7. Kapitel Mein erstes Semester in Salemhaus


7. Kapitel Mein erstes Semester in Salemhaus

Die Schule fing am nächsten Morgen allen Ernstes an. Es machte einen tiefen Eindruck auf mich, wie der laute Lärm in der Klasse plötzlich zur Totenstille wurde, als Mr. Creakle nach dem Frühstück eintrat, in der Türe stehen blieb und sich umsah, wie der Riese im Märchenbuch, wenn er seine Gefangenen betrachtet.

Tongay stand dicht neben Mr. Creakle. Ich dachte mir, er hat doch gar keine Ursache, so grimmig »Ruhe« zu rufen. Alle Schüler saßen sowieso stumm und regungslos da.

Jetzt sah man Mr. Creakle sprechen, und Tongay wiederholte laut seine Worte.

»Also, ihr Jungen, es ist ein neues Semester angegangen. Nehmt euch in acht in diesem neuen Semester. Seid bei der Hand bei euern Aufgaben, rat ich euch, denn ich werde rasch bei der Hand mit den Strafen sein. Ich werde nicht nachgeben. Es wird euch nichts nützen, wenn ihr euch reibt. Ihr werdet die Striemen nicht wegreiben, die ich euch versetzen werde. Jetzt macht euch an die Arbeit, jeder einzelne.«

Als diese schreckliche Eingangsrede vorüber und Tongay wieder hinausgehumpelt war, kam Mr. Creakle an meine Bank und sagte mir, daß, wenn ich auch gut beißen könnte, er darin noch viel berühmter sei. Er zeigte mir dabei das spanische Rohr und fragte mich, was das wohl für ein Zahn wäre. »Ist es ein scharfer Zahn, he? Ist es ein Doppelzahn, he? Hat er eine gute Schneide, he? Beißt er, he? Beißt er wirklich?« Bei jeder dieser Fragen versetzte er mir einen Hieb, daß ich mich wand und bald in Salemhaus mündig gesprochen war, wie Steerforth es nannte, und auch sehr bald in Tränen schwamm.

Nicht etwa, daß diese Behandlung eine besondere Auszeichnung bedeutet hätte. Im Gegenteil. Bei der großen Mehrzahl der Knaben, besonders bei den Kleinen, machte sich Mr. Creakle auf dieselbe Art bemerkbar, wenn er die Runde im Zimmer machte.

Die halbe Klasse weinte und krümmte sich vor Schmerzen, ehe das Tagewerk begann. Wieviel Unglückliche noch dazu kamen, bevor die Stunde zu Ende ging, getraue ich mich gar nicht anzugeben, um nicht der Übertreibung beschuldigt zu werden.

Ich glaube, es kann nie einen Menschen gegeben haben, den sein Beruf mehr freute, als Mr. Creakle. Seine Wonne, die Jungen schlagen zu können, kam der Befriedigung nagenden Hungers gleich. Ich bin fest überzeugt, da er sich pausbäckigen Jungen gegenüber nicht halten konnte, daß darin für ihn etwas von starker Anziehungskraft lag und ihm keine Ruhe ließ, bis er nicht den Betreffenden für den Tag gezeichnet hatte. Ich war selbst pausbäckig und muß es wissen. Wenn ich jetzt an diesen Menschen denke, wallt mein Blut, und alles empört mich um so mehr, weil ich jetzt weiß, daß er noch dazu ein unfähiger Schuft war und kein größeres Recht auf den Vertrauensposten, den er bekleidete, hatte, als auf den Posten eines ersten Admirals oder eines Feldmarschalls. Nur hätte er dort wahrscheinlich weniger Unheil angerichtet.

Wie demütig wir elenden kleinen Hasenfüße gegen ihn, diesen erbarmungslosen Götzen, waren! In welchem Licht erscheint mir jetzt dieser Stapellauf ins Leben angesichts solcher Demut und Untertänigkeit vor einem Mann von solchem Unwert!

Hier sitze ich wieder auf der Bank und beobachte sein Auge; – voll Unterwürfigkeit beobachte ich ihn, wie er ein Rechenbuch für ein anderes Opfer liniert, das mit dem Lineal eben eins auf die Hand bekommen hat und die Schwiele mit dem Taschentuch reibt. Ich hätte vollauf zu tun. Ich beobachte sein Auge jedoch nicht, weil ich müßig bin, sondern weil es mich unnatürlich anzieht, – mich mit dem schrecklichen Wunsch erfüllt, zu erraten, was er in der nächsten Minute tun wird. Ob er wohl über mich herfallen wird oder über einen andern?

Eine Reihe kleiner Jungen hinter mir beobachtet ihn mit demselben Interesse. Ich glaube, er weiß es und verstellt sich nur. Er schneidet furchtbare Grimassen, während er das Rechenbuch liniert. Und jetzt wirft er einen Seitenblick auf uns, und wir alle lassen den Blick auf die Bücher sinken und fangen an zu zittern. Einen Augenblick später starren wir ihn schon wieder an. Ein Unglücklicher, der seine Aufgabe schlecht gemacht hat, wird herausgerufen. Er stammelt Entschuldigungen und verspricht, es morgen besser zu machen. Mr. Creakle reißt einen Witz, ehe er ihn prügelt, und wir lachen darüber. Wir elenden, kleinen Hunde lachen darüber, mit aschfahlen Gesichtern und Herzen, die uns in die Hosen gefallen sind.

Hier sitze ich wieder in der Bank an einem schläfrigen Sommernachmittag. Ein Surren und Summen rings um mich her, als seien die Jungen lauter große Fliegen. Ein dumpfer Druck lastet nach dem lauen, fetten Mittagessen auf mir, und mein Kopf ist so schwer wie Blei. Ich würde eine Welt darum geben, wenn ich schlafen dürfte. Mein Auge ist auf Mr. Creakle gerichtet, und ich blinzle ihn an wie eine junge Eule; der Schlaf überwältigt mich eine Minute, er verschwimmt vor meinen Augen, wie er die Rechenhefte liniert –; leise schleicht er sich hinter mich, und ich erwache mit einem roten Striemen auf dem Rücken wieder zu klarer Wahrnehmung.

Dann bin ich auf dem Spielplatz, wo mein Auge immer noch von ihm gebannt ist, obgleich ich ihn nicht sehen kann. Das Fenster nicht weit von dem Orte, wo er zu Mittag ißt, vertritt ihn, und ich beobachte es immer an seiner Statt. Wenn sein Gesicht dahinter erscheint, nimmt das meine einen flehentlichen und unterwürfigen Ausdruck an. Wenn er durch die Scheiben heruntersieht, bricht auch der Verwegenste nur Steerforth ausgenommen – mitten in einem Ruf oder Schrei ab und wird nachdenklich. Einmal wirft Traddles, der größte Pechvogel von der Welt, zufällig das Fenster mit einem Ball ein. Noch jetzt überläuft es mich eiskalt, wie ich es geschehen sehe, und begreife, daß der Ball Mr. Creakles geheiligtes Haupt getroffen hat.

Armer Traddles! In seinem engen, himmelblauen Anzug, der seine Arme und Beine wie Würste oder Teigrollen erscheinen ließ, war er der lustigste und zugleich unglücklichste unter den Schülern. Er wurde immer mit dem spanischen Rohr gehauen, ich glaube, jeden Tag im ganzen Semester, mit Ausnahme eines Montags, wo er nur mit dem Lineal eines über beide Hände bekam. Und immer stand er im Begriff, deshalb an seinen Onkel zu schreiben, und immer unterließ er es wieder. Wenn er den Kopf eine Weile auf das Pult gelegt hatte, wurde er wieder lustig, fing an zu lachen und zeichnete auf seine Schiefertafel Gerippe, ehe noch seine Augen ganz trocken waren. Ich konnte mir lange Zeit nicht erklären, welchen Trost Traddles im Zeichnen dieser Gerippe finden mochte, und sah in ihm eine Art Einsiedler, der sich durch solche Symbole der Sterblichkeit vor Augen halten will, daß auch Prügel nicht ewig dauern können. Aber jetzt glaube ich, er zeichnete sie nur, weil sie so leicht waren und er ihnen keine Gesichter zu machen brauchte.

Traddles war sehr ehrenhaft und betrachtete es als eine heilige Pflicht der Schüler, einander beizustehen. Er hatte oft darunter zu leiden und besonders einmal, als Steerforth während des Gottesdienstes gelacht hatte, und der Kirchendiener glaubte, es wäre Traddles gewesen, und diesen hinausführte. Ich sehe ihn jetzt noch vor mir, wie er von dem Diener gepackt hinausging, verabscheut von der ganzen Gemeinde. Er verriet nie den eigentlichen Täter, obgleich er den ganzen nächsten Tag dafür büßen mußte und so lange eingesperrt war, daß er einen ganzen Kirchhof voll Gerippen in seinem lateinischen Wörterbuch mit herausbrachte.

Dann bekam er aber auch seinen Lohn. Steerforth nämlich sagte, in Traddles sei auch keine Spur von einem Mucker, und wir alle fühlten, daß das das höchste Lob bedeutete, das es geben konnte. Ich für meinen Teil hätte viel erdulden mögen, um solchen Lohn zu verdienen, obgleich ich lange nicht so tapfer war wie Traddles und nicht annähernd so alt.

Steerforth Arm in Arm mit Miss Creakle in die Kirche gehen zu sehen, war für mich ein überwältigender Anblick. Ich konnte Miss Creakle der kleinen Emly hinsichtlich Schönheit nicht an die Seite stellen – ich liebte sie nicht – ich wagte es nicht –, aber sie erschien mir als eine junge Dame von ungewöhnlichen Reizen und von unübertrefflicher Eleganz. Wenn Steerforth in weißen Hosen ihr den Sonnenschirm trug, war ich stolz, ihn zu kennen, und glaubte, daß sie nicht anders konnte, als ihn von ganzem Herzen anzubeten. Mr. Sharp und Mr. Mell waren wohl in meinen Augen alle beide sehr beachtenswerte Persönlichkeiten, aber gegen Steerforth verbleichten sie wie Sterne gegenüber der Sonne.

Steerforth blieb mein Beschützer und erwies sich mir als ein sehr nützlicher Freund, da niemand einem Knaben, der in seiner Gunst stand, etwas zu tun wagte. Er konnte mich gegen Mr. Creakle nicht schützen, oder wenigstens tat er es nicht, aber wenn mich Mr. Creakle noch härter als gewöhnlich gestraft hatte, sagte er mir stets, es fehlte mir ein wenig von seinem Mute, und daß er an meiner Stelle es sich nicht hätte gefallen lassen. Damit wollte er mich trösten, und ich fand das sehr freundlich von ihm.

Einen einzigen Vorteil nur hatte Mr. Creakles Strenge: Das Plakat auf meinem Rücken war ihm im Wege, wenn er mir im Vorbeigehen eins versetzen wollte. Aus diesem Grunde wurde es entfernt, und ich sah es nie wieder.

Ein Zufall befestigte das vertrauliche Verhältnis zwischen Steerforth und mir in einer Weise, die mich mit Befriedigung und Stolz erfüllte, wenn es auch mancherlei Beschwerlichkeit mit sich brachte. Als er mir nämlich einmal die Ehre erwies, auf dem Spielplatz mit mir zu sprechen, geschah es, daß ich die Bemerkung wagte, irgend jemand oder etwas passe auf »Peregrine Pickle«. Er sagte nichts; aber als wir zu Bett gingen, fragte er mich, ob ich das Buch besäße. Ich sagte nein und erzählte ihm, wieso ich es gelesen, und erwähnte auch die andern Bücher.

»Und erinnerst du dich noch auf alles?« fragte Steerforth.

»O ja«, gab ich zur Antwort. Ich hätte ein gutes Gedächtnis und glaubte, noch alles fast auswendig zu wissen.

»Ich will dir etwas sagen, kleiner Copperfield«, meinte Steerforth daraufhin, »du kannst sie mir erzählen. Ich mag abends sowieso nicht so bald zu Bett gehen und wache gewöhnlich zu früh auf. Wir wollen sie alle nacheinander durchgehen. Wir werden regelmäßige arabische Nächte einführen.«

Ich fühlte mich außerordentlich geschmeichelt, und wir fingen noch am selben Abend an. Welche Sünden ich im Verlauf meiner Erzählungen an meinen Lieblingsdichtern beging, weiß ich nicht mehr, aber ich hatte einen unerschütterlichen Glauben an sie und eine einfache Art, zu erzählen, und damit kamen wir recht weit. Die Kehrseite der Medaille war nur, daß ich mich abends oft schläfrig oder verstimmt oder nicht aufgelegt fühlte, die Geschichte fortzusetzen, und dann kostete es ein schweres Stück Arbeit. Aber es mußte geschehen.

Steerforths Erwartung zu täuschen oder ihm die Freude zu verderben, ging natürlich nicht an. Auch früh, wenn ich gern noch eine Stunde geschlummert hätte, war es recht fad, wie die Sultanin Scheherazade aufgeweckt und zum Erzählen einer langen Geschichte gezwungen zu werden, ehe die große Schulglocke läutete. Aber Steerforth bestand darauf, und da er mir dafür bei meinen Rechenaufgaben und Aufsätzen half, wenn sie zu schwer waren, verlor ich nichts bei dem Geschäft. Ich muß gerecht sein, es bewegte mich kein selbstsüchtiges Motiv und auch nicht Furcht vor ihm. Ich bewunderte und liebte ihn; sein Beifall war mir genug.

Steerforth konnte auch fürsorglich für mich sein und bewies das bei einer Gelegenheit auf so halsstarrige Art, daß er dem armen Traddles und den übrigen damit Tantalusqualen bereitete. Peggottys versprochener kostbarer Brief kam an, ehe noch einige Wochen des Semesters verstrichen waren und mit ihm ein Kuchen in einem wahren Nest von Orangen und zwei Flaschen Obstwein dabei. Diese Schätze legte ich pflichtgemäß Steerforth zu Füßen und bat ihn, sie zu verteilen.

»Ich will dir was sagen, kleiner Copperfield«, meinte er. »Der Wein wird aufgehoben, um dir die Zunge anzufeuchten, wenn du Geschichten erzählst.«

Ich wurde rot und bat ihn bescheiden, doch nicht daran zu denken. Aber er meinte, ich würde manchmal etwas heiser und jeder Tropfen müsse für mich bleiben. Also schloß er den Wein in seinen Koffer und labte mich mit ihm vermittelst einer im Kork angebrachten Federspule, wenn ich seiner Meinung nach einer Erfrischung bedurfte. Zuweilen war er so gütig und preßte Pomeranzensaft hinein, um den Saft zu verbessern, rührte Ingwer hinein, oder löste ein Pfefferminzzeltchen darin auf. Obwohl ich nicht behaupten kann, daß das Getränk dadurch wesentlich besser wurde oder abends vor dem Einschlafen und früh nüchtern genossen besonders magenstärkend gewesen wäre, trank ich es doch dankbar und war gerührt von Steerforths Aufmerksamkeit.

Wir hatten wohl wochenlang mit Peregrine Pickle und mehrere Monate mit den andern Geschichten zugebracht. Mangel an Stoff trat nie ein, und der Wein hielt fast so lange an wie der Stoff. Der arme Traddles, ich kann nie an diesen Jungen denken, ohne Tränen in den Augen und zugleich eine komische Neigung zu lachen, wirkte gewöhnlich verstärkend wie ein Chor und tat bei den lustigen Stellen, als ob er sich vor Heiterkeit nicht lassen könnte und bei den beunruhigenden, als ob er ganz vor Angst verginge. Das brachte mich manchmal ganz aus der Fassung. Es machte ihm einen Hauptspaß, mit den Zähnen zu klappern, sobald in den Abenteuern des Gil Blas von Alguazil die Rede war, und ich erinnere mich, daß der Arme, als Gil Blas dem Räuberhauptmann in Madrid begegnete, die Rolle des tödlich Entsetzten so lebhaft spielte, daß ihn Mr. Creakle, der auf den Gängen herumlauerte, hörte und wegen Störung im Schlafzimmer am andern Morgen ordentlich durchwichste. Was an Neigung zum Romantischen und Träumerischen in mir lag, wurde durch dieses Erzählen im Dunkeln sehr gestärkt, und in dieser Hinsicht mag es nicht besonders von Vorteil für mich gewesen sein. Aber das Gefühl, daß ich im Schlafsaal wie eine Art Spielzeug behandelt wurde, und das Bewußtsein, auch bei den andern Knaben meiner Fähigkeiten wegen ein gewisses Ansehen zu genießen, trotzdem ich der Jüngste war, munterte mich sehr auf.

In einer Schule, die von bloßer Grausamkeit beherrscht wird, wird nie viel gelernt, ob ihr jetzt ein Dummkopf vorsteht oder nicht. Ich glaube, unsere Schüler waren so unwissend wie nur möglich. Sie wurden viel zu sehr gepeinigt und herumgestoßen, um etwas lernen zu können. Es hatte für sie keinen Zweck, sich zu bemühen in einem Leben voll beständiger Qual und Mühsal. Aber mein bißchen Eitelkeit und Steerforths Hilfe trieben mich an und machten mich, wenn es mir auch keine Strafen ersparte, zu einer Ausnahme unter den übrigen, indem ich wenigstens einige Brosamen Kenntnisse auflas.

Mr. Mell, an den ich mit Dankbarkeit zurückdenke, legte stets eine gewisse Teilnahme für mich an den Tag und half mir darin sehr. Es schmerzte mich immer, daß Steerforth ihn mit Geringschätzung behandelte und selten eine Gelegenheit versäumte, ihn zu verletzen. Dies beunruhigte mich eine Zeitlang um so mehr; als ich Steerforth; dem ich ein Geheimnis ebensowenig vorenthalten konnte wie einen Kuchen oder sonst etwas Greifbares, von den beiden alten Frauen erzählt hatte, zu denen mich Mr. Mell mitgenommen. Immer fürchtete ich, Steerforth würde es verraten und ihn damit verhöhnen. Als ich an jenem Morgen mein Frühstück in dem Asyl gegessen und im Schatten der Pfauenfedern und bei dem Ton der Flöte eingeschlafen war, hätte wohl keiner der damals Anwesenden geahnt, welche Folgen der Besuch einer so unbedeutenden Person wie ich noch einmal haben würde.

Leider hatte er ganz unvorhergesehene Folgen, und zwar in ihrer Art recht ernste. Eines Tages nämlich, als Mr. Creakle wegen Unpäßlichkeit das Zimmer hütete, was natürlich die lebhafteste Freude über die ganze Schule verbreitete, herrschte in der Morgenstunde viel Lärm. Alle benahmen sich so übermütig, daß kaum mit ihnen auszukommen war. Selbst als der gefürchtete Tongay mit seinem Holzbein zwei- oder dreimal hereingestelzt kam und die Namen der ärgsten Übeltäter aufschrieb, machte es keinen Eindruck. Alle wußten, sie würden morgen sowieso gestraft, mochten sie tun oder lassen, was sie wollten, und hielten es deshalb für das gescheiteste, sich wenigstens der Gegenwart möglichst zu freuen. Es war eigentlich ein halber Feiertag, nämlich Samstag, aber da der Lärm auf dem Spielplatz Mr. Creakle möglicherweise hätte stören können und das Wetter zum Ausgehen nicht günstig schien, mußten wir nachmittags bei einigen leichteren Aufgaben in der Klasse bleiben. Es war der Tag der Woche, an dem Mr. Sharp sich die Perücke kräuseln ließ, und daher fiel auf Mr. Mell das Amt, Schule zu halten. Wenn ich die Vorstellung von einem Stier oder einem Bären mit einer so sanften Person wie Mr. Mell überhaupt in Verbindung bringen könnte, so an diesem Nachmittag, als das Lärmen seine höchste Spitze erreichte, nur unter dem Bilde eines dieser Tiere, wenn es von tausend Hunden angefallen wird. Ich sehe ihn noch vor mir, wie er den Kopf auf seine knochige Hand stützt und, über das Buch auf seinem Pult geneigt, sich vergeblich bemüht, mitten unter einem Lärm, der den Sprecher des Unterhauses schwindlig gemacht haben würde, seine anstrengende Arbeit fortzusetzen. Die Jungen haschten sich zwischen den Bänken, sie lachten, sangen, tanzten, heulten, scharrten mit den Füßen, andre sprangen um Mr. Mell herum, grunzten, schnitten Gesichter, äfften ihn nach – hinter dem Rücken und vor seinen Augen –, verspotteten seine Armut, seine Stiefel, seinen Rock, seine Mutter, kurz alles, was ihm gehörte und was sie hätten achten sollen.

»Ruhe!« schrie Mr. Mell, plötzlich aufspringend und mit dem Buch auf das Pult schlagend. »Was soll das heißen. Es ist nicht auszuhalten. Es ist zum Verrücktwerden. Wie könnt ihr mir das tun, Jungen!«

Er schlug mit meinem Buch auf das Pult, und wie ich so neben ihm stehend seinem Auge, das im Zimmer herumschweifte, folgte, sah ich, wie sie alle schwiegen; einige aus plötzlicher Überraschung, manche halb aus Angst, manche vielleicht aus Reue.

Steerforths Platz war am untern Ende der Schulstube. Er hatte sich mit dem Rücken an die Wand gelehnt, die Hände in den Taschen, und sah Mr. Mell an, die Lippen zum Pfeifen gespitzt.

»Ruhe, Mr. Steerforth«, sagte Mr. Mell.

»Selbst Ruhe«, sagte Steerforth und wurde rot. »Mit wem sprechen Sie eigentlich?«

»Setzen Sie sich«, sagte Mr. Mell.

»Setzen Sie sich selber«, sagte Steerforth, »und kümmern Sie sich um Ihre Sachen.«

Man hörte ein Kichern und einige Beifallsrufe. Aber Mr. Mell war so bleich, daß es fast augenblicklich wieder still wurde, und ein Junge, der hinter ihn gesprungen war, um wieder Mr. Mells Mutter nachzuäffen, besann sich anders und gab vor, er möchte eine Feder geschnitten haben.

»Wenn Sie vielleicht glauben, Steerforth«, sagte Mell, »es wäre mir nicht bekannt, welche Macht Sie hier über jedes Gemüt ausüben können« – er legte seine Hand, vielleicht ohne zu wissen, was er tat, auf meinen Kopf – »oder ich hätte nicht bemerkt, wie Sie vor wenigen Minuten Ihre jüngern Mitschüler in jeder Weise aufreizten, mich zu beschimpfen, so irren Sie sich.«

»Ich gebe mir überhaupt nicht Mühe, an Sie zu denken«, sagte Steerforth kaltblütig, »also irre ich mich zufällig gar nicht.«

»Und wenn Sie Ihre Stellung als Günstling hier mißbrauchen, Sir«, fuhr Mr. Mell mit bebenden Lippen fort, »um einen anständigen Menschen zu beleidigen.«

»Einen was? – Wo ist er?« fragte Steerforth.

Hier rief jemand: »Pfui, Steerforth, das ist gemein.«

Es war Traddles, den Mr. Mell augenblicklich zurechtwies, indem er ihm befahl, den Mund zu halten.

»– Jemand zu beleidigen, der nicht glücklich im Leben ist und Ihnen nie das geringste getan hat, und zugleich die vielen Gründe kennen, die Sie veranlassen sollten, es nicht zu tun, Gründe, die zu kennen Sie alt und klug genug sind«, sagte Mr. Mell, und seine Lippen zitterten immer mehr, »so begehen Sie damit eine niedrige und gemeine Handlung. Sie können sich jetzt setzen oder stehen bleiben, wie Sie wollen. Weiter, Copperfield.«

»Kleiner Copperfield«, sagte Steerford und kam ans Pult, »warte einen Augenblick. Ich will Ihnen was sagen, Mr. Mell, ein für allemal. Wenn Sie sich die Freiheit nehmen, mich niedrig oder gemein zu nennen oder einen ähnlichen Ausdruck zu gebrauchen, so sind Sie ein unverschämter Bettler. Sie sind überhaupt ein Bettler, das wissen Sie ja. Aber wenn Sie das tun, so sind Sie ein unverschämter Bettler.«

Ich war mir nicht klar, ob er nach Mr. Mell oder Mr. Mell nach ihm schlagen wollte, oder ob auf einer der beiden Seiten überhaupt eine solche Absicht vorhanden war. Ich sah die ganze Klasse wie versteinert dasitzen und Mr. Creakle plötzlich in unserer Mitte erscheinen und Tongay neben ihm und an der Tür Mrs. und Miss Creakle mit scheuen und erschrocknen Gesichtern. Mr. Mell, die Ellbogen auf das Pult und das Gesicht in die Hände gelegt, saß einige Augenblicke regungslos da.

»Mr. Mell!« sagte Mr. Creakle, den Schullehrer am Arme fassend und schüttelnd, und sein Flüstern war diesmal so laut, daß Tongay die Worte nicht zu wiederholen brauchte. »Sie haben sich doch nicht etwa vergessen?«

»Nein, Sir, nein«, erwiderte der Lehrer, wieder sein Gesicht zeigend und sich die Hände reibend. Er schüttelte in großer Aufregung den Kopf. »Nein, Sir, nein. Ich habe mich nicht vergessen. Ich – nein, Mr. Creakle, ich habe mich nicht vergessen. Ich – ich – ich – wünschte, Sie hätten etwas früher an mich gedacht, Mr. Creakle. Es – es – wäre gütiger gewesen und gerechter, Sir. Es hätte mir etwas erspart, Sir.«

Mr. Creakle sah streng auf Mr. Mell, legte seine Hand auf Tongays Schulter, stieg auf eine Bank und setzte sich auf das Pult. Nachdem er von diesem Throne noch eine Weile Mr. Mell, der noch immer in größter Aufregung den Kopf schüttelte und sich die Hände rieb, streng angesehen hatte, wandte er sich zu Steerforth und sagte:

»Nun, Sir, da er sich nicht herabläßt, es mir zu sagen, was ist also?«

Steerforth wich der Frage eine Weile aus; er sah seinen Gegner mit zornigem und wildem Gesicht an und blieb stumm. Selbst damals konnte ich mich des Gedankens nicht erwehren, wie nobel sein Aussehen war und wie gewöhnlich und dürftig sich Mr. Mell gegen ihn ausnahm.

»Was hat er eigentlich gemeint, als er von Günstlingen sprach?« sagte Steerforth endlich.

»Günstlinge?« wiederholte Mr. Creakle, und die Adern auf seiner Stirne schwollen plötzlich an. »Wer hat von Günstlingen gesprochen?«

»Er«, sagte Steerforth.

»Bitte, was haben Sie damit gemeint, Sir?« fragte Mr. Creakle und wandte sich voll Zorn an seinen Unterlehrer.

»Ich meinte, was ich sagte, Mr. Creakle«, erwiderte der Gefragte ruhig. »Daß kein Schüler das Recht hat, seine Günstlingsstellung zu benützen, um mich zu erniedrigen.«

»Sie zu erniedrigen? Ausgezeichnet. Aber Sie werden mir gestatten, zu fragen, Mr. Dingsda«, und Mr. Creakle verschränkte seine Arme mit dem Rohrstock auf der Brust und zog seine Brauen so zusammen, daß seine Augen fast verschwanden, – »ob Sie, als Sie von Günstlingen sprachen, mir damit die gehörige Achtung bezeigt haben. Mir, Sir«, fragte Mr. Creakle und schnellte plötzlich mit dem Kopf gegen Mr. Mell vor und zog ihn wieder zurück. »Mir, dem Prinzipal dieser Anstalt und ihrem Brotherrn!?«

»Ich gebe gern zu, daß es unüberlegt war«, sagte Mr. Mell, »ich würde es nicht getan haben, wenn ich bei kaltem Blute gewesen wäre.«

Hier fiel Steerforth ein:

»Und dann sagte er, ich wäre niedrig und gemein, und dann habe ich ihn einen Bettler genannt. Wenn ich bei kaltem Blute gewesen wäre, hätte ich ihn vielleicht keinen Bettler genannt. Aber ich tat es und nehme die Folgen auf mich.«

Ohne wahrscheinlich zu überlegen, ob ihn überhaupt Folgen treffen könnten, erglühte ich förmlich bei dieser mutigen Rede. Sie machte auch auf die Jungen Eindruck, und es entstand eine leise Unruhe unter ihnen, wenn auch keiner ein Wort sprach.

»Ich bin erstaunt, Steerforth, obgleich Ihre Aufrichtigkeit Ihnen Ehre macht«, sagte Mr. Creakle. »Ja, gewiß, Ihnen Ehre macht, – ich bin erstaunt, Steerforth, muß ich schon sagen, daß Sie solch eine Bezeichnung für eine Person brauchten, die in Salemhaus angestellt ist und bezahlt wird, Sir.«

Steerforth lachte kurz auf.

»Das ist keine Antwort, Sir«, sagte Mr. Creakle, »auf meine Bemerkung. Ich erwarte mehr von Ihnen, Steerforth.«

Wenn Mr. Mell in meinen Augen gegenüber dem hübschen Knaben schon abstach, wäre es ganz unmöglich gewesen, zu sagen, was Mr. Creakle für einen Eindruck machte.

»Er soll es ableugnen«, sagte Steerforth.

»Ableugnen, daß er ein Bettler ist, Steerforth? Aber wo bettelt er denn?«

»Wenn er nicht selbst ein Bettler ist, so ist es seine nächste Verwandte«, sagte Steerforth. »Das kommt doch auf dasselbe heraus.«

Er sah mich an, und Mr. Mells Hand klopfte mir sanft auf die Schulter. Ich blickte auf, Schamröte im Gesicht und Reue im Herzen. Aber Mr. Mells Augen ruhten auf Steerforth. Er fuhr fort, mich freundlich auf die Schulter zu klopfen, aber er blickte Steerforth an.

»Da Sie eine Rechtfertigung von mir verlangen, Mr. Creakle«, sagte Steerforth »und ich sagen soll, was ich meine, so sage ich, daß seine Mutter von Almosen in einem Armenhaus lebt.«

Immer noch sah ihn Mr. Mell an und klopfte mir immer noch freundlich auf die Schulter. Leise sagte er dann vor sich hin: »Ja, das habe ich mir gedacht.«

Mr. Creakle wandte sich an den Unterlehrer mit strengem Stirnrunzeln und erkünstelter Höflichkeit.

»Nun, Sie hören, was dieser Herr sagt, Mr. Mell. Haben Sie die Güte, seine Aussage vor der ganzen Schule gefälligst zu berichtigen.«

»Er hat vollständig recht, Sir«, antwortete Mr. Mell inmitten der tiefsten Stille. »Was er gesagt hat, ist wahr.«

»Wollen Sie dann so gut sein und öffentlich erklären«, sagte Mr. Creakle, legte den Kopf auf die Seite und rollte mit den Augen, »ob ich bis zu diesem Augenblick etwas davon in Erfahrung gebracht habe.«

»Ich glaube nicht direkt«, erwiderte Mr. Mell.

»Sie wissen, daß es nicht der Fall war«, sagte Mr. Creakle. »Oder wissen Sie es nicht, Mensch?«

»Ich nehme an, daß Sie wohl niemals meine Verhältnisse für sehr gut gehalten haben«, antwortete der Unterlehrer. »Sie wissen doch, wie meine Lage hier ist und immer war.«

»Ich nehme an«, sagte Mr. Creakle und seine Adern wurden noch dicker, »daß Sie wohl überhaupt in einer falschen Stellung hier gewesen sind und diese Anstalt vermutlich für eine Armenschule gehalten haben. Mr. Mell, wir werden uns trennen und je eher, desto besser.«

»Es ist keine Zeit besser als die gegenwärtige«, erwiderte Mr. Mell und stand auf.

»Für Sie, ja«, sagte Mr. Creakle.

»Ich nehme Abschied von Ihnen, Mr. Creakle, und von euch allen«, sagte Mr. Mell, sah sich im Zimmer um und klopfte mir wieder sanft auf die Schulter.

»James Steerforth, der beste Wunsch, den ich Ihnen hinterlassen kann, ist, daß Sie sich eines Tages schämen mögen über das, was Sie heute getan haben. Heute möchte ich in Ihnen lieber alles andere sehen als einen Freund oder sonst jemand, für den ich ein Interesse fühle.«

Noch einmal legte er die Hand auf meine Schulter, dann nahm er seine Flöte und ein paar Bücher aus dem Pult, ließ den Schlüssel stecken für seinen Nachfolger und verließ die Klasse, seinen ganzen Besitz unter dem Arm.

Mr. Creakle hielt dann noch unter Tongays Assistenz eine Rede, in der er Steerforth dankte, daß er, wenn auch vielleicht ein wenig zu warm, das Ansehen von Salemhaus und seine Unabhängigkeit verteidigt hatte … Er wand sich durch bis zu dem Punkte, wo er Steerforth die Hand schüttelte, während wir dreimal Hoch riefen, ich weiß nicht mehr für wen, aber ich glaube für Steerforth. Wenigstens rief ich mit, obwohl ich sehr niedergeschlagen war. Dann wichste Mr. Creakle den kleinen Tommy Traddles durch, weil er über Mr. Mells Fortgehen geweint hatte, statt in das Hoch einzustimmen, und kehrte wieder zu seinem Sofa oder seinem Bett, oder wo er sonst hergekommen, zurück.

Wir waren uns jetzt selbst überlassen und sahen einander ratlos an. Ich empfand so viel Gewissensbisse und Reue über das Geschehene, daß nur die Furcht, Steerforth, der mich oft ansah, möchte es für unfreundschaftlich oder, besser gesagt, für pflichtwidrig halten, wenn ich weinte, meine Tränen zurückhielt. Er war sehr böse auf Traddles und sagte, es freue ihn, daß er es gekriegt habe.

Der arme Traddles, der schon wieder über das Stadium hinaus war, wo er den Kopf auf das Pult zu legen pflegte und seinem Verdruß wieder mit einem Haufen Gerippe Luft machte, sagte, es sei ihm ganz wurst, aber Mr. Mell sei Unrecht geschehen.

»Wer hat ihm Unrecht getan, du Mädchen?« fragte Steerforth.

»Wer denn sonst als du.«

»Was hab ich denn getan?« fragte Steerforth.

»Was du getan hast«, gab Traddles zur Antwort. »Du hast seine Gefühle verletzt und ihn um seine Stelle gebracht.«

»Seine Gefühle«, wiederholte Steerforth verächtlich. »Seine Gefühle werden sich schon wieder erholen, drauf will ich wetten. Seine Gefühle sind nicht wie deine, Fräulein Traddles. Und was seine Stelle betrifft, die so glänzend war, was? – so werde ich doch natürlich nach Hause schreiben und dafür sorgen, daß er Geld bekommt, Polly.«

Uns kam dieser Vorsatz Steerforths, dessen Mutter, eine reiche Witwe, ihm in allem nachgab, sehr hochherzig vor. Wir freuten uns alle, daß Traddles beschämt war, und hoben Steerforth in den Himmel, besonders, als er uns gnädigst erklärte, daß er alles nur unsertwegen getan und uns durch sein selbstloses Benehmen einen Riesendienst erwiesen hätte.

Aber ich muß gestehen, als ich abends im Dunkeln eine Geschichte erzählte, schien mir Mr. Mells Flöte mehr als einmal traurig in den Ohren zu klingen, und als endlich Steerforth schlief und ich in meinem Bette lag, machte mich der Gedanke, die Flöte werde jetzt woanders gespielt, ganz elend.

Ich vergaß Mr. Mell bald über der Bewunderung Steerforths, der in leichter Dilettantenart und ohne Buch, denn er schien alles auswendig zu wissen, einige der Lehrstunden übernahm, bis der neue Lehrer erschien. Dieser kam aus einer Lateinschule und speiste, bevor er sein Amt antrat, bei dem Direktor, um Steerforth vorgestellt zu werden.

Steerforth fand großen Gefallen an ihm und nannte ihn eine Leuchte. Wenn ich auch nicht begriff, was für ein Gelehrtentitel das wäre, brachte ich ihm doch große Ehrfurcht entgegen und zweifelte nicht im geringsten an seinen großartigen Kenntnissen, obwohl er sich nie solche Mühe mit mir gab, wie Mr. Mell; aber ich war ja auch gar nicht zu rechnen.

Noch ein ungewöhnliches Ereignis in diesem Semester machte einen tiefen Eindruck auf mich, der noch immer fortlebt, – aus verschiedenen Gründen fortlebt.

Eines Nachmittags, als wir alle in einem Zustand ärgster Verwirrung und Angst waren, weil Mr. Creakle so fürchterlich um sich schlug, kam Tongay herein und rief laut:

»Besuch für Copperfield.«

Mr. Creakle wechselte mit ihm ein paar Worte über den Rang des Besuchs und das Zimmer, in das man die Gäste weisen sollte, und sagte dann zu mir, – ich war wie üblich aufgestanden und ganz verblüfft vor Erstaunen – ich sollte die Hintertreppe hinaufgehen und einen reinen Kragen anziehen, ehe ich ins Speisezimmer ginge. Ich gehorchte in einer Aufregung, wie ich sie noch gar nicht gekannt hatte, und als ich an die Tür des Besuchszimmers kam und der Gedanke in mir aufblitzte, es könnte vielleicht meine Mutter sein, – bis dahin hatte ich nur an Mr. und Miss Murdstone gedacht – ließ ich die Klinke wieder los und blieb stehen und holte tief Atem, bevor ich eintrat.

Zuerst sah ich niemand. Aber da ich ein Hindernis an der Tür fühlte, blickte ich dahinter und erkannte zu meinem Erstaunen Mr. Peggotty und Ham, die mit ihren Hüten in der Hand vor mir knixten und einander an die Wand drückten. Ich mußte lachen, aber mehr aus Freude, sie zu sehen, als über ihren Anblick. Wir schüttelten uns herzlich die Hände, und ich lachte und lachte, bis ich mein Taschentuch herausziehen und mir die Augen wischen mußte.

Mr. Peggotty, der während des ganzen Besuchs kein einziges Mal den Mund zumachte, legte große Teilnahme an den Tag, als er das sah, und gab Ham einen Rippenstoß, damit der etwas sagen sollte.

»All wedder lussig, Masr Davy?« fragte Ham mit seinem gewohnten Grinsen. »Wat sünn Sej grot woren.«

»Bin ich gewachsen«, fragte ich und trocknete mir die Augen. Ich weinte über nichts Besonderes, nur das Wiedersehen mit den alten Freunden entlockte mir Tränen.

»Grot woren? Masr Davy! ob hej grot woren is!« sagte Ham.

»Ob hej grot woren is«, wiederholte Mr. Peggotty.

Sie lachten einander an, bis ich mitlachen mußte, und dann lachten wir alle drei, bis mir wieder die Tränen kamen.

»Wissen Sie, wie es Mama geht, Mr. Peggotty«, fragte ich, »und meiner lieben, lieben, alten Peggotty?«

»Ungemein«, sagte Mr. Peggotty.

»Und der kleinen Emly und Mrs. Gummidge?«

»Un-gemein«, sagte Mr. Peggotty.

Es trat eine große Pause ein. Um sie zu beenden, holte Mr. Peggotty zwei ungeheure Hummern, eine riesige Krabbe und einen großen Segelleinwandbeutel voll Crevetten aus seinen Taschen und häufte sie auf Hams Armen auf.

»Weil Sie das gerne haben, wissen Sie«, sagte er, »haben wir uns die Freiheit genommen! Und die Alte hat se gekocht. Mrs. Gummidge hat se gekocht. Jawoll«, fügte er langsam hinzu, wie mir schien, weil er von nichts anders zu reden wußte. »Wahrhaftig, Mrs. Gummidge hat se gekocht.«

Ich drückte ihm meinen Dank aus, und Mr. Peggotty fuhr fort, Ham hilfesuchend anblickend, der die Krebse angrinste, ohne einen Versuch zu machen, ihn zu unterstützen:

»Wi kamen mit Flut und günstigen Wind in een von uns Yarmouthbooten nach Gravesend. Mien Schwester hett mich den Namen von dem Ort hier schrewen und schrewt, wenn ick nach Gravesend komme, soll ick heröwer kommen und nach Masr Davy fragen, un jem een schoin Gruß von ehr bringen un Gutes wünschen un seggen, daß sej ungemein gut geit. Lütt Emly soll an mien Schwester schriewen, wenn ick wedder to hus bün, dat ick Sej sehen heww und dat Sej woll sünn; un so war et en ganz lussigen Rundgang.«

Ich mußte erst ein wenig nachdenken, was Mr. Peggotty sagen wollte, dann dankte ich ihm herzlich und sagte, rot werdend, – wie ich fühlte, – die kleine Emly werde sich wohl auch verändert haben, seitdem wir zusammen Muscheln und Kiesel am Strande gesucht hatten.

»Is een grot Deeren woren; sej is«, sagte Mr. Peggotty. »Fragen Sie ihn.« Er meinte Ham, der wonnestrahlend über seinem Crevettenbeutel nickte und seine freudige Zustimmung ausdrückte.

