27. Kapitel Tommy Traddles

Am nächsten Tag kam mir der Einfall, Traddles zu besuchen. Die Zeit seiner Abwesenheit mußte um sein, und er wohnte in einer kleinen Straße nicht weit von der Tierarzneischule in Camdentown, einer Gegend, die, wie mir einer unserer Schreiber sagte, meistens von wohlhabendem Studenten bewohnt würde, die lebende Esel kauften, um in ihren Privaträumen Experimente an ihnen zu machen.

Die Straße erschien mir nicht so anheimelnd, wie ich es Traddles wegen gewünscht hätte. Die Bewohner schienen eine besondere Neigung zu haben, unbrauchbare Kleinigkeiten auf die Straße zu werfen, was keineswegs zur Reinlichkeit beitrug. Ich bemerkte nicht nur Kohlblätter und ähnliche Abfälle, sondern sah mit eignen Augen einen Schuh, eine verbogene Blechpfanne, einen schwarzen Hut und einen Regenschirm in verschiedenen Stadien der Zersetzung, während ich mich nach Traddles Hausnummer umsah.

Der Eindruck des Ortes erinnerte mich lebhaft an die Tage bei Mr. und Mrs. Micawber. Das von mir aufgesuchte Haus trug einen unbeschreiblichen Charakter schäbiger Eleganz, wodurch es von den andern Häusern der Straße abstach, obwohl sie alle, nach einem einförmigen Muster gebaut, wie kindische Kopien eines Häuserbauen spielenden Knaben aussahen, und erinnerte mich noch mehr an Mr. und Mrs. Micawber.

Ich erreichte soeben die Tür, als ein Milchmann heraustrat und etwas rief, das mich noch mehr an Mr. und Mrs. Micawber erinnerte.

»Na, was ist also«, äußerte er zu einem sehr jungen Dienstmädchen, »mit meiner kleinen Rechnung?«

»O, der Herr sagt, er werde sie demnächst begleichen.«

»Die Rechnung läuft schon sehr lange«, – die Worte schienen für jemand im Hause bestimmt zu sein und nicht für das Mädchen, weil der Mann gar so grimmig den Gang hinabsah. »Die Rechnung läuft schon so lange und läßt nichts mehr von sich hören, daß sie, mir scheint, schon ganz fortgelaufen ist. Ich lasse mir das nicht gefallen, verstanden«, schrie der Milchmann in den Gang hinein.

Das Äußere des Mannes paßte durchaus nicht für einen Händler mit einem so milden Artikel. Es hätte eher für einen Fleischer oder einen Branntweinhändler gepaßt.

Die Stimme des Dienstmädchens wurde ganz unhörbar. Nach der Bewegung ihrer Lippen zu schließen, schien sie noch einmal zu wiederholen, daß der Herr sie demnächst in Ordnung bringen werde.

»Ich will dir was sagen«, fuhr der Milchmann fort und sah sie zum ersten Mal scharf an und griff ihr unter das Kinn. »Trinkst du gern Milch?«

»Ja, recht gern.«

»Gut, dann kriegst du morgen keine, verstanden? Nicht einen Tropfen Milch kriegst du morgen.«

Das Mädchen schien mir einigermaßen durch die Aussicht, wenigstens heute welche zu bekommen, getröstet. Nachdem der Milchmann, mit einem finstern Blick auf sie, den Kopf geschüttelt, ließ er ihr Kinn los, öffnete unwillig seinen Krug und goß das übliche Maß in die Familienkanne. Darauf entfernte er sich brummend und rief seine Milch mit rachsüchtigem Gekreisch weiter in der Straße aus.

»Wohnt Mr. Traddles hier?« fragte ich.

Eine geheimnisvolle Stimme im Hintergrunde rief »Ja«, worauf auch das junge Mädchen »Ja« antwortete.

»Ist er zu Hause?«

Wieder antwortete die geheimnisvolle Stimme bejahend, und das Mädchen machte das Echo.

Daraufhin ging ich auf die Weisung der Kleinen die Treppe hinauf, nicht ohne beim Vorbeigehen an dem Zimmer im Hintergrund ein geheimnisvolles Auge, das wahrscheinlich zu der geheimnisvollen Stimme gehörte, wachsam auf mich gerichtet zu sehen.

