und mir weinend sagte, daß sie bloß meinetwegen bekümmert sei. In der nächsten Minute hatte sie ihre Bewegung wieder unterdrückt und sagte mehr triumphierend als niedergeschlagen:

»Wir müssen Schicksalsschlägen kühn ins Gesicht sehen und dürfen uns nicht einschüchtern lassen, Liebling. Wir müssen lernen, die Komödie zu Ende zu spielen. Wir müssen das Unglück müde machen, Trot.«