7. Kapitel Mein erstes Semester in Salemhaus


7. Kapitel Mein erstes Semester in Salemhaus

Die Schule fing am nächsten Morgen allen Ernstes an. Es machte einen tiefen Eindruck auf mich, wie der laute Lärm in der Klasse plötzlich zur Totenstille wurde, als Mr. Creakle nach dem Frühstück eintrat, in der Türe stehen blieb und sich umsah, wie der Riese im Märchenbuch, wenn er seine Gefangenen betrachtet.

Tongay stand dicht neben Mr. Creakle. Ich dachte mir, er hat doch gar keine Ursache, so grimmig »Ruhe« zu rufen. Alle Schüler saßen sowieso stumm und regungslos da.

Jetzt sah man Mr. Creakle sprechen, und Tongay wiederholte laut seine Worte.

»Also, ihr Jungen, es ist ein neues Semester angegangen. Nehmt euch in acht in diesem neuen Semester. Seid bei der Hand bei euern Aufgaben, rat ich euch, denn ich werde rasch bei der Hand mit den Strafen sein. Ich werde nicht nachgeben. Es wird euch nichts nützen, wenn ihr euch reibt. Ihr werdet die Striemen nicht wegreiben, die ich euch versetzen werde. Jetzt macht euch an die Arbeit, jeder einzelne.«

Als diese schreckliche Eingangsrede vorüber und Tongay wieder hinausgehumpelt war, kam Mr. Creakle an meine Bank und sagte mir, daß, wenn ich auch gut beißen könnte, er darin noch viel berühmter sei. Er zeigte mir dabei das spanische Rohr und fragte mich, was das wohl für ein Zahn wäre. »Ist es ein scharfer Zahn, he? Ist es ein Doppelzahn, he? Hat er eine gute Schneide, he? Beißt er, he? Beißt er wirklich?« Bei jeder dieser Fragen versetzte er mir einen Hieb, daß ich mich wand und bald in Salemhaus mündig gesprochen war, wie Steerforth es nannte, und auch sehr bald in Tränen schwamm.

Nicht etwa, daß diese Behandlung eine besondere Auszeichnung bedeutet hätte. Im Gegenteil. Bei der großen Mehrzahl der Knaben, besonders bei den Kleinen, machte sich Mr. Creakle auf dieselbe Art bemerkbar, wenn er die Runde im Zimmer machte.

Die halbe Klasse weinte und krümmte sich vor Schmerzen, ehe das Tagewerk begann. Wieviel Unglückliche noch dazu kamen, bevor die Stunde zu Ende ging, getraue ich mich gar nicht anzugeben, um nicht der Übertreibung beschuldigt zu werden.

Ich glaube, es kann nie einen Menschen gegeben haben, den sein Beruf mehr freute, als Mr. Creakle. Seine Wonne, die Jungen schlagen zu können, kam der Befriedigung nagenden Hungers gleich. Ich bin fest überzeugt, da er sich pausbäckigen Jungen gegenüber nicht halten konnte, daß darin für ihn etwas von starker Anziehungskraft lag und ihm keine Ruhe ließ, bis er nicht den Betreffenden für den Tag gezeichnet hatte. Ich war selbst pausbäckig und muß es wissen. Wenn ich jetzt an diesen Menschen denke, wallt mein Blut, und alles empört mich um so mehr, weil ich jetzt weiß, daß er noch dazu ein unfähiger Schuft war und kein größeres Recht auf den Vertrauensposten, den er bekleidete, hatte, als auf den Posten eines ersten Admirals oder eines Feldmarschalls. Nur hätte er dort wahrscheinlich weniger Unheil angerichtet.

Wie demütig wir elenden kleinen Hasenfüße gegen ihn, diesen erbarmungslosen Götzen, waren! In welchem Licht erscheint mir jetzt dieser Stapellauf ins Leben angesichts solcher Demut und Untertänigkeit vor einem Mann von solchem Unwert!

Hier sitze ich wieder auf der Bank und beobachte sein Auge; – voll Unterwürfigkeit beobachte ich ihn, wie er ein Rechenbuch für ein anderes Opfer liniert, das mit dem Lineal eben eins auf die Hand bekommen hat und die Schwiele mit dem Taschentuch reibt. Ich hätte vollauf zu tun. Ich beobachte sein Auge jedoch nicht, weil ich müßig bin, sondern weil es mich unnatürlich anzieht, – mich mit dem schrecklichen Wunsch erfüllt, zu erraten, was er in der nächsten Minute tun wird. Ob er wohl über mich herfallen wird oder über einen andern?

Eine Reihe kleiner Jungen hinter mir beobachtet ihn mit demselben Interesse. Ich glaube, er weiß es und verstellt sich nur. Er schneidet furchtbare Grimassen, während er das Rechenbuch liniert. Und jetzt wirft er einen Seitenblick auf uns, und wir alle lassen den Blick auf die Bücher sinken und fangen an zu zittern. Einen Augenblick später starren wir ihn schon wieder an. Ein Unglücklicher, der seine Aufgabe schlecht gemacht hat, wird herausgerufen. Er stammelt Entschuldigungen und verspricht, es morgen besser zu machen. Mr. Creakle reißt einen Witz, ehe er ihn prügelt, und wir lachen darüber. Wir elenden, kleinen Hunde lachen darüber, mit aschfahlen Gesichtern und Herzen, die uns in die Hosen gefallen sind.

Hier sitze ich wieder in der Bank an einem schläfrigen Sommernachmittag. Ein Surren und Summen rings um mich her, als seien die Jungen lauter große Fliegen. Ein dumpfer Druck lastet nach dem lauen, fetten Mittagessen auf mir, und mein Kopf ist so schwer wie Blei. Ich würde eine Welt darum geben, wenn ich schlafen dürfte. Mein Auge ist auf Mr. Creakle gerichtet, und ich blinzle ihn an wie eine junge Eule; der Schlaf überwältigt mich eine Minute, er verschwimmt vor meinen Augen, wie er die Rechenhefte liniert –; leise schleicht er sich hinter mich, und ich erwache mit einem roten Striemen auf dem Rücken wieder zu klarer Wahrnehmung.

Dann bin ich auf dem Spielplatz, wo mein Auge immer noch von ihm gebannt ist, obgleich ich ihn nicht sehen kann. Das Fenster nicht weit von dem Orte, wo er zu Mittag ißt, vertritt ihn, und ich beobachte es immer an seiner Statt. Wenn sein Gesicht dahinter erscheint, nimmt das meine einen flehentlichen und unterwürfigen Ausdruck an. Wenn er durch die Scheiben heruntersieht, bricht auch der Verwegenste nur Steerforth ausgenommen – mitten in einem Ruf oder Schrei ab und wird nachdenklich. Einmal wirft Traddles, der größte Pechvogel von der Welt, zufällig das Fenster mit einem Ball ein. Noch jetzt überläuft es mich eiskalt, wie ich es geschehen sehe, und begreife, daß der Ball Mr. Creakles geheiligtes Haupt getroffen hat.

Armer Traddles! In seinem engen, himmelblauen Anzug, der seine Arme und Beine wie Würste oder Teigrollen erscheinen ließ, war er der lustigste und zugleich unglücklichste unter den Schülern. Er wurde immer mit dem spanischen Rohr gehauen, ich glaube, jeden Tag im ganzen Semester, mit Ausnahme eines Montags, wo er nur mit dem Lineal eines über beide Hände bekam. Und immer stand er im Begriff, deshalb an seinen Onkel zu schreiben, und immer unterließ er es wieder. Wenn er den Kopf eine Weile auf das Pult gelegt hatte, wurde er wieder lustig, fing an zu lachen und zeichnete auf seine Schiefertafel Gerippe, ehe noch seine Augen ganz trocken waren. Ich konnte mir lange Zeit nicht erklären, welchen Trost Traddles im Zeichnen dieser Gerippe finden mochte, und sah in ihm eine Art Einsiedler, der sich durch solche Symbole der Sterblichkeit vor Augen halten will, daß auch Prügel nicht ewig dauern können. Aber jetzt glaube ich, er zeichnete sie nur, weil sie so leicht waren und er ihnen keine Gesichter zu machen brauchte.

Traddles war sehr ehrenhaft und betrachtete es als eine heilige Pflicht der Schüler, einander beizustehen. Er hatte oft darunter zu leiden und besonders einmal, als Steerforth während des Gottesdienstes gelacht hatte, und der Kirchendiener glaubte, es wäre Traddles gewesen, und diesen hinausführte. Ich sehe ihn jetzt noch vor mir, wie er von dem Diener gepackt hinausging, verabscheut von der ganzen Gemeinde. Er verriet nie den eigentlichen Täter, obgleich er den ganzen nächsten Tag dafür büßen mußte und so lange eingesperrt war, daß er einen ganzen Kirchhof voll Gerippen in seinem lateinischen Wörterbuch mit herausbrachte.

Dann bekam er aber auch seinen Lohn. Steerforth nämlich sagte, in Traddles sei auch keine Spur von einem Mucker, und wir alle fühlten, daß das das höchste Lob bedeutete, das es geben konnte. Ich für meinen Teil hätte viel erdulden mögen, um solchen Lohn zu verdienen, obgleich ich lange nicht so tapfer war wie Traddles und nicht annähernd so alt.

Steerforth Arm in Arm mit Miss Creakle in die Kirche gehen zu sehen, war für mich ein überwältigender Anblick. Ich konnte Miss Creakle der kleinen Emly hinsichtlich Schönheit nicht an die Seite stellen – ich liebte sie nicht – ich wagte es nicht –, aber sie erschien mir als eine junge Dame von ungewöhnlichen Reizen und von unübertrefflicher Eleganz. Wenn Steerforth in weißen Hosen ihr den Sonnenschirm trug, war ich stolz, ihn zu kennen, und glaubte, daß sie nicht anders konnte, als ihn von ganzem Herzen anzubeten. Mr. Sharp und Mr. Mell waren wohl in meinen Augen alle beide sehr beachtenswerte Persönlichkeiten, aber gegen Steerforth verbleichten sie wie Sterne gegenüber der Sonne.

Steerforth blieb mein Beschützer und erwies sich mir als ein sehr nützlicher Freund, da niemand einem Knaben, der in seiner Gunst stand, etwas zu tun wagte. Er konnte mich gegen Mr. Creakle nicht schützen, oder wenigstens tat er es nicht, aber wenn mich Mr. Creakle noch härter als gewöhnlich gestraft hatte, sagte er mir stets, es fehlte mir ein wenig von seinem Mute, und daß er an meiner Stelle es sich nicht hätte gefallen lassen. Damit wollte er mich trösten, und ich fand das sehr freundlich von ihm.

Einen einzigen Vorteil nur hatte Mr. Creakles Strenge: Das Plakat auf meinem Rücken war ihm im Wege, wenn er mir im Vorbeigehen eins versetzen wollte. Aus diesem Grunde wurde es entfernt, und ich sah es nie wieder.

Ein Zufall befestigte das vertrauliche Verhältnis zwischen Steerforth und mir in einer Weise, die mich mit Befriedigung und Stolz erfüllte, wenn es auch mancherlei Beschwerlichkeit mit sich brachte. Als er mir nämlich einmal die Ehre erwies, auf dem Spielplatz mit mir zu sprechen, geschah es, daß ich die Bemerkung wagte, irgend jemand oder etwas passe auf »Peregrine Pickle«. Er sagte nichts; aber als wir zu Bett gingen, fragte er mich, ob ich das Buch besäße. Ich sagte nein und erzählte ihm, wieso ich es gelesen, und erwähnte auch die andern Bücher.

»Und erinnerst du dich noch auf alles?« fragte Steerforth.

»O ja«, gab ich zur Antwort. Ich hätte ein gutes Gedächtnis und glaubte, noch alles fast auswendig zu wissen.

»Ich will dir etwas sagen, kleiner Copperfield«, meinte Steerforth daraufhin, »du kannst sie mir erzählen. Ich mag abends sowieso nicht so bald zu Bett gehen und wache gewöhnlich zu früh auf. Wir wollen sie alle nacheinander durchgehen. Wir werden regelmäßige arabische Nächte einführen.«

Ich fühlte mich außerordentlich geschmeichelt, und wir fingen noch am selben Abend an. Welche Sünden ich im Verlauf meiner Erzählungen an meinen Lieblingsdichtern beging, weiß ich nicht mehr, aber ich hatte einen unerschütterlichen Glauben an sie und eine einfache Art, zu erzählen, und damit kamen wir recht weit. Die Kehrseite der Medaille war nur, daß ich mich abends oft schläfrig oder verstimmt oder nicht aufgelegt fühlte, die Geschichte fortzusetzen, und dann kostete es ein schweres Stück Arbeit. Aber es mußte geschehen.

Steerforths Erwartung zu täuschen oder ihm die Freude zu verderben, ging natürlich nicht an. Auch früh, wenn ich gern noch eine Stunde geschlummert hätte, war es recht fad, wie die Sultanin Scheherazade aufgeweckt und zum Erzählen einer langen Geschichte gezwungen zu werden, ehe die große Schulglocke läutete. Aber Steerforth bestand darauf, und da er mir dafür bei meinen Rechenaufgaben und Aufsätzen half, wenn sie zu schwer waren, verlor ich nichts bei dem Geschäft. Ich muß gerecht sein, es bewegte mich kein selbstsüchtiges Motiv und auch nicht Furcht vor ihm. Ich bewunderte und liebte ihn; sein Beifall war mir genug.

Steerforth konnte auch fürsorglich für mich sein und bewies das bei einer Gelegenheit auf so halsstarrige Art, daß er dem armen Traddles und den übrigen damit Tantalusqualen bereitete. Peggottys versprochener kostbarer Brief kam an, ehe noch einige Wochen des Semesters verstrichen waren und mit ihm ein Kuchen in einem wahren Nest von Orangen und zwei Flaschen Obstwein dabei. Diese Schätze legte ich pflichtgemäß Steerforth zu Füßen und bat ihn, sie zu verteilen.

»Ich will dir was sagen, kleiner Copperfield«, meinte er. »Der Wein wird aufgehoben, um dir die Zunge anzufeuchten, wenn du Geschichten erzählst.«

Ich wurde rot und bat ihn bescheiden, doch nicht daran zu denken. Aber er meinte, ich würde manchmal etwas heiser und jeder Tropfen müsse für mich bleiben. Also schloß er den Wein in seinen Koffer und labte mich mit ihm vermittelst einer im Kork angebrachten Federspule, wenn ich seiner Meinung nach einer Erfrischung bedurfte. Zuweilen war er so gütig und preßte Pomeranzensaft hinein, um den Saft zu verbessern, rührte Ingwer hinein, oder löste ein Pfefferminzzeltchen darin auf. Obwohl ich nicht behaupten kann, daß das Getränk dadurch wesentlich besser wurde oder abends vor dem Einschlafen und früh nüchtern genossen besonders magenstärkend gewesen wäre, trank ich es doch dankbar und war gerührt von Steerforths Aufmerksamkeit.

Wir hatten wohl wochenlang mit Peregrine Pickle und mehrere Monate mit den andern Geschichten zugebracht. Mangel an Stoff trat nie ein, und der Wein hielt fast so lange an wie der Stoff. Der arme Traddles, ich kann nie an diesen Jungen denken, ohne Tränen in den Augen und zugleich eine komische Neigung zu lachen, wirkte gewöhnlich verstärkend wie ein Chor und tat bei den lustigen Stellen, als ob er sich vor Heiterkeit nicht lassen könnte und bei den beunruhigenden, als ob er ganz vor Angst verginge. Das brachte mich manchmal ganz aus der Fassung. Es machte ihm einen Hauptspaß, mit den Zähnen zu klappern, sobald in den Abenteuern des Gil Blas von Alguazil die Rede war, und ich erinnere mich, daß der Arme, als Gil Blas dem Räuberhauptmann in Madrid begegnete, die Rolle des tödlich Entsetzten so lebhaft spielte, daß ihn Mr. Creakle, der auf den Gängen herumlauerte, hörte und wegen Störung im Schlafzimmer am andern Morgen ordentlich durchwichste. Was an Neigung zum Romantischen und Träumerischen in mir lag, wurde durch dieses Erzählen im Dunkeln sehr gestärkt, und in dieser Hinsicht mag es nicht besonders von Vorteil für mich gewesen sein. Aber das Gefühl, daß ich im Schlafsaal wie eine Art Spielzeug behandelt wurde, und das Bewußtsein, auch bei den andern Knaben meiner Fähigkeiten wegen ein gewisses Ansehen zu genießen, trotzdem ich der Jüngste war, munterte mich sehr auf.

In einer Schule, die von bloßer Grausamkeit beherrscht wird, wird nie viel gelernt, ob ihr jetzt ein Dummkopf vorsteht oder nicht. Ich glaube, unsere Schüler waren so unwissend wie nur möglich. Sie wurden viel zu sehr gepeinigt und herumgestoßen, um etwas lernen zu können. Es hatte für sie keinen Zweck, sich zu bemühen in einem Leben voll beständiger Qual und Mühsal. Aber mein bißchen Eitelkeit und Steerforths Hilfe trieben mich an und machten mich, wenn es mir auch keine Strafen ersparte, zu einer Ausnahme unter den übrigen, indem ich wenigstens einige Brosamen Kenntnisse auflas.

Mr. Mell, an den ich mit Dankbarkeit zurückdenke, legte stets eine gewisse Teilnahme für mich an den Tag und half mir darin sehr. Es schmerzte mich immer, daß Steerforth ihn mit Geringschätzung behandelte und selten eine Gelegenheit versäumte, ihn zu verletzen. Dies beunruhigte mich eine Zeitlang um so mehr; als ich Steerforth; dem ich ein Geheimnis ebensowenig vorenthalten konnte wie einen Kuchen oder sonst etwas Greifbares, von den beiden alten Frauen erzählt hatte, zu denen mich Mr. Mell mitgenommen. Immer fürchtete ich, Steerforth würde es verraten und ihn damit verhöhnen. Als ich an jenem Morgen mein Frühstück in dem Asyl gegessen und im Schatten der Pfauenfedern und bei dem Ton der Flöte eingeschlafen war, hätte wohl keiner der damals Anwesenden geahnt, welche Folgen der Besuch einer so unbedeutenden Person wie ich noch einmal haben würde.

Leider hatte er ganz unvorhergesehene Folgen, und zwar in ihrer Art recht ernste. Eines Tages nämlich, als Mr. Creakle wegen Unpäßlichkeit das Zimmer hütete, was natürlich die lebhafteste Freude über die ganze Schule verbreitete, herrschte in der Morgenstunde viel Lärm. Alle benahmen sich so übermütig, daß kaum mit ihnen auszukommen war. Selbst als der gefürchtete Tongay mit seinem Holzbein zwei- oder dreimal hereingestelzt kam und die Namen der ärgsten Übeltäter aufschrieb, machte es keinen Eindruck. Alle wußten, sie würden morgen sowieso gestraft, mochten sie tun oder lassen, was sie wollten, und hielten es deshalb für das gescheiteste, sich wenigstens der Gegenwart möglichst zu freuen. Es war eigentlich ein halber Feiertag, nämlich Samstag, aber da der Lärm auf dem Spielplatz Mr. Creakle möglicherweise hätte stören können und das Wetter zum Ausgehen nicht günstig schien, mußten wir nachmittags bei einigen leichteren Aufgaben in der Klasse bleiben. Es war der Tag der Woche, an dem Mr. Sharp sich die Perücke kräuseln ließ, und daher fiel auf Mr. Mell das Amt, Schule zu halten. Wenn ich die Vorstellung von einem Stier oder einem Bären mit einer so sanften Person wie Mr. Mell überhaupt in Verbindung bringen könnte, so an diesem Nachmittag, als das Lärmen seine höchste Spitze erreichte, nur unter dem Bilde eines dieser Tiere, wenn es von tausend Hunden angefallen wird. Ich sehe ihn noch vor mir, wie er den Kopf auf seine knochige Hand stützt und, über das Buch auf seinem Pult geneigt, sich vergeblich bemüht, mitten unter einem Lärm, der den Sprecher des Unterhauses schwindlig gemacht haben würde, seine anstrengende Arbeit fortzusetzen. Die Jungen haschten sich zwischen den Bänken, sie lachten, sangen, tanzten, heulten, scharrten mit den Füßen, andre sprangen um Mr. Mell herum, grunzten, schnitten Gesichter, äfften ihn nach – hinter dem Rücken und vor seinen Augen –, verspotteten seine Armut, seine Stiefel, seinen Rock, seine Mutter, kurz alles, was ihm gehörte und was sie hätten achten sollen.

»Ruhe!« schrie Mr. Mell, plötzlich aufspringend und mit dem Buch auf das Pult schlagend. »Was soll das heißen. Es ist nicht auszuhalten. Es ist zum Verrücktwerden. Wie könnt ihr mir das tun, Jungen!«

Er schlug mit meinem Buch auf das Pult, und wie ich so neben ihm stehend seinem Auge, das im Zimmer herumschweifte, folgte, sah ich, wie sie alle schwiegen; einige aus plötzlicher Überraschung, manche halb aus Angst, manche vielleicht aus Reue.

Steerforths Platz war am untern Ende der Schulstube. Er hatte sich mit dem Rücken an die Wand gelehnt, die Hände in den Taschen, und sah Mr. Mell an, die Lippen zum Pfeifen gespitzt.

»Ruhe, Mr. Steerforth«, sagte Mr. Mell.

»Selbst Ruhe«, sagte Steerforth und wurde rot. »Mit wem sprechen Sie eigentlich?«

»Setzen Sie sich«, sagte Mr. Mell.

»Setzen Sie sich selber«, sagte Steerforth, »und kümmern Sie sich um Ihre Sachen.«

Man hörte ein Kichern und einige Beifallsrufe. Aber Mr. Mell war so bleich, daß es fast augenblicklich wieder still wurde, und ein Junge, der hinter ihn gesprungen war, um wieder Mr. Mells Mutter nachzuäffen, besann sich anders und gab vor, er möchte eine Feder geschnitten haben.

»Wenn Sie vielleicht glauben, Steerforth«, sagte Mell, »es wäre mir nicht bekannt, welche Macht Sie hier über jedes Gemüt ausüben können« – er legte seine Hand, vielleicht ohne zu wissen, was er tat, auf meinen Kopf – »oder ich hätte nicht bemerkt, wie Sie vor wenigen Minuten Ihre jüngern Mitschüler in jeder Weise aufreizten, mich zu beschimpfen, so irren Sie sich.«

»Ich gebe mir überhaupt nicht Mühe, an Sie zu denken«, sagte Steerforth kaltblütig, »also irre ich mich zufällig gar nicht.«

»Und wenn Sie Ihre Stellung als Günstling hier mißbrauchen, Sir«, fuhr Mr. Mell mit bebenden Lippen fort, »um einen anständigen Menschen zu beleidigen.«

»Einen was? – Wo ist er?« fragte Steerforth.

Hier rief jemand: »Pfui, Steerforth, das ist gemein.«

Es war Traddles, den Mr. Mell augenblicklich zurechtwies, indem er ihm befahl, den Mund zu halten.

»– Jemand zu beleidigen, der nicht glücklich im Leben ist und Ihnen nie das geringste getan hat, und zugleich die vielen Gründe kennen, die Sie veranlassen sollten, es nicht zu tun, Gründe, die zu kennen Sie alt und klug genug sind«, sagte Mr. Mell, und seine Lippen zitterten immer mehr, »so begehen Sie damit eine niedrige und gemeine Handlung. Sie können sich jetzt setzen oder stehen bleiben, wie Sie wollen. Weiter, Copperfield.«

»Kleiner Copperfield«, sagte Steerford und kam ans Pult, »warte einen Augenblick. Ich will Ihnen was sagen, Mr. Mell, ein für allemal. Wenn Sie sich die Freiheit nehmen, mich niedrig oder gemein zu nennen oder einen ähnlichen Ausdruck zu gebrauchen, so sind Sie ein unverschämter Bettler. Sie sind überhaupt ein Bettler, das wissen Sie ja. Aber wenn Sie das tun, so sind Sie ein unverschämter Bettler.«

Ich war mir nicht klar, ob er nach Mr. Mell oder Mr. Mell nach ihm schlagen wollte, oder ob auf einer der beiden Seiten überhaupt eine solche Absicht vorhanden war. Ich sah die ganze Klasse wie versteinert dasitzen und Mr. Creakle plötzlich in unserer Mitte erscheinen und Tongay neben ihm und an der Tür Mrs. und Miss Creakle mit scheuen und erschrocknen Gesichtern. Mr. Mell, die Ellbogen auf das Pult und das Gesicht in die Hände gelegt, saß einige Augenblicke regungslos da.

»Mr. Mell!« sagte Mr. Creakle, den Schullehrer am Arme fassend und schüttelnd, und sein Flüstern war diesmal so laut, daß Tongay die Worte nicht zu wiederholen brauchte. »Sie haben sich doch nicht etwa vergessen?«

»Nein, Sir, nein«, erwiderte der Lehrer, wieder sein Gesicht zeigend und sich die Hände reibend. Er schüttelte in großer Aufregung den Kopf. »Nein, Sir, nein. Ich habe mich nicht vergessen. Ich – nein, Mr. Creakle, ich habe mich nicht vergessen. Ich – ich – ich – wünschte, Sie hätten etwas früher an mich gedacht, Mr. Creakle. Es – es – wäre gütiger gewesen und gerechter, Sir. Es hätte mir etwas erspart, Sir.«

Mr. Creakle sah streng auf Mr. Mell, legte seine Hand auf Tongays Schulter, stieg auf eine Bank und setzte sich auf das Pult. Nachdem er von diesem Throne noch eine Weile Mr. Mell, der noch immer in größter Aufregung den Kopf schüttelte und sich die Hände rieb, streng angesehen hatte, wandte er sich zu Steerforth und sagte:

»Nun, Sir, da er sich nicht herabläßt, es mir zu sagen, was ist also?«

Steerforth wich der Frage eine Weile aus; er sah seinen Gegner mit zornigem und wildem Gesicht an und blieb stumm. Selbst damals konnte ich mich des Gedankens nicht erwehren, wie nobel sein Aussehen war und wie gewöhnlich und dürftig sich Mr. Mell gegen ihn ausnahm.

»Was hat er eigentlich gemeint, als er von Günstlingen sprach?« sagte Steerforth endlich.

»Günstlinge?« wiederholte Mr. Creakle, und die Adern auf seiner Stirne schwollen plötzlich an. »Wer hat von Günstlingen gesprochen?«

»Er«, sagte Steerforth.

»Bitte, was haben Sie damit gemeint, Sir?« fragte Mr. Creakle und wandte sich voll Zorn an seinen Unterlehrer.

»Ich meinte, was ich sagte, Mr. Creakle«, erwiderte der Gefragte ruhig. »Daß kein Schüler das Recht hat, seine Günstlingsstellung zu benützen, um mich zu erniedrigen.«

»Sie zu erniedrigen? Ausgezeichnet. Aber Sie werden mir gestatten, zu fragen, Mr. Dingsda«, und Mr. Creakle verschränkte seine Arme mit dem Rohrstock auf der Brust und zog seine Brauen so zusammen, daß seine Augen fast verschwanden, – »ob Sie, als Sie von Günstlingen sprachen, mir damit die gehörige Achtung bezeigt haben. Mir, Sir«, fragte Mr. Creakle und schnellte plötzlich mit dem Kopf gegen Mr. Mell vor und zog ihn wieder zurück. »Mir, dem Prinzipal dieser Anstalt und ihrem Brotherrn!?«

»Ich gebe gern zu, daß es unüberlegt war«, sagte Mr. Mell, »ich würde es nicht getan haben, wenn ich bei kaltem Blute gewesen wäre.«

Hier fiel Steerforth ein:

»Und dann sagte er, ich wäre niedrig und gemein, und dann habe ich ihn einen Bettler genannt. Wenn ich bei kaltem Blute gewesen wäre, hätte ich ihn vielleicht keinen Bettler genannt. Aber ich tat es und nehme die Folgen auf mich.«

Ohne wahrscheinlich zu überlegen, ob ihn überhaupt Folgen treffen könnten, erglühte ich förmlich bei dieser mutigen Rede. Sie machte auch auf die Jungen Eindruck, und es entstand eine leise Unruhe unter ihnen, wenn auch keiner ein Wort sprach.

»Ich bin erstaunt, Steerforth, obgleich Ihre Aufrichtigkeit Ihnen Ehre macht«, sagte Mr. Creakle. »Ja, gewiß, Ihnen Ehre macht, – ich bin erstaunt, Steerforth, muß ich schon sagen, daß Sie solch eine Bezeichnung für eine Person brauchten, die in Salemhaus angestellt ist und bezahlt wird, Sir.«

Steerforth lachte kurz auf.

»Das ist keine Antwort, Sir«, sagte Mr. Creakle, »auf meine Bemerkung. Ich erwarte mehr von Ihnen, Steerforth.«

Wenn Mr. Mell in meinen Augen gegenüber dem hübschen Knaben schon abstach, wäre es ganz unmöglich gewesen, zu sagen, was Mr. Creakle für einen Eindruck machte.

»Er soll es ableugnen«, sagte Steerforth.

»Ableugnen, daß er ein Bettler ist, Steerforth? Aber wo bettelt er denn?«

»Wenn er nicht selbst ein Bettler ist, so ist es seine nächste Verwandte«, sagte Steerforth. »Das kommt doch auf dasselbe heraus.«

Er sah mich an, und Mr. Mells Hand klopfte mir sanft auf die Schulter. Ich blickte auf, Schamröte im Gesicht und Reue im Herzen. Aber Mr. Mells Augen ruhten auf Steerforth. Er fuhr fort, mich freundlich auf die Schulter zu klopfen, aber er blickte Steerforth an.

»Da Sie eine Rechtfertigung von mir verlangen, Mr. Creakle«, sagte Steerforth »und ich sagen soll, was ich meine, so sage ich, daß seine Mutter von Almosen in einem Armenhaus lebt.«

Immer noch sah ihn Mr. Mell an und klopfte mir immer noch freundlich auf die Schulter. Leise sagte er dann vor sich hin: »Ja, das habe ich mir gedacht.«

Mr. Creakle wandte sich an den Unterlehrer mit strengem Stirnrunzeln und erkünstelter Höflichkeit.

»Nun, Sie hören, was dieser Herr sagt, Mr. Mell. Haben Sie die Güte, seine Aussage vor der ganzen Schule gefälligst zu berichtigen.«

»Er hat vollständig recht, Sir«, antwortete Mr. Mell inmitten der tiefsten Stille. »Was er gesagt hat, ist wahr.«

»Wollen Sie dann so gut sein und öffentlich erklären«, sagte Mr. Creakle, legte den Kopf auf die Seite und rollte mit den Augen, »ob ich bis zu diesem Augenblick etwas davon in Erfahrung gebracht habe.«

»Ich glaube nicht direkt«, erwiderte Mr. Mell.

»Sie wissen, daß es nicht der Fall war«, sagte Mr. Creakle. »Oder wissen Sie es nicht, Mensch?«

»Ich nehme an, daß Sie wohl niemals meine Verhältnisse für sehr gut gehalten haben«, antwortete der Unterlehrer. »Sie wissen doch, wie meine Lage hier ist und immer war.«

»Ich nehme an«, sagte Mr. Creakle und seine Adern wurden noch dicker, »daß Sie wohl überhaupt in einer falschen Stellung hier gewesen sind und diese Anstalt vermutlich für eine Armenschule gehalten haben. Mr. Mell, wir werden uns trennen und je eher, desto besser.«

»Es ist keine Zeit besser als die gegenwärtige«, erwiderte Mr. Mell und stand auf.

»Für Sie, ja«, sagte Mr. Creakle.

»Ich nehme Abschied von Ihnen, Mr. Creakle, und von euch allen«, sagte Mr. Mell, sah sich im Zimmer um und klopfte mir wieder sanft auf die Schulter.

»James Steerforth, der beste Wunsch, den ich Ihnen hinterlassen kann, ist, daß Sie sich eines Tages schämen mögen über das, was Sie heute getan haben. Heute möchte ich in Ihnen lieber alles andere sehen als einen Freund oder sonst jemand, für den ich ein Interesse fühle.«

Noch einmal legte er die Hand auf meine Schulter, dann nahm er seine Flöte und ein paar Bücher aus dem Pult, ließ den Schlüssel stecken für seinen Nachfolger und verließ die Klasse, seinen ganzen Besitz unter dem Arm.

Mr. Creakle hielt dann noch unter Tongays Assistenz eine Rede, in der er Steerforth dankte, daß er, wenn auch vielleicht ein wenig zu warm, das Ansehen von Salemhaus und seine Unabhängigkeit verteidigt hatte … Er wand sich durch bis zu dem Punkte, wo er Steerforth die Hand schüttelte, während wir dreimal Hoch riefen, ich weiß nicht mehr für wen, aber ich glaube für Steerforth. Wenigstens rief ich mit, obwohl ich sehr niedergeschlagen war. Dann wichste Mr. Creakle den kleinen Tommy Traddles durch, weil er über Mr. Mells Fortgehen geweint hatte, statt in das Hoch einzustimmen, und kehrte wieder zu seinem Sofa oder seinem Bett, oder wo er sonst hergekommen, zurück.

Wir waren uns jetzt selbst überlassen und sahen einander ratlos an. Ich empfand so viel Gewissensbisse und Reue über das Geschehene, daß nur die Furcht, Steerforth, der mich oft ansah, möchte es für unfreundschaftlich oder, besser gesagt, für pflichtwidrig halten, wenn ich weinte, meine Tränen zurückhielt. Er war sehr böse auf Traddles und sagte, es freue ihn, daß er es gekriegt habe.

Der arme Traddles, der schon wieder über das Stadium hinaus war, wo er den Kopf auf das Pult zu legen pflegte und seinem Verdruß wieder mit einem Haufen Gerippe Luft machte, sagte, es sei ihm ganz wurst, aber Mr. Mell sei Unrecht geschehen.

»Wer hat ihm Unrecht getan, du Mädchen?« fragte Steerforth.

»Wer denn sonst als du.«

»Was hab ich denn getan?« fragte Steerforth.

»Was du getan hast«, gab Traddles zur Antwort. »Du hast seine Gefühle verletzt und ihn um seine Stelle gebracht.«

»Seine Gefühle«, wiederholte Steerforth verächtlich. »Seine Gefühle werden sich schon wieder erholen, drauf will ich wetten. Seine Gefühle sind nicht wie deine, Fräulein Traddles. Und was seine Stelle betrifft, die so glänzend war, was? – so werde ich doch natürlich nach Hause schreiben und dafür sorgen, daß er Geld bekommt, Polly.«

Uns kam dieser Vorsatz Steerforths, dessen Mutter, eine reiche Witwe, ihm in allem nachgab, sehr hochherzig vor. Wir freuten uns alle, daß Traddles beschämt war, und hoben Steerforth in den Himmel, besonders, als er uns gnädigst erklärte, daß er alles nur unsertwegen getan und uns durch sein selbstloses Benehmen einen Riesendienst erwiesen hätte.

Aber ich muß gestehen, als ich abends im Dunkeln eine Geschichte erzählte, schien mir Mr. Mells Flöte mehr als einmal traurig in den Ohren zu klingen, und als endlich Steerforth schlief und ich in meinem Bette lag, machte mich der Gedanke, die Flöte werde jetzt woanders gespielt, ganz elend.

Ich vergaß Mr. Mell bald über der Bewunderung Steerforths, der in leichter Dilettantenart und ohne Buch, denn er schien alles auswendig zu wissen, einige der Lehrstunden übernahm, bis der neue Lehrer erschien. Dieser kam aus einer Lateinschule und speiste, bevor er sein Amt antrat, bei dem Direktor, um Steerforth vorgestellt zu werden.

Steerforth fand großen Gefallen an ihm und nannte ihn eine Leuchte. Wenn ich auch nicht begriff, was für ein Gelehrtentitel das wäre, brachte ich ihm doch große Ehrfurcht entgegen und zweifelte nicht im geringsten an seinen großartigen Kenntnissen, obwohl er sich nie solche Mühe mit mir gab, wie Mr. Mell; aber ich war ja auch gar nicht zu rechnen.

Noch ein ungewöhnliches Ereignis in diesem Semester machte einen tiefen Eindruck auf mich, der noch immer fortlebt, – aus verschiedenen Gründen fortlebt.

Eines Nachmittags, als wir alle in einem Zustand ärgster Verwirrung und Angst waren, weil Mr. Creakle so fürchterlich um sich schlug, kam Tongay herein und rief laut:

»Besuch für Copperfield.«

Mr. Creakle wechselte mit ihm ein paar Worte über den Rang des Besuchs und das Zimmer, in das man die Gäste weisen sollte, und sagte dann zu mir, – ich war wie üblich aufgestanden und ganz verblüfft vor Erstaunen – ich sollte die Hintertreppe hinaufgehen und einen reinen Kragen anziehen, ehe ich ins Speisezimmer ginge. Ich gehorchte in einer Aufregung, wie ich sie noch gar nicht gekannt hatte, und als ich an die Tür des Besuchszimmers kam und der Gedanke in mir aufblitzte, es könnte vielleicht meine Mutter sein, – bis dahin hatte ich nur an Mr. und Miss Murdstone gedacht – ließ ich die Klinke wieder los und blieb stehen und holte tief Atem, bevor ich eintrat.

Zuerst sah ich niemand. Aber da ich ein Hindernis an der Tür fühlte, blickte ich dahinter und erkannte zu meinem Erstaunen Mr. Peggotty und Ham, die mit ihren Hüten in der Hand vor mir knixten und einander an die Wand drückten. Ich mußte lachen, aber mehr aus Freude, sie zu sehen, als über ihren Anblick. Wir schüttelten uns herzlich die Hände, und ich lachte und lachte, bis ich mein Taschentuch herausziehen und mir die Augen wischen mußte.

Mr. Peggotty, der während des ganzen Besuchs kein einziges Mal den Mund zumachte, legte große Teilnahme an den Tag, als er das sah, und gab Ham einen Rippenstoß, damit der etwas sagen sollte.

»All wedder lussig, Masr Davy?« fragte Ham mit seinem gewohnten Grinsen. »Wat sünn Sej grot woren.«

»Bin ich gewachsen«, fragte ich und trocknete mir die Augen. Ich weinte über nichts Besonderes, nur das Wiedersehen mit den alten Freunden entlockte mir Tränen.

»Grot woren? Masr Davy! ob hej grot woren is!« sagte Ham.

»Ob hej grot woren is«, wiederholte Mr. Peggotty.

Sie lachten einander an, bis ich mitlachen mußte, und dann lachten wir alle drei, bis mir wieder die Tränen kamen.

»Wissen Sie, wie es Mama geht, Mr. Peggotty«, fragte ich, »und meiner lieben, lieben, alten Peggotty?«

»Ungemein«, sagte Mr. Peggotty.

»Und der kleinen Emly und Mrs. Gummidge?«

»Un-gemein«, sagte Mr. Peggotty.

Es trat eine große Pause ein. Um sie zu beenden, holte Mr. Peggotty zwei ungeheure Hummern, eine riesige Krabbe und einen großen Segelleinwandbeutel voll Crevetten aus seinen Taschen und häufte sie auf Hams Armen auf.

»Weil Sie das gerne haben, wissen Sie«, sagte er, »haben wir uns die Freiheit genommen! Und die Alte hat se gekocht. Mrs. Gummidge hat se gekocht. Jawoll«, fügte er langsam hinzu, wie mir schien, weil er von nichts anders zu reden wußte. »Wahrhaftig, Mrs. Gummidge hat se gekocht.«

Ich drückte ihm meinen Dank aus, und Mr. Peggotty fuhr fort, Ham hilfesuchend anblickend, der die Krebse angrinste, ohne einen Versuch zu machen, ihn zu unterstützen:

»Wi kamen mit Flut und günstigen Wind in een von uns Yarmouthbooten nach Gravesend. Mien Schwester hett mich den Namen von dem Ort hier schrewen und schrewt, wenn ick nach Gravesend komme, soll ick heröwer kommen und nach Masr Davy fragen, un jem een schoin Gruß von ehr bringen un Gutes wünschen un seggen, daß sej ungemein gut geit. Lütt Emly soll an mien Schwester schriewen, wenn ick wedder to hus bün, dat ick Sej sehen heww und dat Sej woll sünn; un so war et en ganz lussigen Rundgang.«

Ich mußte erst ein wenig nachdenken, was Mr. Peggotty sagen wollte, dann dankte ich ihm herzlich und sagte, rot werdend, – wie ich fühlte, – die kleine Emly werde sich wohl auch verändert haben, seitdem wir zusammen Muscheln und Kiesel am Strande gesucht hatten.

»Is een grot Deeren woren; sej is«, sagte Mr. Peggotty. »Fragen Sie ihn.« Er meinte Ham, der wonnestrahlend über seinem Crevettenbeutel nickte und seine freudige Zustimmung ausdrückte.

»Ehr soit Gesicht!« sagte Mr. Peggotty und sein eignes glänzte wie ein Licht.

»Die Gelehrsamkeit«, sagte Ham.

»Ehr Handschrift«, sagte Mr. Peggotty. »Schwarz wie Kohle. Un so grot. Von witem to sehen.«

Es war wirklich eine Lust, welche Begeisterung über Mr. Peggotty kam, wenn er an seinen kleinen Liebling dachte. Er steht wieder vor mir mit seinem wetterharten haarigen Gesicht, strahlend vor freudiger Liebe und Stolz, daß es sich gar nicht beschreiben läßt. Seine ehrlichen Augen leuchteten auf und glänzten, als ob etwas Schimmerndes ihre Tiefen aufrührte. Seine breite Brust hob sich vor Entzücken. Seine großen starken Hände ballten sich unwillkürlich bei seinem Ernst zusammen, und er gab dem, was er sprach, Nachdruck durch Bewegungen seines Arms, der mir, dem Knirps, wie ein Schmiedehammer vorkam.

Ham meinte es ebenso ernsthaft. Ich glaube, sie würden noch mehr von ihr erzählt haben, wenn sie nicht durch das unvermutete Erscheinen Steerforths in Verlegenheit geraten wären. Als mich dieser in einer Ecke mit zwei Fremden sprechen sah, brach er das Lied ab, das er eben laut sang, und sagte: »Ich wußte nicht, daß du hier bist, kleiner Copperfield.« Es war nicht das gewöhnliche Besuchszimmer und er wollte vorbeigehen.

Ich weiß nicht, ob es der Stolz war, einen Freund wie Steerforth zu besitzen, oder der Wunsch, ihm zu erklären, wie ich zu solchen Bekannten, wie Mr. Peggotty käme, was mich veranlaßte, ihn herbeizurufen.