Als ich oben an der Treppe ankam – das Haus war nur ein Stock hoch –, stand Traddles bereits zu meinem Empfang bereit. Er freute sich sehr, mich zu sehen, und führte mich mit herzlichem Willkommengruß in sein kleines Zimmer. Es ging vorne hinaus und war sehr nett, wenn auch nur spärlich möbliert. Er bewohnte kein Zimmer sonst, wie ich bemerkte, denn ich sah ein Schlafsofa und seine Schuhbürsten und Wichse neben den Büchern auf einem Regal unter einem Wörterbuch. Der Tisch war mit Papieren bedeckt, und Traddles schien in seinem alten Rock emsig gearbeitet zu haben. Ich bemerkte alles, ohne mich besonders umsehen zu müssen. Auf seinem porzellanenen Tintenfaß befand sich das Bild einer Kirche, was mich wieder lebhaft an die alten Micawberzeiten erinnerte. Verschiedne sinnreiche Einrichtungen, um die Kommode, den Stiefelvorrat und dergleichen zu verbergen, sahen so recht demselben Traddles ähnlich, der aus Schreibpapier Elefantenkäfige machte, um dann Fliegen hineinzusperren, und der für die erlittenen Mißhandlungen sich mit dem Entwurf von Gerippen tröstete. In einer Ecke des Zimmers lag etwas, sauber mit einem großen, weißen Tuch zugedeckt. Ich konnte nicht herausbekommen, was es sein mochte.

»Traddles«, sagte ich, schüttelte ihm wieder die Hand und setzte mich, »ich bin so erfreut dich wiederzusehen –«

»Ganz meinerseits, Copperfield. Eben weil ich mich so außerordentlich freute, dich zu sehen, gab ich dir diese Adresse anstatt die meines Bureaus.«

»Du hast auch ein Bureau?«

»Ja, ich habe ein Viertel Zimmer, ein Viertel Gang und das Viertel von einem Schreiber. Ich und drei andere haben zusammengeschossen, um ein Bureau zu mieten, – damit es geschäftsmäßiger aussieht – und wir bestreiten auch den Schreiber zu viert. Mich kostet er eine halbe Krone wöchentlich.«

Sein alter einfacher Charakter, seine Gutmütigkeit und ein bißchen von seinem alten Pech glänzten aus dem Lächeln, mit dem er mir diese Erklärung gab.

»Es ist nicht etwa Stolz, Copperfield, weißt du, daß ich gewöhnlich diese Adresse hier nicht verrate. Es geschieht bloß der Leute wegen, die mich besuchen und vielleicht nicht gern hierhergingen. Was mich betrifft, muß ich mich in der Welt durch mancherlei Hindernisse durchkämpfen, und es wäre lächerlich, wenn ich anders erscheinen wollte, als ich bin.«

»Du bereitest dich auf die Advokatur vor, erzählte mir Mr. Waterbrook.«

»Freilich, ja«, sagte Traddles und rieb sich langsam die Hände. »Ich bereite mich auf die Advokatur vor. Tatsächlich habe ich erst jetzt nach recht langer Verzögerung meinen Dienst angetreten. Es ist schon einige Zeit her, daß ich eingeschrieben wurde, aber die Bezahlung der hundert Pfund gab einen großen Ruck. Einen großen Ruck«, wiederholte er mit einem Zucken, als ob ihm ein Zahn ausgerissen würde.

»Weißt du, woran ich fortwährend denken muß, Traddles, wenn ich dich so vor mir sitzen sehe?«

»Nein.«

»An den himmelblauen Anzug, den du immer trugst.«

»Ach Gott, ja, richtig!« rief Traddles lachend, »zu eng an den Armen und Beinen, nicht wahr? Ach, was waren das doch für glückliche Zeiten!«

»Unser Schulmeister hätte sie glücklicher machen können, ohne uns besonders zu schaden, sollte ich meinen«, entgegnete ich.