»Ehr soit Gesicht!« sagte Mr. Peggotty und sein eignes glänzte wie ein Licht.

»Die Gelehrsamkeit«, sagte Ham.

»Ehr Handschrift«, sagte Mr. Peggotty. »Schwarz wie Kohle. Un so grot. Von witem to sehen.«

Es war wirklich eine Lust, welche Begeisterung über Mr. Peggotty kam, wenn er an seinen kleinen Liebling dachte. Er steht wieder vor mir mit seinem wetterharten haarigen Gesicht, strahlend vor freudiger Liebe und Stolz, daß es sich gar nicht beschreiben läßt. Seine ehrlichen Augen leuchteten auf und glänzten, als ob etwas Schimmerndes ihre Tiefen aufrührte. Seine breite Brust hob sich vor Entzücken. Seine großen starken Hände ballten sich unwillkürlich bei seinem Ernst zusammen, und er gab dem, was er sprach, Nachdruck durch Bewegungen seines Arms, der mir, dem Knirps, wie ein Schmiedehammer vorkam.

Ham meinte es ebenso ernsthaft. Ich glaube, sie würden noch mehr von ihr erzählt haben, wenn sie nicht durch das unvermutete Erscheinen Steerforths in Verlegenheit geraten wären. Als mich dieser in einer Ecke mit zwei Fremden sprechen sah, brach er das Lied ab, das er eben laut sang, und sagte: »Ich wußte nicht, daß du hier bist, kleiner Copperfield.« Es war nicht das gewöhnliche Besuchszimmer und er wollte vorbeigehen.

Ich weiß nicht, ob es der Stolz war, einen Freund wie Steerforth zu besitzen, oder der Wunsch, ihm zu erklären, wie ich zu solchen Bekannten, wie Mr. Peggotty käme, was mich veranlaßte, ihn herbeizurufen.

»Bitte, Steerforth«, sagte ich, »hier sind zwei Schiffer aus Yarmouth, so gute, liebe Leute, Verwandte meiner alten Kindsfrau, die von Gravesend gekommen sind, um mich zu besuchen.«

»O! O!« sagte Steerforth und drehte sich um. »Freut mich, Sie zu sehen. Wie geht es Ihnen?«

Es lag etwas Ungezwungenes in seinem Wesen, – etwas Frisches, Munteres, aber gar nichts Anmaßendes, das immer bestrickend auf alle wirkte. Immer noch kommt es mir vor, als ob seine Haltung, seine Lebhaftigkeit, seine gewinnende Stimme, sein hübsches Gesicht und eine gewisse ihm innewohnende Anziehungskraft einen Zauber ausübten, dem nur wenige widerstehen konnten. Es entging mir nicht, wie sehr er ihnen gefiel und wie sich ihm im Augenblick ihre Herzen erschlossen.

»Sie müssen auch zu Hause sagen, Mr. Peggotty, daß Mr. Steerforth sehr freundlich zu mir ist, und daß ich ohne ihn gar nicht wüßte, was anfangen.«

»Unsinn«, lachte Steerforth. »So etwas dürfen Sie ihnen dort nicht sagen.«

»Und wenn Mr. Steerforth einmal nach Norfolk oder Suffolk kommt, Mr. Peggotty«, sagte ich, »und ich bin auch dort, so bringe ich ihn ganz gewiß mit nach Yarmouth, um ihm Ihr Haus zu zeigen. Du hast noch nie so ein Haus gesehen, Steerforth. Es ist aus einem Schiff gemacht.«

»Aus einem Schiff, wahrhaftig?« sagte Steerforth. »Das ist das richtige Haus für so einen tüchtigen Schiffer.«

»Jawoll, Sir, is es auch«, sagte Ham grinsend. »Haben recht, junger Genlmn. Masr Davy, der Genlmn hat recht. N fixer Schipper. Jawoll. Dat is hej.«

Mr. Peggotty fühlte sich nicht weniger geschmeichelt als sein Neffe, wenn ihm auch seine Bescheidenheit verbot, ein persönliches Kompliment so laut auf sich zu beziehen.

»Woll, Sir«, sagte er mit einem Katzenbuckel und in sich hineinlachend und die Zipfel seines Taschentuchs verlegen in die Weste stopfend: »Schoin Dank, Sir, schoin Dank. Ick dau mien Schuldigkeit an Bord.«

»Auch der Beste kann nicht mehr, Mr. Peggotty«, sagte Steerforth, der sofort den Namen aufgefaßt hatte.

»Wette, Sej doons auch«, sagte Peggotty und schüttelte Steerforth die Hand, »und doons gehörich. – Ganz gehörich! Schoin Dank, Sir. Dank Ihnen, Sir, dat Sej mich so fründlich aufgenommen hewwen. Ick bün schlecht und recht, Sir, heißt, hoffe, bün recht, verstehen Sej? An mien Hus is noch vell to sehn, Sir, aber Sej sün willkomm, wenn Sej eenmal mit Masr Davy kommn, ick bün wie een Pagütz, dat bün ick«, sagte Peggotty. Er meinte damit wahrscheinlich eine Schnecke und spielte auf seine Langsamkeit im Fortgehen an, denn er hatte nach jedem Satz versucht, fortzugehen, war aber immer wieder umgekehrt. »Awer ick segg Sej beid Adjüs und wünsch Sej veel Glüch.«

Ham wiederholte diesen Gefühlsausbruch, und wir schieden von beiden auf das herzlichste. Ich fühlte mich an diesem Abend so versucht, Steerforth von der hübschen kleinen Emly zu erzählen, aber ich fürchtete von ihm ausgelacht zu werden.

Ich erinnere mich, daß ich viel und unruhig über Mr. Peggottys Wort nachdachte, daß sie ein großes Mädchen geworden sei, verwarf aber diesen Gedanken später als Unsinn.

Wir schleppten die Krebse, »dat Tüch«, wie Peggotty es bescheiden benannt hatte, unbemerkt in unser Zimmer und hielten an diesem Abend ein großes Festessen. Traddles kam dabei nicht gut weg. Er war ein zu großer Pechvogel, als daß er sich eines Essens, das jedem andern Menschen bekam, lange hätte erfreuen können. Es wurde ihm in der Nacht schlecht – ganz miserabel schlecht – nach der Krabbe, und nachdem er schwarze Tropfen und blaue Pillen in einer Menge geschluckt hatte, daß Demple, dessen Vater Arzt war, meinte, es wäre genug, um eines Pferdes Gesundheit zu untergraben, wurde er durchgehauen und bekam sechs Kapitel aus dem griechischen Testament auf, weil er sich zu beichten weigerte.

Den Rest des Semesters füllt ein Schwall von Erinnerungen aus an die ewigen Plagen und Mühseligkeiten unseres täglichen Lebens, an den schwindenden Sommer und den Wechsel der Jahreszeiten, an die kühlen Morgen, wenn man uns aus den Betten läutete und den kalten, kalten Geruch der dunklen Nächte, wenn wir wieder ins Bett mußten, an die schlecht beleuchtete und schlecht geheizte Abendschulstube und die Morgenklasse, die weiter nichts war als eine große Fröstelmaschine, – an die Abwechslung zwischen gekochtem Rindfleisch und Rinderbraten, gekochtem Hammelfleisch und Hammelbraten, an Butterbrote, Schulbücher mit Eselsohren, zerbrochene Schiefertafeln, Schreibhefte mit Tränenflecken, an spanische Rohr- und Linealhiebe, Ohrenbeutel, regnerische Sonntage, Talgpuddings und die schmutzige Tintenatmosphäre, die alles umgibt.

Ich erinnere mich noch so recht an die ferne Hoffnung auf die Feiertage, die in all der langen Zeit wie der einzig feste Punkt erschien. Ein Punkt, der sich uns immer mehr näherte und beständig größer wurde, wie wir zuerst Monate, dann Wochen und dann nur mehr Tage zählten, wie ich dann anfing, zu fürchten, daß ich nicht würde nach Hause reisen dürfen, – indessen, wie Steerforth herausbrachte, schon zu Hause angemeldet war, – und dann von dunklen Ahnungen gequält wurde, ich könnte inzwischen das Bein brechen. Wie endlich der Tag der Abreise näher kam, von der zweitnächsten Woche auf die nächste, dann auf die gegenwärtige, auf übermorgen, morgen, heute, heute abend, – wo ich in der Postkutsche in Yarmouth sitze und nach Hause fahre.

Ich schlummere meilenweise in der Kutsche und habe einen zusammenhängenden Traum von allen diesen Dingen. Aber wenn ich manchmal aufwache, ist die Gegend draußen vor dem Fenster nicht der Spielplatz von Salemhaus, und was in meine Ohren ruft, ist nicht Mr. Creakle, der eben Traddles prügelt, sondern der Kutscher, der die Pferde antreibt.

8. Kapitel Meine Ferien – Ein glücklicher Nachmittag


8. Kapitel Meine Ferien – Ein glücklicher Nachmittag

Als wir vor Tagesanbruch vor dem Gasthof hielten, aber nicht vor dem, wo mein Freund, der Kellner diente, wies man mir ein kleines, hübsches Schlafzimmer zu, über dessen Türe »Delphin« stand. Ich fror sehr trotz des heißen Tees, den sie mir unten vor einem großen Feuer eingeschenkt hatten, und legte mich gern in das Bett des »Delphins«, wickelte mich in die Bettdecke des »Delphins« und schlief ein.

Mr. Barkis, der Fuhrmann, sollte mich morgen früh um neun Uhr abholen. Ich stand um acht Uhr auf, ein wenig verschlafen nach dem kurzen Schlummer, und wartete auf ihn noch lange vor der Zeit. Er nahm mich auf, als ob seit unserm letzten Zusammensein nicht fünf Minuten verstrichen wären und ich bloß in den Gasthof gegangen sei, um Kleingeld einzuwechseln.

Sobald ich und mein Koffer im Wagen waren und er seinen Platz eingenommen hatte, setzte sich das faule Pferd in seinen gewohnten Trott.

»Sie sehen sehr gut aus, Mr. Barkis«, fing ich an.

Mr. Barkis rieb sich seine Backen mit dem Ärmel und sah dann hin, als ob er darauf die Blüte seines Gesichts abgefärbt zu sehen erwartete. Weiter gab er kein Zeichen der Anerkennung meines Kompliments von sich.

»Ich habe Ihren Auftrag ausgerichtet, Mr. Barkis«, sagte ich, »und an Peggotty geschrieben.«

»Hm«, meinte Mr. Barkis.

Er schien verdrießlich zu sein und antwortete sehr kurz.

»Wars nicht richtig, Mr. Barkis?« fragte ich nach einigem Zögern.

»Nun, nein«, sagte Barkis.

»Falsch ausgerichtet?«

»Ausgerichtet wars schon gut«, sagte Mr. Barkis, »aber dann wars aus.«

Da ich nicht verstand, was er meinte, wiederholte ich fragend:

»Dann wars aus, Mr. Barkis?«

»Wurde nichts draus«, erklärte er und blickte mich von der Seite an. »Keine Antwort.«

»Sie erwarteten also eine Antwort, Mr. Barkis?« sagte ich und riß die Augen auf, denn das kam mir ganz überraschend.

»Wenn ein Mensch sagt, er will«, sagte Mr. Barkis und wendete seine Augen langsam wieder auf mich, »heißts doch soviel wie, man wartet auf Antwort.«

»Wirklich, Mr. Barkis?«

»Wirklich«, sagte Mr. Barkis und zielte mit den Augen nach den Pferdeohren. »Der Mensch wartet immer noch auf die Antwort.«

»Haben Sie ihr das gesagt, Mr. Barkis?«

»Hm«, brummte Mr. Barkis und dachte darüber nach. »Hab mich noch nicht entschlossen. Sprach noch keine sechs Worte mit ihr. Kanns ihr nicht sagen.«

»Soll ichs ihr vielleicht sagen, Mr. Barkis?« fragte ich schüchtern.

»Könnten s schon, wenn Sie wollten«, sagte Mr. Barkis wieder mit einem langsamen Blick zu mir. »Daß Barkis auf Antwort wartet. Hm, wie ist doch der Name?«

»Ihr Name?«

»Hm«, sagte Mr. Barkis mit einem Kopfnicken.

»Peggotty.«

»Taufname, Vorname?« fragte Mr. Barkis.

»Nein, das ist nicht ihr Taufname. Ihr Vorname ist Klara.«

»So«, sagte Mr. Barkis.

Meine Antwort schien ihn außerordentlich stark zum Nachdenken anzuregen, denn er saß lange grübelnd da und pfiff innerlich.

»Hm«, fing er endlich wieder an, »sagen Sie Peggotty: Barkis wartet; und sagt sie, worauf? sagen Sie: auf Antwort. Sagt sie: worauf? sagen Sie: Barkis will.«

Diese außerordentlich knappe Erklärung begleitete Mr. Barkis mit einem freundschaftlichen Rippenstoß, daß mir die Seite weh tat. Darauf hockte er wieder wie gewöhnlich ruhig auf seinem Platz und blieb in dieser Stellung, bis er eine halbe Stunde später ein Stück Kreide aus der Tasche holte und innen an die Wagendecke schrieb: Klara Peggotty –. Offenbar als Privatnotiz.

Was für ein seltsames Gefühl, sich der Heimat zu nähern, die einem fremd geworden ist! Jeder Gegenstand, den man erblickt, erinnert einen an das alte, liebe Vaterhaus. Es kam mir alles wie ein Traum vor, den ich nie mehr wieder träumen könnte. Die Tage, wo meine Mutter, ich und Peggotty einander alles waren und noch niemand sich zwischen uns gedrängt hatte, erstanden unterwegs vor meinen Augen mit so traurigen Erinnerungen, daß ich am liebsten umgekehrt wäre und in Steerforths Gesellschaft vergessen hätte. Aber ich war jetzt angekommen und stand bald vor unserm Hause, wo die kahlen, alten Ulmen ihre vielen Hände in die kalte Winterluft hinausstreckten und Fetzen von den alten Krähennestern vom Winde fortgeweht wurden.

Der Fuhrmann lud meinen Koffer an der Gartentür ab und verließ mich. Ich ging den Fußsteig nach dem Hause zu, sah nach den Fenstern und fürchtete jeden Augenblick, Mr. oder Miss Murdstone zu erblicken. Es zeigte sich jedoch kein Gesicht, und ich trat leise und schüchtern ein.

Gott weiß, aus wie früher Kindheit die Erinnerung stammen mußte, die beim Klang der Stimme meiner Mutter wieder wach wurde, als ich den Fuß in den Flur setzte. Sie sang leise. Ich glaube, ich muß in ihren Armen gelegen und sie so singen hören haben, als ich noch ein Säugling war. Das Lied kam mir neu und doch so alt vor, daß es mein Herz zum Überströmen erfüllte. Es war mir wie ein alter Freund, der nach langer Abwesenheit zurückkehrt.

Aus der Weise, wie meine Mutter das Lied sang, schloß ich, daß sie allein sei, und ich trat leise ins Zimmer. Sie saß beim Feuer und säugte ein Kind, dessen winzige Händchen an ihrem Halse ruhten. Ihre Augen hingen an seinem Gesicht und sie sang ihm etwas vor. Ich sah sofort, daß sie allein war.

Ich sprach sie an. Sie fuhr auf und stieß einen Schrei aus. Aber als sie mich erkannte, nannte sie mich ihren lieben Davy, ihr geliebtes Kind, kam mir entgegen, kniete vor mir nieder und küßte mich und legte meinen Kopf an ihre Brust neben das kleine Wesen, das sich an sie anklammerte, und legte seine Händchen an meine Lippen.

Ich wollte, ich wäre gestorben mit diesem Gefühl im Herzen. Ich hätte besser für den Himmel gepaßt, als jemals später.

»Es ist dein Brüderchen«, sagte meine Mutter und liebkoste mich. »Davy, mein hübscher Junge, mein armes Kind.« Dann küßte sie mich immer mehr und mehr und umschlang meinen Nacken. Dann kam Peggotty hereingelaufen, warf sich auf dem Boden neben uns hin und war eine Viertelstunde lang halb von Sinnen. Man hatte mich nicht so zeitig erwartet, und der Fuhrmann war früher angekommen als gewöhnlich. Mr. und Miss Murdstone befanden sich in der Nachbarschaft auf Besuch und würden, erfuhr ich, nicht vor Abend zurückkommen. Das hatte ich nicht zu hoffen gewagt. Ich hätte es nie für möglich gehalten, daß wir drei würden wieder einmal ungestört beisammen sein können, und für dies eine Mal waren für mich die alten vergangnen Zeiten zurückgekehrt.

Wir speisten zusammen beim Kamin. Peggotty wollte uns bedienen, aber meine Mutter litt es nicht, und sie mußte sich mit zu Tisch setzen. Ich hatte meinen alten Teller wieder mit einem braunen Kriegsschiff unter vollen Segeln darauf, den Peggotty sorgfältig aufgehoben und für hundert Pfund nicht zerbrochen hätte, wie sie sagte. Ich hatte meinen alten Trinkbecher mit dem Namen »David« drauf und mein altes Besteck, das noch immer stumpf war.

Als wir bei Tische saßen, hielt ich es für den geeignetsten Moment, Mr. Barkis‘ Auftrag auszurichten. Ehe ich damit zu Ende kam, fing Peggotty an zu lachen und hielt die Schürze vors Gesicht.

»Peggotty«, sagte meine Mutter. »Was gibts denn?«

Peggotty lachte nur noch mehr und hielt ihre Schürze noch fester vors Gesicht, als meine Mutter sie wegziehen wollte. Sie saß da wie mit dem Kopf in einem Sack.

»Was hast du denn, du dummes Ding?« fragte meine Mutter lachend.

»Ach, der alberne Mensch«, rief Peggotty. »Er will mich heiraten.«

»Wäre das nicht eine ganz gute Partie für dich?« fragte meine Mutter.

»Ach, ich weiß nicht«, sagte Peggotty. »Fragen Sie mich nicht. Ich möcht ihn nicht haben, und wenn er von Gold wäre. Ich will überhaupt niemand haben.«

»Also warum sagst dus ihm nicht, du kindisches Ding?«

»Ihm sagen«, meinte Peggotty und sah unter ihrer Schürze hervor. »Er hat noch nie ein Wort davon erwähnt, er weiß ganz gut, warum. Wenn er sichs unterstehen würde, würd ich ihm eine Ohrfeige geben.«

Ihr Gesicht war röter, als ich es je gesehen hatte. Sie deckte es gleich wieder zu und brach in ein heftiges Lachen aus; und nachdem sich dieser Anfall zwei- oder dreimal wiederholt hatte, aß sie ruhig weiter. Ich bemerkte, daß meine Mutter wohl lächelte, wenn Peggotty sie ansah, aber immer ernster und nachdenklicher wurde. Mir war gleich aufgefallen, wie sehr sie sich verändert hatte. Ihr Gesicht war immer noch sehr hübsch, aber es schien allzu zart und sehr vergrämt. Ihre Hand war so weiß und dünn, daß sie mir fast durchsichtig vorkam. Aber jetzt trat noch eine andere Veränderung dazu, wie mir auffiel. Sie schien nämlich sehr beklommen und aufgeregt. Endlich legte sie ihre Hand liebevoll auf die ihrer alten Dienerin und sagte: »Liebe Peggotty, du verheiratest dich jetzt nicht?«

»Ich, Ma’am«, erwiderte Peggotty und sah sie mit großen Augen an, »Gott bewahre, nein.«

»Jetzt noch nicht«, bat meine Mutter zärtlich.

»Nie«, rief Peggotty aus.

Meine Mutter ergriff ihre Hand und sagte:

»Verlaß mich nicht, Peggotty; bleibe bei mir. Es wird vielleicht nicht mehr lang nötig sein. Was sollte ich ohne dich anfangen!«

»Ich dich verlassen, Herzblatt«, rief Peggotty. »Nicht um den ganzen Erdball und seine Frau. Wer hat das nur in das kleine törichte Köpfchen gesetzt?« Peggotty war aus alter Zeit her gewohnt, mit meiner Mutter manchmal wie mit einem Kinde zu sprechen.

Meine Mutter gab ihr keine Antwort außer einem einfachen »Dank dir.«

»Ich Sie verlassen? Das möcht ich sehen. Peggotty von Ihnen fortgehen, da möchte ich sie mir beim Kragen nehmen. Nein, nein«, und Peggotty schüttelte den Kopf und verschränkte die Arme. »Peggotty nicht, mein Schatz. Freilich sind ein paar Katzen da, die sich drüber freuen würden, aber sie sollen sich nicht freuen. Sie sollen sich nur ärgern. Ich bleibe bei Ihnen, bis ich ein altes buckliges Weib bin. Und wenn ich zu taub und zu lahm und zu blind bin und eine Mummelgreisin ohne Zähne, so geh ich zu meinem Davy und bitte ihn, mich aufzunehmen.«

»Und ich, Peggotty«, sagte ich, »ich werde froh sein, wenn du kommst, und werde dich empfangen wie eine Königin.«

»Gott segne das gute Herz!« rief Peggotty. »Ich weiß es ja.« Und sie küßte mich schon im voraus in dankbarer Erkenntlichkeit für meine künftige Gastfreundschaft. Dann deckte sie sich wieder das Gesicht mit der Schürze zu und lachte noch einmal über Mr. Barkis; nahm dann das Baby aus der Wiege und schaukelte es, räumte den Mittagstisch ab und kam in einer andern Haube herein mit ihrem Arbeitskästchen, dem Ellenmaß und dem Stückchen Wachslicht. Ganz wie ehemals.

Wir saßen beim Kamin und unterhielten uns köstlich. Ich erzählte ihnen von Mr. Creakles Strenge, und sie bedauerten mich sehr. Ich erzählte ihnen, was für ein famoser Bursche Steerforth sei und wie er mich in Schutz nehme, und Peggotty sagte, sie würde zwanzig Meilen weit gehen, um ihn zu sehen. Ich nahm den Säugling, als er wieder aufwachte, auf meine Arme und wiegte ihn zärtlich. Als er wieder schlief, setzte ich mich dicht neben meine Mutter, wie ehemals, und schlang die Arme um ihren Leib, legte meine kleine rote Wange auf ihre Schulter und fühlte wieder ihr schönes Haar mich umwehen wie ein Engelsfittich und war sehr glücklich. Während ich so dasaß und ins Feuer blickte und allerhand Bilder in den glühenden Kohlen sah, kam es mir fast vor, als wäre ich niemals von zu Hause weg gewesen, und Mr. und Miss Murdstone erschienen mir wie Gestalten, die verschwinden müßten, wenn das Feuer ausginge, und von allen meinen Erinnerungen sei nichts wahr und wirklich, außer meiner Mutter, Peggotty und mir selbst.

Peggotty stopfte, solange sie noch sehen konnte, und saß dann da, den Strumpf wie einen Handschuh über die linke Hand gezogen und die Nadel in der andern, bereit, sofort wieder anzufangen, sobald Licht kommen würde. Ich kann mir nicht erklären, wessen Strümpfe Peggotty eigentlich immer flickte, und woher diese Unmassen von notleidenden Strümpfen nur kamen.

»Ich möchte gerne wissen«, sagte Peggotty, über die manchmal ein Anfall seltsamen Wissensdurstes, ganz unerwartete Dinge betreffend, kam, »was aus Davys Großtante geworden ist.«

»Gott, Peggotty«, bemerkte meine Mutter und erwachte wie aus einem Traum, »was du für dummes Zeug redest.«

»Nun ja, aber ich möcht es doch gern wissen, Ma’am«, sagte Peggotty.

»Wie kann dir nur so jemand in den Kopf kommen? Kannst du dir niemand anders aussuchen?«

»Ich weiß nicht, wies kommt«, meinte Peggotty, »es liegt wahrscheinlich an meiner Einfältigkeit. Aber mein Kopf kann sich die Leute nicht aussuchen. Sie kommen und gehen und sie kommen nicht oder bleiben, gerade, wies ihnen gefällt. Ich möchte wirklich gerne wissen, was aus ihr geworden ist.«

»Wie albern du nur bist, Peggotty. Man sollte wirklich meinen, du wünschtest wieder einen Besuch von ihr.«

»Gott sei vor«, rief Peggotty.

»Also sprich nicht von solchen lästigen Dingen«, sagte meine Mutter. »Miss Betsey sitzt gewiß in ihrem Häuschen am Meer und geht gar nicht aus. Jedenfalls wird sie uns schwerlich noch einmal heimsuchen.«

»Nein«, gab Peggotty nachdenklich zu, »nein, das ist nicht wahrscheinlich. Ich möchte nur wissen, ob sie Davy etwas vermacht, wenn sie stirbt.«

»Ach Gott im Himmel, Peggotty!« rief meine Mutter. »Was du für ein einfältiges Frauenzimmer bist. Du weißt doch selbst, wie übel sie es nahm, daß das liebe Kind geboren wurde.«

»Aber vielleicht würde sie es ihm jetzt verzeihen«, bemerkte Peggotty.

»Warum sollte sie es ihm gerade jetzt verzeihen?« fragte meine Mutter ein wenig gereizt.

»Nun, weil er jetzt einen Bruder bekommen hat«, meinte Peggotty.

Meine Mutter fing sofort an zu weinen und jammerte, daß Peggotty so etwas sagen könnte.

»Als ob das kleine Wesen in der Wiege dir oder sonst jemand etwas zuleide getan hätte, du eifersüchtiges Ding. Geh, heirate doch Mr. Barkis, den Fuhrmann. Warum tust du es denn nicht?«

»Ich würde Miss Murdstone glücklich machen, wenn ichs täte.«

»Was für einen schlechten Charakter du hast, Peggotty«, antwortete meine Mutter. »Du bist auf Miss Murdstone so eifersüchtig, wie es ein so albernes Ding nur sein kann. Du willst wohl selbst die Schlüssel haben und alles herausgeben, nicht wahr? Es würde mich nicht wundern, wenn es so wäre. Du weißt doch, daß sie es nur aus Güte und mit der besten Absicht tut. Das weißt du, Peggotty, – weißt es recht gut.«

Peggotty brummte etwas vor sich hin, das so klang wie: »Zum Teufel mit den besten Absichten.«

»Ich weiß schon, was du meinst, du verrücktes Frauenzimmer. Ich durchschaue dich vollkommen, Peggotty. Du weißt, daß ich es tue, und wundere mich nur, daß du nicht feuerrot dabei wirst. Aber nehmen wir eins nach dem andern vor. Zuerst Miss Murdstone. Diesmal sollst du mir nicht entschlüpfen. Hast du nicht oft genug von ihr gehört, daß sie denkt, ich sei zu gedankenlos und zu – zu –«

»– hübsch«, ergänzte Peggotty.

»Nun meinetwegen«, gab meine Mutter lächelnd zu. »Und wenn sie töricht genug ist, das zu sagen, kann man sie doch deswegen nicht tadeln.«

»Das tut doch niemand«, knurrte Peggotty.

»Nun, das will ich auch meinen«, entgegnete meine Mutter. »Hast du nicht immer und immer von ihr gehört, daß sie mir deshalb viele Arbeit ersparen will, für die sie mich für ungeeignet hält, und ich mich auch, du weißt, wie sie früh und spät auf den Beinen ist und beständig auf und ab läuft –. Und macht sie nicht jede Arbeit, – kriecht in allen Winkeln, in Kohlenkellern und Speisekammern umher, was doch nicht angenehm ist! Und willst du durch die Blume zu verstehen geben, daß darin etwas anderes als Aufopferung läge?«

»Ich gebe überhaupt nichts durch die Blume zu verstehen«, sagte Peggotty.

»Du tust es doch, Peggotty«, entgegnete meine Mutter. »Du tust nie etwas anderes. Außer deine Arbeit. Du sprichst immer durch die Blume. Du schwelgst darin. Und wenn du von Mr. Murdstones guten Absichten sprichst –«

»Von denen hab ich noch nie gesprochen«, unterbrach Peggotty.

»Nein, Peggotty«, erwiderte meine Mutter. »Aber du spielst auf sie an. Das ist doch, was ich sage. Das ist das Allerschlimmste an dir. Du willst durch die Blume sprechen. Ich habe dir eben gesagt, daß ich dich durchschaue, und du siehst, es ist so. Wenn du von Mr. Murdstones guten Absichten sprichst und sie zu unterschätzen vorgibst, – das kann übrigens nicht dein Ernst sein, Peggotty, – so mußt du doch ebenso wie ich einsehen, wie förderlich sie sind. Wenn er manchmal barsch gegen irgend jemand ist, Peggotty, – du weißt natürlich und ich hoffe, auch Davy weiß es, daß ich nicht von Anwesenden spreche, – so geschieht es nur, weil er überzeugt ist, daß es zum Besten des Betreffenden ist. Er liebt natürlich den Betreffenden meinetwegen und handelt lediglich zu seinem Besten. Er kann das eben besser beurteilen als ich, denn ich weiß recht gut, daß ich ein schwaches, leichtsinniges, kindisches Geschöpf bin, während er ein fester, ernster Mann ist. Und er hat sehr viel mit mir auszustehen«, fuhr meine Mutter fort, und die Tränen, die ihrem liebebedürftigen Herzen entsprangen, rannen ihr die Wangen herab; »ich muß ihm sehr dankbar und selbst in meinen Gedanken sehr unterwürfig sein. Und wenn ich es nicht bin, Peggotty, so quält mich das, und ich verurteile mich selbst und mache mir Vorwürfe über mein schlechtes Herz und weiß nicht, was ich anfangen soll.«

Peggotty saß da, das Kinn auf die mit dem Strumpf überzogene Faust gestützt und blickte stumm ins Feuer.

»Also, liebe Peggotty«, sagte meine Mutter mit plötzlich ganz verändertem Ton, »seien wir wieder gut, denn ich könnte es nicht aushalten.«

»Ich weiß ja, du bist meine treueste Freundin, wenn ich auf der Welt überhaupt noch eine andere habe. Wenn ich dich ein einfältiges oder albernes Ding nannte, Peggotty, wollte ich damit nur sagen, daß du meine treueste Freundin bist und warst, schon von jenem Abend an, als Mr. Copperfield mich zuerst hierherbrachte und du mir an der Gartentüre entgegenkamst.«

Peggotty ließ mit der Antwort nicht auf sich warten und besiegelte den Vertrag, indem sie mich mit einer ihrer kräftigsten Umarmungen beglückte.

Ich glaube, ich hatte damals schon eine leise Ahnung von dem wahren Sinn dieser Unterhaltung. Heute weiß ich ganz genau, daß die gute Person das Gespräch nur veranlaßte, um meiner Mutter durch kleine Widersprüche eine gewisse Erleichterung zu verschaffen. Die Wirkung war sichtlich, denn wie ich mich noch erinnere, schien meine Mutter den ganzen übrigen Tag viel heiterer und Peggotty brauchte sie nicht mehr so sorgenvoll anzusehen.

Nachdem wir Tee getrunken, das Feuer geschürt und die Kerzen geputzt hatten, las ich Peggotty zur Erinnerung an alte Zeiten ein Kapitel aus dem Krokodilbuch vor, – sie hatte es aus der Tasche gezogen. Ob sie es immer darin getragen hatte? – Und dann sprachen wir von Salemhaus, was mich wieder auf Steerforth brachte, mein Lieblingsthema. Wir fühlten uns alle sehr glücklich, und dieser Abend, der letzte in seiner Art und bestimmt, diesen Band meines Lebens für immer zu schließen, wird nie aus meinem Gedächtnis entschwinden.

Es war fast zehn Uhr, als wir draußen einen Wagen halten hörten. Wir standen alle auf und meine Mutter sagte hastig, Mr. und Miss Murdstone sähen es gerne, wenn junge Leute früh zu Bett gingen, und es sei schon spät. Ich küßte sie und ging sogleich mit meiner Kerze hinauf. Mir war, als ob mit den beiden ein erkaltender Lufthauch in das Haus käme und das alte, heimische, traute Gefühl wie eine Feder davonbliese.

Ich fühlte mich sehr unbehaglich am nächsten Morgen, als ich zum Frühstück hinuntergehen mußte. Hatte ich doch Mr. Murdstone seit jenem Tag, als ich das große Verbrechen an ihm begangen, nicht weiter gesehen. Aber einmal mußte es geschehen, und ich erreichte die Stubentür, nachdem ich zwei- bis dreimal auf den Fußspitzen wieder umgekehrt war. Endlich trat ich ins Zimmer.

Er stand mit dem Rücken zum Kamin, während Miss Murdstone den Tee bereitete. Er sah mich durchdringend an, als ich eintrat, gab aber kein Erkennungszeichen von sich. Nach einigen Augenblicken der Verwirrung ging ich auf ihn zu und sagte: »Ich bitte Sie um Verzeihung, Sir. Was ich getan habe, tut mir außerordentlich leid, und ich hoffe, daß Sie es mir vergeben.«

»Es freut mich, daß es dir leid tut, David«, antwortete er.

Die Hand, die er mir reichte, war die, die ich gebissen hatte.

Ich konnte mir nicht helfen, ich mußte die rote Narbe eine Zeitlang ansehen. Aber sie war nicht so rot wie ich, als ich seinem falschen Blick begegnete.

»Wie befinden Sie sich, Ma’am«, sagte ich zu Miss Murdstone.

»Ach mein Gott!« seufzte Miss Murdstone und reichte mir den Teelöffel statt ihres Fingers. »Wie lang dauern die Ferien?«

»Einen Monat, Ma’am.«

»Von wann an?«

»Von heute an, Ma’am.«

»Na«, sagte Miss Murdstone. »Das wäre ja schon ein Tag weniger.«

Sie führte in dieser Art einen Ferienkalender und strich an jedem Morgen einen Tag. Anfangs schnitt sie ein betrübtes Gesicht, solange sie noch nicht beim zehnten war, aber ihre Mienen hellten sich auf, als die zweistelligen Zahlen erreicht waren, und wurden um so heiterer, je näher das Ende heranrückte.

Schon am ersten Tag hatte ich das Unglück, sie in einen Zustand größter Aufregung zu versetzen, trotzdem sie solchen Schwächen sonst nicht unterworfen war. Ich kam nämlich in das Zimmer, wo sie und meine Mutter saßen, und da der Säugling, der erst ein paar Wochen alt, auf meiner Mutter Schoß lag, nahm ich ihn höchst sorgsam in meine Arme.

Plötzlich stieß Miss Murdstone einen solchen Schrei aus, daß ich ihn fast hätte fallen lassen.

»Liebe Jane!« fuhr meine Mutter auf.

»Gott im Himmel, Klara! Siehst du nicht?« rief Miss Murdstone aus.

»Was denn, liebe Jane«, fragte meine Mutter. »Wo denn?«

»Er hat es!« rief Miss Murdstone. »Der Junge hat das Baby.«

Sie brach fast zusammen vor Entsetzen, richtete sich aber wieder auf, um auf mich loszustürzen und mir das Kind zu entreißen. Dann wurde ihr so schlecht, daß man ihr Kirschbranntwein geben mußte. Als sie sich wieder erholt hatte, untersagte sie mir auf das feierlichste, mein Brüderchen jemals wieder, unter welchem Vorwand immer, anzurühren, und meine Mutter bestätigte demütig das Verbot, trotzdem sie mir anderer Meinung schien, und sagte: »Du hast gewiß recht, liebe Jane.«

Wiederum bei einer Gelegenheit, als wir beisammen saßen, war das Baby – ich hatte es lieb meiner Mutter wegen – wieder die unschuldige Ursache, die Miss Murdstone in heftigste Erregung versetzte. Meine Mutter sagte nämlich, nachdem sie die Augen des Säuglings in ihrem Schoße lange betrachtet hatte: »Davy, komm einmal her und laß mich deine Augen sehen.«

Ich bemerkte, wie Miss Murdstone ihre Stahlperlen hinlegte.

»Also ich erkläre«, sagte meine Mutter sanft, »daß sie vollkommen gleich sind. Ich glaube, es sind meine Augen. Sie haben dieselbe Farbe wie meine. Sie sind einander wunderbar gleich.«

»Wovon sprichst du, Klara?« fragte Miss Murdstone.

»Liebe Jane«, stammelte meine Mutter bestürzt durch den herben Ton dieser Frage, »ich finde, daß das Baby und Davy ganz dieselben Augen haben.«

»Klara«, sagte Miss Murdstone und stand zornig auf. »Manchmal bist du ganz verrückt.«

»Aber liebe Jane«, remonstrierte meine Mutter.

»Vollständig verrückt«, sagte Miss Murdstone. »Wie könntest du sonst meines Bruders Kind mit deinem Jungen vergleichen. Sie sind einander gar nicht ähnlich. Sie sind einander vollständig unähnlich. Unähnlich in jeder Hinsicht. Ich hoffe, sie werden es immer bleiben. Ich kann solche Vergleiche nicht ruhig mit anhören.« Damit stolzierte sie hinaus und pfefferte die Tür hinter sich zu.

Mit einem Wort, ich stand mit Miss Murdstone nicht auf gutem Fuß. Überhaupt mit niemand, nicht einmal mit mir selbst. Die mich lieb hatten, durften es nicht zeigen, und die mich nicht leiden konnten, zeigten es so deutlich, daß ich mich von dem immerwährenden Bewußtsein, duckmäuserisch, ungeschickt und mürrisch zu erscheinen, nicht befreien konnte.

Ich fühlte, daß ich ihnen so zur Last fiel, wie sie mir. Wenn ich in das Zimmer kam, wo sie gerade saßen und miteinander sprachen, und meine Mutter schien heiter zu sein, umwölkte sich sofort ihr Gesicht. War Mr. Murdstone in seiner besten Laune, so kam ich als Störenfried. Und Miss Murdstones schlechteste steigerte ich noch. Ich bemerkte ganz gut, daß meine Mutter immer das Opfer war. Sie fürchtete sich, mit mir zu sprechen oder freundlich mit mir zu sein, um sich dadurch nicht einen Verweis zuzuziehen. Hauptsächlich aber nicht ihretwegen, sondern um mich bangte sie. Und ängstlich bewachte sie die Blicke der Murdstones, wenn ich mich nur rührte. Deshalb beschloß ich, allen möglichst aus dem Wege zu gehen, und saß manche kalte Winterstunde in meinem einsamen Schlafzimmer und brütete, in meinen kleinen Überrock gehüllt, über einem Buch.

Des Abends leistete ich zuweilen Peggotty in der Küche Gesellschaft. Dort fühlte ich mich wohl und brauchte mich nicht zu genieren. Aber das fand im Wohnzimmer keine Billigung. Die dort herrschende Quälerlaune machte all dem bald ein Ende. Man hielt mich immer noch für ein unentbehrliches Hilfsmittel zur Erziehung meiner armen Mutter und konnte meine Anwesenheit nicht missen.

»David«, sagte Mr. Murdstone eines Tags nach dem Abendessen, als ich mich wieder drücken wollte, »ich bemerke zu meinem Leidwesen, daß du mürrischer Gemütsart bist.«

»Mürrisch wie ein Bär«, sagte Miss Murdstone.

Ich blieb stehen und ließ den Kopf hängen. »Ein mürrischer und verstockter Charakter, David«, sagte Mr. Murdstone, »ist das Allerschlimmste.«

»Und der Junge ist das Verstockteste, was ich jemals gesehen habe«, bemerkte seine Schwester. »Ich glaube, selbst du, liebe Klara, mußt es bemerken.«

»Ich bitte um Entschuldigung, liebe Jane«, sagte meine Mutter, »aber bist du auch wirklich sicher, – du wirst es gewiß entschuldigen, liebe Jane, – bist du sicher, daß du Davy verstehst?«

»Ich müßte mich wirklich schämen, Klara, wenn ich den oder jeden andern Knaben nicht verstünde«, antwortete Miss Murdstone. »Ich behaupte gewiß nicht, sehr tief zu sein, aber auf gesunden Menschenverstand kann ich doch Anspruch machen.«

»Gewiß, liebe Jane«, antwortete meine Mutter, »bist du von sehr starkem Verstande.«

»O Gott, nein, bitte, sag das nicht, Klara«, unterbrach Miss Murdstone ärgerlich.

