42. Kapitel Unheil
Es kommt mir fast unziemlich vor, selbst in diesem nur für mich bestimmten Manuskript niederzuschreiben, wie angestrengt ich mich in meinem Pflichtgefühl Dora und ihren Tanten gegenüber mit der Erlernung der schrecklichen Stenographie abquälte, aber ich kann nur sagen, gerade aus der Ausdauer, die ich dadurch noch stärkte, entsprang die Quelle aller meiner Erfolge im Leben. Ich habe viel Glück in irdischen Dingen gehabt, und andere Menschen, die sich viel mehr anstrengten, haben es nicht halb soweit gebracht.
Alle meine Erfolge verdankte ich nur dem Umstand, daß ich Pünktlichkeit, Ordnung und Fleiß bei jeder Gelegenheit übte. Ich schreibe dies nicht nieder, um mich selbst zu loben. Ich meine einfach, daß ich alles, was ich im Leben zu tun versucht habe, bemüht war mit ganzem Herzen zu vollbringen und daß ich in großen wie in kleinen Dingen stets den gleichen Ernst anwandte.
Ich brauche hier nicht zu wiederholen, wie viel ich in dieser Hinsicht Agnes verdankte.
Ich wende mich jetzt mit dankbarer Liebe wieder zu Agnes.
Sie kam auf vierzehn Tage zu Besuch zu Dr. Strong. Mr. Wickfield war ein alter Freund des Doktors, und Dr. Strong hätte gerne mit ihm gesprochen und ihm beigestanden. Agnes und ihr Vater kamen zusammen zu Besuch. Ich war nicht überrascht, als ich von ihr hörte, sie habe in der Nähe eine Wohnung für Mrs. Heep gesucht, deren Rheumatismus eine Luftveränderung erfordere. Ebensowenig wunderte es mich, als schon am nächsten Tage Uriah als liebevoller Sohn seine würdige Mutter begleitete.
»Ja, sehen Sie, Master Copperfield«, sagte er, als er sich mir im Garten des Doktors aufdrängte. »Wenn man liebt, so ist man ein wenig eifersüchtig. Wenigstens hat man gern ein Auge auf der Geliebten.«
»Auf wen sind Sie denn jetzt eifersüchtig?« fragte ich.
»Ihnen zum Dank, Master Copperfield, für jetzt auf niemand Besondern – wenigstens auf keine männliche Person.«
»Vielleicht gar auf eine weibliche?«
Er warf mir aus seinen tückischen roten Augen einen Seitenblick zu und grinste.
»Wahrhaftig, Master Copperfield, ? wollt ich sagen, Mister, ? ich weiß, Sie entschuldigen schon die alte Angewohnheit ?, aber Sie sind so liebenswürdig, daß Sie mich ausholen können wie ein Korkzieher. Nun, ich will Ihnen nur sagen«, fuhr er fort, indem er seine fischkalte Hand auf meine legte, »ich bin im allgemeinen bei Damen nicht beliebt, Sir, und bin es bei Mrs. Strong nie gewesen.«
Seine Augen hatten einen grünen Schimmer, wie sie mich mit schurkischer List beobachteten.
»Was meinen Sie damit?«
»Nun, obgleich ich ein Jurist bin, Master Copperfield«, gab er mit einem leichten Grinsen zur Antwort, »so meine ich doch jetzt, was ich sage.«
»Und was wollen Sie mit Ihrem Blick sagen?« fragte ich ruhig weiter.
»Mit meinem Blick? Gott, nehmen Sie es aber scharf, Copperfield! Was ich mit meinem Blick meine?«
»Ja. Mit Ihrem Blick.«
Das schien ihm ungemein zu gefallen, und er lachte so herzlich, wie es ihm überhaupt möglich war. Er senkte die Augen zu Boden, schabte sich langsam das Kinn mit dem Daumen und sagte:
»Als ich noch ein niedriger Schreiber war, sah sie immer auf mich herab. Meine Agnes mußte immer um sie herum sein, und auch gegen Sie, Master Copperfield, war sie immer freundlich. Aber ich stand viel zu tief unter ihr, um beachtet zu werden.«
»Nun?« sagte ich. »Angenommen. Und weiter?«
»… Und unter ihm auch«, fuhr Uriah sehr deutlich und in nachdenklichem Tone fort, sich immer noch das Kinn schabend.
»Kennen Sie den Doktor nicht besser«, sagte ich, »daß Sie glauben können, er wisse überhaupt etwas von Ihrem Dasein, wenn Sie nicht dicht vor ihm stehen?«
Er sah mich wieder mit seinem alten Seitenblick an und zog sein Gesicht ganz lang, um sich besser schaben zu können, als er fortfuhr:
»Ach Gott, ich spreche nicht vom Doktor. Der Arme! Ich meine Mr. Maldon.«
Mir stockte das Blut in den Adern. Alle meine alten Zweifel und Befürchtungen standen wieder vor mir. Des Doktors Glück und Frieden, die ganze Reihe von Möglichkeiten von Schuld und Unschuld, die ich nicht enträtseln konnte, sah ich im Handumdrehen diesem Menschen preisgegeben.
»Er kam nie in die Kanzlei, ohne mich herumzukommandieren«, sagte Uriah. »Einer von den feinen Gentlemen! Ich war sehr demütig und niedrig und bin es noch. Aber das gefiel mir nicht, und jetzt kann ichs erst recht nicht leiden.«
Er hörte auf, sich am Kinn zu kratzen, saugte die Wangen ein, bis sie sich innen zu berühren schienen, und sein Seitenblick haftete immer noch auf mir.
»Sie ist eine von den schönen Frauen«, fuhr er fort, als er seinem Gesicht langsam seine natürliche Form wiedergegeben hatte, »die Leuten, wie ich bin, nicht freundlich gesinnt sind. Sie ist gerade die Person danach, die meiner Agnes Rosinen in den Kopf setzen könnte. Ich bin kein Mann für die Damen, Master Copperfield, aber ich habe Augen im Kopf und schon hübsch lange. Mir niedrigen Leute haben meistens Augen und mir können damit sehen.«
Ich bemühte mich unbefangen zu erscheinen, aber, wie ich an seinem Gesicht sah, mit wenig Erfolg.