»Bitte, Steerforth«, sagte ich, »hier sind zwei Schiffer aus Yarmouth, so gute, liebe Leute, Verwandte meiner alten Kindsfrau, die von Gravesend gekommen sind, um mich zu besuchen.«

»O! O!« sagte Steerforth und drehte sich um. »Freut mich, Sie zu sehen. Wie geht es Ihnen?«

Es lag etwas Ungezwungenes in seinem Wesen, – etwas Frisches, Munteres, aber gar nichts Anmaßendes, das immer bestrickend auf alle wirkte. Immer noch kommt es mir vor, als ob seine Haltung, seine Lebhaftigkeit, seine gewinnende Stimme, sein hübsches Gesicht und eine gewisse ihm innewohnende Anziehungskraft einen Zauber ausübten, dem nur wenige widerstehen konnten. Es entging mir nicht, wie sehr er ihnen gefiel und wie sich ihm im Augenblick ihre Herzen erschlossen.

»Sie müssen auch zu Hause sagen, Mr. Peggotty, daß Mr. Steerforth sehr freundlich zu mir ist, und daß ich ohne ihn gar nicht wüßte, was anfangen.«

»Unsinn«, lachte Steerforth. »So etwas dürfen Sie ihnen dort nicht sagen.«

»Und wenn Mr. Steerforth einmal nach Norfolk oder Suffolk kommt, Mr. Peggotty«, sagte ich, »und ich bin auch dort, so bringe ich ihn ganz gewiß mit nach Yarmouth, um ihm Ihr Haus zu zeigen. Du hast noch nie so ein Haus gesehen, Steerforth. Es ist aus einem Schiff gemacht.«

»Aus einem Schiff, wahrhaftig?« sagte Steerforth. »Das ist das richtige Haus für so einen tüchtigen Schiffer.«

»Jawoll, Sir, is es auch«, sagte Ham grinsend. »Haben recht, junger Genlmn. Masr Davy, der Genlmn hat recht. N fixer Schipper. Jawoll. Dat is hej.«

Mr. Peggotty fühlte sich nicht weniger geschmeichelt als sein Neffe, wenn ihm auch seine Bescheidenheit verbot, ein persönliches Kompliment so laut auf sich zu beziehen.

»Woll, Sir«, sagte er mit einem Katzenbuckel und in sich hineinlachend und die Zipfel seines Taschentuchs verlegen in die Weste stopfend: »Schoin Dank, Sir, schoin Dank. Ick dau mien Schuldigkeit an Bord.«

»Auch der Beste kann nicht mehr, Mr. Peggotty«, sagte Steerforth, der sofort den Namen aufgefaßt hatte.

»Wette, Sej doons auch«, sagte Peggotty und schüttelte Steerforth die Hand, »und doons gehörich. – Ganz gehörich! Schoin Dank, Sir. Dank Ihnen, Sir, dat Sej mich so fründlich aufgenommen hewwen. Ick bün schlecht und recht, Sir, heißt, hoffe, bün recht, verstehen Sej? An mien Hus is noch vell to sehn, Sir, aber Sej sün willkomm, wenn Sej eenmal mit Masr Davy kommn, ick bün wie een Pagütz, dat bün ick«, sagte Peggotty. Er meinte damit wahrscheinlich eine Schnecke und spielte auf seine Langsamkeit im Fortgehen an, denn er hatte nach jedem Satz versucht, fortzugehen, war aber immer wieder umgekehrt. »Awer ick segg Sej beid Adjüs und wünsch Sej veel Glüch.«

Ham wiederholte diesen Gefühlsausbruch, und wir schieden von beiden auf das herzlichste. Ich fühlte mich an diesem Abend so versucht, Steerforth von der hübschen kleinen Emly zu erzählen, aber ich fürchtete von ihm ausgelacht zu werden.

Ich erinnere mich, daß ich viel und unruhig über Mr. Peggottys Wort nachdachte, daß sie ein großes Mädchen geworden sei, verwarf aber diesen Gedanken später als Unsinn.

Wir schleppten die Krebse, »dat Tüch«, wie Peggotty es bescheiden benannt hatte, unbemerkt in unser Zimmer und hielten an diesem Abend ein großes Festessen. Traddles kam dabei nicht gut weg. Er war ein zu großer Pechvogel, als daß er sich eines Essens, das jedem andern Menschen bekam, lange hätte erfreuen können. Es wurde ihm in der Nacht schlecht – ganz miserabel schlecht – nach der Krabbe, und nachdem er schwarze Tropfen und blaue Pillen in einer Menge geschluckt hatte, daß Demple, dessen Vater Arzt war, meinte, es wäre genug, um eines Pferdes Gesundheit zu untergraben, wurde er durchgehauen und bekam sechs Kapitel aus dem griechischen Testament auf, weil er sich zu beichten weigerte.

Den Rest des Semesters füllt ein Schwall von Erinnerungen aus an die ewigen Plagen und Mühseligkeiten unseres täglichen Lebens, an den schwindenden Sommer und den Wechsel der Jahreszeiten, an die kühlen Morgen, wenn man uns aus den Betten läutete und den kalten, kalten Geruch der dunklen Nächte, wenn wir wieder ins Bett mußten, an die schlecht beleuchtete und schlecht geheizte Abendschulstube und die Morgenklasse, die weiter nichts war als eine große Fröstelmaschine, – an die Abwechslung zwischen gekochtem Rindfleisch und Rinderbraten, gekochtem Hammelfleisch und Hammelbraten, an Butterbrote, Schulbücher mit Eselsohren, zerbrochene Schiefertafeln, Schreibhefte mit Tränenflecken, an spanische Rohr- und Linealhiebe, Ohrenbeutel, regnerische Sonntage, Talgpuddings und die schmutzige Tintenatmosphäre, die alles umgibt.

Ich erinnere mich noch so recht an die ferne Hoffnung auf die Feiertage, die in all der langen Zeit wie der einzig feste Punkt erschien. Ein Punkt, der sich uns immer mehr näherte und beständig größer wurde, wie wir zuerst Monate, dann Wochen und dann nur mehr Tage zählten, wie ich dann anfing, zu fürchten, daß ich nicht würde nach Hause reisen dürfen, – indessen, wie Steerforth herausbrachte, schon zu Hause angemeldet war, – und dann von dunklen Ahnungen gequält wurde, ich könnte inzwischen das Bein brechen. Wie endlich der Tag der Abreise näher kam, von der zweitnächsten Woche auf die nächste, dann auf die gegenwärtige, auf übermorgen, morgen, heute, heute abend, – wo ich in der Postkutsche in Yarmouth sitze und nach Hause fahre.

Ich schlummere meilenweise in der Kutsche und habe einen zusammenhängenden Traum von allen diesen Dingen. Aber wenn ich manchmal aufwache, ist die Gegend draußen vor dem Fenster nicht der Spielplatz von Salemhaus, und was in meine Ohren ruft, ist nicht Mr. Creakle, der eben Traddles prügelt, sondern der Kutscher, der die Pferde antreibt.

8. Kapitel Meine Ferien – Ein glücklicher Nachmittag


8. Kapitel Meine Ferien – Ein glücklicher Nachmittag

Als wir vor Tagesanbruch vor dem Gasthof hielten, aber nicht vor dem, wo mein Freund, der Kellner diente, wies man mir ein kleines, hübsches Schlafzimmer zu, über dessen Türe »Delphin« stand. Ich fror sehr trotz des heißen Tees, den sie mir unten vor einem großen Feuer eingeschenkt hatten, und legte mich gern in das Bett des »Delphins«, wickelte mich in die Bettdecke des »Delphins« und schlief ein.

Mr. Barkis, der Fuhrmann, sollte mich morgen früh um neun Uhr abholen. Ich stand um acht Uhr auf, ein wenig verschlafen nach dem kurzen Schlummer, und wartete auf ihn noch lange vor der Zeit. Er nahm mich auf, als ob seit unserm letzten Zusammensein nicht fünf Minuten verstrichen wären und ich bloß in den Gasthof gegangen sei, um Kleingeld einzuwechseln.

Sobald ich und mein Koffer im Wagen waren und er seinen Platz eingenommen hatte, setzte sich das faule Pferd in seinen gewohnten Trott.

»Sie sehen sehr gut aus, Mr. Barkis«, fing ich an.

Mr. Barkis rieb sich seine Backen mit dem Ärmel und sah dann hin, als ob er darauf die Blüte seines Gesichts abgefärbt zu sehen erwartete. Weiter gab er kein Zeichen der Anerkennung meines Kompliments von sich.

»Ich habe Ihren Auftrag ausgerichtet, Mr. Barkis«, sagte ich, »und an Peggotty geschrieben.«

»Hm«, meinte Mr. Barkis.

Er schien verdrießlich zu sein und antwortete sehr kurz.

»Wars nicht richtig, Mr. Barkis?« fragte ich nach einigem Zögern.

»Nun, nein«, sagte Barkis.

»Falsch ausgerichtet?«

»Ausgerichtet wars schon gut«, sagte Mr. Barkis, »aber dann wars aus.«

Da ich nicht verstand, was er meinte, wiederholte ich fragend:

»Dann wars aus, Mr. Barkis?«

»Wurde nichts draus«, erklärte er und blickte mich von der Seite an. »Keine Antwort.«

»Sie erwarteten also eine Antwort, Mr. Barkis?« sagte ich und riß die Augen auf, denn das kam mir ganz überraschend.

»Wenn ein Mensch sagt, er will«, sagte Mr. Barkis und wendete seine Augen langsam wieder auf mich, »heißts doch soviel wie, man wartet auf Antwort.«

»Wirklich, Mr. Barkis?«

»Wirklich«, sagte Mr. Barkis und zielte mit den Augen nach den Pferdeohren. »Der Mensch wartet immer noch auf die Antwort.«

»Haben Sie ihr das gesagt, Mr. Barkis?«

»Hm«, brummte Mr. Barkis und dachte darüber nach. »Hab mich noch nicht entschlossen. Sprach noch keine sechs Worte mit ihr. Kanns ihr nicht sagen.«

»Soll ichs ihr vielleicht sagen, Mr. Barkis?« fragte ich schüchtern.

»Könnten s schon, wenn Sie wollten«, sagte Mr. Barkis wieder mit einem langsamen Blick zu mir. »Daß Barkis auf Antwort wartet. Hm, wie ist doch der Name?«

»Ihr Name?«

»Hm«, sagte Mr. Barkis mit einem Kopfnicken.

»Peggotty.«

»Taufname, Vorname?« fragte Mr. Barkis.

»Nein, das ist nicht ihr Taufname. Ihr Vorname ist Klara.«

»So«, sagte Mr. Barkis.

Meine Antwort schien ihn außerordentlich stark zum Nachdenken anzuregen, denn er saß lange grübelnd da und pfiff innerlich.

»Hm«, fing er endlich wieder an, »sagen Sie Peggotty: Barkis wartet; und sagt sie, worauf? sagen Sie: auf Antwort. Sagt sie: worauf? sagen Sie: Barkis will.«

Diese außerordentlich knappe Erklärung begleitete Mr. Barkis mit einem freundschaftlichen Rippenstoß, daß mir die Seite weh tat. Darauf hockte er wieder wie gewöhnlich ruhig auf seinem Platz und blieb in dieser Stellung, bis er eine halbe Stunde später ein Stück Kreide aus der Tasche holte und innen an die Wagendecke schrieb: Klara Peggotty –. Offenbar als Privatnotiz.

Was für ein seltsames Gefühl, sich der Heimat zu nähern, die einem fremd geworden ist! Jeder Gegenstand, den man erblickt, erinnert einen an das alte, liebe Vaterhaus. Es kam mir alles wie ein Traum vor, den ich nie mehr wieder träumen könnte. Die Tage, wo meine Mutter, ich und Peggotty einander alles waren und noch niemand sich zwischen uns gedrängt hatte, erstanden unterwegs vor meinen Augen mit so traurigen Erinnerungen, daß ich am liebsten umgekehrt wäre und in Steerforths Gesellschaft vergessen hätte. Aber ich war jetzt angekommen und stand bald vor unserm Hause, wo die kahlen, alten Ulmen ihre vielen Hände in die kalte Winterluft hinausstreckten und Fetzen von den alten Krähennestern vom Winde fortgeweht wurden.

Der Fuhrmann lud meinen Koffer an der Gartentür ab und verließ mich. Ich ging den Fußsteig nach dem Hause zu, sah nach den Fenstern und fürchtete jeden Augenblick, Mr. oder Miss Murdstone zu erblicken. Es zeigte sich jedoch kein Gesicht, und ich trat leise und schüchtern ein.

Gott weiß, aus wie früher Kindheit die Erinnerung stammen mußte, die beim Klang der Stimme meiner Mutter wieder wach wurde, als ich den Fuß in den Flur setzte. Sie sang leise. Ich glaube, ich muß in ihren Armen gelegen und sie so singen hören haben, als ich noch ein Säugling war. Das Lied kam mir neu und doch so alt vor, daß es mein Herz zum Überströmen erfüllte. Es war mir wie ein alter Freund, der nach langer Abwesenheit zurückkehrt.

Aus der Weise, wie meine Mutter das Lied sang, schloß ich, daß sie allein sei, und ich trat leise ins Zimmer. Sie saß beim Feuer und säugte ein Kind, dessen winzige Händchen an ihrem Halse ruhten. Ihre Augen hingen an seinem Gesicht und sie sang ihm etwas vor. Ich sah sofort, daß sie allein war.

Ich sprach sie an. Sie fuhr auf und stieß einen Schrei aus. Aber als sie mich erkannte, nannte sie mich ihren lieben Davy, ihr geliebtes Kind, kam mir entgegen, kniete vor mir nieder und küßte mich und legte meinen Kopf an ihre Brust neben das kleine Wesen, das sich an sie anklammerte, und legte seine Händchen an meine Lippen.

Ich wollte, ich wäre gestorben mit diesem Gefühl im Herzen. Ich hätte besser für den Himmel gepaßt, als jemals später.

»Es ist dein Brüderchen«, sagte meine Mutter und liebkoste mich. »Davy, mein hübscher Junge, mein armes Kind.« Dann küßte sie mich immer mehr und mehr und umschlang meinen Nacken. Dann kam Peggotty hereingelaufen, warf sich auf dem Boden neben uns hin und war eine Viertelstunde lang halb von Sinnen. Man hatte mich nicht so zeitig erwartet, und der Fuhrmann war früher angekommen als gewöhnlich. Mr. und Miss Murdstone befanden sich in der Nachbarschaft auf Besuch und würden, erfuhr ich, nicht vor Abend zurückkommen. Das hatte ich nicht zu hoffen gewagt. Ich hätte es nie für möglich gehalten, daß wir drei würden wieder einmal ungestört beisammen sein können, und für dies eine Mal waren für mich die alten vergangnen Zeiten zurückgekehrt.

Wir speisten zusammen beim Kamin. Peggotty wollte uns bedienen, aber meine Mutter litt es nicht, und sie mußte sich mit zu Tisch setzen. Ich hatte meinen alten Teller wieder mit einem braunen Kriegsschiff unter vollen Segeln darauf, den Peggotty sorgfältig aufgehoben und für hundert Pfund nicht zerbrochen hätte, wie sie sagte. Ich hatte meinen alten Trinkbecher mit dem Namen »David« drauf und mein altes Besteck, das noch immer stumpf war.

Als wir bei Tische saßen, hielt ich es für den geeignetsten Moment, Mr. Barkis‘ Auftrag auszurichten. Ehe ich damit zu Ende kam, fing Peggotty an zu lachen und hielt die Schürze vors Gesicht.

»Peggotty«, sagte meine Mutter. »Was gibts denn?«

Peggotty lachte nur noch mehr und hielt ihre Schürze noch fester vors Gesicht, als meine Mutter sie wegziehen wollte. Sie saß da wie mit dem Kopf in einem Sack.

»Was hast du denn, du dummes Ding?« fragte meine Mutter lachend.

»Ach, der alberne Mensch«, rief Peggotty. »Er will mich heiraten.«

»Wäre das nicht eine ganz gute Partie für dich?« fragte meine Mutter.

»Ach, ich weiß nicht«, sagte Peggotty. »Fragen Sie mich nicht. Ich möcht ihn nicht haben, und wenn er von Gold wäre. Ich will überhaupt niemand haben.«

»Also warum sagst dus ihm nicht, du kindisches Ding?«

»Ihm sagen«, meinte Peggotty und sah unter ihrer Schürze hervor. »Er hat noch nie ein Wort davon erwähnt, er weiß ganz gut, warum. Wenn er sichs unterstehen würde, würd ich ihm eine Ohrfeige geben.«

Ihr Gesicht war röter, als ich es je gesehen hatte. Sie deckte es gleich wieder zu und brach in ein heftiges Lachen aus; und nachdem sich dieser Anfall zwei- oder dreimal wiederholt hatte, aß sie ruhig weiter. Ich bemerkte, daß meine Mutter wohl lächelte, wenn Peggotty sie ansah, aber immer ernster und nachdenklicher wurde. Mir war gleich aufgefallen, wie sehr sie sich verändert hatte. Ihr Gesicht war immer noch sehr hübsch, aber es schien allzu zart und sehr vergrämt. Ihre Hand war so weiß und dünn, daß sie mir fast durchsichtig vorkam. Aber jetzt trat noch eine andere Veränderung dazu, wie mir auffiel. Sie schien nämlich sehr beklommen und aufgeregt. Endlich legte sie ihre Hand liebevoll auf die ihrer alten Dienerin und sagte: »Liebe Peggotty, du verheiratest dich jetzt nicht?«

»Ich, Ma’am«, erwiderte Peggotty und sah sie mit großen Augen an, »Gott bewahre, nein.«

»Jetzt noch nicht«, bat meine Mutter zärtlich.

»Nie«, rief Peggotty aus.

Meine Mutter ergriff ihre Hand und sagte:

»Verlaß mich nicht, Peggotty; bleibe bei mir. Es wird vielleicht nicht mehr lang nötig sein. Was sollte ich ohne dich anfangen!«

»Ich dich verlassen, Herzblatt«, rief Peggotty. »Nicht um den ganzen Erdball und seine Frau. Wer hat das nur in das kleine törichte Köpfchen gesetzt?« Peggotty war aus alter Zeit her gewohnt, mit meiner Mutter manchmal wie mit einem Kinde zu sprechen.

Meine Mutter gab ihr keine Antwort außer einem einfachen »Dank dir.«

»Ich Sie verlassen? Das möcht ich sehen. Peggotty von Ihnen fortgehen, da möchte ich sie mir beim Kragen nehmen. Nein, nein«, und Peggotty schüttelte den Kopf und verschränkte die Arme. »Peggotty nicht, mein Schatz. Freilich sind ein paar Katzen da, die sich drüber freuen würden, aber sie sollen sich nicht freuen. Sie sollen sich nur ärgern. Ich bleibe bei Ihnen, bis ich ein altes buckliges Weib bin. Und wenn ich zu taub und zu lahm und zu blind bin und eine Mummelgreisin ohne Zähne, so geh ich zu meinem Davy und bitte ihn, mich aufzunehmen.«

»Und ich, Peggotty«, sagte ich, »ich werde froh sein, wenn du kommst, und werde dich empfangen wie eine Königin.«

»Gott segne das gute Herz!« rief Peggotty. »Ich weiß es ja.« Und sie küßte mich schon im voraus in dankbarer Erkenntlichkeit für meine künftige Gastfreundschaft. Dann deckte sie sich wieder das Gesicht mit der Schürze zu und lachte noch einmal über Mr. Barkis; nahm dann das Baby aus der Wiege und schaukelte es, räumte den Mittagstisch ab und kam in einer andern Haube herein mit ihrem Arbeitskästchen, dem Ellenmaß und dem Stückchen Wachslicht. Ganz wie ehemals.

Wir saßen beim Kamin und unterhielten uns köstlich. Ich erzählte ihnen von Mr. Creakles Strenge, und sie bedauerten mich sehr. Ich erzählte ihnen, was für ein famoser Bursche Steerforth sei und wie er mich in Schutz nehme, und Peggotty sagte, sie würde zwanzig Meilen weit gehen, um ihn zu sehen. Ich nahm den Säugling, als er wieder aufwachte, auf meine Arme und wiegte ihn zärtlich. Als er wieder schlief, setzte ich mich dicht neben meine Mutter, wie ehemals, und schlang die Arme um ihren Leib, legte meine kleine rote Wange auf ihre Schulter und fühlte wieder ihr schönes Haar mich umwehen wie ein Engelsfittich und war sehr glücklich. Während ich so dasaß und ins Feuer blickte und allerhand Bilder in den glühenden Kohlen sah, kam es mir fast vor, als wäre ich niemals von zu Hause weg gewesen, und Mr. und Miss Murdstone erschienen mir wie Gestalten, die verschwinden müßten, wenn das Feuer ausginge, und von allen meinen Erinnerungen sei nichts wahr und wirklich, außer meiner Mutter, Peggotty und mir selbst.

Peggotty stopfte, solange sie noch sehen konnte, und saß dann da, den Strumpf wie einen Handschuh über die linke Hand gezogen und die Nadel in der andern, bereit, sofort wieder anzufangen, sobald Licht kommen würde. Ich kann mir nicht erklären, wessen Strümpfe Peggotty eigentlich immer flickte, und woher diese Unmassen von notleidenden Strümpfen nur kamen.

»Ich möchte gerne wissen«, sagte Peggotty, über die manchmal ein Anfall seltsamen Wissensdurstes, ganz unerwartete Dinge betreffend, kam, »was aus Davys Großtante geworden ist.«

»Gott, Peggotty«, bemerkte meine Mutter und erwachte wie aus einem Traum, »was du für dummes Zeug redest.«

»Nun ja, aber ich möcht es doch gern wissen, Ma’am«, sagte Peggotty.

»Wie kann dir nur so jemand in den Kopf kommen? Kannst du dir niemand anders aussuchen?«

»Ich weiß nicht, wies kommt«, meinte Peggotty, »es liegt wahrscheinlich an meiner Einfältigkeit. Aber mein Kopf kann sich die Leute nicht aussuchen. Sie kommen und gehen und sie kommen nicht oder bleiben, gerade, wies ihnen gefällt. Ich möchte wirklich gerne wissen, was aus ihr geworden ist.«

»Wie albern du nur bist, Peggotty. Man sollte wirklich meinen, du wünschtest wieder einen Besuch von ihr.«

»Gott sei vor«, rief Peggotty.

»Also sprich nicht von solchen lästigen Dingen«, sagte meine Mutter. »Miss Betsey sitzt gewiß in ihrem Häuschen am Meer und geht gar nicht aus. Jedenfalls wird sie uns schwerlich noch einmal heimsuchen.«

»Nein«, gab Peggotty nachdenklich zu, »nein, das ist nicht wahrscheinlich. Ich möchte nur wissen, ob sie Davy etwas vermacht, wenn sie stirbt.«

»Ach Gott im Himmel, Peggotty!« rief meine Mutter. »Was du für ein einfältiges Frauenzimmer bist. Du weißt doch selbst, wie übel sie es nahm, daß das liebe Kind geboren wurde.«

»Aber vielleicht würde sie es ihm jetzt verzeihen«, bemerkte Peggotty.

»Warum sollte sie es ihm gerade jetzt verzeihen?« fragte meine Mutter ein wenig gereizt.

»Nun, weil er jetzt einen Bruder bekommen hat«, meinte Peggotty.

Meine Mutter fing sofort an zu weinen und jammerte, daß Peggotty so etwas sagen könnte.

»Als ob das kleine Wesen in der Wiege dir oder sonst jemand etwas zuleide getan hätte, du eifersüchtiges Ding. Geh, heirate doch Mr. Barkis, den Fuhrmann. Warum tust du es denn nicht?«

»Ich würde Miss Murdstone glücklich machen, wenn ichs täte.«

»Was für einen schlechten Charakter du hast, Peggotty«, antwortete meine Mutter. »Du bist auf Miss Murdstone so eifersüchtig, wie es ein so albernes Ding nur sein kann. Du willst wohl selbst die Schlüssel haben und alles herausgeben, nicht wahr? Es würde mich nicht wundern, wenn es so wäre. Du weißt doch, daß sie es nur aus Güte und mit der besten Absicht tut. Das weißt du, Peggotty, – weißt es recht gut.«

Peggotty brummte etwas vor sich hin, das so klang wie: »Zum Teufel mit den besten Absichten.«

»Ich weiß schon, was du meinst, du verrücktes Frauenzimmer. Ich durchschaue dich vollkommen, Peggotty. Du weißt, daß ich es tue, und wundere mich nur, daß du nicht feuerrot dabei wirst. Aber nehmen wir eins nach dem andern vor. Zuerst Miss Murdstone. Diesmal sollst du mir nicht entschlüpfen. Hast du nicht oft genug von ihr gehört, daß sie denkt, ich sei zu gedankenlos und zu – zu –«

»– hübsch«, ergänzte Peggotty.

»Nun meinetwegen«, gab meine Mutter lächelnd zu. »Und wenn sie töricht genug ist, das zu sagen, kann man sie doch deswegen nicht tadeln.«

»Das tut doch niemand«, knurrte Peggotty.

»Nun, das will ich auch meinen«, entgegnete meine Mutter. »Hast du nicht immer und immer von ihr gehört, daß sie mir deshalb viele Arbeit ersparen will, für die sie mich für ungeeignet hält, und ich mich auch, du weißt, wie sie früh und spät auf den Beinen ist und beständig auf und ab läuft –. Und macht sie nicht jede Arbeit, – kriecht in allen Winkeln, in Kohlenkellern und Speisekammern umher, was doch nicht angenehm ist! Und willst du durch die Blume zu verstehen geben, daß darin etwas anderes als Aufopferung läge?«

»Ich gebe überhaupt nichts durch die Blume zu verstehen«, sagte Peggotty.

»Du tust es doch, Peggotty«, entgegnete meine Mutter. »Du tust nie etwas anderes. Außer deine Arbeit. Du sprichst immer durch die Blume. Du schwelgst darin. Und wenn du von Mr. Murdstones guten Absichten sprichst –«

»Von denen hab ich noch nie gesprochen«, unterbrach Peggotty.

»Nein, Peggotty«, erwiderte meine Mutter. »Aber du spielst auf sie an. Das ist doch, was ich sage. Das ist das Allerschlimmste an dir. Du willst durch die Blume sprechen. Ich habe dir eben gesagt, daß ich dich durchschaue, und du siehst, es ist so. Wenn du von Mr. Murdstones guten Absichten sprichst und sie zu unterschätzen vorgibst, – das kann übrigens nicht dein Ernst sein, Peggotty, – so mußt du doch ebenso wie ich einsehen, wie förderlich sie sind. Wenn er manchmal barsch gegen irgend jemand ist, Peggotty, – du weißt natürlich und ich hoffe, auch Davy weiß es, daß ich nicht von Anwesenden spreche, – so geschieht es nur, weil er überzeugt ist, daß es zum Besten des Betreffenden ist. Er liebt natürlich den Betreffenden meinetwegen und handelt lediglich zu seinem Besten. Er kann das eben besser beurteilen als ich, denn ich weiß recht gut, daß ich ein schwaches, leichtsinniges, kindisches Geschöpf bin, während er ein fester, ernster Mann ist. Und er hat sehr viel mit mir auszustehen«, fuhr meine Mutter fort, und die Tränen, die ihrem liebebedürftigen Herzen entsprangen, rannen ihr die Wangen herab; »ich muß ihm sehr dankbar und selbst in meinen Gedanken sehr unterwürfig sein. Und wenn ich es nicht bin, Peggotty, so quält mich das, und ich verurteile mich selbst und mache mir Vorwürfe über mein schlechtes Herz und weiß nicht, was ich anfangen soll.«

Peggotty saß da, das Kinn auf die mit dem Strumpf überzogene Faust gestützt und blickte stumm ins Feuer.

»Also, liebe Peggotty«, sagte meine Mutter mit plötzlich ganz verändertem Ton, »seien wir wieder gut, denn ich könnte es nicht aushalten.«

»Ich weiß ja, du bist meine treueste Freundin, wenn ich auf der Welt überhaupt noch eine andere habe. Wenn ich dich ein einfältiges oder albernes Ding nannte, Peggotty, wollte ich damit nur sagen, daß du meine treueste Freundin bist und warst, schon von jenem Abend an, als Mr. Copperfield mich zuerst hierherbrachte und du mir an der Gartentüre entgegenkamst.«

Peggotty ließ mit der Antwort nicht auf sich warten und besiegelte den Vertrag, indem sie mich mit einer ihrer kräftigsten Umarmungen beglückte.

Ich glaube, ich hatte damals schon eine leise Ahnung von dem wahren Sinn dieser Unterhaltung. Heute weiß ich ganz genau, daß die gute Person das Gespräch nur veranlaßte, um meiner Mutter durch kleine Widersprüche eine gewisse Erleichterung zu verschaffen. Die Wirkung war sichtlich, denn wie ich mich noch erinnere, schien meine Mutter den ganzen übrigen Tag viel heiterer und Peggotty brauchte sie nicht mehr so sorgenvoll anzusehen.

Nachdem wir Tee getrunken, das Feuer geschürt und die Kerzen geputzt hatten, las ich Peggotty zur Erinnerung an alte Zeiten ein Kapitel aus dem Krokodilbuch vor, – sie hatte es aus der Tasche gezogen. Ob sie es immer darin getragen hatte? – Und dann sprachen wir von Salemhaus, was mich wieder auf Steerforth brachte, mein Lieblingsthema. Wir fühlten uns alle sehr glücklich, und dieser Abend, der letzte in seiner Art und bestimmt, diesen Band meines Lebens für immer zu schließen, wird nie aus meinem Gedächtnis entschwinden.

Es war fast zehn Uhr, als wir draußen einen Wagen halten hörten. Wir standen alle auf und meine Mutter sagte hastig, Mr. und Miss Murdstone sähen es gerne, wenn junge Leute früh zu Bett gingen, und es sei schon spät. Ich küßte sie und ging sogleich mit meiner Kerze hinauf. Mir war, als ob mit den beiden ein erkaltender Lufthauch in das Haus käme und das alte, heimische, traute Gefühl wie eine Feder davonbliese.

Ich fühlte mich sehr unbehaglich am nächsten Morgen, als ich zum Frühstück hinuntergehen mußte. Hatte ich doch Mr. Murdstone seit jenem Tag, als ich das große Verbrechen an ihm begangen, nicht weiter gesehen. Aber einmal mußte es geschehen, und ich erreichte die Stubentür, nachdem ich zwei- bis dreimal auf den Fußspitzen wieder umgekehrt war. Endlich trat ich ins Zimmer.

Er stand mit dem Rücken zum Kamin, während Miss Murdstone den Tee bereitete. Er sah mich durchdringend an, als ich eintrat, gab aber kein Erkennungszeichen von sich. Nach einigen Augenblicken der Verwirrung ging ich auf ihn zu und sagte: »Ich bitte Sie um Verzeihung, Sir. Was ich getan habe, tut mir außerordentlich leid, und ich hoffe, daß Sie es mir vergeben.«

»Es freut mich, daß es dir leid tut, David«, antwortete er.

Die Hand, die er mir reichte, war die, die ich gebissen hatte.

Ich konnte mir nicht helfen, ich mußte die rote Narbe eine Zeitlang ansehen. Aber sie war nicht so rot wie ich, als ich seinem falschen Blick begegnete.

»Wie befinden Sie sich, Ma’am«, sagte ich zu Miss Murdstone.

»Ach mein Gott!« seufzte Miss Murdstone und reichte mir den Teelöffel statt ihres Fingers. »Wie lang dauern die Ferien?«

»Einen Monat, Ma’am.«

»Von wann an?«

»Von heute an, Ma’am.«

»Na«, sagte Miss Murdstone. »Das wäre ja schon ein Tag weniger.«

Sie führte in dieser Art einen Ferienkalender und strich an jedem Morgen einen Tag. Anfangs schnitt sie ein betrübtes Gesicht, solange sie noch nicht beim zehnten war, aber ihre Mienen hellten sich auf, als die zweistelligen Zahlen erreicht waren, und wurden um so heiterer, je näher das Ende heranrückte.

Schon am ersten Tag hatte ich das Unglück, sie in einen Zustand größter Aufregung zu versetzen, trotzdem sie solchen Schwächen sonst nicht unterworfen war. Ich kam nämlich in das Zimmer, wo sie und meine Mutter saßen, und da der Säugling, der erst ein paar Wochen alt, auf meiner Mutter Schoß lag, nahm ich ihn höchst sorgsam in meine Arme.

Plötzlich stieß Miss Murdstone einen solchen Schrei aus, daß ich ihn fast hätte fallen lassen.

»Liebe Jane!« fuhr meine Mutter auf.

»Gott im Himmel, Klara! Siehst du nicht?« rief Miss Murdstone aus.

»Was denn, liebe Jane«, fragte meine Mutter. »Wo denn?«

»Er hat es!« rief Miss Murdstone. »Der Junge hat das Baby.«

Sie brach fast zusammen vor Entsetzen, richtete sich aber wieder auf, um auf mich loszustürzen und mir das Kind zu entreißen. Dann wurde ihr so schlecht, daß man ihr Kirschbranntwein geben mußte. Als sie sich wieder erholt hatte, untersagte sie mir auf das feierlichste, mein Brüderchen jemals wieder, unter welchem Vorwand immer, anzurühren, und meine Mutter bestätigte demütig das Verbot, trotzdem sie mir anderer Meinung schien, und sagte: »Du hast gewiß recht, liebe Jane.«

Wiederum bei einer Gelegenheit, als wir beisammen saßen, war das Baby – ich hatte es lieb meiner Mutter wegen – wieder die unschuldige Ursache, die Miss Murdstone in heftigste Erregung versetzte. Meine Mutter sagte nämlich, nachdem sie die Augen des Säuglings in ihrem Schoße lange betrachtet hatte: »Davy, komm einmal her und laß mich deine Augen sehen.«

Ich bemerkte, wie Miss Murdstone ihre Stahlperlen hinlegte.

»Also ich erkläre«, sagte meine Mutter sanft, »daß sie vollkommen gleich sind. Ich glaube, es sind meine Augen. Sie haben dieselbe Farbe wie meine. Sie sind einander wunderbar gleich.«

»Wovon sprichst du, Klara?« fragte Miss Murdstone.

»Liebe Jane«, stammelte meine Mutter bestürzt durch den herben Ton dieser Frage, »ich finde, daß das Baby und Davy ganz dieselben Augen haben.«

»Klara«, sagte Miss Murdstone und stand zornig auf. »Manchmal bist du ganz verrückt.«

»Aber liebe Jane«, remonstrierte meine Mutter.

»Vollständig verrückt«, sagte Miss Murdstone. »Wie könntest du sonst meines Bruders Kind mit deinem Jungen vergleichen. Sie sind einander gar nicht ähnlich. Sie sind einander vollständig unähnlich. Unähnlich in jeder Hinsicht. Ich hoffe, sie werden es immer bleiben. Ich kann solche Vergleiche nicht ruhig mit anhören.« Damit stolzierte sie hinaus und pfefferte die Tür hinter sich zu.

Mit einem Wort, ich stand mit Miss Murdstone nicht auf gutem Fuß. Überhaupt mit niemand, nicht einmal mit mir selbst. Die mich lieb hatten, durften es nicht zeigen, und die mich nicht leiden konnten, zeigten es so deutlich, daß ich mich von dem immerwährenden Bewußtsein, duckmäuserisch, ungeschickt und mürrisch zu erscheinen, nicht befreien konnte.

Ich fühlte, daß ich ihnen so zur Last fiel, wie sie mir. Wenn ich in das Zimmer kam, wo sie gerade saßen und miteinander sprachen, und meine Mutter schien heiter zu sein, umwölkte sich sofort ihr Gesicht. War Mr. Murdstone in seiner besten Laune, so kam ich als Störenfried. Und Miss Murdstones schlechteste steigerte ich noch. Ich bemerkte ganz gut, daß meine Mutter immer das Opfer war. Sie fürchtete sich, mit mir zu sprechen oder freundlich mit mir zu sein, um sich dadurch nicht einen Verweis zuzuziehen. Hauptsächlich aber nicht ihretwegen, sondern um mich bangte sie. Und ängstlich bewachte sie die Blicke der Murdstones, wenn ich mich nur rührte. Deshalb beschloß ich, allen möglichst aus dem Wege zu gehen, und saß manche kalte Winterstunde in meinem einsamen Schlafzimmer und brütete, in meinen kleinen Überrock gehüllt, über einem Buch.

Des Abends leistete ich zuweilen Peggotty in der Küche Gesellschaft. Dort fühlte ich mich wohl und brauchte mich nicht zu genieren. Aber das fand im Wohnzimmer keine Billigung. Die dort herrschende Quälerlaune machte all dem bald ein Ende. Man hielt mich immer noch für ein unentbehrliches Hilfsmittel zur Erziehung meiner armen Mutter und konnte meine Anwesenheit nicht missen.

»David«, sagte Mr. Murdstone eines Tags nach dem Abendessen, als ich mich wieder drücken wollte, »ich bemerke zu meinem Leidwesen, daß du mürrischer Gemütsart bist.«

»Mürrisch wie ein Bär«, sagte Miss Murdstone.

Ich blieb stehen und ließ den Kopf hängen. »Ein mürrischer und verstockter Charakter, David«, sagte Mr. Murdstone, »ist das Allerschlimmste.«

»Und der Junge ist das Verstockteste, was ich jemals gesehen habe«, bemerkte seine Schwester. »Ich glaube, selbst du, liebe Klara, mußt es bemerken.«

»Ich bitte um Entschuldigung, liebe Jane«, sagte meine Mutter, »aber bist du auch wirklich sicher, – du wirst es gewiß entschuldigen, liebe Jane, – bist du sicher, daß du Davy verstehst?«

»Ich müßte mich wirklich schämen, Klara, wenn ich den oder jeden andern Knaben nicht verstünde«, antwortete Miss Murdstone. »Ich behaupte gewiß nicht, sehr tief zu sein, aber auf gesunden Menschenverstand kann ich doch Anspruch machen.«

»Gewiß, liebe Jane«, antwortete meine Mutter, »bist du von sehr starkem Verstande.«

»O Gott, nein, bitte, sag das nicht, Klara«, unterbrach Miss Murdstone ärgerlich.

»Aber ich weiß, daß es der Fall ist«, fing meine Mutter wieder an, »und jeder weiß es. Ich selbst habe so mancherlei großen Nutzen davon – oder sollte es wenigstens haben –, daß niemand mehr davon überzeugt sein kann als ich, und deshalb äußere ich meine Meinung auch nur sehr schüchtern, meine liebe Jane, ich versichere es dir.«

»Also gut, ich verstehe den Jungen nicht, Klara«, sagte Miss Murdstone und ordnete die kleinen Fesseln an ihren Handgelenken. »Gut, wenn du willst, ich verstehe ihn also gar nicht. Er ist viel zu tief für mich. Aber vielleicht ist der Scharfblick meines Bruders durchdringend genug, Einsicht in diesen Charakter zu gewinnen. Und ich glaube, mein Bruder sprach gerade über dieses Thema, als wir ihn unschicklicherweise unterbrachen.«

»Ich glaube, Klara«, fiel Mr. Murdstone mit ernster Baßstimme ein, »es gibt bessere und unbefangenere Richter in dieser Frage als du bist.«

»Edward«, antwortete meine Mutter unterwürfig, »du bist natürlich in allen Fragen ein besserer Richter als ich und auch als Jane. Ich sagte nur –«

»Du sagtest nur etwas Schwaches und Unüberlegtes«, antwortete er. »Tue es nicht wieder, liebe Klara, und halte dich besser im Zaum.«

Die Lippen meiner Mutter bewegten sich, als ob sie antworteten: »Ja, lieber Edward.«

»Ich habe zu meinem Leidwesen bemerkt, David«, nahm Mr. Murdstone seine Rede wieder auf, »daß du von verstockter Gemütsart bist. Ich werde nicht ruhig zusehen, ohne nicht den Versuch zu machen, dich zu bessern. Du mußt sich anstrengen, anders zu werden, David. Wir müssen uns bemühen, dich anders zu machen.«

»Ich bitte um Entschuldigung, Sir«, stotterte ich, »ich glaube nicht, verstockt gewesen zu sein seit meiner Rückkehr.«

»Nimm deine Zuflucht nicht zur Lüge«, herrschte er mich so wild an, daß meine Mutter unwillkürlich ihre zitternde Hand ausstreckte, um mich zu schützen. »Du ziehst dich in deiner Verstocktheit auf dein eignes Zimmer zurück, du bleibst in deinem Zimmer, wenn du hier sein solltest. Ich sage es dir jetzt ein für allemal, daß ich dich hier und nicht dort zu sehen wünsche. Ferner, daß ich Gehorsam von dir verlange. Du kennst mich, David, ich will es.«

Miss Murdstone lachte spitzig auf.

»Ich will ein achtungsvolles, gehorsames und bereitwilliges Benehmen gegen mich, gegen Jane Murdstone und gegen deine Mutter sehen. Ich will nicht haben, daß ein Kind nach seinem Belieben dieses Zimmer scheut, als sei es verpestet. Setz dich.«

Er befahl mir wie einem Hund, und ich gehorchte wie ein Hund.

»Noch eins«, sagte er. »Ich bemerke, daß du einen Hang zu niedriger und gemeiner Gesellschaft zeigst. Du hast nicht mit Dienstboten umzugehen. In der Küche wirst du von den vielen Dingen, die dir noch fehlen, nichts lernen. Von dem Weib, das dir Vorschub leistet, schweige ich, da du selbst, Klara«, – er wandte sich etwas leiser zu meiner Mutter – »aus alter Erinnerung und langer Gewohnheit in bezug auf sie eine Schwäche an den Tag legst, die noch nicht überwunden ist.«

»Eine ganz unerklärliche Verblendung!« rief Miss Murdstone.

»Ich sage also«, fuhr er wieder zu mir gewendet fort, »daß ich es mißbillige, wenn du eine Gesellschaft wie Frau Peggotty vorziehst, und daß du sie daher aufzugeben hast. Jetzt verstehst du mich, David, und kennst die Folgen, die dir blühen, wenn du mir nicht wortwörtlich gehorchst.«

Ich zog mich also nicht mehr auf mein Zimmer zurück, suchte nicht mehr meine Zuflucht bei Peggotty und saß traurig Tag für Tag in der Wohnstube und sehnte mich nach der Nacht und dem Schlafengehen.