»Aber ich weiß, daß es der Fall ist«, fing meine Mutter wieder an, »und jeder weiß es. Ich selbst habe so mancherlei großen Nutzen davon – oder sollte es wenigstens haben –, daß niemand mehr davon überzeugt sein kann als ich, und deshalb äußere ich meine Meinung auch nur sehr schüchtern, meine liebe Jane, ich versichere es dir.«

»Also gut, ich verstehe den Jungen nicht, Klara«, sagte Miss Murdstone und ordnete die kleinen Fesseln an ihren Handgelenken. »Gut, wenn du willst, ich verstehe ihn also gar nicht. Er ist viel zu tief für mich. Aber vielleicht ist der Scharfblick meines Bruders durchdringend genug, Einsicht in diesen Charakter zu gewinnen. Und ich glaube, mein Bruder sprach gerade über dieses Thema, als wir ihn unschicklicherweise unterbrachen.«

»Ich glaube, Klara«, fiel Mr. Murdstone mit ernster Baßstimme ein, »es gibt bessere und unbefangenere Richter in dieser Frage als du bist.«

»Edward«, antwortete meine Mutter unterwürfig, »du bist natürlich in allen Fragen ein besserer Richter als ich und auch als Jane. Ich sagte nur –«

»Du sagtest nur etwas Schwaches und Unüberlegtes«, antwortete er. »Tue es nicht wieder, liebe Klara, und halte dich besser im Zaum.«

Die Lippen meiner Mutter bewegten sich, als ob sie antworteten: »Ja, lieber Edward.«

»Ich habe zu meinem Leidwesen bemerkt, David«, nahm Mr. Murdstone seine Rede wieder auf, »daß du von verstockter Gemütsart bist. Ich werde nicht ruhig zusehen, ohne nicht den Versuch zu machen, dich zu bessern. Du mußt sich anstrengen, anders zu werden, David. Wir müssen uns bemühen, dich anders zu machen.«

»Ich bitte um Entschuldigung, Sir«, stotterte ich, »ich glaube nicht, verstockt gewesen zu sein seit meiner Rückkehr.«

»Nimm deine Zuflucht nicht zur Lüge«, herrschte er mich so wild an, daß meine Mutter unwillkürlich ihre zitternde Hand ausstreckte, um mich zu schützen. »Du ziehst dich in deiner Verstocktheit auf dein eignes Zimmer zurück, du bleibst in deinem Zimmer, wenn du hier sein solltest. Ich sage es dir jetzt ein für allemal, daß ich dich hier und nicht dort zu sehen wünsche. Ferner, daß ich Gehorsam von dir verlange. Du kennst mich, David, ich will es.«

Miss Murdstone lachte spitzig auf.

»Ich will ein achtungsvolles, gehorsames und bereitwilliges Benehmen gegen mich, gegen Jane Murdstone und gegen deine Mutter sehen. Ich will nicht haben, daß ein Kind nach seinem Belieben dieses Zimmer scheut, als sei es verpestet. Setz dich.«

Er befahl mir wie einem Hund, und ich gehorchte wie ein Hund.

»Noch eins«, sagte er. »Ich bemerke, daß du einen Hang zu niedriger und gemeiner Gesellschaft zeigst. Du hast nicht mit Dienstboten umzugehen. In der Küche wirst du von den vielen Dingen, die dir noch fehlen, nichts lernen. Von dem Weib, das dir Vorschub leistet, schweige ich, da du selbst, Klara«, – er wandte sich etwas leiser zu meiner Mutter – »aus alter Erinnerung und langer Gewohnheit in bezug auf sie eine Schwäche an den Tag legst, die noch nicht überwunden ist.«

»Eine ganz unerklärliche Verblendung!« rief Miss Murdstone.

»Ich sage also«, fuhr er wieder zu mir gewendet fort, »daß ich es mißbillige, wenn du eine Gesellschaft wie Frau Peggotty vorziehst, und daß du sie daher aufzugeben hast. Jetzt verstehst du mich, David, und kennst die Folgen, die dir blühen, wenn du mir nicht wortwörtlich gehorchst.«

Ich zog mich also nicht mehr auf mein Zimmer zurück, suchte nicht mehr meine Zuflucht bei Peggotty und saß traurig Tag für Tag in der Wohnstube und sehnte mich nach der Nacht und dem Schlafengehen.

Unter welch peinlichem Zwang hatte ich zu leiden, wenn ich in derselben Stellung stundenlang dasitzen mußte und aus Angst nicht Arm oder Fuß rührte, damit nicht Miss Murdstone immerwährend über mein unruhiges Wesen klagte; ich sah vor mich hin, um nicht einem Blick der Abneigung oder des Forschens zu begegnen und neuen Stoff zur Beschwerde zu geben. Welch unerträgliche Langeweile, dem Ticken der Uhr zuzuhören, zu sehen, wie Miss Murdstone die kleinen, glänzenden Stahlperlen aufreihte, sich den Kopf zu zerbrechen, ob sie wohl jemals heiraten würde, und wenn, was für einen Unglücklichen wohl, die Furchen im Kamin zu zählen und dann mit den Augen durch die labyrinthischen Verschlingungen der Tapete hinauf zur Decke zu schweifen.

Wie einsam waren meine Spaziergänge durch die schmutzigen Gassen bei dem schlechten Winterwetter. Ich schleppte das Bild des Wohnzimmers mit Mr. und Miss Murdstone darin in meinem Innern überall hin und mit mir herum: eine ungeheure Last, die ich da trug, ein Alpdruck bei Tage, den ich nicht zu verscheuchen vermochte, ein Gewicht auf meinem Geist, das mich stumpf machte. Wie vielmal saß ich am Speisetisch stumm und verlegen da, immer mit dem Gefühl, daß ein Besteck zu viel da sei, und zwar das meine, ein Magen zu viel, nämlich der meine, ein Teller und ein Stuhl zu viel, und zwar der meine, und eine Person zu viel, nämlich ich.

Was waren das für Abende, wenn die Kerzen kamen, und ich mich beschäftigen mußte, und weil ich nicht wagte, ein unterhaltendes Buch zu lesen, mich über einen hartköpfigen und noch hartherzigeren arithmetischen Leitfaden hermachte. Maß- und Gewichtstabellen paßten sich Melodien an, wie »Rule Britannia« und »Weg mit den Grillen und Sorgen«, und gingen mir durch ein Ohr herein und aus dem andern wieder hinaus.

Oft konnte ich das Gähnen nicht mehr verbeißen und nickte trotz aller Vorsicht ein. Wie erschreckt fuhr ich dann aus dem heimlichen Schlummer wieder auf. Nur selten versuchte ich schüchterne Bemerkungen und erhielt niemals eine Antwort. Wie sehr kam ich mir wie eine Null vor, die niemand beachtete und die doch jedem im Weg stand, und immer war es mir eine Art Trost, wenn mir Miss Murdstone beim ersten Schlag Neunuhr befahl, zu Bett zu gehen.

So schleppten sich die Ferien hin bis zu dem Morgen, wo Miss Murdstone sagte: »Heute ist der letzte Tag um«, und mir für die Ferien die letzte Tasse Tee gab.

Der Abschied fiel mir nicht schwer. Ich war in einen Zustand von Stumpfheit verfallen, aus dem mir nur die Hoffnung auf Steerforth ein wenig heraushalf, wenn auch Mr. Creakle hinter ihm dräute. Wieder erschien Mr. Barkis an der Gartentür und wieder sprach Miss Murdstones warnende Stimme: »Klara!« als sich meine Mutter über mich beugte, um mir Lebewohl zu sagen.

Ich küßte meine Mutter und mein kleines Brüderchen und war sehr traurig. Nicht so sehr die Umarmung, die inbrünstiger war als sie sein durfte, lebt in meiner Erinnerung fort als das, was jetzt folgte.

Ich saß schon im Wagen, als meine Mutter mich noch einmal rief. Ich sah hinaus, und sie stand in der Gartentür allein und hielt den Säugling empor, um ihn mir zu zeigen. Die Luft war kalt und still und kein Haar auf ihrem Haupte, keine Falte ihres Kleides regte sich, als sie mich beredt ansah und ihr Kind in die Höhe hielt.

So verlor ich sie. So sah ich sie später in meinen Träumen in der Schule – eine stumme Gestalt vor meinem Bett, immer mit demselben beredten Gesicht und dem Säugling in den Armen.

9. Kapitel Ein denkwürdiger Geburtstag


9. Kapitel Ein denkwürdiger Geburtstag

Ich übergehe alles, was sich in der Schule abspielte bis zu meinem Geburtstag im März. Außer daß Steerforth noch bewunderungswürdiger war als je, ist mir nichts im Gedächtnis geblieben. Er sollte am Ende des Semesters austreten und kam mir lebhafter und selbstständiger vor als je, und daher noch gewinnender. Sonst weiß ich nichts mehr. Das große Ereignis, das diese Zeit für mich auszeichnet, scheint alle kleinen Erinnerungen verschlungen zu haben und allein übriggeblieben zu sein. Wie klar ich mich an den Tag erinnere! Ich rieche den Nebel, der das Haus umdunkelt, sehe die Gegenstände draußen wie gespenstige Schatten hindurchschimmern, ich fühle mein bereiftes Haar sich kalt und feucht an meine Wange kleben, ich blicke in die dämmerhafte Perspektive der Schulstube hinab, wo hie und da ein flackerndes Licht das trübe Zwielicht erleuchtet und der Atem der Schüler sich dampfend in die kalte Luft erhebt, wenn sie sich auf die Finger blasen, mit den Füßen auf dem Flur stampfend.

Wir waren nach dem Frühstück eben vom Spielplatz hereingekommen, als Mr. Sharp eintrat und sagte:

»David Copperfield soll zum Direktor kommen.«

Ich erwartete ein Geburtstagsgeschenk von Peggotty, und mein Gesicht heiterte sich auf.

Einige Jungen um mich herum mahnten mich, ihrer bei der Verteilung der guten Dinge nicht zu vergessen, als ich sehr vergnügt von meinem Platze aufsprang.

»Eil dich nicht, David«, sagte Mr. Sharp. »Du hast Zeit genug, mein Kind. Eil dich nicht.«

Der warme Ton, mit dem er sprach, hätte mir auffallen müssen, aber ich achtete nicht darauf.

Ich eilte in das Wohnzimmer und sah dort Mr. Creakle beim Frühstück sitzen, Rohrstock und eine Zeitung neben sich. Er hielt einen offnen Brief in der Hand. Ein Geburtstagskorb war nicht da.

»David Copperfield«, sagte Mrs. Creakle und führte mich zum Sofa und setzte sich neben mich. »Ich habe etwas Besonderes mit dir zu reden. Ich habe dir etwas mitzuteilen, mein Kind.«

Mr. Creakle, zu dem ich natürlich hinschielte, schüttelte nur den Kopf, ohne mich anzusehen, und verschluckte einen Seufzer mit einem großen Stück Butterbrot.

»Du bist noch zu jung, um zu wissen, wie die Welt sich mit jedem Tag verändert«, sagte Mrs. Creakle, »und wie die Menschen dahingehen, aber wir alle müssen daran glauben, David, manche von uns in der Jugend, manche im Alter. Manche haben es das ganze Leben vor Augen.«

Ich sah sie mit Spannung an.

»Befanden sich alle wohl, als du nach den Ferien von zu Hause wegreistest?« fragte Mrs. Creakle nach einer Pause. »War deine Mama wohl?«

Ich zitterte, ohne recht zu wissen warum, sah sie immer noch mit großem Ernst an, konnte aber nicht antworten. Sie fuhr fort:

»Weil ich dir zu meinem größten Kummer sagen muß, daß deine Mutter sehr krank ist, wie ich heute morgen erfuhr.«

Ein Nebel bildete sich zwischen Mrs. Creakle und mir, und ihre Gestalt schien einen Augenblick zu schwanken. Dann stürzten mir die brennenden Tränen aus den Augen und ich sah sie wieder deutlich neben mir sitzen.

»Sie ist sehr gefährlich krank.«

Jetzt wußte ich alles.

»Sie ist gestorben.«

Sie hätte es nicht auszusprechen brauchen. Ich hatte bereits einen verzweifelten Schmerzensschrei ausgestoßen und begriff, daß ich eine Waise war in der weiten Welt.

Mrs. Creakle benahm sich sehr gütig zu mir.

Sie behielt mich den ganzen Tag bei sich im Zimmer und ließ mich nur manchmal allein. Und ich weinte, bis ich vor Erschöpfung einschlief, und wachte auf und jammerte wieder. Als ich nicht mehr weinen konnte, fing ich an zu grübeln. Da wurde mir die Brust noch enger und mein Gram schwoll zu einem dumpfen Schmerz an, für den es keine Linderung gab.

Und doch flatterten meine Gedanken herum und blieben nicht fest an dem Unglück haften, das mich niederdrückte. Ich dachte an unser Haus, wie es nun verschlossen und öde wäre. Ich dachte an das kleine Kindchen, das, wie Mrs. Creakle sagte, seit einiger Zeit hinsiechte und, wie man fürchte, wohl auch sterben würde. Ich dachte an meines Vaters Grab auf dem Kirchhof neben unserm Hause, und daß meine Mutter jetzt auch bald unter dem mir so bekannten Baume ruhen werde. Ich stellte mich auf den Stuhl, als man mich allein gelassen, und blickte in den Spiegel, um zu sehen, wie rot meine Augen und bekümmert meine Züge seien. Ich fragte mich nach einigen Stunden, ob meine Tränen wirklich versiegt wären, wie es der Fall zu sein schien. Das schmerzte mich außer meinem Verlust am meisten, wenn ich an das Nachhausegehen dachte; – sollte ich doch dem Leichenbegräbnis beiwohnen.

Dann hatte ich die Empfindung, als ob mich etwas vor den übrigen Knaben auszeichne, und daß ich in meiner Betrübnis eine wichtige Person sei.

Wenn jemals ein Kind einen aufrichtigen Schmerz fühlte, so war ich es, aber ich erinnere mich, daß diese Wichtigkeit mir eine Art Trost gewährte, als ich nachmittags während der Schulstunden allein auf dem Spielplatz herumging. Wenn die Schüler aus dem Fenster nach mir herunterblickten, fühlte ich mich ausgezeichnet und sah noch gramvoller drein und ging langsamer. Als die Schule aus war und sie herauskamen und mich anredeten, rechnete ich es mir wie Güte an, daß ich mich nicht stolz gegen sie benahm und sie alle ebenso sehr beachtete wie früher.

Ich sollte am nächsten Abend nach Hause fahren, aber nicht mit der Nachtpost, sondern mit der gewöhnlichen Postkutsche, die man den Landwagen nannte, weil sie meist von Bauern benutzt wurde, die nur kurze Strecken reisten. Das Geschichtenerzählen unterblieb für diesen Abend, und Traddles bestand darauf, mir sein Kissen zu leihen. Ich begriff nicht, was es mir helfen sollte. Aber der arme Kerl hatte sonst nichts herzugeben, außer einen Bogen Papier voll Gerippen, den er mir zum Abschied als Tröster für meinen Schmerz und zum Wiederherstellen meines Seelenfriedens schenkte.

Ich verließ Salemhaus nachmittags und ahnte nicht, daß ich nicht wieder zurückkehren sollte. Wir fuhren die ganze Nacht hindurch sehr langsam und erreichten Yarmouth erst um zehn Uhr morgens. Ich schaute nach Mr. Barkis aus, aber er war nicht da, und an seiner Stelle erschien am Kutschenfenster ein dicker, kurzatmiger, fröhlich aussehender kleiner alter Mann in schwarzem Anzug, mit fadenscheinigen schwarzen Schleifen an den Kniehosen und einem breitkrempigen Hut und sagte:

»Master Copperfield?«

»Ja, Sir.«

»Wenn Sie mit mir kommen wollen, junger Herr«, und er öffnete die Tür, »so werde ich das Vergnügen haben, Sie heimzubringen.«

Ich gab ihm meine Hand und hätte gern gewußt, wer er wäre. Dann gingen wir in einen Laden in einer engen Gasse, über dem geschrieben stand: Omer, Tuchhändler, Schneider, Hutmacher, Leichenbesorger usw. Es war ein kleiner, dumpfer Laden, voll von fertigen und halbfertigen Kleidern aller Art; am Fenster hingen Filzhüte und Mützen. Wir traten in ein kleines Stübchen hinten, wo drei junge Mädchen eine große Menge schwarzen Stoffes verarbeiteten, der über den ganzen Tisch ausgebreitet war, während kleine Schnitzel davon auf dem ganzen Fußboden verstreut lagen. Es brannte ein starkes Feuer im Ofen und ein erstickender Geruch von warmem schwarzem Krepp erfüllte die Luft.

Die drei Mädchen, die sehr munter und fleißig zu sein schienen, hoben einen Augenblick ihre Köpfe und nähten dann weiter. Gleichzeitig tönte aus einem Arbeitsschuppen auf einem kleinen Hof vor dem Fenster ein taktmäßiges Hämmern herein: rat-tat-tat, rat-tat-tat, rat-tat-tat, – ohne Unterbrechung.

»Nun«, sagte mein Führer zu einem der drei Mädchen. »Wie weit bist du, Minnie?«

»Wir werden schon rechtzeitig zum Anprobieren fertig sein«, antwortete die Gefragte munter, ohne aufzublicken. »Hab keine Angst, Vater.«

Mr. Omer nahm den breitkrempigen Hut ab, setzte sich nieder und keuchte. Er war so dick, daß er einige Zeit brauchte, ehe er sagen konnte: »Da bin ich froh.«

»Vater«, sagte Minnie lustig, »du wirst dick wie eine Robbe.«

»Ich weiß auch nicht, wies kommt, aber es ist so.«

»Du bist zu bequem, da siehst dus. Du nimmst die Dinge zu leicht.«

»Es hat keinen Zweck, sie anders zu nehmen, mein Herz«, meinte Mr. Omer.

»Nein, wahrhaftig nicht«, gab seine Tochter zur Antwort. »Wir sind alle fröhlich hier, Gott sei Dank, nicht wahr, Vater?«

»Hoffentlich, mein Kind. Da ich jetzt wieder Luft gekriegt habe, will ich diesem jungen Gelehrten Maß nehmen. Wollen Sie so gut sein und mit mir in den Laden kommen, Master Copperfield?«

Ich ging vor Mr. Omer her; nachdem er mir ein Stück Tuch gezeigt hatte, das, wie er sagte, extra superfein sei und für alles andere als für Trauer um Eltern zu fein wäre, nahm er mir Maß und schrieb es in ein Buch.

Während er die Zahlen notierte, wies er auf sein Warenlager und auf gewisse Moden, die eben »aufgekommen« und andere, die wieder »abgekommen« waren.

»Und dabei verlieren wir oft viel Geld«, sagte er. »Die Moden sind wie die Menschen, sie kommen und gehen und niemand weiß, wann, warum und wieso. Meiner Meinung nach ist alles wie das Leben, wenn man es von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet.«

Mir war viel zu kummervoll zumute, als daß ich mich auf das Gespräch, das wohl auch unter andern Umständen über mein Begriffsvermögen gegangen wäre, hätte einlassen können. Mr. Omer führte mich wieder keuchend zurück in die Stube. Dann rief er eine kleine Treppe hinab: »Bringt den Tee herauf und Butterbrot«, was nach einiger Zeit, währenddessen ich mich umgeschaut und nachgegrübelt, dem Nähen in der Stube zugesehen und dem Hämmern im Hof draußen zugehört hatte, auf einem Präsentierbrett erschien und für mich bestimmt war.

»Ich kenne Sie schon lange, mein junger Freund«, sagte Mr. Omer, während er mir beim Frühstück zusah, von dem ich nur wenig genießen konnte, weil mir die schwarze Umgebung jeden Appetit benahm.

»Wirklich, Sir?«

»Seit Sie auf der Welt sind, fast noch länger. Ich kannte doch Ihren Vater. Er war fünf Fuß neuneinhalb Zoll hoch und liegt fünfundzwanzig Fuß tief in der Erde.«

»Rat-tat-tat, rat-tat-tat, rat-tat-tat«, klang es draußen im Hofe.

»Er liegt fünfundzwanzig Fuß in der Erde«, sagte Mr. Omer aufgeräumt. »Entweder auf sein oder auf ihr Verlangen, ich weiß es nicht mehr genau.«

»Wissen Sie, was mein kleiner Bruder macht, Sir?« fragte ich.

Mr. Omer schüttelte den Kopf.

Rat-tat-tat, rat-tat-tat, rat-tat-tat.

»Er liegt in seiner Mutter Armen«, sagte er endlich.

»Ach armer, kleiner Junge, ist er tot?«

»Grämen Sie sich nicht mehr, als Sie müssen«, sagte Mr. Omer. »Das Kind ist tot.«

Meine Wunde brach von neuem auf. Ich schob das kaum berührte Frühstück zurück, stand auf und legte den Kopf auf den andern Tisch in einer Ecke des kleinen Zimmers. Minnie räumte hastig auf, damit ich die Trauersachen nicht mit meinen Tränen benetze. Sie schien ein hübsches, gutherziges Mädchen zu sein und strich mir mit sanfter freundlicher Hand das Haar aus dem Gesicht, aber sehr heiter, weil sie fast mit ihrer Arbeit fertig war, und so ganz anders als ich.

Jetzt hörte das Hämmern auf, und ein junger, hübscher Bursche kam über den Hof ins Zimmer. Er hatte einen Hammer in der Hand und den Mund voll kleiner Nägel, die er herausnehmen mußte, ehe er reden konnte.

»Nun, Joram«, sagte Mr. Omer, »bist du auch fertig?«

»Allright«, sagte Joram, »fertig, Sir.«

Minnie wurde ein wenig rot, und die andern beiden Mädchen lächelten.

»Du hast also gestern bei Licht gearbeitet, was? Als ich im Klub war, nicht wahr?« fragte Mr. Omer und kniff ein Auge zu.

»Ja«, nickte Joram. »Da Sie sagten, wir wollten einen kleinen Ausflug machen und zusammen hinüberfahren, wenn wir fertig würden, Minnie und ich und Sie –«

»So! Ich dachte schon, du wolltest mich ganz weglassen«, sagte Mr. Omer und lachte, bis er husten mußte.

»– da Sie so gut waren, das zu fragen«, fuhr der junge Mann fort, »hab ich mich eben ordentlich dazu gehalten. Wollen Sie sichs einmal ansehen?«

»Ja«, sagte Mr. Omer und stand auf. »Master«, und er wandte sich an mich. »Wollen Sie vielleicht Ihrer –«

»Nein, Vater«, unterbrach ihn Minnie.

»Ich dachte, es wäre ihm angenehm«, sagte Mr. Omer, »aber du hast ganz recht, mein Schatz.«

Ich weiß nicht, wieso ich erriet, daß er sich meiner lieben Mutter Sarg ansehen wollte. Ich hatte noch nie einen zimmern hören, aber ich begriff langsam, was das Hämmern von vorhin bedeutete; und als der junge Mann wieder eintrat, wußte ich ganz bestimmt, woran er gearbeitet hatte.

Da die Arbeit jetzt fertig war, bürsteten die beiden andern Mädchen die Schnitzel und Fäden von ihren Kleidern und gingen in den Laden hinaus, um aufzuräumen und auf Kunden zu warten.

Minnie blieb zurück, um die fertig gewordne Arbeit zusammenzufalten und in zwei Körbe zu packen. Sie kniete dabei und summte ein munteres Lied. Joram, in dem ich ohne Mühe ihren Geliebten erkannte, kam herein und raubte ihr einen Kuß und sagte, ihr Vater sei nach dem Wagen gegangen und er müsse sich auch reisefertig machen. Dann ging er wieder hinaus, und sie steckte einen Fingerhut und eine Schere in die Tasche und eine Nadel mit schwarzem Zwirn in ihren Brustlatz und machte sich dann schön vor einem kleinen Spiegel hinter der Tür, in dem ich ein fröhliches Gesicht sehen konnte.

Alles dies bemerkte ich, während ich an dem Tisch in einer Ecke saß, den Kopf in die Hand gestützt, im Geiste ganz anderswo. Der Wagen fuhr bald vor, und nachdem man zuerst die Körbe und dann mich hineingehoben, stiegen die drei andern ein. Ich erinnere mich, es war halb ein Korb- halb ein Möbelwagen, dunkel angestrichen und von einem Rappen mit langem Schweif gezogen.

Ich glaube, ich habe niemals eine so seltsame Empfindung gehabt, wie auf dieser Fahrt, wenn ich mir vor Augen hielt, woran sie gearbeitet hatten und wie sie sich jetzt über die Reise freuten. Ich hegte keinen Groll gegen sie, scheute mich vor ihnen wie vor Wesen, die keine Gemeinschaft mit mir hatten. Sie waren alle bester Laune. Der Alte saß auf dem Kutschbock, und die beiden jungen Leute saßen hinter ihm, und wenn er etwas sagte, beugten sie sich links und rechts von seinem pausbäckigen Gesicht vor und kümmerten sich sehr um ihn. Sie würden wohl auch mit mir gesprochen haben, wenn ich mich nicht scheu in eine Ecke zurückgezogen hätte, ganz entsetzt über ihre Liebelei und ihre Fröhlichkeit, die zwar nicht lärmend war, mich aber doch in eine Art Staunen versetzte, daß der Himmel keine Strafe für ihre Herzenshärte herabsandte. Wenn sie anhielten, um das Pferd zu füttern, und selbst aßen und tranken und sich vergnügten, konnte ich nichts anrühren und blieb nüchtern.

Als wir unser Haus erreichten, schlüpfte ich so schnell wie möglich hinten aus dem Wagen, um nicht in ihrer Gesellschaft vor diese geweihten Fenster treten zu müssen, die mich anblickten wie geschlossene Augen, die einst hell geglänzt. Ach, wie wenig Ursache hatte ich zu sorgen, daß ich keine Tränen mehr haben würde, als ich die Fenster meiner Mutter sah und hinter ihnen das Zimmer, das in bessern Zeiten auch das meine gewesen war!

Ich lag in Peggottys Armen, ehe ich noch zur Tür kam, und sie brachte mich in das Haus. Ihr Schmerz brach heftig aus, als sie mich erblickte, aber bald bezwang sie sich und sprach flüsternd und ging auf den Zehen, wie um die Tote nicht zu stören.

Sie war seit langem nicht ins Bett gekommen. Sie wachte jetzt noch jede Nacht. Solange ihr armer, süßer Liebling über der Erde weilte, sagte sie, wollte sie ihn nicht verlassen.

Mr. Murdstone nahm keine Notiz von mir, als ich in die Wohnstube trat. Er saß in seinem Lehnstuhl neben dem Kamin und weinte still vor sich hin. Miss Murdstone, die emsig an dem mit Briefen und Papieren bedeckten Tische schrieb, reichte mir ihre eisigen Fingernägel und fragte mich mit kaltem Flüstern, ob mir die Trauerkleider angemessen worden wären.

Ich sagte: »Ja.«

»Und hast du deine Wäsche mitgebracht?«

»Ja, Ma’am. Ich habe alle meine Kleider mitgenommen.«

Das war der ganze Trost, den sie mir in ihrer Festigkeit spendete. Ich glaube, daß sie ein besonderes Vergnügen daran fand, ihre sogenannte Selbstbeherrschung, Festigkeit und Charakterstärke und das ganze übrige höllische Repertoir ihrer unliebenswürdigen Eigenschaften bei dieser Gelegenheit zu offenbaren. Besonders stolz schien sie auf ihre Geschäftskenntnis zu sein und bewies sie, indem sie alles zu Papier brachte und sich von nichts rühren ließ. Den ganzen Tag und noch den nächsten Morgen bis zum Abend saß sie an diesem Schreibtische, kratzte unbeirrt mit einer harten Feder, sprach zu jedermann mit dem gleichen teilnahmslosen Geflüster, und kein Muskel ihres Gesichts und kein Ton ihrer Stimme milderte sich einen Augenblick.

Ihr Bruder nahm manchmal ein Buch vor, aber las nicht darin. Eine ganze Stunde lang wendete er kein Blatt um, legte es dann wieder hin und ging im Zimmer auf und ab. Ich saß meist da mit gefalteten Händen, beobachtete ihn stundenlang und zählte seine Schritte. Er sprach sehr selten mit seiner Schwester und nie mit mir. Er schien außer den Uhren das einzig ruhelose Wesen in dem ganzen totenstillen Haus zu sein.

In diesen Tagen vor dem Begräbnis bekam ich Peggotty nur selten zu Gesicht. Bloß wenn ich die Treppe hinauf- und hinunterging, fand ich sie immer in unmittelbarer Nähe des Zimmers, wo meine Mutter und ihr Kind lagen. Und jeden Abend kam sie an mein Bett und blieb bei mir, bis ich einschlief. Ein oder zwei Tage vor dem Leichenbegräbnis nahm sie mich mit in das Zimmer. Ich erinnere mich nur noch, daß unter einem weißen Laken auf dem Bett, das wundervoll rein und frisch aussah, die Verkörperung der feierlichen Stille, die im Hause herrschte, zu liegen schien, und daß ich, als sie das Tuch sanft wegziehen wollte, schrie: »nein, nein«, und ihre Hand zurückhielt.

Wenn das Begräbnis gestern gewesen wäre, könnte ich mich seiner nicht besser erinnern. Das Aussehen des Besuchszimmers, als ich hineintrat, der helle Schein des Feuers, der glänzende Wein in den Karaffen, die Muster der Gläser und Teller, der schwache, süße Duft der Kuchen, der Geruch von Miss Murdstones Kleid und unsern Trauerkleidern, alles steht wieder vor mir.

Mr. Chillip ist anwesend und spricht mich an.

»Und wie geht’s denn Master David?« fragt er freundlich.

Ich kann ihm doch nicht sagen, gut! Ich gebe ihm meine Hand und er hält sie fest.

»Mein Gott«, und er lächelt schüchtern, und etwas glänzt in seinen Augen, »unsere kleinen Freunde wachsen in die Höhe um uns her. Wir verlieren sie fast aus den Augen, Ma’am.« Das sagt er zu Miss Murdstone, bekommt aber keine Antwort. »Wir haben große Fortschritte gemacht, Ma’am!«

Miss Murdstone antwortet mit einem Stirnrunzeln und einem steifen Knix. Mr. Chillip geht verschüchtert in eine Ecke und zieht mich zu sich und tut den Mund nicht mehr auf.

Ich bemerke das, weil ich alles bemerke, was geschieht. Nicht weil ich meinetwegen acht gebe, oder es seit meiner Ankunft getan hätte. Und jetzt fängt die Totenglocke zu läuten an und Mr. Omer und ein anderer Mann kommen und ordnen uns. Wie mir Peggotty vor langer Zeit erzählt hat, haben sich die Leidtragenden, die schon meinem Vater zum Grabe folgten, in demselben Zimmer geordnet.

Der Leichenzug besteht aus Mr. Murdstone, Mr. Grayper, Mr. Chillip und mir. Wie wir zur Tür heraustreten, sind die Träger mit ihrer Bürde schon im Garten und schreiten vor uns her den Steig entlang an den Ulmen vorbei und durch das Gartentor zum Friedhof, wo ich so manchen Sommermorgen die Vögel habe singen hören.

Wir stehen um das Grab herum. Der Tag scheint mir anders als jeder andre Tag und das Licht hat seine Farbe verloren. Dann herrscht die feierliche Stille, die wir herausgetragen haben mit dem, was jetzt in der Erde ruht. Wir stehen entblößten Hauptes da, und ich höre die Stimme des Geistlichen hier im Freien, so fern und doch so deutlich klingen: »Ich bin die Auferstehung und das Leben, spricht der Herr.« Dann höre ich schluchzen; ich stehe gesondert von den übrigen und sehe die gute und treue Dienerin, die ich von allen Menschen auf Erden am meisten liebe, und zu der, wie mein kindliches Herz fest überzeugt ist, der Herr eines Tages sagen wird: »Du hast wohlgetan.«

Es sind viele bekannte Gesichter da in der kleinen Menge, die ich von der Kirche her kenne, Gesichter, die meine Mutter noch kannten, als sie in ihrer Jugendblüte in das Dorf gekommen war. Ich kümmere mich nicht um sie, ich kümmere mich nur um meinen Schmerz und doch sehe ich sie und kenne sie alle und sehe selbst weit im Hintergrund Minnie zuschauen und auf ihren Schatz blicken, der in meiner Nähe steht.

Es ist vorbei, und das Grab ist zugeschüttet, und wir wenden uns wieder heimwärts. Vor uns steht unser Haus, so schmuck und unverändert, so fest verknüpft in meiner Seele mit dem Jugendbild derer, die nicht mehr ist. All mein Schmerz ist nichts gegen den, den ich jetzt fühle. Aber sie führen mich fort, und Mr. Chillip redet mir zu, und wie wir daheim sind, benetzt er meine Lippen mit Wasser, und als ich ihn um Erlaubnis bitte, auf mein Zimmer gehen zu dürfen, entläßt er mich mit der Zärtlichkeit einer Frau. Alles das kommt mir vor, als wäre es gestern geschehen. Ereignisse einer spätem Zeit sind fortgeweht an jene Küste, wo alles Vergessene dereinst wiederkommt. Doch dieses ragt vor mir wie ein hoher Fels im weiten Meer.

Ich wußte, daß Peggotty in mein Zimmer kommen würde. Die Sabbatstille tat uns beiden wohl. Sie setzte sich neben mich auf mein kleines Bett, nahm meine Hand, drückte sie von Zeit zu Zeit an ihre Lippen und streichelte sie, wie sie wohl mein kleines Brüderchen gestreichelt haben mochte, und erzählte mir in ihrer schlichten Art, wie alles gekommen war.

»Sie fühlte sich seit langer Zeit gar nicht mehr recht wohl«, sagte Peggotty. »Sie fühlte sich nicht glücklich. Als das Kleine zur Welt kam, dachte ich, es würde mit ihr besser werden. Aber sie war angegriffener als je und schwand dahin mit jedem Tage. Vor der Geburt des Kindes pflegte sie viel allein zu sitzen und dann weinte sie; aber später sang sie ihm vor, so leise, daß ich manchmal dachte, es sei wie eine Stimme in der Luft, die langsam verklingt.

Ich glaube, sie wurde in der letzten Zeit immer verschüchterter und furchtsamer, und ein hartes Wort war für sie ein Schlag, aber gegen mich blieb sie immer die gleiche. Sie wurde nie anders gegen ihre einfältige Peggotty, mein süßes Mädel.«

Hier hielt Peggotty inne und klopfte mir ein Weilchen sanft die Hand.

»Das letzte Mal, wo sie ganz wieder schien wie früher, war an jenem Abend, wo du nach Hause kamst, mein Liebling. Und am Tag, als du fortgingst, sagte sie zu mir: ›Ich werde meinen Herzensliebling nie mehr wiedersehen. Eine Stimme sagt es mir und ich weiß, daß sie die Wahrheit spricht.‹ Sie versuchte dann heiter zu erscheinen, und manchmal, wenn sie zu hören bekam, sie wäre gedankenlos und leichtsinnig, tat sie so, als ob sies wäre, aber es war schon alles vorbei. Sie sagte ihrem Manne nichts. Bis eines Abends, kaum eine Woche, ehe sie starb, da sagte sie zu ihm, ›ich glaube, ich sterbe bald.‹

›Jetzt hab ichs vom Herzen herunter, Peggotty‹, sagte sie dann zu mir, als ich sie an diesem Abend zu Bett brachte. ›Es wird ihm in den wenigen Tagen, die ich noch zu leben habe, deutlicher und deutlicher werden, dem Armen. Und dann ists vorbei. Ich bin sehr müde. Wenn es nur Schlaf ist, so bleibe bei mir sitzen und verlaß mich nicht. Gott segne meine beiden Kinder. Gott beschütze und behüte meinen vaterlosen Jungen.‹

»Seitdem hab ich sie nicht mehr verlassen«, sagte Peggotty. »Sie sprach oft mit den beiden da unten, denn sie liebte sie. Sie konnte nicht anders, sie mußte jeden lieben, der in ihrer Nähe war. Aber wenn sie von ihrem Bette weggegangen waren, da mußte ich kommen, als ob nur Ruhe sein könnte, wo Peggotty war, und nie konnte sie anders einschlafen.

Am letzten Abend küßte sie mich und sagte, ›wenn das Baby mit mir sterben sollte, Peggotty, so sollen sie es mir in die Arme legen und uns zusammen begraben. Und mein lieber Sohn soll zu meinem Grabe gehen‹, sagte sie, ›erzähle ihm, daß ich ihn, als ich hier lag, nicht einmal, sondern tausendmal gesegnet habe.‹«

Wieder folgte eine Pause des Schweigens, und Peggotty klopfte mir wieder sanft die Hand.

»Es war schon spät in der Nacht, da verlangte sie zu trinken, und als sie getrunken hatte, da lächelte sie mich so geduldig und lieb und schön an.

Der Tag brach an und die Sonne ging eben auf, als sie mir erzählte, wie gütig und rücksichtsvoll Mr. Copperfield immer gegen sie gewesen war, wie er mit ihr Geduld gehabt und ihr immer, wenn sie an sich selbst zweifelte, versichert hatte, daß ein Herz voll Liebe besser und stärker sei als alle Weisheit, und daß ihn ihre Liebe glücklich mache. ›Liebe Peggotty‹ sagte sie dann, ›lege mich näher an dich heran‹ – so schwach war sie schon – ›lege deinen lieben Arm unter meinen Kopf und wende mein Gesicht dir zu, denn deine Züge gehen immer weiter von mir weg und ich will dir so nahe sein.‹ Ich tat, wie sie verlangte, und ach, Davy, die Zeit war gekommen, wo das wahr wurde, was ich dir einmal gesagt habe, sie war froh, ihren armen Kopf auf den Arm ihrer einfältigen, mürrischen, alten Peggotty legen zu können. Sie starb wie ein Kind, das einschläft.«

So endigte Peggottys Erzählung. Von dem Augenblick an, wo ich den Tod meiner Mutter erfuhr, war das Bild, das ich mir zuletzt von ihr machte, verschwunden. Von dem Augenblick an erinnerte ich mich ihrer bloß als der jungen Mutter meiner frühesten Kindheit, die ihre glänzenden Locken um ihre Finger zu wickeln und im Zwielicht mit mir im Zimmer herumzutanzen pflegte. Mit ihrem Tode schwebte ihr Bild zurück in ihre ruhige, ungestörte Jugendzeit, und alles übrige war ausgelöscht.

Die Mutter, die im Grabe ruht, ist die Mutter meiner Kindheit, das kleine Wesen in ihren Armen ist, wie ich einst gewesen war, und liegt an ihrem Busen eingelullt auf ewig.

31. Kapitel Ein noch größerer Verlust


31. Kapitel Ein noch größerer Verlust

Auf Peggottys Bitte wurde mir der Entschluß nicht schwer zu bleiben, bis die irdischen Reste des armen Botenfuhrmanns ihre letzte Reise nach Blunderstone machten.

Schon seit langer, langer Zeit hatte Peggotty aus ihren Ersparnissen ein Grab auf dem alten Kirchhof neben dem ihres lieben, süßen Mädels, wie sie immer meine Mutter nannte, gekauft; und dort sollte er jetzt ruhen.

Ich leistete ihr Gesellschaft und tat, was ich konnte für sie. Es war wenig genug, und ich fürchte, ich empfand eine gewisse Befriedigung persönlicher und beruflicher Natur, daß ich mich erkenntlich erweisen konnte, indem ich Mr. Barkis‘ letzten Willen im Testament übernahm und seinen Inhalt erklärte.

Ich kann auf das Verdienst des Ratschlags Anspruch machen, es in dem Kasten gesucht zu haben. Man fand es endlich in einem Futtersack, worin sich außer einem Bündel Heu noch eine alte goldne Uhr mit Kette und Petschaft, die Mr. Barkis an seinem Hochzeitstag getragen hatte und seitdem niemals wieder, ein silberner Pfeifenklopfer in Gestalt eines Beines, eine künstliche Zitrone voll winziger Tassen, die er wahrscheinlich gekauft, um sie mir zu schenken, von der er sich aber nicht hatte trennen können, dann 87½ Guineen in Gold und ganz neuen Banknoten, mehrere Aktien der englischen Bank, ein altes Hufeisen, ein falscher Schilling, ein Stück Kampfer und eine Austernschale befanden. Aus dem Umstand, daß sie poliert war und inwendig in Regenbogenfarben spielte, vermute ich, daß Mr. Barkis irgendeinen unklaren Begriff von Perlen gehabt haben mußte.

Durch viele Jahre hatte Mr. Barkis auf allen seinen Fahrten diesen Koffer mit sich geführt. Damit es weniger auffallen sollte, hatte er eine Fabel erdacht, nach der alles einem gewissen Mr. Blackboy gehörte und bei Barkis nur deponiert sei. Diese Legende stand in jetzt kaum mehr leserlichen Buchstaben auf dem Deckel geschrieben.

Alles hatte er im Lauf der Jahre zusammengescharrt; seine Hinterlassenschaft in Geld betrug fast 3000 £. Davon vermachte er die Zinsen von einem Tausend Mr. Peggotty für Lebenszeit; bei seinem Tode sollte das Kapital unter Peggotty, der kleinen Emly und mir oder unsern Erben verteilt werden. Alles übrige vermachte er seiner Witwe, die er auch zur einzigen Vollstreckerin seines letzten Willens ernannte.

Ich fühlte mich ordentlich als Proktor, als ich das Dokument feierlich laut vorlas und die einzelnen Bestimmungen, wer weiß wie viele Mal, den Beteiligten auseinandersetzte. Ich fing an zu denken, daß doch mehr an den Commons sei, als ich mir gedacht hatte. Ich prüfte das Testament mit der größten Aufmerksamkeit, erkannte seine vollkommene formelle Richtigkeit an, machte ein paar Bleistiftnotizen an den Rand und wunderte mich innerlich, daß ich so viel von der Sache verstand.