»Möglich«, gab Traddles zu, »aber lieber Gott, was hatten wir doch für Spaß dort! Erinnerst du dich an die Nächte im Schlafzimmer, wenn wir unsre Abendgesellschaften abhielten und du uns Geschichten erzähltest? Hahaha. Weißt du noch, wie ich durchgehauen wurde, als ich um Mr. Mell weinte. Der alte Creakle! Ich möchte ihn doch gern einmal wiedersehen.«

»Er benahm sich wie eine Bestie gegen dich, Traddles«, sagte ich unwillig, denn grade seine gute Laune erweckte in mir den alten Eindruck, als ob er eben erst durchgeprügelt worden wäre.

»So, meinst du? Wirklich? Vielleicht tat ers. Aber das ist jetzt schon lange Zeit her. Der alte Creakle!«

»Du wurdest damals von einem Onkel erzogen, nicht wahr?«

»Ja freilich. Von dem Onkel, an den ich immer schreiben wollte und niemals schrieb. Hahaha! Ja, ich hatte damals einen Onkel. Er starb bald, nachdem ich aus der Schule kam.«

»So?«

»Ja. Er hatte sich zur Ruhe gesetzt und war, sagen wir mal, Tuch- oder Kleiderhändler gewesen. Er hatte mich zu seinem Erben eingesetzt. Aber ich gefiel ihm nicht, als ich erwachsen war.«

»Ist das dein Ernst?« fragte ich. Er erzählte mir das so ruhig, daß ich dachte, ich hätte ihn nicht recht verstanden.

»Freilich ja, Copperfield. Es ist mein Ernst. Es war eine schlimme Sache, aber er konnte mich durchaus nicht leiden. Er sagte mir, ich entspräche seinen Erwartungen ganz und gar nicht und heiratete dann seine Haushälterin.

»Und was tatest du?«

»Ich tat nichts Besonderes. Ich lebte bei ihm und wartete, ob sie mich nicht irgendwo anbrächten, da schlug sich ihm unglücklicherweise die Gicht auf den Magen und er starb, und sie heiratete einen jungen Mann, und für mich blieb nichts übrig.«

»Bekamst du gar nichts, Traddles?«

»Ach, mein Gott! Ich bekam fünfzig Pfund. Ich war für keinen bestimmten Beruf erzogen, und eine Zeitlang wußte ich überhaupt nicht, was ich beginnen sollte. Endlich machte ich mit dem Beistand eines Advokatensohns, der auch in Salemhaus gewesen, – Yawler, mit der schiefen Nase, du erinnerst dich seiner gewiß, – einen Anfang.«

»Nein, zu meiner Zeit war er noch nicht dort. Damals haben sie alle grade Nasen gehabt.«

»Nun, das macht weiter nichts. Also mit seiner Hilfe lernte ich Akten abschreiben. Dabei schaute nicht viel heraus, und dann fing ich an, Referate aufzusetzen, Auszüge zu machen und ähnliche Arbeiten zu verrichten. Ich bin nämlich ein rechter Büffler, Copperfield, und habe gelernt, mich in solchen Sachen kurz fassen. Hernach kam mir der Gedanke, mich als Student der Rechte einschreiben zu lassen, und das fraß den Rest meiner fünfzig Pfund auf. Yawler empfahl mich unterdessen bei ein paar Kanzleien, zum Beispiel bei Mr. Waterbrook, und ich machte manches nette Geschäft. Außerdem schätze ich mich so glücklich, mit einem Buchhändler bekannt geworden zu sein, der eine Enzyklopädie herausgibt, und da bekam ich wieder Arbeit. Gerade jetzt bin ich für ihn tätig«, sagte er mit einem Blick auf den Tisch. »Ich bin kein schlechter Kompilator, Copperfield«, fuhr er mit einer gewissen heitern Zufriedenheit fort, »aber ich habe nicht die geringste Erfindungsgabe. Ich glaube, es hat noch nie einen jungen Mann von so wenig Originalität wie ich bin gegeben.«

Ich nickte, da Traddles meine Zustimmung zu erwarten schien, und er fuhr mit derselben bescheidenen Genügsamkeit fort: »So sparte ich mir denn nach und nach die hundert Pfund zusammen, Gott sei Dank, daß sie erlegt sind. Es gab einen förmlichen Ruck.« Wieder zuckte er, als ob ihm abermals ein Zahn ausgezogen würde. »Ich ernähre mich durch solche Arbeiten und hoffe immer, eines Tages mit irgendeiner Zeitung in Verbindung zu kommen, und dann wäre mein Glück gemacht! Du, Copperfield, bist ganz genau so wie früher mit deinem gemütlichen Gesicht, und ich freue mich so sehr, dich zu sehen, daß ich dir auch das letzte nicht verheimlichen will. Also höre: Ich bin verlobt.«