Unter welch peinlichem Zwang hatte ich zu leiden, wenn ich in derselben Stellung stundenlang dasitzen mußte und aus Angst nicht Arm oder Fuß rührte, damit nicht Miss Murdstone immerwährend über mein unruhiges Wesen klagte; ich sah vor mich hin, um nicht einem Blick der Abneigung oder des Forschens zu begegnen und neuen Stoff zur Beschwerde zu geben. Welch unerträgliche Langeweile, dem Ticken der Uhr zuzuhören, zu sehen, wie Miss Murdstone die kleinen, glänzenden Stahlperlen aufreihte, sich den Kopf zu zerbrechen, ob sie wohl jemals heiraten würde, und wenn, was für einen Unglücklichen wohl, die Furchen im Kamin zu zählen und dann mit den Augen durch die labyrinthischen Verschlingungen der Tapete hinauf zur Decke zu schweifen.

Wie einsam waren meine Spaziergänge durch die schmutzigen Gassen bei dem schlechten Winterwetter. Ich schleppte das Bild des Wohnzimmers mit Mr. und Miss Murdstone darin in meinem Innern überall hin und mit mir herum: eine ungeheure Last, die ich da trug, ein Alpdruck bei Tage, den ich nicht zu verscheuchen vermochte, ein Gewicht auf meinem Geist, das mich stumpf machte. Wie vielmal saß ich am Speisetisch stumm und verlegen da, immer mit dem Gefühl, daß ein Besteck zu viel da sei, und zwar das meine, ein Magen zu viel, nämlich der meine, ein Teller und ein Stuhl zu viel, und zwar der meine, und eine Person zu viel, nämlich ich.

Was waren das für Abende, wenn die Kerzen kamen, und ich mich beschäftigen mußte, und weil ich nicht wagte, ein unterhaltendes Buch zu lesen, mich über einen hartköpfigen und noch hartherzigeren arithmetischen Leitfaden hermachte. Maß- und Gewichtstabellen paßten sich Melodien an, wie »Rule Britannia« und »Weg mit den Grillen und Sorgen«, und gingen mir durch ein Ohr herein und aus dem andern wieder hinaus.

Oft konnte ich das Gähnen nicht mehr verbeißen und nickte trotz aller Vorsicht ein. Wie erschreckt fuhr ich dann aus dem heimlichen Schlummer wieder auf. Nur selten versuchte ich schüchterne Bemerkungen und erhielt niemals eine Antwort. Wie sehr kam ich mir wie eine Null vor, die niemand beachtete und die doch jedem im Weg stand, und immer war es mir eine Art Trost, wenn mir Miss Murdstone beim ersten Schlag Neunuhr befahl, zu Bett zu gehen.

So schleppten sich die Ferien hin bis zu dem Morgen, wo Miss Murdstone sagte: »Heute ist der letzte Tag um«, und mir für die Ferien die letzte Tasse Tee gab.

Der Abschied fiel mir nicht schwer. Ich war in einen Zustand von Stumpfheit verfallen, aus dem mir nur die Hoffnung auf Steerforth ein wenig heraushalf, wenn auch Mr. Creakle hinter ihm dräute. Wieder erschien Mr. Barkis an der Gartentür und wieder sprach Miss Murdstones warnende Stimme: »Klara!« als sich meine Mutter über mich beugte, um mir Lebewohl zu sagen.

Ich küßte meine Mutter und mein kleines Brüderchen und war sehr traurig. Nicht so sehr die Umarmung, die inbrünstiger war als sie sein durfte, lebt in meiner Erinnerung fort als das, was jetzt folgte.

Ich saß schon im Wagen, als meine Mutter mich noch einmal rief. Ich sah hinaus, und sie stand in der Gartentür allein und hielt den Säugling empor, um ihn mir zu zeigen. Die Luft war kalt und still und kein Haar auf ihrem Haupte, keine Falte ihres Kleides regte sich, als sie mich beredt ansah und ihr Kind in die Höhe hielt.

So verlor ich sie. So sah ich sie später in meinen Träumen in der Schule – eine stumme Gestalt vor meinem Bett, immer mit demselben beredten Gesicht und dem Säugling in den Armen.

9. Kapitel Ein denkwürdiger Geburtstag


9. Kapitel Ein denkwürdiger Geburtstag

Ich übergehe alles, was sich in der Schule abspielte bis zu meinem Geburtstag im März. Außer daß Steerforth noch bewunderungswürdiger war als je, ist mir nichts im Gedächtnis geblieben. Er sollte am Ende des Semesters austreten und kam mir lebhafter und selbstständiger vor als je, und daher noch gewinnender. Sonst weiß ich nichts mehr. Das große Ereignis, das diese Zeit für mich auszeichnet, scheint alle kleinen Erinnerungen verschlungen zu haben und allein übriggeblieben zu sein. Wie klar ich mich an den Tag erinnere! Ich rieche den Nebel, der das Haus umdunkelt, sehe die Gegenstände draußen wie gespenstige Schatten hindurchschimmern, ich fühle mein bereiftes Haar sich kalt und feucht an meine Wange kleben, ich blicke in die dämmerhafte Perspektive der Schulstube hinab, wo hie und da ein flackerndes Licht das trübe Zwielicht erleuchtet und der Atem der Schüler sich dampfend in die kalte Luft erhebt, wenn sie sich auf die Finger blasen, mit den Füßen auf dem Flur stampfend.

Wir waren nach dem Frühstück eben vom Spielplatz hereingekommen, als Mr. Sharp eintrat und sagte:

»David Copperfield soll zum Direktor kommen.«

Ich erwartete ein Geburtstagsgeschenk von Peggotty, und mein Gesicht heiterte sich auf.

Einige Jungen um mich herum mahnten mich, ihrer bei der Verteilung der guten Dinge nicht zu vergessen, als ich sehr vergnügt von meinem Platze aufsprang.

»Eil dich nicht, David«, sagte Mr. Sharp. »Du hast Zeit genug, mein Kind. Eil dich nicht.«

Der warme Ton, mit dem er sprach, hätte mir auffallen müssen, aber ich achtete nicht darauf.

Ich eilte in das Wohnzimmer und sah dort Mr. Creakle beim Frühstück sitzen, Rohrstock und eine Zeitung neben sich. Er hielt einen offnen Brief in der Hand. Ein Geburtstagskorb war nicht da.

»David Copperfield«, sagte Mrs. Creakle und führte mich zum Sofa und setzte sich neben mich. »Ich habe etwas Besonderes mit dir zu reden. Ich habe dir etwas mitzuteilen, mein Kind.«

Mr. Creakle, zu dem ich natürlich hinschielte, schüttelte nur den Kopf, ohne mich anzusehen, und verschluckte einen Seufzer mit einem großen Stück Butterbrot.

»Du bist noch zu jung, um zu wissen, wie die Welt sich mit jedem Tag verändert«, sagte Mrs. Creakle, »und wie die Menschen dahingehen, aber wir alle müssen daran glauben, David, manche von uns in der Jugend, manche im Alter. Manche haben es das ganze Leben vor Augen.«

Ich sah sie mit Spannung an.

»Befanden sich alle wohl, als du nach den Ferien von zu Hause wegreistest?« fragte Mrs. Creakle nach einer Pause. »War deine Mama wohl?«

Ich zitterte, ohne recht zu wissen warum, sah sie immer noch mit großem Ernst an, konnte aber nicht antworten. Sie fuhr fort:

»Weil ich dir zu meinem größten Kummer sagen muß, daß deine Mutter sehr krank ist, wie ich heute morgen erfuhr.«

Ein Nebel bildete sich zwischen Mrs. Creakle und mir, und ihre Gestalt schien einen Augenblick zu schwanken. Dann stürzten mir die brennenden Tränen aus den Augen und ich sah sie wieder deutlich neben mir sitzen.

»Sie ist sehr gefährlich krank.«

Jetzt wußte ich alles.

»Sie ist gestorben.«

Sie hätte es nicht auszusprechen brauchen. Ich hatte bereits einen verzweifelten Schmerzensschrei ausgestoßen und begriff, daß ich eine Waise war in der weiten Welt.

Mrs. Creakle benahm sich sehr gütig zu mir.

Sie behielt mich den ganzen Tag bei sich im Zimmer und ließ mich nur manchmal allein. Und ich weinte, bis ich vor Erschöpfung einschlief, und wachte auf und jammerte wieder. Als ich nicht mehr weinen konnte, fing ich an zu grübeln. Da wurde mir die Brust noch enger und mein Gram schwoll zu einem dumpfen Schmerz an, für den es keine Linderung gab.

Und doch flatterten meine Gedanken herum und blieben nicht fest an dem Unglück haften, das mich niederdrückte. Ich dachte an unser Haus, wie es nun verschlossen und öde wäre. Ich dachte an das kleine Kindchen, das, wie Mrs. Creakle sagte, seit einiger Zeit hinsiechte und, wie man fürchte, wohl auch sterben würde. Ich dachte an meines Vaters Grab auf dem Kirchhof neben unserm Hause, und daß meine Mutter jetzt auch bald unter dem mir so bekannten Baume ruhen werde. Ich stellte mich auf den Stuhl, als man mich allein gelassen, und blickte in den Spiegel, um zu sehen, wie rot meine Augen und bekümmert meine Züge seien. Ich fragte mich nach einigen Stunden, ob meine Tränen wirklich versiegt wären, wie es der Fall zu sein schien. Das schmerzte mich außer meinem Verlust am meisten, wenn ich an das Nachhausegehen dachte; – sollte ich doch dem Leichenbegräbnis beiwohnen.

Dann hatte ich die Empfindung, als ob mich etwas vor den übrigen Knaben auszeichne, und daß ich in meiner Betrübnis eine wichtige Person sei.

Wenn jemals ein Kind einen aufrichtigen Schmerz fühlte, so war ich es, aber ich erinnere mich, daß diese Wichtigkeit mir eine Art Trost gewährte, als ich nachmittags während der Schulstunden allein auf dem Spielplatz herumging. Wenn die Schüler aus dem Fenster nach mir herunterblickten, fühlte ich mich ausgezeichnet und sah noch gramvoller drein und ging langsamer. Als die Schule aus war und sie herauskamen und mich anredeten, rechnete ich es mir wie Güte an, daß ich mich nicht stolz gegen sie benahm und sie alle ebenso sehr beachtete wie früher.

Ich sollte am nächsten Abend nach Hause fahren, aber nicht mit der Nachtpost, sondern mit der gewöhnlichen Postkutsche, die man den Landwagen nannte, weil sie meist von Bauern benutzt wurde, die nur kurze Strecken reisten. Das Geschichtenerzählen unterblieb für diesen Abend, und Traddles bestand darauf, mir sein Kissen zu leihen. Ich begriff nicht, was es mir helfen sollte. Aber der arme Kerl hatte sonst nichts herzugeben, außer einen Bogen Papier voll Gerippen, den er mir zum Abschied als Tröster für meinen Schmerz und zum Wiederherstellen meines Seelenfriedens schenkte.

Ich verließ Salemhaus nachmittags und ahnte nicht, daß ich nicht wieder zurückkehren sollte. Wir fuhren die ganze Nacht hindurch sehr langsam und erreichten Yarmouth erst um zehn Uhr morgens. Ich schaute nach Mr. Barkis aus, aber er war nicht da, und an seiner Stelle erschien am Kutschenfenster ein dicker, kurzatmiger, fröhlich aussehender kleiner alter Mann in schwarzem Anzug, mit fadenscheinigen schwarzen Schleifen an den Kniehosen und einem breitkrempigen Hut und sagte:

»Master Copperfield?«

»Ja, Sir.«

»Wenn Sie mit mir kommen wollen, junger Herr«, und er öffnete die Tür, »so werde ich das Vergnügen haben, Sie heimzubringen.«

Ich gab ihm meine Hand und hätte gern gewußt, wer er wäre. Dann gingen wir in einen Laden in einer engen Gasse, über dem geschrieben stand: Omer, Tuchhändler, Schneider, Hutmacher, Leichenbesorger usw. Es war ein kleiner, dumpfer Laden, voll von fertigen und halbfertigen Kleidern aller Art; am Fenster hingen Filzhüte und Mützen. Wir traten in ein kleines Stübchen hinten, wo drei junge Mädchen eine große Menge schwarzen Stoffes verarbeiteten, der über den ganzen Tisch ausgebreitet war, während kleine Schnitzel davon auf dem ganzen Fußboden verstreut lagen. Es brannte ein starkes Feuer im Ofen und ein erstickender Geruch von warmem schwarzem Krepp erfüllte die Luft.

Die drei Mädchen, die sehr munter und fleißig zu sein schienen, hoben einen Augenblick ihre Köpfe und nähten dann weiter. Gleichzeitig tönte aus einem Arbeitsschuppen auf einem kleinen Hof vor dem Fenster ein taktmäßiges Hämmern herein: rat-tat-tat, rat-tat-tat, rat-tat-tat, – ohne Unterbrechung.

»Nun«, sagte mein Führer zu einem der drei Mädchen. »Wie weit bist du, Minnie?«

»Wir werden schon rechtzeitig zum Anprobieren fertig sein«, antwortete die Gefragte munter, ohne aufzublicken. »Hab keine Angst, Vater.«

Mr. Omer nahm den breitkrempigen Hut ab, setzte sich nieder und keuchte. Er war so dick, daß er einige Zeit brauchte, ehe er sagen konnte: »Da bin ich froh.«

»Vater«, sagte Minnie lustig, »du wirst dick wie eine Robbe.«

»Ich weiß auch nicht, wies kommt, aber es ist so.«

»Du bist zu bequem, da siehst dus. Du nimmst die Dinge zu leicht.«

»Es hat keinen Zweck, sie anders zu nehmen, mein Herz«, meinte Mr. Omer.

»Nein, wahrhaftig nicht«, gab seine Tochter zur Antwort. »Wir sind alle fröhlich hier, Gott sei Dank, nicht wahr, Vater?«

»Hoffentlich, mein Kind. Da ich jetzt wieder Luft gekriegt habe, will ich diesem jungen Gelehrten Maß nehmen. Wollen Sie so gut sein und mit mir in den Laden kommen, Master Copperfield?«

Ich ging vor Mr. Omer her; nachdem er mir ein Stück Tuch gezeigt hatte, das, wie er sagte, extra superfein sei und für alles andere als für Trauer um Eltern zu fein wäre, nahm er mir Maß und schrieb es in ein Buch.

Während er die Zahlen notierte, wies er auf sein Warenlager und auf gewisse Moden, die eben »aufgekommen« und andere, die wieder »abgekommen« waren.

»Und dabei verlieren wir oft viel Geld«, sagte er. »Die Moden sind wie die Menschen, sie kommen und gehen und niemand weiß, wann, warum und wieso. Meiner Meinung nach ist alles wie das Leben, wenn man es von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet.«

Mir war viel zu kummervoll zumute, als daß ich mich auf das Gespräch, das wohl auch unter andern Umständen über mein Begriffsvermögen gegangen wäre, hätte einlassen können. Mr. Omer führte mich wieder keuchend zurück in die Stube. Dann rief er eine kleine Treppe hinab: »Bringt den Tee herauf und Butterbrot«, was nach einiger Zeit, währenddessen ich mich umgeschaut und nachgegrübelt, dem Nähen in der Stube zugesehen und dem Hämmern im Hof draußen zugehört hatte, auf einem Präsentierbrett erschien und für mich bestimmt war.

»Ich kenne Sie schon lange, mein junger Freund«, sagte Mr. Omer, während er mir beim Frühstück zusah, von dem ich nur wenig genießen konnte, weil mir die schwarze Umgebung jeden Appetit benahm.

»Wirklich, Sir?«

»Seit Sie auf der Welt sind, fast noch länger. Ich kannte doch Ihren Vater. Er war fünf Fuß neuneinhalb Zoll hoch und liegt fünfundzwanzig Fuß tief in der Erde.«

»Rat-tat-tat, rat-tat-tat, rat-tat-tat«, klang es draußen im Hofe.

»Er liegt fünfundzwanzig Fuß in der Erde«, sagte Mr. Omer aufgeräumt. »Entweder auf sein oder auf ihr Verlangen, ich weiß es nicht mehr genau.«

»Wissen Sie, was mein kleiner Bruder macht, Sir?« fragte ich.

Mr. Omer schüttelte den Kopf.

Rat-tat-tat, rat-tat-tat, rat-tat-tat.

»Er liegt in seiner Mutter Armen«, sagte er endlich.

»Ach armer, kleiner Junge, ist er tot?«

»Grämen Sie sich nicht mehr, als Sie müssen«, sagte Mr. Omer. »Das Kind ist tot.«

Meine Wunde brach von neuem auf. Ich schob das kaum berührte Frühstück zurück, stand auf und legte den Kopf auf den andern Tisch in einer Ecke des kleinen Zimmers. Minnie räumte hastig auf, damit ich die Trauersachen nicht mit meinen Tränen benetze. Sie schien ein hübsches, gutherziges Mädchen zu sein und strich mir mit sanfter freundlicher Hand das Haar aus dem Gesicht, aber sehr heiter, weil sie fast mit ihrer Arbeit fertig war, und so ganz anders als ich.

Jetzt hörte das Hämmern auf, und ein junger, hübscher Bursche kam über den Hof ins Zimmer. Er hatte einen Hammer in der Hand und den Mund voll kleiner Nägel, die er herausnehmen mußte, ehe er reden konnte.

»Nun, Joram«, sagte Mr. Omer, »bist du auch fertig?«

»Allright«, sagte Joram, »fertig, Sir.«

Minnie wurde ein wenig rot, und die andern beiden Mädchen lächelten.

»Du hast also gestern bei Licht gearbeitet, was? Als ich im Klub war, nicht wahr?« fragte Mr. Omer und kniff ein Auge zu.

»Ja«, nickte Joram. »Da Sie sagten, wir wollten einen kleinen Ausflug machen und zusammen hinüberfahren, wenn wir fertig würden, Minnie und ich und Sie –«

»So! Ich dachte schon, du wolltest mich ganz weglassen«, sagte Mr. Omer und lachte, bis er husten mußte.

»– da Sie so gut waren, das zu fragen«, fuhr der junge Mann fort, »hab ich mich eben ordentlich dazu gehalten. Wollen Sie sichs einmal ansehen?«

»Ja«, sagte Mr. Omer und stand auf. »Master«, und er wandte sich an mich. »Wollen Sie vielleicht Ihrer –«

»Nein, Vater«, unterbrach ihn Minnie.

»Ich dachte, es wäre ihm angenehm«, sagte Mr. Omer, »aber du hast ganz recht, mein Schatz.«

Ich weiß nicht, wieso ich erriet, daß er sich meiner lieben Mutter Sarg ansehen wollte. Ich hatte noch nie einen zimmern hören, aber ich begriff langsam, was das Hämmern von vorhin bedeutete; und als der junge Mann wieder eintrat, wußte ich ganz bestimmt, woran er gearbeitet hatte.

Da die Arbeit jetzt fertig war, bürsteten die beiden andern Mädchen die Schnitzel und Fäden von ihren Kleidern und gingen in den Laden hinaus, um aufzuräumen und auf Kunden zu warten.

Minnie blieb zurück, um die fertig gewordne Arbeit zusammenzufalten und in zwei Körbe zu packen. Sie kniete dabei und summte ein munteres Lied. Joram, in dem ich ohne Mühe ihren Geliebten erkannte, kam herein und raubte ihr einen Kuß und sagte, ihr Vater sei nach dem Wagen gegangen und er müsse sich auch reisefertig machen. Dann ging er wieder hinaus, und sie steckte einen Fingerhut und eine Schere in die Tasche und eine Nadel mit schwarzem Zwirn in ihren Brustlatz und machte sich dann schön vor einem kleinen Spiegel hinter der Tür, in dem ich ein fröhliches Gesicht sehen konnte.

Alles dies bemerkte ich, während ich an dem Tisch in einer Ecke saß, den Kopf in die Hand gestützt, im Geiste ganz anderswo. Der Wagen fuhr bald vor, und nachdem man zuerst die Körbe und dann mich hineingehoben, stiegen die drei andern ein. Ich erinnere mich, es war halb ein Korb- halb ein Möbelwagen, dunkel angestrichen und von einem Rappen mit langem Schweif gezogen.

Ich glaube, ich habe niemals eine so seltsame Empfindung gehabt, wie auf dieser Fahrt, wenn ich mir vor Augen hielt, woran sie gearbeitet hatten und wie sie sich jetzt über die Reise freuten. Ich hegte keinen Groll gegen sie, scheute mich vor ihnen wie vor Wesen, die keine Gemeinschaft mit mir hatten. Sie waren alle bester Laune. Der Alte saß auf dem Kutschbock, und die beiden jungen Leute saßen hinter ihm, und wenn er etwas sagte, beugten sie sich links und rechts von seinem pausbäckigen Gesicht vor und kümmerten sich sehr um ihn. Sie würden wohl auch mit mir gesprochen haben, wenn ich mich nicht scheu in eine Ecke zurückgezogen hätte, ganz entsetzt über ihre Liebelei und ihre Fröhlichkeit, die zwar nicht lärmend war, mich aber doch in eine Art Staunen versetzte, daß der Himmel keine Strafe für ihre Herzenshärte herabsandte. Wenn sie anhielten, um das Pferd zu füttern, und selbst aßen und tranken und sich vergnügten, konnte ich nichts anrühren und blieb nüchtern.

Als wir unser Haus erreichten, schlüpfte ich so schnell wie möglich hinten aus dem Wagen, um nicht in ihrer Gesellschaft vor diese geweihten Fenster treten zu müssen, die mich anblickten wie geschlossene Augen, die einst hell geglänzt. Ach, wie wenig Ursache hatte ich zu sorgen, daß ich keine Tränen mehr haben würde, als ich die Fenster meiner Mutter sah und hinter ihnen das Zimmer, das in bessern Zeiten auch das meine gewesen war!

Ich lag in Peggottys Armen, ehe ich noch zur Tür kam, und sie brachte mich in das Haus. Ihr Schmerz brach heftig aus, als sie mich erblickte, aber bald bezwang sie sich und sprach flüsternd und ging auf den Zehen, wie um die Tote nicht zu stören.

Sie war seit langem nicht ins Bett gekommen. Sie wachte jetzt noch jede Nacht. Solange ihr armer, süßer Liebling über der Erde weilte, sagte sie, wollte sie ihn nicht verlassen.

Mr. Murdstone nahm keine Notiz von mir, als ich in die Wohnstube trat. Er saß in seinem Lehnstuhl neben dem Kamin und weinte still vor sich hin. Miss Murdstone, die emsig an dem mit Briefen und Papieren bedeckten Tische schrieb, reichte mir ihre eisigen Fingernägel und fragte mich mit kaltem Flüstern, ob mir die Trauerkleider angemessen worden wären.

Ich sagte: »Ja.«

»Und hast du deine Wäsche mitgebracht?«

»Ja, Ma’am. Ich habe alle meine Kleider mitgenommen.«

Das war der ganze Trost, den sie mir in ihrer Festigkeit spendete. Ich glaube, daß sie ein besonderes Vergnügen daran fand, ihre sogenannte Selbstbeherrschung, Festigkeit und Charakterstärke und das ganze übrige höllische Repertoir ihrer unliebenswürdigen Eigenschaften bei dieser Gelegenheit zu offenbaren. Besonders stolz schien sie auf ihre Geschäftskenntnis zu sein und bewies sie, indem sie alles zu Papier brachte und sich von nichts rühren ließ. Den ganzen Tag und noch den nächsten Morgen bis zum Abend saß sie an diesem Schreibtische, kratzte unbeirrt mit einer harten Feder, sprach zu jedermann mit dem gleichen teilnahmslosen Geflüster, und kein Muskel ihres Gesichts und kein Ton ihrer Stimme milderte sich einen Augenblick.

Ihr Bruder nahm manchmal ein Buch vor, aber las nicht darin. Eine ganze Stunde lang wendete er kein Blatt um, legte es dann wieder hin und ging im Zimmer auf und ab. Ich saß meist da mit gefalteten Händen, beobachtete ihn stundenlang und zählte seine Schritte. Er sprach sehr selten mit seiner Schwester und nie mit mir. Er schien außer den Uhren das einzig ruhelose Wesen in dem ganzen totenstillen Haus zu sein.

In diesen Tagen vor dem Begräbnis bekam ich Peggotty nur selten zu Gesicht. Bloß wenn ich die Treppe hinauf- und hinunterging, fand ich sie immer in unmittelbarer Nähe des Zimmers, wo meine Mutter und ihr Kind lagen. Und jeden Abend kam sie an mein Bett und blieb bei mir, bis ich einschlief. Ein oder zwei Tage vor dem Leichenbegräbnis nahm sie mich mit in das Zimmer. Ich erinnere mich nur noch, daß unter einem weißen Laken auf dem Bett, das wundervoll rein und frisch aussah, die Verkörperung der feierlichen Stille, die im Hause herrschte, zu liegen schien, und daß ich, als sie das Tuch sanft wegziehen wollte, schrie: »nein, nein«, und ihre Hand zurückhielt.

Wenn das Begräbnis gestern gewesen wäre, könnte ich mich seiner nicht besser erinnern. Das Aussehen des Besuchszimmers, als ich hineintrat, der helle Schein des Feuers, der glänzende Wein in den Karaffen, die Muster der Gläser und Teller, der schwache, süße Duft der Kuchen, der Geruch von Miss Murdstones Kleid und unsern Trauerkleidern, alles steht wieder vor mir.

Mr. Chillip ist anwesend und spricht mich an.

»Und wie geht’s denn Master David?« fragt er freundlich.

Ich kann ihm doch nicht sagen, gut! Ich gebe ihm meine Hand und er hält sie fest.

»Mein Gott«, und er lächelt schüchtern, und etwas glänzt in seinen Augen, »unsere kleinen Freunde wachsen in die Höhe um uns her. Wir verlieren sie fast aus den Augen, Ma’am.« Das sagt er zu Miss Murdstone, bekommt aber keine Antwort. »Wir haben große Fortschritte gemacht, Ma’am!«

Miss Murdstone antwortet mit einem Stirnrunzeln und einem steifen Knix. Mr. Chillip geht verschüchtert in eine Ecke und zieht mich zu sich und tut den Mund nicht mehr auf.

Ich bemerke das, weil ich alles bemerke, was geschieht. Nicht weil ich meinetwegen acht gebe, oder es seit meiner Ankunft getan hätte. Und jetzt fängt die Totenglocke zu läuten an und Mr. Omer und ein anderer Mann kommen und ordnen uns. Wie mir Peggotty vor langer Zeit erzählt hat, haben sich die Leidtragenden, die schon meinem Vater zum Grabe folgten, in demselben Zimmer geordnet.

Der Leichenzug besteht aus Mr. Murdstone, Mr. Grayper, Mr. Chillip und mir. Wie wir zur Tür heraustreten, sind die Träger mit ihrer Bürde schon im Garten und schreiten vor uns her den Steig entlang an den Ulmen vorbei und durch das Gartentor zum Friedhof, wo ich so manchen Sommermorgen die Vögel habe singen hören.

Wir stehen um das Grab herum. Der Tag scheint mir anders als jeder andre Tag und das Licht hat seine Farbe verloren. Dann herrscht die feierliche Stille, die wir herausgetragen haben mit dem, was jetzt in der Erde ruht. Wir stehen entblößten Hauptes da, und ich höre die Stimme des Geistlichen hier im Freien, so fern und doch so deutlich klingen: »Ich bin die Auferstehung und das Leben, spricht der Herr.« Dann höre ich schluchzen; ich stehe gesondert von den übrigen und sehe die gute und treue Dienerin, die ich von allen Menschen auf Erden am meisten liebe, und zu der, wie mein kindliches Herz fest überzeugt ist, der Herr eines Tages sagen wird: »Du hast wohlgetan.«

Es sind viele bekannte Gesichter da in der kleinen Menge, die ich von der Kirche her kenne, Gesichter, die meine Mutter noch kannten, als sie in ihrer Jugendblüte in das Dorf gekommen war. Ich kümmere mich nicht um sie, ich kümmere mich nur um meinen Schmerz und doch sehe ich sie und kenne sie alle und sehe selbst weit im Hintergrund Minnie zuschauen und auf ihren Schatz blicken, der in meiner Nähe steht.

Es ist vorbei, und das Grab ist zugeschüttet, und wir wenden uns wieder heimwärts. Vor uns steht unser Haus, so schmuck und unverändert, so fest verknüpft in meiner Seele mit dem Jugendbild derer, die nicht mehr ist. All mein Schmerz ist nichts gegen den, den ich jetzt fühle. Aber sie führen mich fort, und Mr. Chillip redet mir zu, und wie wir daheim sind, benetzt er meine Lippen mit Wasser, und als ich ihn um Erlaubnis bitte, auf mein Zimmer gehen zu dürfen, entläßt er mich mit der Zärtlichkeit einer Frau. Alles das kommt mir vor, als wäre es gestern geschehen. Ereignisse einer spätem Zeit sind fortgeweht an jene Küste, wo alles Vergessene dereinst wiederkommt. Doch dieses ragt vor mir wie ein hoher Fels im weiten Meer.

Ich wußte, daß Peggotty in mein Zimmer kommen würde. Die Sabbatstille tat uns beiden wohl. Sie setzte sich neben mich auf mein kleines Bett, nahm meine Hand, drückte sie von Zeit zu Zeit an ihre Lippen und streichelte sie, wie sie wohl mein kleines Brüderchen gestreichelt haben mochte, und erzählte mir in ihrer schlichten Art, wie alles gekommen war.

»Sie fühlte sich seit langer Zeit gar nicht mehr recht wohl«, sagte Peggotty. »Sie fühlte sich nicht glücklich. Als das Kleine zur Welt kam, dachte ich, es würde mit ihr besser werden. Aber sie war angegriffener als je und schwand dahin mit jedem Tage. Vor der Geburt des Kindes pflegte sie viel allein zu sitzen und dann weinte sie; aber später sang sie ihm vor, so leise, daß ich manchmal dachte, es sei wie eine Stimme in der Luft, die langsam verklingt.

Ich glaube, sie wurde in der letzten Zeit immer verschüchterter und furchtsamer, und ein hartes Wort war für sie ein Schlag, aber gegen mich blieb sie immer die gleiche. Sie wurde nie anders gegen ihre einfältige Peggotty, mein süßes Mädel.«

Hier hielt Peggotty inne und klopfte mir ein Weilchen sanft die Hand.

»Das letzte Mal, wo sie ganz wieder schien wie früher, war an jenem Abend, wo du nach Hause kamst, mein Liebling. Und am Tag, als du fortgingst, sagte sie zu mir: ›Ich werde meinen Herzensliebling nie mehr wiedersehen. Eine Stimme sagt es mir und ich weiß, daß sie die Wahrheit spricht.‹ Sie versuchte dann heiter zu erscheinen, und manchmal, wenn sie zu hören bekam, sie wäre gedankenlos und leichtsinnig, tat sie so, als ob sies wäre, aber es war schon alles vorbei. Sie sagte ihrem Manne nichts. Bis eines Abends, kaum eine Woche, ehe sie starb, da sagte sie zu ihm, ›ich glaube, ich sterbe bald.‹

›Jetzt hab ichs vom Herzen herunter, Peggotty‹, sagte sie dann zu mir, als ich sie an diesem Abend zu Bett brachte. ›Es wird ihm in den wenigen Tagen, die ich noch zu leben habe, deutlicher und deutlicher werden, dem Armen. Und dann ists vorbei. Ich bin sehr müde. Wenn es nur Schlaf ist, so bleibe bei mir sitzen und verlaß mich nicht. Gott segne meine beiden Kinder. Gott beschütze und behüte meinen vaterlosen Jungen.‹

»Seitdem hab ich sie nicht mehr verlassen«, sagte Peggotty. »Sie sprach oft mit den beiden da unten, denn sie liebte sie. Sie konnte nicht anders, sie mußte jeden lieben, der in ihrer Nähe war. Aber wenn sie von ihrem Bette weggegangen waren, da mußte ich kommen, als ob nur Ruhe sein könnte, wo Peggotty war, und nie konnte sie anders einschlafen.

Am letzten Abend küßte sie mich und sagte, ›wenn das Baby mit mir sterben sollte, Peggotty, so sollen sie es mir in die Arme legen und uns zusammen begraben. Und mein lieber Sohn soll zu meinem Grabe gehen‹, sagte sie, ›erzähle ihm, daß ich ihn, als ich hier lag, nicht einmal, sondern tausendmal gesegnet habe.‹«

Wieder folgte eine Pause des Schweigens, und Peggotty klopfte mir wieder sanft die Hand.

»Es war schon spät in der Nacht, da verlangte sie zu trinken, und als sie getrunken hatte, da lächelte sie mich so geduldig und lieb und schön an.

Der Tag brach an und die Sonne ging eben auf, als sie mir erzählte, wie gütig und rücksichtsvoll Mr. Copperfield immer gegen sie gewesen war, wie er mit ihr Geduld gehabt und ihr immer, wenn sie an sich selbst zweifelte, versichert hatte, daß ein Herz voll Liebe besser und stärker sei als alle Weisheit, und daß ihn ihre Liebe glücklich mache. ›Liebe Peggotty‹ sagte sie dann, ›lege mich näher an dich heran‹ – so schwach war sie schon – ›lege deinen lieben Arm unter meinen Kopf und wende mein Gesicht dir zu, denn deine Züge gehen immer weiter von mir weg und ich will dir so nahe sein.‹ Ich tat, wie sie verlangte, und ach, Davy, die Zeit war gekommen, wo das wahr wurde, was ich dir einmal gesagt habe, sie war froh, ihren armen Kopf auf den Arm ihrer einfältigen, mürrischen, alten Peggotty legen zu können. Sie starb wie ein Kind, das einschläft.«

So endigte Peggottys Erzählung. Von dem Augenblick an, wo ich den Tod meiner Mutter erfuhr, war das Bild, das ich mir zuletzt von ihr machte, verschwunden. Von dem Augenblick an erinnerte ich mich ihrer bloß als der jungen Mutter meiner frühesten Kindheit, die ihre glänzenden Locken um ihre Finger zu wickeln und im Zwielicht mit mir im Zimmer herumzutanzen pflegte. Mit ihrem Tode schwebte ihr Bild zurück in ihre ruhige, ungestörte Jugendzeit, und alles übrige war ausgelöscht.

Die Mutter, die im Grabe ruht, ist die Mutter meiner Kindheit, das kleine Wesen in ihren Armen ist, wie ich einst gewesen war, und liegt an ihrem Busen eingelullt auf ewig.

26. Kapitel Ich gerate in Gefangenschaft


26. Kapitel Ich gerate in Gefangenschaft

Ich bekam Uriah Heep bis zu dem Tag, wo Agnes die Stadt verließ, nicht mehr zu Gesicht. Ich hatte mich an der Station eingefunden, um Abschied von ihr zu nehmen und sie wegfahren zu sehen, und er war richtig auch da, um mit demselben Wagen nach Canterbury zurückzukehren. Es gewährte mir eine kleine Befriedigung, seinen an den Ärmeln und an der Taille ausgewachsenen, hochschultrigen, maulbeerfarbenen Überrock mit einem Regenschirm, so groß wie ein Zelt, zusammengeschnallt auf dem Eckplatz des Hintersitzes auf dem Wagenverdeck liegen zu sehen, während Agnes natürlich innen in der Kutsche fuhr.

Die Qualen, die ich während meiner Bemühungen, freundlich zu ihm zu sein, solang Agnes zusah, ausstand, verdienten vielleicht diese kleine Belohnung. Auch jetzt wieder umlauerte er uns wie ein großer Geier und verschlang jede Silbe, die Agnes und ich miteinander sprachen. Während der unruhigen Stunden, die ich seinen Enthüllungen verdankte, hatte ich viel an die Worte denken müssen, die Agnes damals zu mir gesagt: »Hoffentlich tat ich recht. Ich fühlte, daß das Opfer eine Notwendigkeit für den Frieden meines Vaters war, und bat ihn, es zu bringen.«

Eine quälende Ahnung, daß sie demselben Gefühl auch noch andere Opfer bringen könnte, hatte mich seitdem nie wieder verlassen. Ich wußte, wie sehr sie ihren Vater liebte, wußte, wie opferfähig ihr Charakter war. Ich hatte von ihren eignen Lippen gehört, daß sie sich für die unschuldige Ursache seiner Irrungen hielt und überzeugt war, sie schulde ihm unendlich viel und müsse alles tun, um das Geschehne wiedergutzumachen. Der Gedanke, daß sie so außerordentlich abstach von dem rothaarigen Scheusal in seinem maulbeerfarbenen Überzieher, war für mich kein Trost, denn ich fühlte, daß gerade in dem Unterschied, in der Selbstverleugnung ihrer reinen Seele und der gemeinen Niedrigkeit der seinen; die Hauptgefahr lag. Zweifellos wußte auch Uriah alles das recht gut und hatte sich in seiner List alles vortrefflich ausgerechnet.

Ich war so fest überzeugt, daß die bloße Aussicht auf ein solches Opfer Agnes‘ Glück zerstören mußte, und erkannte so sicher aus ihrem Wesen, sie ahne noch nichts; daß ich es nicht übers Herz bringen konnte, sie vor dem ihr drohenden Schicksal zu warnen. So schied ich ohne weitere Erklärung.

Sie winkte mir mit der Hand und lächelte mir ein Lebewohl aus dem Wagenfenster zu, während ihr böser Geist auf dem Dache kauerte, als hätte er sie schon frohlockend in seinen Klauen.

Lange Zeit konnte ich die Abschiedsszene nicht vergessen. Als Agnes mir ihre Ankunft meldete, fühlte ich mich so unglücklich, als ob ich sie eben erst abreisen sähe. Sooft ich nachgrübelte, verdoppelten sich meine Sorge und Unruhe. Kaum eine Nacht verging, ohne daß ich nicht davon träumte.

Ich hatte Muße genug, mich meiner Unruhe zu überlassen, denn Steerforth weilte in Oxford, und ich war, außer in der Kanzlei, meistens allein. Ich glaube, ich hegte damals schon einen unbewußten Argwohn gegen Steerforth. Ich beantwortete einen Brief von ihm höchst freundschaftlich, empfand aber angenehm, daß er nicht nach London kam. Ich glaube, Agnes hatte einen großen Einfluß auf mich ausgeübt, der um so mächtiger auf mich wirkte, als er durch Steerforths Anblick nicht gestört wurde.

Unterdessen vergingen Tage und Wochen. Ich wurde in aller Form bei Spenlow & Jorkins inskribiert. Meine Tante gab mir außer dem Hauszins, und was dazu gehörte, neunzig Pfund jährlich. Meine Zimmer wurden für zwölf Monate gemietet, und obgleich sie mir abends immer noch sehr ungemütlich vorkamen und sich mir die Abende sehr lang gestalteten, so gewöhnte ich mich doch allmählich an die gleichmäßige gedrückte Stimmung und den Kaffee, von dem ich täglich, glaube ich, eine Gallone verzehrte.

In dieser Zeit machte ich auch drei Entdeckungen: Erstens, daß Mrs. Crupp von einer Krankheit gequält wurde, die sie die »Krämpf« nannte und die sich dadurch auszeichnete, daß sie stets mit einer geröteten Nase Hand in Hand ging und mit Pfefferminz behandelt werden mußte. Zweitens, daß eine sonderbare Temperatur meiner Vorratskammer alle Brandyflaschen zum Zerspringen brachte. Drittens, daß ich ganz allein in der Welt stand und diesen Umstand in Verse brachte.

An dem Tag, als ich in der Kanzlei eingeschrieben wurde, gab ich kein Fest mehr. Ich bewirtete bloß die Schreiber mit etwas kalter Küche und Sherry und ging abends allein ins Theater. Ich sah dort das Stück »Der Fremdling« und war so abgespannt, daß ich mich kaum in meinem eignen Spiegel erkannte, als ich nach Hause kam.

Als mein Kontrakt unterzeichnet war, meinte Mr. Spenlow, er hätte sich glücklich geschätzt, mich zur Feier des Tags in seinem Haus in Norwood zu sehen, wenn nicht seine Wirtschaft infolge der angekündigten Rückkehr seiner Tochter aus einer Erziehungsanstalt in Paris etwas in Unordnung geraten wäre. Aber er würde sich ein Vergnügen daraus machen, mich sofort nach ihrer Ankunft bei sich zu sehen. Ich wußte, daß er Witwer war und nur eine einzige Tochter hatte, und drückte ihm meinen Dank aus.

Mr. Spenlow hielt Wort. In ein oder zwei Wochen kam er auf sein Versprechen zurück und sagte, wenn ich ihm die Ehre erweisen wollte, ihn nächsten Samstag zu besuchen und bis Montag zu bleiben, würde er sich sehr glücklich schätzen. Natürlich nahm ich an, und er versprach mir, mich in seinem Phaeton mitzunehmen und wieder zurückzufahren.

Als der Tag kam, bildete sogar mein Reisesack bei den Schreibern, denen das Haus in Norwood ein geheiligtes Geheimnis war, einen Gegenstand der Verehrung. Einer von ihnen erzählte mir, er habe gehört, Mr. Spenlow speise nur von Silber und Porzellan, und Champagner werde beständig vom Faß geschenkt wie Tischbier. Der alte Schreiber mit der Perücke, der Mr. Tiffey hieß, war im Verlauf seines Lebens mehrmals in Geschäften dort gewesen und dann stets bis ins Frühstückszimmer vorgedrungen. Er beschrieb es als ein Gemach von überwältigender Pracht und sagte, daß er dort braunen ostindischen Sherry getrunken hätte, so kostbar, daß ihm die Augen davon übergegangen seien.

Wir wohnten an diesem Tag einer Verhandlung im Konsistorium bei, – es drehte sich um die Exkommunikation eines Bäckers, der sich in einer Kirchenratsitzung gegen eine Pflastersteuer gesträubt hatte, und da das Material nach meiner Berechnung gerade doppelt so lang war wie Robinson Crusoes Abenteuer, wurde es ziemlich spät. Zuletzt erlebten wir aber doch, den Mann zu sechswöchentlicher Exkommunikation und zu einer Unmasse von Kosten verurteilt zu sehen, und dann verließen der Proktor des Bäckers und der Richter und die Advokaten der beiden Parteien – alle sehr nahe miteinander verwandt – zusammen die Stadt, und Mr. Spenlow und ich fuhren im Phaeton davon.

Der Phaeton war ein sehr hübscher Wagen; die Pferde beugten ihren Hals und hoben die Beine, als wüßten sie, daß sie zu Doctors‘ Commons gehörten.

In den Commons wurde viel Wetteifer in allem, wo es zu glänzen galt, entfaltet, und es gab viele schöne Equipagen dort, obgleich ich immer dafürgehalten habe, daß zu meiner Zeit der Hauptpunkt des Wettstreites in der Wäschestärke lag, die von den Proktoren in solchen Unmassen verbraucht wurde, wie es nur die Natur des Menschen vertragen kann.