»Ich laß mich aber nicht unterkriegen, Copperfield«, fuhr er fort und zog mit tückischem Frohlocken seine haarlosen Augenbrauen in die Höhe, »und ich werde mein möglichstes tun, dieser Freundschaft ein Ende zu machen. Ich billige sie nicht. Ich will Ihnen gar nicht verhehlen, daß ich etwas neidisch bin und alle Eindringlinge fernhalten will. Wenn ich mirs leisten kann, setze ich mich nicht der Gefahr aus, Komplotte gegen mich schmieden zu lassen.«
»Sie schmieden eben immer Komplotte und haben andere im selben Verdacht.«
»Vielleicht, Master Copperfield, aber ich habe einen Beweggrund, wie mein Kompagnon immer sagt, und gehe mit Zähnen und Nägeln ans Werk. Wenn ich auch ein niedriger Mensch bin, so lasse ich mir doch nichts gefallen. Es darf mir niemand im Weg stehen. Sie müssen aus dem Wagen raus.«
»Ich verstehe Sie nicht.«
»Wirklich nicht?« sagte Uriah mit einer seiner gewohnten schnellenden Bewegungen. »Das wundert mich, Master Copperfield, da Sie doch sonst so gescheit sind! Das nächste Mal werd ich versuchen, mich deutlicher auszudrücken. Ist das übrigens nicht Mr. Maldon zu Pferd, der dort an der Tür klingelt, Sir?«
»Er sieht beinahe so aus«, entgegnete ich so unbefangen wie möglich.
Uriah blieb stehen, steckte die Hände zwischen seine knorrigen Knie und krümmte sich vor Lachen. Vor ganz lautlosem Lachen. Kein Ton kam aus seinem Munde. Mir war sein Benehmen so zuwider, daß ich mich ohne Umstände von ihm abwandte und ihn in der Mitte des Gartens, halb sitzend wie eine Vogelscheuche, der die Stütze umgefallen ist, zurückließ.
An diesem Abend war es nicht, aber wie ich mich wohl erinnere, an dem zweitnächsten, am Samstag, daß ich Agnes mit zu Dora nahm.
Ich hatte den Besuch vorher mit Miss Lavinia verabredet, und Agnes wurde zum Tee erwartet.
Ich war ganz aufgeregt vor Stolz und Besorgnis; stolz auf meine liebe kleine Braut und besorgt, wie sie Agnes gefallen würde. Auf dem ganzen Weg nach Putney, wo Agnes in der Landkutsche saß und ich außen, malte ich mir Dora immerwährend aus. Einmal wünschte ich mir, sie möchte am liebsten so aussehen wie damals, dann wieder wie ein anderes Mal, und litt durch solche Sorgen ordentlich wie unter einem Fieber.
Ich hatte natürlich keinen Zweifel, daß sie sehr hübsch aussehen würde, aber es traf sich, daß sie gerade damals vielleicht am allerschönsten war.
Als ich Agnes ihren Tanten vorstellte, hielt sie sich schüchtern versteckt. Ich wußte jetzt, wo ich sie zu suchen hatte, und fand sie richtig wieder hinter der Tür mit zugehaltnen Ohren.
Anfangs wollte sie gar nicht kommen, und dann bat sie um fünf Minuten Frist. Als sie mir endlich ihren Arm gab, um sich ins Zimmer führen zu lassen, war ihr liebliches Gesichtchen ganz rot und hatte nie so hübsch ausgesehen. Aber als wir in das Zimmer traten und sie blaß wurde, war sie noch zehntausendmal schöner.
Sie fürchtete sich vor Agnes. Sie hatte mir gesagt, sie wüßte schon, Agnes wäre »viel zu gescheit«. Aber als sie das heitere, dabei so ernste, gedankenvolle und doch so gute Gesicht erblickte, ließ sie einen leisen Schrei fröhlicher Überraschung hören, legte ihre Arme zärtlich um Agnes‘ Hals und drückte ihre unschuldige Wange an ihr Gesicht.
Ich habe mich noch nie so glücklich gefühlt, noch nie so gefreut wie damals, als ich die beiden so nebeneinander sitzen und meine Geliebte so befreit in diese herzlichen Augen blicken sah. Miss Lavinia und Miss Clarissa teilten in ihrer Weise meine Freude. Es war der angenehmste Teeabend von der Welt. Miss Clarissa führte den Vorsitz. Ich zerschnitt den süßen Aniskuchen und reichte ihn herum – die kleinen Schwestern hatten eine vogelartige Vorliebe für das Picken von Aniskörnern und Zucker –, und Miss Lavinia sah mit wohlwollender Gunst auf uns, als ob alles ihr Werk wäre.
Die sanfte Heiterkeit Agnes‘ gewann alle Herzen. Ihr ruhiges Interesse an allem, was Dora betraf, ihre Art mit Jip Bekanntschaft zu schließen, der es sofort freundlich aufnahm, ihr geschicktes Benehmen, als Dora sich schämte, sich auf ihren gewohnten Platz neben mich zu setzen, ihre bescheidne Anmut, mit der sie eine Menge schüchterner kleiner Vertrauensbeweise von Dora hervorlockte, schien unsern Kreis erst ganz vollkommen zu machen.
»Es freut mich so sehr«, sagte Dora nach dem Tee, »daß Sie mich gern haben. Ich hielt es nicht für möglich und brauche jetzt, wo Julia Mills fort ist, mehr als je eine Freundin.«
Miss Mills war nämlich abgesegelt, und Dora und ich waren an Bord eines großen Ostindienfahrers im Hafen von Gravesend gegangen, um Abschied zu nehmen. Wir hatten eingemachten Ingwer und Guava und andere Delikatessen dieser Art zum Frühstück genossen und Miss Mills, weinend auf einem Feldstuhl auf dem Quarterdeck sitzend, mit einem großen, neuen Tagebuch unter dem Arm, verlassen, in dem die bei der Betrachtung des Ozeans erwachenden Originalgedanken unter Schloß und Riegel gebracht werden sollten.
Agnes sagte, ich müßte sie wohl zu schwarz geschildert haben, aber Dora berichtigte dies sogleich.
»O nein«, sagte sie mit einem Blick auf mich und schüttelte ihre Locken. »Ich habe nichts als Lob über Sie gehört. Er hält so viel auf Sie, daß ich mich ordentlich vor Ihnen gefürchtet habe.«
»Meine Zuneigung ist aber kaum des Gewinnens wert«, sagte Agnes lächelnd.
»Aber bitte, schenken Sie sie mir«, sagte Dora in ihrer schmeichelnden Art, »wenn es sein kann.«
Wir scherzten über Doras Wunsch, noch mehr geliebt zu werden, und sie sagte, ich sei eine Gans und sie könne mich überhaupt nicht leiden, und der kurze Abend flog dahin auf Schwingen wie aus Sommerfäden.