Darüber und mit der Aufnahme einer genauen Aufstellung der Hinterlassenschaft und mit Raterteilen über alle möglichen Punkte, wegen deren sich Peggotty an mich wendete, verging die Woche vor dem Leichenbegängnis. Ich bekam Emly nicht zu Gesicht, erfuhr aber, daß sie in vierzehn Tagen in aller Stille getraut werden sollte.

Bei dem Begräbnis war ich sozusagen nicht von Amts wegen zugegen, das heißt, ich hatte keinen schwarzen Vogelscheuchenmantel mit Schleifen an, sondern ging ganz früh nach Blunderstone hinüber und wartete auf dem Friedhof, nur von Peggotty und ihrem Bruder begleitet, bis der Leichenwagen kam.

Der verrückte Herr sah aus meinem kleinen Fenster zu. Mr. Chillips‘ Baby wackelte über der Schulter seiner Amme mit seinem schweren Kopf und stierte mit seinen großen Augen den Geistlichen an, – Mr. Omer keuchte im Hintergrund; sonst war niemand da und alles sehr still.

Wir gingen nach dem Begräbnis noch eine Stunde auf dem Kirchhof auf und ab und nahmen uns von dem Baum über dem Grab meiner Mutter ein paar grüne Blätter zum Andenken mit. – Ein Bangen befällt mich. Eine Wolke schwebt über der fernen Stadt, der ich jetzt meine einsamen Schritte zuwende. Immer mehr Angst empfinde ich, je näher ich komme. Kaum kann ich mich überwinden, wieder daran zu denken, was dann geschah.

Es wird nicht schlimmer, weil ich es niederschreiben muß. Es würde nicht besser, wenn ich es verschwiege. Es ist geschehen. Niemand kann es ungeschehen machen. Niemand kann es ändern. Meine alte Kindsfrau sollte mit mir wegen des Testaments am nächsten Tag nach London fahren. Die kleine Emly blieb den ganzen Tag über bei Mr. Omer. Am Abend sollten wir uns alle in dem alten Boot treffen. Ham wollte sie zur gewöhnlichen Stunde nach Hause bringen. Ich versprach auch dort zu sein, und Mr. Peggotty und seine Schwester wollten uns am Abend bei sich erwarten.

Ich nahm Abschied von allen am Zauntor an der Straße und ging, anstatt unmittelbar umzukehren, in der Richtung nach Lowestoft ein Stück spazieren. Dann kehrte ich um und schlug wieder den Weg nach Yarmouth ein. In einem reinlichen Bierhause kehrte ich zu Mittag ein, und so verging der Tag, und es wurde Abend, als ich die Stadt erreichte. Es stürmte und regnete, aber hinter den Wolken schien der Vollmond hervor, und es war nicht allzu finster.

Bald erblickte ich Mr. Peggottys Haus, und das Licht glänzte durch die Fenster. Ein kurzes, aber mühsames Waten durch den tiefen Sand brachte mich an die Tür, und ich trat ein.

Es sah recht behaglich drin aus. Mr. Peggotty hatte seine Abendpfeife geraucht, und es waren bereits einige Vorbereitungen zum Abendessen getroffen. Das Feuer brannte hell, und der Kasten wartete auf Emly auf seinem alten Platz. Auch Peggotty saß in ihrem gewohnten Stuhl und sah aus, wenn ihre Trauerkleider nicht gewesen wären, als ob sie ihn nie verlassen hätte. Das Arbeitskästchen mit der St.-Pauls-Kirche auf dem Deckel, das Ellenmaß und das Stückchen Wachslicht lagen neben ihr wie früher. Mrs. Gummidge schien in ihrer alten Ecke wieder ein wenig grämlich zu sein, sah aber sonst ganz harmlos drein.

»Sej sün der erst an Bord, Masr Davy«, sagte Mr. Peggotty mit glücklichem Gesicht. »Behalten Sie den Rock nicht an, wenn er naß ist, Sir.«

»Ich danke Ihnen, Mr. Peggotty«, sagte ich und gab ihm meinen Überzieher zum Aufhängen. »Er ist ganz trocken.«

»Stimmt«, sagte Mr. Peggotty und befühlte meine Schultern.

»Trocken wie ein Tisch! Setzen Sie sich nieder, Sir! Wir brauchen zu Ihnen nicht Willkommen zu sagen, denn Sie sind ja immer von Herzen willkommen.«

»Ich danke Ihnen, Mr. Peggotty. Das weiß ich.«

»Nun, Peggotty?« und ich gab ihr einen Kuß, »wie geht es dir, Alte?«

»Haha«, lachte Mr. Peggotty, setzte sich neben uns und rieb sich mit der ganzen Gemütlichkeit seines Naturells behäbig die Hände. »Keine Frau auf der ganzen Welt, wie ich ihr immer sage, kann sich leichter ums Herz fühlen als sie. Sei hett ehr Flicht gegen den Seligen dohn; und der Selige wußte es; und der Selige hett sien Schuldichkeit gegen sie dohn, wie sie ehr Schuldichkeit gegen ihn; und – und – und – s ist allens in Ordnung.«

Mrs. Gummidge seufzte tief auf.

»Frisch und munter, Mutting!« sagte Mr. Peggotty, nickte uns aber heimlich zu, offenbar fühlend, daß die letzten Ereignisse besonders geeignet waren, die Erinnerung an den »Alten« aufzufrischen. »Loot den Kopp nöch häng. Frisch um deiner selbst willen! Auf! Nur ein ganz klein wenig! Das übrige kommt denn schon von selbst.«

»Bei mir nicht, Danl«, erwiderte Mrs. Gummidge. »Bei mir kommt nichts von selbst, als daß ich einsam und verlassen bin.«

»Nun, nun«, beschwichtigte Mr. Peggotty.

»Ja, ja, Danl. Eine Person wie ich paßt nicht unter Leute, die Geld geerbt haben. Mir geht alles die Quere. Besser, man wäre mich los.«

»Na, wie sollte ich denn das Geld ohne dich ausgeben? Was sprichst du nur wieder! Brauche ich dich jetzt nicht notwendiger als früher?«

»Ich wußte doch, daß man mich früher nicht brauchte«, jammerte Mrs. Gummidge mit weinerlicher Stimme, »und jetzt sagst du es mir geradeheraus. Wie konnte ich es auch erwarten, da ich so einsam und verlassen bin und mir alles so die Quere geht!«

Mr. Peggotty war ordentlich entrüstet über sich, daß er etwas gesagt hatte, was so gefühllos ausgelegt werden konnte, antwortete aber nichts, weil seine Schwester ihn am Ärmel zupfte und den Kopf schüttelte. Nachdem er einige Augenblicke lang Mrs. Gummidge in tiefer Bekümmernis angesehen, warf er einen Blick auf die Wanduhr, stand auf, putzte das Licht und stellte es ins Fenster.

»Na also«, sagte er heiter. »So weit wären wir, Mrs. Gummidge!« Mrs. Gummidge ließ einen leisen Seufzer hören. »Illuminiert, wies Sitte ist. Sie möchten wohl wissen, wozu das ist, Sir? Ja, sehen Sie, das ist für die kleine Emly. Sie wissen, der Weg ist nicht allzu hell oder angenehm nach Dunkelwerden, und wenn ich um die Zeit, wo sie heimkommt, hier bin, stell ich das Licht ins Fenster. Und damit wird zweierlei erreicht«, sagte er und beugte sich mit großer Fröhlichkeit zu mir herunter. »Erstens sagt es Emly, dort ist das Haus, und dann: der Onkel ist da! Denn wenn ich nicht daheim bin, wird kein Licht ins Fenster gestellt.«

»Du bist wie ein kleines Kind«, sagte Peggotty mit unverhohlener Zärtlichkeit.

»Mag wohl sein, aber dem Ansehn nach freilich nicht – freilich dem Äußeren nach nicht«, lachte Mr. Peggotty, »aber sonst so, was? Na, mir kanns gleich sein. Ich will euch mal was sagen. Wenn ich mir das hübsche, kleine Haus unserer Emly ansehe, da kommts mir vor, als ob auch die kleinsten Dinger so zart wie sie selber wären. Ich nehme sie in die Hand und lege sie wieder hin und fasse sie so zärtlich an, als wären sie Emly selber. Ich litte nicht, daß auch nur ein einziges hart angefaßt würde. Um die ganze Welt nicht. Da habt Ihr ein kleines Kind in Gestalt eines großen Seeigels«, sagte Mr. Peggotty und brach in ein lautes Gelächter aus.

Peggotty und ich lachten auch, nur nicht so laut.

»Ich glaube«, fuhr Mr. Peggotty mit fröhlichem Gesicht fort und schlug sich auf die Schenkel, »daß ich zu viel mit ihr gespielt habe, Löwe und Walfisch und was sonst noch, als sie nicht höher war als mein Knie. – Und dort werde ich das Licht auch hinstellen, wenn sie verheiratet und nicht mehr hier ist. Wo sollte ich sonst wohnen als hier? Und wenn ich noch so reich würde. Und ist sie nicht mehr da, so stell ich doch das Licht ins Fenster und tue, als ob ich auf sie wartete wie jetzt. Da habt Ihr wieder das kleine Kind in Gestalt eines ungeheuern Seeigels! Und selbst jetzt, wo ich das Licht aufflackern sehe, sage ich zu mir, Emly kommt. Aber damit hab ich ja recht«, sagte Mr. Peggotty, indem er sein Lachen unterbrach und in die Hände klatschte, »denn da ist sie.«

Es war bloß Ham.

Das Wetter mußte wohl regnerischer geworden sein als vorhin, denn er hatte seinen großen Südwester tief ins Gesicht gezogen.

»Wo ist Emly?« fragte Mr. Peggotty.

Ham machte eine Bewegung mit dem Kopf, als ob sie draußen stünde.

Mr. Peggotty nahm das Licht aus dem Fenster, putzte es und stellte es auf den Tisch und ging an das Feuer, um es zu schüren, als Ham, der regungslos dagestanden, zu mir sagte:

»Masr Davy, wollen Sie eine Minute herauskommen und sehen, was Emly und ich mitgebracht haben?«

Wir gingen hinaus.

Als ich an der Tür an ihm vorbeiging, sah ich zu meinem Staunen und Schrecken, daß er totenbleich war. Er schob mich hastig hinaus ins Freie und machte die Tür schnell hinter uns beiden zu.

»Ham, was ist geschehen?«

»Masr Davy! –«

Es war, als ob ihm das Herz brechen sollte, so schrecklich weinte er.

Ich war ganz gelähmt beim Anblick solchen Grames. Ich weiß nicht, was ich dachte oder befürchtete, ich konnte ihn nur ansehen.

»Ham, mein armer, guter Junge, um Gotteswillen, was ist denn geschehen?«

»Meine Liebe, Masr Davy, – der Stolz und die Hoffnung meines Herzens – sie, für die ich gestorben wäre – und jetzt noch sterben würde, – sie ist fort.«

»Fort!«

»Emly ist geflohen! Ach, Masr Davy, bedenken Sie, unter welchen Umständen sie geflohen sein muß, wenn ich meinen barmherzigen Gott bitte, sie lieber zu töten – sie, die ich so über alles liebe –, als sie in Schmach und Schande zu lassen.«

Sein zum stürmischen Himmel erhobenes Gesicht, seine zitternden verkrampften Hände, der wilde Schmerz in seinem ganzen Wesen bleiben bis zu dieser Stunde in meiner Erinnerung unzertrennlich mit dieser einsamen öden Düne verbunden. Es ist dort immer Nacht für mich und er das einzig Lebendige in der ganzen Szene.

»Sie sind ein Gelehrter«, sagte er hastig, »und wissen, was recht und gut ist. Was soll ich drin sagen? Wie soll ichs ihm beibringen, Masr Davy?«

Ich sah die Tür aufgehen und versuchte instinktiv, die Klinke außen festzuhalten, um einen Augenblick Zeit zu gewinnen. Es war zu spät. Mr. Peggotty steckte den Kopf heraus, und nie werde ich die Veränderung in seinem Gesicht vergessen, als er uns erblickte.

Ich erinnere mich an ein großes Wehklagen und Weinen, als die Frauen an ihm hingen und wir alle im Zimmer standen, ich mit einem Papier in der Hand, das Ham mir gegeben hatte, Mr. Peggotty mit aufgerissener Jacke, zerrauftem Haar, Gesicht und Lippen kalkweiß und Blutstropfen auf seiner Brust, die aus seinem Munde gekommen waren, und starr den Blick auf mich geheftet.

»Lesen Sie, Sir«, sagte er mit leiser, bebender Stimme, »aber langsam, ich weiß nicht, ob ich es sonst verstehen würde.«

Inmitten eines Todesschweigens las ich aus einem tränenbefleckten Brief:

»Wenn Du, der Du mich viel mehr liebst, als ich jemals verdient habe, selbst als ich noch unschuldigen Herzens war, dies liest, werde ich weit weg von Euch sein –«

»Werde ich weit weg von euch sein«, wiederholte Mr. Peggotty langsam. »Halt! Emly weit weg. Gut!«

»– wenn ich diesen Morgen das geliebte Vaterhaus – mein liebes, liebes Heim verlassen habe –«

Der Brief war vom Abend vorher datiert.

»– so werde ich nie wieder zurückkehren, wenn er mich nicht als seine Frau zurückbringt. Viele Stunden später wirst Du dies anstatt meiner finden. O, wenn Du wüßtest, wie sehr zerrissen mein Herz ist. Wenn Du, dem ich so wehe getan habe, daß Du es mir nie verzeihen kannst, wissen könntest, was ich leide. Ich bin zu schlecht, um von mir selbst zu schreiben. Laß es Dir ein Trost sein, daß ich so schlecht bin. Um der himmlischen Barmherzigkeit willen, sage dem Onkel, daß ich ihn nie auch nur halb so geliebt habe wie jetzt. O denk nicht dran, wie zärtlich und gütig Du gegen mich gewesen bist! – vergiß, daß wir uns jemals heiraten sollten, – versuche zu glauben, ich sei als kleines Kind gestorben und läge irgendwo begraben. Bitte den Himmel, daß er Erbarmen habe mit meinem Onkel. Sag ihm, daß ich ihn nie auch nur halb so geliebt habe wie jetzt. Sei ihm eine Stütze. Liebe ein braves Mädchen, das meinem Onkel das sein kann, was ich ihm einmal war, ein Mädchen, das Dir treu ist und Deiner wert. Gott segne Euch Alle. Ich werde oft auf meinen Knien für Alle beten. Wenn er mich nicht als seine Frau zurückbringt und ich nicht mehr für mich selbst beten kann, so will ich doch für Euch Alle beten. Noch einmal dem Onkel einen letzten Liebesgruß, meine letzten Tränen und meinen letzten Dank!«

Das war alles. Lange noch, nachdem ich aufgehört zu lesen, starrte mich Mr. Peggotty an. Endlich wagte ich seine Hand zu ergreifen und ihn zu bitten, so gut ich konnte, sich zu fassen. Er antwortete:

»Ich danke, ich danke«, aber er rührte sich nicht.

Ham redete ihn an. Mr. Peggotty begriff den Schmerz seines Neffen so weit, daß er ihm die Hand drückte, aber er blieb stehen wie früher, und keiner wagte, ihn zu stören.

Langsam ließen seine Augen von mir ab, wie wenn er aus einer Vision erwachte, und blickte um sich. Dann sagte er mit leiser Stimme:

»Wer ist es? Ich will seinen Namen wissen.«

Ham sah mich an und plötzlich durchfuhr es mich wie ein elektrischer Schlag.

»Wer steht im Verdacht?« sagte Mr. Peggotty. »Wer ist es?«

»Master Davy«, flehte Ham, »gehen Sie einen Augenblick hinaus, damit ich ihm sagen kann, was ich muß. Sie dürfen es nicht hören, Sir!«

Wieder durchzuckte es mich wie vorhin. Ich sank in einen Stuhl und versuchte etwas zu stammeln, aber meine Zunge war wie gelähmt, und vor meinen Augen wurde es dunkel.

»Ich will seinen Namen wissen«, hörte ich wieder sagen.

»Vor einiger Zeit hielt sich manchmal ein Bedienter hier auf«, stammelte Ham, »auch ein Herr war dabei. Beide gehörten zusammen.« Mr. Peggotty stand so starr wie vorhin und sah jetzt Ham an.

»Den Bedienten hat man gestern mit – unserm armen Mädchen gesehen. Er hat diese Woche und länger hier herumgelauert. Man sagte, er sei fort. Aber er hielt sich nur versteckt. Gehen Sie hinaus, Masr Davy! Bitte, gehen Sie hinaus.«

Ich fühlte, wie Peggottys Arm sich um meinen Hals legte, aber ich hätte nicht von der Stelle gehen können, und wenn das Haus über mir zusammengestürzt wäre.

»Ein fremder Wagen mit Pferden stand heut früh vor Tagesanbruch auf der Straße nach Norwich«, erzählte Ham weiter. »Der Bediente ging zu dem Wagen und kam zurück und ging wieder hin. Als er zuletzt hinging, war Emly bei ihm. Der andere saß drin. Er ist der Mann.«

»Um Gottes willen«, sagte Mr. Peggotty, taumelte zurück und streckte die Hand aus, als ob er etwas Fürchterliches abwehren wollte. »Sag nicht, daß es Steerforth ist.«

»Masr Davy!« rief Ham mit gebrochener Stimme aus. »Sie können nichts dafür, und ich gebe Ihnen gewiß nicht die Schuld, – aber er heißt Steerforth und ist ein gottverfluchter Schurke.«

Kein Laut und keine Träne und keine Bewegung verrieten Mr. Peggottys Schmerz, bis er plötzlich wieder aufzuwachen schien und seinen zottigen Rock von dem Nagel in der Ecke herabnahm.

»So helft mir doch. Ich bin wie auf den Kopf geschlagen und kann nicht damit zurechtkommen«, sagte er ungeduldig. »Kommt her und helft mir doch. Gut! Jetzt gebt mir den Hut her!«

Ham fragte ihn, wohin er gehen wollte.

»Ich will meine Nichte suchen! Ich will meine Emly suchen! Zuerst will ich dem Boot die Planken einschlagen und es versenken, wo ich ihn ersäuft hätte, so wahr ich lebe, wenn mir nur ein Gedanke von Verdacht gekommen wäre. Wie er so vor mir saß«, sagte er wild und streckte die Hand geballt vor sich aus, »wie er so vor mir saß, so wahr ich lebe, ich hätte ihn ersäuft und hätte es für recht gehalten! … Ich will meine Nichte suchen!«

»Wo?« schrie Ham und stellte sich vor die Tür.

»Überall! Ich will meine Nichte suchen durch die ganze Welt! Ich will meine arme Nichte aufsuchen in ihrer Schande und sie zurückbringen. Keiner soll mich aufhalten. Ich sage dir, ich will meine Nichte suchen!«

»Nein, nein, nein!« rief Mrs. Gummidge und trat in hellen Tränen dazwischen. »Nein, nein, nein, Daniel, nicht in deinem jetzigen Zustand! Such sie nach einer kleinen Weile, mein armer verlassener Dan, und dann wird es gut sein, aber nicht jetzt in solcher Verfassung! Setz dich nieder und verzeih mir, daß ich dir immer eine solche Plage gewesen bin! – Daniel, was sind meine kleinen Unannehmlichkeiten gewesen gegen dein Leid! Laß uns ein Wort sprechen über die Zeiten, wo sie eine Waise und Ham eine Waise waren und ich eine arme Wittfrau, als du uns aufnahmst. Es wird deinem gequälten Herzen wohltun. Daniel«, sagte sie und legte ihren Kopf an Mr. Peggottys Schulter, »der Schmerz wird dir leichter werden, wenn du an die Verheißung denkst, Dan:

Was ihr dem Geringsten der meinigen getan, das habt ihr mir getan! Und das muß immer wahr bleiben unter diesem Dach, das uns so viele, viele Jahre Schutz gewährt hat.«

Mr. Peggotty war ganz widerstandslos geworden, und als ich ihn weinen hörte, da wich der Drang, vor ihm auf den Knien Steerforth zu verfluchen, einem bessern Gefühl. Mein gequältes Herz fand Erleichterung wie seines, und auch ich weinte.

4. Kapitel Ich falle in Ungnade


4. Kapitel Ich falle in Ungnade

Wäre das Zimmer, wo damals mein Bett stand, ein fühlendes Wesen, möchte ich es heute – wer wohl jetzt darin schlafen mag – zum Zeugen anrufen, wie schwer mir das Herz war, als ich eintrat.

Wie ich die Treppe hinaufging, hörte ich den Hund hinter mir dreinbellen; und drinnen sah ich die Stube mit ebenso fremden Augen an wie sie mich. Ich setzte mich hin, die kleinen Hände gefaltet, und dachte nach.

Ich dachte an die seltsamsten Dinge, an die Form des Zimmers, an die Sprünge in der Decke, an die Tapeten an den Wänden, an die Rippen und Flecken im Fensterglas, hinter denen sich die Gegenstände draußen verzerrten und verschoben, an den Waschtisch, der auf drei Beinen wackelte, etwas Unzufriedenes hatte und mich an Mrs. Gummidge erinnerte.

Ich weinte die ganze Zeit über, dachte aber keinen Augenblick darüber nach, warum ich weinte. Ich empfand nur das Gefühl der Kälte und Niedergeschlagenheit. In meiner Einsamkeit fing ich an, mir auszumalen, wie schrecklich verliebt ich in die kleine Emly sei, und daß man mich von ihr gerissen habe, während sich hier niemand um mich kümmerte. Das machte mich derart unglücklich, daß ich mich in einen Zipfel der Bettdecke wickelte und mich in Schlaf weinte.

Hörte dann jemand sagen, »hier ist er«, und wachte auf mit glühheißem Kopf. Meine Mutter und Peggotty hatten mich aufgesucht, und eine von beiden mußte die Worte gesprochen haben.

»Davy«, sagte meine Mutter, »was fehlt dir?«

Ich fühlte es als etwas sehr Sonderbares, daß sie mich noch fragen konnte, und antwortete: »Nichts.« Ich legte mich aufs Gesicht, damit sie meine zitternden Lippen nicht sähe, die ihr besser Auskunft gegeben hätten.

»Davy«, sagte meine Mutter. »Davy, mein Kind!«

Keine Worte hätten mich mehr rühren können, als daß sie mich ihr Kind nannte. Ich verbarg meine Tränen in den Kissen und drängte meine Mutter weg, als sie meinen Kopf aufheben wollte.

»Das ist dein Werk, Peggotty, du grausames Ding!« schrie meine Mutter. »Ich zweifle gar nicht daran. Wie kannst du es mit deinem Gewissen vereinbaren, meinen eignen Jungen gegen mich oder irgend jemand, den ich lieb habe, aufzuhetzen? Was soll das heißen, Peggotty?«

Die arme Peggotty erhob Hände und Augen zum Himmel und antwortete nur mit einer Art Paraphrase des Tischgebets, das ich nach dem Essen herzusagen pflegte: »Gott vergebe Ihnen, Mrs. Copperfield, was Sie in dieser Minute gesagt haben. Mögen Sie es niemals ernstlich bereuen!«

»Es ist zum Verrücktwerden!« rief meine Mutter, »noch dazu in meinen Flitterwochen, wo man denken sollte, mein erbittertster Feind müßte Erbarmen haben und mir nicht das bißchen Ruhe und Glück neiden. Davy, du nichtsnutziger Junge! Peggotty, du wildes Geschöpf! Ach Gott, ach Gott!« rief sie in ihrer kindischen Art. »Wie ist die Welt doch widerwärtig, grade wenn man so viel Angenehmes von ihr erwartet!«

Ich fühlte die Berührung einer Hand, der ich sogleich anmerkte, daß sie weder meiner Mutter noch Peggotty gehörte, und sprang rasch aus dem Bett. Es war Mr. Murdstones Hand, der meinen Arm faßte. Ich hörte, wie er sagte:

»Was ist das, liebe Klara, hast du vergessen? Festigkeit! meine Liebe!«

»Es tut mir recht leid, Edward«, sagte meine Mutter. »Ich habe mir alle Mühe gegeben, aber mir ist so unbehaglich.«

»Wirklich!« antwortete er. »So bald schon. Das ist ja recht schlimm, Klara.«

»Es ist recht bitter, daß es mich jetzt so treffen muß«, sagte meine Mutter schmollend. »Sehr, sehr bitter, nicht wahr!«

Er zog sie an sich, flüsterte ihr etwas ins Ohr und küßte sie. Als ich sah, wie meine Mutter ihren Kopf an seine Schulter lehnte und ihren Arm um seinen Nacken schlang, da begriff ich damals so gut wie jetzt, daß er ihrem weichen Charakter jede beliebige Gestalt geben konnte:

»Geh hinunter, meine Liebe«, sagte er. »David und ich wollen auch hinunterkommen.«

»Meine Gute«, fuhr er mit einem finstern Gesicht zu Peggotty fort, als er meine Mutter an die Tür begleitet und mit einem Nicken und einem Lächeln verabschiedet hatte. »Sie kennen doch den Namen Ihrer Herrin!«

»Sie war lange genug meine Herrin, Sir«, antwortete Peggotty, »als daß ich ihn nicht kennen sollte.«

»Das ist richtig«, antwortete er, »aber mir schien es, wie ich die Treppe heraufkam, als ob Sie sie mit einem Namen anredeten, der nicht der ihrige ist. Sie wissen doch, daß sie meinen angenommen hat. Vergessen Sie das nicht.«

Mit einigen besorgten Blicken auf mich knixte Peggotty sich aus dem Zimmer heraus, ohne zu antworten. Sie begriff, daß sie gehen sollte, und fand keinen Vorwand, um dazubleiben. Als wir beide allein waren, machte er die Türe zu, setzte sich auf einen Stuhl, stellte mich vor sich hin, während er mich immer noch am Arm festhielt, und sah mir unverwandt in die Augen. Ich fühlte meinen Blick fest an ihn gebannt. Wenn ich mir vorstelle, wie wir uns damals Auge in Auge gegenüberstanden, kommt es mir vor, als hörte ich wieder mein Herz schneller und lauter schlagen.

»David«, sagte er und preßte seine Lippen ganz dünn zusammen, »wenn ich einen eigensinnigen Gaul oder Hund vor mir habe, was glaubst du wohl, tue ich dann mit ihm?«

»Ich weiß nicht.«

»Ich prügle ihn!«

Ich hatte ihm mit einem atemlosen Geflüster geantwortet, aber in meinem Schweigen fühlte ich, daß mein Atem noch kürzer wurde.

»Ich haue ihn, daß er sich windet vor Schmerz. Ich sage mir, ich will den Burschen bezwingen, und wenns ihm alles Blut im Leibe kosten sollte. Was hast du im Gesicht?«

»Schmutz«, sagte ich.

Er wußte so gut wie ich, daß es Tränenspuren waren. Aber wenn er mich zwanzigmal gefragt hätte, jedesmal mit zwanzig Hieben, so glaube ich doch, mein Kinderherz wäre eher gebrochen, ehe ich ihm das eingestanden hätte.

»Du bist recht gescheit für dein Alter«, sagte er mit dem ernsten Lächeln, das ihm eigen war. »Und ich sehe, du hast mich ganz gut verstanden. Wasche dir das Gesicht und komme mit mir herunter.«

Er deutete auf den Waschtisch, der mir wie Mrs. Gummidge vorkam, und machte eine Bewegung mit dem Kopf, ich solle sofort gehorchen. Ich zweifelte damals nicht und jetzt noch viel weniger, daß er mich ohne das geringste Erbarmen zu Boden geschlagen haben würde, wenn ich gezögert hätte.

»Meine liebe Klara«, sagte er, als er mit mir in das Wohnzimmer trat, immer noch meinen Arm festhaltend, »ich hoffe, du wirst jetzt keinen Verdruß mehr haben. Wir werden unsre jugendlichen Launen schon ablegen und uns bessern.«

Gott helfe mir, ich hätte für mein ganzes Leben gebessert werden können, ich wäre ein ganz andrer Mensch geworden durch ein einziges freundliches Wort damals. Ein Wort der Ermutigung und Erklärung und des Mitgefühls für meine kindliche Unwissenheit, des Willkomms in der Heimat, eine Versicherung, daß das alte mütterliche Haus noch ganz dasselbe sei, hätten mich zu einem gehorsamen Sohn gemacht, anstatt daß ich jetzt Gehorsam heuchelte, – hätten mich ihn achten gelehrt anstatt hassen. Mir kam es so vor, als ob es meiner Mutter leid täte, mich so scheu und fremd im Zimmer stehen zu sehen. Und daß sie mir mit sorgenvollen Blicken folgte, als ich nach meinem Stuhle schlich. Das Wort aber wurde nicht gesprochen, und die Zeit dazu war vorüber.

Wir speisten alle drei allein am Tisch. Er schien meine Mutter sehr gern zu haben, – ich fürchte fast, er war mir deshalb nicht weniger zuwider, – und sie war sehr zärtlich zu ihm. Aus seinen Reden merkte ich, daß eine ältere Schwester von ihm ankommen sollte und bei uns bleiben. Ich weiß nicht mehr, ob ich schon damals oder erst später erfuhr, daß er einen Geschäftsanteil an einer Weinhandlung in London besaß, – schon von Großvaters Zeiten her, – an der seine Schwester in gleicher Weise beteiligt war; jedenfalls kann ich es gleich hier bemerken.

Nach dem Essen, als wir vor dem Feuer saßen und ich darüber nachsann, wie ich zu Peggotty flüchten könnte, dabei aber nicht den Mut hatte, zu entschlüpfen, fuhr ein Wagen an der Gartentür vor, und er ging hinaus, um den Besuch zu empfangen.

Meine Mutter folgte ihm. Ich ging schüchtern hinter ihr drein, da drehte sie sich in der Stubentür um, drückte mich im Dunkeln ans Herz, wie früher, und flüsterte mir zu, ich solle meinen neuen Vater lieben und ihm gehorsam sein.

Sie tat das so hastig und geheimnisvoll, als ob es ein Unrecht wäre, aber mit großer Zärtlichkeit. Dann zog sie mich hinter sich her in den Garten, wo er stand. Dort ließ sie mich wieder los und legte ihren Arm in den seinen.

Miss Murdstone war angekommen, eine finster aussehende Dame, schwarz wie ihr Bruder, dem sie in Gesicht und Stimme sehr glich. Sie hatte starke, buschige Augenbrauen, die über ihrer großen Nase fast zusammenstießen, als wollten sie den Backenbart ersetzen, den ihr Geschlecht ihr versagt hatte.

Sie brachte ein paar unnachgiebige, schwarze Koffer mit, auf deren Deckeln mit harten Messingnägeln ihr Monogramm stand. Um den Kutscher zu bezahlen, holte sie ihr Geld aus einer harten, stählernen Börse. Sie trug die Börse in einem wahren Kerker von Strickbeutel, der ihr an einer schweren Kette am Arm hing und wie ein Gebiß schloß. Ich hatte bis dahin noch nie eine so durch und durch metallische Dame gesehen wie Miss Murdstone.

Sie wurde mit vielen Zeichen des Willkommens in die Stube geführt, und dort erkannte meine Mutter sie in aller Form als neue nahe Verwandte an.

Dann blickte mich Miss Murdstone an und sagte:

»Ist das dein Junge, Schwägerin?«

Meine Mutter bejahte.

»Im allgemeinen«, sagte Miss Murdstone, »kann ich Jungen nicht leiden. Wie gehts dir, Junge?«

Unter diesen ermutigenden Umständen antwortete ich, daß es mir gut ginge und ich dasselbe von ihr hoffte, aber mit so wenig Wärme, daß Miss Murdstone mich mit den zwei Worten abfertigte:

»Keine Manieren.«

Nachdem sie dies mit großer Bestimmtheit ausgesprochen, wünschte sie auf ihr Zimmer geführt zu werden, das von der Zeit an für mich zu einem Ort des Grauens und der Furcht wurde, weil die beiden schwarzen Koffer stets verschlossen dort standen und eine Menge kleiner Stahlfesseln und Kettchen, mit denen sich Miss Murdstone zu verschönern pflegte, in furchtgebietenden Reihen über dem Spiegel hingen.

Soviel ich herausbekommen konnte, war sie in der Absicht gekommen, Gutes zu stiften, und sie trug sich nicht mit dem Gedanken, jemals wieder wegzugehen. Schon am nächsten Morgen fing sie an, meiner Mutter zu »helfen«, und ging den ganzen Tag in der Vorratskammer aus und ein, um alles zurechtzusetzen und die alte Ordnung umzustürzen.

Ihre hervorstechendste Eigenschaft schien mir die zu sein, daß sie beständig argwöhnte, die Dienstmädchen hielten irgendwo im Hause einen Mann verborgen. Von diesem Wahn besessen, tauchte sie zu den ungewöhnlichsten Zeiten in den Kohlenkeller und öffnete fast nie die Tür dunkler Schränke, ohne sie zugleich wieder zuzuschlagen, im Glauben, daß sie »ihn« erwischt hätte.

Obgleich durchaus nichts Lustiges sonst an Miss Murdstone war, glich sie doch in puncto Frühaufstehen einer Lerche. Sie war auf den Beinen, wie ich heute noch glaube, um nach dem Mann zu suchen, ehe sich noch irgend etwas im Hause regte. Peggotty huldigte der Ansicht, daß sie stets nur mit einem Auge schliefe. Ich konnte mich diesem Glauben nicht anschließen, seit ich selbst versucht und herausgefunden hatte, daß so etwas nicht möglich ist.

Schon am ersten Morgen nach ihrer Ankunft stand sie früh auf und klingelte beim ersten Hahnenschrei. Als meine Mutter zum Frühstück herunterkam, gab ihr Miss Murdstone eine Art Schnabelhieb auf die Wange – das war bei ihr die kußähnliche Bewegung – und sagte: »Nun, liebe Klara, du weißt, ich bin hergekommen, um dir alles abzunehmen. Du bist viel zu hübsch und gedankenlos«, – meine Mutter errötete, lachte aber und schien diese Charakterisierung nicht übel zu nehmen – »als daß dir Pflichten auferlegt werden dürfen, die ich erfüllen kann. Wenn du so gut sein willst, mir die Schlüssel zu übergeben, meine Liebe, so will ich alles das in Zukunft selber besorgen.«

Von dieser Zeit an behielt Miss Murdstone die Schlüssel den Tag über in ihrem Beutel und die Nacht über unter ihrem Kopfkissen; meine Mutter hatte nicht mehr damit zu tun als ich selbst.

Meine Mutter ließ sich ihre Herrschaft nicht rauben, ohne vorher einen leisen Versuch von Widerstand zu machen. Eines Abends, als Miss Murdstone ihrem Bruder gewisse Haushaltungspläne entwickelt hatte und er seine Zustimmung gab, fing meine Mutter plötzlich an zu weinen und sagte, man hätte sie doch wohl auch zu Rate ziehen können.

»Klara«, sagte Mr. Murdstone streng, »Klara, ich bin erstaunt über dich!«

»Du hast gut von erstaunt sein sprechen, Edward«, rief meine Mutter, »und von Festigkeit, aber das würdest du dir auch nicht gefallen lassen.«

Festigkeit, muß ich bemerken, war die große Eigenschaft, auf der beide, Mr. und Miss Murdstone, fußten. Ich weiß nicht, welchen Namen ich damals dafür gewählt hätte, aber ich begriff genau, daß es nur eine andre Bezeichnung für Tyrannei war und für eine gewisse finstere, anmaßende, teuflische Laune, die in den beiden steckte. Das Glaubensbekenntnis, würde ich jetzt mich ausdrücken, Mr. Murdstones lautete: Ich bin fest, niemand soll in der Welt so fest sein wie ich, niemand überhaupt fest, und alles soll sich vor meiner Festigkeit beugen. Miss Murdstone war die eine Ausnahme. Sie durfte fest sein, aber nur aus verwandtschaftlichen Rücksichten und in einem untergeordneten und tributpflichtigen Grad. Meine Mutter war die zweite Ausnahme. Sie konnte und durfte fest sein und mußte es, aber nur im Ertragen der Festigkeit der beiden andern.

»Es ist sehr hart«, sagte meine Mutter, »daß ich in meinem eignen Haus –«

»In meinem eignen Hause?!« wiederholte Mr. Murdstone. »Klara!«

»Unserm eignen Hause, meine ich«, stotterte meine Mutter ganz erschrocken, – »ich hoffe, du weißt, was ich meine, Edward, es ist sehr hart, daß ich in deinem eignen Hause nicht ein Wort über häusliche Angelegenheiten sagen darf. Ich habe sicher sehr gut hausgehalten, ehe wir heirateten. Ich habe Beweise«, setzte sie schluchzend hinzu. »Frag nur Peggotty, ob es nicht recht gut ging, als man mir nicht dreinredete.«

»Edward«, sagte Miss Murdstone, »machen wir der Sache ein Ende. Ich reise morgen ab!«

»Jane Murdstone!« donnerte Mr. Murdstone, »wirst du schweigen! Was unterstehst du dich!«

Miss Murdstone zog ihr Taschentuch aus dem Kerker und hielt es vor die Augen.

»Klara«, fuhr er fort, »du setzest mich in Erstaunen! Ja. Ich fand Befriedigung in dem Gedanken, eine unerfahrene und harmlose Person zu heiraten und ihren Charakter zu bilden und ihr etwas von der Festigkeit und Entschiedenheit zu geben, die ihr fehlen. Aber wenn Jane Murdstone so gütig ist, mir darin beizustehen, und meinetwegen eine Stellung gleich der einer Haushälterin übernimmt und dafür so schlechten Dank erntet –«

»O bitte, bitte, Edward!« rief meine Mutter. »Sag nicht, daß ich undankbar bin. Ich bin sicher nicht undankbar, das hat mir noch niemand gesagt. Ich habe viele Fehler, aber nicht diesen. Bitte, sage das nicht, Liebling!«

»Wenn Jane Murdstone, sage ich«, fuhr er fort, nachdem er meine Mutter hatte ausreden lassen, »dafür Undank erntet, so fühle ich meine Gefühle erkalten.«

»Liebling, bitte, sag das nicht«, flehte meine Mutter kläglich. »O bitte, Edward, ich kann das nicht ertragen. Wie ich auch immer sein mag, ich bin nachgiebig und dankbar. Ich weiß, ich bin es, bin nachgiebig und dankbar. Ich würde es nicht sagen, wenn ich es nicht gewiß wüßte. Frag nur Peggotty. Sie wird es gewiß bestätigen.«

»Bloße Schwäche fällt bei mir nicht ins Gewicht, Klara«, entgegnete er. »Du verschwendest nur deine Worte.«

»Komm, laß uns wieder gut sein«, sagte meine Mutter. »Ich könnte nicht leben in Kälte und Unfreundlichkeit um mich herum. Es tut mir so herzlich leid. Ich habe sehr viele Fehler, ich weiß, und es ist sehr gut von dir, Edward, daß du mit deinem starken Charakter dir Mühe gibst, mich zu bessern. Jane, ich will dir nicht mehr widersprechen. Es würde mir das Herz brechen, wenn du nur daran dächtest, uns zu verlassen –« meine Mutter konnte nicht weitersprechen vor lauter Rührung.

»Jane Murdstone«, sagte Mr. Murdstone zu seiner Schwester, »harte Worte sind zwischen uns selten. Es ist nicht meine Schuld, daß heut abend ein so ungewöhnliches Ereignis stattgefunden hat. Ich wurde von jemand anders dazu gebracht. Aber es ist auch nicht deine Schuld, auch dich hat jemand in eine schiefe Lage gebracht. Wir wollen beide trachten, es zu vergessen. Und da dies«, fügte er nach diesen großmütigen Worten hinzu, »kein passendes Bild ist für den Knaben, so geh zu Bett, David.«

Ich konnte kaum die Türe finden, so voll Tränen standen meine Augen. Ich fühlte meiner Mutter Schmerz so tief mit; ich schlich hinaus und tappte im Dunkeln die Treppe hinauf in mein Zimmer, ohne nur das Herz zu haben, Peggotty gute Nacht zu sagen oder mir eine Kerze von ihr geben zu lassen. Als sie vielleicht eine Stunde später nach mir sah, wachte ich auf, und sie sagte mir, meine Mutter sei sehr betrübt zu Bett gegangen, und Mr. und Miss Murdstone säßen noch unten allein.

Am nächsten Morgen ging ich etwas früher als gewöhnlich hinunter und hörte, wie drinnen meine Mutter Miss Murdstone demütigst um Verzeihung bat. Die Dame verzieh ihr, und es fand eine vollständige Aussöhnung statt. Nie wieder später hörte ich meine Mutter über irgend etwas eine Meinung äußern, ehe sie sich nicht zuvor an Miss Murdstone gewendet oder in sichre Erfahrung gebracht hatte, was ihre Ansicht sei; und nie wieder sah ich Miss Murdstone in übler Laune nach dem Beutel greifen, als ob sie die Schlüssel herausnehmen und sie meiner Mutter zurückgeben wollte, ohne daß diese nicht in die schrecklichste Angst geraten wäre.