Wir unterhielten uns auf der Hinfahrt sehr angenehm, und Mr. Spenlow gab mir mancherlei Winke. Er sagte, Proktor zu sein sei der vornehmste Beruf von der Welt und dürfe durchaus nicht mit dem eines einfachen Anwalts verwechselt werden. Er sei etwas ganz anderes, unendlich exklusiver, weniger mechanisch und viel gewinnreicher. »Wir machen es uns in den Commons viel leichter, als es anderswo geschehen könnte«, bemerkte er, »und das allein erhebt uns schon zu einer privilegierten Klasse.« Allerdings könne man sich die unangenehme Tatsache nicht verhehlen, daß man eigentlich von den Advokaten angestellt sei, aber er gab mir zu verstehen, daß sie eine untergeordnete Klasse Menschen wären und von allen Proktoren von nur einigermaßen Selbstgefühl von oben herab angesehen würden.

Ich fragte Mr. Spenlow, was er für die beste Art Geschäfte halte.

Er entgegnete, daß ein guter Prozeß um ein bestrittenes Testament, wobei es sich um ein hübsches, kleines Gut von dreißig oder vierzigtausend Pfund handle, so ziemlich die beste Sache sei. Bei einem solchen Prozeß, sagte er, falle nicht nur ziemlich viel ab durch die Rechtseinwände in jedem Stadium des Verfahrens und bei den Bergen von Zeugenbeweisen, bei der Einvernahme und Wiedereinvernahme, gar nicht zu sprechen von der ersten Appellation an die Delegierten und von einer zweiten an das Herrenhaus, – sondern, weil die Kosten schließlich doch auf das Grundstück fielen, gingen die beiden Parteien mit gleicher Lebhaftigkeit an den Prozeß, und um die Kosten mache man sich keine Sorge. Was er besonders bewunderte, sagte er, seien die Commons, die stets geschlossen vorgingen. Es herrsche eine Organisation wie nirgends auf der Welt. Es sei das vollendete Bild der Gemütlichkeit. »Zum Beispiel: Es läuft eine Scheidungsklage ein oder eine Klage auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand an das Konsistorium. Sehr gut. Sie wird im Konsistorium verhandelt. Man macht ein hübsches, ruhiges Familienspiel daraus und wickelt es ganz nach seiner Bequemlichkeit ab. Ist die Partei mit dem Konsistorium nicht zufrieden, dann geht sie an den Archescourt. Was ist der Archescourt? Derselbe Gerichtshof im selben Lokal mit demselben Barreau und denselben Advokaten, nur mit einem andern Richter. Denn es kann der Konsistorialrichter bei jeder Tagfahrt als Advokat plädieren. Man spielt also die Partie noch einmal durch; aber immer noch ist man nicht recht zufrieden. Sehr gut. Was geschieht dann? Man geht zu den Delegierten. Wer sind die Delegierten? Nun, die Delegierten sind die Advokaten, die unbeschäftigt bei der Partie die beiden ersten Male zugesehen, die Karten gemischt, abgehoben und mit ins Spiel hineingeredet haben. Sie kommen jetzt als Richter dran, um die Sache zu jedermanns Zufriedenheit abzumachen. Unzufriedene Leute gebe es immer, die von der Korruption in den Commons redeten und von der Notwendigkeit, sie zu reformieren«, sagte Mr. Spenlow feierlich zum Schluß. Aber als der »Weizenpreis am höchsten stand«, hätten die Commons das meiste zu tun gehabt. Man könne ruhig die Hand aufs Herz legen und der ganzen Welt sagen: Rührt an die Commons, und das ganze Land kommt herunter.

Ich hörte dem allen mit großer Aufmerksamkeit zu, und obgleich ich einigermaßen zweifelte, ob das Land, wie Mr. Spenlow behauptete, den Commons wirklich so sehr zu Dank verpflichtet sein müßte, so beugte ich mich doch ehrerbietig vor seiner Autorität. Was den Weizenpreis betraf, überstieg dies meine Verstandeskräfte, und ich unterdrückte jeden Zweifel. Ich habe bis heute noch nicht mehr von diesem Weizenpreis begriffen. Ich bin bis zu dieser Stunde niemals über diesen Weizen hinweggekommen.

Jedenfalls war ich nicht der Mann, um die Axt an die Commons anzulegen und das Land zugrunde zu richten. Durch mein Schweigen drückte ich meine ehrerbietige Zustimmung zu allem aus, was mein an Jahren und Kenntnissen mir überlegener Begleiter erzählte. Dann unterhielten wir uns über den »Fremdling« und das Theater und das Gespann, bis wir bei Mr. Spenlows Besitz ankamen.

Vor dem Hause lag ein wundervoller Garten und trotz der ungünstigen Jahreszeit sah er so vortrefflich gehalten aus, daß ich ganz bezaubert war. Ein entzückender Rasenplatz, Baumgruppen und Gebüsche, Laubengänge, an denen Blumen und Gesträuch schon die ersten Blätter zeigten, konnte ich noch im Halbdunkel unterscheiden. Hier wandelt Miss Spenlow allein, dachte ich. O Gott.

Wir traten in das hell erleuchtete Haus, und in der Vorhalle hingen alle Arten Hüte, Mützen, Überröcke, Mäntel, Handschuhe, Reitpeitschen und Spazierstöcke.

»Wo ist Miss Dora?« fragte Mr. Spenlow den Bedienten.

Dora! dachte ich, was für ein schöner Name.

Wir traten in das nächste Zimmer, – wahrscheinlich das durch den braunen ostindischen Sherry denkwürdig gewordene Frühstückszimmer, – und ich hörte eine Stimme sagen: »Mr. Copperfield – meine Tochter Dora und ihre vertraute Freundin.« Offenbar war es Mr. Spenlows Stimme, aber ich wußte es nicht genau und kümmerte mich auch nicht mehr darum. In einem Augenblick war alles vorbei. Mein Schicksal hatte sich erfüllt. Ich war ein Gefangener und ein Sklave. Ich liebte Dora Spenlow bis zum Wahnwitz.

Sie war für mich ein überirdisches Wesen, eine Fee, eine Sylphe, ich weiß nicht, was sonst noch alles, etwas, was noch niemand gesehen, und alles, wonach sich jeder sehnen mußte. Ich versank in einen Abgrund von Liebe im Augenblick. Von einem Zaudern am Rande, von einem Hinabsehen oder Zurückblicken konnte nicht die Rede sein. Ich war kopfüber hinabgestürzt, ehe ich noch ein Wort sprechen konnte.

»Ich habe Mr. Copperfield schon früher gesehen«, bemerkte eine mir wohlbekannte Stimme, während ich, etwas vor mich hinmurmelnd, mich tief verbeugte.

Das hatte nicht Dora gesprochen, – nein. Aber ihre vertraute Freundin, – Miss Murdstone.

Ich glaube, ich war gar nicht sonderlich überrascht. Ich hatte die Fähigkeit, mich zu wundern, offenbar verloren. In der Welt des Stoffes gab es nichts des Erstaunens wertes, außer Dora Spenlow.

Ich sagte: »Wie geht es Ihnen, Miss Murdstone? Ich hoffe, Sie befinden sich wohl.« Sie erwiderte: »Sehr wohl.« Ich fragte: »Was macht Mr. Murdstone?« Sie antwortete: »Mein Bruder ist wohlauf. Ich danke Ihnen recht sehr.«

Mr. Spenlow, den wahrscheinlich unser Bekanntsein überraschte, mischte sich jetzt ins Gespräch.

»Es freut mich zu erfahren, Copperfield, daß Sie und Miss Murdstone einander bereits kennen.«

»Mr. Copperfield und ich«, sagte Miss Murdstone mit großer Fassung, »sind Verwandte. Wir waren einmal flüchtig bekannt. Damals in seinen Kinderjahren. Die Verhältnisse haben uns seitdem getrennt. Ich würde ihn nicht wiedererkannt haben.«

Ich entgegnete, daß ich sie unter allen Umständen wiedererkannt hätte. Und das war wahr genug.

»Miss Murdstone hatte die Güte«, sagte Mr. Spenlow, »das Amt – wenn ich mich so ausdrücken darf – einer vertrauten Freundin meiner Tochter Dora anzunehmen. Da meine Tochter Dora leider keine Mutter mehr hat, war Miss Murdstone so gütig, ihre Gefährtin und Beschützerin zu werden.«

Mir schoß der Gedanke durch den Kopf, daß Miss Murdstone ähnlich der Taschenwaffe, die man gewöhnlich Lebensretter nennt, sich besser zum Angriff als zur Verteidigung eigne. Aber da ich keine Minute lang an etwas anderes als an Dora denken konnte, so warf ich einen Blick auf sie und dachte mir, daß dieses hübsche, übermütige Gesicht nicht sehr geeignet sein dürfte, besonders zutraulich zu ihrer Gefährtin und Beschützerin zu werden.

Als das erste Mal zum Diner geläutet wurde, führte mich Mr. Spenlow zum Umkleiden in sein Zimmer. Der Gedanke, mich umzuziehen, oder sonst irgend etwas zu tun in diesem Zustand von Verliebtheit, war denn doch zu lächerlich. Ich konnte mich nur vor den Kamin hinsetzen, den Schlüssel meines Reisesacks zerbeißen und an die entzückende, jugendfrische, lebhafte Dora mit den blitzenden Augen denken. Diese Gestalt, dieses Gesicht und dieses anmutige, bezaubernde Wesen!

Die Glocke läutete so bald wieder, daß ich mich in aller Hast anziehen mußte, statt diesem Geschäft die wünschenswerte Aufmerksamkeit zuwenden zu können. Dann ging ich die Treppen hinunter. Ich fand bereits Gesellschaft vor. Dora sprach mit einem alten, grauköpfigen Herrn. Obgleich er fast weiß war und Urgroßvater dazu, wie er selbst sagte, war ich doch fürchterlich eifersüchtig auf ihn.

In welcher Gemütsstimmung ich mich befand! Ich war auf jeden eifersüchtig. Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, daß jemand Mr. Spenlow besser kannte als ich. Es bereitete mir Qualen, von Vorfällen sprechen zu hören, von denen ich nichts wußte. Als ein sehr liebenswürdiger Herr mit einem lebhaft glänzenden kahlen Kopf mich über den Tisch fragte, ob ich das erste Mal hier sei, hätte ich die fürchterlichste Rache an ihm nehmen mögen. Ich kann mich kaum an jemand aus der Gesellschaft erinnern, außer an Dora. Ich hatte keine Ahnung, was ich aß. Ich genoß nur Dora und ließ ein halbes Dutzend Schüsseln unberührt weitergehen. Ich saß neben ihr. Ich plauderte mit ihr. Sie hatte das lieblichste Stimmchen, das heiterste Lachen, die anmutigsten und entzückendsten kleinen Launen, die jemals einen verlorenen Jüngling in hoffnungslose Sklaverei schmiedeten. Sie war niedlich in allem. Um so kostbarer, dachte ich.

Als sie mit Miss Murdstone das Speisezimmer verließ – sie waren die einzigen Damen –, verfiel ich in ein träumerisches Brüten, das nur von der quälenden Angst, Miss Murdstone möchte mich in Doras Augen herabsetzen, gestört wurde. Der liebenswürdige Herr mit dem kahlen, glänzenden Kopf erzählte mir eine lange Geschichte, – wie ich vermute, von Gartenpflege. Ich glaubte, er sagte mehrere Male: mein Gärtner. Ich tat, als ob ich ihm mit tiefster Aufmerksamkeit zuhörte, wandelte aber die ganze Zeit hindurch mit Dora in dem Garten des Paradieses.

Meine Befürchtung, dem Gegenstand meiner alles verzehrenden Neigung nachteilig geschildert zu werden, wurde wieder wach, als wir in den Salon traten und ich das strenge und kalte Gesicht der Miss Murdstone sah. Aber sie wurde bald in sehr unerwarteter Weise zerstreut.

»Mr. Copperfield«, sagte Miss Murdstone und winkte mir in ein Fenster: »Auf ein Wort!«

Ich stand Auge in Auge mit Miss Murdstone.

»David Copperfield«, sagte sie. »Ich brauche mich nicht über Familienverhältnisse zu verbreiten. Sie sind kein verlockendes Thema.«

»Keineswegs, Ma’am.«

»Keineswegs«, stimmte Miss Murdstone bei. »Ich wünsche nicht die Erinnerung an alte Streitigkeiten aufzufrischen. Ich bin von einer Person beleidigt worden – einer Frau, muß ich leider zur Unehre meines Geschlechtes gestehen –, deren Namen ich nicht ohne Zorn und Entrüstung erwähnen kann, und deshalb will ich sie lieber nicht nennen.«

Diese Anspielung auf meine Tante machte mich wütend, aber ich sagte nur, es wäre wirklich besser, wenn ihr Name nicht erwähnt würde. Ich vertrüge es nicht, in respektloser Weise von ihr sprechen zu hören, fügte ich hinzu, ohne meine Meinung in sehr entschiedener Weise auszudrücken.

Miss Murdstone schloß die Augen und senkte voller Verachtung den Kopf. Dann sah sie langsam wieder auf und sagte: »David Copperfield, ich versuche nicht die Tatsache zu verhehlen, daß ich in Ihrer Kindheit eine sehr ungünstige Meinung von Ihnen gefaßt hatte; ich mag mich damals geirrt haben oder Sie haben aufgehört, mein Urteil zu rechtfertigen. Aber darum handelt es sich jetzt nicht zwischen uns. Ich gehöre einer Familie an, die sich, wie ich glaube, durch eine gewisse Festigkeit des Charakters auszeichnet, und ich bin kein Geschöpf der Verhältnisse und der Umstände. Ich kann meine Meinung von Ihnen haben, Sie können Ihre Meinung von mir haben.«

Die Reihe, sich zu verbeugen, war jetzt an mir.

»Damit ist noch nicht gesagt, daß wir wegen Meinungsverschiedenheit hier in Kollision zu kommen brauchten. Unter den obwaltenden Umständen ist es sogar besser, wenn es nicht geschieht. Da die Wechselfälle des Lebens uns wieder zusammengeführt haben und uns auch noch öfter zusammenführen können, möchte ich Ihnen vorschlagen, daß wir uns gegenseitig wie entfernte Bekannte behandeln. Die Familienverhältnisse rechtfertigen es vollkommen, wenn wir uns auf solchen Fuß stellen, und es ist ganz unnötig, daß einer von uns den andern zum Gegenstand von Klatschereien macht. Sind Sie damit einverstanden?«

»Miss Murdstone«, erwiderte ich, »ich bin der Ansicht, daß Sie und Mr. Murdstone mich aufs grausamste behandelt haben und meiner Mutter das Leben verbitterten. Dieser Ansicht werde ich sein, so lange ich lebe. Im übrigen bin ich mit Ihrem Vorschlag einverstanden.«

Miss Murdstone schloß wieder die Augen und neigte den Kopf. Dann berührte sie mit den Spitzen ihrer kalten, steifen Finger meinen Handrücken und verließ mich, sich die kleinen Fesseln an ihrem Handgelenk und ihrem Hals ordnend. Sie schienen mir noch die alten und genau im selben Zustand zu sein wie damals. Zusammengehalten von Miss Murdstones Charakter machten sie mir den Eindruck von Ketten an einer Kerkertür, die dem Beobachter schon an der Außenseite sagen, was drinnen zu erwarten ist.

Ich weiß weiter nichts mehr von dem Abend, als daß ich die Königin meines Herzens entzückende Balladen in französischer Sprache singen hörte, zu denen wir immer tanzen sollten; tarala, tarala; und dabei begleitete sie sich mit einem herrlichen Instrument, das einer Gitarre ähnlich sah.

Ich schwelgte in seligem Entzücken. Ich wies alle Erfrischungen zurück. Einen besonderen Widerwillen empfand ich gegen Punsch. Sie lächelte mich an und gab mir ihre entzückende Hand, als Miss Murdstone sie unter ihre Obhut nahm und hinausbegleitete. Einmal sah ich mein Gesicht im Spiegel. Es sah vollständig vertrottelt aus. In höchst sentimentaler Stimmung legte ich mich zu Bett und befand mich in der Krisis eines Liebesfiebers, als ich wieder aufwachte.

Es war ein schöner Morgen und noch so frühzeitig, daß ich auf den Einfall kam, in den Laubengängen einen kleinen Spaziergang zu machen, um dabei von ihrem Bild zu träumen. In der Vorhalle begegnete ich ihrem kleinen Hund namens Jip. Ich näherte mich ihm zärtlich, denn ich liebte selbst ihn, aber er zeigte mir grimmig die Zähne, lief unter einen Stuhl, um zu knurren, und wollte nichts von Vertraulichkeit wissen.

Der Garten war frisch und einsam.

Ich ging auf und ab und sagte mir, wie unendlich glücklich ich mich fühlen müßte, wenn ich mich jemals mit diesem Himmelswunder verloben könnte. An Heirat, Vermögen und dergleichen Dinge dachte ich in meiner Unschuld ebenso wenig wie damals, als ich die kleine Emly liebte. Sie Dora nennen, ihr schreiben, sie anbeten und glauben zu dürfen, daß sie in Gesellschaft andrer Leute doch noch an mich denke, erschien mir als der Gipfel menschlicher Sehnsucht, – sicher war es der Gipfelpunkt der meinigen. Zweifellos ein sentimentaler junger Gimpel, empfand ich doch so herzensrein, daß ich selbst heute nicht verächtlich darauf zurückblicken kann, wenn es mir auch noch so lächerlich vorkommt.

Ich war noch nicht lange spazierengegangen, als ich an einer Ecke mit ihr zusammenstieß. Jetzt noch durchzuckt es mich vom Scheitel bis zur Sohle, wenn ich an diese Ecke denke, und die Feder zittert mir in der Hand.

»Sie – sind – früh auf, Miss Spenlow«, stotterte ich.

»Es ist so dumm zu Haus«, sagte sie, »und Miss Murdstone ist so lächerlich. Sie redet solchen Unsinn von der Notwendigkeit, daß die Erde erst trocken sein müsse, ehe man ausgehen kann. Trocken!« sie lachte melodisch. – »Sonntagmorgens, wenn ich drinnen nichts zu tun habe, muß ich doch irgend etwas anfangen. Deshalb sagte ich Papa gestern abends, ich müßte spazierengehen. Außerdem ist es die schönste Zeit des ganzen Tages. Meinen Sie nicht auch?«

Ich nahm allen meinen Mut zusammen und sagte, ein bißchen stotternd, daß mir alles jetzt sehr herrlich vorkäme, wenn es mir auch eine Minute vorher noch sehr dunkel geschienen hätte.

»Wollen Sie mir damit ein Kompliment machen?« fragte Dora, »oder hat sich das Wetter wirklich geändert?«

Ich stotterte noch schlimmer als vorher heraus, daß es durchaus kein Kompliment, sondern volle Wahrheit sei, daß ich aber von einer Wetterveränderung nichts bemerkt hätte. »Es war ein innerlicher Vorgang«, fügte ich errötend hinzu, um es vollends zu erklären.

Noch nie sah ich solche Locken. Wie hätte das auch sein können, da es bis dahin noch nie solche gab. Sie schüttelte sie, um ihr Erröten zu verbergen. Und der Strohhut mit den blauen Bändern, der auf diesen Locken saß, welch unbezahlbarer Schatz wäre es für mich gewesen, hätte ich ihn in meiner Stube in der Buckingham-Straße aufhängen dürfen!

»Sie sind eben von Paris zurückgekehrt?« fragte ich.

»Ja. Waren Sie schon einmal dort?«

»Nein.«

»O, dann müssen Sie bald hingehen. Es wird Ihnen ungemein gefallen!«

Tiefster Schmerz ergriff mich; daß sie mein Fortgehen wünschen, ja, nur für möglich halten konnte, war unerträglich. Ich verabscheute Paris. Ich verabscheute Frankreich. Ich sagte, ich würde England jetzt um keiner irdischen Rücksicht willen verlassen. Nichts könnte mich dazu bewegen. Kurz, sie schüttelte schon wieder ihre Locken, als zu unserer Erlösung das Hündchen den Gang heruntergelaufen kam. Es benahm sich entsetzlich eifersüchtig gegen mich und bellte mich heftig an.

Sie nahm Jip auf ihren Arm – o mein Gott – und liebkoste ihn. Aber er fuhr fort zu bellen. Er litt es nicht, daß ich ihn anfaßte, und bekam deshalb Schläge von ihr. Meine Leiden wurden nur noch größer, als ich sah, wie sie ihn auf seine Nase tätschelte, während er mit den Augen zwinkernd ihr die Hände leckte und innerlich immer noch murrte wie ein kleiner Brummbaß. Endlich war er still – er hatte gut still sein mit ihrem niedlichen Kinn auf seinem Kopf –, und wir gingen weiter, um uns das Gewächshaus anzusehen.

»Sie sind nicht sehr genau bekannt mit Miss Murdstone oder doch?« fragte Dora. »Mein Liebling.«

Die beiden letzten Worte galten leider dem Hund.

»Nein, keineswegs.«

»Sie ist eine langweilige Person«, sagte Dora schmollend. »Ich kann gar nicht begreifen, woran Papa gedacht hat, als er mir das fade Ding zur Beschützerin wählte. Wer braucht denn Schutz? Ich gewiß nicht. Jip kann mich viel besser beschützen als Miss Murdstone, – nicht wahr, guter Jip?« Er zwinkerte bloß schläfrig, als sie ihn auf den runden Kopf küßte.

»Papa nennt sie meine vertraute Freundin, aber das ist sie ganz und gar nicht, nicht wahr, Jip? Wir schenken solchen grämlichen Leuten unser Vertrauen gewiß nicht, Jip und ich. Wir suchen uns schon aus, wen wir gerne haben, anstatt uns jemand zuweisen zu lassen, nicht wahr, Jip?«

Jip brummte bejahend. Es hörte sich an wie ein Teekessel.

Für mich war jedes Wort Doras ein neues Glied zu meiner Sklavenkette.

»Es ist sehr hart, weil wir keine liebe Mama haben, an ihrer Stelle ein brummiges, altes Geschöpf wie Miss Murdstone immer auf den Fersen zu haben, nicht wahr, Jip? Aber das ist uns gleichgültig, Jip. Wir wollen nicht mit ihr vertraut sein und werden uns schon selbst so glücklich machen, wie wir können. Wir werden sie schon gallig machen, nicht wahr, Jip.«

Wenn das noch länger gedauert hätte, wäre ich wahrscheinlich vor ihr auf die Knie gefallen, was mir alle weiteren Aussichten sofort abgeschnitten hätte. Aber zum Glück war das Gewächshaus nicht weit. Es enthielt eine wahre Ausstellung von schönen Geranien. Wir gingen an ihnen entlang, und Dora blieb oft stehen, um diese oder jene Blüte zu bewundern. Ich folgte ihrem Beispiel und bewunderte auch immer die gleiche, und schließlich hielt Dora scherzend das Hündchen in die Höhe, damit es an den Blumen rieche. Und wenn wir uns vielleicht auch nicht alle drei im Feenland befanden, ich war bestimmt darin. Wenn ich heute noch an einem Geranium rieche, wundere ich mich über die plötzliche Veränderung, die mit mir vorgeht. Es erscheint ein Strohhut mit blauen Bändern, eine Menge Locken, ein kleiner, schwarzer Hund, den zwei zarte Arme an eine Wand von Blumen und frischen Blättern halten, vor meinen Blicken. Miss Murdstone hatte uns gesucht. Sie fand uns hier und bot ihre unliebenswürdige Wange, deren kleine Runzeln mit Puder gefüllt waren, Dora zum Kuß. Dann nahm sie Doras Arm und ging so steif zum Frühstück wie zu einem Soldatenbegräbnis.

Wie viele Tassen Tee ich trank, bloß weil Dora ihn bereitete, weiß ich nicht mehr. Ich erinnere mich nur, daß ich solche Mengen hinuntergoß, daß mein ganzes Nervensystem hätte zugrunde gehen müssen, wenn ich damals schon eins besessen hätte. Später gingen wir in die Kirche. Miss Murdstone saß zwischen Dora und mir, aber trotzdem hörte ich die Angebetete singen, und die Gemeinde verschwand vor meinen Augen. Ich hörte eine Predigt – natürlich über Dora –; das ist leider alles, was ich von dem Gottesdienst weiß.

Der Tag verging sehr still. Keine Gesellschaft, ein Spaziergang, ein Familiendiner für vier und am Abend Ansehen von Büchern und Bildern. Miss Murdstone hatte ein Predigtbuch vorgenommen und hielt scharf Wache über uns. Ach, wie wenig ahnte Mr. Spenlow, als er nach dem Diner das Taschentuch übers Gesicht gedeckt mir gegenüber ein wenig nickte, wie sehnsüchtig ich ihn in meiner Einbildung als Schwiegervater umarmte. Er ahnte nicht, als wir uns gute Nacht sagten, daß er soeben seine volle Einwilligung zu meiner Verlobung mit Dora gegeben hatte und ich den Segen des Himmels auf sein Haupt herabrief.

Wir fuhren frühmorgens nach der Stadt, denn unser harrte ein Bergungsfall im Admiralitätsgericht, der eine ziemlich genaue Kenntnis der Schiffahrt verlangte und zu dem, da wir in den Commons von solchen Sachen nicht viel verstehen konnten, der Richter zwei alte Mitglieder vom Schiffahrtsbureau himmelhoch gebeten hatte, ihm aus der Klemme zu helfen. Doch saß Dora wieder am Frühstückstisch, den Tee zu bereiten, und ich hatte das traurige Vergnügen, vor ihr im Phaeton den Hut ziehen zu dürfen, während sie, Jip auf den Armen, in der Türe stand.

Es ist unbeschreiblich, wie mir an jenem Tag der Admiralitätsgerichtshof erschien. Ein unglaublicher Wirrwarr herrschte in meinem Kopf, als ich den Verhandlungen zuhörte. Ich las den Namen Dora auf dem silbernen Ruder, das als Emblem des hohen Gerichtshofs auf dem grünen Tisch lag, und als Mr. Spenlow ohne mich nach Hause fuhr – ich hatte mich mit der ungesunden Hoffnung getragen, er werde mich noch einmal mitnehmen –, kam ich mir wie ein Seemann vor, der von seinem Schiff auf einer wüsten Insel zurückgelassen worden ist. Wenn der schläfrige alte Gerichtshof aufwachen und meine Träume von Dora sichtbar machen könnte, die mich in seinen Räumen erfüllten, würde die Aufrichtigkeit meines Berichts an den Tag kommen. Aber nicht nur die Träume, die ich an diesem Tag hatte, sondern Woche für Woche, Monat um Monat. Ich ging zum Gericht, nicht um zuzuhören, sondern um an Dora zu denken. Wenn ich einmal aufpaßte, so geschah es nur bei Ehesachen mit einer Erinnerung an Dora und mit der Frage, wieso verheiratete Leute sich überhaupt scheiden lassen könnten.

In der ersten Woche meines Verliebtseins kaufte ich vier prachtvolle Westen; – nicht meinetwegen, ich machte mir nichts aus ihnen, – aber für Dora. Ich trug gelbe Glacehandschuhe auf der Straße und legte den Grundstein zu all meinen Hühneraugen. Man hätte nur meine damaligen Stiefel mit der natürlichen Größe meiner Füße zu vergleichen brauchen, um sich über den Zustand meines Herzens klarzuwerden.

Und trotzdem ich mich auf diese Art zum Krüppel machte, ging ich doch täglich meilenweit, um Dora zu begegnen. Ich war nicht nur auf der Landstraße nach Norwood so bekannt wie der Briefträger, sondern ich durchstreifte auch London. Ich wanderte in den Straßen umher, wo sich die besten Läden für Damen befanden, ich spukte im Basar herum wie ein ruheloser Geist und schleppte mich immer und immer wieder durch den Park, wenn ich mich auch noch so abgehetzt fühlte. Zuweilen nach langen Zwischenräumen und zu seltnen Gelegenheiten sah ich sie, zuweilen winkte mir ihr kleiner Handschuh hinter einem Wagenfenster zu, manchmal traf ich sie und begleitete sie und Miss Murdstone ein kleines Stück und sprach mit ihr. In einem solchen Fall fühlte ich mich nachher immer höchst unglücklich, weil mir nichts Gescheites eingefallen war oder weil sie keinen Begriff von der Tiefe meiner Liebe hatte oder sich nicht darum kümmerte. Wie man sich leicht denken kann, erwartete ich immer eine neue Einladung von Mr. Spenlow, aber ich täuschte mich jedesmal.

Mrs. Crupp muß eine sehr scharfblickende Frau gewesen sein, denn als ich kaum ein paar Wochen verliebt war, aber noch nicht den Mut fand, an Agnes etwas anderes zu schreiben, als daß ich Mr. Spenlow und seine Familie, die aus einer Tochter bestünde, in seinem Hause besucht habe –, hatte sie es schon herausgekriegt.

Als ich eines Abends sehr schwermütig zu Hause saß, kam sie herauf zu mir und fragte mich, ob ich ihr nicht gegen ihre »Krämpf« mit etwas Kardamom, Rhabarber und sieben Tropfen Nelkenessenz oder, wenn es das nicht sein könnte, mit ein klein wenig Brandy, dem nächstsichersten Mittel, aushelfen möchte. Da ich von der ersten Arznei nie gehört, die zweite jedoch in der Vorratskammer stehen hatte, schenkte ich Mrs. Crupp ein Glas Brandy ein, das sie, um jeden Verdacht, es könnte unrecht verwendet werden, zu beseitigen, in meiner Gegenwart austrank.

»Kopf hoch, Sir!« sagte sie. »Ich kann Sie nicht so sehen, Sir. Ich bin selbst eine Mutter.«

Ich sah nicht recht ein, was dieser Umstand mit mir zu tun hatte, aber ich lächelte Mrs. Crupp, so gütig ich konnte, an.

»Schauen S«, sagte sie. »Entschuldigen S. Ich weiß schon, was is. Es betrifft eine Damö.«

»Mrs. Crupp«, sagte ich und wurde rot.

»Gott segne Ihna. Nur frischen Mut! Reden S nix vom Sterben. Wenns Ihnen nicht anlächelt, gibts genug andere. Sie sind ein junger Herr, wo das Anlächeln schon wert is, und Sie müssens Ihnern Wert kennenlernen, Mr. Copperfull.«

Mrs. Crupp nannte mich immer Mr. Copperfull, erstens, weil es nicht mein Name war, und zweitens, weil sie offenbar immer an ein Portemonnaie »full Kupper« dabei dachte.

»Wieso vermuten Sie, daß eine junge Dame im Spiel ist, Mrs. Crupp?«

»Mr. Copperfull«, sagte Mrs. Crupp mit Gefühl, »ich bin selbst eine Mutter.«

Eine Zeitlang konnte sie nur ihre Hand auf ihren Nankingbusen legen und sich gegen die Wiederkehr des Schmerzes mit kleinen Schlückchen ihrer Medizin wehren. Endlich ergriff sie wieder das Wort.

»Als Ihner liebe Tante diese Zimmer mietete, Mr. Copperfull, war meine Red, ich hätt jetzt jemand, um den ich mich kümmern könnt. Dem Himmel sei Dank! sagte ich. Jetzt hab ich einen gefunden, wo ich mich drum kümmern kann. Sie essen nicht genug und trinken nix.«

»Gründen Sie darauf Ihre Vermutungen, Mrs. Crupp?«

»Wissen S«, sagte Mrs. Crupp in bestimmtem Ton, »ich hab schon für andere junge Herrn gewaschen, als für Ihnen. Ein junger Herr kann zu viel auf sich halten oder zu wenig auf sich halten. Er kann sich das Haar zu regelmäßig bürsten oder zu unregelmäßig bürsten. Er kann viel zu große Stiefel tragen oder was die viel zu kleinen sind. Das kommt drauf an, wie der junge Herr sich seinen Originalcharakter gformt hat. Aber mag er tun, was er will, jedenfalls ist eine junge Damö im Spiel.«

Sie schüttelte den Kopf so bedeutsam, daß ich mir ganz aus dem Sattel gehoben vorkam.

»Ich will nur den Herrn anführen, der was vor Ihnen hier starb. Er verliebte sich in eine Kellnerin und ließ sich die Westen enger machen, obgleich er vom Trinken ganz aufgschwolln gewesen is.«

»Mrs. Crupp«, sagte ich, »ich muß Sie ersuchen, gefälligst die junge Dame, von der in meinem Fall die Rede ist, nicht mit einer Kellnerin in einem Atem zu nenn.«

»Mr. Copperfull, ich bin selbst eine Mutter, und so etwas möcht mir niemals nicht einfallen. Ich bitt Ihna um Entschuldigung, wenn ich zudringlich bin. Es fällt mir niemals nicht ein, zudringlich zu sein, wo ich nicht willkommen bin. Aber Sie sind noch ein junger Herr, Mr. Copperfull, und was mein Rat is, fassens Ihna ein Herz und lernens Ihnern eignen Wert kennen. Wenns Ihna schon zur Zerstreuung auf etwas legen wollen, legens Ihna aufs Kegelschieben, was Ihna zerstreuen und guttun möcht.«

Bei diesen Worten dankte sie verbindlichst für den Brandy, – der vollkommen ausgetrunken war, mit einer majestätischen Verbeugung und verließ mich. Als ihre Gestalt im Dunkel des Vorzimmers verschwand, erschien mir ihr Rat allerdings wie eine Zudringlichkeit, aber ich ließ mir ihn zur Warnung dienen, ein Geheimnis in Zukunft besser zu verbergen.

27. Kapitel Tommy Traddles


27. Kapitel Tommy Traddles

Am nächsten Tag kam mir der Einfall, Traddles zu besuchen. Die Zeit seiner Abwesenheit mußte um sein, und er wohnte in einer kleinen Straße nicht weit von der Tierarzneischule in Camdentown, einer Gegend, die, wie mir einer unserer Schreiber sagte, meistens von wohlhabendem Studenten bewohnt würde, die lebende Esel kauften, um in ihren Privaträumen Experimente an ihnen zu machen.

Die Straße erschien mir nicht so anheimelnd, wie ich es Traddles wegen gewünscht hätte. Die Bewohner schienen eine besondere Neigung zu haben, unbrauchbare Kleinigkeiten auf die Straße zu werfen, was keineswegs zur Reinlichkeit beitrug. Ich bemerkte nicht nur Kohlblätter und ähnliche Abfälle, sondern sah mit eignen Augen einen Schuh, eine verbogene Blechpfanne, einen schwarzen Hut und einen Regenschirm in verschiedenen Stadien der Zersetzung, während ich mich nach Traddles Hausnummer umsah.

Der Eindruck des Ortes erinnerte mich lebhaft an die Tage bei Mr. und Mrs. Micawber. Das von mir aufgesuchte Haus trug einen unbeschreiblichen Charakter schäbiger Eleganz, wodurch es von den andern Häusern der Straße abstach, obwohl sie alle, nach einem einförmigen Muster gebaut, wie kindische Kopien eines Häuserbauen spielenden Knaben aussahen, und erinnerte mich noch mehr an Mr. und Mrs. Micawber.

Ich erreichte soeben die Tür, als ein Milchmann heraustrat und etwas rief, das mich noch mehr an Mr. und Mrs. Micawber erinnerte.

»Na, was ist also«, äußerte er zu einem sehr jungen Dienstmädchen, »mit meiner kleinen Rechnung?«

»O, der Herr sagt, er werde sie demnächst begleichen.«

»Die Rechnung läuft schon sehr lange«, – die Worte schienen für jemand im Hause bestimmt zu sein und nicht für das Mädchen, weil der Mann gar so grimmig den Gang hinabsah. »Die Rechnung läuft schon so lange und läßt nichts mehr von sich hören, daß sie, mir scheint, schon ganz fortgelaufen ist. Ich lasse mir das nicht gefallen, verstanden«, schrie der Milchmann in den Gang hinein.

Das Äußere des Mannes paßte durchaus nicht für einen Händler mit einem so milden Artikel. Es hätte eher für einen Fleischer oder einen Branntweinhändler gepaßt.

Die Stimme des Dienstmädchens wurde ganz unhörbar. Nach der Bewegung ihrer Lippen zu schließen, schien sie noch einmal zu wiederholen, daß der Herr sie demnächst in Ordnung bringen werde.

»Ich will dir was sagen«, fuhr der Milchmann fort und sah sie zum ersten Mal scharf an und griff ihr unter das Kinn. »Trinkst du gern Milch?«

»Ja, recht gern.«

»Gut, dann kriegst du morgen keine, verstanden? Nicht einen Tropfen Milch kriegst du morgen.«

Das Mädchen schien mir einigermaßen durch die Aussicht, wenigstens heute welche zu bekommen, getröstet. Nachdem der Milchmann, mit einem finstern Blick auf sie, den Kopf geschüttelt, ließ er ihr Kinn los, öffnete unwillig seinen Krug und goß das übliche Maß in die Familienkanne. Darauf entfernte er sich brummend und rief seine Milch mit rachsüchtigem Gekreisch weiter in der Straße aus.

»Wohnt Mr. Traddles hier?« fragte ich.

Eine geheimnisvolle Stimme im Hintergrunde rief »Ja«, worauf auch das junge Mädchen »Ja« antwortete.

»Ist er zu Hause?«

Wieder antwortete die geheimnisvolle Stimme bejahend, und das Mädchen machte das Echo.

Daraufhin ging ich auf die Weisung der Kleinen die Treppe hinauf, nicht ohne beim Vorbeigehen an dem Zimmer im Hintergrund ein geheimnisvolles Auge, das wahrscheinlich zu der geheimnisvollen Stimme gehörte, wachsam auf mich gerichtet zu sehen.

Als ich oben an der Treppe ankam – das Haus war nur ein Stock hoch –, stand Traddles bereits zu meinem Empfang bereit. Er freute sich sehr, mich zu sehen, und führte mich mit herzlichem Willkommengruß in sein kleines Zimmer. Es ging vorne hinaus und war sehr nett, wenn auch nur spärlich möbliert. Er bewohnte kein Zimmer sonst, wie ich bemerkte, denn ich sah ein Schlafsofa und seine Schuhbürsten und Wichse neben den Büchern auf einem Regal unter einem Wörterbuch. Der Tisch war mit Papieren bedeckt, und Traddles schien in seinem alten Rock emsig gearbeitet zu haben. Ich bemerkte alles, ohne mich besonders umsehen zu müssen. Auf seinem porzellanenen Tintenfaß befand sich das Bild einer Kirche, was mich wieder lebhaft an die alten Micawberzeiten erinnerte. Verschiedne sinnreiche Einrichtungen, um die Kommode, den Stiefelvorrat und dergleichen zu verbergen, sahen so recht demselben Traddles ähnlich, der aus Schreibpapier Elefantenkäfige machte, um dann Fliegen hineinzusperren, und der für die erlittenen Mißhandlungen sich mit dem Entwurf von Gerippen tröstete. In einer Ecke des Zimmers lag etwas, sauber mit einem großen, weißen Tuch zugedeckt. Ich konnte nicht herausbekommen, was es sein mochte.

»Traddles«, sagte ich, schüttelte ihm wieder die Hand und setzte mich, »ich bin so erfreut dich wiederzusehen –«

»Ganz meinerseits, Copperfield. Eben weil ich mich so außerordentlich freute, dich zu sehen, gab ich dir diese Adresse anstatt die meines Bureaus.«

»Du hast auch ein Bureau?«

»Ja, ich habe ein Viertel Zimmer, ein Viertel Gang und das Viertel von einem Schreiber. Ich und drei andere haben zusammengeschossen, um ein Bureau zu mieten, – damit es geschäftsmäßiger aussieht – und wir bestreiten auch den Schreiber zu viert. Mich kostet er eine halbe Krone wöchentlich.«

Sein alter einfacher Charakter, seine Gutmütigkeit und ein bißchen von seinem alten Pech glänzten aus dem Lächeln, mit dem er mir diese Erklärung gab.

»Es ist nicht etwa Stolz, Copperfield, weißt du, daß ich gewöhnlich diese Adresse hier nicht verrate. Es geschieht bloß der Leute wegen, die mich besuchen und vielleicht nicht gern hierhergingen. Was mich betrifft, muß ich mich in der Welt durch mancherlei Hindernisse durchkämpfen, und es wäre lächerlich, wenn ich anders erscheinen wollte, als ich bin.«

»Du bereitest dich auf die Advokatur vor, erzählte mir Mr. Waterbrook.«

»Freilich, ja«, sagte Traddles und rieb sich langsam die Hände. »Ich bereite mich auf die Advokatur vor. Tatsächlich habe ich erst jetzt nach recht langer Verzögerung meinen Dienst angetreten. Es ist schon einige Zeit her, daß ich eingeschrieben wurde, aber die Bezahlung der hundert Pfund gab einen großen Ruck. Einen großen Ruck«, wiederholte er mit einem Zucken, als ob ihm ein Zahn ausgerissen würde.

»Weißt du, woran ich fortwährend denken muß, Traddles, wenn ich dich so vor mir sitzen sehe?«

»Nein.«

»An den himmelblauen Anzug, den du immer trugst.«

»Ach Gott, ja, richtig!« rief Traddles lachend, »zu eng an den Armen und Beinen, nicht wahr? Ach, was waren das doch für glückliche Zeiten!«

»Unser Schulmeister hätte sie glücklicher machen können, ohne uns besonders zu schaden, sollte ich meinen«, entgegnete ich.

»Möglich«, gab Traddles zu, »aber lieber Gott, was hatten wir doch für Spaß dort! Erinnerst du dich an die Nächte im Schlafzimmer, wenn wir unsre Abendgesellschaften abhielten und du uns Geschichten erzähltest? Hahaha. Weißt du noch, wie ich durchgehauen wurde, als ich um Mr. Mell weinte. Der alte Creakle! Ich möchte ihn doch gern einmal wiedersehen.«

»Er benahm sich wie eine Bestie gegen dich, Traddles«, sagte ich unwillig, denn grade seine gute Laune erweckte in mir den alten Eindruck, als ob er eben erst durchgeprügelt worden wäre.

»So, meinst du? Wirklich? Vielleicht tat ers. Aber das ist jetzt schon lange Zeit her. Der alte Creakle!«

»Du wurdest damals von einem Onkel erzogen, nicht wahr?«

»Ja freilich. Von dem Onkel, an den ich immer schreiben wollte und niemals schrieb. Hahaha! Ja, ich hatte damals einen Onkel. Er starb bald, nachdem ich aus der Schule kam.«

»So?«

»Ja. Er hatte sich zur Ruhe gesetzt und war, sagen wir mal, Tuch- oder Kleiderhändler gewesen. Er hatte mich zu seinem Erben eingesetzt. Aber ich gefiel ihm nicht, als ich erwachsen war.«

»Ist das dein Ernst?« fragte ich. Er erzählte mir das so ruhig, daß ich dachte, ich hätte ihn nicht recht verstanden.