Die Stunde rückte heran, wo die Kutsche uns abholen sollte. Ich stand allein vor dem Kamin, als Dora leise hereinschlich, um mir den gewohnten allerliebsten Abschiedskuß zu geben.
»Meinst du nicht, Doady, wenn ich sie schon länger zur Freundin gehabt hätte«, sagte sie, die hellen Augen noch heller glänzend und mit ihrer kleinen Hand an dem Knopfe meines Rockes spielend, »daß ich dann hätte gescheiter sein können?«
»Lieber Schatz, was für ein Unsinn!«
»Meinst du, es sei Unsinn«? fragte Dora, ohne mich anzusehen. »Weißt du das gewiß?«
»Natürlich.«
»Ich habe vergessen, wie nahe Agnes mit dir verwandt ist, du nichtsnutziger Junge«, fuhr Dora fort, immer noch mit dem Knopf beschäftigt.
»Sie ist keine Verwandte von mir, wir wurden nur zusammen erzogen wie Bruder und Schwester.«
»Ich möchte nur wissen, wieso du dich eigentlich dann in mich verliebt hast«, sagte Dora und fing mit einem andern Knopfe an.
»Vielleicht weil ich dich nicht sehen konnte, ohne dich zu lieben, Dora.«
»Aber wenn du mich nun gar nicht gesehen hättest«, sagte Dora und nahm wieder einen andern Knopf.
»Aber wenn wir nun gar nicht geboren worden wären?« sagte ich scherzend.
Ich hätte gerne gewußt, worüber sie nachdachte, während ich in stiller Bewunderung die kleine weiche Hand, die an den Knöpfen meines Rockes spielte, das lockige Haar, das an meiner Brust ruhte, und die Wimpern ihrer niedergeschlagenen Augen, die auf die spielenden Finger sahen, betrachtete. Endlich blickte sie auf und stellte sich auf die Zehen, um mich nachdenklicher als gewöhnlich zu küssen – einmal, zweimal, dreimal –, und verließ dann das Zimmer.
Fünf Minuten später traten alle zusammen wieder herein, und Doras ungewöhnliche Nachdenklichkeit war ganz verschwunden. Sie bestand lachend darauf, ehe die Kutsche kam, Jip alle seine Kunststücke vormachen zu lassen. Das beanspruchte einige Zeit; nicht wegen ihrer großen Anzahl, sondern wegen Jips Sträuben, und als wir die Kutsche kommen hörten, waren wir noch lange nicht fertig. Zärtlich nahmen die beiden jungen Damen voneinander Abschied. Dora sollte Agnes schreiben, doch dürfte Agnes es nicht übelnehmen, wenn die Briefe kindisch ausfielen, und sollte jedes Mal antworten. Dann nahmen sie zum zweiten Mal Abschied am Kutschenschlag und zum dritten Mal, als Dora trotz der Vorstellungen Miss Lavinias noch einmal herausgelaufen kam, um Agnes am Kutschenfenster an das Schreiben zu erinnern und gegen mich auf dem Dach die Locken zu schütteln.
Der Wagen sollte uns in der Nähe von Covent Garden absetzen, von wo wir einen andern Weg nach Highgate nehmen wollten.
Ich sehnte mich schon danach, Doras Lob aus Agnes‘ Munde zu hören. Und, o, wie dieses Lob ausfiel! Wie liebreich und innig empfahl sie das anmutige Wesen meiner zärtlichsten Fürsorge. Wie gedankenvoll prägte sie mir mit ihrer ungekünstelten Anspruchslosigkeit ein, wie sehr ich für das verwaiste Kind zu sorgen habe.
Niemals liebte ich Dora so tief und wahr wie an jenem Abend. Als wir ausstiegen und in der sternenhellen Nacht nach dem Hause des Doktors gingen, sagte ich Agnes, daß alles ihr Werk sei.
»Du bist nicht weniger ihr Schutzengel wie der meinige, Agnes!«
»Ein armer Engel«, antwortete sie, »aber treu.«
Der klare Ton ihrer Stimme ging mir so zu Herzen, daß ich fragen mußte:
»Die heitere Ruhe, die dir so eigen ist, Agnes, wie niemand anders, den ich kenne, ist soweit wiederhergestellt, wie ich sehe, daß ich hoffen kann, du bist glücklicher zu Haus?«
»Ich bin innerlich glücklicher«, sagte sie und war ganz heiter und guten Mutes.
»Es ist keine Veränderung zu Hause eingetreten«, fügte sie nach einer Pause hinzu.
»Keine neue Anspielung auf – ich möchte dich nicht verletzen, Agnes, aber ich muß doch fragen – auf das, wovon wir bei unserm letzten Abschied sprachen?«
»Nein, keine!«
»Ich habe sehr viel darüber nachgedacht.«
»Du mußt nicht soviel daran denken. Vergiß nicht, daß ich mein Vertrauen auf schlichte Liebe und Wahrheit setze.«
»Fürchte nichts um mich, Trotwood«, setzte sie nach einer Pause hinzu, »was du befürchtest, werde ich nie tun.«
Obgleich ich es bei kalter Überlegung niemals für möglich gehalten hatte, so war es doch eine unaussprechliche Beruhigung für mich, die Versicherung von ihren eignen Lippen zu hören. Ich sagte ihr das.
»Und wenn dieser Besuch vorbei ist, denn wir sind jetzt vielleicht zum letzten Mal allein beisammen, wann wirst du dann wieder nach London kommen, liebe Agnes?«
»Wahrscheinlich auf lange nicht. Ich halte es für das beste, um Papas willen zu Hause zu bleiben. In der nächsten Zeit können wir uns wahrscheinlich nicht oft sehen, aber ich will fleißig an Dora schreiben, und auf diesem Wege werden wir viel voneinander hören.«
Wir standen jetzt in dem kleinen Hof vor dem Landhause des Doktors. Es war schon spät. Im Fenster von Mrs. Strongs Zimmer schien ein Licht, und Agnes deutete darauf hin und wünschte mir gute Nacht.