»Verlobt! (O Dora!)«

»Sie ist eine Pfarrerstochter, eine von zehn Schwestern unten in Devonshire. Jawohl! Jawohl«, bestätigte er, denn er sah mich unwillkürlich einen Blick auf das Tintenfaß werfen, »jawohl, das ist die Kirche. Man geht hier herum, links durch dieses Tor, und grade hier, wo ich die Feder hinhalte, steht das Haus mit den Fenstern nach der Kirche.«

Seine Freude, mit der er auf diese Einzelheiten einging, wurde mir erst einen Augenblick später ganz klar. Meine selbstsüchtigen Gedanken hatten nämlich gerade einen Grundriß von Mr. Spenlows Haus und Garten entworfen.

»Sie ist so ein liebes Mädchen«, sagte Traddles, »ein wenig älter als ich, aber ein gar so liebes Mädchen. Ich erzählte dir doch, ich würde verreisen. Ich war dort. Ich reiste hin und zurück zu Fuß und habe eine entzückende Zeit verlebt. Freilich wird es ein ziemlich langer Brautstand werden, aber wir sagen immer: warten und hoffen. Und, Copperfield, sie würde warten sechzig Jahre und noch länger –«

Er stand auf und legte mit triumphierendem Lächeln die Hand auf das weiße Tuch, das mir schon früher aufgefallen war.

»Wir haben für alle Fälle schon einen kleinen Anfang mit der Wirtschaft gemacht. Freilich geht es nur langsam vorwärts, aber angefangen haben wir.« Er zog sorgfältig und mit großem Stolz das Tuch weg. »Hier sind schon zwei Stücke für die Einrichtung. Diesen Blumentopf mit Untersetzer hat sie selbst gekauft. Das wird in das Wohnzimmerfenster gesetzt«, sagte Traddles und beugte sich ein wenig zurück, um das Stück mit desto mehr Bewunderung betrachten zu können, »mit einer Pflanze drin. Diesen kleinen runden Tisch mit der Marmorplatte, zwei Fuß zehn Zoll im Umfang, habe ich gekauft. Sagen wir, man will ein Buch hinlegen, oder es kommt jemand zu Besuch und will eine Teetasse aus der Hand setzen, und – und – dazu ist er eben sehr gut. Es ist ein wundervolles Stück Arbeit, fest wie ein Felsen.« Ich hob beide Stücke in den Himmel, und Traddles deckte sie wieder so sorgfältig zu, wie er sie enthüllt hatte.

»Es fehlt noch viel zu einem vollständigen Mobiliar, aber es ist ein Anfang. Die Tischtücher und Betten und die andern Sachen dieser Art machen mir am meisten Sorge, Copperfield. Ebenso die Eisensachen, die Lichterkasten, die Roste, weil diese Sachen gar so ins Geld gehn. Aber warten und hoffen. Ich versichere dir, sie ist ein so liebes Mädchen.«

»Davon bin ich überzeugt.«

»Mittlerweile«, sagte Traddles und setzte sich wieder auf seinen Stuhl, – »und damit will ich aufhören, von mir zu schwatzen, – schlage ich mich durch, so gut ich kann. Ich verdiene nicht viel, brauche aber auch nur wenig. Für gewöhnlich esse ich bei den Leuten unten, nette, angenehme Menschen. Beide, Mr. und Mrs. Micawber, haben viel erlebt und sind vortreffliche Gesellschafter.«

»Um Gottes willen, Traddles?« rief ich aus. »Was sagst du da?«

Traddles sah mich verständnislos an.