»Freilich ja, Copperfield. Es ist mein Ernst. Es war eine schlimme Sache, aber er konnte mich durchaus nicht leiden. Er sagte mir, ich entspräche seinen Erwartungen ganz und gar nicht und heiratete dann seine Haushälterin.

»Und was tatest du?«

»Ich tat nichts Besonderes. Ich lebte bei ihm und wartete, ob sie mich nicht irgendwo anbrächten, da schlug sich ihm unglücklicherweise die Gicht auf den Magen und er starb, und sie heiratete einen jungen Mann, und für mich blieb nichts übrig.«

»Bekamst du gar nichts, Traddles?«

»Ach, mein Gott! Ich bekam fünfzig Pfund. Ich war für keinen bestimmten Beruf erzogen, und eine Zeitlang wußte ich überhaupt nicht, was ich beginnen sollte. Endlich machte ich mit dem Beistand eines Advokatensohns, der auch in Salemhaus gewesen, – Yawler, mit der schiefen Nase, du erinnerst dich seiner gewiß, – einen Anfang.«

»Nein, zu meiner Zeit war er noch nicht dort. Damals haben sie alle grade Nasen gehabt.«

»Nun, das macht weiter nichts. Also mit seiner Hilfe lernte ich Akten abschreiben. Dabei schaute nicht viel heraus, und dann fing ich an, Referate aufzusetzen, Auszüge zu machen und ähnliche Arbeiten zu verrichten. Ich bin nämlich ein rechter Büffler, Copperfield, und habe gelernt, mich in solchen Sachen kurz fassen. Hernach kam mir der Gedanke, mich als Student der Rechte einschreiben zu lassen, und das fraß den Rest meiner fünfzig Pfund auf. Yawler empfahl mich unterdessen bei ein paar Kanzleien, zum Beispiel bei Mr. Waterbrook, und ich machte manches nette Geschäft. Außerdem schätze ich mich so glücklich, mit einem Buchhändler bekannt geworden zu sein, der eine Enzyklopädie herausgibt, und da bekam ich wieder Arbeit. Gerade jetzt bin ich für ihn tätig«, sagte er mit einem Blick auf den Tisch. »Ich bin kein schlechter Kompilator, Copperfield«, fuhr er mit einer gewissen heitern Zufriedenheit fort, »aber ich habe nicht die geringste Erfindungsgabe. Ich glaube, es hat noch nie einen jungen Mann von so wenig Originalität wie ich bin gegeben.«

Ich nickte, da Traddles meine Zustimmung zu erwarten schien, und er fuhr mit derselben bescheidenen Genügsamkeit fort: »So sparte ich mir denn nach und nach die hundert Pfund zusammen, Gott sei Dank, daß sie erlegt sind. Es gab einen förmlichen Ruck.« Wieder zuckte er, als ob ihm abermals ein Zahn ausgezogen würde. »Ich ernähre mich durch solche Arbeiten und hoffe immer, eines Tages mit irgendeiner Zeitung in Verbindung zu kommen, und dann wäre mein Glück gemacht! Du, Copperfield, bist ganz genau so wie früher mit deinem gemütlichen Gesicht, und ich freue mich so sehr, dich zu sehen, daß ich dir auch das letzte nicht verheimlichen will. Also höre: Ich bin verlobt.«

»Verlobt! (O Dora!)«

»Sie ist eine Pfarrerstochter, eine von zehn Schwestern unten in Devonshire. Jawohl! Jawohl«, bestätigte er, denn er sah mich unwillkürlich einen Blick auf das Tintenfaß werfen, »jawohl, das ist die Kirche. Man geht hier herum, links durch dieses Tor, und grade hier, wo ich die Feder hinhalte, steht das Haus mit den Fenstern nach der Kirche.«

Seine Freude, mit der er auf diese Einzelheiten einging, wurde mir erst einen Augenblick später ganz klar. Meine selbstsüchtigen Gedanken hatten nämlich gerade einen Grundriß von Mr. Spenlows Haus und Garten entworfen.

»Sie ist so ein liebes Mädchen«, sagte Traddles, »ein wenig älter als ich, aber ein gar so liebes Mädchen. Ich erzählte dir doch, ich würde verreisen. Ich war dort. Ich reiste hin und zurück zu Fuß und habe eine entzückende Zeit verlebt. Freilich wird es ein ziemlich langer Brautstand werden, aber wir sagen immer: warten und hoffen. Und, Copperfield, sie würde warten sechzig Jahre und noch länger –«

Er stand auf und legte mit triumphierendem Lächeln die Hand auf das weiße Tuch, das mir schon früher aufgefallen war.

»Wir haben für alle Fälle schon einen kleinen Anfang mit der Wirtschaft gemacht. Freilich geht es nur langsam vorwärts, aber angefangen haben wir.« Er zog sorgfältig und mit großem Stolz das Tuch weg. »Hier sind schon zwei Stücke für die Einrichtung. Diesen Blumentopf mit Untersetzer hat sie selbst gekauft. Das wird in das Wohnzimmerfenster gesetzt«, sagte Traddles und beugte sich ein wenig zurück, um das Stück mit desto mehr Bewunderung betrachten zu können, »mit einer Pflanze drin. Diesen kleinen runden Tisch mit der Marmorplatte, zwei Fuß zehn Zoll im Umfang, habe ich gekauft. Sagen wir, man will ein Buch hinlegen, oder es kommt jemand zu Besuch und will eine Teetasse aus der Hand setzen, und – und – dazu ist er eben sehr gut. Es ist ein wundervolles Stück Arbeit, fest wie ein Felsen.« Ich hob beide Stücke in den Himmel, und Traddles deckte sie wieder so sorgfältig zu, wie er sie enthüllt hatte.

»Es fehlt noch viel zu einem vollständigen Mobiliar, aber es ist ein Anfang. Die Tischtücher und Betten und die andern Sachen dieser Art machen mir am meisten Sorge, Copperfield. Ebenso die Eisensachen, die Lichterkasten, die Roste, weil diese Sachen gar so ins Geld gehn. Aber warten und hoffen. Ich versichere dir, sie ist ein so liebes Mädchen.«

»Davon bin ich überzeugt.«

»Mittlerweile«, sagte Traddles und setzte sich wieder auf seinen Stuhl, – »und damit will ich aufhören, von mir zu schwatzen, – schlage ich mich durch, so gut ich kann. Ich verdiene nicht viel, brauche aber auch nur wenig. Für gewöhnlich esse ich bei den Leuten unten, nette, angenehme Menschen. Beide, Mr. und Mrs. Micawber, haben viel erlebt und sind vortreffliche Gesellschafter.«

»Um Gottes willen, Traddles?« rief ich aus. »Was sagst du da?«

Traddles sah mich verständnislos an.

»Mr. und Mrs. Micawber? Aber die kenne ich auch ganz genau!«

Ein gewisses zweimaliges Klopfen an der Haustür, das ich aus alter Erfahrung von der Windsor-Terrasse her kannte und das nur von Mr. Micawber herrühren konnte, nahm mir jeden Zweifel. Ich bat Traddles, seinen Hauswirt doch heraufkommen zu lassen. Er rief sogleich über das Treppengeländer hinunter, und Mr. Micawber, nicht im geringsten verändert, – seine engen Beinkleider, sein Stock, sein Hemdkragen und seine Lorgnette, alles genau wie früher – trat mit vornehmen und jugendlichen Allüren in das Zimmer.

»Ich bitte um Verzeihung, Mr. Traddles«, sagte er mit dem gewohnten Rollen in der Stimme und unterbrach die Melodie, die er vor sich hingesungen hatte. »Ich wußte nicht, daß sich eine in Ihrer Behausung fremde Persönlichkeit hier im Allerheiligsten befindet.« Mr. Micawber machte mir eine leichte Verbeugung und zog den Hemdkragen in die Höhe.

»Wie geht es Ihnen, Mr. Micawber?« fragte ich.

»Sir«, antwortete Mr. Micawber. »Ich bin Ihnen außerordentlich verbunden. Ich befinde mich in statu quo

»Und Mrs. Micawber?«

»Sir, auch sie ist Gott sei Dank in statu quo

»Und die Kinder, Mr. Micawber?«

»Sir. Es gereicht mir zur Freude, Ihnen sagen zu können, daß auch sie sich der besten Gesundheit erfreuen.«

Bis dahin hatte mich Mr. Micawber noch nicht erkannt, trotzdem ich dicht vor ihm stand. Als er mich jetzt lächeln sah, betrachtete er mich genauer, trat zurück und rief: »Ist es möglich, habe ich das Glück, abermals Copperfield wiederzusehen?« Und er schüttelte mir beide Hände mit größter Herzlichkeit.

»Gott im Himmel, Mr. Traddles, denken Sie nur! Muß ich hier den Freund meiner Jugend, den Gefährten früherer Jahre wiederfinden! – Meine Liebe«, rief er über das Treppengeländer hinab, während Traddles nicht wenig verwundert bei dieser Beschreibung von mir dreinschaute, – »meine Liebe, hier in Mr. Traddles‘ Gemach befindet sich ein Herr, den dir vorzustellen ich mir das Vergnügen machen möchte.«

Mr. Micawber kam wieder herein und schüttelte mir abermals die Hände.

»Und was macht unser guter Freund, der Doktor, Copperfield, und der ganze Kreis in Canterbury?«

»Ich habe nur gute Nachrichten von ihnen.«

»Das freut mich ungemein. In Canterbury sahen wir uns das letzte Mal. Es war im Schatten, bildlich gesprochen, jenes erhabenen Gotteshauses, das von Chaucer unsterblich gemacht schon in alten Zeiten das Wanderziel des Pilgrims aus den fernsten Winkeln – kurz, es war neben dem Dom.«

Ich stimmte bei. Mr. Micawber fuhr fort mit demselben Schwung zu sprechen, aber, wie mir vorkam, nicht ohne einige Zeichen von Unruhe über gewisse Töne im Nebenzimmer, wie wenn sich Mrs. Micawber die Hände wüsche und eilig Schubladen, die schwer aufgingen, auf- und zuschöbe.

»Sie finden uns, Copperfield«, sagte Mr. Micawber, halb auf Traddles blickend, »gegenwärtig in einem sozusagen kleinen und anspruchslosen Haushalt, aber Sie wissen, daß ich in meiner Karriere mancherlei Schwierigkeiten besiegt und Hindernisse überwunden habe. Sie stehen der Tatsache nicht fremd gegenüber, daß es Abschnitte in meinem Leben gegeben hat, wo ich genötigt war zu pausieren, bis gewisse voraussichtliche Ereignisse eintreten sollten, Zeitabschnitte, wo ich sozusagen einen Anlauf nehmen mußte, um das, was ich sicher ohne Anmaßung einen entscheidenden Sprung nenne, tun zu können. Die gegenwärtige Zeit nun bedeutet einen dieser Augenblicke im menschlichen Leben. Sie sehen mich zurückgetreten zum Sprung, und ich habe allen Grund zu glauben, daß binnen kurzem ein großer Umschwung zu gewärtigen ist.«

Ich hatte kaum meine Beistimmung ausgedrückt, als Mrs. Micawber hereintrat, ein wenig salopper gekleidet als früher – vielleicht kam es mir auch nur so vor –, aber immerhin mit allen Anzeichen gesellschaftlichen Aufputzes und braunen Handschuhen angetan.

»Mein Liebling«, sagte Mr. Micawber und führte sie mir entgegen, »hier steht ein Herr, der seine Bekanntschaft mit dir zu erneuern wünscht. Sein Name ist Copperfield.«

Es wäre besser gewesen, wenn man Mrs. Micawber ein wenig vorbereitet hätte. Sie befand sich momentan in gesundheitlichen Umständen, die große Schonung erforderten, und wurde von der plötzlichen Überraschung so erschüttert und unwohl, daß Mr. Micawber zum Brunnen im Hof hinunterlaufen und eine Schüssel Wasser holen mußte, um ihr die Stirn zu waschen. Sie kam schnell zu sich und freute sich aufrichtig, mich wiederzusehen. Wir unterhielten uns wohl eine halbe Stunde, und ich erkundigte mich nach den Zwillingen, die, wie sie sagte, schon sehr groß seien, und nach Master und Miss Micawber, die »direkte Riesen« sein sollten, sich aber nicht sehen ließen.

Mr. Micawber wollte mich durchaus zum Essen dabehalten. Ich hätte nichts dagegen gehabt, aber aus Mrs. Micawbers Augen schien mir etwas wie Unruhe bei der Berechnung des noch vorhandenen kalten Bratens zu sprechen. Ich gab daher vor, anderswo eingeladen zu sein, und widerstand allem Drängen um so mehr, als mir Mrs. Micawbers Mienen heiterer zu werden schienen.

Ich verlangte von Traddles und den beiden Micawbers, daß sie unbedingt jetzt schon den Tag festsetzen müßten, wo sie bei mir speisen wollten. Traddles‘ Arbeit machte es nötig, den Tag etwas weiter hinauszuschieben, aber schließlich kamen wir doch zu einem Resultat, und ich verabschiedete mich.

Unter dem Vorwand, mir einen nähern Weg zeigen zu wollen, begleitete mich Mr. Micawber bis an die Ecke der Straße, – »um mit einem alten Freund ein paar Worte im Vertrauen sprechen zu können.«

»Lieber Copperfield«, begann er, »ich brauche Ihnen wohl kaum zu versichern, welch unaussprechlichen Trost es mir gewährt, bei den obwaltenden Umständen unter unserm Dach ein Herz schlagen zu wissen von solcher Wärme wie das Ihres Freundes Traddles. Wenn auf der einen Seite eine Waschfrau wohnt, die in dem Fenster ihres Wohnzimmers altbackenes Brot zum Verkaufe ausstellt, und ein Polizeidiener gegenüber, können Sie sich wohl vorstellen, welche Quelle des Trostes die Gesellschaft Mr. Traddles‘ für Mrs. Micawber und mich bedeutet. Zur Zeit, mein lieber Copperfield, bin ich im Kommissionshandel in Getreide tätig. Ich kann mich nicht des Ausdrucks bedienen, daß es ein lohnender Beruf ist, – kurz, er trägt nichts. Und infolgedessen befinde ich mich in einer vorübergehenden Verlegenheit materieller Art. Glücklicherweise kann ich jedoch hinzufügen, daß ich sichere Aussicht habe – ich darf noch nicht verraten, wo –, etwas zu finden, was mich instand setzen wird, dauernd für mich und unsern Freund Traddles, für den ich eine ungewöhnliche Teilnahme hege, sorgen zu können. Sie werden vielleicht nicht überrascht sein, wenn ich Ihnen sage, daß Mrs. Micawber sich in einem Zustand befindet, der es nicht unwahrscheinlich macht, auf eine Vermehrung der Pfänder der Liebe kurz, sie ist in andern Umständen. Mrs. Micawbers Familie hat geruht, über diesen Umstand Äußerungen der Unzufriedenheit fallen zu lassen. Ich will bloß bemerken, daß es sie nichts angeht und daß ich solche Einmischung mit Entrüstung zurückweise.«

Dann schüttelte mir Mr. Micawber die Hand und verließ mich.

28. Kapitel Mr. Micawber wirft seinen Fehdehandschuh hin


28. Kapitel Mr. Micawber wirft seinen Fehdehandschuh hin

Bis zu dem Tag, wo ich meine neuaufgefundnen alten Freunde bewirten sollte, lebte ich hauptsächlich von Dora und Kaffee. In meinem Liebessiechtum schwand mein Appetit. Ich freute mich darüber, denn ich hätte es als Treulosigkeit gegen Dora aufgefaßt, Genuß an einem Mittagessen zu finden. Meine ausgedehnten Spaziergänge verfehlten die gewöhnliche Wirkung, da der Gram meiner Seele der frischen Luft entgegenwirkte. Ich habe auch meine Zweifel, die sich auf die damals erlangte drückende Erfahrung gründen, ob sich ein gesunder Appetit im Menschen entwickeln kann, wenn er beständig von zu engen Schuhen gepeinigt wird.

Ich traf diesmal nicht so große Vorbereitungen wie zu meinem ersten Gastmahl. Das Essen sollte bloß aus Zunge, einer kleinen Schöpsenkeule und aus Taubenpastete bestehen.

Mrs. Crupp wurde rebellisch, als ich ihr zuerst schüchtern die Bereitung von Fisch und Braten zumutete, und sagte gekränkt und würdevoll: »Nein, nein, Sir. So was könnens von mir nicht verlangen. Sie kennens mich zu gut, als daß Sie so was bei mir voraussetzen könnten.« Aber zuletzt verständigten wir uns doch, als ich auf ihre Bedingung, vierzehn Tage nicht zu Hause zu essen, einging.

Überhaupt mußte ich von Mrs. Crupp wegen der Tyrannei, die sie auf mich ausübte, Schreckliches ertragen. Noch nie habe ich mich vor jemand so gefürchtet. Immer mußte ein Vergleich geschlossen werden, und wenn ich zögerte, einzuschlagen, brach jedesmal sofort ihre seltsame Krankheit, die bei ihr immer im Hinterhalt zu liegen schien, aus und nahm von ihren Lebensgeistern Besitz. Wenn ich nach sechsmaligen, schüchternen und erfolglosen Versuchen endlich ungeduldig an der Klingel riß und sie erschien – was auch dann nicht immer der Fall war –, trat sie jedesmal mit vorwurfsvoller Miene herein, sank atemlos auf einen Stuhl bei der Tür, legte verletzt die Hand auf das Nankinggebiet, und ich mußte sie immer mit einem Opfer von Brandy wieder versöhnen. Wenn ich es mir nicht gefallen lassen wollte, daß mein Bett erst um fünf Uhr nachmittags gemacht wurde, so genügte eine Bewegung ihrer Hand, um mich zu einer gestotterten Bitte um Verzeihung zu veranlassen. Kurz, sie verkörperte den Schrecken meines Lebens.

Ich kaufte einen gebrauchten Serviertisch für das Gastmahl, denn ich wollte um keinen Preis den gewandten jungen Mann wieder engagieren. Ich hegte ein Vorurteil gegen ihn, weil ich ihm an einem Sonntagmorgen auf dem Strand in einer Weste begegnete, die einer von mir, seit jenem Feste vermißten, wunderbar ähnlich sah. Das »Gschöpf« bestellte ich wieder, aber unter der Bedingung, daß sie nur die Gerichte hereinzubringen und dann vor der Eingangstüre zu warten habe, wo man ihr Schnaufen nicht hören konnte und der Rückzug auf Teller eine physische Unmöglichkeit war.

Nachdem ich das Nötige zu einer Punschbowle, deren Bereitung Mr. Micawber vorbehalten bleiben sollte, ferner eine Flasche Lavendelwasser, zwei Wachskerzen, ein Papier voll verschiedener Nadeln und ein Kissen dazu, damit Mrs. Micawber ihre Toilette bei mir machen könne, gekauft und in meinem Schlafzimmer für Mrs. Micawber Feuer angemacht und schließlich eigenhändig den Tisch gedeckt hatte, sah ich voll Fassung den kommenden Dingen entgegen.

Zur bestimmten Stunde trafen meine drei Gäste ein. Mr. Micawber mit einem noch hohem Hemdkragen als gewöhnlich, einem neuen Band an seinem Augenglase, – Mrs. Micawber, ihre Haube in ein Papierpaket eingeschlagen, am Arme Traddles.

Alle waren über meine Wohnung entzückt. Als ich Mrs. Micawber an meinen Toilettetisch führte und sie die Vorbereitungen bemerkte, die ich für sie getroffen, geriet sie so außer sich, daß sie ihren Gatten herbeirief.

»Lieber Copperfield«, sagte Mr. Micawber, »das ist wirklich luxuriös. Es verrät eine Lebensführung, die mich an meine eigne Junggesellenzeit erinnert, als Mrs. Micawber noch nicht gebeten worden war, Treue an Hymens Altar zu schwören.«

»Er meint, von ihm gebeten, Mr. Copperfield«, setzte Mrs. Micawber kokett hinzu. »Von andern kann er das nicht sagen.«

»Meine Liebe«, entgegnete Mr. Micawber und wurde plötzlich sehr ernst. »Von andern zu sprechen, hege ich nicht den Wunsch. Ich bin mir wohl bewußt, daß es vielleicht für einen geschah – als du nach dem unerforschlichen Ratschluß des Schicksals für mich aufbewahrt wurdest –, der nach langem Kampfe einer materiellen Verlegenheit höchst verwickelter Natur zum Opfer fallen sollte. Ich verstehe deine Anspielungen, meine Liebe; es schmerzt mich, aber ich ertrage es mit Fassung.«

»Micawber!« rief Mrs. Micawber in Tränen aus. »Habe ich das verdient? Ich, die ich dich nie verlassen habe, die dich nie verlassen wird, Micawber!«

»Meine Liebe«, sagte Mr. Micawber sehr gerührt. »Du wirst verzeihen und gewiß auch unser alter, erprobter Freund Copperfield wird es, wenn die frische Wunde eines verletzten Gemüts, empfindlich geworden durch eine Kollusion mit einem Knechte der öffentlichen Gewalt, kurz, mit einem ordinären Röhrenarbeiter beim Wasserwerk, – in einem solchen Augenblick wieder aufbricht, und wirst mich wegen meiner Verirrung nicht verdammen.«

Er umarmte seine Frau und drückte mir die Hand und ließ mich durch seine dunkeln Andeutungen vermuten, daß man ihm zu Hause wegen Zahlungsversäumnisses das Wasser abgesperrt hatte.

Um seine Gedanken von diesem traurigen Vorfall abzulenken, führte ich ihn zu den Zitronen und gestand ihm, daß ich hinsichtlich der Punschbereitung auf ihn rechne.

Im Handumdrehen wich seine Verzweiflung. Noch nie habe ich einen Menschen beim Duft von Zitronenschalen und heißem Rum so vergnügt gesehen wie Mr. Micawber an diesem Nachmittag. Wunderbar glänzte uns sein Gesicht aus der dünnen Wolke dieser köstlichen Dämpfe entgegen, wie er rührte und mischte und kostete und aussah, als ob er anstatt Punsch ein Vermögen für seine Familie bis ins letzte Glied zurechtmachte.

Mrs. Micawber, ich weiß nicht, ob es die Haube ausmachte, die sie jetzt auf hatte, oder das Lavendelwasser oder die Nadeln oder das Feuer oder die Wachslichter, trat, für ihre Jahre wirklich liebenswürdig aussehend, aus meinem Zimmer. Eine Lerche konnte nicht fröhlicher sein als diese vortreffliche Frau.

Ich wagte nie zu fragen, aber ich vermute, daß Mrs. Crupp schon beim Backen der Seezungen krank geworden war, denn mit dem andern Essen ging es schief. Die Hammelkeule kam auf den Tisch, innen sehr rot und außen sehr blaß und über und über mit einem unbekannten sandigen Stoff bestreut, als ob sie in die Asche des merkwürdigen Küchenherdes gefallen wäre. Wir wurden nicht in den Stand gesetzt, uns durch Untersuchung der Sauce darüber klarzuwerden, denn das »Gschöpf« hatte sie auf die Treppen getropft. Noch lange war sie als Fettfleck sichtbar, bis die Tritte mit der Zeit alles verwischten. Die Taubenpastete war nicht schlecht, aber eine Täuschung. Die Rinde glich einem phrenologischen Schädel, der viel verspricht, aber nichts hält: außen lauter Buckel und Erhöhungen, inwendig nichts. Kurz, das Gastmahl war ein Mißgriff, so daß ich mich höchst unglücklich fühlte wegen des Mißgriffs nämlich, denn wegen Dora fühlte ich mich immerwährend unglücklich. Zum Glück kamen mir die vortreffliche Laune meiner Gäste und ein guter Einfall Mr. Micawbers zu Hilfe.

»Mein lieber Freund Copperfield«, sagte nämlich Mr. Micawber, »unvorhergesehene Ereignisse treten auch in den bestgeleiteten Haushaltungen ein. In Familien, die nicht durch den alles durchdringenden Einfluß, der zugleich den Genuß heiligt und ihn erhöht, – kurz, ich wollte sagen, wenn keine Hausfrau da ist, sind sie mit Sicherheit zu erwarten und müssen mit stoischem Gleichmut getragen werden. Wenn Sie erlauben, daß ich mir die Freiheit nehme zu bemerken, daß nur wenige Speisen halb gar sind und daß ich der Meinung bin, wir könnten mit einiger Arbeitsteilung daraus etwas Gutes bereiten, wenn unsere jugendliche Aufwärterin uns einen Rost verschaffen wollte, so würde ich glauben, daß das kleine Mißgeschick leicht gutzumachen ist.«

In meiner Speisekammer befand sich ein Rost, auf dem ich meinen Frühstücksschinken zu braten pflegte. Er war im Augenblick herbeigeschafft, und wir machten uns sofort daran, Mr. Micawbers Vorschlag zur Ausführung zu bringen. Die Arbeitsteilung, von der er gesprochen, ging folgendermaßen vor sich:

Traddles schnitt die Schöpsenkeule in Scheiben, Mr. Micawber, in allen solchen Dingen ein Meister, bestreute sie mit Pfeffer, Salz, Senf und Cayenne, – ich legte sie auf den Rost, wendete sie mit der Gabel um und nahm sie nach Mr. Micawbers Anleitung vom Feuer. Mrs. Micawber wärmte und rührte Champignonsauce in einer kleinen Pfanne. Als wir genug Schnitten hatten, fingen wir mit noch aufgestreiften Ärmeln an zu essen, während noch mehr Scheibchen auf dem Feuer zischten und unsere Aufmerksamkeit sich zwischen dem Fleisch auf unsern Tellern und dem auf dem Rost teilte.

Das Neuartige dieser Kocherei, die Vortrefflichkeit des Gerichtes, die Aufregung, die mit der Zubereitung verknüpft war, das häufige Aufstehen, um nach dem Rechten zu sehen, das Essen, wenn die knusperigen Schnitten ganz heiß vom Roste kamen, die damit verbundenen Spaße, der Lärm und der Duft, der uns umgab, alles trug dazu bei, daß wir die Hammelkeule bis auf den letzten Rest verzehrten. Mein Appetit kehrte wie durch ein Wunder wieder. Es ist eine Schande, aber ich glaube wirklich, ich vergaß Dora eine Zeitlang. Ich bin überzeugt, Mr. und Mrs. Micawber hätten nicht erfreuter sein können, wenn sie ein Bett verkauft haben würden. Traddles lachte herzlich die ganze Zeit über und aß und schaffte. Wir alle taten desgleichen, und ich muß sagen, niemals war ein Mahl fröhlicher.

Auf dem Höhepunkt der Freude angekommen, wollten wir eben die letzten Scheibchen in den höchsten Zustand der Vollkommenheit versetzen, als ich bemerkte, daß sich noch jemand im Zimmer befand; und meine Augen sahen in die Littimers, der den Hut in der Hand vor mir stand.

»Was ist geschehen?« fragte ich unwillkürlich.

»Ich bitte um Verzeihung, Sir, ist mein Herr nicht hier?«

»Nein.«

»Haben Sie ihn nicht gesehen, Sir?«

»Nein. Kommen Sie nicht von ihm?«

»Nicht direkt, Sir.«

»Hat er Ihnen gesagt, daß Sie ihn hier finden würden?«

»Das gerade nicht, Sir, aber wahrscheinlich wird er wohl morgen erst hier sein, da es heute noch nicht der Fall ist.«

»Kommt er von Oxford hierher?«

»Dürfte ich sehr bitten, Sir«, war die respektvolle Erwiderung; »mir zu erlauben, diese Arbeit zu übernehmen?« Damit nahm Littimer mir die Gabel aus meiner widerstandslosen Hand und beugte sich über den Rost, als ob seine Aufmerksamkeit jetzt ganz von dieser Beschäftigung in Anspruch genommen würde.

Nicht einmal das plötzliche Erscheinen Steerforths selbst hätte uns so aus der Fassung bringen können. In einem Augenblick wurden wir zu Schwächlingen vor diesem respektablen Diener. Mr. Micawber, ein Liedchen summend, um seine Befangenheit zu bemänteln, warf sich in seinen Stuhl zurück, und der Griff einer hastig versteckten Gabel guckte aus seiner Brusttasche hervor. Es sah aus, als ob er sich angestochen hätte. Mrs. Micawber zog ihre braunen Handschuhe an und setzte eine vornehm schlaffe Miene auf. Traddles fuhr sich mit seinen fettglänzenden Händen durch das Haar, daß es sich straff aufrichtete, und starrte verwirrt auf das Tischtuch. Ich selbst war an meiner eignen Tafel wieder zum Kinde geworden und wagte kaum einen Blick auf die respektable Erscheinung zu werfen, die weiß Gott woher gekommen war, um meinen Haushalt in Ordnung zu bringen.

Unterdessen nahm Littimer das Fleisch vom Rost und servierte es mit ernster Miene. Wir langten alle zu, aber es schmeckte uns nicht mehr, und wir taten nur, als ob wir davon äßen. Dann räumte er die Teller geräuschlos auf und stellte den Käse auf den Tisch. Schließlich räumte er ab und brachte die Weingläser. Den Serviertisch schob er eigenhändig in die Speisekammer. Alles dies vollbrachte er in untadelhafter Weise und wandte keinen Blick von seiner Arbeit. Aber selbst in seinen Ellbogen, wenn er mir den Rücken kehrte, schien der Ausdruck seiner unerschütterlichen Meinung, daß ich außerordentlich jung sei, zu lauern.

»Kann ich sonst noch etwas besorgen, Sir?«

Ich dankte, sagte nein und fragte ihn, ob er selbst nicht etwas essen wollte.

»Nichts. Ich danke verbindlichst, Sir.«

»Kommt Mr. Steerforth aus Oxford?«

»Ich bitte um Entschuldigung, Sir?«

»Kommt Mr. Steerforth aus Oxford?«

»Ich vermute, er muß morgen hier sein, Sir, ich glaubte eigentlich, er müßte schon heute hier sein. Die Schuld des Irrtums liegt jedenfalls an mir, Sir.«

»Falls Sie ihn vor mir sehen sollten –« begann ich.

»Ich bitte um Verzeihung, Sir, ich glaube nicht, daß ich ihn vor Ihnen. sehen werde.«

»Falls Sie ihn aber doch sehen sollten, sagen Sie ihm bitte, es täte mir sehr leid, daß er heute nicht hier gewesen ist, da ich einen Besuch von einem seiner Schulkameraden hatte.«

»In der Tat, Sir?« Und Mr. Littimer teilte eine Verbeugung zwischen mir und Traddles, dem er einen flüchtigen Blick zuwarf.

Er bewegte sich geräuschlos nach der Tür, als ich mit einer verzweifelten Anstrengung, irgend etwas Natürliches herauszubringen – was mir diesem Mann gegenüber nie glücken wollte –, noch sagte:

»Sie, Littimer!«

»Sir?«

»Sind Sie noch lange in Yarmouth geblieben?«

»Nicht besonders lang, Sir.«

»Ist das Boot fertig?«

»Ja, Sir. Ich blieb dort, bis es fertig war.«

»Davon bin ich überzeugt.« Er sah mich ehrerbietig an. – »Mr. Steerforth hat es natürlich noch nicht gesehen?«

»Ich kann es wirklich nicht sagen, Sir. Ich vermute – kann es aber nicht mit Bestimmtheit angeben. Ich erlaube mir, Ihnen gute Nacht zu wünschen, Sir.«

Die ehrerbietige Verbeugung, mit der er seine letzten Worte begleitete, galt uns allen zugleich, und er verschwand.

Meine Gäste schienen freier aufzuatmen, als er fort war; aber ich selbst fühlte mich nicht sehr erleichtert. Mir schlug das Gewissen bei dem Gedanken, daß ich seinem Herrn ein wenig mißtraut hatte, und konnte eine unbestimmte Angst nicht abschütteln, daß er es gemerkt habe. Wie kam es nur, daß ich das Gefühl nicht loswerden konnte, daß dieser Mann stets meine geheimsten Empfindungen durchschaute!

Mr. Micawber riß mich aus meinen Betrachtungen, indem er auf Littimer eine große Lobrede hielt und ihn als einen höchst respektablen Menschen bezeichnete. Er hatte den ihm gebührenden Anteil an Littimers für uns alle bestimmten Verbeugung mit unendlicher Herablassung entgegengenommen.

»Der Punsch, lieber Copperfield«, sagte er sodann und kostete, »wartet wie Ebbe und Flut auf keinen Menschen. Ah, er hat gerade jetzt die schönste Blume. Meine Liebe, was ist deine Meinung?«

Mrs. Micawber fand ihn ebenfalls vortrefflich.

»Dann will ich mir die Freiheit nehmen, wenn mein Freund Copperfield gestattet, auf die Tage zu trinken, wo er und ich noch jünger waren und Schulter an Schulter unsern Weg durch die Welt erkämpften.«

Er leerte sein Glas, und wir folgten seinem Beispiel, – Traddles, ganz in Grübeln versunken, in welcher Zeit Mr. Micawber und ich wohl Schulter an Schulter im Kampf des Lebens gerungen haben mochten.

»Ahem!« sagte Mr. Micawber, sich räuspernd, ganz durchglüht von dem Punsch. »Liebe Frau, wünschest du noch ein Glas?«

Mrs. Micawber wollte nur ganz wenig eingeschenkt haben, aber wir ließen uns das nicht gefallen, und sie bekam ein volles Glas.

»Da wir so hübsch unter uns sind, Mr. Copperfield«, sagte sie und nippte an ihrem Punsch, – »Mr. Traddles bildet ja sozusagen einen Teil unserer Familie, – so wüßte ich gern Ihre Meinung über Mr. Micawbers Aussichten. Der Getreidehandel«, fuhr sie gedankenvoll fort, »ist wohl, wie ich zu Mr. Micawber des öfteren geäußert habe, ein ehrenwerter Beruf, aber nicht rentabel. Provisionen in der Höhe von zwei Schilling neun Pence in vierzehn Tagen können, so genügsam unsere Ansprüche auch sind, kein lohnender Ertrag genannt werden.«

Darin stimmten wir alle mit ihr überein.

»Ich muß mir also folgende Frage vorlegen«, sagte Mrs. Micawber, die sich stets einbildete, die Dinge sehr klar zu sehen, und durch ihren gesunden Menschenverstand ihren Gatten auf gerader Bahn zu erhalten wähnte. »Wenn man sich nicht auf Getreide werfen kann, worauf sonst. Auf Kohlen? Keineswegs. Schon einmal haben wir unser Augenmerk auf den Rat meiner Familie hin auf Versuche dieser Art gelenkt, und sie sind fehlgeschlagen.«

Mr. Micawber lehnte sich in seinen Stuhl zurück, die Hände in den Taschen, sah uns von der Seite an und nickte mit dem Kopfe, als wollte er sagen, die Sache läge jetzt ungemein klar.

»Da also Getreide und Kohlen«, fuhr Mrs. Micawber noch überlegsamer fort, »vollständig außer Frage gerückt sind, sehe ich mich natürlich in der Welt um und frage mich, in welchem Fache wohl könnte ein Mann von Mr. Micawbers Talenten sein Glück machen? Kommissionsgeschäfte schließe ich von vornherein aus, da sie unsicherer Natur sind. Für eine Person von Mr. Micawbers besondern Anlagen ist eine sichere Sache die allergeeignetste.«

Traddles und ich drückten unsere Zustimmung, daß diese große Entdeckung zweifellos richtig sei, durch beifälliges Gemurmel aus.

»Ich will nicht hinter dem Berge halten, Mr. Copperfield, daß ich schon lange herausgefühlt habe, das Brauereigeschäft müßte Mr. Micawber direkt auf den Leib geschrieben sein. Sehen Sie einmal Barclay & Perkins, Truman, Hanbury und Buxton an. Nur in einem ausgedehnten Wirkungskreis kann Mr. Micawber, wie ich am besten weiß, sich entfalten, und der Gewinn ist, wie ich mir sagen ließ, ungeheuer. Wenn aber nun Mr. Micawber solchen Firmen nicht beitreten kann – man beantwortet seine Briefe nicht einmal, selbst wenn er seine Dienste für eine Stellung untergeordneten Ranges anbietet –, was nützt es da, sich noch länger mit dieser Idee zu befassen? Nichts! Ich habe die felsenfeste Überzeugung, daß Mr. Micawbers Manieren –«

»Hm, aber ich bitte dich, meine Liebe«, unterbrach Mr. Micawber.

»Lieber Mann, sei still«, sie legte ihren braunen Handschuh auf den Arm ihres Gatten; »ich bin felsenfest überzeugt, Mr. Copperfield, daß Mr. Micawbers Manieren ihn in hervorragender Weise für das Bankiergeschäft qualifizieren. Ich kann mir genau ausmalen, wie Mr. Micawbers Manieren, wenn ich ihn als Repräsentanten eines Bankiers vor mir sähe, mein Vertrauen erwecken müßten, falls ich ein Depot zu erlegen gedächte. Wenn sich aber nun die verschiedenen Bankhäuser weigern, sich Mr. Micawbers Fähigkeiten zu bedienen, und ein derartiges Anerbieten mit Geringschätzung zurückweisen, was hat es da für einen Zweck, noch länger bei einem solchen Gedanken zu verweilen? Keinen! Und was die Eröffnung eines Bankgeschäfts auf eigne Faust betrifft, so wären immerhin einige Mitglieder aus meiner Familie, wenn sie ihr Geld nur Mr. Micawber anvertrauen wollten, in der Lage, ein derartiges Unternehmen begründen zu können. Aber wenn sie ihr Geld Mr. Micawber nun eben nicht anvertrauen wollen – und sie wollen nicht –, was bleibt da übrig? Ich stelle fest, daß wir noch nicht weitergekommen sind als vorhin!«

Ich schüttelte den Kopf und sagte: »Durchaus nicht.« Traddles schüttelte gleichfalls den Kopf und sagte ebenso: »Durchaus nicht.«

»Was habe ich daraus zu folgern? Was ist der Schluß, den ich aus alledem ziehen muß, Mr. Copperfield? Habe ich unrecht, wenn ich sage, es liegt doch klar auf der Hand, daß wir leben müssen?«

Ich antwortete: »Keineswegs«, und Traddles antwortete ebenfalls: »Keineswegs«, und ich setzte noch sehr weise hinzu, der Mensch müsse entweder leben oder sterben.

»Sehr richtig«, erwiderte Mrs. Micawber. »Das ist es eben, und die Sachen, lieber Mr. Copperfield, stehen so, daß wir nicht leben können, wenn sich nicht sehr bald etwas von unsern gegenwärtigen Verhältnissen vollkommen Verschiedenes findet. Ich bin nun davon durchdrungen und habe es Mr. Micawber bei den verschiedensten Gelegenheiten auseinandergesetzt, daß sich nichts von selber findet. Wir müssen gewissermaßen mit dazu beitragen, daß sich etwas findet. Vielleicht habe ich unrecht, aber ich habe nun einmal diese Meinung.«

Traddles und ich stimmten ihr lebhaft bei.

»Sehr gut. Was empfehle ich also? Mr. Micawber ist mit den verschiedenartigsten Eigenschaften – mit großem Talent –«

»Aber ich bitte dich, meine Liebe.«

»Bitte, laß mich ausreden, lieber Mann. Also Mr. Micawber ist mit den verschiedenartigsten Eigenschaften, mit großem Talent, fast möchte ich sagen mit Genie ausgestattet. Man wird sagen, daß ich als seine Gattin voreingenommen sei –«

Traddles und ich murmelten: »Nein.«

»Und trotz alledem ist Mr. Micawber ohne passende Stellung und Beruf. Auf wen fällt die Verantwortung? Auf wen sonst als auf die Gesellschaft! Und daher soll man eine so schmähliche Tatsache laut verkünden und die Gesellschaft öffentlich auffordern, sie in Ordnung zu bringen. Und das hat, nach meiner Ansicht, lieber Mr. Copperfield«, sagte Mrs. Micawber mit Anstrengung, »Mr. Micawber zu tun, er hat der Gesellschaft den Fehdehandschuh hinzuwerfen und zu ihr zu sagen: Wer ihn aufheben will, der trete vor.«

Ich wagte die Frage, wie dies anzufangen sei.

»Durch Annoncieren! In allen Zeitungen! Nach meiner Ansicht muß Mr. Micawber, um sich seiner selbst, seiner Familie, ja sogar der Gesellschaft, die ihn bisher ganz und gar übersehen hat, gerecht zu werden, in allen Zeitungen annoncieren. Er muß sich deutlich beschreiben als den und den mit den und den Eigenschaften und kann die Forderungen stellen: jetzt stellt mich an mit den gebührenden Bezügen – frankierte Offerten an W. M., poste restante, Camdentown.«

»Dieser Gedanke meiner Gattin, lieber Copperfield«, sagte Mr. Micawber, blickte mich von der Seite an und versenkte sein Kinn so tief, daß die beiden Kragenspitzen vorn zusammenstießen, »deckt sich mit dem ›Sprung‹, den ich neulich andeutete, als ich das Vergnügen hatte, Sie zu sehen.«

»Annoncieren in den Zeitungen ist ziemlich kostspielig«, gab ich zu bedenken.

»Sehr wahr«, sagte Mrs. Micawber und behielt unbeirrt ihre logisch aussehende Miene bei. »Sehr richtig, lieber Mr. Copperfield! Ich habe dasselbe schon Mr. Micawber gegenüber festgestellt. Hauptsächlich aus diesem Grunde bin ich der Meinung, daß Mr. Micawber eine gewisse Summe Geldes, lediglich, wie ich schon sagte, um sich, seiner Familie und der Gesellschaft gerecht zu werden, aufnehmen sollte, und zwar gegen Wechsel.«

Mr. Micawber, in seinen Stuhl zurückgelehnt, spielte mit seinem Augenglas und blickte nach der Decke. Aber es schien mir, als ob er dabei einen Seitenblick auf Traddles werfe, der in das Feuer sah.

»Wenn kein Mitglied meiner Familie«, nahm Mrs. Micawber ihre Rede wieder auf, »natürliches Gefühl genug besitzt, diesen Wechsel zu finanzieren, – ich glaube es gibt einen bessern Geschäftsausdruck dafür –«

»Eskomptieren«, berichtigte sie Mr. Micawber, ohne seine Blicke von der Decke zu wenden.