»Mache dir keine Sorgen«, sagte sie und gab mir ihre Hand, »über unser Unglück und über unsre Trübsal! Ich kann über nichts froher sein als über dein Glück. Wenn du mir einmal solltest helfen können, so verlaß dich drauf, daß ich dich darum bitten werde. Und Gottes Segen sei mit dir!«
Bei ihrem strahlenden Lächeln und den letzten Tönen ihrer lieben Stimme war es mir, als sähe und hörte ich wieder meine kleine Dora in ihrer Gesellschaft. Ich blieb eine Weile stehen, sah mit einem Herzen voll Liebe und Dankbarkeit zu den Sternen auf und ging dann langsam fort. Ich hatte ein Bett in einem säubern Wirtshaus in der Nähe bestellt und ging gerade zur Gartenpforte hinaus, als ich, mich zufällig umdrehend, Licht in des Doktors Studierzimmer wahrnahm. Der vorwurfsvolle Gedanke kam mir, daß er ohne meine Beihilfe an dem Wörterbuch arbeiten könnte. Um mich zu überzeugen und jedenfalls um ihm gute Nacht zu sagen, kehrte ich um, ging durch die Vorhalle, öffnete langsam die Tür und sah hinein.
Die erste Person, die ich zu meinem Erstaunen bei dem gedämpften Lichte der Studierlampe erblickte, war Uriah. Er stand dicht neben der Lampe auf den Tisch gestützt, seine andre Totenhand auf den Mund gelegt. Der Doktor saß in seinem Lehnstuhl und hatte das Gesicht mit den Händen bedeckt. Mr. Wickfield, in großer schmerzlicher Aufregung, beugte sich unentschlossen über ihn und schüttelte ihn am Arm.
Im ersten Augenblick glaubte ich, der Doktor sei krank. Hastig trat ich einen Schritt vor, als ich Uriahs Blick begegnete und begriff, was vorgegangen war. Ich wollte mich zurückziehen, aber der Doktor winkte mir und ich blieb.
»Jedenfalls könnten mir die Tür zumachen«, bemerkte Uriah, sich krümmend. »Mir brauchen es nicht der ganzen Stadt wissen zu lassen.«
Damit ging er auf den Zehen nach der Tür, die ich offengelassen hatte, und schloß sie sorgfältig ab. Dann kehrte er zurück und nahm seine frühere Stellung wieder ein.
Es lag ein aufdringliches Zurschautragen von mitleidigem Eifer in seiner Stimme und seinem Wesen, das mir noch unleidlicher war als sein früheres Benehmen.
»Ich hab es für meine Pflicht gehalten, Master Copperfield«, sagte er, »Dr. Strong auf das aufmerksam zu machen, was mir schon kürzlich zusammen besprochen haben. Sie schienen mich aber nicht recht zu verstehen.«
Ich warf ihm einen Blick zu, gab aber keine Antwort, trat dann zu meinem guten, alten Lehrer und sprach ein paar Worte des Trostes und der Ermutigung zu ihm. Er legte seine Hand auf meine Schulter, wie er es gewohnt gewesen, als ich noch ein kleiner Junge war, erhob aber sein graues Haupt nicht.
»Da Sie mich damals nicht verstanden, Master Copperfield«, fuhr Uriah in derselben zudringlichen Weise fort, »so derf ich mir wohl die Freiheit nehmen, untertänigst zu bemerken, da mir unter Freunden sind, daß ich Dr. Streng auf das Benehmen seiner Gattin aufmerksam gemacht habe. Es ging mir eigentlich sehr gegen den Strich, Copperfield, mich in so eine unangenehme Sache einzumengen, aber mir können es nun einmal nicht lassen und müssen uns immer in Dinge mischen, die was uns nichts angehen.«
Wenn ich an seinen höhnisch schielenden Blick zurückdenke, wundere ich mich jetzt noch, daß ich ihn nicht an der Gurgel packte und ihm den Atem aus dem Leibe schüttelte.
»Ich glaube wohl, ich drückte mich nicht ganz deutlich aus«, fuhr er fort. »Natürlich waren mir beide bestrebt, ein solches Thema möglichst zu vermeiden. Aber endlich hab ich mich doch entschlossen offen herauszureden, und Dr. Strong erzählt, daß … Haben Sie etwas gesagt, Sir?«
Das galt dem Doktor, der aufstöhnte. Der Schmerzenslaut hätte jedes Herz gerührt, aber auf Uriah brachte er keine Wirkung hervor.
»Ich sagte zu Dr. Strong«, fuhr er fort, »daß jeder sehen müßte, wie Mr. Maldon und die liebenswürdige und gewinnende Dame, was Mrs. Strong ist, zu zärtlich miteinander sind. Die Zeit ist jetzt wahrhaftig gekommen, wo es Dr. Strong gesagt werden muß. Es war doch jedermann klar wie die Sonne, ehe noch Mr. Maldon nach Indien ging, warum er Gründe suchte, wiederzukommen. Als Sie hier eintraten, Master Copperfield, schlug ich meinem Kompagnon grade vor, Dr. Strong auf Wort und Ehre zu sagen, ob er dieser Meinung nicht schon längst war. Kommen Sie, Mr. Wickfield, möchten Sie nicht so gut sein, das zu sagen. Ja oder nein, Sir? Kommen Sie, Kompagnon!«
»Um Gottes willen, lieber Doktor«, sagte Mr. Wickfield, »legen Sie nur nicht zuviel Gewicht auf den Verdacht, den ich vielleicht gehegt habe.«
»Da haben wirs«, rief Uriah. »Welch traurige Bestätigung, was? Er ? so ein alter Freund! Meiner Seel, als ich bloß ein Schreiber bei ihm war, Copperfield, hab ich es mindestens zwanzigmal gesehen, wie er ganz außer sich darüber war ? ganz außer sich, und wie natürlich, ist er doch selbst Vater und konnte er doch nicht zusehen, daß Miss Agnes in die Geschichte noch am Ende verwickelt wird.«
»Mein lieber Strong«, sagte Mr. Wickfield mit bebender Stimme, »mein guter Freund, ich brauche Ihnen nicht erst zu sagen, daß es mein Fehler war, immer und bei jedem nach versteckten Motiven zu suchen. Dieser Irrtum mag mir Veranlassung zu meinem Argwohn gegeben haben.«
»Sie haben geargwöhnt, Wickfield!« sagte der Doktor, ohne das Haupt zu erheben. »Sie haben geargwöhnt!«
»Raus mit der Sprache, Kompagnon«, drängte Uriah.
»Ja, damals habe ich geargwöhnt. Ich – Gott verzeih mir – glaubte, auch Sie hegten einen Argwohn.«
»Nein, nein, nein!« rief der Doktor in einem Ton ergreifendsten Schmerzes.