Das dunkle Blut, das in den Adern der Murdstones floß, gab auch ihrer Religion etwas Finsteres und Strenges. Ich habe seitdem oft darüber nachgedacht, ob diese Eigenschaft nicht eine notwendige Folge war von Mr. Murdstones Festigkeit, die ihm niemals erlauben wollte, irgend jemand von der strengsten Strafe freizusprechen. Sei dem, wie es wollte, ich kann mich noch recht gut der finstern und ernsten Gesichter erinnern, mit denen wir zum Gottesdienst zu gehen pflegten, und des veränderten Eindrucks, den die Kirche auf mich machte.

Wieder kommt der gefürchtete Sonntag, und ich marschiere zuerst in den alten Betstuhl, wie ein bewachter Sträfling zu einem Gefangenengottesdienst. Dicht hinter mir folgt Miss Murdstone in einem schwarzen Samtkleid, das aus einem Leichentuch gemacht zu sein scheint. Dann kommt meine Mutter, dann ihr Gatte. Peggotty geht nicht mehr mit wie früher. Wieder höre ich Miss Murdstone die Responsorien murmeln und auf alle drohenden Worte mit grausamem Behagen besondern Nachdruck legen. Wieder sehe ich ihre dunklen Augen in der Kirche umherschweifen, wenn sie sagt »elende Sünder«, als wenn sie die ganze Gemeinde in diesem Namen einschließen wolle. Wieder werfe ich verstohlene Blicke auf meine Mutter, die ihre Lippen schüchtern flüsternd bewegt, während das Summen der beiden in ihren Ohren brummt wie fernes Donnergrollen. Dann überkommt mich eine plötzliche Furcht, ob nicht vielleicht Mr. und Miss Murdstone recht haben und unser guter Pfarrer unrecht, und daß alle Engel im Himmel Racheengel sein könnten. Wenn ich einen Finger rühre oder ein Muskel meines Gesichts schlaff wird, stößt mich Miss Murdstone mit ihrem Gebetbuch, daß mich die Seite schmerzt.

Und auf dem Heimweg bemerke ich, wie die Nachbarn mich und meine Mutter ansehen und uns nachblicken und miteinander flüstern. Und wie die drei Arm in Arm gehen und ich allein hinter ihnen drein, folge ich diesen Blicken und frage mich, ob meiner Mutter Gang wirklich nicht mehr so leicht ist und ob das heitere Glück ihrer Schönheit nicht schon ganz trüb geworden. Ich frage mich, ob die Nachbarn wohl auch daran denken, wie wir beide früher nach Hause gingen, und ich zerbreche mir den Kopf darüber den ganzen langsam sich hinschleppenden trüben Tag.

Von Zeit zu Zeit war davon die Rede gewesen, mich in eine Kostschule zu schicken. Mr. und Miss Murdstone hatten es angeregt, und meine Mutter hatte natürlich beigestimmt. Nichtsdestoweniger kam es vorläufig noch nicht dazu. Vorläufig hatte ich zu Hause Lehrstunden.

Werde ich diesen Unterricht wohl je vergessen? Dem Namen nach stand ihm meine Mutter vor, in Wirklichkeit aber Mr. Murdstone und seine Schwester, die immer zugegen waren und darin eine günstige Gelegenheit sahen, meiner Mutter Lektionen in der Festigkeit zu erteilen, die unser beider Leben vergiftete.

Ich glaube, nur das war der Grund, weshalb ich vorläufig zu Hause behalten wurde. Ich hatte gut und willig gelernt, als meine Mutter und ich noch allein miteinander lebten. Ich kann mich noch undeutlich erinnern, wie ich auf ihrem Schoß das Alphabet lernte. Noch heute, wenn ich auf die fetten, schwarzen Buchstaben in einer Fibel sehe, tritt mir die verwirrende Neuheit ihrer Gestalten und die behäbige Gemütlichkeit des »O, Q und S« ganz so vor die Augen wie damals. Aber sie erinnern mich an kein Gefühl des Widerwillens oder des Ekels. Im Gegenteil, es ist mir, als ob ich auf einem Blumenpfad bis zum Krokodilbuch gewandelt sei, und als ob mich die sanfte Weise und Stimme meiner Mutter auf dem ganzen Wege gestärkt hätten.

Aber der feierliche Unterricht, der später kam, steht vor mir, wie der Tod meines Seelenfriedens, wie eine tägliche, jämmerliche Plage und kummervolles Elend.

Die Lektionen waren sehr lang, sehr zahlreich, sehr schwer – einige vollkommen unverständlich für mich – und verwirrten mich meistens ebenso sehr, wie vermutlich meine Mutter.

Ich will einmal in der Erinnerung so einen Morgen durchgehen:

Ich trete nach dem Frühstück mit meinen Büchern, einem Schreibheft und einer Schiefertafel ein. Meine Mutter sitzt an ihrem Schreibtisch und ist bereit für mich, aber nicht halb so bereit wie Mr. Murdstone in seinem Lehnstuhl am Fenster (wenn er auch vorgibt, ein Buch zu lesen) oder wie Miss Murdstone, die in der Nähe meiner Mutter sitzt und Stahlperlen aufreiht.

Der bloße Anblick der beiden wirkt auf mich, daß ich merke, wie die Worte, die ich mir mit so unendlicher Mühe eingeprägt habe, mir alle entfallen und gehen, ich weiß nicht wohin. Nebenbei gesagt, möchte ich übrigens wirklich gerne wissen, wo sie eigentlich hingehen.

Ich reiche das erste Buch meiner Mutter. Es ist eine Grammatik, vielleicht ein Geschichts- oder Geographiebuch. Ich werfe noch einen letzten Blick auf die Seite, wie ein Ertrinkender, während ich ihr das Buch hinhalte, und fange an im Galopp aufzusagen, um fertig zu werden, solange ich noch alles frisch im Kopfe habe.

Ich stocke bei einem Wort, Mr. Murdstone blickt auf.

Ich werde rot, werfe ein halbes Dutzend Worte verwirrt durcheinander und bleibe stecken. Ich fühle, meine Mutter würde mir das Buch zeigen, wenn sie es wagte, aber sie wagt es nicht und sagt sanft:

»O Davy, Davy!«

»Klara«, sagt Mr. Murdstone, »sei fest mit dem Jungen. Sag nicht Davy, Davy! Das ist kindisch. Entweder kann er seine Lektion oder er kann sie nicht.«

»Er kann sie nicht«, fällt Miss Murdstone mit grauenerregendem Nachdruck ein.

»Ich fürchte wirklich, er kann sie nicht«, sagt meine Mutter.

»Nun dann, Klara«, erwidert Miss Murdstone, »solltest du ihm das Buch zurückgeben und ihm das sagen.«

»Ja, gewiß«, stimmt meine Mutter bei. »Das wollte ich tun, liebe Jane. Also Davy, versuch es noch einmal und mach es gut.«

Ich gehorche dem ersten Teil der Ermahnung und versuche es noch einmal; mit dem zweiten Teil bin ich nicht so glücklich, denn ich mache es sehr schlecht. Ich bleibe stecken, früher noch als vorhin, an einer Stelle, die ich eben noch gut kannte, und halte inne, um nachzudenken. Aber ich kann nicht an die Aufgabe denken, ich muß daran denken, wie viel Ellen Spitzen auf Miss Murdstones Haube sein mögen oder was Mr. Murdstones Schlafrock gekostet oder an andere alberne Dinge, die mich nichts angehen! Mr. Murdstone macht die ungeduldige Bewegung, die ich schon lange erwartet habe. Miss Murdstone tut dasselbe. Meine Mutter blickt unterwürfig nach ihnen hin, klappt das Buch zu und legt es beiseite als einen Rückstand, der nachgeholt werden muß, wenn die andern Aufgaben beendet sind.

Bald liegt ein ganzer Stoß solcher Rückstände da und wächst an wie eine Lawine. Je höher er wird, um so vernagelter werde ich. Der Fall ist so hoffnungslos, daß ich das Gefühl habe, in einem tiefen Sumpf von Unsinn herumzuwaten, und jeden Gedanken wieder herauszubekommen aufgebe und mich meinem Schicksal überlasse. Die verzweifelte Angst, mit der meine Mutter und ich einander ansehen, ist wirklich trübsinnig. Aber der Hauptschlag kommt, wenn meine Mutter sich unbeobachtet glaubt und mir das Stichwort durch eine Bewegung der Lippen zu verraten sucht. In diesem Augenblick sagt Miss Murdstone, die bloß darauf gewartet hat, mit tiefer warnender Stimme:

»Klara!«

Meine Mutter fährt zusammen, wechselt die Farbe und lächelt schüchtern. Mr. Murdstone steht von seinem Stuhl auf, wirft mir das Buch an den Kopf oder schlägt es mir um die Ohren und schiebt mich bei den Schultern zur Tür hinaus.

Wenn die Stunden aus sind, kommt erst das Schlimmste in Gestalt eines entsetzlichen Rechenexempels. Das ist für mich besonders erfunden und wird mir durch Mr. Murdstone mündlich überliefert. Es fängt an:

»Wenn ich in einen Käseladen gehe und kaufe fünftausend doppelte Gloucesterkäse zu vier und einem halben Penny – augenblicklich zahlbar« – Miss Murdstones Züge werden überglücklich bei dieser Wendung – und so weiter und so weiter. Bis Mittag brüte ich über diesen Käsen ohne Resultat oder Erleuchtung, und wenn ich dann durch Abwischen der mit Schiefer beschmutzten Finger an meinem schweißtriefenden Gesicht einen Mulatten aus mir gemacht habe, bekomme ich ein Stückchen Brot ohne Butter zu meinen Käsen und bin für den Abend in Ungnade gefallen.

Nach so vielen Jahren scheint es mir, als ob meine unglücklichen Studien immer denselben Verlauf genommen hätten. Ich wäre sehr gut vorwärtsgekommen ohne die Murdstones, aber ihr Einfluß auf mich war wie der bannende Blick, den zwei Schlangen auf einen armen kleinen Vogel richten.

Selbst wenn ich ziemlich gut durch die Morgenarbeiten kam, hatte ich nicht viel mehr gewonnen als die freie Zeit des Mittagessens, denn Miss Murdstone konnte mich nie unbeschäftigt sehen; und wenn ich unvorsichtigerweise merken ließ, daß ich gerade nichts zu tun hatte, so lenkte sie ihres Bruders Aufmerksamkeit auf mich, indem sie sagte: »Liebe Klara, es geht nichts über die Arbeit, – gib deinem Jungen etwas auf.« Und das hatte stets zur Folge, daß ich sofort über eine neue Arbeit geduckt wurde. Von Zerstreuungen mit andern Kindern meines Alters war kaum die Rede, denn dem finstern Puritanismus der Murdstones erschienen alle Kinder wie eine Brut kleiner Vipern. Als ob niemals ein Kind in die Mitte der Jünger gestellt worden wäre!

Die natürliche Folge dieser vielleicht sechs Monate oder noch länger fortgesetzten Behandlungsweise war, daß ich ganz stumpf, verstockt und schwer von Begriffen wurde. Nicht wenig trug dazu bei, daß ich mich täglich mehr meiner Mutter entfremdet fühlte. Ich glaube, wenn mir nicht ein glücklicher Umstand geholfen hätte, ich wäre blödsinnig geworden.

Und das war folgender. Mein Vater hatte eine kleine Büchersammlung in einer Dachstube neben meinem Schlafraum, um die sich niemand kümmerte, hinterlassen. Aus diesem gesegneten kleinen Stübchen kamen Roderick Random, Peregrine Pickle, Humphrey Clinker, Tom Jones, der Landprediger von Wakefield, Don Quichote, Gil Blas und Robinson Crusoe – eine glorreiche Schar – zu mir, um mir Gesellschaft zu leisten. Sie erhielten meine Phantasie lebendig – und meine Hoffnung auf etwas über diesen Ort und diese Zeit hinaus; sie und Tausendundeine Nacht und die persischen Märchen brachten mir keinen Schaden, denn was in einigen von ihnen Schädliches sein mochte, war für mich nicht da; ich verstand nichts davon. Es ist mir nur unbegreiflich, woher ich inmitten meines Hockens und Brütens über schwierigere Themen die Zeit nahm, alle diese Bücher zu lesen. Es ist mir jetzt wunderbar, wie es für mich in meinen kleinen und doch so großen Leiden tröstlich sein konnte, daß ich die Rollen meiner Lieblingscharaktere in diesen Geschichten auf mich übertrug und Mr. und Miss Murdstone mit allen schlechten bedachte. Eine ganze Woche lang war ich Tom Jones in Kindergestalt. Die Rolle Roderick Randoms habe ich wohl einen Monat lang gespielt.

Ich fraß förmlich ein paar Bände Reisebeschreibungen, ich weiß nicht mehr, welche, und tagelang bin ich in der obern Region des Hauses heimlich umhergestreift, bewaffnet mit dem Mittelstück eines alten Stiefelholzes, als Kapitän Soundso von der königlich britischen Flotte, der von Wilden bedroht war und sein Leben so teuer wie möglich verkaufen wollte. Niemals verlor der Kapitän seine Würde, wenn ihm die lateinische Grammatik um die Ohren geschlagen wurde. Ich litt wohl darunter, der Kapitän aber blieb Kapitän und ein Held trotz aller Grammatiken, aller lebenden und toten Sprachen.

Das bildete meinen einzigen und beständigen Trost. Wenn ich daran denke, steht mir ein Sommerabend vor Augen, wo die Kinder draußen auf dem Kirchhof spielten und ich auf dem Bette saß und auf Tod und Leben draufloslas. Jede Scheune in der Nachbarschaft, jeder Stein in der Kirche, jeder Fußbreit des Friedhofs standen in meiner Seele in Verbindung mit diesen Büchern und vertraten die Stelle eines in ihnen berühmt gewordnen Ortes. Ich habe gesehen, wie Tom Pipes den Kirchturm hinaufkletterte, habe Strab mit dem Schnappsack auf dem Rücken beobachtet, wie er an der Gitterpforte am Zaun ausruhte, und ich weiß, daß Commodore Trunnion seine Klubsitzung mit Mr. Pickle in der Gaststube unserer kleinen Dorfschenke abhielt. So war ich damals geartet, als das Ereignis eintrat, von dem ich jetzt berichten will.

Eines Morgens, als ich mit meinen Büchern in das Wohnzimmer trat, bemerkte ich, daß meine Mutter sehr ängstlich aussah und Miss Murdstone sehr fest, während Mr. Murdstone etwas um das untere Ende eines Rohrstockes wickelte. Es war ein geschmeidiges und schächtiges Rohr, das er in der Hand wippte und durch die Luft sausen ließ, als ich hereinkam.

»Ich sage dir doch, Klara«, bemerkte Mr. Murdstone, »ich selbst bin oft durchgehauen worden.«

»Gewiß, selbstverständlich«, sagte Miss Murdstone.

»Gewiß, liebe Jane«, stammelte meine Mutter demütig. »Aber – aber meinst du, daß es Edward gutgetan hat?«

»Glaubst du, daß es Edward geschadet hat, Klara?« fragte Mr. Murdstone ernst.

»Das ist der springende Punkt«, sagte seine Schwester.

»Gewiß, liebe Jane«, weiter sagte meine Mutter nichts mehr.

Mich beschlich das Gefühl, daß sich das Zwiegespräch auf mich bezöge. Und ich suchte und begegnete Mr. Murdstones Blick.

»Nun, David?« sagte er und sein Auge blitzte. »Du mußt dich heute viel mehr in acht nehmen als gewöhnlich.« Er hieb weiter mit dem Rohr durch die Luft, und nachdem er diese Vorbereitung beendigt hatte, legte er es mit ausdrucksvollem Blick neben sich hin und nahm ein Buch zur Hand.

Nur für den Beginn war dies eine gute Auffrischung meiner Geistesgegenwart. Dann fühlte ich, wie die Worte mir beim Aufsagen entschwanden, nicht einzeln oder zeilenweise, sondern gleich ganze Seiten lang. Ich versuchte meine Gedanken wieder einzufangen, aber es war, als ob sie Schlittschuhe anhätten und mit unaufhaltsamer Geschwindigkeit wegglitten.

Wir fingen schlecht an und fuhren noch schlechter fort. Ich war hereingekommen mit dem Bewußtsein, daß ich mich heute sogar auszeichnen würde, denn ich glaubte recht gut vorbereitet zu sein, aber es stellte sich als vollständiger Irrtum heraus. Ein Buch nach dem andern vermehrte den Haufen der Rückstände, und Miss Murdstone wandte die ganze Zeit über den Blick nicht von uns. Und als wir endlich zu den fünftausend Käsen kamen, – er machte an diesem Tage Rohrstöcke daraus –, fing meine Mutter zu weinen an.

»Klara!« sagte Miss Murdstone mit warnender Stimme.

»Ich fühle mich nicht ganz wohl, meine liebe Jane, glaube ich«, sagte meine Mutter.

Ich sah Mr. Murdstone feierlich seiner Schwester zuwinken, als er aufstand, das Rohr nahm und sagte:

»Nun, Jane, wir können kaum erwarten, daß Klara mit unerschütterlicher Festigkeit den Ärger und die Qual trägt, die David ihr heute verursacht hat. Das würde stoisch sein. Klara hat sich sehr gefestigt und ist viel stärker geworden, aber wir können kaum so viel von ihr erwarten. David, wir wollen jetzt beide hinaufgehen.«

Als er mich aus der Türe zog, rannte meine Mutter auf uns zu. Miss Murdstone sagte: »Klara! Bist du denn ganz närrisch!« und trat dazwischen. Ich sah, wie sich meine Mutter die Ohren zuhielt, und hörte sie weinen.

Er führte mich in mein Zimmer, langsam und feierlich; ich weiß bestimmt, es machte ihm Freude, die Exekution so förmlich zu gestalten – und als wir oben angekommen waren, klemmte er plötzlich meinen Kopf unter seinen Arm.

»Mr. Murdstone! Sir!« schrie ich auf. »O bitte, schlagen Sie mich nicht. Ich habe mir solche Mühe beim Lernen gegeben, Sir, aber ich kann es nicht aufsagen, wenn Sie und Miss Murdstone dabei sind. Ich kann es wirklich nicht!«

»Kannst du wirklich nicht, David?« fragte er. »Wir wollens mal versuchen.«

Er hielt meinen Kopf fest wie in einem Schraubstock. Aber ich entwand mich doch noch, und es gelang mir, ihn einen Augenblick aufzuhalten. Nur einen Augenblick, denn gleich darauf versetzte er mir einen heftigen Schlag. In demselben Augenblick erhaschte ich seine Hand mit meinem Mund und biß sie durch und durch. Es zuckt mir jetzt noch in den Zähnen, wenn ich daran denke.

Er schlug mich dann, als ob er mich totpeitschen wollte. Durch all den Lärm, den wir machten, hörte ich die andern die Treppe heraufrennen und aufschreien – ich hörte meine Mutter aufschreien – und Peggotty. Dann war er fort, und die Tür war von außen verschlossen. Und ich lag fieberheiß und zerrissen und wund auf dem Boden und raste in ohnmächtiger Wut.

Ich weiß mich gut zu erinnern, welch unnatürliche Stille im ganzen Haus herrschte, als ich wieder ruhig wurde. Ich kann mich gut entsinnen, als Schmerz und Leidenschaft sich legten, wie schlecht ich mir vorkam.

Ich saß lange Zeit lauschend da, aber es war kein Laut zu vernehmen. Ich raffte mich vom Boden auf und sah mein Gesicht im Spiegel so verschwollen und entstellt, daß ich mich entsetzte. Die Striemen waren wund und hart, und ich mußte aufschreien, wenn ich mich rührte. Aber sie waren nichts gegen mein Schuldbewußtsein. Es lastete schwer auf meiner Brust, wie wenn ich der schlimmste Verbrecher gewesen wäre.

Es fing an zu dunkeln, und ich machte das Fenster zu, – ich hatte die ganze Zeit über mit dem Kopf auf dem Fensterbrett gelegen und abwechselnd geweint, halb geschlafen oder gedankenlos hinausgesehen, – als sich der Schlüssel herumdrehte und Miss Murdstone mit Brot, Fleisch und Milch hereintrat. Ohne ein Wort zu sprechen, setzte sie es auf den Tisch und starrte mich währenddessen ununterbrochen mit größter Festigkeit an, entfernte sich dann und schloß die Türe hinter sich zu.

Noch lange saß ich im Dunkeln da und grübelte, ob sonst noch jemand kommen werde. Als das für diesen Abend unwahrscheinlich wurde, zog ich mich aus und ging zu Bett und fing an, mich furchtsam zu fragen, was jetzt wohl mit mir geschehen würde. War es ein Verbrechen, das ich begangen hatte? Würde man mich verhaften und ins Gefängnis stecken, mich am Ende gar hängen?!

Ich werde nie das Erwachen am nächsten Morgen vergessen: Im ersten Augenblick froh und heiter, war ich plötzlich durch die erwachende Erinnerung wie niedergeschmettert. Miss Murdstone erschien wieder, ehe ich mich erhob, sagte mir mit kurzen Worten, daß ich eine halbe Stunde, aber nicht länger, spazierengehen dürfte, und verschwand. Sie ließ diesmal die Türe offen, damit ich von der Erlaubnis Gebrauch machen könnte.

Ich tat es und jeden folgenden Morgen meiner Gefangenschaft, die fünf Tage dauerte. Wenn ich meine Mutter allein hätte sehen können, wäre ich vor ihr auf die Knie gefallen und hätte sie um Verzeihung gebeten, aber ich bekam niemand zu Gesicht, außer Miss Murdstone. Eine Ausnahme bildete nur die Zeit des Abendgebetes in der Wohnstube; dorthin führte mich Miss Murdstone, und ich mußte wie ein junger Sträfling an der Tür stehen bleiben, während alle ihre Plätze einnahmen; und ehe sie sich erhoben, führte mich meine Kerkermeisterin mit großer Feierlichkeit wieder ins Gefängnis. Ich bemerkte, daß meine Mutter, am allerweitesten von mir entfernt, ihr Gesicht von mir abgewandt hielt, und daß Mr. Murdstones Hand mit einem großen leinenen Tuch verbunden war.

Wie entsetzlich lang mir diese fünf Tage wurden, kann ich nicht beschreiben. Sie nehmen in meiner Erinnerung den Raum von Jahren ein. Die Spannung, mit der ich allen Vorkommnissen im Hause lauschte, das Klingeln, das Öffnen und Schließen von Türen, das Murmeln von Stimmen, die Schritte auf den Treppen, das Lachen, Pfeifen und Singen draußen, das mir in meiner Einsamkeit und Verstoßenheit furchtbarer erschien, als alles andere, das ungewisse Schleichen der Stunden, besonders des Nachts, wenn ich in dem Glauben aufwachte, es sei schon Morgen, während die Familie noch nicht zu Bett gegangen war und ich noch die ganze lange Nacht vor mir hatte, – die quälenden Träume mit ihrem Alpdrücken, – die Wiederkehr von Morgen, Mittag, Nachmittag und Abend, wo die Jungen draußen auf dem Kirchhof spielten, und ich sie vom Hintergrund des Zimmers aus beobachtete, weil ich mich schämte, mich wie ein Gefangener am Fenster zu zeigen, – das fremdartige Gefühl, daß ich mich nie sprechen hörte, – die flüchtigen Pausen schnell entschwindender Erleichterung, die mit dem Essen und Trinken kam und wieder ging, der Regen eines Abends mit seinem frischen Duft, wie er immer dichter und dichter wurde zwischen mir und der Kirche, bis er und die hereinbrechende Nacht mich in einer Finsternis von Furcht und Reue zu ersticken drohten, – alles das scheint Jahre statt Tage gedauert zu haben, so lebendig und tief hat es sich mir eingeprägt.

In der letzten Nacht meiner Haft wachte ich auf und hörte meinen Namen flüstern. Ich richtete mich im Bett auf, breitete meine Arme im Dunkeln aus und fragte:

»Bist dus, Peggotty?«

Es kam nicht sogleich eine Antwort. Aber nicht lange darauf hörte ich wieder meinen Namen in einem so geheimnisvollen und schaurigen Ton, daß ich vor Schrecken wahrscheinlich ohnmächtig geworden wäre, hätte ich nicht plötzlich begriffen, daß er durch das Schlüsselloch kommen müsse. Ich tappte mich zur Tür, legte den Mund an das Schlüsselloch und flüsterte:

»Bist dus, liebe Peggotty?«

»Ja, mein einziger lieber Davy. Sei so leise wie eine Maus, sonst hört uns die Katze.«

Ich verstand sogleich, daß Miss Murdstone gemeint war, und fühlte die Notwendigkeit der Vorsicht, denn ihr Zimmer stieß dicht an meines.

»Was macht Mama, liebe Peggotty? Ist sie sehr böse auf mich?«

Ich konnte hören, daß Peggotty leise vor der Tür weinte, – wie ich, ehe sie antworten konnte:

»Nein, nicht sehr.«

»Was wird mit mir geschehen, liebe Peggotty? Weißt du es?«

»Schule. Bei London«, war Peggottys Antwort. Sie mußte es noch einmal wiederholen, denn sie hatte es das erstemal in meinen Hals hineingesprochen, weil ich vergaß, den Mund vom Schlüsselloch wegzunehmen und das Ohr daranzulegen. Ihre Worte kitzelten mich sehr, aber verstehen konnte ich sie nicht.

»Wann, Peggotty?«

»Morgen.«

»Hat deshalb Miss Murdstone meine Kleider aus der Kommode genommen?«

»Ja«, sagte Peggotty. »Koffer.«

»Werde ich Mama nicht mehr wiedersehen?«

»Ja«, sagte Peggotty. »Morgen früh.« Dann legte sie ihre Lippen dicht an das Schloß und sprach die folgenden Worte so gefühlvoll und innig, wie sie wohl nie durch ein Schlüsselloch mitgeteilt worden sind, und stieß jeden Satz abgebrochen mit einem krampfhaften kleinen Ruck hervor:

»Lieber Davy, – wenn ich jetzt nicht ganz so herzlich – mit dir bin, wie früher, – so ists nicht, weil ich dich nicht – sehr und noch mehr liebe, mein liebes Herzenspüppchen, – sondern bloß weil ich glaube, es ist besser für dich – und für jemand anders. Davy, mein Liebling, hörst du mich? Kannst du hören?«

»Ja-a-a-a, Peggotty«, schluchzte ich.

»Du mein Herzenskind«, flüsterte Peggotty mit unendlichem Mitleid. »Ich will dir nur sagen, du darfst mich niemals vergessen. Auch ich will dich niemals vergessen. Und ich will deine Mama, Davy, so in acht nehmen, wie ich dich in acht genommen habe. Und ich werde sie nie verlassen. Der Tag wird noch kommen, wo sie gern ihren armen Kopf ihrer dummen, mürrischen, alten Peggotty wieder auf den Arm legen wird. Ich werde dir schreiben, mein Liebling. Wenn ich auch kein Gelehrter bin, und ich will – ich will –« Peggotty fing an, das Schlüsselloch zu küssen, da sie mich nicht küssen konnte.

»Ich danke dir, meine liebe Peggotty«, sagte ich. »Ich danke, danke dir. Willst du mir nur eins versprechen, Peggotty? Wirst du Mr. Peggotty und der kleinen Emly und Mrs. Gummidge und Ham sagen, daß ich nicht so schlecht bin, wie sie vielleicht denken, und daß ich sie alle von Herzen grüßen lasse, besonders die kleine Emly? Willst du so gut sein, Peggotty?«

Die gute Seele versprach mirs, und wir küßten beide das Schlüsselloch mit der größten Zärtlichkeit, – ich streichelte es mit der Hand, entsinne ich mich noch, als ob es ihr ehrliches Gesicht gewesen wäre, – und trennten uns. Seit dieser Nacht wuchs in mir ein Gefühl für Peggotty, das ich nicht recht beschreiben kann. Sie ersetzte mir nicht meine Mutter, niemand hätte das können, aber sie füllte eine Leere in meinem Herzen aus, die sich über ihr schloß, und ich fühlte etwas für sie, was ich nie für ein anderes menschliches Wesen empfunden habe. Es mischte sich das Gefühl des Komischen wohl unter meine Zärtlichkeit, und dennoch kann ich mir nicht vorstellen, wie ich den Schmerz ertragen hätte, wenn sie gestorben wäre.

Frühmorgens erschien Miss Murdstone wie gewöhnlich und sagte mir, daß ich in die Schule geschickt würde, was mich durchaus nicht so überraschte, wie sie wohl angenommen hatte. Sie sagte mir auch, daß ich hinunterkommen sollte in die Wohnstube zum Frühstück. Dort fand ich meine Mutter sehr blaß und mit roten Augen. Ich lief ihr in die Arme und bat sie aus tiefbewegter Seele um Verzeihung.

»O Davy!« sagte sie, »daß du jemand weh tun konntest, den ich liebe. Versuche dich zu bessern, bete darum, daß du besser werdest. Ich verzeihe dir, aber ich bin voll Kummer, Davy, daß du ein so böses Herz hast.«

Sie hatten ihr eingeredet, daß ich ein verworfenes Geschöpf wäre, und das schmerzte sie mehr als mein Fortgehen. Auf mich machte es einen tiefen Eindruck.

Ich versuchte mein Abschiedsfrühstück zu essen, aber die Tränen tröpfelten auf mein Butterbrot und in meinen Tee.

Ich sah, wie meine Mutter mich von Zeit zu Zeit anblickte und dann auf Miss Murdstone sah und die Augen niederschlug oder wegschaute.

»Ist Master Copperfields Koffer da?« fragte Miss Murdstone, als draußen der Wagen vorfuhr. Ich sah mich nach Peggotty um, aber weder sie noch Mr. Murdstone erschien. Mein alter Bekannter, der Fuhrmann, stand an der Tür, nahm den Koffer und hob ihn auf den Wagen.

»Klara!« sagte Miss Murdstone in warnendem Ton.

»Ich bin bereit, liebe Jane«, sagte meine Mutter. »Leb wohl, Davy, du gehst zu deinem eignen Besten. Leb wohl, mein Kind, du wirst in den Feiertagen nach Hause kommen und ein besserer Junge sein.«

»Klara!« wiederholte Miss Murdstone.

»Gewiß, meine liebe Jane«, antwortete meine Mutter und hielt meine Hand noch immer fest. »Ich verzeihe dir, mein lieber Junge. Gott segne dich!«

»Klara!« wiederholte Miss Murdstone. Sie hatte die Güte, mich zum Wagen zu führen und mir unterwegs zu sagen, sie hoffe, ich würde in mich gehen, ehe es ein schlimmes Ende mit mir nähme, und dann stieg ich in den Wagen und das faule Pferd trottete mit mir davon.

5. Kapitel Man schickt mich fort


5. Kapitel Man schickt mich fort

Wir waren kaum eine Viertelstunde gefahren, und mein Taschentuch war ganz durchnäßt, als der Kutscher plötzlich anhielt.

Als ich hinaussah, brach zu meinem Erstaunen Peggotty aus einer Hecke hervor und kletterte in den Wagen. Sie schloß mich in die Arme und preßte mich derartig an ihren Schnürleib, daß mir die Nase wehtat. Nicht ein einziges Wort sprach Peggotty. Sie ließ mich mit dem einen Arm los, griff bis an den Ellbogen in ihren Rock und holte ein paar in Papier gewickelte Kuchen hervor, die sie mir in die Tasche stopfte. Einen Geldbeutel drückte sie mir in die Hand. Sie sprach dabei kein Wort.

Sie preßte mich noch ein letztes Mal an ihren Schnürleib, stieg aus und lief davon, wie ich glaube und stets geglaubt habe, ohne einen einzigen Knopf an ihrem Kleid. Ich hob einen der vielen, die herumrollten, auf und bewahrte ihn lange Zeit als ein teures Andenken.

Der Fuhrmann sah mich fragend an, ob sie zurückkäme. Ich schüttelte den Kopf und sagte, ich dächte nicht. »Also los«, rief er seinem faulen Pferde zu, das sich daraufhin in Bewegung setzte.

Da ich mich ordentlich ausgeweint hatte, fing ich jetzt an zu überlegen, daß Tränen doch nichts nützten, um so mehr, als weder Roderick Random, noch jener Kapitän der englischen Flotte jemals in schwierigen Lagen geweint hätten, soviel ich mich entsinnen konnte. Als der Fuhrmann mich so gefaßt sah, schlug er mir vor, mein Taschentuch zum Trocknen dem Pferd auf den Rücken zu legen. Ich dankte ihm und gab es ihm, und merkwürdig klein sah es aus, als es dort lag.

Ich hatte jetzt Muße, die Börse zu untersuchen. Es war ein steifer Lederbeutel mit einem Schloß und drin befanden sich drei glänzende Schillinge, die Peggotty mit Putzpulver poliert hatte, damit es mich noch mehr freuen sollte. Aber sein kostbarster Inhalt bestand aus zwei halben Kronen in einem Stück Papier, worauf mit meiner Mutter Handschrift stand: »Für Davy. Mit herzlichem Gruß.« Ich war davon so gerührt, daß ich den Fuhrmann bat, mir wieder mein Taschentuch hereinzureichen, aber er meinte, es ginge wohl auch so, und so wischte ich meine Augen mit dem Rockärmel und bezwang mich.

Es gelang mir, wenn mich auch noch hier und da das Schluchzen riß. Nach einer Weile Trottes fragte ich den Fuhrmann, ob er die ganze Reise mache.

»Welche Reise?« fragte er.

»Dahin«, sagte ich.

»Wo, dahin?« fragte der Fuhrmann.

»Nun bei London«, sagte ich.

»Das Pferd«, sagte der Fuhrmann und schlenkerte mit dem Zügel statt hinzudeuten, »wäre toter als Schweinefleisch, ehe wir noch halb hinkämen.«

»Sie fahren also nur bis Yarmouth?« fragte ich.

»Stimmt«, sagte der Fuhrmann. »Dort bringe ich Sie zur Postkutsche und die bringt Sie nach – wos eben ist.«

Da das für den Fuhrmann, der Mr. Barkis hieß, bei seinem phlegmatischen und wenig gesprächigen Temperament eine sehr lange Rede war, bot ich ihm als Zeichen meiner Erkenntlichkeit einen Kuchen an, den er auf einen Bissen verschlang, gerade wie ein Elefant, und der auf sein breites Gesicht nicht mehr Eindruck machte, als er auf das eines Elefanten gemacht hätte.

»Hat sie den gebacken?« fragte Mr. Barkis, der immer vorwärtsgebeugt auf seinem Sitze hockte, auf jedes Knie einen Arm gestützt.

»Peggotty, meinen Sie, Sir?«

»Hm«, sagte Mr. Barkis. »Sie.«

»Ja, sie backt alle unsere Kuchen und kocht für uns.«

»Wahrhaftig!«

Er spitzte den Mund, als wollte er pfeifen, aber er pfiff nicht. Er saß da und zielte nach den Ohren des Pferdes, als sähe er dort etwas ganz Besonderes. So saß er eine geraume Zeit. Endlich sagte er: »Keine Schätze?«

»Sagten Sie Plätzchen, Mr. Barkis?« Ich dachte, er wollte noch etwas zu essen haben und hätte auf diese Art Erfrischung angespielt.

»Schätze«, sagte Mr. Barkis. »Schätze! Niemand geht mit ihr?«

»Mit Peggotty?«

»Hm. Mit ihr.«

»O nein, sie hat niemals einen Schatz gehabt.«

»Wahrhaftig!?«

Wieder spitzte er den Mund zum Pfeifen, aber wieder pfiff er nicht, sondern zielte nach den Ohren des Pferdes.

»Sie macht also die Apfeltorten und besorgt die Küche, was?« fragte er nach einer langen Pause des Nachdenkens.

Ich bejahte.

»Gut. Ich will Ihnen was sagen; schreiben Sie ihr ‚leicht?«

»Ich schreibe jedenfalls an sie.«

»Hm«, sagte er und wandte mir langsam seine Augen zu. »Gut. Wenn Sie ihr schreiben, sagen Sie ihr, daß Barkis will. Ja?«

»Daß Barkis will?« fragte ich unschuldig. »Ist das alles?«

»Jawoll«, sagte er nachdenklich. »Jawoll. Barkis will.«

»Aber Sie sind doch morgen wieder zurück in Blunderstone, Mr. Barkis«, sagte ich, und meine Stimme bebte ein wenig bei dem Gedanken, daß ich dann so weit fort sein würde, »und könnten Ihre Botschaft doch selber viel besser ausrichten.«

Da er aber diesen Vorschlag mit einem Ruck seines Kopfes zurückwies und seinen ersten Wunsch mit tiefstem Ernst wiederholte: »Barkis will«, übernahm ich bereitwillig den Auftrag. Später nachmittags, während wir im Gasthof in Yarmouth auf die Postkutsche warteten, ließ ich mir einen Bogen Papier und ein Tintenfaß bringen und schrieb folgenden Brief an Peggotty: »Meine liebe Peggotty. Ich bin hier glücklich angekommen. Barkis will. Viele herzliche Grüße an Mama. Dein getreuer Davy. Nachschrift. Es ist mir nochmals aufgetragen worden: Barkis will.«

Als ich Mr. Barkis noch im Wagen mein Versprechen gegeben hatte, verfiel er wieder in sein tiefes Schweigen, und ich, ganz ermattet von den letzten Ereignissen, legte mich auf einen Sack im Wagen und schlief ein. Ich schlief gesund, bis wir in Yarmouth ankamen, das mir von dem Gasthof aus, vor dem wir hielten, so neu und seltsam vorkam, daß ich sogleich die stille Hoffnung aufgab, hier jemand von Mr. Peggottys Familie oder vielleicht gar die kleine Emly selbst zu treffen.

Die Postkutsche stand, über und über glänzend, im Hofe, aber noch waren keine Pferde vorgespannt, und sie sah in diesem Zustande aus, als wäre nichts unwahrscheinlicher, als daß sie je nach London fahren könnte. Ich fragte mich, was wohl aus meinem Koffer werden sollte, den Mr. Barkis auf das Pflaster gesetzt hatte, und aus mir, als eine Frau aus einem Bogenfenster, an dem Geflügel und Fleischstücke aufgehangen waren, heraussah und fragte:

»Ist das der junge Herr aus Blunderstone?«

»Ja, Ma’am«, sagte ich.

»Wie heißen Sie?« fragte die Frau.

»Copperfield, Ma’am«, sagte ich.

»Stimmt nicht. Für Copperfield ist nichts bestellt.«

»Vielleicht für Murdstone«, sagte ich.

»Wenn Sie Master Murdstone sind, warum sagen Sie da zuerst einen andern Namen?«

Ich erklärte ihr den Zusammenhang, worauf sie eine Glocke zog und rief: »William, bring ihn ins Frühstückszimmer.« Aus der Küche am andern Ende des Hofes kam ein Kellner herausgerannt und schien sehr erstaunt, als er bloß mich sah.

Es war ein sehr geräumiges Zimmer mit verschiedenen großen Landkarten an den Wänden. Ich setzte mich scheu mit der Mütze in der Hand auf die Ecke des Stuhles, der der Tür am nächsten stand, und als der Kellner für mich einen Tisch deckte, muß ich ganz rot vor Bescheidenheit geworden sein.

Er brachte mir einige Koteletten mit Gemüse und nahm den Deckel in so heftiger Weise herunter, daß ich glaubte, ich hätte ihn irgendwie beleidigt. Aber ich beruhigte mich wieder, als er mir den Stuhl an den Tisch schob und sehr leutselig sagte: »Nun, Sechsfußhoch, kommen Sie her.«

Ich dankte ihm und setzte mich an den Tisch, fand es aber sehr schwer, mit Messer und Gabel zu hantieren, ohne mich zu bespritzen. Währenddessen stand er mir gegenüber und wandte kein Auge von mir und machte mich immer schrecklich erröten, wenn ich seinem Blick begegnete.

Nachdem er mir bis zum zweiten Kotelett zugesehen, sagte er:

»Es ist auch eine halbe Pinte Ale für Sie bestellt. Wollen Sie sie jetzt haben?«

Ich dankte und sagte: »Ja.« Hierauf goß er das Bier aus einem Krug in ein großes Glas und hielt es gegen das Licht.

»Meiner Seel«, sagte er, »s scheint eine ganze, ganze Menge, was?«

»Ja, es scheint eine ganze Menge«, antwortete ich lächelnd, denn ich war ganz entzückt, daß er zu mir so freundlich war. Er war ein Mann mit zwinkernden Augen und sinnigem Gesicht, und das Haar stand ihm zu Berge. Wie er den Arm in die Seite gestemmt hatte und das Glas gegen das Licht hielt, sah er jedoch ganz gemütlich aus.