»Mr. und Mrs. Micawber? Aber die kenne ich auch ganz genau!«

Ein gewisses zweimaliges Klopfen an der Haustür, das ich aus alter Erfahrung von der Windsor-Terrasse her kannte und das nur von Mr. Micawber herrühren konnte, nahm mir jeden Zweifel. Ich bat Traddles, seinen Hauswirt doch heraufkommen zu lassen. Er rief sogleich über das Treppengeländer hinunter, und Mr. Micawber, nicht im geringsten verändert, – seine engen Beinkleider, sein Stock, sein Hemdkragen und seine Lorgnette, alles genau wie früher – trat mit vornehmen und jugendlichen Allüren in das Zimmer.

»Ich bitte um Verzeihung, Mr. Traddles«, sagte er mit dem gewohnten Rollen in der Stimme und unterbrach die Melodie, die er vor sich hingesungen hatte. »Ich wußte nicht, daß sich eine in Ihrer Behausung fremde Persönlichkeit hier im Allerheiligsten befindet.« Mr. Micawber machte mir eine leichte Verbeugung und zog den Hemdkragen in die Höhe.

»Wie geht es Ihnen, Mr. Micawber?« fragte ich.

»Sir«, antwortete Mr. Micawber. »Ich bin Ihnen außerordentlich verbunden. Ich befinde mich in statu quo

»Und Mrs. Micawber?«

»Sir, auch sie ist Gott sei Dank in statu quo

»Und die Kinder, Mr. Micawber?«

»Sir. Es gereicht mir zur Freude, Ihnen sagen zu können, daß auch sie sich der besten Gesundheit erfreuen.«

Bis dahin hatte mich Mr. Micawber noch nicht erkannt, trotzdem ich dicht vor ihm stand. Als er mich jetzt lächeln sah, betrachtete er mich genauer, trat zurück und rief: »Ist es möglich, habe ich das Glück, abermals Copperfield wiederzusehen?« Und er schüttelte mir beide Hände mit größter Herzlichkeit.

»Gott im Himmel, Mr. Traddles, denken Sie nur! Muß ich hier den Freund meiner Jugend, den Gefährten früherer Jahre wiederfinden! – Meine Liebe«, rief er über das Treppengeländer hinab, während Traddles nicht wenig verwundert bei dieser Beschreibung von mir dreinschaute, – »meine Liebe, hier in Mr. Traddles‘ Gemach befindet sich ein Herr, den dir vorzustellen ich mir das Vergnügen machen möchte.«

Mr. Micawber kam wieder herein und schüttelte mir abermals die Hände.

»Und was macht unser guter Freund, der Doktor, Copperfield, und der ganze Kreis in Canterbury?«

»Ich habe nur gute Nachrichten von ihnen.«

»Das freut mich ungemein. In Canterbury sahen wir uns das letzte Mal. Es war im Schatten, bildlich gesprochen, jenes erhabenen Gotteshauses, das von Chaucer unsterblich gemacht schon in alten Zeiten das Wanderziel des Pilgrims aus den fernsten Winkeln – kurz, es war neben dem Dom.«

Ich stimmte bei. Mr. Micawber fuhr fort mit demselben Schwung zu sprechen, aber, wie mir vorkam, nicht ohne einige Zeichen von Unruhe über gewisse Töne im Nebenzimmer, wie wenn sich Mrs. Micawber die Hände wüsche und eilig Schubladen, die schwer aufgingen, auf- und zuschöbe.

»Sie finden uns, Copperfield«, sagte Mr. Micawber, halb auf Traddles blickend, »gegenwärtig in einem sozusagen kleinen und anspruchslosen Haushalt, aber Sie wissen, daß ich in meiner Karriere mancherlei Schwierigkeiten besiegt und Hindernisse überwunden habe. Sie stehen der Tatsache nicht fremd gegenüber, daß es Abschnitte in meinem Leben gegeben hat, wo ich genötigt war zu pausieren, bis gewisse voraussichtliche Ereignisse eintreten sollten, Zeitabschnitte, wo ich sozusagen einen Anlauf nehmen mußte, um das, was ich sicher ohne Anmaßung einen entscheidenden Sprung nenne, tun zu können. Die gegenwärtige Zeit nun bedeutet einen dieser Augenblicke im menschlichen Leben. Sie sehen mich zurückgetreten zum Sprung, und ich habe allen Grund zu glauben, daß binnen kurzem ein großer Umschwung zu gewärtigen ist.«

Ich hatte kaum meine Beistimmung ausgedrückt, als Mrs. Micawber hereintrat, ein wenig salopper gekleidet als früher – vielleicht kam es mir auch nur so vor –, aber immerhin mit allen Anzeichen gesellschaftlichen Aufputzes und braunen Handschuhen angetan.