»Ich glaubte einmal, daß Sie Maldon nach Indien zu schicken wünschten, um eine Trennung herbeizuführen.«
»Nein, nein, nein! Ich wollte Ännie eine Freude machen, indem ich für ihren Jugendgespielen sorgte. Weiter nichts!«
»Das wurde mir später klar. Ich konnte nicht daran zweifeln, als Sie mir es sagten, aber ich glaubte, – ich bitte Sie, die Kurzsichtigkeit zu bedenken, die bei meinem engen Horizont mein Hauptfehler gewesen ist – daß in einem Falle, wo eine so große Verschiedenheit im Alter herrscht –«
»Sehen Sie, das ist die rechte Art, es auseinanderzusetzen, Master Copperfield«, fiel Uriah ein mit kriecherischem, grinsend zur Schau getragnem Mitleid.
»– eine Dame von so jugendlicher Schönheit bei aller aufrichtigen Achtung vor Ihnen sich bei einer Heirat weniger vom Gefühl als vom Verstände hätte bewegen lassen können. Die übrigen unzähligen Umstände und Empfindungen, die in die gegenteilige Waagschale hätten fallen müssen, zog ich leider nicht in Betracht. Um Himmels willen, bedenken Sie das!«
»Wie schonend er es auseinandersetzt«, hob Uriah hervor.
»Bei allem, was Ihnen teuer ist, alter Freund«, fuhr Mr. Wickfield fort, »bitte ich Sie das zu erwägen! Ich muß jetzt gestehen, da ich nicht anders kann –«
»Nein, Sie können nicht anders, Mr. Wickfield«, echote Uriah, »wenn es einmal soweit ist.«
»– daß ich ihr allerdings mißtraute und es mir manchmal, wie ich bekennen muß, unangenehm war, Agnes so vertraut mit ihr zu sehen. Ich habe nie mit jemand davon gesprochen und werde nie gegen irgend jemand darüber ein Wort fallenlassen. Es ist schrecklich für Sie, so etwas zu hören«, sagte Mr. Wickfield tief erschüttert, »aber wenn Sie erst wüßten, wie schrecklich es für mich ist, so etwas über die Lippen zu bringen, so würden Sie Mitleid mit mir haben.«
In der unerschöpflichen Güte seines Herzens streckte der Doktor seine Hand aus, und Mr. Wickfield hielt sie eine Weile mit gebeugtem Haupte fest.
»Gewiß ist das für jeden Menschen ein sehr unangenehmes Thema«, mischte sich Uriah ein, der sich während des Schweigens wie ein Aal wand, »aber da mir einmal soweit sind, muß ich mir die Freiheit nehmen zu erwähnen, daß es Copperfield auch gemerkt hat.«
Ich wandte mich zu ihm und fragte ihn, wie er es wagen könnte, sich auf mich zu beziehen.
»O, es ist sehr schön von Ihnen, Copperfield«, entgegnete Uriah, »und mir wissen alle, was für ein liebenswürdiger Charakter Sie sind Aber Sie müssen doch zugeben, daß Sie in dem Augenblick, wo ich neulich abends mit Ihnen davon sprach, gut verstanden, was ich meinte, Copperfield! Sie können es nicht leugnen. Wenn Sie es leugnen, geschieht es gewiß mit der besten Absicht. Aber tun Sie es nicht, Copperfield!«
Das sanfte, milde Auge des Doktors ruhte einen Augenblick auf mir, und ich fühlte, daß das Geständnis meiner alten bösen Ahnungen klar auf meinem Gesicht geschrieben stand. Leugnen half nichts. Ich konnte nichts mehr ändern. Mochte ich sagen, was ich wollte, ich konnte mich nicht verstellen.
Wir verstummten und sprachen kein Wort mehr. Der Doktor stand auf und ging ein paarmal im Zimmer auf und ab. Dann lehnte er sich an den Rücken seines Stuhls und sprach, von Zeit zu Zeit das Taschentuch an die Augen drückend, mit einer schlichten Offenheit, die ihm mehr Ehre machte, als wenn er seinen Schmerz verheimlicht hätte:
»Ich bin schwer zu tadeln. Ich glaube, ich bin sehr schwer zu tadeln. Ich habe ein Wesen, dessen Bild ich voll Liebe im Herzen bewahre, Versuchungen und Verleumdungen ausgesetzt – denn ich nenne sie Verleumdungen, und selbst wenn sie in dem innersten Denken des Betreffenden geblieben sind –, deren Zielscheibe dieses Wesen ohne mich nie hätte werden können.«
Uriah Heep ließ eine Art Näseln hören.
»… Deren Zielscheibe meine Ännie ohne mich«, fuhr der Doktor fort, »nie hätte werden können. Meine Herren, ich bin jetzt alt, das wissen Sie; ich wüßte heute abend nicht, was mir das Leben noch teurer machen sollte. Aber mein Leben für die Treue und Ehrenhaftigkeit der Dame, die der Gegenstand dieses Gesprächs gewesen ist!«
Ich glaube nicht, daß die edelste Verkörperung von Ritterlichkeit, die Verwirklichung der schönsten und romantischsten Gestalt, die je ein Dichter geschaffen hat, dies in ergreifendere und rührendere Worte hätte fassen können, als der schlichte, alte Doktor es tat.
»Ich fühle mich nicht imstande zu leugnen«, fuhr er fort, »und habe nur nie viel darüber nachgedacht, daß ich diese Dame, ganz unwissentlich, vielleicht zu einer unglücklichen Ehe verleitet habe. Ich bin des Beobachtens gänzlich ungewohnt und muß daher glauben, daß in diesem Punkte die Augen anderer Leute schärfer sahen als die meinigen.«
Ich hatte schon oft des Doktors gütige Art seiner jungen Frau gegenüber bewundert, aber die Hochachtung und Zärtlichkeit, mit der er jetzt von ihr sprach, und die ehrerbietige Weise, mit der er auch den leisesten Zweifel an ihrer Schuldlosigkeit abwies, erhoben ihn in meinen Augen über alle Beschreibung.
»Ich heiratete diese Dame, als sie noch sehr jung war«, fuhr er fort. »Ich nahm sie zur Frau, als ihr Charakter sich kaum gebildet hatte. Soweit er entwickelt war, hatte ich das Glück gehabt, ihn zu formen. Ich kannte ihren Vater gut. Ich kannte sie gut. Ich hatte ihr alles gelehrt, was ich konnte, um ihrer schönen und vortrefflichen Eigenschaften willen. Wenn ich ihr ein Unrecht zugefügt habe – und ich fürchte, es ist der Fall gewesen, indem ich, ohne es zu wissen, ihre Dankbarkeit und freundschaftliche Zuneigung ausnützte –, so bitte ich sie jetzt in meinem Herzen um Verzeihung.«
Er ging im Zimmer einmal auf und nieder und faßte dann den Stuhl wieder mit einer Hand, die wie seine niedergehaltene Stimme vor tiefer Bewegung zitterte.