»Diesen Wechsel zu eskomptieren, dann würde ich vorschlagen, daß Mr. Micawber in die City gehen, den Wechsel auf den Geldmarkt bringen und ihn um den höchstmöglichen Preis begeben möge. Wenn die Leute auf dem Geldmarkt Mr. Micawber nötigen, ein großes Opfer zu bringen, so haben sie das mit ihrem Gewissen abzumachen. Ich betrachte die Summe als Anlagekapital! Ich empfehle Mr. Micawber dasselbe zu tun, nämlich, sie als Betriebskapital anzusehen, das sichern Gewinn abwirft, und vor keinem Opfer zurückzuschrecken.«

Ich fühlte – ich wußte zwar nicht warum –, daß dies ein Beweis großer Selbstverleugnung von Seiten Mrs. Micawbers war, und versuchte durch Murmeln meine Meinung in diesem Sinn auszudrücken. Traddles, von meiner Auffassung angesteckt, tat dasselbe und sah unentwegt ins Feuer.

»Ich will meine Ansichten über meines Gatten Geldverhältnisse nicht weiter ausspinnen«, sagte Mrs. Micawber, trank ihren Punsch aus und nahm ihr Umhängetuch zusammen, um sich in mein Schlafzimmer zurückzuziehen. »An Ihrem Tisch, mein lieber Copperfield, und in Gegenwart Mr. Traddles, der, wenn auch kein so alter Freund, so doch einer der Unsrigen ist, konnte ich mich nicht enthalten, Sie mit dem Wege bekannt zu machen, den einzuschlagen ich Mr. Micawber anrate. Ich fühle die Zeit gekommen, wo er eine Anstrengung machen und die ihm zukommende Stellung in der Welt beanspruchen muß. Meiner Ansicht nach sind das die richtigen Mittel dazu. Ich bin mir wohl bewußt, daß ich bloß eine Frau bin und daß zur Diskussion solcher Fragen im allgemeinen der männliche Verstand für geeigneter gehalten wird. Ich darf aber andererseits nicht vergessen, daß Papa oft zu mir sagte – als ich noch zu Hause bei Papa und Mama war –: ›Emmas Körper ist zart und gebrechlich, aber sie erfaßt die Gegenstände mit einer Geistesschärfe, die keiner andern nachsteht.‹ Ich weiß sehr wohl, daß mein Vater zu parteiisch dachte, aber daß er bis zu einem gewissen Grade ein Menschenkenner ersten Ranges war, verbieten mir Pflicht und Verstand zugleich zu bezweifeln.«

Mit diesen Worten und gegenüber allen unsern Bitten, daß sie die Punschrunde noch ferner mit ihrer Gegenwart beehren möge, taub, zog sich Mrs. Micawber in mein Schlafzimmer zurück. Ich hatte das sichere Gefühl, daß sie eine edle Frau sei, eine Frau des römischen Altertums hätte sein können und als solche allerlei heroische Taten in den Zeiten öffentlicher Gefahr zu vollbringen imstande gewesen wäre. Unter diesem Eindruck gratulierte ich Mr. Micawber zu dem Schatz, den er besaß. Das Gleiche tat Traddles. Mr. Micawber reichte uns beiden nacheinander die Hand und bedeckte dann das Gesicht mit seinem Taschentuch, in dem sich mehr Schnupftabak befand, als er ahnte. Dann machte er sich in heiterster Laune wieder über den Punsch her.

Er überströmte von Beredsamkeit. Er belehrte uns, daß in seinen Kindern der Mensch wieder neu zu leben beginne und daß unter dem Druck von Geldverlegenheiten jede Vermehrung ihrer Zahl doppelt willkommen sei. Er erzählte, daß seine Gattin anfangs hinsichtlich dieses Punktes ihre Zweifel gehabt habe, daß er sie aber diesbezüglich vollständig beruhigt hätte. Ihre Familie sei ihrer gänzlich unwürdig, und die Gefühle derselben ließen ihn vollkommen kalt. Sie könnten, wie er sagte, zum Teufel gehen.

Sodann erging er sich in warmen Lobsprüchen über Traddles. Traddles sei ein Charakter, auf dessen Beharrlichkeit er selbst ja keinen Anspruch machen könne, den er aber, Gott sei Dank, noch imstande sei zu bewundern. Gefühlvoll spielte er auf die junge, ihm noch unbekannte Dame an, die Traddles so sehr mit seiner Zuneigung ehre und die diese Neigung dadurch vergelte, daß auch sie wiederum Traddles mit ihrer Zuneigung ehre und glücklich mache. Er ließ sie leben. Ich auch. Traddles dankte uns und sagte mit einer Einfachheit und Ehrlichkeit, die ich wohl zu schätzen wußte: »Ich danke euch wirklich sehr. Ich versichere euch, sie ist ein liebes Mädchen.«

Mr. Micawber benützte die erste Gelegenheit, um mit größter Schonung und Förmlichkeit sich nach dem Zustande meiner Gefühle zu erkundigen. Nur eine ausdrückliche gegenteilige Versicherung meinerseits, bemerkte er, könne ihn von dem Eindruck befreien, daß ich, sein alter Freund Copperfield, liebe und geliebt werde. Nach langem verlegenen Erröten, Stottern und Leugnen sagte ich endlich, mit dem Glas in der Hand: »Also gut, wir wollen auf D.s Wohl trinken«, und das regte Mr. Micawber so sehr an und erfreute ihn derart, daß er mit einem Punschglas in das Schlafzimmer eilte, damit auch Mrs. Micawber auf D.s Wohl trinken könne.

Sie tat es mit großer Begeisterung und rief mit schriller Stimme: »Hoch, hoch! Mein lieber Mr. Copperfield, das ist ja entzückend. Hoch!« Und zum Zeichen ihres Beifalls klopfte sie an die Verbindungswand.

Unser Gespräch nahm allmählich wieder eine weltliche Färbung an. Mr. Micawber erzählte, daß ihm Camdentown nicht mehr recht gefalle und daß das erste, was er tun werde, sobald sich etwas durch die Zeitung gefunden, eine neue Wohnung zu nehmen wäre. Er sprach von einer Terrasse am Westende der Oxfordstraße, Hydepark gegenüber, die er von jeher im Auge gehabt, die er aber wahrscheinlich nicht gleich werde mieten können, da viel Einrichtung dazu nötig sein würde. Mittlerweile müßte es vorläufig der obere Teil eines Hauses über einem anständigen Geschäftslokal, vielleicht in Piccadilly, tun, wo Mrs. Micawber sehr angenehm wohnen würde und wo sich nach Einbau eines Bogenfensters oder Aufbau eines neuen Stockwerks oder ähnlichen kleinen Veränderungen ein paar Jahre ganz bequem und angenehm zubringen ließen. Was aber auch die Zukunft ihm vorbehalten habe, setzte er hinzu, wo immer seine Wohnung dereinst auch stünde, stets könnten wir darauf bauen, daß ein Zimmer für Traddles und Messer und Gabel für mich da sein würden. Wir dankten ihm für seine Güte, und er bat uns um Entschuldigung, daß er sich in diese praktischen und geschäftsmäßigen Einzelheiten eingelassen habe, und entschuldigte sich damit, daß sie für einen Mann, der sein Leben ganz neu beginne, etwas sehr Natürliches seien.

Unsere Unterhaltung wurde durch Mrs. Micawber, die an die Wand klopfte und wissen wollte, ob wir für den Tee bereit seien, unterbrochen. Sie bereitete ihn sodann für uns in liebenswürdigster Weise und fragte mich stets, wenn ich beim Reichen der Tassen und des Butterbrotes in ihre Nähe kam, flüsternd, ob D. blond oder brünett, klein oder schlank sei, und anderes der Art, was mir sehr wohl tat.

Nach dem Tee sprachen wir beim Kamin über die verschiedenartigsten Dinge, und Mrs. Micawber war so gütig, uns mit einer dünnen blechernen Stimme, die mir zur Zeit unserer ersten Bekanntschaft schon wie eine Art Tischbier der Akustik vorgekommen war, die Lieblingsballaden »Der flotte weiße Sergeant« und »Little Tafflin« vorzusingen. Um dieser beiden Lieder willen war sie, als sie noch zu Hause lebte bei Papa und Mama, berühmt gewesen. Mr. Micawber belehrte uns, daß sie seine Aufmerksamkeit, als er sie damals das erstemal unter ihrem elterlichen Dache hatte singen hören, derartig auf sich gezogen habe, daß er bei der ersten Ballade, der von »Little Tafflin«, bereits den Entschluß gefaßt habe, das Herz der Sängerin zu gewinnen oder unterzugehen.

Es war zehn Uhr vorbei, als Mrs. Micawber aufstand, um die Haube wieder in der braunen Papiertüte unterzubringen und ihren Hut aufzusetzen. Mr. Micawber benutzte die Pause, als Traddles ihm in seinen Überzieher half, mir einen Brief zuzustecken, den ich gelegentlich lesen sollte. Ich meinerseits nahm die Gelegenheit wahr, als ich meinen Gästen über die Treppe hinableuchtete, wobei Mr. Micawber mit seiner Gattin am Arm vorausging und Traddles mit der Haube in der Tüte folgen wollte, letzteren einen Augenblick festzuhalten.

»Traddles«, sagte ich, »Mr. Micawber meint es nicht schlecht, der arme Kerl, aber ich an deiner Stelle würde ihm niemals etwas borgen.«

»Lieber Copperfield«, entgegnete Traddles. »Ich habe gar nichts zu verborgen.«

»Aber einen Namen hast du.«

»O, den kann man auch verborgen?« fragte Traddles mit einem dankbaren Blick.

»Selbstverständlich.«

»O! – Ja, du hast recht. Ich danke dir recht sehr, Copperfield, aber ich fürchte, den habe ich ihm schon geliehen.«

»Zu dem Wechsel, der so eine sichere Anlage sein soll?«

»Nein, nicht zu dem. Ich habe heute abend zum ersten Mal davon gehört. Sie werden mir wahrscheinlich auf dem Nachhauseweg den Vorschlag machen. Es handelte sich um etwas anderes.«

»Ich hoffe, die Sache fällt nicht schlimm aus«, sagte ich.

»Ich hoffe nicht. Mr. Micawber erwähnte noch, daß für Deckung gesorgt sei. Das waren seine Worte. Daß für Deckung gesorgt sei.«

Da Mr. Micawber jetzt zu uns heraufsah, konnte ich nur noch schnell meine Warnung wiederholen. Traddles dankte mir und ging die Treppe hinunter.

Als ich sah, wie gutmütig er Mrs. Micawber die Haube nachtrug und ihr dann den Arm reichte, konnte ich mich der Befürchtung nicht erwehren, er werde sich an Händen und Füßen gebunden auf den Geldmarkt schleppen lassen.

Ich kehrte in meine Stube zurück und dachte, halb ernsthaft, halb belustigt, über Mr. Micawbers Charakter und unsere alten Beziehungen zueinander nach, als ich einen raschen Schritt die Treppe heraufkommen hörte. Anfangs dachte ich, Mrs. Micawber hätte etwas vergessen und Traddles käme es holen, aber als die Schritte näher kamen, fühlte ich mein Herz lauter klopfen und mir das Blut ins Gesicht schießen, denn ich erkannte Steerforth.

Ich vergaß niemals Agnes, und sie kam nie aus dem Allerheiligsten meiner Gedanken, wohin ich sie von Anfang an gestellt hatte. Aber als er eintrat, vor mir stand, mir die Hand hinstreckte, da wurde der Schatten, der auf ihn gefallen, zu Licht, und nur mit Scham und Verwirrung konnte ich an meine Zweifel denken. Ich liebte Agnes deshalb nicht weniger, und sie erschien mir immer noch als derselbe sanfte, segenbringende Engel meines Lebens. Mir und nicht ihr warf ich vor, Steerforth unrecht getan zu haben, und ich hätte gerne Buße getan, wenn ich nur gewußt hätte, wie und womit.

»Was, Daisy, alter Junge, ganz stumm geworden?« lachte Steerforth und schüttelte mir herzlich die Hand und warf sie scherzend wieder weg. »Hab ich dich wieder bei einem Gelage ertappt, du Sybarit! Diese Leute aus Doctors‘ Commons sind die größten Lebemänner der Stadt und schlagen uns soliden Leute von Oxford aufs Haupt.« Sein lebhaftes Auge schweifte munter im Zimmer umher, als er sich neben mich auf das Sofa setzte und das Feuer anschürte, daß es im Kamin emporloderte.

»Du hast mich so überrascht«, sagte ich und begrüßte ihn jetzt mit aller Herzlichkeit, »daß ich kaum den Atem hatte dich zu bewillkommnen, Steerforth.«

»Nun, ›mein Anblick tut schlimmen Augen gut‹, wie die Schotten sagen«, entgegnete Steerforth. »Und das tut der deinige auch, du voll entfaltetes Gänseblümchen. Was machst du übrigens, du Schwelger?«

»Ich befinde mich sehr wohl und schwelge heute durchaus nicht, obwohl ich auch diesmal ein Gastmahl zu viert eingestehen muß.«

»Die andern drei traf ich schon auf der Straße, überströmend von deinem Lobe. Wer ist der Herr mit den engen Hosen?«

Mit ein paar Worten skizzierte ich Mr. Micawber, so gut ich konnte. Steerforth lachte herzlich über das schwache Porträt dieses Herrn und sagte, er müsse ihn unbedingt kennenlernen. »Wer, glaubst du, ist der andere?« fragte ich.

»Gott weiß! Hoffentlich kein Fadian. Er sah ein wenig danach aus.«

»Traddles!« rief ich triumphierend.

»Wer ist das?« fragte Steerforth leichthin.

»Du erinnerst dich nicht mehr an Traddles? Traddles aus Salemhaus!«

»Ach, der Bursche!« sagte Steerforth, ein Stück Kohle im Feuer mit dem Schüreisen zerschlagend. »Ist er immer noch so simpel? Wo zum Kuckuck hast du den aufgegabelt?«

Ich pries Traddles, so sehr ich konnte, denn ich fühlte, daß Steerforth geringschätzig von ihm dachte.

Steerforth brach das Gespräch mit einem leichten Nicken und der Bemerkung ab, daß es ihn freuen würde, den alten Burschen wiederzusehen; er sei immer ein närrischer Kauz gewesen. Und ob ich nichts zu essen habe. Während ich die Überreste der Taubenpastete hervorholte, hämmerte er immer mit dem Schüreisen auf die Kohlen.

»Das ist ja ein Abendessen für einen König, Daisy«, sagte er dann nach längerem Schweigen mit auffallender Lebhaftigkeit und nahm am Tische Platz. »Ich werde ihm Gerechtigkeit widerfahren lassen, denn ich komme von Yarmouth.«

»Nicht von Oxford?«

»O nein. Ich habe mich auf dem Meer herumgetrieben – besser beschäftigt.«

»Littimer war heute hier, um nach dir zu fragen, und ich glaubte ihn so zu verstehen, daß du in Oxford wärest, obgleich mir jetzt auffällt, daß er es eigentlich nicht direkt gesagt hat.«

»Littimer ist ein größerer Narr, als ich dachte, wenn er sich nach mir erkundigt«, sagte Steerforth, schenkte sich ein Glas Wein ein und trank mir zu. »Wenn du ihn verstehen kannst, Daisy, bist du gescheiter als wir alle.«

»Das ist wahr«, sagte ich und rückte meinen Stuhl näher an den Tisch. »Du bist also in Yarmouth gewesen, Steerforth? Warst du lange dort?«

»Nein, so einen Seitensprung von einer Woche oder so.«

»Und was machen sie alle? Natürlich ist die kleine Emly noch nicht verheiratet?«

»Noch nicht. Wird schon kommen. Ich glaube, in einigen Wochen oder Monaten oder – was weiß ich. Ich habe die Leute nicht viel gesehen. Übrigens«, – er legte Messer und Gabel hin, die er mit großem Eifer gebraucht hatte, und fühlte in seine Taschen – »ich habe einen Brief für dich.«

»Von wem?«

»Na, von deiner alten Kindsfrau.« Er zog verschiedene Papiere aus seiner Brusttasche. »Rechnung für Herrn J. Steerforth aus dem ›Guten Vorsatz‹. Das ist es nicht. Nur ein bißchen Geduld. Wir werden ihn gleich haben. Der Alte, wie heißt er gleich, befindet sich schlecht, und davon schreibt sie, glaube ich.«

»Barkis meinst du?«

»Ja.« Er untersuchte immer noch den Inhalt seiner Tasche. »Ich fürchte, es ist mit dem armen Barkis vorbei. Ich sprach mit einem kleinen Apotheker oder Wundarzt oder was er sonst ist, der dich hat auf die Welt bringen helfen. Er sprach furchtbar gelehrt von der Krankheit, aber es lief darauf hinaus, daß der Fuhrmann seine letzte Reise ziemlich bald antreten werde. Greif einmal in die Brusttasche des Überrocks auf dem Stuhl dort! Da wird der Brief wahrscheinlich drin sein, nicht wahr?«

»Hier ist er.«

»Nun, dann ists gut.«

Der Brief war von Peggotty, etwas weniger leserlich als gewöhnlich und recht kurz. Sie schrieb, ihr Mann läge hoffnungslos darnieder und sei noch etwas knickeriger als früher und deshalb schwer zu pflegen. Von ihren Mühen und Nachtwachen erwähnte sie nichts, sondern lobte ihren Gatten nur höflichst. Der Brief atmete die einfache, ungekünstelte Frömmigkeit, die ich an ihr kannte, und schloß mit einem »lieben Gruß an mein Herzenskind.«

Während ich die Schrift entzifferte, fuhr Steerforth fort zu essen und zu trinken.

»Es ist eine böse Geschichte«, sagte er, als ich fertig war, »aber die Sonne geht jeden Tag unter und Menschen sterben alle Minuten; wir dürfen uns über das uns allen gemeinsame Schicksal nicht aufregen. Wenn wir uns jedesmal aufhalten ließen, wenn dieser unausbleibliche Gast an irgendeine Türe klopft, würden wir nie etwas in dieser Welt erreichen. Nur immer drauflos. Scharf, wenns sein muß, langsam, wenn es nicht anders geht, aber nur immer drauflos. Über alle Hindernisse hinweg und das Rennen gewinnen!«

»Welches Rennen?«

»Nun, das Rennen, in das man sich jeweilig eingelassen hat. Nur drauflos!«

Als er innehielt und mich, seinen schönen Kopf ein wenig zurückgeworfen und das Glas erhoben, ansah, glaubte ich in seinem Gesicht, obwohl es von der scharfen Seeluft gebräunt war, Spuren zu entdecken, als ob er unter dem verzehrenden Feuer der wilden Energie, die ihn manchmal so leidenschaftlich durchtobte, ein wenig gelitten habe. Ich wollte ihm anfangs Vorstellungen wegen seiner tollen Rücksichtslosigkeit, mit der er sich zuweilen seinen Launen überließ, machen, aber meine Gedanken kehrten wieder zum Ausgangspunkt unseres Gesprächs zurück.

»Ich möchte dir etwas sagen, Steerforth, wenn du mir in deiner guten Laune ein wenig zuhören willst.«

»Sprich nur«, antwortete er und rückte wieder an den Kamin.

»Ich will dir etwas sagen, Steerforth, ich möchte hinreisen und meine alte Kindsfrau besuchen. Nicht, daß ich ihr besondere Dienste leisten könnte, aber sie ist mir so zugetan, daß mein Besuch sie vielleicht trösten kann. Es wird ihr eine Zerstreuung sein und eine Unterstützung. Es macht mir nicht viel Mühe, und ich habe ihr doch so viel zu danken. Würdest du nicht auch an meiner Stelle einen Tag der Reise opfern?«

Sein Gesicht war nachdenklich geworden, und nach einigem Besinnen sagte er halblaut: »Ja, geh. Es kann nichts schaden.«

»Du bist eben erst wieder zurück. Es hätte daher keinen Zweck, dich zu fragen, ob du mitreisen willst.«

»Natürlich. Ich fahre heute noch nach Highgate. Ich habe die ganze lange Zeit meine Mutter nicht gesehen, und es liegt mir ordentlich schwer auf dem Gewissen, denn es ist etwas daran, so geliebt zu werden wie ich, – ihr verlorener Sohn. – Pah! Unsinn! – Du wirst wohl morgen abreisen?« fragte er mich dann und legte mir seine Hände auf die Schultern.

»Ja, ich glaube wohl.«

»Geh erst übermorgen! Ich wollte dich einladen, ein paar Tage bei uns zu bleiben, und bin zu diesem Zweck bei dir. Und jetzt reißest du nach Yarmouth aus!«

»Du hast gar kein Recht, von Ausreißen zu sprechen, Steerforth! Du selbst fährst wild in der Welt herum auf unbekannten Pfaden.«

Er sah mich eine Weile stumm an, dann schüttelte er mich und sagte:

»Also übermorgen! Und mittlerweile verbringst du mit uns den morgigen Tag, so gut es geht. Wer weiß, wann wir wieder zusammenkommen! Also abgemacht? Sag also: übermorgen! Du mußt dich zwischen Rosa Dartle und mich stellen, um uns auseinanderzuhalten.«

»Damit ihr euch nicht zu sehr liebt?«

»Ja. Oder haßt, das kommt auf eins heraus! Also abgemacht.«

Ich sagte zu. Steerforth zog seinen Überzieher an, zündete sich eine Zigarre an und begab sich nach Hause. Ich nahm auch meinen Überzieher um, zündete mir aber keine Zigarre an, denn vom Rauchen hatte ich vorläufig genug, und begleitete ihn bis zur Landstraße, die abends wie ausgestorben dalag. Er war die ganze Zeit bester Laune, und als wir voneinander schieden und ich ihm nachsah, wie er so stramm und elastisch dahinschritt, mußte ich an seine Worte denken: »Nur immer drauflos! Über alle Hindernisse hinweg, das Rennen gewinnen und dem Ziel entgegen!« und ich wünschte zum erstenmal, daß er ein seiner würdiges Ziel haben möge.

Ich entkleidete mich; dabei fiel mir Mr. Micawbers Brief aus der Tasche. Er war anderthalb Stunden vor dem Mittagessen datiert und lautete:

Sir! – denn ich wage nicht zu sagen, mein lieber Copperfield! Ich kann nicht umhin, Sie zu benachrichtigen, daß der Endesgefertigte untendurch ist. Einige schwache Versuche, Ihnen die vorzeitige Kenntnis seiner unglücklichen Lage zu ersparen, werden Ihnen vielleicht heute bemerklich werden. Aber die Hoffnung ist versunken und der Endesgefertigte ist zerschmettert.

Gegenwärtiges Schreiben wird in der persönlichen Nähe – ich kann es nicht Gesellschaft nennen – eines Individuums geschrieben, das sich in einem an Trunkenheit grenzenden Zustand befindet. Dieses Individuum, der Angestellte eines Wucherers, ist in gerichtlichem Besitz des Hauses kraft einer Zwangsvollstreckung wegen rückständigen Zinses. Das Inventar besteht nicht nur aus dem dem Endesgefertigten gehörigen beweglichen Eigentum und Mobiliar jeder Art, sondern auch aus dem des Mr. Thomas Traddles, Aftermieters und Mitgliedes unserer ehrenwerten Gesellschaft vom innern Juristenkollegium.

Wenn noch ein bitterer Tropfen in dem überschäumenden Kelch fehlte, der jetzt, um mit den Worten des unsterblichen Dichters zu reden, den Lippen des Endesgefertigten dargereicht wird, so wäre er in der Tatsache zu finden, daß eine Freundesbürgschaft über £ 23?4 s.?9½ d, die der eben erwähnte Mr. Thomas Traddles geleistet hat, fällig ist und der Deckung entbehrt; ferner in der Tatsache, daß die an den Endesgefertigten hängenden lebendigen Verantwortlichkeiten sich nach dem Lauf der Natur noch um ein hilfloses Opfer mehren werden, dessen unglückliches Erscheinen nach Verlauf von – in runden Zahlen zu sprechen – von nicht ganz sechs Monaten von heute an gerechnet zu erwarten steht.

Unter diese Prämissen wäre es ganz überflüssig hinzuzufügen, daß Staub und Asche für immer bedecken das Haupt des
       Wilkins Micawber

Der arme Traddles! Wie ich Mr. Micawber kannte, fürchtete ich nicht, daß er sich von dem Schlage nicht erholen werde, aber meine Nachtruhe wurde ernstlicher gestört durch Gedanken an Traddles und die Pfarrerstochter – eine von zehn Schwestern in Devonshire –, die ein so liebes Mädchen sein sollte und auf Traddles warten wollte, sechzig Jahre und noch länger.

29. Kapitel Mein zweiter Besuch in Steerforths Haus


29. Kapitel Mein zweiter Besuch in Steerforths Haus

Ich bat am nächsten Morgen Mr. Spenlow um einen kurzen Urlaub. Da ich kein Gehalt bezog und es dem hartherzigen Jorkins weiter nicht unangenehm war, wurde er ohne Schwierigkeiten bewilligt. Ich benützte die Gelegenheit, um mit fast erstickter Stimme und umnebelten Augen die Hoffnung auszudrücken, daß Miss Spenlow sich wohl befinde, worauf Mr. Spenlow mit nicht mehr Ergriffenheit, als ob es sich um ein ganz gewöhnliches Menschenkind handle, mir dankend erwiderte, daß sie sehr wohl sei.

Wir Angestellten ohne Gehalt wurden als Keime des Patrizierordens der Proktoren immer mit soviel Rücksicht behandelt, daß ich stets mein eigner Herr war. Da ich jedoch nicht vor ein oder zwei Uhr in Highgate zu sein brauchte, und wir wieder eine kleine Exkommunikationssache vormittags im Gericht verhandelten, so brachte ich daselbst eine oder zwei Stunden recht angenehm mit Mr. Spenlow zu. Der Prozeß, der den Namen führte: »richterliche Entscheidung angerufen von Tipkins gegen Bullock behufs Besserung dessen Seele«, war einem Streite zwischen zwei Kirchenvorstehern entsprossen, wobei der eine den andern gegen einen Brunnen gestoßen hatte. Da der Pumpenschwengel dieses Brunnens in ein Schulhaus hineinragte und das Schulhaus unter dem Giebel des Kirchendachs stand, so galt der Stoß als gegen die Kirche geführt. Es war ein amüsanter Fall, und als ich auf dem Bock der Kutsche nach Highgate hinauffuhr, mußte ich immer noch an die Commons denken und an das, was Mr. Spenlow über ihre Wichtigkeit für das Land gesagt hatte.

Mrs. Steerforth war erfreut mich zu sehen, und Miss Rosa Dartle desgleichen. Sehr angenehm überraschte es mich, Littimer nicht dort zu finden und uns von einem bescheidnen kleinen Dienstmädchen mit blauen Bändern in der Haube und viel angenehmem und weniger verwirrenden Augen als denen des respektablen Bedienten – bedient zu sehen.

Was mir besonders auffiel, noch ehe ich eine halbe Stunde im Hause weilte, war die scharfe und unermüdliche Aufmerksamkeit Miss Dartles mir gegenüber und die lauernde Weise, mit der sie mein Gesicht mit Steerforths Zügen und umgekehrt zu vergleichen schien, als ob sie etwas ergründen wollte. Sooft ich sie ansah, konnte ich sicher sein, daß ihre großen, schwarzen, lodernden Augen mit gespannter Aufmerksamkeit auf mir ruhten oder rasch von mir zu Steerforth hinüberblickten oder uns beide zugleich belauerten. Von ihrem luchsartigen Beginnen stand sie so wenig ab, daß sie mich sogar noch durchbohrender ansah, als sich meine Überraschung in meinem Gesicht malte. Trotzdem ich mir nichts Bösen bewußt war, schüchterten mich diese seltsamen Augen ein, und es war mir nicht möglich, ihren lechzenden Glanz zu ertragen.

Den ganzen Tag über schien Miss Dartle in allen Teilen des Hauses gegenwärtig zu sein. Wenn ich mit Steerforth in seinem Zimmer sprach, hörte ich ihr Kleid auf dem kleinen Gang draußen rauschen. Wenn wir uns auf dem Rasenplatz hinter dem Hause mit Fechten oder Boxen die Zeit vertrieben, sah ich ihr Gesicht wie ein ruheloses Licht von Fenster zu Fenster wandern, um dann an einem stillzustehen und uns zu beobachten.

Als wir alle vier nachmittags spazierengingen, legte sie ihre dünne Hand wie eine Feder auf meinen Arm, um mich zurückzuhalten, bis Steerforth und seine Mutter außer Hörweite waren. Dann sprach sie:

»Sie sind recht lange nicht hier gewesen. Ist Ihr Beruf wirklich so interessant, daß er Ihre Aufmerksamkeit so sehr in Anspruch nimmt? Ich frage nur, weil ich mich gern unterrichte, wenn ich etwas nicht weiß. Ist er wirklich so –?«

Ich antwortete, daß er mir recht gut gefiele, aber daß er mich doch nicht ganz und gar feßle …

»O, es freut mich, das zu hören, weil ich mich immer gern belehren lasse, wenn ich unrecht habe«, sagte sie. »Sie meinen, er ist vielleicht ein wenig trocken, nicht wahr? Das ist wohl auch der Grund, warum Sie ein bißchen Erholung und Abwechslung – oder Aufregung und dergleichen bedürfen? Gewiß wohl. Aber ist es nicht ein bißchen – nicht? – für ihn; ich meine nicht Sie –« ein rascher Blick ihres Auges nach Steerforth ließ mich erraten, auf wen sie anspielte; aber im übrigen war mir ihre Rede unerklärlich. Sie mochte mir das ansehen.

»Nimmt es ihn nicht ganz in Anspruch – ich sage nicht, daß es wirklich der Fall ist, – ich frage bloß. Hält es ihn vielleicht nicht ein wenig zu sehr ab, seine ihn so blind liebende Mutter – nicht?«

Ihre Worte waren mit einem Blick auf mich begleitet, der meine innersten Gedanken zu durchdringen schien.

»Miss Dartle«, entgegnete ich, »ich bitte Sie, nicht zu denken –«

»O, gewiß nicht. O mein Gott, glauben Sie nur nicht, daß ich mir etwas denke. Ich bin nicht im geringsten mißtrauisch, ich stelle nur eine Frage. Ich stelle keine Meinung auf. Ich möchte mir nur eine Meinung nach dem bilden, was Sie mir sagen. Also ist es nicht so? Nun, das freut mich recht sehr.«

»Sicherlich ist es nicht der Fall«, sagte ich ganz verwirrt, »ich trage nicht die Schuld, wenn Steerforth länger als gewöhnlich von Hause weggeblieben ist, wenn es überhaupt der Fall ist. Ich wüßte wahrhaftig selbst nichts darüber, wenn ich es nicht aus Ihren Worten entnähme. Ich habe ihn erst nach langer Zeit gestern abend wiedergesehen.«

»Wirklich nicht?«

»Nein, wirklich nicht, Miss Dartle.«

Als sie mich jetzt fest ansah, wurde ihr Gesicht spitzer und blässer und die Narbe deutlicher und länger, bis sie die Oberlippe durchschnitt und tief in die Unterlippe hineinging und sich im Kinn verlor. Der Ausdruck ihres Gesichts und der Glanz ihrer Augen hatten etwas Erschreckendes für mich, als sie mich so scharf ansah.

»Was treibt er?« fragte sie.

Ich wiederholte die Worte oder sprach sie ihr vielmehr nach, so erstaunt war ich.

»Was treibt er?« sagte sie mit einer Leidenschaft, die sie wie Feuer zu verzehren schien. Worin steht ihm dieser Mensch bei, der mich nie ansehen kann, ohne daß eine offenkundige Falschheit in seinen Augen lauert? »Ich verlange nicht von Ihnen, daß Sie ihren Freund verraten sollen. Ich bitte Sie bloß mir zu sagen, ist es Haß, Stolz, Ruhelosigkeit, eine tolle Laune, Liebe oder was sonst, was ihn leitet?«

»Miss Dartle«, entgegnete ich, »wie soll ich Ihnen beteuern, daß ich von Steerforth nichts weiß, was seit meinem ersten Besuch hier anders geworden wäre. – Ich kann mich auf nichts besinnen. Ich bin fest überzeugt, es ist nichts. Ich verstehe kaum, was Sie meinen.«

Wie sie mich fest anblickte, ging ein Zucken und Pulsieren, bei dem ich unwillkürlich an Schmerz denken mußte, über jene grausame Narbe und zog ihr die Mundwinkel, wie vor Hohn oder Mitleid, in die Höhe. Rasch legte sie die Hand darauf – eine Hand so fein und dünn, daß sie fast durchsichtig wie feines Porzellan war, und sagte in wilder, leidenschaftlicher Erregung: »Ich beschwöre Sie, das geheimzuhalten.« Dann sprach sie kein Wort mehr.

Mrs. Steerforth fühlte sich heute besonders glücklich in ihres Sohnes Gesellschaft, und Steerforth benahm sich mehr als gewöhnlich aufmerksam und ehrerbietig gegen sie. Die beiden beisammen zu sehen war für mich sehr interessant. Nicht nur wegen ihrer Zuneigung zueinander, sondern auch wegen ihrer großen Ähnlichkeit, denn was bei ihm Stolz oder Ungestüm war, erschien bei ihr durch Alter und Geschlecht zu stolzer Würde gemildert. Mehr als einmal kam mir der Gedanke, daß ein ernster Zwist zwischen beiden wohl nie stattgefunden haben konnte. Zwei solche Charaktere, besser gesagt, zwei solche Schattierungen ein und desselben Charakters mußten miteinander viel schwerer zu versöhnen sein als die schroffsten Gegensätze. Der Gedanke wurde nicht von selbst in mir wach, sondern war durch einige Äußerungen Rosa Dartles veranlaßt.

Sie sagte nämlich bei Tisch: »Ich möchte gern etwas wissen, weil ich den ganzen Tag daran gedacht habe, und möchte mir gern darüber klar sein.«

»Was willst du denn also wissen, Rosa?« fragte Mrs. Steerforth. »Ich bitte dich, Rosa, sei nicht immer so geheimnisvoll.«

»Geheimnisvoll! O? Wirklich? Hältst du mich dafür?«

»Aber ich bitte dich doch immer, sprich offen heraus. Ganz in deiner natürlichen Manier.«

»O, ist es nicht meine natürliche Manier? Da mußt du wirklich Nachsicht mit mir haben, denn ich frage nur, um mich zu belehren. Wir kennen uns selbst nie genau.«

»Es ist dir zur zweiten Natur geworden«, sagte Mrs. Steerforth ruhig. »Aber ich weiß noch, und du wahrscheinlich auch, daß du früher anders warst, Rosa. Du warst früher mehr vertrauensvoller Natur.«

»Du hast sicherlich recht. Da sieht man wieder, wie schlechte Gewohnheiten einen beschleichen können. Wirklich? Vertrauensvoller? Wie ich mich nur so unversehens verändern konnte? Es ist wirklich recht seltsam! Ich muß mich bemühen, wieder zu werden wie früher.«

»Ich wollte, du könntest es«, sagte Mrs. Steerforth mit einem Lächeln.

»Ich werde es bestimmt versuchen. Ich will Offenheit lernen von sagen wir – von James.«

»Du könntest in keiner bessern Schule Offenheit lernen«, bestätigte Mrs. Steerforth lebhaft, denn aus allem, was Miss Dartle sagte, wenn sie es auch auf die unschuldigste Weise tat, blickte ein gewisser Sarkasmus hervor.

»Davon bin ich überzeugt«, erwiderte Miss Rosa mit ungewöhnlicher Innigkeit. »Du weißt, wenn ich von irgend etwas überzeugt bin, so davon.«

Mrs. Steerforth schien zu bereuen, daß sie sich ein wenig gereizt gezeigt hatte, und fragte sogleich in einem sehr gütigen Ton:

»Gut, liebe Rosa, aber wir wissen immer noch nicht, was du eigentlich wissen möchtest.«

»Was ich gern erfahren möchte?« gab Miss Dartle mit fast aufreizender Kälte zur Antwort. »O! Ich hätte nur gern gewußt, ob Menschen, die einander in moralischer Hinsicht sehr ähnlich sind – ist das der richtige Ausdruck?«

»So richtig wie jeder andere«, sagte Steerforth.

»Ich danke dir! – ob Menschen, die sich in moralischer Hinsicht sehr ähnlich sind, mehr Gefahr laufen als andere bei ernstlichen Zwistigkeiten in unversöhnliche Feindschaft zu geraten.«

»Ich sollte meinen ja«, sagte Steerforth.

»Wirklich? O Gott! Nehmen wir zum Beispiel an – man kann bei einem solchen Beispiel den unwahrscheinlichsten Fall setzen –, daß du und deine Mutter einmal einen ernsthaften Streit hätten –«

»Liebe Rosa!« unterbrach sie Mrs. Steerforth mit einem heitern Lachen. »Nimm lieber ein anderes Beispiel. James und ich kennen unsere Pflichten gegeneinander zu gut, unberufen.«

»O!« sagte Miss Dartle und nickte gedankenvoll mit dem Kopf. »Gewiß! Und das muß jeden Streit verhüten. Aber gewiß. Sicherlich. Es freut mich ordentlich, daß ich einfältig genug war, den Fall zu setzen. Es ist so tröstlich zu wissen, daß eure gegenseitigen Pflichten so etwas verhüten würden. Ich danke dir wirklich recht sehr!«

Noch einen andern geringfügigen Umstand, der mit Miss Dartle zusammenhing, darf ich nicht zu erwähnen vergessen, denn ich hatte Grund, mich später daran zu erinnern, als die nicht wiedergutzumachende Vergangenheit klar vor mir lag. Den ganzen Tag über und besonders von diesem Augenblick an strengte sich Steerforth aufs äußerste an, dieses eigentümliche Wesen durch liebenswürdiges Entgegenkommen aufzuheitern. Ich wunderte mich nicht, daß es ihm gelang. Daß sie sich gegen den bezaubernden Einfluß seiner gewinnenden Kunst – ich hielt es damals für eine gewinnende Naturanlage – wehrte, überraschte mich ebenfalls nicht, denn ich wußte, daß sie manchmal störrisch und grämlich sein konnte. Ich sah, wie sie ihn mit steigernder Bewunderung betrachtete. Ich sah, wie sie in ihrem Widerstand immer schwächer und schwächer wurde, sosehr sie sich auch sträubte und bemüht war, der Gewalt seiner Umstrickung zu widerstehen. Zuletzt bemerkte ich, wie ihr scharfer Blick milder und ihr Lächeln sanfter wurde, und ich hörte auf, mich vor ihr zu fürchten; dann setzten wir uns alle um das Feuer und sprachen und lachten, rückhaltlos, als ob wir Kinder wären.

Mochte das lange Beisammensitzen daran schuld sein oder wollte Steerforth den errungenen Vorteil nicht wieder aus der Hand geben, ich weiß es nicht, aber wir blieben kaum fünf Minuten im Speisezimmer, als sie fortgegangen war.

»Sie spielt auf ihrer Harfe«, sagte Steerforth leise vor der Salontür, »und ich glaube, daß seit den letzten drei Jahren nur meine Mutter das von ihr gehört hat.« Er sprach das mit einem seltsamen Lächeln, das sogleich wieder verschwand, und wir traten in das Zimmer und fanden sie allein.

»Bitte, steh nicht auf«, sagte er, »bitte nicht, meine liebe Rosa. Tu mir noch ein einziges Mal den Gefallen und singe uns ein irländisches Lied.«

»Was liegt dir an einem irländischen Lied!«

»Viel! Viel mehr als an jedem andern. Und Daisy hier liebt die Musik von ganzer Seele. Sing uns ein irländisches Lied, Rosa! Und laß mich hier sitzen und zuhorchen wie früher!«

Er rührte weder sie noch den Stuhl an, von dem sie aufgestanden war, sondern setzte sich neben die Harfe. Sie blieb eine kleine Weile ganz seltsam vor dem Instrument stehen und bewegte ihre Hand über die Saiten, ohne sie erklingen zu lassen. Endlich setzte sie sich hin, zog die Harfe hastig an sich und spielte und sang.

Ich weiß nicht, was dem Liede einen so unirdischen Eindruck verlieh. Es lag etwas Furchtbares in ihm. Es klang, als ob es nie geschrieben oder in Musik gesetzt worden wäre, sondern unmittelbar ihrer Leidenschaft entspränge, die nur unvollkommen in den gedämpften Tönen ihrer Stimme Ausdruck fand und sich verkroch, als der letzte Ton verwehte. Ich war ganz benommen, als sie sich wieder über die Harfe lehnte und ihre Finger wieder lautlos über die Saiten streichen ließ.

Eine Minute, und ich fuhr aus meiner Betäubung empor. Steerforth war aufgestanden, zu ihr getreten und hatte sie lachend mit seinem Arm umschlungen und zu ihr gesagt: »Komm, Rosa, in Zukunft wollen wir einander wieder sehr lieb haben.« Und sie hatte ihn geschlagen und mit der Wut einer wilden Katze von sich gestoßen und war aus dem Zimmer geeilt.

»Was ist mit Rosa geschehen?« fragte Mrs. Steerforth, die jetzt hereintrat.

»Sie ist eine Zeitlang ein Engel gewesen und hat sich jetzt zur Abwechslung ins Gegenteil verwandelt.«

»Du solltest sie nicht reizen, James, denk daran, sie ist verbittert, und du solltest ihr nicht zuviel zumuten!«

Rosa kam nicht wieder, und sie wurde weiter nicht erwähnt, bis ich Steerforth auf sein Zimmer begleitete, um ihm gute Nacht zu sagen. Dann lachte er über sie und fragte mich, ob ich jemals ein so wildes, kleines, unbegreifliches Geschöpf gesehen.

Ich gab meinem Erstaunen Ausdruck und fragte ihn, was sie denn plötzlich so übelgenommen haben könnte.

»Ach, das weiß der Himmel. Alles, was du willst – oder gar nichts. Ich sagte dir schon einmal, sie legt alles, sich selbst mit inbegriffen, an einen Schleifstein und macht es scharf und spitzig. Sie ist wie eine Messerschneide, und man muß sie sehr vorsichtig behandeln. Sie ist immer gefährlich. – Gute Nacht.«

»Gut Nacht«, sagte ich, »lieber Steerforth. Ehe du noch aufstehst, bin ich schon fort. Gute Nacht.«

Er zögerte mich gehen zu lassen und stand vor mir, die Hände auf meine Schultern gelegt wie gestern, in meinem Zimmer.