»Gestern war ein Gentleman hier«, fing er wieder an, »ein großer, starker Gentleman, der hieß Oberniedersäger. Kennen Sie ihn vielleicht?«

»Nein«, sagte ich, »ich glaube nicht.«

»Kurze Hosen und Gamaschen, breitkrempigen Hut, scheckiges Halstuch«, sagte der Kellner.

»Nein«, sagte ich gedrückt. »Ich habe nicht das Vergnügen.«

»Er kehrte hier ein«, sagte der Kellner und sah immer noch durch das Glas, »bestellte auch Ale, trotzdem ich ihm abriet, trank es und war tot auf der Stelle. War zu alt für ihn. Es sollte nicht ausgeschenkt werden. Das ist die Sache.«

Der tragische Vorfall machte mich ganz bestürzt und ich sagte, ich würde ein Glas Wasser vorziehen.

»Ja, sehen Sie«, sagte der Kellner, immer noch mit dem einen Auge durch das Glas spähend, das andere hatte er zugemacht, »unsre Leute sehens nicht gern, wenn etwas bestellt wird und stehen bleibt. Nehmens übel. Aber ich wills trinken, wenn Sie erlauben. Bin dran gewöhnt und Gewohnheit kann alles. Ich glaube nicht, daß es mir schadet, wenn ich den Kopf zurücklege und es rasch hinuntergieße. Was?«

Ich erwiderte, ich wäre ihm sehr verpflichtet, wenn er es tränke und es ihm nicht schaden würde. Sonst aber möge er es ja nicht tun. Als er den Kopf zurücklegte und es rasch hinuntergoß, erfaßte mich eine schreckliche Angst, er könnte das Schicksal des bedauernswerten Mr. Oberniedersäger teilen und tot zu Boden fallen. Aber es tat ihm nichts. Im Gegenteil, es schien ihn nur erfrischt zu haben.

»Was haben wir denn da?« sagte er und fuhr dann mit einer Gabel in meine Schüssel. »Doch nicht Koteletten?«

»Koteletten«, sagte ich.

»Gott bewahre!« rief er aus. »Ich wußte gar nicht, daß es Koteletten sind. Ein Kotelett ist das beste gegen das Bier. Ist das ein Glück, was?«

Damit nahm er ein Kotelett, den Knochen in die eine Hand und eine Kartoffel in die andere, und verschlang beide zu meiner größten Befriedigung mit außerordentlichem Appetit. Dann nahm er noch ein Kotelett und noch eine Kartoffel und noch ein Kotelett und noch eine Kartoffel. Hierauf brachte er mir einen Pudding, setzte ihn auf den Tisch und schien ein paar Augenblicke ganz in Gedanken zu versinken.

»Wie ist die Pastete?« fragte er, wie aus einem Traum erwachend.

»Es ist Pudding«, gab ich zur Antwort.

»Pudding?« rief er aus. »Gott bewahre! Wirklich!« und genauer hinblickend: »Es ist doch nicht etwa Blätterpudding?«

»Ja, es ist Blätterpudding.«

»Was? Blätterpudding?« sagte er und nahm einen Eßlöffel. »Das ist ja mein Lieblingspudding. Ist das nicht ein Glück? Komm, Kleiner, wollen mal sehen, wer das meiste kriegt.«

Er bekam wirklich das meiste. Er bat mich mehr als einmal, ich möchte mich doch dazu halten, aber das Mißverhältnis seines Eßlöffels zu meinem Teelöffel, seiner Fertigkeit zu meiner, seines Appetits zu meinem Appetit bewirkten, daß ich schon bei den ersten Bissen weit zurückblieb und keine Aussicht mehr hatte, ihn wieder einzuholen. Ich glaube, ich habe niemals jemand einen Pudding mit so viel Genuß essen sehen; und er lachte, als er fertig war, als ob seine Freude noch fortdauerte.

Da er so freundlich und so gefällig war, bat ich ihn um Feder, Tinte und Papier, um an Peggotty zu schreiben.

Er brachte es nicht nur sogleich, sondern war auch so freundlich, mir über die Achsel zu sehen, während ich schrieb. Als ich fertig war, fragte er mich, wo ich zur Schule ginge.

Ich sagte: »Bei London«, denn ich wußte weiter nichts.

»Gott bewahre!« sagte er und schaute sehr traurig drein. »Das tut mir leid.«

»Warum?« fragte ich ihn.

»Ach mein Gott«, sagte er und schüttelte den Kopf, »das ist die Schule, wo sie dem Jungen die Rippen zerbrachen. Zwei Rippen. Es war ein kleiner Junge. Er war etwa – warten Sie mal – wie alt sind Sie ungefähr?«

Ich sagte ihm: »Zwischen acht und neun Jahre.«

»Das ist grade sein Alter. Er war acht Jahre und sechs Monate, als sie ihm die erste Rippe brachen, acht Jahre und acht Monate alt, als sie ihm die zweite Rippe zerbrachen. Und dann war es aus mit ihm.«

Ich konnte weder mir noch dem Kellner verhehlen, daß das ein recht unangenehmer Vorfall sei, und forschte, wodurch es denn geschehen wäre. Seine Antwort klang durchaus nicht ermutigend für mich, denn sie bestand aus zwei schrecklichen Worten: »Durch Strixe.«

Das Blasen des Posthorns auf dem Hof veranlaßte mich, aufzustehen, und mit einem aus Stolz und Ängstlichkeit gemischten Gefühl, im Besitz einer Börse zu sein, fragte ich, ob noch etwas zu bezahlen wäre.

»Ein Bogen Briefpapier«, sagte er. »Haben Sie schon einmal einen Bogen Briefpapier gekauft?«

Ich konnte mich nicht erinnern.

»Ist sehr teuer. Von wegen die Steuer«, sagte er. »Drei Pence. So werden wir hier besteuert! Sonst weiter nichts. Bloß der Kellner noch. Die Tinte kostet nichts, bei der setze ich zu.«

»Was möchten Sie – was soll ich – wieviel hätte ich – was gibt man wohl dem Kellner, bitte?« stammelte ich und wurde rot.

»Wenn ich keine Familie besäße und die Familie nicht die Pocken hätte«, sagte der Kellner, »würde ich nicht sechs Pence nehmen. Wenn ich keinen alten Vattern nicht hätte und eine lübliche Schwester« – hier wurde der Kellner sehr aufgeregt – »möchte ich keinen Pfennig nicht nehmen. Wenn ich eine gute Stelle hätte hier und gut behandelt würde, würde ich selbst Trinkgeld geben anstatt eins zu nehmen, aber ich lebe von Abfall und schlafe auf Kohlen –«, hier brach er in Tränen aus. Mich ergriff seine unglückliche Lage sehr und ich fühlte, daß ein Trinkgeld von weniger als neun Pence eine wahre Brutalität und Herzenshärte wäre. Daher gab ich ihm einen meiner drei blanken Schillinge, den er mit großer Demut und Ehrerbietung entgegennahm und gleich darauf mit dem Daumennagel auf seine Echtheit untersuchte.

Ich geriet einigermaßen in Verlegenheit, als ich beim Einsteigen in die Postkutsche bemerkte, daß ich im Verdacht stand das ganze Mittagessen allein aufgegessen zu haben. Ich hörte nämlich die Frau aus dem Bogenfenster sagen: »Nehmen Sie das Kind in acht, Georg, sonst platzt es.« Und die Dienstmädchen kamen heraus, staunten mich an und bekicherten mich wie ein junges Naturwunder.

Mein unglücklicher Freund, der Kellner, der sich von seiner Betrübnis vollständig erholt hatte, teilte, ohne im geringsten verlegen zu scheinen, die allgemeine Verwunderung. Wenn ich einigermaßen Verdacht gegen ihn faßte, so entstand es wahrscheinlich dadurch. Aber ich glaube, daß ich bei meiner jugendlichen Arglosigkeit und der natürlichen Achtung, die ein Kind vor höherem Alter hat, selbst damals kein ernstes Mißtrauen gegen ihn hegte.

Immerhin ärgerte ich mich ein bißchen, daß ich so, ohne es zu verdienen, zur Zielscheibe des Spottes zwischen dem Postillon und dem Schaffner wurde. Sie sagten, daß die Kutsche hinten zu schwer würde, wenn ich dort säße, und es wäre vorteilhafter, wenn ich in der Gepäckabteilung reiste. Als die Fabel von meinem Appetit unter den Außenpassagieren ruchbar wurde, machten auch sie ihre Späße über mich und fragten mich, ob in der Schule für mich für zwei oder für drei Brüder bezahlt würde, ob ein besonderer Kontrakt abgeschlossen worden sei, oder ob ich wie jeder andere bezahlte, und noch dergleichen vergnügliche Fragen mehr.

Aber das Schlimmste an der Sache war, daß ich wußte, ich würde mich schämen, bei der nächsten Haltestelle etwas zu essen, und daß ich mit dem sehr knappen Mittagessen im Magen die ganze Nacht würde hungern müssen, zumal ich in der Eile meine Kuchen im Gasthaus vergessen hatte.

Meine Befürchtungen trafen ein. Als wir abends an einem neuen Wirtshaus anhielten, konnte ich es nicht über mich bringen, am Nachtessen teilzunehmen, obgleich ich großen Appetit hatte, sondern setzte mich an den Kamin und sagte, ich äße nichts. Aber auch das rettete mich nicht vor Späßen, denn ein heiserer Herr mit einem rohen Gesicht, der unterwegs die ganze Zeit über aus einer Butterbrotschachtel gegessen hatte, außer wenn er gerade aus einer Flasche trank, verglich mich mit einer Riesenschlange, die auf einmal so viel verschlingt, daß es lange Zeit vorhält. Bei diesen Worten machte er einen heftigen Angriff auf das gekochte Rindfleisch.

Wir waren um drei Uhr nachmittags von Yarmouth abgefahren und sollten in London um acht Uhr am nächsten Morgen ankommen. Es war Hochsommerwetter und ein sehr schöner Abend. Als wir durch ein Dorf fuhren, malte ich mir aus, wie die Häuser wohl innen aussähen und was für Leute drin wohnten. Und als die Jungen hinter uns herliefen und sich eine Strecke weit an den Wagen klammerten, hätte ich sie gern gefragt, ob wohl ihre Väter noch lebten und sie zu Hause glücklich wären.

Viel ging mir im Kopf herum und nicht am wenigsten die Schule, in die ich eintreten sollte. Von Zeit zu Zeit dachte ich auch an die Heimat und an Peggotty und trachtete, mir meine Empfindungen vorzustellen, ehe ich noch Mr. Murdstone gebissen hatte. Ich kam damit nicht zurecht; es schien mir seitdem eine Ewigkeit vergangen zu sein.

Die Nacht war nicht so schön wie der Abend, es wurde kühl. Und da man mich zwischen zwei Herren – den mit dem rohen Gesicht und einen andern – gesetzt hatte, damit ich nicht herunterfiele, so erstickten mich die beiden fast, wenn sie einschliefen und mich ganz zudeckten. Sie quetschten mich manchmal so sehr, daß ich mir nicht mehr helfen konnte und rufen mußte: »Ach, bitte, bitte,« was ihnen gar nicht angenehm war, weil es sie aufweckte. Mir gegenüber saß eine ältliche Dame in einem großen Pelzmantel, die im Finstern wie ein Heuschober aussah. Diese Dame hatte einen Korb bei sich und wußte lange Zeit damit nichts anzufangen, bis sie herausfand, daß er wegen meiner kurzen Beine unter meinen Sitz gehöre. Er belästigte mich so sehr, daß ich ganz unglücklich darüber war, aber wenn ich mich nur ein bißchen rührte, und das Glas, das im Korb lag, klappern machte, stieß sie mich heftig mit dem Fuß und sagte: »So sitz doch still. Deine Knochen sind jung genug, sollte ich meinen.«

Endlich ging die Sonne auf, und jetzt fingen meine Gefährten an ruhiger zu schlafen. Von den Schwierigkeiten, unter denen sie sich die ganze Nacht mit schrecklichem Ächzen und Schnarchen hindurchgekämpft hatten, kann man sich keinen Begriff machen. Als die Sonne höher stieg, wurde ihr Schlaf leiser, und endlich wachte einer nach dem andern auf. Ich mußte mich sehr wundern, daß niemand eingestehen wollte, er hätte geschlafen, sondern mit größter Entrüstung diesen Vorwurf zurückwies. Ich kann es noch heute nicht begreifen, weshalb wir von allen menschlichen Schwächen die am wenigsten zugeben wollen, in einem Wagen eingeschlafen zu sein.

Wie wunderbar kam mir London vor, als ich es in der Entfernung erblickte, mir vorstellte, daß Abenteuer wie die meiner Lieblingshelden dort täglich vorkämen, und mir dunkel ausmalte, daß es reicher an Wundern und Verbrechen sein müßte als jeder andere Ort der Welt. Wir näherten uns der Stadt allmählich und langten zur richtigen Zeit an einem Gasthaus in Whitechapel an, von dem ich nicht mehr weiß, ob es der »Blaue Ochse« oder der »Blaue Eber« war. Irgendein blaues Etwas war es, und sein Abbild war auf die Rückseite der Kutsche gemalt.

Als der Schaffner herunterstieg, fiel sein Blick auf mich, und er fragte zum Fenster des Einschreibebureaus hinein:

»Wartet hier jemand auf einen Knaben namens Murdstone aus Blunderstone in Suffolk?«

Niemand antwortete.

»Bitte, Sir, versuchen Sie es mit Copperfield«, sagte ich und sah ratlos hinab.

»Wartet hier jemand auf einen Knaben namens Murdstone aus Blunderstone in Suffolk, der sich aber zu dem Namen Copperfield bekennt und abgeholt werden soll?« fragte der Schaffner. »Heda! Ist niemand da?«

Nein. Es war niemand da. Ich sah mich ängstlich um, aber auf niemand der Umstehenden machte die Nachfrage den geringsten Eindruck, außer höchstens auf einen einäugigen Mann in Gamaschen, der den Rat gab, mir ein Messinghalsband anzulegen und mich im Stalle anzubinden.

Man brachte eine Leiter, und ich stieg erst nach der Dame hinunter, die einem Heuschober ähnlich sah, da ich mich nicht zu rühren wagte, bis sie ihren Korb weggenommen hatte. Der Wagen war jetzt leer von Reisenden. Die Gepäckstücke waren bald heruntergeholt, die Pferde ausgespannt, und die Kutsche wurde von ein paar Hausknechten zur Seite geschoben.

Noch immer erschien niemand, um den staubbedeckten Knaben aus Blunderstone in Suffolk abzuholen. Noch verlassener als Robinson, dem wenigstens niemand zusah, als er einsam war, begab ich mich in die Schreibstube, verfügte mich auf die Einladung des Kommis hinter den Ladentisch und setzte mich auf die Gepäckwaage. Während ich hier saß und Pakete und Kisten und Bücher musterte und den Stallgeruch einatmete, begann eine Prozession der beängstigendsten Betrachtungen in meiner Seele. Was, wenn mich niemand abholen würde? Wie lange würden sie mich dann hier behalten? Wie lange würden meine sieben Schillinge reichen? Müßte ich des Nachts mit dem andern Gepäck in einem der hölzernen Fächer schlafen und mich am Morgen unter dem Brunnen im Hofe waschen oder würde man mich jede Nacht hinausjagen und dürfte ich erst am nächsten Morgen bei der Eröffnung des Bureaus wiederkommen, bis man mich abholte? Was, wenn es gar kein Irrtum wäre, und Mr. Murdstone hätte sich bloß den Plan ausgedacht, um mich auf die Art los zu werden? Was sollte ich dann tun? Wenn sie mich auch da ließen, bis meine sieben Schillinge zu Ende sein würden, konnte ich doch nicht hoffen, bleiben zu dürfen, wenn ich anfinge, zu verhungern. Das wäre doch den Kunden unbequem gewesen und hätte dem blauen Soundso Begräbniskosten verursacht; und wenn ich gleich ginge, um zu Fuß nach Hause zurückzukehren, hätte ich den Weg finden können? Vorausgesetzt, daß mich dort überhaupt jemand außer Peggotty vielleicht – aufgenommen hätte. Wenn ich zu der ersten besten Behörde ging und mich als Soldat und Matrose anböte, würden sie wahrscheinlich einen so kleinen Jungen wie mich nicht nehmen. Solche und hundert andere Gedanken machten, daß mir der Kopf glühte und ich vor Angst und Sorge ganz schwindelig wurde. Als ich auf dem Höhepunkt meines Fiebers angelangt war, trat ein Mann ein und sagte etwas leise zu dem Kommis. Dieser schob mich von der Waage und zu dem Manne hin, als ob ich gewogen, gekauft, abgeliefert und bezahlt wäre.

Als ich Hand in Hand mit dem neuen Bekannten das Bureau verließ, warf ich einen verstohlenen Blick auf ihn. Er war ein hagerer, bleicher junger Mann mit hohlen Wangen und einem Kinn, das fast so schwarz aussah wie Mr. Murdstones Kinn; aber damit hörte die Ähnlichkeit auf, denn sein Backenbart war abrasiert und das Haar fuchsig und trocken, statt glänzend schwarz. Er trug einen schwarzen Anzug, der auch fuchsig und trocken und an Armen und Beinen etwas zu kurz war. Außerdem hatte er ein weißes, nicht besonders reines Tuch um den Hals. Ich nahm nicht an, daß dieses Halstuch die einzige Wäsche ausmachte, die er trug, jedenfalls konnte ich sonst keine bemerken.

»Du bist der neue Junge?«

»Ja, Sir«, gab ich zur Antwort.

»Ich bin einer der Lehrer von Salemhaus«, sagte er.

Ich verbeugte mich und fühlte mich sehr eingeschüchtert. Ich schämte mich so sehr, von etwas so Alltäglichem wie meinem Koffer einem Gelehrten und Lehrer von Salemhaus gegenüber zu sprechen, daß wir schon eine Strecke weit weg waren, als ich ihn daran erinnerte.

Wir kehrten auf meine demütige Vorstellung hin, daß mir der Koffer vielleicht später nützlich sein möchte, um, und er sagte dem Kommis, daß der Fuhrmann alles nachmittags abholen werde.

»Erlauben Sie, Sir«, fragte ich nach einer Weile, »ist es weit?«

»Es ist nicht weit von Blackheath«, sagte er.

»Ist das weit, Sir?«

»Ein hübsches Stück. Wir werden mit der Post fahren. Es sind so sechs Meilen.«

Ich war so müde und matt, daß noch sechs Meilen aushalten zu müssen mir unerträglich schien. Ich faßte mir ein Herz und gestand, daß ich seit gestern mittag nichts gegessen hatte. Ich würde ihm sehr dankbar sein, wenn er mir erlauben wollte, daß ich mir etwas zu essen kaufte.

Er schien sich darüber sehr zu wundern, – ich sehe ihn noch still stehen und mich ansehen –, und nachdem er einen Augenblick überlegt hatte, sagte er, er wollte eine alte Frau, die nicht weit weg wohnte, aufsuchen, und das beste werde sein, wenn ich unterwegs Brot oder was ich sonst brauchte kaufte und bei ihr, wo wir Milch bekommen könnten, frühstückte.

Wir traten also in einen Bäckerladen, und nachdem ich nacheinander fast alles, was schwer verdaulich war, hatte kaufen wollen, und er mir abgeraten, entschieden wir uns endlich für einen netten kleinen Laib Schwarzbrot, der drei Pence kostete. Dann kauften wir bei einem Höckler ein Ei und eine Schnitte Schinken; und da mir von meinem zweiten Schilling noch recht viel Kleingeld übrig blieb, kam mir London als ein sehr billiger Ort vor.

Mit unsern Einkäufen fertig, gingen wir durch entsetzlichen Lärm und großes Getöse, das meinen Kopf unbeschreiblich verwirrte, über eine Brücke, – ich glaube, er nannte sie Londonbrücke, – und ich war halb eingeschlafen, als wir bei dem Hause der alten Frau anlangten, das zu einem Teil eines Armenasyls gehörte, wie ich aus einer Überschrift auf der Tür entnahm, die besagte, daß es für fünfundzwanzig arme Frauen eingerichtet war. Der Schulmeister von Salemhaus öffnete eine der kleinen schwarzen Türen, die alle ganz gleich aussahen und neben denen sich ein paar kleine Fenster aus geripptem Glas befanden, und wir traten in das Häuschen einer dieser armen Personen, die gerade ein Feuer anblies, um einen kleinen Napf zum Kochen zu bringen. Als die Alte den Schullehrer eintreten sah, ließ sie den Blasebalg sinken und sagte etwas, das wie »Mein Charley« klang. Als sie dann auch mich bemerkte, rieb sie sich die Hände und knixte verlegen ein wenig.

»Kannst du diesem jungen Herrn vielleicht sein Frühstück kochen?« fragte der Schulmeister von Salemhaus.

»Ob ich kann? Natürlich kann ich.«

»Wie gehts Mrs. Fibbitson?« fragte der Schullehrer und sah eine andere alte Frau an, die in einem großen Stuhl beim Ofen saß und in so viel Kleidern versteckt war, daß ich bis heute noch froh bin, mich nicht irrtümlich auf sie gesetzt zu haben.«

»Ach jämmerlich«, sagte die erste alte Frau. »Sie hat heute ihren ganz schlechten Tag. Wenn das Feuer zufällig ausginge, glaube ich wirklich, sie würde auch ausgehen und nicht mehr zu sich kommen.«

Als sie Mrs. Fibbitson ansahen, folgte ich ihrem Beispiel. Obgleich es ein warmer Tag war, schien diese Frau doch an nichts als an das Feuer zu denken. Ich glaube, sie gönnte selbst dem Napf sein Plätzchen nicht, und vermute, sie nahm es mir sehr übel, daß die Pfanne durch das Kochen meines Frühstücks noch länger in Anspruch genommen werden sollte. Ich sah nämlich mit meinen eignen müden Augen, wie sie mir während des Kochens mit der Faust drohte, als einmal niemand acht gab. Der Sonnenschein strömte zu dem kleinen Fenster herein, aber sie saß mit Stuhl und Rücken dagegen und schützte das Feuer, als wolle sie es eifersüchtig warm halten, anstatt daß es sie warm hielt, und bewachte es aufs argwöhnischste. Als die Vorbereitungen für mein Frühstück beendet waren und das Feuer frei wurde, freute sie sich so außerordentlich, daß sie laut auflachte; wie ich gestehen muß, sehr unmelodisch.

Ich setzte mich nieder zu meinem Schwarzbrot, dem Ei und dem Schinken und einem Napf mit Milch und hatte ein köstliches Mahl. Während ich noch in vollem Genusse schwelgte, sagte die erste Alte zu dem Schullehrer: »Hast du deine Flöte bei dir?«

»Ja«, antwortete er.

»Mach einen Blaser drauf«, sagte die alte Frau schmeichelnd, »bitte.«

Draufhin faßte der Lehrer mit seiner Hand unter seine Rockschöße und brachte eine Flöte in drei Stücken hervor, die er zusammenschraubte, worauf er zu blasen begann.

Nach langen Jahren der Überlegung muß ich doch immer noch bei der Meinung beharren, daß es niemals einen Menschen auf der Welt gegeben haben kann, der schlechter blies. Er brachte die gräßlichsten Töne hervor, die ich jemals auf natürliche oder künstliche Weise hatte erzeugen hören. Ich weiß nicht, was es für Melodien waren, – wenn es überhaupt Melodien waren, was ich sehr bezweifle, – aber auf mich übten sie die Wirkung aus, daß mir plötzlich alle meine Sorgen wieder einfielen und ich kaum meine Tränen zurückhalten konnte. Dann raubten sie mir den Appetit, und schließlich machten sie mich so schläfrig, daß ich meine Augen nicht mehr offenhalten konnte. Ich habe jetzt noch einen Drang zu nicken, wenn ich daran denke, und wieder steigt das kleine Stübchen vor mir auf mit dem offnen Wandschrank in der Ecke, den Stühlen mit den hohen Lehnen, der kleinen Winkeltreppe, die in die obere Stube führte, und den drei Pfauenfedern über dem Kaminsims. Gleich, als ich eingetreten war, hätte ich gerne gewußt, was sich wohl der Pfau gedacht haben würde, wenn er geahnt hätte, was aus seinem Federschmuck noch einmal werden sollte.

Das Bild verschwimmt langsam in Nebel, und ich nicke und schlafe. Die Flöte wird unhörbar, und ich höre statt dessen die Räder der Postkutsche und bin wieder auf Reisen. Der Wagen stößt, ich wache mit einem Ruck auf, und die Flöte ist wieder da, und der Schulmeister von Salemhaus sitzt mit verschlungnen Beinen da und bläst kläglich, während die alte Frau verzückt vor sich hinschaut. Sie zergeht wieder in Nebel und er zergeht und alles zergeht, es ist keine Flöte mehr da, kein Salemhaus, kein David Copperfield, sondern nichts als tiefer, fester Schlaf.

Ich träumte, kam mir vor, daß die alte Frau in ihrer Verzückung immer näher und näher zu ihm gekommen sei, dicht hinter seinen Stuhl, und den Arm zärtlich um seinen Hals schlänge, was dem Flöteblasen für einen Augenblick ein Ende machte. In dieser Pause hörte ich in einem Zustand von Halbschlaf die alte Frau Mrs. Fibbitson fragen, ob es nicht köstlich sei, worauf Mrs. Fibbitson antwortete, »Eijei ja« und dem Feuer zunickte, dem sie wahrscheinlich die Entstehung der Musik zuschrieb. Ich muß ziemlich lange geschlafen haben. Der Schulmeister von Salemhaus schraubte schließlich seine Flöte wieder in drei Stücke auseinander, steckte sie wieder ein und führte mich fort. Der Omnibus stand nicht weit, und wir stiegen auf das Dach. Ich war fest eingeschlafen, als wir unterwegs einmal anhielten und man mich innen sitzen hieß, weil keine Passagiere mehr drin waren. Endlich fuhr der Wagen unter einem grünen Laubdach im Schritt einen steilen Hügel hinan. Dann hielt er und wir befanden uns am Ziel.

Wenige Schritte brachten den Schulmeister und mich an das Salemhaus, das, von einer hohen Ziegelmauer umgeben, sehr öde aussah. Über der Tür hing ein Brett mit der Inschrift »Salemhaus«, und durch ein Gitterfenster in der Tür musterte uns, nachdem wir geklingelt hatten, ein mürrisches Gesicht, das, wie ich nach dem Öffnen der Türe sah, einem dicken Mann mit einem Stiernacken, einem hölzernen Bein, hervorstehenden Schläfen und gleichmäßig um den ganzen Kopf verschnittenen Haaren gehörte.

»Der neue Junge«, sagte der Lehrer.

Der Mann mit dem Holzbein musterte mich von oben bis unten, wozu er sehr lange brauchte, schloß die Türe hinter uns und zog den Schlüssel ab. Wir gingen unter ein paar großen Bäumen auf das Haus zu, als er den Schulmeister zurückrief:

»Hallo.«

Wir sahen uns um, und der Mann stand in der Tür des Pförtnerhauses und hielt ein paar Stiefel in der Hand: »He! Der Schuhflicker war da und sagte, er könne sie nicht mehr flicken. Er sagte, es wäre kein Stück mehr ganz, – er möchte gerne wissen, was Sie eigentlich wollten.«

Mit diesen Worten warf er die Stiefel Mr. Mell – so hieß der Lehrer vor die Füße, und dieser hob sie auf und betrachtete sie mit betrübtem Blick, als wir weitergingen. Ich bemerkte jetzt zum ersten Mal, daß seine Schuhe sich in einem sehr schlechten Zustand befanden, und daß an einer Stelle der Strumpf hervorlugte wie eine Knospe.

Salemhaus, ein viereckiges Gebäude aus roten Ziegeln mit einem Flügel auf jeder Seite, sah öde und leer aus. Überall war es so totenstill, daß ich zu Mr. Mell sagte, die Schüler seien wohl ausgegangen. Er schien sich zu wundern, daß ich nicht wußte, daß jetzt in den Ferien alle Schüler nach Haus gereist wären. Mr. Creakle, der Eigentümer, sowie Mrs. und Miss Creakle befänden sich im Seebad, und man habe mich zur Strafe für meine Missetat während der Ferien hierhergeschickt.

Die Schulstube erschien mir als der ungemütlichste und traurigste Ort, der mir jemals vorgekommen. Ein langes Zimmer mit drei langen Reihen Pulten und sechs Reihen Bänken und rundherum Haken zum Aufhängen der Hüte und Schiefertafeln. Ausgerissene Blätter aus alten Schreib- und Lehrbüchern lagen auf dem schmutzigen Boden verstreut. Einige Käferhäuschen aus demselben Material lagen auf den Pulten, zwei elende, kleine, weiße Mäuse mit roten Augen, von ihren Besitzern zurückgelassen, liefen in ihren kleinen Käfigen hin und her und schnupperten in den Ecken nach Nahrung herum. Ein Vogel in einem Bauer hüpfte traurig auf und nieder, sang und zwitscherte aber nicht. Das ganze Zimmer durchdrang ein merkwürdiger, dumpfer Geruch, wie von schimmligem Tuch, faulen Äpfeln und modrigen Büchern. Wenn das Haus von Anfang an dachlos gewesen wäre, und der Himmel hätte das ganze Jahr hindurch Tinte geregnet, gehagelt, geschneit und gestürmt, hätte die Stube nicht verspritzter sein können. Mr. Mell hatte mich allein gelassen, während er seine unflickbaren Stiefel hinauftrug, und ich ging unterdessen leise an das andere Ende des Zimmers. Als ich an den Tisch des Lehrers kam, fand ich einen Pappendeckel mit der schön geschriebnen Inschrift: »Acht geben. Er beißt.«

Ich kletterte unverzüglich auf das Pult hinauf, denn ich fürchtete, es sei unten ein großer Hund versteckt. So vorsichtig ich mich auch umsah, konnte ich doch nichts entdecken. Ich blickte immer noch mit ängstlichen Augen umher, als Mr. Mell zurückkam und mich fragte, was ich da oben mache.

»Ich bitte um Verzeihung, Sir. Ich suche den Hund.«

»Hund?« fragte er. »Welchen Hund?«

»Es ist kein Hund da, Sir?«

»Was für ein Hund denn?«

»Vor dem man sich in acht nehmen soll, weil er beißt.«

»Nein, Copperfield«, sagte der Lehrer ernst, »das ist kein Hund, das ist ein Knabe. Ich habe den Befehl, Copperfield, diesen Zettel auf deinem Rücken zu befestigen. Es tut mir leid, daß ich so mit dir anfangen muß, aber ich muß es tun.«

Damit zog er mich vom Pulte herunter und band mir das zu diesem Zweck sinnreich vorbereitete Plakat wie einen Tornister auf den Rücken, und von nun an hatte ich den Trost, es, wo ich ging, mit mir herumtragen zu müssen.

Was ich unter diesem Plakat zu leiden hatte, kann sich niemand vorstellen. Ob mich jemand sehen konnte oder nicht, immer bildete ich mir ein, jeder müßte es lesen. Es war mir keine Erleichterung, wenn ich mich umdrehte und niemand da war; ich konnte den Gedanken nie los werden, immer jemand hinter meinem Rücken stehen zu wissen. Der grausame Mensch mit dem Holzbein vermehrte noch meine Leiden. Er hatte zu befehlen, und wenn er sah, daß ich mich an einen Baum oder an eine Wand oder an das Haus lehnte, brüllte er mir aus seinem Häuschen zu: »Heda, Copperfield! Laß nur das Ehrenzeichen sehen oder ich zeig dich an.«

Der Spielplatz war ein kahler, mit Sand bestreuter Hof vor den Fenstern der Küche und Gesindestube, und ich wußte, daß die Dienerschaft, der Fleischer und der Bäcker den Zettel lasen. Mit einem Wort, wer früh, wenn ich auf dem Spielplatz sein mußte, im Hause kam oder ging, mußte lesen, daß man sich vor mir in acht zu nehmen hätte, weil ich bisse. Ich fing mich vor mir selbst zu fürchten an, wie vor einem wilden Jungen, der wirklich beißt. Auf dem Spielplatz war eine alte Tür, bedeckt von Namen, die die Schulknaben dort eingeschnitten hatten. In meiner Furcht vor dem Ende der Ferien und der Rückkunft der Schüler konnte ich keinen Namen lesen, ohne mich zu fragen, in welchem Tone wird der oder jener sagen: »Acht geben! Er beißt.« Da war besonders einer, J. Steerforth, der seinen Namen sehr oft und sehr tiefeingeschnitten hatte, und der, wie ich mir vorstellte, das Plakat mit sehr lauter Stimme vorlesen und mich immer an den Haaren zupfen würde. Dann ein anderer, Tommy Traddles, von dem ich fürchtete, er werde Späße treiben und sich stellen, als ob er sich entsetzlich vor mir fürchtete. Von einem dritten, George Demple, glaubte ich, er werde die Inschrift singen.

Ich, das kleine, eingeschüchterte Geschöpf, hatte so oft die Tür angesehen, bis die Träger aller dieser Namen – wie mir Mr. Mell sagte, waren fünfundvierzig Schüler da – mich auf allgemeinen Beschluß in Verruf zu tun schienen, wobei jeder in seiner eignen Weise ausrief: »Acht geben! Er beißt.« Ebenso verhielt es sich mit den Plätzen vor dem Pulte und den Bänken. Ebenso mit den Reihen verlassner Bettstellen, wenn ich aus meinem Lager heraus einen Blick auf sie warf. Ich erinnere mich, daß ich eine Nacht nach der andern träumte, ich sei wieder bei meiner Mutter, wie früher, oder auf Besuch bei Mr. Peggotty oder reise als Außenpassagier mit der Postkutsche oder speise wieder mit meinem unglücklichen Freunde, dem Kellner, und überall wunderten sich die Leute, wenn sie bemerkten, daß ich nichts anhatte als mein kleines Nachthemd und das Plakat auf dem Rücken.

In der Einförmigkeit meines Lebens und in beständiger Furcht vor dem Schulbeginn bereitete es mir unerträgliche Leiden. Ich hatte jeden Tag lange Lektionen bei Mr. Mell, da aber Mr. und Miss Murdstone nicht anwesend waren, kam ich gut weg. Vor- und nachher mußte ich spazierengehen, überwacht von dem Mann mit dem Holzbein. Wie lebhaft ich mich an die Feuchtigkeit rings ums Haus erinnere, an die grünen, zersprungnen Steine im Hof, das alte lecke Wasserfaß und die verwaschnen Stämme der düstern Bäume, die mehr als andere Gewächse im Regen getröpfelt und weniger in der Sonne geblüht zu haben schienen. Um ein Uhr aßen wir zu Mittag, Mr. Mell und ich, an dem obern Ende eines langen kahlen Eßzimmers, das voll war von hölzernen Tischen und stark nach Fett roch. Dann arbeiteten wir wieder bis zum Tee, den Mr. Mell aus einer blauen Tasse und ich aus einem Zinntopf tranken. Den ganzen Tag lang bis abends sieben oder acht war Mr. Mell angestrengt an seinem besondern Pult im Schulzimmer mit Feder, Tinte, Lineal, Büchern und Schreibpapier beschäftigt. Er zog die Rechnungen aus für das vergangene halbe Jahr. Wenn er seine Sachen für die Nacht aufgeräumt hatte, zog er seine Flöte hervor und blies, bis ich glaubte, er müßte allmählich sein ganzes Ich am obern Ende hineingeblasen und sich durch die Klappen verflüchtigt haben.

Ich stelle mir mein eignes kleines Ich vor, wie ich in dem schwach erhellten Zimmer, den Kopf in die Hand gestützt, sitze und der kläglichen Musik Mr. Mells zuhöre und die Aufgaben für den nächsten Tag lerne. Ich sehe mich, wie ich die Bücher weggelegt habe und immer noch den kläglichen Melodien Mr. Mells lausche, und ich höre darin, was mir früher das mütterliche Haus war, höre den Wind wehen über die Dünen von Yarmouth und fühle mich bedrückt und einsam. Ich sehe, wie ich zu Bette gehe in dem ungastlichen Zimmer und mich auf das Bett setze und mich mit Tränen nach einem tröstenden Wort von Peggotty sehne. Ich sehe mich, wie ich früh die Treppe herunterkomme und durch ein Gangfenster auf dem Dache eines Häuschens draußen die große Schulglocke betrachte mit einer Wetterfahne darüber, und wie ich mich vor der Zeit fürchte, wo sie J. Steerforth und die übrigen zur Arbeit rufen wird, was an Schrecklichkeit nur von dem Zeitpunkt übertroffen wird, wo der Mann mit dem Holzbein das rostige Tor aufschließen und den furchtbaren Mr. Creakle einlassen wird. Ich glaube nicht, daß ich in meiner Phantasie mir gefährlich vorkam, aber ich trug doch die Warnung auf dem Rücken!

Mr. Mell sprach niemals viel mit mir, aber er war niemals rauh gegen mich. Ich glaube, wir leisteten einander gute Gesellschaft, auch ohne miteinander zu sprechen. Manchmal redete er mit sich selbst, lachte vor sich hin, ballte die Faust, knirschte mit den Zähnen und raufte sich die Haare in gar nicht zu schildernder Weise. Er hatte nun einmal diese Eigentümlichkeiten. Erst flößten sie mir Furcht ein, aber bald gewöhnte ich mich daran.

6. Kapitel Ich erweitere den Kreis meiner Bekanntschaft


6. Kapitel Ich erweitere den Kreis meiner Bekanntschaft

So hatte ich ungefähr einen Monat gelebt, als der Mann mit dem hölzernen Bein mit dem Besen und dem Wassereimer herumzuhumpeln begann, woraus ich schloß, daß man sich auf den Empfang Mr. Creakles und der Schüler vorbereitete. Ich hatte mich nicht geirrt. Es dauerte nicht lange, so kam der Besen in die Schulstube und verdrängte Mr. Mell und mich. Ein paar Tage lang mußten wir uns im ganzen Hause herumdrücken und waren beständig zwei oder drei Mädchen, die ich vorher nie gesehen hatte, im Wege und fortwährend so in Staub gehüllt, daß ich immerfort niesen mußte, als ob Salemhaus eine einzige große Schnupftabaksdose gewesen wäre.

Eines Tages sagte mir Mr. Mell, daß Mr. Creakle abends ankommen werde. Nach dem Tee hörte ich, daß er da war. Vor dem Schlafengehen holte mich der Mann mit dem hölzernen Bein zu ihm. Mr. Creakles Teil des Hauses sah viel angenehmer aus als der unsere, hatte einen kleinen Garten, der sich sehr hübsch ausnahm verglichen mit dem staubigen Spielplatz, der so sehr eine Wüste in Miniatur war, daß sich bloß ein Kamel oder ein Dromedar darin hätte wohl fühlen können. Ich getraute mich kaum, alles das anzublicken, als ich zitternd durchging. Ich war so verschüchtert, daß ich kaum Mrs. Creakle oder Miss Creakle bemerkte oder überhaupt etwas anderes sah als Mr. Creakle, einen dicken Herrn mit einer mächtigen Uhrkette und Berloques daran, der in einem Lehnstuhl saß und Glas und Flasche neben sich stehen hätte.

»So«; sagte Mr. Creakle, »das ist also der junge Herr, dem die Zähne abgefeilt werden müssen! Dreh ihn um.«

Der Mann mit dem hölzernen Bein drehte mich um und zeigte das Plakat. Dann, als Mr. Creakle es gelesen, drehte er ihm wieder mein Gesicht zu und stellte mich neben ihn. Mr. Creakles Gesicht glühte förmlich, und seine kleinen Augen lagen tief im Kopf. Er hatte dicke Adern auf der Stirn, eine kleine Nase, ein großes Kinn, eine Glatze und spärliches, feucht aussehendes Haar, das anfing, grau zu werden, und so von den Schläfen nach oben gebürstet war, daß sich die Enden auf dem Scheitel begegneten. Was mir am meisten auffiel, war, daß er mit flüsternder Stimme sprach. Die Anstrengung, die ihn das kostete, oder das Bewußtsein, nicht lauter reden zu können, machten sein zorniges Gesicht noch zorniger, und die dicken Adern noch dicker beim Sprechen, so daß ich mich nicht wundere, wenn dieser Zug seines Äußern am lebendigsten in meiner Erinnerung fortlebt.

»Was ist von dem Knaben zu melden?« fragte er.

»Es liegt noch nichts gegen ihn vor«, erwiderte der Mann mit dem Stelzfuß. »Es hat sich noch keine Gelegenheit ergeben.«

Mr. Creakle schien enttäuscht zu sein. Mrs. und Miss Creakle hingegen, die ich jetzt zum erstenmal ansah, und die beide hager und dünn waren, durchaus nicht.

»Komm her«, sagte Mr. Creakle und winkte mir.

»Komm her«, sagte der Mann mit dem Stelzfuß und wiederholte die Gebärde.