»Ich betrachtete mich als eine Zuflucht für sie vor den Gefahren und Wechselfällen des Lebens, redete mir die Hoffnung ein, daß sie bei aller Ungleichheit an Jahren ruhig und zufrieden mit mir leben würde. Ich ließ die Zeit, wo sie immer noch jung und schön, aber mit gereifterem Urteil wieder frei sein würde, nicht unerwogen. Nein, meine Herren, bei meiner Ehre!«
Seine schlichte Gestalt schien fast zu strahlen von Treue und Hochherzigkeit, und in jedem seiner Worte lag eine tiefe Kraft.
»Ich habe sehr glücklich mit dieser Dame gelebt. Bis heute abend habe ich ununterbrochen Veranlassung gehabt, den Tag zu segnen, an dem ich ihr, wie ich jetzt sehe, so großes Unrecht zufügte.«
Seine Stimme, die während der letzten Worte immer mehr und mehr gezittert hatte, versagte für einige Augenblicke; dann fuhr er fort:
»Einmal aus meinem Traum erwacht – ich bin mein ganzes Leben lang in jeder Hinsicht ein armer Träumer gewesen –, sehe ich jetzt ein, wie natürlich es ist, daß sie nicht ohne Schmerz an ihren alten Gespielen und Altersgenossen denken kann. Daß sie mit einem Bedauern, aber einem schuldlosen, und mit untadeligen Gedanken auf das, was ohne mich hätte werden können, zurücksieht, ist, fürchte ich, nur zu wahr. Manches, was ich wohl bemerkt, aber nicht beachtet habe, ist mir in dieser letzten Prüfungsstunde mit neuer Bedeutung klargeworden. Aber darüber hinaus, meine Herren, darf der Name dieser Dame mit keinem Wort, keinem Hauch eines Zweifels befleckt werden.«
Einen Augenblick flammte sein Auge und seine Stimme war fest. Dann schwieg er wieder eine Weile und fuhr endlich fort:
»Es bleibt mir nur noch übrig, die Erkenntnis des Unglücks, das ich verschuldet habe, so ergeben wie ich kann zu tragen. Sie sollte mir Vorwürfe machen, nicht ich ihr. Sie vor Mißdeutungen, die selbst meine Freunde nicht haben vermeiden können, zu schützen, ist jetzt meine Pflicht. Ich werde sie um so besser erfüllen, je zurückgezogener wir leben. Und wenn die Zeit kommt – möge sie bald kommen – wenn es Seine Barmherzigkeit beschließt –, wo mein Tod sie frei macht, so werden meine brechenden Augen mit unbegrenztem Vertrauen und unwandelbarer Liebe auf ihrem treuen Antlitz ruhen, und sie wird dann ohne Kummer glücklichere und schönere Tage erleben.«
Ich konnte meinen alten Lehrer nicht sehen vor den Tränen, die sein tiefer Ernst und seine Güte und die Schlichtheit seines ganzen Wesens mir in die Augen trieben. Er stand an der Tür, als er hinzusetzte:
»Meine Herren, ich habe Sie in mein Herz blicken lassen. Ich bin überzeugt, Sie werden meinen Schmerz respektieren. Was heute abend gesprochen wurde, muß zwischen uns begraben sein. Wickfield, geben Sie einem alten Freunde den Arm und führen Sie mich hinauf!«
Mr. Wickfield eilte zu ihm. Ohne ein Wort zu wechseln, verließen beide langsam das Zimmer, und Uriah sah ihnen nach.
»Ach Master Copperfield«, sagte er und wendete sich ein wenig bestürzt an mich, »die Sache hat nicht ganz die Wendung genommen, die man hätte erwarten können, denn der alte Gelehrte – so ein vortrefflicher Mann er ist – ist blinder als ein Maulwurf. Aber seine Familie ist wohl, dächte ich, aus dem Wagen draußen.«
Schon der Ton seiner Stimme versetzte mich in eine unbeschreibliche Wut.
»Sie Schuft, Sie!« sagte ich. »Was bezwecken Sie damit, daß Sie mich in Ihre Pläne verwickeln? Wie können Sie sich unterstehen sich auf mich zu berufen, Sie falsche Kanaille, als wenn wir die Sache zusammen besprochen hätten!«
Als wir Auge in Auge einander gegenüberstanden, sah ich nur zu deutlich an seiner Schadenfreude, daß er mir sein Vertrauen aufgedrängt hatte in der Absicht mich zu kränken und mir überhaupt eine Falle zu stellen. Ich konnte es nicht mehr aushalten. Seine lange hagere Wange lag so einladend vor mir, daß ich zuschlug, und mit solcher Kraft, daß mir die Finger brannten.
Er faßte meine Hand, und wir standen so einander gegenüber und sahen uns an. Wir blieben eine lange Weile so, lange genug, daß ich sehen konnte, wie die weißen Zeichen meiner Finger aus dem tiefen Rot seiner Wange verschwanden und ein noch tieferes Rot hinterließen.
»Copperfield«, sagte er endlich mit atemloser Stimme, »haben Sie den Verstand verloren?«
»Lassen Sie mich«, sagte ich und entrang ihm meine Hand. »Sie Hund! Ich will nichts mehr von Ihnen wissen!«
»Wirklich nicht?« sagte er, von den Schmerzen in der Wange gezwungen, die Hand darauf zu legen. »Vielleicht können Sie doch nicht anders. Das war nicht recht von Ihnen.«
»Ich habe Ihnen oft genug gezeigt, wie ich Sie verabscheue. Ich habe es Ihnen jetzt noch deutlicher gezeigt. Warum sollte ich Sie fürchten, da Sie allen, in deren Nähe Sie kommen, sowieso schon das Schlimmste zufügen.«
Er verstand vollkommen die Anspielung auf die Rücksicht, die mich bisher in Schranken gehalten hatte.
Eine zweite lange Pause folgte. Seine Augen schienen jede Färbung anzunehmen, die überhaupt Augen häßlich machen kann.
»Copperfield«, sagte er und nahm die Hand von der Wange, »Sie sind immer gegen mich gewesen. Ich weiß, bei Mr. Wickfield waren Sie immer gegen mich.«
»Denken Sie sich, was Sie wollen«, sagte ich immer noch in größter Wut, »und wenn es zufällig nicht wahr ist, so ist das nicht Ihr Verdienst.«
»Und doch hab ich Sie immer gern gehabt, Copperfield!«
Ich würdigte ihn keiner Antwort, nahm meinen Hut und wollte fortgehen, aber er stellte sich zwischen mich und die Türe.