»Mein Liebling«, sagte Mr. Micawber und führte sie mir entgegen, »hier steht ein Herr, der seine Bekanntschaft mit dir zu erneuern wünscht. Sein Name ist Copperfield.«

Es wäre besser gewesen, wenn man Mrs. Micawber ein wenig vorbereitet hätte. Sie befand sich momentan in gesundheitlichen Umständen, die große Schonung erforderten, und wurde von der plötzlichen Überraschung so erschüttert und unwohl, daß Mr. Micawber zum Brunnen im Hof hinunterlaufen und eine Schüssel Wasser holen mußte, um ihr die Stirn zu waschen. Sie kam schnell zu sich und freute sich aufrichtig, mich wiederzusehen. Wir unterhielten uns wohl eine halbe Stunde, und ich erkundigte mich nach den Zwillingen, die, wie sie sagte, schon sehr groß seien, und nach Master und Miss Micawber, die »direkte Riesen« sein sollten, sich aber nicht sehen ließen.

Mr. Micawber wollte mich durchaus zum Essen dabehalten. Ich hätte nichts dagegen gehabt, aber aus Mrs. Micawbers Augen schien mir etwas wie Unruhe bei der Berechnung des noch vorhandenen kalten Bratens zu sprechen. Ich gab daher vor, anderswo eingeladen zu sein, und widerstand allem Drängen um so mehr, als mir Mrs. Micawbers Mienen heiterer zu werden schienen.

Ich verlangte von Traddles und den beiden Micawbers, daß sie unbedingt jetzt schon den Tag festsetzen müßten, wo sie bei mir speisen wollten. Traddles‘ Arbeit machte es nötig, den Tag etwas weiter hinauszuschieben, aber schließlich kamen wir doch zu einem Resultat, und ich verabschiedete mich.

Unter dem Vorwand, mir einen nähern Weg zeigen zu wollen, begleitete mich Mr. Micawber bis an die Ecke der Straße, – »um mit einem alten Freund ein paar Worte im Vertrauen sprechen zu können.«

»Lieber Copperfield«, begann er, »ich brauche Ihnen wohl kaum zu versichern, welch unaussprechlichen Trost es mir gewährt, bei den obwaltenden Umständen unter unserm Dach ein Herz schlagen zu wissen von solcher Wärme wie das Ihres Freundes Traddles. Wenn auf der einen Seite eine Waschfrau wohnt, die in dem Fenster ihres Wohnzimmers altbackenes Brot zum Verkaufe ausstellt, und ein Polizeidiener gegenüber, können Sie sich wohl vorstellen, welche Quelle des Trostes die Gesellschaft Mr. Traddles‘ für Mrs. Micawber und mich bedeutet. Zur Zeit, mein lieber Copperfield, bin ich im Kommissionshandel in Getreide tätig. Ich kann mich nicht des Ausdrucks bedienen, daß es ein lohnender Beruf ist, – kurz, er trägt nichts. Und infolgedessen befinde ich mich in einer vorübergehenden Verlegenheit materieller Art. Glücklicherweise kann ich jedoch hinzufügen, daß ich sichere Aussicht habe – ich darf noch nicht verraten, wo –, etwas zu finden, was mich instand setzen wird, dauernd für mich und unsern Freund Traddles, für den ich eine ungewöhnliche Teilnahme hege, sorgen zu können. Sie werden vielleicht nicht überrascht sein, wenn ich Ihnen sage, daß Mrs. Micawber sich in einem Zustand befindet, der es nicht unwahrscheinlich macht, auf eine Vermehrung der Pfänder der Liebe kurz, sie ist in andern Umständen. Mrs. Micawbers Familie hat geruht, über diesen Umstand Äußerungen der Unzufriedenheit fallen zu lassen. Ich will bloß bemerken, daß es sie nichts angeht und daß ich solche Einmischung mit Entrüstung zurückweise.«

Dann schüttelte mir Mr. Micawber die Hand und verließ mich.