»Ich habe das Glück, deinen Stiefvater zu kennen«, flüsterte Mr. Creakle und nahm mich beim Ohr. »Er ist ein würdiger Mann und ein Mann von starkem Charakter. Er kennt mich und ich kenne ihn. Kennst du mich auch? He?« und er zwickte mich mit grausamer Scherzhaftigkeit ins Ohr.

»Noch nicht, Sir«, sagte ich, vor Schmerz zurückweichend.

»Noch nicht? He?« wiederholte Mr. Creakle. »Aber du wirst es bald. He?«

»Wirst bald!« wiederholte der Mann mit dem Stelzfuß.

Ich fand später heraus, daß er mit seiner starken Stimme als Mr. Creakles Sprachrohr den Knaben gegenüber auftrat.

Ich war ganz verschüchtert und sagte, ich hoffte es, wenn er erlaubte.

Mir war die ganze Zeit über, als ob mein Ohr in Flammen stünde, so fest hatte er mich gekniffen.

»Ich will dir sagen, was ich bin«, flüsterte Mr. Creakle und kniff mich noch einmal zum Abschied, daß mir das Wasser in die Augen trat. »Ich bin ein Eisenschädel.«

»Ein Eisenschädel«, sagte der Mann mit dem hölzernen Bein.

»Wenn ich sage, ich will etwas tun, so tue ich es, und wenn ich sage, es soll etwas geschehen, so muß es geschehen.«

»Soll etwas geschehen, so muß es geschehen«, wiederholte der Mann mit dem Stelzfuß.

»Ich bin ein unbeugsamer Charakter. Das bin ich. Ich tue meine Pflicht. Die tue ich immer. Mein eignes Fleisch und Blut – er sah bei diesen Worten Mrs. Creakle an – ist nicht mehr mein Fleisch und Blut, wenn es sich mir widersetzt. Ich verstoße es. Ist der Kerl wieder dagewesen?« fragte er dann den Mann mit dem hölzernen Bein.

»Nein«, war die Antwort.

»Nein«, sagte Mr. Creakle. »Er weiß, warum. Er kennt mich. Er soll sich vor mir hüten. Ich sage, er soll sich vor mir hüten.« Und Mr. Creakle schlug mit der Faust auf den Tisch und sah Mrs. Creakle an. »Denn er kennt mich. Jetzt hast du angefangen, mich auch kennenzulernen, junger Freund. Du kannst gehen. Führ ihn fort.«

Ich war sehr froh, gehen zu dürfen, denn Mrs. und Miss Creakle wischten sich beide die Augen und ich fühlte mich ihretwegen noch unbehaglicher als meinethalben, aber ich hatte eine Bitte auf dem Herzen, die mich so drückte, daß sie heraus mußte, obgleich ich mich selbst über meinen Mut wunderte.

»Verzeihen Sie, Sir.«

Mr. Creakle flüsterte: »Ha, was ist das!« und bohrte seine Augen in meine, als ob er mich verbrennen wollte.

»Verzeihen Sie, Sir«, stotterte ich, »wenn Sie mir erlauben wollten, Sir, – ich bereue doch so sehr, was ich getan habe, – den Zettel mit der Schrift abzulegen, ehe die Knaben zurückkommen –«

Ob Mr. Creakle Ernst machte oder nur so tat, um mich zu erschrecken, weiß ich nicht. Aber er sprang mit solcher Heftigkeit von seinem Stuhle auf, daß ich eilig retirierte, ohne die Begleitung des Mannes mit dem Stelzfuß abzuwarten, und erst wieder in meinem Schlafzimmer Halt machte. Als ich mich nicht verfolgt sah, ging ich zu Bett und lag zitternd und bebend ein paar Stunden da.

Am nächsten Morgen kehrte Mr. Sharp zurück. Mr. Sharp war erster Lehrer und stand über Mr. Mell. Mr. Mell aß mit den Schülern, er hingegen an Mr. Creakles Tisch. Er war ein schmächtiger, zart aussehender Mann mit einer großen Nase und einer Art, den Kopf auf der Seite zu tragen, als ob er ihm ein wenig zu schwer wäre. Sein Haar war sehr weich und gelockt. Der erste Schüler, der zurückkam, sagte, es wäre eine Perücke, – eine »abgelegte«, wie er es nannte, und Mr. Sharp ginge jeden Samstagnachmittag aus, um sie sich brennen zu lassen.

Es war niemand anders als Tommy Traddles, der mir dies verriet. Er war der erste Knabe, der zurückkehrte. Er stellte sich mir mit den Worten vor, sein Name stünde in der rechten Ecke des Tors auf dem obersten Querbalken.

»Traddles?« fragte ich, worauf Tommy erwiderte: »Derselbige.« Und dann forderte er von mir volle Auskunft über mich und meine Familie ab.

Ein Glück für mich, daß Traddles zuerst zurückgekommen war. Ihm machte das Plakat so viel Spaß, daß er mich aus einer großen Verlegenheit rettete, indem er mich jedem einzelnen Jungen mit den Worten vorstellte: »Schau her, das ist ein Jux.« Ein weiteres Glück war, daß der größte Teil der Schüler sehr niedergeschlagen zurückkehrte, und sich auf meine Kosten nicht so viel Späße erlaubte, als ich gefürchtet hatte. Einige tanzten allerdings um mich herum, wie wilde Indianer; die meisten konnten der Versuchung nicht widerstehen, zu tun, als ob ich ein Hund wäre, und mich zu streicheln und zu besänftigen, damit ich nicht bisse, und zu sagen: »Schön legen« und mich Schnapsel zu nennen. Das war natürlich unter so viel Fremden unangenehm und kostete mich manche Träne, aber im ganzen großen lief es viel besser ab, als ich mir vorgestellt hatte.

In aller Form in die Schule aufgenommen galt ich jedoch nicht eher, als bis J. Steerforth ankam. Vor diesen Knaben, der für ungemein gelehrt galt und sehr hübsch aussah und mindestens ein halbes Dutzend Jahre älter war als ich, führte man mich wie vor einen Richter. Unter einem Schutzdach auf dem Spielplatz befragte er mich über die Einzelheiten meiner Strafe und geruhte seine Meinung dahin auszusprechen, daß das eine Affenschande sei und ein Riesenjux, wofür ich ihm für alle Zeit dankbar blieb.

»Wie viel Geld hast du mit, Copperfield?« fragte er, als er nachher mit mir beiseiteging und die Angelegenheit mit besagten Ausdrücken erledigt hatte.

Ich sagte ihm, ich hätte sieben Schillinge.

»Es ist besser, du gibst sie mir zum Aufheben. Übrigens kannst du das tun, wenn du willst. Du brauchst es auch nicht zu tun, wenn du nicht willst.«

Ich beeilte mich, seinem freundlichen Wink zu folgen, öffnete Peggottys Börse und schüttete sie in seine Hand aus.

»Willst du jetzt etwas davon ausgeben?« fragte er mich.

»Nein, ich danke«, entgegnete ich.

»Du kannst, wenn du Lust hast. Du brauchst es nur zu sagen.«

»Nein, ich danke«, wiederholte ich.

»Vielleicht möchtest du ein paar Schillinge an eine Flasche Johannisbeerwein wenden«, meinte Steerforth. »Du gehörst doch zu meinem Schlafraum, nicht?«

Es war mir vorher nichts dergleichen eingefallen, aber ich sagte: »Ja, das möchte ich.«

»Sehr gut«, sagte Steerforth. »Und einen Schilling vielleicht in Mandelkuchen.«

»Ja, auch das.«

»Und einen Schilling für Biskuits und einen für Obst, nicht wahr?« sagte Steerforth. »Copperfield, du machst dich.«

Ich lächelte, weil er lachte. Aber innerlich fühlte ich mich doch ein wenig beunruhigt.

»Gut«, sagte Steerforth, »wir müssen sehen, daß es recht lang reicht, nur darauf kommts an. Ich will alles tun, was in meiner Macht steht. Übrigens kann ich ausgehen, wann ich will, und werde den Plunder schon hereinschmuggeln.«

Mit diesen Worten steckte er das Geld in die Tasche und sagte mir gütig, ich solle mich nicht grämen, er werde schon alles in die Hand nehmen.

Er hielt Wort; innerlich kam es mir wie ein Unrecht vor, daß ich meiner Mutter beide halbe Kronen so unnütz verschwendete. Das Stück Papier aber, in dem das Geld eingewickelt gewesen, bewahrte ich auf wie einen kostbaren Schatz. Als wir zu Bette gingen, wickelte er aus, was er für die ganzen sieben Schillinge gekauft hatte, und legte es im Mondschein auf das Bett und sagte:

»So, kleiner Copperfield, ein königliches Mahl hast du bekommen.«

So lang er anwesend war, konnte ich bei meinem Alter nicht daran denken, die Honneurs des Festes zu machen. Bei dem bloßen Gedanken daran zitterte mir die Hand. Ich bat ihn, den Vorsitz zu übernehmen, und da die andern Schüler im Schlafzimmer meinen Wunsch unterstützten, gab er nach und nahm auf meinem Kopfkissen Platz. Er teilte die Lebensmittel aus; ich muß sagen, vollkommen unparteiisch, und ließ den Johannisbeerwein in einem kleinen Glase ohne Fuß, das ihm gehörte, herumgehen. Ich saß zu seiner Linken, und die übrigen hatten sich auf die nächsten Betten und auf dem Fußboden um uns herum gruppiert.

Wir saßen da zusammen und sprachen flüsternd miteinander. Oder besser gesagt, die andern sprachen, und ich hörte ehrerbietig zu. Das Mondlicht fiel ins Zimmer und malte ein bleiches Fenster auf den Fußboden; die meisten von uns saßen im Dunkeln, nur Steerforth tauchte zuweilen ein Zündhölzchen in die Phosphorbüchse, wenn er etwas auf dem Tische suchen wollte, was jedesmal einen blauen Schein über uns ergoß, der gleich wieder erlosch. Ein Gefühl des Geheimnisvollen, hervorgerufen durch die Dunkelheit, die Heimlichkeit des Gelages und den flüsternden Ton, in dem sich alle unterhielten, beschleicht mich wieder, und ich höre allen zu mit einem dunklen Gefühl der Ehrfurcht und des Grauens, das mich froh sein läßt, daß sie alle so nahe sind. Und wenn ich auch tue, als lache ich, so klopft mir doch das Herz, wenn Traddles ein Gespenst in der Ecke zu sehen behauptet. Ich höre allerlei Geschichten über die Schule und was mit ihr zusammenhängt, höre, daß Mr. Creakle nicht ohne Grund ein Eisenschädel zu sein behauptet, daß er der strengste aller Lehrer sei und jeden Tag schonungslos und unbarmherzig über die Knaben herfalle und um sich schlüge; – daß er weiter nichts könne als die Kunst des Prügelns und, wie J. Steerforth sagte, unwissender sei als der letzte in der Schule und vor vielen, vielen Jahren ein kleiner Hopfenhändler in einem Marktflecken gewesen sei und das Schullehrergeschäft erst angefangen habe, als er in Hopfen Bankrott gemacht und Mrs. Creakles Vermögen verbraucht habe. Ich erfuhr noch vielerlei der Art und staunte, daß sie so viel wußten.

Ich hörte, daß der Mann mit dem Stelzfuß, der Tongay hieß, ein hartherziger Barbar, früher auch im Hopfengeschäft gewesen und mit Mr. Creakle zum Schulfach übergegangen sei, weil er das Bein in Mr. Creakles Dienst gebrochen und mancherlei schmutzige Geschäfte für ihn verrichtet hatte und um alle seine Geheimnisse wüßte, hörte, daß Tongay mit Ausnahme Mr. Creakles die ganze Anstalt, Schullehrer und Knaben, als seine natürlichen Feinde betrachte, und daß es die einzige Freude seines Lebens sei, mürrisch und boshaft zu sein. Ich hörte, daß Mrs. Creakle einen Sohn habe, den Tongay nicht hatte ausstehen können, und der einmal als Unterlehrer in der Schule seinem Vater Vorstellungen über die zu grausame Züchtigung eines Knaben gemacht und gegen die Art, wie Creakle seine Gattin behandelte, protestiert hätte. Ich hörte, daß Mr. Creakle ihn deswegen verstoßen hätte, und daß Mrs. und Miss Creakle darüber sehr bekümmert seien.

Das Wunderbarste aber war, daß ein Knabe in der Schule sei, an den Mr. Creakle niemals wagte, die Hand anzulegen, nämlich J. Steerforth. Steerforth selbst bestätigte das und sagte, er möchte es gern einmal sehen, wenn Creakle so was probieren wollte. Als ein kleiner schüchterner Junge fragte, was er in so einem Fall denn tun würde, brannte er ein Zündholz an, wie um einen hellen Schein über seine Antwort zu verbreiten, und sagte, er würde ihn zuerst einmal mit der schweren Tintenflasche, die immer auf dem Kamin stand, zu Boden schlagen. Eine Zeitlang saßen wir dann atemlos im Dunkeln da.

Ich vernahm, daß Mr. Sharp und Mr. Mell vermutlich beide sehr schlecht bezahlt würden, und daß, wenn warmes und kaltes Fleisch auf Mr. Creakles Tafel stünde, man beim Mittagessen von Mr. Sharp stets erwarte, er werde kaltes vorziehen, was wiederum von Steerforth, der allein an der Tafel des Vorstehers aß, bestätigt wurde. Ich vernahm, daß Mr. Sharp seine Perücke nicht genau passe, und daß er damit gar nicht so groß zu tun – aufzudrehen, wie es einer nannte – brauchte, da man ganz deutlich sehen könnte, wie sein rotes Haar darunter hervorschaue. Ich hörte ferner, daß ein Schüler, der Sohn eines Kohlenhändlers, da wäre in Gegenrechnung für bezogene Kohlen, und daß man ihn deshalb Wechsel- oder Tauschgeschäft, welche Bezeichnung aus dem Arithmetikbuch stammte, benannte. Ich hörte, daß das Tischbier eine an den Eltern verübte Räuberei und der Pudding eine Unverschämtheit wäre. Ich hörte, daß man in der Schule allgemein annehme, Miss Creakle sei verliebt in Steerforth, und wenn ich im Dunkeln saß und an seine gewinnende Stimme, sein feines Gesicht, die ungezwungenen Manieren und sein lockiges Haar dachte, hielt ich es für sehr wahrscheinlich.

Ich erfuhr, daß Mr. Mell kein übler Mensch wäre, aber keinen Sixpence besäße, um sich etwas leisten zu können, und daß die alte Mrs. Mell, seine Mutter, so arm sei wie Hiob. Ich mußte an mein damaliges Frühstück denken und an das, das wie »Mein Charley« geklungen hatte, aber ich schwieg darüber mäuschenstill.

Die Erzählung dieser und vieler anderer Sachen dauerte viel länger als das Festmahl. Der größere Teil der Gäste ging schlafen, als das Essen und Trinken vorbei war, und wir, die wir halb entkleidet in flüsterndem Gespräch noch aufgeblieben, verfügten uns endlich auch ins Bett …

»Gute Nacht, kleiner Copperfield«, sagte Steerforth. »Ich werde dich unter meinen Schutz nehmen.«

»Sie sind sehr freundlich«, erwiderte ich dankbar. »Ich bin Ihnen außerordentlich verpflichtet.«

»Du hast wohl keine Schwester?« fragte dann Steerforth gähnend.

»Nein«, antwortete ich.

»Das ist schade«, meinte Steerforth. »Wenn du eine hättest, müßte es ein kleines, schüchternes, hübsches Mädchen mit hellen Augen sein, glaube ich. Ich müßte sie kennenlernen. Gute Nacht, kleiner Copperfield.«

»Gute Nacht, Sir«, antwortete ich.

Ich mußte sehr viel an ihn denken, als ich dann im Bette lag, und richtete mich manchmal auf, um ihn anzusehen, wie er im Mondschein dalag, das schöne Gesicht aufwärts gewendet und den Kopf auf dem Arme ruhend. Meine Gedanken beschäftigten sich so viel mit ihm, weil er in meinen Augen eine Person von großer Macht bedeutete. Keine ungewisse Zukunft umschimmerte ihn trüb im Mondlicht und keine dunkle Spur hinterließen seine Tritte in dem Garten, in dem zu wandeln ich die ganze Nacht träumte.

26. Kapitel Ich gerate in Gefangenschaft


26. Kapitel Ich gerate in Gefangenschaft

Ich bekam Uriah Heep bis zu dem Tag, wo Agnes die Stadt verließ, nicht mehr zu Gesicht. Ich hatte mich an der Station eingefunden, um Abschied von ihr zu nehmen und sie wegfahren zu sehen, und er war richtig auch da, um mit demselben Wagen nach Canterbury zurückzukehren. Es gewährte mir eine kleine Befriedigung, seinen an den Ärmeln und an der Taille ausgewachsenen, hochschultrigen, maulbeerfarbenen Überrock mit einem Regenschirm, so groß wie ein Zelt, zusammengeschnallt auf dem Eckplatz des Hintersitzes auf dem Wagenverdeck liegen zu sehen, während Agnes natürlich innen in der Kutsche fuhr.

Die Qualen, die ich während meiner Bemühungen, freundlich zu ihm zu sein, solang Agnes zusah, ausstand, verdienten vielleicht diese kleine Belohnung. Auch jetzt wieder umlauerte er uns wie ein großer Geier und verschlang jede Silbe, die Agnes und ich miteinander sprachen. Während der unruhigen Stunden, die ich seinen Enthüllungen verdankte, hatte ich viel an die Worte denken müssen, die Agnes damals zu mir gesagt: »Hoffentlich tat ich recht. Ich fühlte, daß das Opfer eine Notwendigkeit für den Frieden meines Vaters war, und bat ihn, es zu bringen.«

Eine quälende Ahnung, daß sie demselben Gefühl auch noch andere Opfer bringen könnte, hatte mich seitdem nie wieder verlassen. Ich wußte, wie sehr sie ihren Vater liebte, wußte, wie opferfähig ihr Charakter war. Ich hatte von ihren eignen Lippen gehört, daß sie sich für die unschuldige Ursache seiner Irrungen hielt und überzeugt war, sie schulde ihm unendlich viel und müsse alles tun, um das Geschehne wiedergutzumachen. Der Gedanke, daß sie so außerordentlich abstach von dem rothaarigen Scheusal in seinem maulbeerfarbenen Überzieher, war für mich kein Trost, denn ich fühlte, daß gerade in dem Unterschied, in der Selbstverleugnung ihrer reinen Seele und der gemeinen Niedrigkeit der seinen; die Hauptgefahr lag. Zweifellos wußte auch Uriah alles das recht gut und hatte sich in seiner List alles vortrefflich ausgerechnet.

Ich war so fest überzeugt, daß die bloße Aussicht auf ein solches Opfer Agnes‘ Glück zerstören mußte, und erkannte so sicher aus ihrem Wesen, sie ahne noch nichts; daß ich es nicht übers Herz bringen konnte, sie vor dem ihr drohenden Schicksal zu warnen. So schied ich ohne weitere Erklärung.

Sie winkte mir mit der Hand und lächelte mir ein Lebewohl aus dem Wagenfenster zu, während ihr böser Geist auf dem Dache kauerte, als hätte er sie schon frohlockend in seinen Klauen.

Lange Zeit konnte ich die Abschiedsszene nicht vergessen. Als Agnes mir ihre Ankunft meldete, fühlte ich mich so unglücklich, als ob ich sie eben erst abreisen sähe. Sooft ich nachgrübelte, verdoppelten sich meine Sorge und Unruhe. Kaum eine Nacht verging, ohne daß ich nicht davon träumte.

Ich hatte Muße genug, mich meiner Unruhe zu überlassen, denn Steerforth weilte in Oxford, und ich war, außer in der Kanzlei, meistens allein. Ich glaube, ich hegte damals schon einen unbewußten Argwohn gegen Steerforth. Ich beantwortete einen Brief von ihm höchst freundschaftlich, empfand aber angenehm, daß er nicht nach London kam. Ich glaube, Agnes hatte einen großen Einfluß auf mich ausgeübt, der um so mächtiger auf mich wirkte, als er durch Steerforths Anblick nicht gestört wurde.

Unterdessen vergingen Tage und Wochen. Ich wurde in aller Form bei Spenlow & Jorkins inskribiert. Meine Tante gab mir außer dem Hauszins, und was dazu gehörte, neunzig Pfund jährlich. Meine Zimmer wurden für zwölf Monate gemietet, und obgleich sie mir abends immer noch sehr ungemütlich vorkamen und sich mir die Abende sehr lang gestalteten, so gewöhnte ich mich doch allmählich an die gleichmäßige gedrückte Stimmung und den Kaffee, von dem ich täglich, glaube ich, eine Gallone verzehrte.

In dieser Zeit machte ich auch drei Entdeckungen: Erstens, daß Mrs. Crupp von einer Krankheit gequält wurde, die sie die »Krämpf« nannte und die sich dadurch auszeichnete, daß sie stets mit einer geröteten Nase Hand in Hand ging und mit Pfefferminz behandelt werden mußte. Zweitens, daß eine sonderbare Temperatur meiner Vorratskammer alle Brandyflaschen zum Zerspringen brachte. Drittens, daß ich ganz allein in der Welt stand und diesen Umstand in Verse brachte.

An dem Tag, als ich in der Kanzlei eingeschrieben wurde, gab ich kein Fest mehr. Ich bewirtete bloß die Schreiber mit etwas kalter Küche und Sherry und ging abends allein ins Theater. Ich sah dort das Stück »Der Fremdling« und war so abgespannt, daß ich mich kaum in meinem eignen Spiegel erkannte, als ich nach Hause kam.

Als mein Kontrakt unterzeichnet war, meinte Mr. Spenlow, er hätte sich glücklich geschätzt, mich zur Feier des Tags in seinem Haus in Norwood zu sehen, wenn nicht seine Wirtschaft infolge der angekündigten Rückkehr seiner Tochter aus einer Erziehungsanstalt in Paris etwas in Unordnung geraten wäre. Aber er würde sich ein Vergnügen daraus machen, mich sofort nach ihrer Ankunft bei sich zu sehen. Ich wußte, daß er Witwer war und nur eine einzige Tochter hatte, und drückte ihm meinen Dank aus.

Mr. Spenlow hielt Wort. In ein oder zwei Wochen kam er auf sein Versprechen zurück und sagte, wenn ich ihm die Ehre erweisen wollte, ihn nächsten Samstag zu besuchen und bis Montag zu bleiben, würde er sich sehr glücklich schätzen. Natürlich nahm ich an, und er versprach mir, mich in seinem Phaeton mitzunehmen und wieder zurückzufahren.

Als der Tag kam, bildete sogar mein Reisesack bei den Schreibern, denen das Haus in Norwood ein geheiligtes Geheimnis war, einen Gegenstand der Verehrung. Einer von ihnen erzählte mir, er habe gehört, Mr. Spenlow speise nur von Silber und Porzellan, und Champagner werde beständig vom Faß geschenkt wie Tischbier. Der alte Schreiber mit der Perücke, der Mr. Tiffey hieß, war im Verlauf seines Lebens mehrmals in Geschäften dort gewesen und dann stets bis ins Frühstückszimmer vorgedrungen. Er beschrieb es als ein Gemach von überwältigender Pracht und sagte, daß er dort braunen ostindischen Sherry getrunken hätte, so kostbar, daß ihm die Augen davon übergegangen seien.

Wir wohnten an diesem Tag einer Verhandlung im Konsistorium bei, – es drehte sich um die Exkommunikation eines Bäckers, der sich in einer Kirchenratsitzung gegen eine Pflastersteuer gesträubt hatte, und da das Material nach meiner Berechnung gerade doppelt so lang war wie Robinson Crusoes Abenteuer, wurde es ziemlich spät. Zuletzt erlebten wir aber doch, den Mann zu sechswöchentlicher Exkommunikation und zu einer Unmasse von Kosten verurteilt zu sehen, und dann verließen der Proktor des Bäckers und der Richter und die Advokaten der beiden Parteien – alle sehr nahe miteinander verwandt – zusammen die Stadt, und Mr. Spenlow und ich fuhren im Phaeton davon.

Der Phaeton war ein sehr hübscher Wagen; die Pferde beugten ihren Hals und hoben die Beine, als wüßten sie, daß sie zu Doctors‘ Commons gehörten.

In den Commons wurde viel Wetteifer in allem, wo es zu glänzen galt, entfaltet, und es gab viele schöne Equipagen dort, obgleich ich immer dafürgehalten habe, daß zu meiner Zeit der Hauptpunkt des Wettstreites in der Wäschestärke lag, die von den Proktoren in solchen Unmassen verbraucht wurde, wie es nur die Natur des Menschen vertragen kann.

Wir unterhielten uns auf der Hinfahrt sehr angenehm, und Mr. Spenlow gab mir mancherlei Winke. Er sagte, Proktor zu sein sei der vornehmste Beruf von der Welt und dürfe durchaus nicht mit dem eines einfachen Anwalts verwechselt werden. Er sei etwas ganz anderes, unendlich exklusiver, weniger mechanisch und viel gewinnreicher. »Wir machen es uns in den Commons viel leichter, als es anderswo geschehen könnte«, bemerkte er, »und das allein erhebt uns schon zu einer privilegierten Klasse.« Allerdings könne man sich die unangenehme Tatsache nicht verhehlen, daß man eigentlich von den Advokaten angestellt sei, aber er gab mir zu verstehen, daß sie eine untergeordnete Klasse Menschen wären und von allen Proktoren von nur einigermaßen Selbstgefühl von oben herab angesehen würden.

Ich fragte Mr. Spenlow, was er für die beste Art Geschäfte halte.

Er entgegnete, daß ein guter Prozeß um ein bestrittenes Testament, wobei es sich um ein hübsches, kleines Gut von dreißig oder vierzigtausend Pfund handle, so ziemlich die beste Sache sei. Bei einem solchen Prozeß, sagte er, falle nicht nur ziemlich viel ab durch die Rechtseinwände in jedem Stadium des Verfahrens und bei den Bergen von Zeugenbeweisen, bei der Einvernahme und Wiedereinvernahme, gar nicht zu sprechen von der ersten Appellation an die Delegierten und von einer zweiten an das Herrenhaus, – sondern, weil die Kosten schließlich doch auf das Grundstück fielen, gingen die beiden Parteien mit gleicher Lebhaftigkeit an den Prozeß, und um die Kosten mache man sich keine Sorge. Was er besonders bewunderte, sagte er, seien die Commons, die stets geschlossen vorgingen. Es herrsche eine Organisation wie nirgends auf der Welt. Es sei das vollendete Bild der Gemütlichkeit. »Zum Beispiel: Es läuft eine Scheidungsklage ein oder eine Klage auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand an das Konsistorium. Sehr gut. Sie wird im Konsistorium verhandelt. Man macht ein hübsches, ruhiges Familienspiel daraus und wickelt es ganz nach seiner Bequemlichkeit ab. Ist die Partei mit dem Konsistorium nicht zufrieden, dann geht sie an den Archescourt. Was ist der Archescourt? Derselbe Gerichtshof im selben Lokal mit demselben Barreau und denselben Advokaten, nur mit einem andern Richter. Denn es kann der Konsistorialrichter bei jeder Tagfahrt als Advokat plädieren. Man spielt also die Partie noch einmal durch; aber immer noch ist man nicht recht zufrieden. Sehr gut. Was geschieht dann? Man geht zu den Delegierten. Wer sind die Delegierten? Nun, die Delegierten sind die Advokaten, die unbeschäftigt bei der Partie die beiden ersten Male zugesehen, die Karten gemischt, abgehoben und mit ins Spiel hineingeredet haben. Sie kommen jetzt als Richter dran, um die Sache zu jedermanns Zufriedenheit abzumachen. Unzufriedene Leute gebe es immer, die von der Korruption in den Commons redeten und von der Notwendigkeit, sie zu reformieren«, sagte Mr. Spenlow feierlich zum Schluß. Aber als der »Weizenpreis am höchsten stand«, hätten die Commons das meiste zu tun gehabt. Man könne ruhig die Hand aufs Herz legen und der ganzen Welt sagen: Rührt an die Commons, und das ganze Land kommt herunter.

Ich hörte dem allen mit großer Aufmerksamkeit zu, und obgleich ich einigermaßen zweifelte, ob das Land, wie Mr. Spenlow behauptete, den Commons wirklich so sehr zu Dank verpflichtet sein müßte, so beugte ich mich doch ehrerbietig vor seiner Autorität. Was den Weizenpreis betraf, überstieg dies meine Verstandeskräfte, und ich unterdrückte jeden Zweifel. Ich habe bis heute noch nicht mehr von diesem Weizenpreis begriffen. Ich bin bis zu dieser Stunde niemals über diesen Weizen hinweggekommen.

Jedenfalls war ich nicht der Mann, um die Axt an die Commons anzulegen und das Land zugrunde zu richten. Durch mein Schweigen drückte ich meine ehrerbietige Zustimmung zu allem aus, was mein an Jahren und Kenntnissen mir überlegener Begleiter erzählte. Dann unterhielten wir uns über den »Fremdling« und das Theater und das Gespann, bis wir bei Mr. Spenlows Besitz ankamen.

Vor dem Hause lag ein wundervoller Garten und trotz der ungünstigen Jahreszeit sah er so vortrefflich gehalten aus, daß ich ganz bezaubert war. Ein entzückender Rasenplatz, Baumgruppen und Gebüsche, Laubengänge, an denen Blumen und Gesträuch schon die ersten Blätter zeigten, konnte ich noch im Halbdunkel unterscheiden. Hier wandelt Miss Spenlow allein, dachte ich. O Gott.

Wir traten in das hell erleuchtete Haus, und in der Vorhalle hingen alle Arten Hüte, Mützen, Überröcke, Mäntel, Handschuhe, Reitpeitschen und Spazierstöcke.

»Wo ist Miss Dora?« fragte Mr. Spenlow den Bedienten.

Dora! dachte ich, was für ein schöner Name.

Wir traten in das nächste Zimmer, – wahrscheinlich das durch den braunen ostindischen Sherry denkwürdig gewordene Frühstückszimmer, – und ich hörte eine Stimme sagen: »Mr. Copperfield – meine Tochter Dora und ihre vertraute Freundin.« Offenbar war es Mr. Spenlows Stimme, aber ich wußte es nicht genau und kümmerte mich auch nicht mehr darum. In einem Augenblick war alles vorbei. Mein Schicksal hatte sich erfüllt. Ich war ein Gefangener und ein Sklave. Ich liebte Dora Spenlow bis zum Wahnwitz.

Sie war für mich ein überirdisches Wesen, eine Fee, eine Sylphe, ich weiß nicht, was sonst noch alles, etwas, was noch niemand gesehen, und alles, wonach sich jeder sehnen mußte. Ich versank in einen Abgrund von Liebe im Augenblick. Von einem Zaudern am Rande, von einem Hinabsehen oder Zurückblicken konnte nicht die Rede sein. Ich war kopfüber hinabgestürzt, ehe ich noch ein Wort sprechen konnte.

»Ich habe Mr. Copperfield schon früher gesehen«, bemerkte eine mir wohlbekannte Stimme, während ich, etwas vor mich hinmurmelnd, mich tief verbeugte.

Das hatte nicht Dora gesprochen, – nein. Aber ihre vertraute Freundin, – Miss Murdstone.

Ich glaube, ich war gar nicht sonderlich überrascht. Ich hatte die Fähigkeit, mich zu wundern, offenbar verloren. In der Welt des Stoffes gab es nichts des Erstaunens wertes, außer Dora Spenlow.

Ich sagte: »Wie geht es Ihnen, Miss Murdstone? Ich hoffe, Sie befinden sich wohl.« Sie erwiderte: »Sehr wohl.« Ich fragte: »Was macht Mr. Murdstone?« Sie antwortete: »Mein Bruder ist wohlauf. Ich danke Ihnen recht sehr.«

Mr. Spenlow, den wahrscheinlich unser Bekanntsein überraschte, mischte sich jetzt ins Gespräch.

»Es freut mich zu erfahren, Copperfield, daß Sie und Miss Murdstone einander bereits kennen.«

»Mr. Copperfield und ich«, sagte Miss Murdstone mit großer Fassung, »sind Verwandte. Wir waren einmal flüchtig bekannt. Damals in seinen Kinderjahren. Die Verhältnisse haben uns seitdem getrennt. Ich würde ihn nicht wiedererkannt haben.«

Ich entgegnete, daß ich sie unter allen Umständen wiedererkannt hätte. Und das war wahr genug.

»Miss Murdstone hatte die Güte«, sagte Mr. Spenlow, »das Amt – wenn ich mich so ausdrücken darf – einer vertrauten Freundin meiner Tochter Dora anzunehmen. Da meine Tochter Dora leider keine Mutter mehr hat, war Miss Murdstone so gütig, ihre Gefährtin und Beschützerin zu werden.«

Mir schoß der Gedanke durch den Kopf, daß Miss Murdstone ähnlich der Taschenwaffe, die man gewöhnlich Lebensretter nennt, sich besser zum Angriff als zur Verteidigung eigne. Aber da ich keine Minute lang an etwas anderes als an Dora denken konnte, so warf ich einen Blick auf sie und dachte mir, daß dieses hübsche, übermütige Gesicht nicht sehr geeignet sein dürfte, besonders zutraulich zu ihrer Gefährtin und Beschützerin zu werden.

Als das erste Mal zum Diner geläutet wurde, führte mich Mr. Spenlow zum Umkleiden in sein Zimmer. Der Gedanke, mich umzuziehen, oder sonst irgend etwas zu tun in diesem Zustand von Verliebtheit, war denn doch zu lächerlich. Ich konnte mich nur vor den Kamin hinsetzen, den Schlüssel meines Reisesacks zerbeißen und an die entzückende, jugendfrische, lebhafte Dora mit den blitzenden Augen denken. Diese Gestalt, dieses Gesicht und dieses anmutige, bezaubernde Wesen!

Die Glocke läutete so bald wieder, daß ich mich in aller Hast anziehen mußte, statt diesem Geschäft die wünschenswerte Aufmerksamkeit zuwenden zu können. Dann ging ich die Treppen hinunter. Ich fand bereits Gesellschaft vor. Dora sprach mit einem alten, grauköpfigen Herrn. Obgleich er fast weiß war und Urgroßvater dazu, wie er selbst sagte, war ich doch fürchterlich eifersüchtig auf ihn.

In welcher Gemütsstimmung ich mich befand! Ich war auf jeden eifersüchtig. Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, daß jemand Mr. Spenlow besser kannte als ich. Es bereitete mir Qualen, von Vorfällen sprechen zu hören, von denen ich nichts wußte. Als ein sehr liebenswürdiger Herr mit einem lebhaft glänzenden kahlen Kopf mich über den Tisch fragte, ob ich das erste Mal hier sei, hätte ich die fürchterlichste Rache an ihm nehmen mögen. Ich kann mich kaum an jemand aus der Gesellschaft erinnern, außer an Dora. Ich hatte keine Ahnung, was ich aß. Ich genoß nur Dora und ließ ein halbes Dutzend Schüsseln unberührt weitergehen. Ich saß neben ihr. Ich plauderte mit ihr. Sie hatte das lieblichste Stimmchen, das heiterste Lachen, die anmutigsten und entzückendsten kleinen Launen, die jemals einen verlorenen Jüngling in hoffnungslose Sklaverei schmiedeten. Sie war niedlich in allem. Um so kostbarer, dachte ich.

Als sie mit Miss Murdstone das Speisezimmer verließ – sie waren die einzigen Damen –, verfiel ich in ein träumerisches Brüten, das nur von der quälenden Angst, Miss Murdstone möchte mich in Doras Augen herabsetzen, gestört wurde. Der liebenswürdige Herr mit dem kahlen, glänzenden Kopf erzählte mir eine lange Geschichte, – wie ich vermute, von Gartenpflege. Ich glaubte, er sagte mehrere Male: mein Gärtner. Ich tat, als ob ich ihm mit tiefster Aufmerksamkeit zuhörte, wandelte aber die ganze Zeit hindurch mit Dora in dem Garten des Paradieses.

Meine Befürchtung, dem Gegenstand meiner alles verzehrenden Neigung nachteilig geschildert zu werden, wurde wieder wach, als wir in den Salon traten und ich das strenge und kalte Gesicht der Miss Murdstone sah. Aber sie wurde bald in sehr unerwarteter Weise zerstreut.

»Mr. Copperfield«, sagte Miss Murdstone und winkte mir in ein Fenster: »Auf ein Wort!«

Ich stand Auge in Auge mit Miss Murdstone.

»David Copperfield«, sagte sie. »Ich brauche mich nicht über Familienverhältnisse zu verbreiten. Sie sind kein verlockendes Thema.«

»Keineswegs, Ma’am.«

»Keineswegs«, stimmte Miss Murdstone bei. »Ich wünsche nicht die Erinnerung an alte Streitigkeiten aufzufrischen. Ich bin von einer Person beleidigt worden – einer Frau, muß ich leider zur Unehre meines Geschlechtes gestehen –, deren Namen ich nicht ohne Zorn und Entrüstung erwähnen kann, und deshalb will ich sie lieber nicht nennen.«

Diese Anspielung auf meine Tante machte mich wütend, aber ich sagte nur, es wäre wirklich besser, wenn ihr Name nicht erwähnt würde. Ich vertrüge es nicht, in respektloser Weise von ihr sprechen zu hören, fügte ich hinzu, ohne meine Meinung in sehr entschiedener Weise auszudrücken.

Miss Murdstone schloß die Augen und senkte voller Verachtung den Kopf. Dann sah sie langsam wieder auf und sagte: »David Copperfield, ich versuche nicht die Tatsache zu verhehlen, daß ich in Ihrer Kindheit eine sehr ungünstige Meinung von Ihnen gefaßt hatte; ich mag mich damals geirrt haben oder Sie haben aufgehört, mein Urteil zu rechtfertigen. Aber darum handelt es sich jetzt nicht zwischen uns. Ich gehöre einer Familie an, die sich, wie ich glaube, durch eine gewisse Festigkeit des Charakters auszeichnet, und ich bin kein Geschöpf der Verhältnisse und der Umstände. Ich kann meine Meinung von Ihnen haben, Sie können Ihre Meinung von mir haben.«

Die Reihe, sich zu verbeugen, war jetzt an mir.

»Damit ist noch nicht gesagt, daß wir wegen Meinungsverschiedenheit hier in Kollision zu kommen brauchten. Unter den obwaltenden Umständen ist es sogar besser, wenn es nicht geschieht. Da die Wechselfälle des Lebens uns wieder zusammengeführt haben und uns auch noch öfter zusammenführen können, möchte ich Ihnen vorschlagen, daß wir uns gegenseitig wie entfernte Bekannte behandeln. Die Familienverhältnisse rechtfertigen es vollkommen, wenn wir uns auf solchen Fuß stellen, und es ist ganz unnötig, daß einer von uns den andern zum Gegenstand von Klatschereien macht. Sind Sie damit einverstanden?«

»Miss Murdstone«, erwiderte ich, »ich bin der Ansicht, daß Sie und Mr. Murdstone mich aufs grausamste behandelt haben und meiner Mutter das Leben verbitterten. Dieser Ansicht werde ich sein, so lange ich lebe. Im übrigen bin ich mit Ihrem Vorschlag einverstanden.«

Miss Murdstone schloß wieder die Augen und neigte den Kopf. Dann berührte sie mit den Spitzen ihrer kalten, steifen Finger meinen Handrücken und verließ mich, sich die kleinen Fesseln an ihrem Handgelenk und ihrem Hals ordnend. Sie schienen mir noch die alten und genau im selben Zustand zu sein wie damals. Zusammengehalten von Miss Murdstones Charakter machten sie mir den Eindruck von Ketten an einer Kerkertür, die dem Beobachter schon an der Außenseite sagen, was drinnen zu erwarten ist.

Ich weiß weiter nichts mehr von dem Abend, als daß ich die Königin meines Herzens entzückende Balladen in französischer Sprache singen hörte, zu denen wir immer tanzen sollten; tarala, tarala; und dabei begleitete sie sich mit einem herrlichen Instrument, das einer Gitarre ähnlich sah.

Ich schwelgte in seligem Entzücken. Ich wies alle Erfrischungen zurück. Einen besonderen Widerwillen empfand ich gegen Punsch. Sie lächelte mich an und gab mir ihre entzückende Hand, als Miss Murdstone sie unter ihre Obhut nahm und hinausbegleitete. Einmal sah ich mein Gesicht im Spiegel. Es sah vollständig vertrottelt aus. In höchst sentimentaler Stimmung legte ich mich zu Bett und befand mich in der Krisis eines Liebesfiebers, als ich wieder aufwachte.

Es war ein schöner Morgen und noch so frühzeitig, daß ich auf den Einfall kam, in den Laubengängen einen kleinen Spaziergang zu machen, um dabei von ihrem Bild zu träumen. In der Vorhalle begegnete ich ihrem kleinen Hund namens Jip. Ich näherte mich ihm zärtlich, denn ich liebte selbst ihn, aber er zeigte mir grimmig die Zähne, lief unter einen Stuhl, um zu knurren, und wollte nichts von Vertraulichkeit wissen.