»Copperfield«, sagte er, »es gehören zwei Leute zu einem Zank. Ich will nicht dabeisein!«
»Sie können zum Teufel gehen!«
»Sagen Sie das nicht«, erwiderte er. »Ich weiß, es wird Ihnen später leid tun. Wie können Sie sich so unter mich erniedrigen, indem Sie sich so hinreißen lassen? Aber ich verzeihe Ihnen.«
»Sie mir verzeihen!« erwiderte ich voll Verachtung.
»Ich tue es aber, und Sie können sich dagegen nicht wehren. So etwas! Über mich herzufallen, der ich immer Ihr Freund gewesen bin! Aber zu einem Zanke gehören zwei Leute, und ich will nicht dabeisein. Ich will Ihr Freund bleiben! Ihnen zum Trotz!«
Die Notwendigkeit, das Gespräch wegen der späten Stunde sehr leise zu führen, trug nichts zur Verbesserung meiner Stimmung bei, obgleich sich meine Leidenschaftlichkeit abkühlte. Ich verließ das Haus. Aber Uriah schlief ebenfalls außer Hause, und ehe ich einige hundert Schritt weit weg war, holte er mich ein.
»Sie spüren ganz gut, Copperfield«, sagte er an meiner Seite, denn ich wendete ihm mein Gesicht nicht zu, »daß Sie in eine schiefe Stellung geraten sind!«
Ich fühlte die Wahrheit seiner Worte genau und geriet nur noch mehr in Zorn.
»Sie können die Sache zu keiner Heldentat machen und mir nicht verwehren, daß ich Ihnen verzeihe. Ich werde es weder gegen Mutter noch gegen sonst jemand erwähnen. Ich bin fest entschlossen Ihnen zu verzeihen! Ich muß mich nur wundern, daß Sie Ihre Hand gegen eine so demütige Person, wie ich bin, aufgehoben haben.«
Ich kam mir ordentlich gemein vor. Er kannte mich besser als ich mich selbst. Wenn er zurückgeschlagen hätte oder heftig geworden wäre, es wäre mir ein Genuß und eine Rechtfertigung gewesen; aber er legte mich auf ein langsames Feuer, auf dem ich mich die halbe Nacht herumquälte.
Als ich am nächsten Morgen ausging, läutete die Frühglocke, und er ging mit seiner Mutter auf und ab. Er redete mich an, als ob nichts vorgefallen wäre, und ich konnte einer Antwort nicht ausweichen. Ich hatte ihn so stark geschlagen, daß er offenbar Zahnweh hatte. Jedenfalls war sein Gesicht mit einem schwarzen Seidentuch verbunden, was ihn keineswegs verschönte.
Ich hörte, daß er sich am Montag morgens in London einen Zahn reißen ließ. Hoffentlich war es ein doppelter.
Dr. Strong gab vor, nicht ganz wohl zu sein, und blieb während der ganzen Zeit des Besuchs den größten Teil des Tages über allein.
Agnes und ihr Vater waren schon eine Woche fort, ehe wir unsere gewöhnlichen Arbeiten wiederaufnahmen. Am Tag vor ihrer Abreise übergab mir der Doktor einen verschlossenen Brief. Er bat mich darin mit eindringlichen und liebevollen Worten, niemals auf den Vorfall jenes Abends zurückzukommen. Ich hatte bereits meiner Tante davon erzählt, aber sonst niemand. Es war kein Thema, das ich mit Agnes hätte besprechen können, und sie ahnte sicherlich nicht das geringste von dem Vorfall.
Auch Mrs. Strong nicht, wie ich überzeugt bin.
Wochen vergingen, bevor ich die mindeste Veränderung an ihr bemerkte. Aber sie kam langsam wie eine Wolke bei Windstille. Anfangs schien sie sich über das zärtliche Mitleid zu wundern, mit dem der Doktor zu ihr sprach, und über seinen Wunsch, sie möge ihre Mutter zu sich nehmen, um einige Abwechslung in ihr eintöniges Leben zu bringen. Oft, während wir arbeiteten und sie bei uns saß, bemerkte ich, wie sie ihre Arbeit hinlegte und ihn wieder mit dem merkwürdigen Gesichtsausdruck von damals ansah. Manchmal verließ sie, die Augen voll Tränen, das Zimmer. Allmählich verbreitete sich ein Schatten von Trauer über ihre Schönheit, der Tag für Tag tiefer wurde. Mrs. Markleham war jetzt in das Landhaus gezogen, aber sie schwatzte und schwatzte und sah nichts.
Als diese Veränderung über Ännie, die früher im Hause der Sonnenschein gewesen war, kam; wurde auch der Doktor in seinem Äußern gebeugter und ernster. Aber die ruhige Herzlichkeit seines Wesens und seine wohlwollend schonende Art, mit der er seine Gattin behandelte, schien womöglich noch zuzunehmen. Einmal, ganz früh am Morgen ihres Geburtstags, als sie sich an das Fenster setzte, faßte er ihren Kopf mit beiden Händen, küßte sie auf die Stirn und verließ eilig das Zimmer, zu gerührt, um zu bleiben. Sie stand da wie eine Bildsäule, dann senkte sie das Haupt, schlug die Hände zusammen und weinte vor unsäglichem Schmerz.
Nach diesem Vorfall kam es mir zuweilen vor, als wollte sie mich anreden, wenn wir allein waren. Aber sie brachte nie ein Wort heraus. Der Doktor machte immer nur Vorschläge, sie möge sich mit ihrer Mutter außer Haus Zerstreuung verschaffen, und Mrs. Markleham, der das sehr paßte, strömte vor Lob über. Aber Ännie ging stets ganz teilnahmslos mit und schien an nichts Freude zu finden.
Ich wußte nicht, was ich mir denken sollte. Ebensowenig meine Tante, die in ihrer Ungewißheit wohl schon hundert Meilen abmarschiert haben mußte. Das Seltsamste aber war, daß der einzig wirkliche Troststrahl, der in das Geheimnis dieses häuslichen Unglücks fiel, von Mr. Dick ausging.