»Daisy«, sagte er mit einem Lächeln; »wenn es auch nicht der Name ist, den dir deine Paten gaben, ist es doch der Name, bei dem ich dich am liebsten nenne –, ich wollte, ich wollte, du könntest mich auch so nennen!«

»Nun, das kann ich ja tun, wenn ich will.«

»Daisy, wenn uns jemals etwas voneinander trennen sollte, so mußt du immer das Beste von mir halten, alter Junge. Komm, versprich mir das! Denke immer von mir das Beste, wenn uns je Verhältnisse trennen sollten!«

»Ich kenne an dir nichts Bestes, Steerforth, und nichts Schlimmstes. Ich habe dich immer gleich lieb.«

So viel tiefe Reue fühlte ich, ihm jemals auch nur in Gedanken Unrecht getan zu haben, daß mir schon das Bekenntnis meiner Schuld auf den Lippen schwebte. Aber ich konnte es nicht über das Herz bringen, Agnes zu verraten, und wußte auch nicht, wie ich es anfangen sollte. Ich hatte daher noch immer nichts gesprochen, als er zu mir sagte: »Gott behüte dich, Daisy, und gute Nacht!« Ich schwieg also, und wir gaben uns die Hände und schieden voneinander.

Beim Morgengrauen zog ich mich rasch und still an und warf einen Blick in sein Zimmer. Er lag in festem Schlummer, den Kopf auf den Arm gelegt, wie ich ihn oft in der Schule gesehen. Es kam die Zeit, und zwar sehr bald, wo ich mich fast verwundert fragte, warum nichts seine Ruhe störte, als ich ihn angesehen. – Er schlummerte – ich will noch einmal an dieses Bild zurückdenken –, wie ich ihn in der Schule oft hatte schlummern sehen, und ich verließ ihn in dieser stillen Stunde –, um niemals mehr, Gott vergebe ihm, seine Hand in Liebe und Freundschaft zu berühren. Niemals, niemals mehr!

3. Kapitel Eine Veränderung


3. Kapitel Eine Veränderung

Das Pferd des Fuhrmanns war das faulste Pferd der Welt, kam mir vor. Es trottete mit gesenktem Kopf die Straße entlang, als gefiele es ihm, die Leute, denen es Pakete brachte, möglichst lange warten zu lassen. Ich bildete mir ein, es manchmal deutlich kichern gehört zu haben, aber man sagte mir, es hätte bloß Husten.

Der Fuhrmann ließ ebenfalls den Kopf hängen wie sein Gaul und nickte schläfrig beim Kutschieren, die Arme auf das Knie gestützt. Ich sage »kutschieren«, aber es scheint mir, der Wagen wäre ebensogut ohne ihn nach Yarmouth gekommen, denn das Pferd besorgte es ganz allein. Und was die Unterhaltung betrifft, so konnte er nichts als pfeifen.

Peggotty hatte einen Korb mit Eßwaren auf dem Knie, die reichlich bis London gelangt hätten. Wir aßen viel und schliefen viel.

Peggotty schlief immer mit dem Kinn auf dem Korbhenkel, den sie nie losließ. Ich würde nie geglaubt haben, wenn ich es nicht selbst gehört hätte, daß ein einziges schutzloses Weib soviel zusammenschnarchen könne.

Wir machten Umwege und brachten so lange Zeit damit zu, eine Bettstelle in einem Wirtshaus abzugeben und an verschiedenen Orten vorzusprechen, daß ich ganz müde und sehr froh war, als Yarmouth in Sicht kam.

Es sähe schwammig und vollgesogen aus, meinte ich, als ich meine Augen über die große, langweilige Einöde jenseits des Flusses schweifen ließ; ich konnte mir nicht helfen, aber ich staunte, wie das Geographiebuch behaupten konnte, die Welt sei wirklich so rund, wenn ein Teil derselben so flach war. Dann überlegte ich mir, daß Yarmouth möglicherweise an einem der beiden Pole liegen könnte, und gab mich mit dieser Erklärung zufrieden.

Als wir etwas näher kamen und die ganze Landschaft wie eine gerade niedrige Linie unter dem Himmel liegen sahen, bemerkte ich zu Peggotty, daß ein kleiner Hügel oder dergleichen verschönernd wirken müßte, und daß es hübscher wäre, wenn das Land etwas deutlicher von der See geschieden und die Stadt und die Flut nicht so sehr untereinander gemischt wie Mehl und Wasser sein würden. Aber Peggotty sagte mit größerem Nachdruck als gewöhnlich, daß wir die Dinge eben nehmen müßten, wie wir sie fänden, und daß sie ihrerseits stolz sei, ein »Hering von Yarmouth« zu sein.

Als wir in die Straße einbogen und den Fisch-, Pech-, Werg- und Teergeruch einsogen und die Seeleute umhergehen, und die Karren über die Steine schwanken sahen, fühlte ich, daß ich einem so geschäftigen Orte Unrecht getan hatte. Ich gestand es Peggotty ein, die meine Ausdrücke des Entzückens sehr wohlgefällig aufnahm und mir sagte, es sei allgemein bekannt (wahrscheinlich unter denen, die das große Glück haben, geborene Yarmouth-Heringe zu sein), daß Yarmouth überhaupt die schönste Stadt der Erde sei.

»Da ist mein Ham«, schrie sie plötzlich auf, »in Gelehrsamkeit aufgewachsen.«

Wirklich erwartete Ham uns beim Gasthause und erkundigte sich nach meinem Befinden wie ein alter Bekannter. Anfangs schien es mir nicht, als ob ich ihn so gut kenne, wie er mich, weil er seit der Nacht, als ich geboren wurde, nicht in unser Haus gekommen war.

Begreiflicherweise hatte er in dieser Hinsicht einen Vorsprung vor mir. Aber unsere Vertraulichkeit wuchs sehr, als er mich auf den Rücken nahm und nach Hause trug. Er war jetzt ein großer, starker Bursche von sechs Fuß Höhe, entsprechender Breite und massiven Schultern, aber mit einem Dummenjungengesicht, und krausem hellem Haar, das ihn etwas schafartig aussehen machte. Sein Anzug bestand aus einer Segeltuchjacke und einem Paar so steifer Hosen, daß sie ganz allein hätten aufrecht stehen können. Daß er einen Hut trüge, hätte niemand so recht behaupten dürfen. Es schien eher ein altes Haus mit ein wenig Pech darauf zu sein.

Ham trug mich auf dem Rücken und unsere kleine Schachtel unter dem Arm, während Peggotty einen Handkoffer schleppte. So gingen wir durch schmale Gäßchen, die mit Abfall von Zimmerholz und kleinen Sandhäufchen bedeckt waren, an Gasanstalten, Seilerstätten und Werften, wo Schiffe und Boote gebaut, zerlegt, kalfatert und aufgetakelt wurden, an Schmieden und Kalköfen vorbei, bis wir auf die öde Fläche kamen, die ich schon von weitem gesehen hatte. Da rief Ham: »Dats unser Hus, Masr Davy.«

Ich sah mich nach allen Seiten um und ließ meine Augen über die öde Ebene, über das Meer und den Fluß hinschweifen, aber nirgends konnte ich ein Haus entdecken. Nicht weit von uns auf einer kleinen Anhöhe erblickte ich wohl ein schwarzes Boot, eine Art ausgedienter Barke, aus dem ein Stück eisernes Rohr als Schornstein herausragte und sehr gemütlich rauchte, aber sonst war nichts da, was nach einer Wohnung ausgesehen hätte.

»Es ist doch nicht das dort?« fragte ich. »Das Ding, das wie ein Schiff aussieht?«

»Djewoll, Masr Davy«, antwortete Ham.

Ich glaube, wenn es Aladins Palast gewesen wäre oder das Ei des Vogels Roc, hätte ich nicht entzückter sein können, als über den romantischen Gedanken, hier wohnen zu dürfen.

In die Seitenwand war eine köstliche Tür geschnitten, mit einem Dach darüber, und kleine Fenster sahen heraus; aber der wunderbarste Reiz für mich lag darin, daß es ein wirkliches Boot war, das gewiß hundertemal auf dem Wasser geschwommen und niemals dazu bestimmt gewesen war, auf festem Lande zur Wohnung zu dienen. Das fesselte mich ganz und gar. Wenn es jemals von Anfang an hätte ein Haus sein sollen, würde es mir vielleicht klein oder unbequem oder einsam vorgekommen sein. So aber erschien es mir vollkommen in jeder Art.

Innen war alles außerordentlich reinlich und so hübsch wie möglich.

Ein Tisch und eine Schwarzwälderwanduhr und eine Kommode, und auf der Kommode stand ein Teebrett, darauf war eine Dame mit einem Sonnenschirm gemalt, und neben ihr spazierte ein militärisch aussehendes Kind mit einem Reifen. Das Teebrett wurde durch eine Bibel am Herunterfallen gehindert und hätte, wenn es abgerutscht wäre, eine Menge Tassen und eine Teekanne, die alle um das Buch herumstanden, zerschlagen. An der Wand hingen ein paar roh gemalte Bilder aus der Heiligen Schrift, wie ich sie seitdem nie in Trödelläden sehen kann, ohne daß nicht sofort das ganze Innere jenes Hauses klar vor meinen Augen steht. Ein roter Abraham, im Begriff einen blauen Isaak zu opfern, und ein Daniel in gelb unter grüne Löwen geworfen, stachen am meisten hervor.

Über dem Kaminsims hing ein Bild des Luggers »Sarah Jane«, in Sunderland gebaut, mit einem wirklichen kleinen, hölzernen Schiffshinterteil daran, ein Kunstwerk, das Gemälde und Zimmermannsarbeit vereinigt zeigte und mir als eines der neidenswertesten Besitztümer der Welt erschien. Im Deckbalken staken ein paar Haken, deren Bestimmung mir rätselhaft war, und einige Schiffskisten und Koffer standen umher und dienten als Stühle.

Dies alles übersah ich auf den ersten Blick, wie es nach meiner Ansicht Kinder zu tun pflegen; dann öffnete Peggotty eine kleine Tür und zeigte mir mein Schlafzimmer. Es war das vollkommenste und wünschenswerteste Schlafzimmer, das ich jemals gesehen habe, im Hinterteil des Schiffes mit einem kleinen Fenster, – da, wo früher das Steuer durchgegangen, – mit einem kleinen Spiegel, gerade in der rechten Höhe für mich an die Wand genagelt und mit Austernschalen eingerahmt, einem kleinen Bett und gerade genug Platz davor, um hinaussteigen zu können, und einem Strauß von Seegras in einem blauen Krug auf dem Tisch. Die Wände waren so weiß getüncht wie Milch. Die Bettdecke, aus Flecken kunterbunt zusammengesetzt, blendete meine Augen fast durch ihre Farbenpracht.

Ganz besonders gefiel mir in diesem herrlichen Hause der Fischgeruch, der so durchdringend war, daß mein Taschentuch, als ich es einmal herauszog, gerade so roch, als ob ein Hummer darin eingewickelt gewesen wäre. Als ich diese Entdeckung Peggotty anvertraute, belehrte sie mich, daß ihr Bruder mit Hummern, Krabben und Krebsen handelte.

Später fand ich heraus, daß ein Haufen dieser Geschöpfe in wunderbarer Verknäuelung, in der sie nicht wieder losließen, was sie einmal mit ihren Scheren gefaßt hatten, draußen in einem kleinen hölzernen Schuppen, in dem Töpfe und Kessel hingen, aufbewahrt wurden.

Eine sehr höfliche Frau mit weißer Schürze, die ich schon draußen in der Türe hatte knixen sehen, als ich auf Hams Rücken noch eine Viertelmeile vom Hause entfernt war, empfing uns. Desgleichen ein sehr schönes, kleines Mädchen – so kam sie mir wenigstens vor, – mit einem Halsband aus blauen Glasperlen.

Die Kleine ließ sich nicht küssen, als ich sie dazu aufforderte, sondern rannte fort und versteckte sich. Später, als wir ein prächtiges Mittagessen, bestehend aus gekochten Fischen, geschmolzener Butter und Kartoffeln, sowie einer Hammelrippe für mich, zu uns genommen hatten, kam ein stark behaarter Mann mit sehr gutmütigem Gesicht nach Hause. Er nannte Peggotty »Mächen« und gab ihr einen herzhaften Schmatz auf die Wange, woraus ich bei der sonstigen Züchtigkeit ihres Wesens schloß, daß es ihr Bruder sein müßte. Er war es auch und wurde mir als Mr. Peggotty, der Herr des Hauses, vorgestellt.

»Freut mich, Sie zu sehen, Sir«, sagte Mr. Peggotty » – werden uns rauh finden, aber stets bereit.«

Ich dankte ihm und gab zur Antwort, daß ich mich an so einem angenehmen Ort gewiß wohlbefinden würde.

»Wie geits to Hus, Sir?« fragte Mr. Peggotty, plötzlich in seinen Schifferdialekt verfallend. »Haben Sie Ihre Mama frisch und munter verlassen?«

Ich teilte Mr. Peggotty mit, daß sie so munter und frisch sei, wie ich nur wünschen könnte, und daß sie sich ihm empfehlen ließe, was eine kleine, höfliche Lüge meinerseits war.

»Ick bünn Ehr sehr verbunnen«, antwortete Mr. Peggotty. »Wenn Sej et hier fortein Dag uthollen könt mit der da«, er nickte seiner Schwester zu, »und Ham und lütt Emly, sünn wi stolz op Ehr Gesellschaft.«

Nachdem Mr. Peggotty in so gastfreundlicher Weise die Honneurs seines Hauses gemacht hatte, ging er mit der Bemerkung, kaltes Wasser richte gegen Dreck nichts aus, hinaus, um sich warm zu waschen.

Er kehrte bald zurück und sah viel besser aus, aber so gerötet, daß ich mich des Gedankens nicht erwehren konnte, sein Gesicht habe mit den Hummern und Krebsen das eine gemein, daß es schwarz in das warme Wasser hinein und rot wieder herauskomme.

Als nach dem Tee die Tür fest zugemacht war, – denn die Nächte waren kalt und neblig, – erschien mir das Haus als die prächtigste Unterkunft, die menschliche Einbildungskraft ersinnen kann. Den Wind draußen auf dem Meere brausen zu hören, zu wissen, daß der Nebel sich über die trostlose Ebene ausbreitete, in das Feuer zu sehen und zu denken, daß kein Haus weit und breit außer diesem da sei, und daß dieses eine ein Schiff war, wirkte wie Zauberei.

Emly hatte ihre Scheu überwunden und saß neben mir auf der niedrigsten und kleinsten der Schiffskisten, die, gerade groß genug für uns beide, genau in die Ofenecke paßte.

Mrs. Peggotty in ihrer weißen Schürze strickte auf der andern Seite des Feuers. Peggotty selbst war bei ihrer Arbeit ebenso zu Hause, wie mit der St.-Pauls-Kirche und dem Stückchen Wachslicht, als hätte sie nie eine andere Wohnung gekannt. Ham versuchte mit schmutzigen Karten wahrzusagen und prägte jedem Blatt, das er aufschlug, die fischigen Abdrücke seines Daumens auf. Mr. Peggotty rauchte seine Pfeife.

Ich fühlte die Zeit zu vertraulicher Unterhaltung gekommen:

»Mr. Peggotty!«

»Sir?«

»Haben Sie Ihren Sohn Ham genannt, weil er in einer Art Arche wohnt?«

Mr. Peggotty schien das für einen tiefsinnigen Gedanken zu halten und antwortete:

»Nein, Sir. Ich hew jem nie keenen Namen nich gewen.«

»Wer hat ihm denn diesen Namen gegeben?« forschte ich, Frage Numero 2 aus dem Katechismus Mr. Peggotty vorlegend.

»Nun, Sir, sien Vadder hett em den Namen gewen«, sagte Mr. Peggotty.

»Ich dachte, Sie wären sein Vater?«

»Mien Bruder Joe war sien Vadder.«

»Tot, Mr. Peggotty?« fragte ich nach einer respektvollen Pause.

»Ertrunken«, sagte Mr. Peggotty.

Ich war sehr erstaunt, daß Mr. Peggotty nicht Hams Vater war, und hätte gern Genaues über seine Verwandtschaft zu den andern Anwesenden gekannt. Ich brannte so darauf, daß ich beschloß, es herauszukriegen.

»Die kleine Emly«, sagte ich mit einem Blick auf das Mädchen, »sie ist Ihre Tochter, nicht wahr, Mr. Peggotty?«

»Nein, Sir. Mien Schwager Tom war ihr Vadder.«

Ich konnte mich nicht zurückhalten:

»Tot, Mr. Peggotty?« fragte ich zögernd, wieder nach einer vorsichtigen Pause.

»Ertrunken«, sagte Mr. Peggotty.

Ich fühlte die Schwierigkeit der Sachlage, aber es war noch nicht alles ergründet, und so mußte ich doch weiter forschen.

»Haben Sie keine Kinder, Mr. Peggotty?«

»Nein, Master«, antwortete er mit kurzem Lachen. »Ick bünn een Junggesell.«

»Junggesell?« fragte ich ganz verwundert. »Wer ist denn das, Mr. Peggotty?«, und ich wies auf die Frau mit der weißen Schürze.

»Das is Mrs. Gummidge.«

»Gummidge, Mr. Peggotty?«

Aber hier machte Peggotty – ich meine meine eigene Peggotty – so deutliche Gebärden, ich solle nicht weiter fragen, daß ich nichts mehr tun konnte als die schweigsame Gesellschaft ansehen, bis es Zeit war, zu Bett zu gehen. Dann in der Zurückgezogenheit meiner eigenen kleinen Kabine teilte sie mir mit, daß Ham und Emly beide Waisen seien, die ihr Bruder in frühester Kindheit zu sich genommen hatte, und daß Mrs. Gummidge die Witwe seines ehemaligen Bootteilhabers sei, der sehr arm gestorben war. Peggotty selbst sei nur ein armer Mann, aber echt wie Gold und treu wie Stahl. Das waren meiner Kindsfrau eigne Vergleiche. Das einzige, sagte sie mir, worüber er je heftig werden könnte bis zum Fluchen, wäre, wenn man auf sein gutes Herz anspiele. Wenn man nur davon spräche, schlüge er so furchtbar auf den Tisch, – er hätte ihn bei einer solchen Gelegenheit oft schon zerbrochen, – und schwüre einen entsetzlichen Eid, daß er »gormet« sein wollte, wenn er nicht in die weite Welt ginge, sobald noch jemand davon anfinge. Auf meine Nachfragen stellte sich heraus, daß niemand wußte, was unter diesem schrecklichen Wort »gormet« zu verstehen sei; aber alle stimmten darin überein, daß es ein höchst feierlicher Schwur wäre.

Ich war natürlich sehr gerührt von der Gutherzigkeit meines Wirtes und hörte in einer sehr behaglichen Gemütsstimmung, die durch meine Schläfrigkeit noch vermehrt wurde, wie die weibliche Hälfte der Bewohnerschaft in einer zweiten kleinen Kajüte am andern Ende des Schiffes zu Bett ging, und wie er und Ham für sich zwei Hängematten an den früher erwähnten Haken im Deckbalken befestigte.

Während der Schlaf mich allmählich überwältigte, hörte ich draußen auf dem Meer den Wind so heulen und so gewaltig über die Einöde hinbrausen, daß mich halb im Traum die Furcht überkam, das Meer könnte während der Nacht das Land überfluten. Aber ich beruhigte mich damit, daß ich doch in einem Schiff wohnte, und daß Mr. Peggotty keine üble Person an Bord sei, wenn etwas geschehen sollte.

Aber es passierte nichts Schlimmeres, als daß der Morgen kam. Sobald er seine Strahlen auf den Austernschalenrahmen meines Spiegels warf, war ich aus dem Bette und mit der kleinen Emly draußen am Strand und suchte Muscheln.

»Du bist gewiß schon ein vollendeter Seemann«, sagte ich zu Emly. Ich glaubte selbst nicht, was ich sagte, aber ich hielt es für galant, etwas Derartiges zu äußern, und ein schimmerndes Segel dicht neben uns spiegelte sich so hübsch in ihrem hellen Auge, daß mir diese Worte gerade einfielen.

»Nein«, antwortete Emly und schüttelte den Kopf, »ich habe Angst vor dem Meere.«

»Angst?« sagte ich und machte selbst ein kühnes Gesicht und sah mutig auf den mächtigen Ozean hinaus. »Ich nicht!«

»O, es ist sehr grausam«, sagte Emly, »ich habe es sehr grausam gesehen gegen unsere Leute. Ich habe gesehen, wie es ein Schiff, so groß wie unser Haus, in lauter Stücke zerbrach.«

»Das war doch hoffentlich nicht das Schiff, das – «

» – in dem der Vater ertrank?« fragte Emly. »Nein, das nicht. Das hab ich nicht gesehen.«

»Auch ihn nicht?« fragte ich.

Die kleine Emly schüttelte den Kopf. »Kann mich nicht erinnern.«

Hier lag ein Fall vor wie der meine. Ich erging mich sogleich in Erzählungen, daß auch ich meinen Vater niemals gesehen hätte, und wie meine Mutter und ich stets allein in der größten Zufriedenheit gelebt, die man sich denken könnte, und noch so lebten und immer so leben wollten, und daß meines Vaters Grab auf dem Kirchhof nicht weit von unserm Hause läge, beschattet von einem Baum, unter dessen Zweigen ich an manchem schönen Morgen dem Gesang der Vögel gelauscht hätte.

Aber zwischen Emlys Waisenschaft und meiner bestand doch noch ein kleiner Unterschied. Sie hatte ihre Mutter vor dem Vater verloren, und ihres Vaters Grab kannte niemand. Sie wußte nur, daß er irgendwo in den Tiefen des Meeres ruhte.

»Und dann«, sagte Emly, während sie nach Muscheln und Kieseln ausschaute, »war dein Vater ein Gentleman und deine Mutter eine Lady; mein Vater war nur ein Fischer und meine Mutter eine Fischerstochter und mein Onkel Dan ist ein Fischer.«

»Dan ist Mr. Peggotty, nicht wahr?« fragte ich.

»Onkel Dan – dort – « antwortete Emly und nickte nach dem Schiffe hin.

»Ja, den meine ich. Er muß sehr gut sein, nicht?«

»Gut? – Wenn ich einmal eine Lady werden sollte, schenke ich ihm einen himmelblauen Rock mit diamantnen Knöpfen, Nankinghosen, eine rote Samtweste, einen Federhut, eine große goldne Uhr, eine silberne Pfeife und einen Koffer voll Geld.«

Ich sagte, ich sei überzeugt, daß Mr. Peggotty alle diese Schätze wohl verdiene. Ich muß gestehen, daß es mir schwerfiel, mir ihn in ruhigem Behagen in dem Anzuge vorzustellen, den seine dankbare kleine Nichte ihm zudachte, besonders hatte ich so meine Bedenken wegen des Federhutes, aber ich behielt diese Gedanken für mich.

Die kleine Emly hatte in ihrer Beschäftigung innegehalten und zum Himmel aufgeblickt bei der Aufzählung aller dieser Gegenstände, als wären sie eine Vision. Dann fingen wir wieder an Muscheln und Kieseln zu suchen.

»Du möchtest wohl gern eine Lady sein?« fragte ich.

Emly sah mich an, lachte und nickte, »ja.«

»Das möcht ich wohl gern. Wir würden dann alle vornehme Leute sein. Ich und der Onkel und Ham und Mrs. Gummidge; es wäre uns gleich, wenn es stürmte, – unsertwegen meine ich, wegen der armen Fischer wärs uns nicht gleich, und wir würden ihnen Geld geben, wenn sie zu Schaden kämen.«

Das erschien mir als ein befriedigendes und daher durchaus nicht unwahrscheinliches Bild. Ich drückte meine Freude darüber aus und das ermutigte Emly zu der schüchternen Frage: »Glaubst du jetzt, daß du Angst vor dem Meere hast?«

Die See war in diesem Augenblick zu ruhig, um mir Besorgnis einzuflößen, aber ich bin überzeugt, wenn nur eine mäßig große Welle dahergebraust gekommen wäre, ich hätte mich bei dem schrecklichen Gedanken an Emlys ertrunkene Verwandten sofort davon gemacht. Für alle Fälle sagte ich nein, und fügte hinzu: »Du scheinst dich auch nicht so sehr davor zu fürchten, wie du sagst.« Sie ging so nahe am Rande eines alten hölzernen Hafendamms, daß ich Angst hatte, sie könnte hinunterfallen.

»So fürchte ich mich nicht«, sagte sie. »Aber ich bleibe wach, wenn es stürmt, und denke mit Zittern und Angst an Onkel Dan und Ham, und immer kommt es mir vor, als ob sie um Hilfe riefen. Deshalb möcht ich gern eine Lady sein. Aber so fürcht ich mich nicht. Nicht ein bißchen. Schau mal her.«

Sie rannte von mir weg und lief einen gekerbten Balken entlang, der ohne Geländer ziemlich hoch über das Meer hinausragte.

So deutlich steht der Vorfall noch vor meinem Gedächtnis, daß ich es malen könnte, wäre ich ein Zeichner, wie die kleine Emly ihrem Untergang – so erschien es mir, – mit einem weit auf das Meer hinausgerichteten Blick, den ich nie vergessen habe, entgegeneilte. Ihre leichte, kühne, flatternde kleine Gestalt kehrte um und gelangte wieder glücklich bis zu mir, und bald lachte ich über meine Angst und den Schrei, den ich – in jedem Falle ganz nutzlos, denn es war niemand in der Nähe, – ausgestoßen hatte.

Oft noch später habe ich darüber nachgesonnen, konnte es nicht vielleicht eine von den uns verborgenen Möglichkeiten gewesen sein, daß der plötzlichen Tollheit des Kindes eine Verlockung zur Gefahr, ein unhörbarer Ruf ihres toten Vaters zugrunde lag, der an jenem Tage barmherzig ihr Leben enden wollte?

Es kam einmal eine Zeit, wo ich mich fragte, ob ich damals einen Finger zu ihrer Rettung hätte rühren sollen, wenn sich mir ihr späteres Leben in einem Blick geoffenbart hätte? Es kam einmal eine Zeit, wo ich mir einen Augenblick die Frage vorgelegt habe, würde es nicht besser für die kleine Emly gewesen sein, wenn das Meer sie an diesem Morgen vor meinen Augen verschlungen hätte? –

Wir schlenderten noch eine Weile spazieren und lasen Dinge auf, die uns merkwürdig vorkamen, und setzten ganz sorgsam ein paar gestrandete Seesterne wieder ins Wasser – ich kenne die Lebensgewohnheiten dieser Tiere zu wenig, um zu wissen, ob wir ihnen damit einen Gefallen taten, – und kehrten dann nach Mr. Peggottys Wohnung zurück.

Unter dem Schatten des Schuppens, wo die Krebse lagen, blieben wir stehen, gaben uns einen unschuldigen Kuß und gingen vor Gesundheit und Freude strahlend hinein zum Frühstück.

»Wie zwei Amseln«, sagte Mr. Peggotty, und ich nahm das als Kompliment auf.

Natürlich war ich in die kleine Emly verliebt. Ich bin überzeugt, ich liebte das Kind so wahrhaftig, so zärtlich, und reiner und selbstloser, als man selbst im besten Falle in späteren Zeiten lieben kann. Ich weiß, daß meine Phantasie dieses blauäugige Kind mit einem Glorienschein umwob, der einen wahren Engel aus ihm machte. Wenn Emly an einem sonnigen Morgen mit einem Paar kleinen Schwingen vor meinen Augen weggeflogen wäre, so glaube ich kaum, daß ich darin etwas Außergewöhnliches gesehen hätte.

Stundenlang gingen wir auf der öden Fläche um Yarmouth in liebender Eintracht spazieren. Die Tage eilten an uns vorüber, als ob die Zeit selbst noch ein Kind wäre und immer mit uns spielte.

Ich sagte Emly, daß ich sie anbetete, und wenn sie nicht gestünde, daß sie mich ebenfalls anbetete, so müßte ich mich mit einem Schwert selber töten. Und sie sagte, sie liebte mich, und ich zweifle nicht, daß es so war.

An Ungleichheit und zu große Jugend oder andere Schwierigkeiten dachten wir nicht, denn über die Zukunft zerbrachen wir uns nicht den Kopf.

Wir waren ein Gegenstand der Bewunderung für Mrs. Gummidge und Peggotty, die sich abends, wenn wir so zärtlich auf der Schiffskiste saßen, zuflüsterten: »O Gott, ist das ein hübsches Paar.« Hinter seiner Pfeife hervor lächelte uns Mr. Peggotty an. Ham grinste den ganzen Abend und tat sonst nichts.

Ich bemerkte bald, daß sich Mrs. Gummidge nicht immer so angenehm machte, als man nach den Verhältnissen, unter denen sie bei Mr. Peggotty wohnte, hätte erwarten dürfen.

Sie war etwas empfindlicher Natur und jammerte oft mehr, als für die andern Mitglieder eines so kleinen Haushaltes angenehm war. Sie tat mir wohl sehr leid, aber es gab Augenblicke, wo ich dachte, daß es wohl besser wäre, wenn sie sich in ihr eigenes Zimmer zurückziehen wollte, um sich ihrem Schmerz zu überlassen.

Mr. Peggotty ging manchmal in ein Wirtshaus, das den Namen »Der gute Vorsatz« führte. Ich merkte es an seiner Abwesenheit bereits am zweiten oder dritten Tag meines Besuchs und daran, daß Mrs. Gummidge zwischen acht und neun Uhr immer nach der Schwarzwälderuhr hinaufsah und sagte, er sei dort, und sie habe es bereits am Morgen vorausgesehen.

Sie war schon den ganzen Tag sehr trüb gestimmt gewesen und in Tränen ausgebrochen, als der Ofen rauchte. »Ich bin ein armes, verlassenes Wesen«, hatte sie dabei gesagt, »und alles geht mir die Quere.«

»Ach, es wird ja bald vorbei sein!« hatte Peggotty – meine nämlich – gesagt, »und außerdem ist es dir auch nicht unangenehmer als uns.«

»Ich fühl es mehr«, hatte Mrs. Gummidge geantwortet.

Es war ein kalter Tag und der Wind wehte scharf und heftig. Mrs. Gummidges Ecke am Ofen schien mir die wärmste und gemütlichste in der Stube zu sein und ihr Stuhl war sicherlich der bequemste, aber sie befand sich heute nicht wohl darin. Sie jammerte beständig über die Kälte, daß es ihr immer in den Rücken bliese, und endlich vergoß sie Tränen und sagte wieder, sie sei ein armes, verlassenes Wesen, und alles ginge ihr der Quere.

»Es ist recht kalt«, bestätigte Peggotty, »das fühlt gewiß jeder.«

»Ich fühl es mehr als andere Leute«, klagte Mrs. Gummidge.

Ebenso war es bei Tisch, wo Mrs. Gummidge immer unmittelbar nach mir dran kam, weil ich als vornehmer Gast den Vorzug hatte. Die Fische waren klein und mager und die Kartoffeln ein wenig angebrannt. Wir gaben alle zu, daß das nicht besonders angenehm sei, aber Mrs. Gummidge sagte, sie fühle es mehr als wir, und weinte wieder und gab ihre frühere Erklärung mit großer Bitterkeit zum besten.

Als Mr. Peggotty gegen neun Uhr nach Hause kam, strickte die unglückliche Mrs. Gummidge in jämmerlicher Stimmung in ihrer Ecke. Peggotty hatte fröhlich ihre Arbeit getan, Ham ein paar weiße Wasserstiefel ausgebessert, und ich hatte ihnen, neben Emly sitzend, vorgelesen. Mrs. Gummidge hatte nur zuweilen geseufzt und seit dem Tee die Augen nicht aufgeschlagen.

»Nun, Stüerlüt«, sagte Mr. Peggotty und setzte sich. »Wie geit dat?«

Wir alle antworteten freundlich mit Wort und Blick, nur Mrs. Gummidge schüttelte den Kopf über ihrem Strickstrumpf.

»Wo fehlts?« fragte Mr. Peggotty, »Kopf hoch, Mutting!« Mrs. Gummidge aber schien nicht imstande zu sein, sich aufzumuntern. Sie zog ein altes, schwarzseidenes Taschentuch hervor und wischte sich die Augen, anstatt es jedoch wieder in die Tasche zu stecken, behielt sie es in der Hand und wischte sich nochmals die Augen und legte es neben sich, um es immer bereit zu haben.

»Wo fehlts, Alte?« fragte Peggotty.

»Nichts«, entgegnete Mrs. Gummidge. »Du kommst aus dem ›guten Vorsatz‹ – Danl?«

»Nun, ja, ich machte einen Abstecher heute abends in den ›guten Vorsatz‹ «, sagte Mr. Peggotty.

»Es tut mir leid, daß ich dich immer dorthin treibe«, sagte Mrs. Gummidge.

»Treiben! Bei mir brauchts kein Treiben«, erwiderte Peggotty lachend. »Ich geh nur zu gern hin.«

»Sehr gern«, sagte Mrs. Gummidge, schüttelte den Kopf und wischte sich die Augen. »Ja, ja, sehr gern. Es tut mir leid, daß ich dran schuld bin.«

Mr. Peggotty sagte weiter nichts, sondern bat bloß Mrs. Gummidge noch einmal, den Kopf hochzuhalten.

»Ich bin nicht, wie ich sein möchte«, sagte Mrs. Gummidge. »Ich fühle mein Unglück und das macht mich unangenehm. Ich wollte, es wäre anders, aber ich fühle nun einmal so. Ich wollte, ich könnt es vergessen, aber es geht nicht. Ich mache das ganze Haus ungemütlich. Ich habe schon den ganzen Tag lang deiner Schwester das Leben sauer gemacht und Master Davy dazu.«

Ich wurde sofort gerührt und rief in großem Seelenschmerz ein lautes »Nein, sicher nicht, Mrs. Gummidge.«

»Es ist gar nicht recht von mir«, fuhr sie fort, »ich sollte lieber ins Armenhaus gehen und sterben. Wenn mir alles die Quere geht und ich allen der Quere bin, so will ich auch der Quere in meine Heimat gehen. Danl, besser ich ginge ins Armenhaus und stürbe; dann seid ihr mich los.«

Mit diesen Worten begab sich Mrs. Gummidge zu Bett. Als sie fort war, sah uns Mr. Peggotty, der bei jedem Wort nur die tiefste Teilnahme gezeigt hatte, der Reihe nach an, nickte mit dem Kopf und flüsterte: »Sej hett an ehrn Olen dacht.«

Ich verstand nicht recht, an was für einen Alten Mrs. Gummidge gedacht haben sollte, bis mir Peggotty, als sie mich zu Bett brachte, erklärte, daß es der selige Mr. Gummidge wäre, und daß ihr Bruder es stets bei solchen Gelegenheiten als ausgemachte Wahrheit annähme und es stets einen rührenden Eindruck auf ihn machte.

Noch in der Hängematte hörte ich ihn zu Ham sagen: Sej hett an ehrn Olen dacht! Und wann immer sich Mrs. Gummidge in ähnlicher Stimmung befand, hatte er für sie immer dieselbe Entschuldigung und immer dasselbe aufrichtige Mitleid.

So gingen die vierzehn Tage rasch dahin ohne andere Veränderung, als den Wechsel von Ebbe und Flut, der auch die Stunden, wo Mr. Peggotty und Ham gingen und kamen, verschob.

Hatte Ham nichts zu tun, begleitete er uns manchmal an den Hafen und zeigte uns die Boote und Schiffe, und ein- oder zweimal ruderte er uns spazieren. Ich weiß nicht, wie es kommt, warum so oft gerade ein unbedeutsames Bild immer an einem Namen am längsten haften bleibt. Nie höre oder lese ich den Namen Yarmouth, ohne an einen gewissen Sonntagmorgen am Strande erinnert zu werden, wo die Glocken in der Kirche läuteten, die kleine Emly sich auf meinen Arm stützte, Ham nachlässig Steine ins Wasser warf, und die Sonne draußen über dem Meer mühselig durch den dicken Nebel drang, und die Schiffe sich uns so undeutlich zeigten, als wären sie ihre eignen Schatten.

Endlich kam der Tag der Heimreise. Die Trennung von Mr. Peggotty und Mrs. Gummidge konnte ich noch verwinden. Aber der Abschied von der kleinen Emly zerriß mir das Herz. Wir gingen Arm in Arm nach dem Wirtshaus, wo der Fuhrmann anspannte, und unterwegs versprach ich ihr zu schreiben. Dieses Versprechen löste ich später mit einem Aufwand von Buchstaben ein, die größer waren als die, mit denen man Mietanzeigen zu schreiben pflegt. Wir fühlten uns ganz vernichtet durch den Abschied, und wenn ich je in meinem Leben in meinem Herzen eine unbeschreibliche Leere empfunden habe, so war es an jenem Tag.

Die ganze Zeit meines Besuchs über war ich undankbar gegen mein mütterliches Haus gewesen und hatte wenig oder nicht daran gedacht. Aber kaum wendete ich meine Schritte ihm wieder zu, so wies auch schon vorwurfsvoll mein jugendliches Gewissen mit standhaftem Finger dorthin, und ich fühlte trotz der Bangigkeit des Abschieds, daß es meine Heimat und Mutter, meine Trösterin und Freundin war. Je näher wir dem Ziele kamen und je vertrauter mir die Umgebung wurde, desto stärker wuchs meine Sehnsucht, in ihre Arme zu eilen. Peggotty, anstatt diesen Drang zu teilen, suchte ihn, wenn auch sanft, in mir eher zu hemmen, und sah verlegen und verstimmt drein.

Trotz der Langsamkeit und Launenhaftigkeit des Pferdes langten wir doch endlich in Krähenhorst-Blunderstone an. Ich sehe noch den kalten, grauen Nachmittag mit dem dunkeln, regnerischen Himmel vor mir.

Die Tür ging auf und ich erwartete, halb lachend, halb weinend vor Erregtheit meine Mutter zu sehen. Aber nicht sie, sondern eine mir fremde Dienerin trat heraus.

»Ach, Peggotty!« sagte ich traurig. »Ist sie noch nicht wieder zu Hause?«

»Ja, ja, Master Davy«, sagte Peggotty, »wart ein bißchen, Master Davy, und ich werde dir etwas sagen.«

Teils aus Aufregung, teils aus natürlichem Ungeschick machte Peggotty beim Heraussteigen aus dem Wagen die seltsamsten Manöver, aber ich fühlte mich zu entmutigt und betroffen, um ihr etwas darüber zu sagen. Als sie glücklich draußen war, nahm sie mich bei der Hand, führte mich zu meiner Verwunderung in die Küche und schloß die Tür.

»Peggotty«, sagte ich, heftig erschrocken, »was ist denn?«

»Du meine Güte, nichts ist, mein lieber Davy«, antwortete sie und setzte eine möglichst heitere Miene auf.

»Es ist etwas geschehen, ich weiß es, wo ist Mama?«

»Wo Mama ist, Davy?« wiederholte Peggotty.

»Ja. Warum ist sie uns nicht entgegengekommen? Und weshalb sind wir hier hereingegangen? Ach Peggotty!«

Meine Augen standen voll Tränen und mir war zum Umsinken.

»Mein Gott, der gute Junge!« rief Peggotty und hielt mich aufrecht. »Was ist dir? Sprich, mein Herzblatt!«

»Sie ist doch nicht tot? Nicht tot? Peggotty?«

»Nein«, schrie Peggotty mit erstaunlicher Kraft in der Stimme. Dann setzte sie sich nieder, fing an zu keuchen und sagte, ich hätte sie fürchterlich erschreckt.

Um das wiedergutzumachen, fiel ich ihr um den Hals, stellte mich dann vor sie hin und sah sie mit banger Erwartung an.

»Ja, schau, Liebling, ich hätte dirs schon früher sagen sollen, aber ich fand keine Gelegenheit dazu. Ich hätte es längst tun sollen, aber ich konnte mich partuh« – das war immer der Stellvertreter in Peggottys Wörterheer für »durchaus« – »nicht dazu entschließen.«

»Weiter Peggotty«, sagte ich noch mehr erschreckt als vorher.

»Master Davy«, sagte Peggotty und knüpfte ihr Hutband mit zitternden Händen auf – sie war ganz außer Atem: –

»Was meinst du? Du hast einen Papa bekommen.«

Ich fuhr zusammen und wurde blaß. Ein Etwas – ich weiß nicht was –, das mit dem Grab auf dem Kirchhof und der Auferstehung der Toten zusammenhing, schien mich wie ein giftiger Hauch zu streifen.

»Einen neuen«, sagte Peggotty.

»Einen neuen?« wiederholte ich.

Peggotty schluckte, als ob ihr etwas Hartes im Halse stecken geblieben wäre, reichte mir die Hand und sagte:

»Komm, du mußt ihn sehen –«

»Ich will ihn nicht sehen.«

»– und deine Mama.«

Ich widerstand nicht länger, und wir gingen sogleich in das Empfangszimmer, wo sie mich verließ.

An der einen Seite des Kamins saß meine Mutter, an der andern Mr. Murdstone. Meine Mutter ließ ihre Arbeit sinken und stand rasch auf, aber, wie es mir schien, furchtsam.

»Liebe Klara«, sagte Mr. Murdstone, »denke daran! Beherrsche dich, immer beherrsche dich! Davy, mein Junge, wie geht es dir?«

Ich gab ihm die Hand. Nach einem Augenblick der Unentschlossenheit ging ich zu meiner Mutter und küßte sie; sie küßte mich wieder, klopfte mir sanft auf die Schulter und nahm wieder ihre Arbeit zur Hand. Ich konnte ihn nicht ansehen, ich konnte sie nicht ansehen, ich wußte bestimmt, daß er uns beide ansah, und ich ging ans Fenster und blickte hinaus auf ein paar Stauden, die ihre Köpfe in der Kälte hängen ließen.

Sobald ich mich wegdrücken konnte, schlich ich die Treppe hinauf. Mein liebes, altes Schlafzimmer war ganz anders geworden, und ich mußte weit hinten schlafen. Ich ging wieder hinunter, um irgend etwas zu finden, das sich nicht verändert hätte, so fremd schien mir alles, und trat auf den Hof hinaus. Schnell schreckte ich zurück, denn die leere Hundehütte war jetzt von einem großen Hund bewohnt, der eine tiefe Stimme und schwarze Haare hatte – wie er – und grimmig an seiner Kette riß, um über mich herzufallen.

30. Kapitel Ein Verlust


30. Kapitel Ein Verlust

Ich kam abends nach Yarmouth und ging in den Gasthof. Ich wußte, daß Peggottys Besuchzimmer – meine kleine Stube – wahrscheinlich binnen kurzem sehr in Anspruch genommen sein würde, wenn nicht jener furchtbare Besucher, dem alle Lebenden Platz machen müssen, schon im Hause war. So begab ich mich in den Gasthof, speiste dort und bestellte ein Bett.

Es war zehn Uhr, als ich ausging. Die meisten Läden waren geschlossen und die Stadt ruhte. Als ich bei Omer & Joram vorbeikam, fand ich die Läden zu, aber die Türe stand offen. Da ich im Hintergrund Mr. Omer mit einer Pfeife im Mund erblickte, trat ich ein und fragte nach seinem Befinden.