Welche Gedanken er sich über die Sache machte oder wie viel er davon in Erfahrung gebracht, weiß ich nicht. Aber seine Verehrung für den Doktor war von jeher grenzenlos gewesen, und wahre Zuneigung, selbst wenn sie von einem Tiere dem Menschen gegenüber ausgeht, besitzt eine Feinheit der Beobachtung, hinter der der schärfste Verstand zurückbleibt. In diesen Herzenssinn, wenn ich es so nennen darf, fielen bei Mr. Dick einige helle Strahlen der Wahrheit.
Mit Stolz hatte er wieder von seinem alten Vorrecht, in seinen freien Stunden mit dem Doktor im Garten auf- und abzugehen wie damals in Canterbury, Gebrauch gemacht. Aber kaum war die Krisis eingetreten, widmete er seine ganze freie Zeit vom frühesten Morgen an diesen Spaziergängen. Er hatte immer schon vor Freude gestrahlt, wenn ihm der Doktor aus seinem wunderbaren Werke, dem Wörterbuch, vorlas, jetzt aber war er schwer unglücklich, wenn es nicht geschah. Während der Doktor und ich miteinander arbeiteten, hatte er sich jetzt mit Mrs. Strong auf- und abzugehen und ihr bei der Pflege ihrer Lieblingsblumen oder beim Jäten der Beete zu helfen angewöhnt. Er sprach wohl kaum ein Dutzend Worte in der Stunde. Aber seine stille Teilnahme und sein aufmerksames Gesicht fanden Widerhall im Herzen beider. Und so wurde er ein Bindeglied, ein einigendes Band zwischen ihnen, was niemand sonst hätte werden können.
Wenn ich daran denke, wie er mit unsäglich weisem Gesicht neben dem Doktor herschritt, entzückt, mit den schweren Worten des Wörterbuchs beschossen zu werden, hinter Ännie große Gießkannen hertrug, auf den Beeten niederkniete und geduldig mit wahren Tatzen von Handschuhen seine Arbeit unter den kleinen Blättern verrichtete und in allem, was er tat, ein zartes Bestreben an den Tag legte, Mrs. Strongs Freund zu sein, – wie er niemals in seinem Dienste erlahmte, niemals den unglücklichen König Karl mit in den Garten brachte –, immer begreifend, daß etwas nicht in Ordnung sei und wiedergutgemacht werden müßte, – so schäme ich mich fast, ihn für nicht geistig normal gehalten zu haben, wenn ich daran denke, wie wenig ich mit meinem Verstände ausgerichtet habe.
»Niemand als ich kennt diesen Mann, Trot«, sagte meine Tante voll Stolz, wenn wir darüber sprachen. »Dick wird sich noch auszeichnen.«
Ehe ich dieses Kapitel schließe, muß ich noch von einem andern Vorfall sprechen. Während der Besuch noch bei Dr. Strong war, bemerkte ich, daß der Postbote jeden Morgen Uriah Heep, der die ganze Zeit über in Highgate geblieben war, zwei oder drei Briefe brachte. Sie waren von Mr. Micawber, der sich jetzt eine ausgeschriebene Kanzlistenhandschrift angewöhnt hatte, adressiert. Ich nahm aus diesen kleinen Zeichen an, daß Mr. Micawber sich wohl befinde, und war um so mehr erstaunt, als ich folgenden Brief von seiner liebenswürdigen Gattin empfing.
Canterbury, Montag abends.
Sie werden sich wahrscheinlich wundern, lieber Mr. Copperfield, einen Brief von mir zu erhalten. Noch mehr werden Sie über seinen Inhalt erstaunt sein. Und mehr noch darüber, daß ich Ihnen unbedingtes Schweigen abverlange. Aber meine Gefühle als Gattin und Mutter bedürfen der Erleichterung, und da ich meine Familie nicht zu Rate ziehen kann, habe ich niemand, den ich darum bitten könnte, als meinen Freund und früheren Mieter.
Sie wissen, lieber Mr. Copperfield, daß zwischen mir und Mr. Micawber, den ich nie verlassen werde, immer gegenseitiges Vertrauen geherrscht hat. Mr. Micawber hat vielleicht manchmal einen Wechsel ausgestellt, ohne mich zu Rate zu ziehen, oder mich hinsichtlich der Verfallzeit getäuscht. Aber im großen ganzen hat er vor dem Altar der Liebe – ich meine damit seine Gattin – keine Geheimnisse gehabt und hat regelmäßig beim Zubettgehen die Ereignisse des Tages mit mir besprochen.
Sie können sich nun denken, lieber Mr. Copperfield, wie tief mein Schmerz sein muß, wenn ich Ihnen anvertraue, daß Mr. Micawber sich ganz und gar verändert hat. Er ist zurückhaltend. Er ist geheimnisvoll. Sein Leben ist ein Rätsel für die Gefährtin seiner Freuden und seines Kummers – ich meine wieder seine Gattin –, und wenn ich Ihnen sage, daß ich so wenig von ihm weiß – außer daß er sich vom Morgen bis zum späten Abend in der Kanzlei befindet –, so wenig von ihm weiß wie von dem Mann im Märchen vom kalten Pflaumenpudding, so deute ich die wirkliche Tatsache nur entfernt an.
Aber das ist noch nicht alles. Mr. Micawber ist mürrisch. Er ist streng. Er ist seinem ältesten Sohn und seiner Tochter entfremdet. Er sieht in seinen Zwillingen nicht mehr den Stolz der Familie, selbst den unschuldigen Neuling, der als letztes Mitglied in unsern Kreis getreten ist, blickt er mit gleichgültigem Auge an. Selbst die allernötigsten pekuniären Mittel zur Bestreitung unserer Ausgaben sind von ihm nur mit größter Schwierigkeit zu erlangen, und unerbittlich verweigert er jede Aufklärung über seine uns zur Verzweiflung bringende Politik des Schweigens.
Es ist kaum zu ertragen! Es ist herzzerbrechend! Wenn Sie in Anbetracht meiner schwachen Kräfte mir einen Rat geben wollen, was am besten in einem so ungewöhnlichen Dilemma zu tun ist, so würden Sie zu den vielen Freundschaftsbeweisen, die Sie mir schon erbrachten, noch einen neuen hinzufügen. Mit einem herzlichen Gruß von den Kindern und einem Freundeslächeln von dem zum Glück noch nichtsahnenden Neuling
verbleibe ich, lieber Mr. Copperfield, Ihre tiefbetrübte
Emma Micawber.
Ich fühlte mich nicht berechtigt, einer Frau wie Mrs. Micawber einen andern Rat zu geben als den, sie möge versuchen, ihren Gatten durch Geduld und Freundlichkeit wiederzugewinnen. Jedenfalls aber mußte ich über den Brief lange und oft nachdenken.