»Gott segne meine Augen!« sagte Mr. Omer. »Was machen Sie hier? Nehmen Sie Platz! Stört sie der Rauch nicht?«

»Nicht im mindesten. Ich habe es ganz gern, wenn andere rauchen.«

»Sie selbst rauchen nicht, was? Um so besser, Sir. Es ist eine schlechte Angewohnheit für einen jungen Mann. Nehmen Sie Platz. Ich rauche auch nur des Asthmas wegen.« Er stellte mir einen Stuhl hin, war wieder ganz außer Atem und sog an seiner Pfeife, als ob sie die nötige Luft enthielte, ohne die er ersticken müßte.

»Ich habe zu meinem Leidwesen schlechte Nachrichten über Mr. Barkis bekommen«, sagte ich.

Mr. Omer sah mich mit ernstem Gesicht an und nickte mit dem Kopf.

»Wissen Sie, wie er sich heute abend befindet?«

»Das hätte ich Sie selbst gerne gefragt, wenn es nicht so unzart wäre. Das ist so eine von den dunkeln Seiten unseres Geschäfts. Wenn jemand krank ist, können wir nicht gut fragen, wies ihm geht.«

An diesen Punkt hatte ich nicht gedacht, obgleich ich schon beim Hereintreten ahnte, daß ich etwas von dem alten Lied würde zu hören bekommen. Ich gab eine entsprechende Antwort.

»Ja, ja, Sie verstehen mich schon«, sagte Mr. Omer und nickte. »Wir dürfen es nicht tun. Was glauben Sie wohl, die Mehrzahl der Kundschaften würde eine solche Erschütterung nicht aushalten, wenn ich zum Beispiel sagte: »Omer & Joram lassen sich empfehlen und fragen, wie Sie sich heute morgen befinden.« Wir nickten einander zu, und Mr. Omer sog frischen Atem aus seiner Pfeife.

»Ja, das ist so eine von den Sachen, die uns Höflichkeit unmöglich machen, wenn wir sie einmal gern bezeigen möchten. Nehmen Sie mich an. Ich habe den Barkis so vierzig Jahre gekannt. Aber ich kann nicht hingehen und fragen, wie geht es ihm.«

Ich begriff, daß das wirklich hart war für Mr. Omer und sagte es ihm.

»Ich glaube, ich bin nicht eigennütziger als andere Menschen. Schauen Sie mich an, mir kann der Atem jeden Augenblick ausgehen, und es ist nicht wahrscheinlich, daß man angesichts solchen Zustandes noch eigennützig ist. Ich sage, es ist nicht wahrscheinlich bei einem Mann, der sich bewußt ist, daß ihm der Atem ausgehen kann wie einem Blasebalg, der aufgeschnitten wird, – noch dazu, wenn man Großvater ist.«

»Sicherlich nicht!«

»Nicht, daß ich mich über mein Geschäft beklagte«, fuhr Mr. Omer fort. »Jedes Geschäft hat seine angenehmen und unangenehmen Seiten. Ich wollte nur, daß die Kundschaften etwas weniger empfindlich wären.« Mit sehr behäbiger und freundlicher Miene paffte er eine Weile stumm aus seiner Pfeife und sagte dann, wieder auf seine Äußerung zurückkommend: »Wir sind daher auf Emly angewiesen, wenn wir etwas von Mr. Barkis erfahren wollen. Sie weiß, wie wir es meinen, beunruhigt sich nicht weiter und mißtraut uns ebensowenig, als ob wir lauter Lämmer wären. Minnie und Joram sind eben hingegangen, um sich nach Barkis‘ Befinden zu erkundigen, und wenn Sie warten wollen, so können Sie alles ausführlich hören. Wollen Sie vielleicht etwas nehmen? Ein Glas Shrub und Wasser? Ich trinke Shrub und Wasser«, sagte Mr. Omer und griff nach dem Glas, »es wirkt glättend auf die Atemwege. Die Sache ist nur die«, ergänzte er mit heiserer Stimme, »daß die Wege schon in Ordnung sind, nur Atem hab ich zu wenig.«

Er hatte wirklich keinen Atem übrig, und ihn lachen zu sehen, war in der Tat angsterregend. Ich dankte für die angebotene Erfrischung und sagte, ich wollte, wenn er erlaube, warten, bis seine Tochter und sein Schwiegersohn zurückkehrten, und fragte, wie es der kleinen Emly ginge.

»Sehen Sie«, sagte Mr. Omer, nahm die Pfeife aus dem Mund und kratzte sich mit ihr am Kinn. »Ich will es Ihnen aufrichtig sagen, es soll mich freuen, wenn die Hochzeit vorbei ist.«

»Wieso?«

»Es ist jetzt so eine Sache mit ihr. Nicht, daß sie nicht mehr so hübsch wäre als früher; ich versichere Ihnen, sie ist sogar noch hübscher. Sie arbeitet auch grade soviel wie früher. Immer noch für sechs andere, aber es fehlt ihr so das rechte Herz« – Mr. Omer kratzte sich wieder das Kinn und rauchte ein wenig – »das ist es, was ich so im allgemeinen an Emly vermisse.«

Mr. Omers Mienenspiel und Gebärden waren so ausdrucksvoll, daß ich glaubte, seine Meinung erraten zu haben, und daher mit dem Kopfe nickte. Er schien sich zu freuen, daß ich ihn so rasch verstand, und fuhr fort:

»Meiner Ansicht nach kommt das daher, daß sie noch keinen rechten Halt hat. Wir haben oft darüber gesprochen, ihr Onkel und ich und ihr Bräutigam, nach der Arbeitszeit. Sie wissen ja«, sagte Mr. Omer und schüttelte ein wenig den Kopf, »daß sie ein außerordentlich zärtliches, kleines Wesen ist. Das Sprichwort sagt, aus einem Schweinsohr kann man keine seidne Börse machen. Nun, ich verstehe nichts davon. Ich glaube, es ginge doch, wenn man nur beizeiten anfinge. Das alte Boot war für sie ein Vaterhaus, Sir, das Marmor und Sandstein nicht hätten ersetzen können.«

»Sehr wahr«, sagte ich.

»Zu sehen, wie das kleine hübsche Ding sich täglich enger und enger an ihren Onkel anschließt, das ist ein Anblick, der was wert ist. Aber Sie wissen, wenn das der Fall ist, dann geht immer ein Kampf vor sich. Warum sollte er mehr verlängert werden, als nötig ist?«

Ich hörte aufmerksam dem guten Alten zu und stimmte seiner Ansicht von Herzen bei.

»Ich machte ihnen daher folgenden Vorschlag. Ich sagte: Emly ist doch nicht streng an die Lehrzeit gebunden. Ihr Dienst war für mich einträglicher, als ich anfangs gedacht, und sie hat schneller gelernt, als man voraussehen konnte. Die Firma Omer & Joram macht einen Strich durch den Rest der Lehrzeit, und sie ist frei, sobald ihr es wünscht. Wenn sie uns später damit entschädigen will, daß sie hie und da eine Kleinigkeit für uns zu Hause arbeitet, ist es uns recht. Paßt es ihr nicht, auch gut. Wir kommen so oder so nicht zu Schaden. Denn sehen Sie«, sagte Mr. Omer und berührte mich mit seiner Pfeife, »warum sollte ein Mann von so kurzem Atem wie ich und noch dazu ein Großvater es mit so einem blauäugigen Blümchen wie sie so genau nehmen.«

»Gewiß ja!«

»Gut. Also ihr Vetter – Sie wissen doch, sie soll ihren Vetter heiraten?«

»Jawohl«, erwiderte ich, »ich kenne ihn sehr gut.«

»Aber richtig, ja. Also ihr Vetter, der Arbeit in Fülle und ein reichliches Auskommen hat, dankte mir offen und herzlich und benahm sich dabei, muß ich schon sagen, auf eine Art, die mir eine hohe Meinung von ihm einflößt; und dann ging er fort und mietete ein so hübsches, kleines Häuschen, wie Sie oder ich uns nur wünschen könnten. Das Häuschen ist jetzt möbliert, so vollständig und hübsch wie eine Puppenstube, und wenn nicht die Verschlimmerung in Barkis‘ Krankheit dazwischen gekommen wäre, hätten sie jetzt schon Mann und Frau sein können. So aber ist es aufgeschoben worden.«

»Und Emly, Mr. Omer«, fragte ich, »ist sie ruhiger geworden?«

»Nun, sehen Sie«, er rieb sich wieder nachdenklich das Kinn, »das ließ sich nicht erwarten. Die Aussicht auf die Veränderung, die Trennung und alles das Übrige mußte auf sie einwirken. Barkis‘ Tod hätte die Angelegenheit nicht weit hinausgeschoben, wohl aber sein langes Siechtum. Jedenfalls ist es ein Zustand von Ungewißheit, verstehen Sie?«

»Jawohl.«

»Deshalb ist Emly immer noch ein bißchen niedergeschlagen und aufgeregt; eigentlich sogar noch mehr als früher. Von Tag zu Tag scheint sie mehr an ihrem Onkel zu hängen und sich schwerer von uns allen trennen zu können. Ein freundliches Wort von mir treibt ihr die Tränen in die Augen, und wenn Sie sähen, wie sie mit dem kleinen Mädchen meiner Minnie umgeht, würden Sie das nie vergessen. Du lieber Himmel! Wie sie das Kind liebt!«

Ich benützte die Gelegenheit und fragte Mr. Omer, ehe wir noch unterbrochen wurden, ob er etwas von Marta wisse.

»Ach«, erwiderte er und schüttelte mit bekümmertem Blick den Kopf, »nichts Gutes. Eine traurige Geschichte, Sir, von welcher Seite man sie auch immer ansieht. Ich hätte nie gedacht, daß in dem Mädchen etwas Schlimmes stäke. Ich möchte nichts darüber vor meiner Tochter erwähnen, – denn sie möchte mir gleich über den Mund fahren –, aber ich habe es nie geahnt. Keiner von uns hat es geahnt.«

Mr. Omer, der seine Tochter kommen hörte, bevor ich noch etwas merkte, berührte mich mit seiner Pfeife und kniff warnend ein Auge zu. Minnie und ihr Mann traten unmittelbar darauf herein.

Ihr Bericht lautete, daß es mit Mr. Barkis so schlimm stünde wie nur möglich. Er läge ohne Bewußtsein da, und Mr. Chillip habe beim Fortgehen in der Küche geäußert, daß keine Hilfe mehr sei.

Da ich zugleich erfuhr, daß Mr. Peggotty sich dort befinde, beschloß ich augenblicklich hinzugehen. Ich wünschte Mr. Omer und dem jungen Paar gute Nacht und lenkte meine Schritte zu Peggottys Haus, erfüllt von einer feierlichen Empfindung, die Mr. Barkis in meinen Augen zu einem neuen und ganz andern Wesen machte.

Mr. Peggotty war nicht so sehr überrascht, mich zu sehen, wie ich erwartet; und ich habe seitdem bei solchen Gelegenheiten immer wieder bemerkt, daß bei der Erwartung eines Todesfalls alle andern Veränderungen und Überraschungen zu einem Nichts zusammenschrumpfen.

Ich schüttelte ihm die Hand, wir traten in die Küche, und er schloß leise die Tür. Die kleine Emly saß vor dem Feuer, die Hände vor dem Gesicht. Ham stand neben ihr. Wir sprachen im Flüsterton und horchten auf jedes Geräusch im obern Zimmer.

»Das ist wieder einmal sehr freundlich von Ihnen, Masr Davy«, sagte Mr. Peggotty.

»Ungemein«, bestätigte Ham.

»Emly, mein Schatz! Schau her, Masr Davy ist doch gekommen. Kopf hoch, mein Kind! Hast du kein Wort für Masr Davy?«

Ich sehe noch, wie ein Schauder ihren Körper durchlief. Ich fühle noch die Kälte ihrer Hand. Sie ließ kein Zeichen von Freude sehen, sondern bebte vor mir zurück und glitt von dem Stuhl und schmiegte sich schweigend und zitternd an die Brust ihres Onkels.

»Sie hat so ein zärtliches Herz«, sagte Mr. Peggotty und strich ihr reiches Haar mit seiner großen harten Hand glatt, »daß sie solchen Kummer nicht tragen kann. Es ist bei jungen Menschen natürlich, Masr Davy. Ihnen sind solche Prüfungen noch neu, und sie sind furchtsam wie mein kleines Vögelchen hier.«

Sie drängte sich noch dichter an ihn, schlug aber weder die Augen auf noch sprach sie ein Wort.

»Es wird spät, liebes Kind«, sagte Mr. Peggotty, »und Ham ist schon da, um dich nach Haus zu bringen. Geh doch hin an sein zärtliches Herz! Nun, Emly? Nun, Kleine?«

Ich hörte sie nicht sprechen, aber er beugte sein Haupt herab, als ob er ihr zuhörte, und sagte dann:

»Du willst bei deinem Onkel bleiben? Was? Das kann doch dein Ernst nicht sein. Wenn dein Bräutigam dich nach Haus bringen will? Was werden die Leute sagen, wenn sie so ein lüttes Ding neben so einer alten Teerjacke wie ich bin sehen?« sagte Mr. Peggotty und blickte uns mit unendlichem Stolz an. »Das Meer hat nicht so viel Salz in sich, als sie in ihrem Herzen Liebe zu ihrem Onkel! Närrische, kleine Emly!«

»Emly hat ganz recht, Masr Davy«, sagte Ham. »Da sie es wünscht und so unruhig und aufgeregt ist, will ich sie bis morgen hierlassen. Ich will auch hierbleiben.«

»Nein, nein«, sagte Mr. Peggotty. »Das geht nicht. Ein verheirateter Mann, wie du bist – oder wie du beinah bist –, darf nicht ein ganzes Tagewerk versäumen, und du kannst nicht gleichzeitig wachen und arbeiten. Das geht nicht. Du gehst nach Hause und legst dich ins Bett. Du weißt, daß Emly in guter Hut ist!«

Ham gab nach und nahm seine Kappe. Selbst als er Emly küßte, und niemals sah ich ihn sich ihr nähern, ohne zu fühlen, daß ihm die Natur das Feingefühl eines vornehmen Menschen gegeben hatte, – schien sie sich dichter an ihren Onkel zu drängen, als wiche sie vor ihrem Bräutigam zurück. Ich machte die Tür hinter ihm leise zu, damit nichts die im Hause herrschende Stille stören möge, und als ich wieder in die Küche trat, sprach Mr. Peggotty immer noch mit ihr.

»Jetzt will ich hinaufgehen und deiner Tante sagen, daß Masr Davy hier ist, und das wird sie ein wenig trösten«, sagte er. »Setz dich dort ans Feuer, liebes Kind, und wärm dir die eiskalten Hände. Du darfst es nicht so schwer nehmen! Was, du willst mich begleiten? Also gut. Komm mit. Wenn ihr Onkel jetzt von Haus und Hof vertrieben würde und im Straßengraben schlafen müßte, Masr Davy«, sagte er mit demselben Stolz wie vorher, »ich glaube, sie würde nicht von ihm lassen. Aber bald wird sie einen andern haben, – einen andern, und bald, Emly!«

Als ich später die Treppe hinaufging und an der Tür meines kleinen, jetzt ganz finstern Zimmers vorbeikam, da machte es auf mich den unbestimmten Eindruck, als ob sie drin auf dem Fußboden läge. Aber es konnte ebensogut ein Phantasiegebilde gewesen sein, hervorgerufen durch die Dunkelheit.

Ehe Peggotty herunterkam, hatte ich Zeit, über die Todesfurcht der kleinen Emly nachzudenken, – ein Gefühl, dem ich mit Hinzurechnung dessen, was Mr. Omer mir erzählt, die große Veränderung in ihr zuschrieb, – und es blieb mir Muße genug, ihre Schwäche in milderm Licht zu sehen, während ich die tickenden Schläge der Uhr zählte und den feierlichen Eindruck der tiefen Stille ringsum immer deutlicher empfand.

Peggotty schloß mich in ihre Arme, segnete mich und dankte mir immer und immer wieder, daß ich ihr in ihrem Leid so viel Trost bringe. Dann bat sie mich heraufzukommen und sagte mir schluchzend, daß mich Mr. Barkis immer so gern gehabt und bewundert und oft von mir gesprochen habe, ehe er in seine Bewußtlosigkeit verfallen sei. Und daß ihn, wenn er wieder zu sich kommen sollte, mein Anblick aufhellen würde, wenn ihn überhaupt etwas Irdisches noch stärken könnte.

Die Wahrscheinlichkeit, daß dies geschehen werde, schien mir bei seinem Anblick sehr gering. Er lag mit dem Kopf und den Schultern außerhalb des Bettes sehr unbequem auf dem Koffer, der ihm schon so viel Schmerz und Unruhe verursacht. Ich erfuhr, daß er verlangt hätte, man möge den Koffer neben sein Bett stellen, wo er seitdem immerfort und Tag und Nacht den Arm um ihn gelegt hielt. Auch jetzt lag seine Hand darauf. Die Zeit und die Welt sollten bald für ihn entschwunden sein, aber der Koffer war noch da, und die letzten Worte, die er gesprochen hatte, waren: »Alte Kleider!« gewesen.

»Barkis, mein Herz!« sagte Peggotty fast heiter und beugte sich über ihren Gatten, während ihr Bruder und ich am Fuß des Bettes stehenblieben. »Hier ist mein lieber Junge, mein lieber Sohn Master Davy, der uns zusammengebracht hat, Barkis! Dem du immer Botschaften für mich gabst, weißt du noch? Willst du nicht mit Master Davy sprechen?«

Barkis war so stumm und empfindungslos wie sein Koffer, der seinem Gesicht noch den einzigen Ausdruck gab, den es hatte.

»Er löscht aus mit der Flut«, sagte Mr. Peggotty leise zu mir.

Meine Augen waren feucht wie die Mr. Peggottys, und ich wiederholte flüsternd: »Mit der Flut?«

»Die Leute hier an der Küste können nicht sterben, ehe die Flut nicht fast vorbei ist. Sie können nicht geboren werden, wenn sie nicht fast auf der Höhe ist. Er löscht aus mit der Flut. Um halb vier ist Ebbe, un denn bliewt sei stehen een half Stund lang. Wenn er leben bleibt, bis das Wasser wieder steigt, hält er aus, bis abermals die Flut vorbei ist.«

Wir wachten lange Zeit – viele Stunden – an dem Bett. Welch geheimnisvollen Einfluß meine Anwesenheit auf Mr. Barkis und seinen Zustand gehabt haben mochte, vermag ich nicht zu sagen, aber als er gegen Ende zu phantasieren anfing, murmelte er etwas wie, daß er mich in die Schule fahren müsse.

»Er kommt zu sich«, sagte Peggotty.

Mr. Peggotty berührte mich und flüsterte feierlich:

»Jetzt gehts schnell zu Ende.«

»Barkis, mein Lieber!«

»C. P. Barkis!« flüsterte der Sterbende mit schwacher Stimme, »es gibt kein besseres Weib auf Erden.«

»Schau, hier ist Master Davy«, sagte Peggotty, denn eben öffnete er die Augen.

Ich wollte ihn fragen, ob er mich noch kenne, als er versuchte, seinen Arm auszustrecken, und ganz deutlich und mit freundlichem Lächeln zu mir sagte:

»Barkis will.«

 

Es war Stauwasser, und er ging dahin, zugleich mit der Flut.

31. Kapitel Ein noch größerer Verlust


31. Kapitel Ein noch größerer Verlust

Auf Peggottys Bitte wurde mir der Entschluß nicht schwer zu bleiben, bis die irdischen Reste des armen Botenfuhrmanns ihre letzte Reise nach Blunderstone machten.

Schon seit langer, langer Zeit hatte Peggotty aus ihren Ersparnissen ein Grab auf dem alten Kirchhof neben dem ihres lieben, süßen Mädels, wie sie immer meine Mutter nannte, gekauft; und dort sollte er jetzt ruhen.

Ich leistete ihr Gesellschaft und tat, was ich konnte für sie. Es war wenig genug, und ich fürchte, ich empfand eine gewisse Befriedigung persönlicher und beruflicher Natur, daß ich mich erkenntlich erweisen konnte, indem ich Mr. Barkis‘ letzten Willen im Testament übernahm und seinen Inhalt erklärte.

Ich kann auf das Verdienst des Ratschlags Anspruch machen, es in dem Kasten gesucht zu haben. Man fand es endlich in einem Futtersack, worin sich außer einem Bündel Heu noch eine alte goldne Uhr mit Kette und Petschaft, die Mr. Barkis an seinem Hochzeitstag getragen hatte und seitdem niemals wieder, ein silberner Pfeifenklopfer in Gestalt eines Beines, eine künstliche Zitrone voll winziger Tassen, die er wahrscheinlich gekauft, um sie mir zu schenken, von der er sich aber nicht hatte trennen können, dann 87½ Guineen in Gold und ganz neuen Banknoten, mehrere Aktien der englischen Bank, ein altes Hufeisen, ein falscher Schilling, ein Stück Kampfer und eine Austernschale befanden. Aus dem Umstand, daß sie poliert war und inwendig in Regenbogenfarben spielte, vermute ich, daß Mr. Barkis irgendeinen unklaren Begriff von Perlen gehabt haben mußte.

Durch viele Jahre hatte Mr. Barkis auf allen seinen Fahrten diesen Koffer mit sich geführt. Damit es weniger auffallen sollte, hatte er eine Fabel erdacht, nach der alles einem gewissen Mr. Blackboy gehörte und bei Barkis nur deponiert sei. Diese Legende stand in jetzt kaum mehr leserlichen Buchstaben auf dem Deckel geschrieben.

Alles hatte er im Lauf der Jahre zusammengescharrt; seine Hinterlassenschaft in Geld betrug fast 3000 £. Davon vermachte er die Zinsen von einem Tausend Mr. Peggotty für Lebenszeit; bei seinem Tode sollte das Kapital unter Peggotty, der kleinen Emly und mir oder unsern Erben verteilt werden. Alles übrige vermachte er seiner Witwe, die er auch zur einzigen Vollstreckerin seines letzten Willens ernannte.

Ich fühlte mich ordentlich als Proktor, als ich das Dokument feierlich laut vorlas und die einzelnen Bestimmungen, wer weiß wie viele Mal, den Beteiligten auseinandersetzte. Ich fing an zu denken, daß doch mehr an den Commons sei, als ich mir gedacht hatte. Ich prüfte das Testament mit der größten Aufmerksamkeit, erkannte seine vollkommene formelle Richtigkeit an, machte ein paar Bleistiftnotizen an den Rand und wunderte mich innerlich, daß ich so viel von der Sache verstand.

Darüber und mit der Aufnahme einer genauen Aufstellung der Hinterlassenschaft und mit Raterteilen über alle möglichen Punkte, wegen deren sich Peggotty an mich wendete, verging die Woche vor dem Leichenbegängnis. Ich bekam Emly nicht zu Gesicht, erfuhr aber, daß sie in vierzehn Tagen in aller Stille getraut werden sollte.

Bei dem Begräbnis war ich sozusagen nicht von Amts wegen zugegen, das heißt, ich hatte keinen schwarzen Vogelscheuchenmantel mit Schleifen an, sondern ging ganz früh nach Blunderstone hinüber und wartete auf dem Friedhof, nur von Peggotty und ihrem Bruder begleitet, bis der Leichenwagen kam.

Der verrückte Herr sah aus meinem kleinen Fenster zu. Mr. Chillips‘ Baby wackelte über der Schulter seiner Amme mit seinem schweren Kopf und stierte mit seinen großen Augen den Geistlichen an, – Mr. Omer keuchte im Hintergrund; sonst war niemand da und alles sehr still.

Wir gingen nach dem Begräbnis noch eine Stunde auf dem Kirchhof auf und ab und nahmen uns von dem Baum über dem Grab meiner Mutter ein paar grüne Blätter zum Andenken mit. – Ein Bangen befällt mich. Eine Wolke schwebt über der fernen Stadt, der ich jetzt meine einsamen Schritte zuwende. Immer mehr Angst empfinde ich, je näher ich komme. Kaum kann ich mich überwinden, wieder daran zu denken, was dann geschah.

Es wird nicht schlimmer, weil ich es niederschreiben muß. Es würde nicht besser, wenn ich es verschwiege. Es ist geschehen. Niemand kann es ungeschehen machen. Niemand kann es ändern. Meine alte Kindsfrau sollte mit mir wegen des Testaments am nächsten Tag nach London fahren. Die kleine Emly blieb den ganzen Tag über bei Mr. Omer. Am Abend sollten wir uns alle in dem alten Boot treffen. Ham wollte sie zur gewöhnlichen Stunde nach Hause bringen. Ich versprach auch dort zu sein, und Mr. Peggotty und seine Schwester wollten uns am Abend bei sich erwarten.

Ich nahm Abschied von allen am Zauntor an der Straße und ging, anstatt unmittelbar umzukehren, in der Richtung nach Lowestoft ein Stück spazieren. Dann kehrte ich um und schlug wieder den Weg nach Yarmouth ein. In einem reinlichen Bierhause kehrte ich zu Mittag ein, und so verging der Tag, und es wurde Abend, als ich die Stadt erreichte. Es stürmte und regnete, aber hinter den Wolken schien der Vollmond hervor, und es war nicht allzu finster.

Bald erblickte ich Mr. Peggottys Haus, und das Licht glänzte durch die Fenster. Ein kurzes, aber mühsames Waten durch den tiefen Sand brachte mich an die Tür, und ich trat ein.

Es sah recht behaglich drin aus. Mr. Peggotty hatte seine Abendpfeife geraucht, und es waren bereits einige Vorbereitungen zum Abendessen getroffen. Das Feuer brannte hell, und der Kasten wartete auf Emly auf seinem alten Platz. Auch Peggotty saß in ihrem gewohnten Stuhl und sah aus, wenn ihre Trauerkleider nicht gewesen wären, als ob sie ihn nie verlassen hätte. Das Arbeitskästchen mit der St.-Pauls-Kirche auf dem Deckel, das Ellenmaß und das Stückchen Wachslicht lagen neben ihr wie früher. Mrs. Gummidge schien in ihrer alten Ecke wieder ein wenig grämlich zu sein, sah aber sonst ganz harmlos drein.

»Sej sün der erst an Bord, Masr Davy«, sagte Mr. Peggotty mit glücklichem Gesicht. »Behalten Sie den Rock nicht an, wenn er naß ist, Sir.«

»Ich danke Ihnen, Mr. Peggotty«, sagte ich und gab ihm meinen Überzieher zum Aufhängen. »Er ist ganz trocken.«

»Stimmt«, sagte Mr. Peggotty und befühlte meine Schultern.

»Trocken wie ein Tisch! Setzen Sie sich nieder, Sir! Wir brauchen zu Ihnen nicht Willkommen zu sagen, denn Sie sind ja immer von Herzen willkommen.«

»Ich danke Ihnen, Mr. Peggotty. Das weiß ich.«

»Nun, Peggotty?« und ich gab ihr einen Kuß, »wie geht es dir, Alte?«

»Haha«, lachte Mr. Peggotty, setzte sich neben uns und rieb sich mit der ganzen Gemütlichkeit seines Naturells behäbig die Hände. »Keine Frau auf der ganzen Welt, wie ich ihr immer sage, kann sich leichter ums Herz fühlen als sie. Sei hett ehr Flicht gegen den Seligen dohn; und der Selige wußte es; und der Selige hett sien Schuldichkeit gegen sie dohn, wie sie ehr Schuldichkeit gegen ihn; und – und – und – s ist allens in Ordnung.«

Mrs. Gummidge seufzte tief auf.

»Frisch und munter, Mutting!« sagte Mr. Peggotty, nickte uns aber heimlich zu, offenbar fühlend, daß die letzten Ereignisse besonders geeignet waren, die Erinnerung an den »Alten« aufzufrischen. »Loot den Kopp nöch häng. Frisch um deiner selbst willen! Auf! Nur ein ganz klein wenig! Das übrige kommt denn schon von selbst.«

»Bei mir nicht, Danl«, erwiderte Mrs. Gummidge. »Bei mir kommt nichts von selbst, als daß ich einsam und verlassen bin.«

»Nun, nun«, beschwichtigte Mr. Peggotty.

»Ja, ja, Danl. Eine Person wie ich paßt nicht unter Leute, die Geld geerbt haben. Mir geht alles die Quere. Besser, man wäre mich los.«

»Na, wie sollte ich denn das Geld ohne dich ausgeben? Was sprichst du nur wieder! Brauche ich dich jetzt nicht notwendiger als früher?«

»Ich wußte doch, daß man mich früher nicht brauchte«, jammerte Mrs. Gummidge mit weinerlicher Stimme, »und jetzt sagst du es mir geradeheraus. Wie konnte ich es auch erwarten, da ich so einsam und verlassen bin und mir alles so die Quere geht!«

Mr. Peggotty war ordentlich entrüstet über sich, daß er etwas gesagt hatte, was so gefühllos ausgelegt werden konnte, antwortete aber nichts, weil seine Schwester ihn am Ärmel zupfte und den Kopf schüttelte. Nachdem er einige Augenblicke lang Mrs. Gummidge in tiefer Bekümmernis angesehen, warf er einen Blick auf die Wanduhr, stand auf, putzte das Licht und stellte es ins Fenster.

»Na also«, sagte er heiter. »So weit wären wir, Mrs. Gummidge!« Mrs. Gummidge ließ einen leisen Seufzer hören. »Illuminiert, wies Sitte ist. Sie möchten wohl wissen, wozu das ist, Sir? Ja, sehen Sie, das ist für die kleine Emly. Sie wissen, der Weg ist nicht allzu hell oder angenehm nach Dunkelwerden, und wenn ich um die Zeit, wo sie heimkommt, hier bin, stell ich das Licht ins Fenster. Und damit wird zweierlei erreicht«, sagte er und beugte sich mit großer Fröhlichkeit zu mir herunter. »Erstens sagt es Emly, dort ist das Haus, und dann: der Onkel ist da! Denn wenn ich nicht daheim bin, wird kein Licht ins Fenster gestellt.«

»Du bist wie ein kleines Kind«, sagte Peggotty mit unverhohlener Zärtlichkeit.

»Mag wohl sein, aber dem Ansehn nach freilich nicht – freilich dem Äußeren nach nicht«, lachte Mr. Peggotty, »aber sonst so, was? Na, mir kanns gleich sein. Ich will euch mal was sagen. Wenn ich mir das hübsche, kleine Haus unserer Emly ansehe, da kommts mir vor, als ob auch die kleinsten Dinger so zart wie sie selber wären. Ich nehme sie in die Hand und lege sie wieder hin und fasse sie so zärtlich an, als wären sie Emly selber. Ich litte nicht, daß auch nur ein einziges hart angefaßt würde. Um die ganze Welt nicht. Da habt Ihr ein kleines Kind in Gestalt eines großen Seeigels«, sagte Mr. Peggotty und brach in ein lautes Gelächter aus.

Peggotty und ich lachten auch, nur nicht so laut.

»Ich glaube«, fuhr Mr. Peggotty mit fröhlichem Gesicht fort und schlug sich auf die Schenkel, »daß ich zu viel mit ihr gespielt habe, Löwe und Walfisch und was sonst noch, als sie nicht höher war als mein Knie. – Und dort werde ich das Licht auch hinstellen, wenn sie verheiratet und nicht mehr hier ist. Wo sollte ich sonst wohnen als hier? Und wenn ich noch so reich würde. Und ist sie nicht mehr da, so stell ich doch das Licht ins Fenster und tue, als ob ich auf sie wartete wie jetzt. Da habt Ihr wieder das kleine Kind in Gestalt eines ungeheuern Seeigels! Und selbst jetzt, wo ich das Licht aufflackern sehe, sage ich zu mir, Emly kommt. Aber damit hab ich ja recht«, sagte Mr. Peggotty, indem er sein Lachen unterbrach und in die Hände klatschte, »denn da ist sie.«

Es war bloß Ham.

Das Wetter mußte wohl regnerischer geworden sein als vorhin, denn er hatte seinen großen Südwester tief ins Gesicht gezogen.

»Wo ist Emly?« fragte Mr. Peggotty.

Ham machte eine Bewegung mit dem Kopf, als ob sie draußen stünde.

Mr. Peggotty nahm das Licht aus dem Fenster, putzte es und stellte es auf den Tisch und ging an das Feuer, um es zu schüren, als Ham, der regungslos dagestanden, zu mir sagte:

»Masr Davy, wollen Sie eine Minute herauskommen und sehen, was Emly und ich mitgebracht haben?«

Wir gingen hinaus.

Als ich an der Tür an ihm vorbeiging, sah ich zu meinem Staunen und Schrecken, daß er totenbleich war. Er schob mich hastig hinaus ins Freie und machte die Tür schnell hinter uns beiden zu.

»Ham, was ist geschehen?«

»Masr Davy! –«

Es war, als ob ihm das Herz brechen sollte, so schrecklich weinte er.

Ich war ganz gelähmt beim Anblick solchen Grames. Ich weiß nicht, was ich dachte oder befürchtete, ich konnte ihn nur ansehen.

»Ham, mein armer, guter Junge, um Gotteswillen, was ist denn geschehen?«

»Meine Liebe, Masr Davy, – der Stolz und die Hoffnung meines Herzens – sie, für die ich gestorben wäre – und jetzt noch sterben würde, – sie ist fort.«

»Fort!«

»Emly ist geflohen! Ach, Masr Davy, bedenken Sie, unter welchen Umständen sie geflohen sein muß, wenn ich meinen barmherzigen Gott bitte, sie lieber zu töten – sie, die ich so über alles liebe –, als sie in Schmach und Schande zu lassen.«

Sein zum stürmischen Himmel erhobenes Gesicht, seine zitternden verkrampften Hände, der wilde Schmerz in seinem ganzen Wesen bleiben bis zu dieser Stunde in meiner Erinnerung unzertrennlich mit dieser einsamen öden Düne verbunden. Es ist dort immer Nacht für mich und er das einzig Lebendige in der ganzen Szene.

»Sie sind ein Gelehrter«, sagte er hastig, »und wissen, was recht und gut ist. Was soll ich drin sagen? Wie soll ichs ihm beibringen, Masr Davy?«

Ich sah die Tür aufgehen und versuchte instinktiv, die Klinke außen festzuhalten, um einen Augenblick Zeit zu gewinnen. Es war zu spät. Mr. Peggotty steckte den Kopf heraus, und nie werde ich die Veränderung in seinem Gesicht vergessen, als er uns erblickte.

Ich erinnere mich an ein großes Wehklagen und Weinen, als die Frauen an ihm hingen und wir alle im Zimmer standen, ich mit einem Papier in der Hand, das Ham mir gegeben hatte, Mr. Peggotty mit aufgerissener Jacke, zerrauftem Haar, Gesicht und Lippen kalkweiß und Blutstropfen auf seiner Brust, die aus seinem Munde gekommen waren, und starr den Blick auf mich geheftet.

»Lesen Sie, Sir«, sagte er mit leiser, bebender Stimme, »aber langsam, ich weiß nicht, ob ich es sonst verstehen würde.«

Inmitten eines Todesschweigens las ich aus einem tränenbefleckten Brief:

»Wenn Du, der Du mich viel mehr liebst, als ich jemals verdient habe, selbst als ich noch unschuldigen Herzens war, dies liest, werde ich weit weg von Euch sein –«

»Werde ich weit weg von euch sein«, wiederholte Mr. Peggotty langsam. »Halt! Emly weit weg. Gut!«

»– wenn ich diesen Morgen das geliebte Vaterhaus – mein liebes, liebes Heim verlassen habe –«

Der Brief war vom Abend vorher datiert.

»– so werde ich nie wieder zurückkehren, wenn er mich nicht als seine Frau zurückbringt. Viele Stunden später wirst Du dies anstatt meiner finden. O, wenn Du wüßtest, wie sehr zerrissen mein Herz ist. Wenn Du, dem ich so wehe getan habe, daß Du es mir nie verzeihen kannst, wissen könntest, was ich leide. Ich bin zu schlecht, um von mir selbst zu schreiben. Laß es Dir ein Trost sein, daß ich so schlecht bin. Um der himmlischen Barmherzigkeit willen, sage dem Onkel, daß ich ihn nie auch nur halb so geliebt habe wie jetzt. O denk nicht dran, wie zärtlich und gütig Du gegen mich gewesen bist! – vergiß, daß wir uns jemals heiraten sollten, – versuche zu glauben, ich sei als kleines Kind gestorben und läge irgendwo begraben. Bitte den Himmel, daß er Erbarmen habe mit meinem Onkel. Sag ihm, daß ich ihn nie auch nur halb so geliebt habe wie jetzt. Sei ihm eine Stütze. Liebe ein braves Mädchen, das meinem Onkel das sein kann, was ich ihm einmal war, ein Mädchen, das Dir treu ist und Deiner wert. Gott segne Euch Alle. Ich werde oft auf meinen Knien für Alle beten. Wenn er mich nicht als seine Frau zurückbringt und ich nicht mehr für mich selbst beten kann, so will ich doch für Euch Alle beten. Noch einmal dem Onkel einen letzten Liebesgruß, meine letzten Tränen und meinen letzten Dank!«

Das war alles. Lange noch, nachdem ich aufgehört zu lesen, starrte mich Mr. Peggotty an. Endlich wagte ich seine Hand zu ergreifen und ihn zu bitten, so gut ich konnte, sich zu fassen. Er antwortete:

»Ich danke, ich danke«, aber er rührte sich nicht.

Ham redete ihn an. Mr. Peggotty begriff den Schmerz seines Neffen so weit, daß er ihm die Hand drückte, aber er blieb stehen wie früher, und keiner wagte, ihn zu stören.

Langsam ließen seine Augen von mir ab, wie wenn er aus einer Vision erwachte, und blickte um sich. Dann sagte er mit leiser Stimme:

»Wer ist es? Ich will seinen Namen wissen.«

Ham sah mich an und plötzlich durchfuhr es mich wie ein elektrischer Schlag.

»Wer steht im Verdacht?« sagte Mr. Peggotty. »Wer ist es?«

»Master Davy«, flehte Ham, »gehen Sie einen Augenblick hinaus, damit ich ihm sagen kann, was ich muß. Sie dürfen es nicht hören, Sir!«

Wieder durchzuckte es mich wie vorhin. Ich sank in einen Stuhl und versuchte etwas zu stammeln, aber meine Zunge war wie gelähmt, und vor meinen Augen wurde es dunkel.

»Ich will seinen Namen wissen«, hörte ich wieder sagen.

»Vor einiger Zeit hielt sich manchmal ein Bedienter hier auf«, stammelte Ham, »auch ein Herr war dabei. Beide gehörten zusammen.« Mr. Peggotty stand so starr wie vorhin und sah jetzt Ham an.

»Den Bedienten hat man gestern mit – unserm armen Mädchen gesehen. Er hat diese Woche und länger hier herumgelauert. Man sagte, er sei fort. Aber er hielt sich nur versteckt. Gehen Sie hinaus, Masr Davy! Bitte, gehen Sie hinaus.«

Ich fühlte, wie Peggottys Arm sich um meinen Hals legte, aber ich hätte nicht von der Stelle gehen können, und wenn das Haus über mir zusammengestürzt wäre.

»Ein fremder Wagen mit Pferden stand heut früh vor Tagesanbruch auf der Straße nach Norwich«, erzählte Ham weiter. »Der Bediente ging zu dem Wagen und kam zurück und ging wieder hin. Als er zuletzt hinging, war Emly bei ihm. Der andere saß drin. Er ist der Mann.«

»Um Gottes willen«, sagte Mr. Peggotty, taumelte zurück und streckte die Hand aus, als ob er etwas Fürchterliches abwehren wollte. »Sag nicht, daß es Steerforth ist.«

»Masr Davy!« rief Ham mit gebrochener Stimme aus. »Sie können nichts dafür, und ich gebe Ihnen gewiß nicht die Schuld, – aber er heißt Steerforth und ist ein gottverfluchter Schurke.«

Kein Laut und keine Träne und keine Bewegung verrieten Mr. Peggottys Schmerz, bis er plötzlich wieder aufzuwachen schien und seinen zottigen Rock von dem Nagel in der Ecke herabnahm.

»So helft mir doch. Ich bin wie auf den Kopf geschlagen und kann nicht damit zurechtkommen«, sagte er ungeduldig. »Kommt her und helft mir doch. Gut! Jetzt gebt mir den Hut her!«

Ham fragte ihn, wohin er gehen wollte.

»Ich will meine Nichte suchen! Ich will meine Emly suchen! Zuerst will ich dem Boot die Planken einschlagen und es versenken, wo ich ihn ersäuft hätte, so wahr ich lebe, wenn mir nur ein Gedanke von Verdacht gekommen wäre. Wie er so vor mir saß«, sagte er wild und streckte die Hand geballt vor sich aus, »wie er so vor mir saß, so wahr ich lebe, ich hätte ihn ersäuft und hätte es für recht gehalten! … Ich will meine Nichte suchen!«

»Wo?« schrie Ham und stellte sich vor die Tür.

»Überall! Ich will meine Nichte suchen durch die ganze Welt! Ich will meine arme Nichte aufsuchen in ihrer Schande und sie zurückbringen. Keiner soll mich aufhalten. Ich sage dir, ich will meine Nichte suchen!«

»Nein, nein, nein!« rief Mrs. Gummidge und trat in hellen Tränen dazwischen. »Nein, nein, nein, Daniel, nicht in deinem jetzigen Zustand! Such sie nach einer kleinen Weile, mein armer verlassener Dan, und dann wird es gut sein, aber nicht jetzt in solcher Verfassung! Setz dich nieder und verzeih mir, daß ich dir immer eine solche Plage gewesen bin! – Daniel, was sind meine kleinen Unannehmlichkeiten gewesen gegen dein Leid! Laß uns ein Wort sprechen über die Zeiten, wo sie eine Waise und Ham eine Waise waren und ich eine arme Wittfrau, als du uns aufnahmst. Es wird deinem gequälten Herzen wohltun. Daniel«, sagte sie und legte ihren Kopf an Mr. Peggottys Schulter, »der Schmerz wird dir leichter werden, wenn du an die Verheißung denkst, Dan:

Was ihr dem Geringsten der meinigen getan, das habt ihr mir getan! Und das muß immer wahr bleiben unter diesem Dach, das uns so viele, viele Jahre Schutz gewährt hat.«

Mr. Peggotty war ganz widerstandslos geworden, und als ich ihn weinen hörte, da wich der Drang, vor ihm auf den Knien Steerforth zu verfluchen, einem bessern Gefühl. Mein gequältes Herz fand Erleichterung wie seines, und auch ich weinte.