Der Garten war frisch und einsam.

Ich ging auf und ab und sagte mir, wie unendlich glücklich ich mich fühlen müßte, wenn ich mich jemals mit diesem Himmelswunder verloben könnte. An Heirat, Vermögen und dergleichen Dinge dachte ich in meiner Unschuld ebenso wenig wie damals, als ich die kleine Emly liebte. Sie Dora nennen, ihr schreiben, sie anbeten und glauben zu dürfen, daß sie in Gesellschaft andrer Leute doch noch an mich denke, erschien mir als der Gipfel menschlicher Sehnsucht, – sicher war es der Gipfelpunkt der meinigen. Zweifellos ein sentimentaler junger Gimpel, empfand ich doch so herzensrein, daß ich selbst heute nicht verächtlich darauf zurückblicken kann, wenn es mir auch noch so lächerlich vorkommt.

Ich war noch nicht lange spazierengegangen, als ich an einer Ecke mit ihr zusammenstieß. Jetzt noch durchzuckt es mich vom Scheitel bis zur Sohle, wenn ich an diese Ecke denke, und die Feder zittert mir in der Hand.

»Sie – sind – früh auf, Miss Spenlow«, stotterte ich.

»Es ist so dumm zu Haus«, sagte sie, »und Miss Murdstone ist so lächerlich. Sie redet solchen Unsinn von der Notwendigkeit, daß die Erde erst trocken sein müsse, ehe man ausgehen kann. Trocken!« sie lachte melodisch. – »Sonntagmorgens, wenn ich drinnen nichts zu tun habe, muß ich doch irgend etwas anfangen. Deshalb sagte ich Papa gestern abends, ich müßte spazierengehen. Außerdem ist es die schönste Zeit des ganzen Tages. Meinen Sie nicht auch?«

Ich nahm allen meinen Mut zusammen und sagte, ein bißchen stotternd, daß mir alles jetzt sehr herrlich vorkäme, wenn es mir auch eine Minute vorher noch sehr dunkel geschienen hätte.

»Wollen Sie mir damit ein Kompliment machen?« fragte Dora, »oder hat sich das Wetter wirklich geändert?«

Ich stotterte noch schlimmer als vorher heraus, daß es durchaus kein Kompliment, sondern volle Wahrheit sei, daß ich aber von einer Wetterveränderung nichts bemerkt hätte. »Es war ein innerlicher Vorgang«, fügte ich errötend hinzu, um es vollends zu erklären.

Noch nie sah ich solche Locken. Wie hätte das auch sein können, da es bis dahin noch nie solche gab. Sie schüttelte sie, um ihr Erröten zu verbergen. Und der Strohhut mit den blauen Bändern, der auf diesen Locken saß, welch unbezahlbarer Schatz wäre es für mich gewesen, hätte ich ihn in meiner Stube in der Buckingham-Straße aufhängen dürfen!

»Sie sind eben von Paris zurückgekehrt?« fragte ich.

»Ja. Waren Sie schon einmal dort?«

»Nein.«

»O, dann müssen Sie bald hingehen. Es wird Ihnen ungemein gefallen!«

Tiefster Schmerz ergriff mich; daß sie mein Fortgehen wünschen, ja, nur für möglich halten konnte, war unerträglich. Ich verabscheute Paris. Ich verabscheute Frankreich. Ich sagte, ich würde England jetzt um keiner irdischen Rücksicht willen verlassen. Nichts könnte mich dazu bewegen. Kurz, sie schüttelte schon wieder ihre Locken, als zu unserer Erlösung das Hündchen den Gang heruntergelaufen kam. Es benahm sich entsetzlich eifersüchtig gegen mich und bellte mich heftig an.

Sie nahm Jip auf ihren Arm – o mein Gott – und liebkoste ihn. Aber er fuhr fort zu bellen. Er litt es nicht, daß ich ihn anfaßte, und bekam deshalb Schläge von ihr. Meine Leiden wurden nur noch größer, als ich sah, wie sie ihn auf seine Nase tätschelte, während er mit den Augen zwinkernd ihr die Hände leckte und innerlich immer noch murrte wie ein kleiner Brummbaß. Endlich war er still – er hatte gut still sein mit ihrem niedlichen Kinn auf seinem Kopf –, und wir gingen weiter, um uns das Gewächshaus anzusehen.

»Sie sind nicht sehr genau bekannt mit Miss Murdstone oder doch?« fragte Dora. »Mein Liebling.«

Die beiden letzten Worte galten leider dem Hund.

»Nein, keineswegs.«

»Sie ist eine langweilige Person«, sagte Dora schmollend. »Ich kann gar nicht begreifen, woran Papa gedacht hat, als er mir das fade Ding zur Beschützerin wählte. Wer braucht denn Schutz? Ich gewiß nicht. Jip kann mich viel besser beschützen als Miss Murdstone, – nicht wahr, guter Jip?« Er zwinkerte bloß schläfrig, als sie ihn auf den runden Kopf küßte.

»Papa nennt sie meine vertraute Freundin, aber das ist sie ganz und gar nicht, nicht wahr, Jip? Wir schenken solchen grämlichen Leuten unser Vertrauen gewiß nicht, Jip und ich. Wir suchen uns schon aus, wen wir gerne haben, anstatt uns jemand zuweisen zu lassen, nicht wahr, Jip?«

Jip brummte bejahend. Es hörte sich an wie ein Teekessel.

Für mich war jedes Wort Doras ein neues Glied zu meiner Sklavenkette.

»Es ist sehr hart, weil wir keine liebe Mama haben, an ihrer Stelle ein brummiges, altes Geschöpf wie Miss Murdstone immer auf den Fersen zu haben, nicht wahr, Jip? Aber das ist uns gleichgültig, Jip. Wir wollen nicht mit ihr vertraut sein und werden uns schon selbst so glücklich machen, wie wir können. Wir werden sie schon gallig machen, nicht wahr, Jip.«

Wenn das noch länger gedauert hätte, wäre ich wahrscheinlich vor ihr auf die Knie gefallen, was mir alle weiteren Aussichten sofort abgeschnitten hätte. Aber zum Glück war das Gewächshaus nicht weit. Es enthielt eine wahre Ausstellung von schönen Geranien. Wir gingen an ihnen entlang, und Dora blieb oft stehen, um diese oder jene Blüte zu bewundern. Ich folgte ihrem Beispiel und bewunderte auch immer die gleiche, und schließlich hielt Dora scherzend das Hündchen in die Höhe, damit es an den Blumen rieche. Und wenn wir uns vielleicht auch nicht alle drei im Feenland befanden, ich war bestimmt darin. Wenn ich heute noch an einem Geranium rieche, wundere ich mich über die plötzliche Veränderung, die mit mir vorgeht. Es erscheint ein Strohhut mit blauen Bändern, eine Menge Locken, ein kleiner, schwarzer Hund, den zwei zarte Arme an eine Wand von Blumen und frischen Blättern halten, vor meinen Blicken. Miss Murdstone hatte uns gesucht. Sie fand uns hier und bot ihre unliebenswürdige Wange, deren kleine Runzeln mit Puder gefüllt waren, Dora zum Kuß. Dann nahm sie Doras Arm und ging so steif zum Frühstück wie zu einem Soldatenbegräbnis.

Wie viele Tassen Tee ich trank, bloß weil Dora ihn bereitete, weiß ich nicht mehr. Ich erinnere mich nur, daß ich solche Mengen hinuntergoß, daß mein ganzes Nervensystem hätte zugrunde gehen müssen, wenn ich damals schon eins besessen hätte. Später gingen wir in die Kirche. Miss Murdstone saß zwischen Dora und mir, aber trotzdem hörte ich die Angebetete singen, und die Gemeinde verschwand vor meinen Augen. Ich hörte eine Predigt – natürlich über Dora –; das ist leider alles, was ich von dem Gottesdienst weiß.

Der Tag verging sehr still. Keine Gesellschaft, ein Spaziergang, ein Familiendiner für vier und am Abend Ansehen von Büchern und Bildern. Miss Murdstone hatte ein Predigtbuch vorgenommen und hielt scharf Wache über uns. Ach, wie wenig ahnte Mr. Spenlow, als er nach dem Diner das Taschentuch übers Gesicht gedeckt mir gegenüber ein wenig nickte, wie sehnsüchtig ich ihn in meiner Einbildung als Schwiegervater umarmte. Er ahnte nicht, als wir uns gute Nacht sagten, daß er soeben seine volle Einwilligung zu meiner Verlobung mit Dora gegeben hatte und ich den Segen des Himmels auf sein Haupt herabrief.

Wir fuhren frühmorgens nach der Stadt, denn unser harrte ein Bergungsfall im Admiralitätsgericht, der eine ziemlich genaue Kenntnis der Schiffahrt verlangte und zu dem, da wir in den Commons von solchen Sachen nicht viel verstehen konnten, der Richter zwei alte Mitglieder vom Schiffahrtsbureau himmelhoch gebeten hatte, ihm aus der Klemme zu helfen. Doch saß Dora wieder am Frühstückstisch, den Tee zu bereiten, und ich hatte das traurige Vergnügen, vor ihr im Phaeton den Hut ziehen zu dürfen, während sie, Jip auf den Armen, in der Türe stand.

Es ist unbeschreiblich, wie mir an jenem Tag der Admiralitätsgerichtshof erschien. Ein unglaublicher Wirrwarr herrschte in meinem Kopf, als ich den Verhandlungen zuhörte. Ich las den Namen Dora auf dem silbernen Ruder, das als Emblem des hohen Gerichtshofs auf dem grünen Tisch lag, und als Mr. Spenlow ohne mich nach Hause fuhr – ich hatte mich mit der ungesunden Hoffnung getragen, er werde mich noch einmal mitnehmen –, kam ich mir wie ein Seemann vor, der von seinem Schiff auf einer wüsten Insel zurückgelassen worden ist. Wenn der schläfrige alte Gerichtshof aufwachen und meine Träume von Dora sichtbar machen könnte, die mich in seinen Räumen erfüllten, würde die Aufrichtigkeit meines Berichts an den Tag kommen. Aber nicht nur die Träume, die ich an diesem Tag hatte, sondern Woche für Woche, Monat um Monat. Ich ging zum Gericht, nicht um zuzuhören, sondern um an Dora zu denken. Wenn ich einmal aufpaßte, so geschah es nur bei Ehesachen mit einer Erinnerung an Dora und mit der Frage, wieso verheiratete Leute sich überhaupt scheiden lassen könnten.

In der ersten Woche meines Verliebtseins kaufte ich vier prachtvolle Westen; – nicht meinetwegen, ich machte mir nichts aus ihnen, – aber für Dora. Ich trug gelbe Glacehandschuhe auf der Straße und legte den Grundstein zu all meinen Hühneraugen. Man hätte nur meine damaligen Stiefel mit der natürlichen Größe meiner Füße zu vergleichen brauchen, um sich über den Zustand meines Herzens klarzuwerden.

Und trotzdem ich mich auf diese Art zum Krüppel machte, ging ich doch täglich meilenweit, um Dora zu begegnen. Ich war nicht nur auf der Landstraße nach Norwood so bekannt wie der Briefträger, sondern ich durchstreifte auch London. Ich wanderte in den Straßen umher, wo sich die besten Läden für Damen befanden, ich spukte im Basar herum wie ein ruheloser Geist und schleppte mich immer und immer wieder durch den Park, wenn ich mich auch noch so abgehetzt fühlte. Zuweilen nach langen Zwischenräumen und zu seltnen Gelegenheiten sah ich sie, zuweilen winkte mir ihr kleiner Handschuh hinter einem Wagenfenster zu, manchmal traf ich sie und begleitete sie und Miss Murdstone ein kleines Stück und sprach mit ihr. In einem solchen Fall fühlte ich mich nachher immer höchst unglücklich, weil mir nichts Gescheites eingefallen war oder weil sie keinen Begriff von der Tiefe meiner Liebe hatte oder sich nicht darum kümmerte. Wie man sich leicht denken kann, erwartete ich immer eine neue Einladung von Mr. Spenlow, aber ich täuschte mich jedesmal.

Mrs. Crupp muß eine sehr scharfblickende Frau gewesen sein, denn als ich kaum ein paar Wochen verliebt war, aber noch nicht den Mut fand, an Agnes etwas anderes zu schreiben, als daß ich Mr. Spenlow und seine Familie, die aus einer Tochter bestünde, in seinem Hause besucht habe –, hatte sie es schon herausgekriegt.

Als ich eines Abends sehr schwermütig zu Hause saß, kam sie herauf zu mir und fragte mich, ob ich ihr nicht gegen ihre »Krämpf« mit etwas Kardamom, Rhabarber und sieben Tropfen Nelkenessenz oder, wenn es das nicht sein könnte, mit ein klein wenig Brandy, dem nächstsichersten Mittel, aushelfen möchte. Da ich von der ersten Arznei nie gehört, die zweite jedoch in der Vorratskammer stehen hatte, schenkte ich Mrs. Crupp ein Glas Brandy ein, das sie, um jeden Verdacht, es könnte unrecht verwendet werden, zu beseitigen, in meiner Gegenwart austrank.

»Kopf hoch, Sir!« sagte sie. »Ich kann Sie nicht so sehen, Sir. Ich bin selbst eine Mutter.«

Ich sah nicht recht ein, was dieser Umstand mit mir zu tun hatte, aber ich lächelte Mrs. Crupp, so gütig ich konnte, an.

»Schauen S«, sagte sie. »Entschuldigen S. Ich weiß schon, was is. Es betrifft eine Damö.«

»Mrs. Crupp«, sagte ich und wurde rot.

»Gott segne Ihna. Nur frischen Mut! Reden S nix vom Sterben. Wenns Ihnen nicht anlächelt, gibts genug andere. Sie sind ein junger Herr, wo das Anlächeln schon wert is, und Sie müssens Ihnern Wert kennenlernen, Mr. Copperfull.«

Mrs. Crupp nannte mich immer Mr. Copperfull, erstens, weil es nicht mein Name war, und zweitens, weil sie offenbar immer an ein Portemonnaie »full Kupper« dabei dachte.

»Wieso vermuten Sie, daß eine junge Dame im Spiel ist, Mrs. Crupp?«

»Mr. Copperfull«, sagte Mrs. Crupp mit Gefühl, »ich bin selbst eine Mutter.«

Eine Zeitlang konnte sie nur ihre Hand auf ihren Nankingbusen legen und sich gegen die Wiederkehr des Schmerzes mit kleinen Schlückchen ihrer Medizin wehren. Endlich ergriff sie wieder das Wort.

»Als Ihner liebe Tante diese Zimmer mietete, Mr. Copperfull, war meine Red, ich hätt jetzt jemand, um den ich mich kümmern könnt. Dem Himmel sei Dank! sagte ich. Jetzt hab ich einen gefunden, wo ich mich drum kümmern kann. Sie essen nicht genug und trinken nix.«

»Gründen Sie darauf Ihre Vermutungen, Mrs. Crupp?«

»Wissen S«, sagte Mrs. Crupp in bestimmtem Ton, »ich hab schon für andere junge Herrn gewaschen, als für Ihnen. Ein junger Herr kann zu viel auf sich halten oder zu wenig auf sich halten. Er kann sich das Haar zu regelmäßig bürsten oder zu unregelmäßig bürsten. Er kann viel zu große Stiefel tragen oder was die viel zu kleinen sind. Das kommt drauf an, wie der junge Herr sich seinen Originalcharakter gformt hat. Aber mag er tun, was er will, jedenfalls ist eine junge Damö im Spiel.«

Sie schüttelte den Kopf so bedeutsam, daß ich mir ganz aus dem Sattel gehoben vorkam.

»Ich will nur den Herrn anführen, der was vor Ihnen hier starb. Er verliebte sich in eine Kellnerin und ließ sich die Westen enger machen, obgleich er vom Trinken ganz aufgschwolln gewesen is.«

»Mrs. Crupp«, sagte ich, »ich muß Sie ersuchen, gefälligst die junge Dame, von der in meinem Fall die Rede ist, nicht mit einer Kellnerin in einem Atem zu nenn.«

»Mr. Copperfull, ich bin selbst eine Mutter, und so etwas möcht mir niemals nicht einfallen. Ich bitt Ihna um Entschuldigung, wenn ich zudringlich bin. Es fällt mir niemals nicht ein, zudringlich zu sein, wo ich nicht willkommen bin. Aber Sie sind noch ein junger Herr, Mr. Copperfull, und was mein Rat is, fassens Ihna ein Herz und lernens Ihnern eignen Wert kennen. Wenns Ihna schon zur Zerstreuung auf etwas legen wollen, legens Ihna aufs Kegelschieben, was Ihna zerstreuen und guttun möcht.«

Bei diesen Worten dankte sie verbindlichst für den Brandy, – der vollkommen ausgetrunken war, mit einer majestätischen Verbeugung und verließ mich. Als ihre Gestalt im Dunkel des Vorzimmers verschwand, erschien mir ihr Rat allerdings wie eine Zudringlichkeit, aber ich ließ mir ihn zur Warnung dienen, ein Geheimnis in Zukunft besser zu verbergen.

27. Kapitel Tommy Traddles


27. Kapitel Tommy Traddles

Am nächsten Tag kam mir der Einfall, Traddles zu besuchen. Die Zeit seiner Abwesenheit mußte um sein, und er wohnte in einer kleinen Straße nicht weit von der Tierarzneischule in Camdentown, einer Gegend, die, wie mir einer unserer Schreiber sagte, meistens von wohlhabendem Studenten bewohnt würde, die lebende Esel kauften, um in ihren Privaträumen Experimente an ihnen zu machen.

Die Straße erschien mir nicht so anheimelnd, wie ich es Traddles wegen gewünscht hätte. Die Bewohner schienen eine besondere Neigung zu haben, unbrauchbare Kleinigkeiten auf die Straße zu werfen, was keineswegs zur Reinlichkeit beitrug. Ich bemerkte nicht nur Kohlblätter und ähnliche Abfälle, sondern sah mit eignen Augen einen Schuh, eine verbogene Blechpfanne, einen schwarzen Hut und einen Regenschirm in verschiedenen Stadien der Zersetzung, während ich mich nach Traddles Hausnummer umsah.

Der Eindruck des Ortes erinnerte mich lebhaft an die Tage bei Mr. und Mrs. Micawber. Das von mir aufgesuchte Haus trug einen unbeschreiblichen Charakter schäbiger Eleganz, wodurch es von den andern Häusern der Straße abstach, obwohl sie alle, nach einem einförmigen Muster gebaut, wie kindische Kopien eines Häuserbauen spielenden Knaben aussahen, und erinnerte mich noch mehr an Mr. und Mrs. Micawber.

Ich erreichte soeben die Tür, als ein Milchmann heraustrat und etwas rief, das mich noch mehr an Mr. und Mrs. Micawber erinnerte.

»Na, was ist also«, äußerte er zu einem sehr jungen Dienstmädchen, »mit meiner kleinen Rechnung?«

»O, der Herr sagt, er werde sie demnächst begleichen.«

»Die Rechnung läuft schon sehr lange«, – die Worte schienen für jemand im Hause bestimmt zu sein und nicht für das Mädchen, weil der Mann gar so grimmig den Gang hinabsah. »Die Rechnung läuft schon so lange und läßt nichts mehr von sich hören, daß sie, mir scheint, schon ganz fortgelaufen ist. Ich lasse mir das nicht gefallen, verstanden«, schrie der Milchmann in den Gang hinein.

Das Äußere des Mannes paßte durchaus nicht für einen Händler mit einem so milden Artikel. Es hätte eher für einen Fleischer oder einen Branntweinhändler gepaßt.

Die Stimme des Dienstmädchens wurde ganz unhörbar. Nach der Bewegung ihrer Lippen zu schließen, schien sie noch einmal zu wiederholen, daß der Herr sie demnächst in Ordnung bringen werde.

»Ich will dir was sagen«, fuhr der Milchmann fort und sah sie zum ersten Mal scharf an und griff ihr unter das Kinn. »Trinkst du gern Milch?«

»Ja, recht gern.«

»Gut, dann kriegst du morgen keine, verstanden? Nicht einen Tropfen Milch kriegst du morgen.«

Das Mädchen schien mir einigermaßen durch die Aussicht, wenigstens heute welche zu bekommen, getröstet. Nachdem der Milchmann, mit einem finstern Blick auf sie, den Kopf geschüttelt, ließ er ihr Kinn los, öffnete unwillig seinen Krug und goß das übliche Maß in die Familienkanne. Darauf entfernte er sich brummend und rief seine Milch mit rachsüchtigem Gekreisch weiter in der Straße aus.

»Wohnt Mr. Traddles hier?« fragte ich.

Eine geheimnisvolle Stimme im Hintergrunde rief »Ja«, worauf auch das junge Mädchen »Ja« antwortete.

»Ist er zu Hause?«

Wieder antwortete die geheimnisvolle Stimme bejahend, und das Mädchen machte das Echo.

Daraufhin ging ich auf die Weisung der Kleinen die Treppe hinauf, nicht ohne beim Vorbeigehen an dem Zimmer im Hintergrund ein geheimnisvolles Auge, das wahrscheinlich zu der geheimnisvollen Stimme gehörte, wachsam auf mich gerichtet zu sehen.

Als ich oben an der Treppe ankam – das Haus war nur ein Stock hoch –, stand Traddles bereits zu meinem Empfang bereit. Er freute sich sehr, mich zu sehen, und führte mich mit herzlichem Willkommengruß in sein kleines Zimmer. Es ging vorne hinaus und war sehr nett, wenn auch nur spärlich möbliert. Er bewohnte kein Zimmer sonst, wie ich bemerkte, denn ich sah ein Schlafsofa und seine Schuhbürsten und Wichse neben den Büchern auf einem Regal unter einem Wörterbuch. Der Tisch war mit Papieren bedeckt, und Traddles schien in seinem alten Rock emsig gearbeitet zu haben. Ich bemerkte alles, ohne mich besonders umsehen zu müssen. Auf seinem porzellanenen Tintenfaß befand sich das Bild einer Kirche, was mich wieder lebhaft an die alten Micawberzeiten erinnerte. Verschiedne sinnreiche Einrichtungen, um die Kommode, den Stiefelvorrat und dergleichen zu verbergen, sahen so recht demselben Traddles ähnlich, der aus Schreibpapier Elefantenkäfige machte, um dann Fliegen hineinzusperren, und der für die erlittenen Mißhandlungen sich mit dem Entwurf von Gerippen tröstete. In einer Ecke des Zimmers lag etwas, sauber mit einem großen, weißen Tuch zugedeckt. Ich konnte nicht herausbekommen, was es sein mochte.

»Traddles«, sagte ich, schüttelte ihm wieder die Hand und setzte mich, »ich bin so erfreut dich wiederzusehen –«

»Ganz meinerseits, Copperfield. Eben weil ich mich so außerordentlich freute, dich zu sehen, gab ich dir diese Adresse anstatt die meines Bureaus.«

»Du hast auch ein Bureau?«

»Ja, ich habe ein Viertel Zimmer, ein Viertel Gang und das Viertel von einem Schreiber. Ich und drei andere haben zusammengeschossen, um ein Bureau zu mieten, – damit es geschäftsmäßiger aussieht – und wir bestreiten auch den Schreiber zu viert. Mich kostet er eine halbe Krone wöchentlich.«

Sein alter einfacher Charakter, seine Gutmütigkeit und ein bißchen von seinem alten Pech glänzten aus dem Lächeln, mit dem er mir diese Erklärung gab.

»Es ist nicht etwa Stolz, Copperfield, weißt du, daß ich gewöhnlich diese Adresse hier nicht verrate. Es geschieht bloß der Leute wegen, die mich besuchen und vielleicht nicht gern hierhergingen. Was mich betrifft, muß ich mich in der Welt durch mancherlei Hindernisse durchkämpfen, und es wäre lächerlich, wenn ich anders erscheinen wollte, als ich bin.«

»Du bereitest dich auf die Advokatur vor, erzählte mir Mr. Waterbrook.«

»Freilich, ja«, sagte Traddles und rieb sich langsam die Hände. »Ich bereite mich auf die Advokatur vor. Tatsächlich habe ich erst jetzt nach recht langer Verzögerung meinen Dienst angetreten. Es ist schon einige Zeit her, daß ich eingeschrieben wurde, aber die Bezahlung der hundert Pfund gab einen großen Ruck. Einen großen Ruck«, wiederholte er mit einem Zucken, als ob ihm ein Zahn ausgerissen würde.

»Weißt du, woran ich fortwährend denken muß, Traddles, wenn ich dich so vor mir sitzen sehe?«

»Nein.«

»An den himmelblauen Anzug, den du immer trugst.«

»Ach Gott, ja, richtig!« rief Traddles lachend, »zu eng an den Armen und Beinen, nicht wahr? Ach, was waren das doch für glückliche Zeiten!«

»Unser Schulmeister hätte sie glücklicher machen können, ohne uns besonders zu schaden, sollte ich meinen«, entgegnete ich.

»Möglich«, gab Traddles zu, »aber lieber Gott, was hatten wir doch für Spaß dort! Erinnerst du dich an die Nächte im Schlafzimmer, wenn wir unsre Abendgesellschaften abhielten und du uns Geschichten erzähltest? Hahaha. Weißt du noch, wie ich durchgehauen wurde, als ich um Mr. Mell weinte. Der alte Creakle! Ich möchte ihn doch gern einmal wiedersehen.«

»Er benahm sich wie eine Bestie gegen dich, Traddles«, sagte ich unwillig, denn grade seine gute Laune erweckte in mir den alten Eindruck, als ob er eben erst durchgeprügelt worden wäre.

»So, meinst du? Wirklich? Vielleicht tat ers. Aber das ist jetzt schon lange Zeit her. Der alte Creakle!«

»Du wurdest damals von einem Onkel erzogen, nicht wahr?«

»Ja freilich. Von dem Onkel, an den ich immer schreiben wollte und niemals schrieb. Hahaha! Ja, ich hatte damals einen Onkel. Er starb bald, nachdem ich aus der Schule kam.«

»So?«

»Ja. Er hatte sich zur Ruhe gesetzt und war, sagen wir mal, Tuch- oder Kleiderhändler gewesen. Er hatte mich zu seinem Erben eingesetzt. Aber ich gefiel ihm nicht, als ich erwachsen war.«

»Ist das dein Ernst?« fragte ich. Er erzählte mir das so ruhig, daß ich dachte, ich hätte ihn nicht recht verstanden.

»Freilich ja, Copperfield. Es ist mein Ernst. Es war eine schlimme Sache, aber er konnte mich durchaus nicht leiden. Er sagte mir, ich entspräche seinen Erwartungen ganz und gar nicht und heiratete dann seine Haushälterin.

»Und was tatest du?«

»Ich tat nichts Besonderes. Ich lebte bei ihm und wartete, ob sie mich nicht irgendwo anbrächten, da schlug sich ihm unglücklicherweise die Gicht auf den Magen und er starb, und sie heiratete einen jungen Mann, und für mich blieb nichts übrig.«

»Bekamst du gar nichts, Traddles?«

»Ach, mein Gott! Ich bekam fünfzig Pfund. Ich war für keinen bestimmten Beruf erzogen, und eine Zeitlang wußte ich überhaupt nicht, was ich beginnen sollte. Endlich machte ich mit dem Beistand eines Advokatensohns, der auch in Salemhaus gewesen, – Yawler, mit der schiefen Nase, du erinnerst dich seiner gewiß, – einen Anfang.«

»Nein, zu meiner Zeit war er noch nicht dort. Damals haben sie alle grade Nasen gehabt.«

»Nun, das macht weiter nichts. Also mit seiner Hilfe lernte ich Akten abschreiben. Dabei schaute nicht viel heraus, und dann fing ich an, Referate aufzusetzen, Auszüge zu machen und ähnliche Arbeiten zu verrichten. Ich bin nämlich ein rechter Büffler, Copperfield, und habe gelernt, mich in solchen Sachen kurz fassen. Hernach kam mir der Gedanke, mich als Student der Rechte einschreiben zu lassen, und das fraß den Rest meiner fünfzig Pfund auf. Yawler empfahl mich unterdessen bei ein paar Kanzleien, zum Beispiel bei Mr. Waterbrook, und ich machte manches nette Geschäft. Außerdem schätze ich mich so glücklich, mit einem Buchhändler bekannt geworden zu sein, der eine Enzyklopädie herausgibt, und da bekam ich wieder Arbeit. Gerade jetzt bin ich für ihn tätig«, sagte er mit einem Blick auf den Tisch. »Ich bin kein schlechter Kompilator, Copperfield«, fuhr er mit einer gewissen heitern Zufriedenheit fort, »aber ich habe nicht die geringste Erfindungsgabe. Ich glaube, es hat noch nie einen jungen Mann von so wenig Originalität wie ich bin gegeben.«

Ich nickte, da Traddles meine Zustimmung zu erwarten schien, und er fuhr mit derselben bescheidenen Genügsamkeit fort: »So sparte ich mir denn nach und nach die hundert Pfund zusammen, Gott sei Dank, daß sie erlegt sind. Es gab einen förmlichen Ruck.« Wieder zuckte er, als ob ihm abermals ein Zahn ausgezogen würde. »Ich ernähre mich durch solche Arbeiten und hoffe immer, eines Tages mit irgendeiner Zeitung in Verbindung zu kommen, und dann wäre mein Glück gemacht! Du, Copperfield, bist ganz genau so wie früher mit deinem gemütlichen Gesicht, und ich freue mich so sehr, dich zu sehen, daß ich dir auch das letzte nicht verheimlichen will. Also höre: Ich bin verlobt.«

»Verlobt! (O Dora!)«

»Sie ist eine Pfarrerstochter, eine von zehn Schwestern unten in Devonshire. Jawohl! Jawohl«, bestätigte er, denn er sah mich unwillkürlich einen Blick auf das Tintenfaß werfen, »jawohl, das ist die Kirche. Man geht hier herum, links durch dieses Tor, und grade hier, wo ich die Feder hinhalte, steht das Haus mit den Fenstern nach der Kirche.«

Seine Freude, mit der er auf diese Einzelheiten einging, wurde mir erst einen Augenblick später ganz klar. Meine selbstsüchtigen Gedanken hatten nämlich gerade einen Grundriß von Mr. Spenlows Haus und Garten entworfen.

»Sie ist so ein liebes Mädchen«, sagte Traddles, »ein wenig älter als ich, aber ein gar so liebes Mädchen. Ich erzählte dir doch, ich würde verreisen. Ich war dort. Ich reiste hin und zurück zu Fuß und habe eine entzückende Zeit verlebt. Freilich wird es ein ziemlich langer Brautstand werden, aber wir sagen immer: warten und hoffen. Und, Copperfield, sie würde warten sechzig Jahre und noch länger –«

Er stand auf und legte mit triumphierendem Lächeln die Hand auf das weiße Tuch, das mir schon früher aufgefallen war.

»Wir haben für alle Fälle schon einen kleinen Anfang mit der Wirtschaft gemacht. Freilich geht es nur langsam vorwärts, aber angefangen haben wir.« Er zog sorgfältig und mit großem Stolz das Tuch weg. »Hier sind schon zwei Stücke für die Einrichtung. Diesen Blumentopf mit Untersetzer hat sie selbst gekauft. Das wird in das Wohnzimmerfenster gesetzt«, sagte Traddles und beugte sich ein wenig zurück, um das Stück mit desto mehr Bewunderung betrachten zu können, »mit einer Pflanze drin. Diesen kleinen runden Tisch mit der Marmorplatte, zwei Fuß zehn Zoll im Umfang, habe ich gekauft. Sagen wir, man will ein Buch hinlegen, oder es kommt jemand zu Besuch und will eine Teetasse aus der Hand setzen, und – und – dazu ist er eben sehr gut. Es ist ein wundervolles Stück Arbeit, fest wie ein Felsen.« Ich hob beide Stücke in den Himmel, und Traddles deckte sie wieder so sorgfältig zu, wie er sie enthüllt hatte.

»Es fehlt noch viel zu einem vollständigen Mobiliar, aber es ist ein Anfang. Die Tischtücher und Betten und die andern Sachen dieser Art machen mir am meisten Sorge, Copperfield. Ebenso die Eisensachen, die Lichterkasten, die Roste, weil diese Sachen gar so ins Geld gehn. Aber warten und hoffen. Ich versichere dir, sie ist ein so liebes Mädchen.«

»Davon bin ich überzeugt.«

»Mittlerweile«, sagte Traddles und setzte sich wieder auf seinen Stuhl, – »und damit will ich aufhören, von mir zu schwatzen, – schlage ich mich durch, so gut ich kann. Ich verdiene nicht viel, brauche aber auch nur wenig. Für gewöhnlich esse ich bei den Leuten unten, nette, angenehme Menschen. Beide, Mr. und Mrs. Micawber, haben viel erlebt und sind vortreffliche Gesellschafter.«

»Um Gottes willen, Traddles?« rief ich aus. »Was sagst du da?«

Traddles sah mich verständnislos an.

»Mr. und Mrs. Micawber? Aber die kenne ich auch ganz genau!«

Ein gewisses zweimaliges Klopfen an der Haustür, das ich aus alter Erfahrung von der Windsor-Terrasse her kannte und das nur von Mr. Micawber herrühren konnte, nahm mir jeden Zweifel. Ich bat Traddles, seinen Hauswirt doch heraufkommen zu lassen. Er rief sogleich über das Treppengeländer hinunter, und Mr. Micawber, nicht im geringsten verändert, – seine engen Beinkleider, sein Stock, sein Hemdkragen und seine Lorgnette, alles genau wie früher – trat mit vornehmen und jugendlichen Allüren in das Zimmer.

»Ich bitte um Verzeihung, Mr. Traddles«, sagte er mit dem gewohnten Rollen in der Stimme und unterbrach die Melodie, die er vor sich hingesungen hatte. »Ich wußte nicht, daß sich eine in Ihrer Behausung fremde Persönlichkeit hier im Allerheiligsten befindet.« Mr. Micawber machte mir eine leichte Verbeugung und zog den Hemdkragen in die Höhe.

»Wie geht es Ihnen, Mr. Micawber?« fragte ich.

»Sir«, antwortete Mr. Micawber. »Ich bin Ihnen außerordentlich verbunden. Ich befinde mich in statu quo

»Und Mrs. Micawber?«

»Sir, auch sie ist Gott sei Dank in statu quo

»Und die Kinder, Mr. Micawber?«

»Sir. Es gereicht mir zur Freude, Ihnen sagen zu können, daß auch sie sich der besten Gesundheit erfreuen.«

Bis dahin hatte mich Mr. Micawber noch nicht erkannt, trotzdem ich dicht vor ihm stand. Als er mich jetzt lächeln sah, betrachtete er mich genauer, trat zurück und rief: »Ist es möglich, habe ich das Glück, abermals Copperfield wiederzusehen?« Und er schüttelte mir beide Hände mit größter Herzlichkeit.

»Gott im Himmel, Mr. Traddles, denken Sie nur! Muß ich hier den Freund meiner Jugend, den Gefährten früherer Jahre wiederfinden! – Meine Liebe«, rief er über das Treppengeländer hinab, während Traddles nicht wenig verwundert bei dieser Beschreibung von mir dreinschaute, – »meine Liebe, hier in Mr. Traddles‘ Gemach befindet sich ein Herr, den dir vorzustellen ich mir das Vergnügen machen möchte.«

Mr. Micawber kam wieder herein und schüttelte mir abermals die Hände.

»Und was macht unser guter Freund, der Doktor, Copperfield, und der ganze Kreis in Canterbury?«

»Ich habe nur gute Nachrichten von ihnen.«

»Das freut mich ungemein. In Canterbury sahen wir uns das letzte Mal. Es war im Schatten, bildlich gesprochen, jenes erhabenen Gotteshauses, das von Chaucer unsterblich gemacht schon in alten Zeiten das Wanderziel des Pilgrims aus den fernsten Winkeln – kurz, es war neben dem Dom.«

Ich stimmte bei. Mr. Micawber fuhr fort mit demselben Schwung zu sprechen, aber, wie mir vorkam, nicht ohne einige Zeichen von Unruhe über gewisse Töne im Nebenzimmer, wie wenn sich Mrs. Micawber die Hände wüsche und eilig Schubladen, die schwer aufgingen, auf- und zuschöbe.

»Sie finden uns, Copperfield«, sagte Mr. Micawber, halb auf Traddles blickend, »gegenwärtig in einem sozusagen kleinen und anspruchslosen Haushalt, aber Sie wissen, daß ich in meiner Karriere mancherlei Schwierigkeiten besiegt und Hindernisse überwunden habe. Sie stehen der Tatsache nicht fremd gegenüber, daß es Abschnitte in meinem Leben gegeben hat, wo ich genötigt war zu pausieren, bis gewisse voraussichtliche Ereignisse eintreten sollten, Zeitabschnitte, wo ich sozusagen einen Anlauf nehmen mußte, um das, was ich sicher ohne Anmaßung einen entscheidenden Sprung nenne, tun zu können. Die gegenwärtige Zeit nun bedeutet einen dieser Augenblicke im menschlichen Leben. Sie sehen mich zurückgetreten zum Sprung, und ich habe allen Grund zu glauben, daß binnen kurzem ein großer Umschwung zu gewärtigen ist.«

Ich hatte kaum meine Beistimmung ausgedrückt, als Mrs. Micawber hereintrat, ein wenig salopper gekleidet als früher – vielleicht kam es mir auch nur so vor –, aber immerhin mit allen Anzeichen gesellschaftlichen Aufputzes und braunen Handschuhen angetan.

»Mein Liebling«, sagte Mr. Micawber und führte sie mir entgegen, »hier steht ein Herr, der seine Bekanntschaft mit dir zu erneuern wünscht. Sein Name ist Copperfield.«

Es wäre besser gewesen, wenn man Mrs. Micawber ein wenig vorbereitet hätte. Sie befand sich momentan in gesundheitlichen Umständen, die große Schonung erforderten, und wurde von der plötzlichen Überraschung so erschüttert und unwohl, daß Mr. Micawber zum Brunnen im Hof hinunterlaufen und eine Schüssel Wasser holen mußte, um ihr die Stirn zu waschen. Sie kam schnell zu sich und freute sich aufrichtig, mich wiederzusehen. Wir unterhielten uns wohl eine halbe Stunde, und ich erkundigte mich nach den Zwillingen, die, wie sie sagte, schon sehr groß seien, und nach Master und Miss Micawber, die »direkte Riesen« sein sollten, sich aber nicht sehen ließen.

Mr. Micawber wollte mich durchaus zum Essen dabehalten. Ich hätte nichts dagegen gehabt, aber aus Mrs. Micawbers Augen schien mir etwas wie Unruhe bei der Berechnung des noch vorhandenen kalten Bratens zu sprechen. Ich gab daher vor, anderswo eingeladen zu sein, und widerstand allem Drängen um so mehr, als mir Mrs. Micawbers Mienen heiterer zu werden schienen.

Ich verlangte von Traddles und den beiden Micawbers, daß sie unbedingt jetzt schon den Tag festsetzen müßten, wo sie bei mir speisen wollten. Traddles‘ Arbeit machte es nötig, den Tag etwas weiter hinauszuschieben, aber schließlich kamen wir doch zu einem Resultat, und ich verabschiedete mich.

Unter dem Vorwand, mir einen nähern Weg zeigen zu wollen, begleitete mich Mr. Micawber bis an die Ecke der Straße, – »um mit einem alten Freund ein paar Worte im Vertrauen sprechen zu können.«

»Lieber Copperfield«, begann er, »ich brauche Ihnen wohl kaum zu versichern, welch unaussprechlichen Trost es mir gewährt, bei den obwaltenden Umständen unter unserm Dach ein Herz schlagen zu wissen von solcher Wärme wie das Ihres Freundes Traddles. Wenn auf der einen Seite eine Waschfrau wohnt, die in dem Fenster ihres Wohnzimmers altbackenes Brot zum Verkaufe ausstellt, und ein Polizeidiener gegenüber, können Sie sich wohl vorstellen, welche Quelle des Trostes die Gesellschaft Mr. Traddles‘ für Mrs. Micawber und mich bedeutet. Zur Zeit, mein lieber Copperfield, bin ich im Kommissionshandel in Getreide tätig. Ich kann mich nicht des Ausdrucks bedienen, daß es ein lohnender Beruf ist, – kurz, er trägt nichts. Und infolgedessen befinde ich mich in einer vorübergehenden Verlegenheit materieller Art. Glücklicherweise kann ich jedoch hinzufügen, daß ich sichere Aussicht habe – ich darf noch nicht verraten, wo –, etwas zu finden, was mich instand setzen wird, dauernd für mich und unsern Freund Traddles, für den ich eine ungewöhnliche Teilnahme hege, sorgen zu können. Sie werden vielleicht nicht überrascht sein, wenn ich Ihnen sage, daß Mrs. Micawber sich in einem Zustand befindet, der es nicht unwahrscheinlich macht, auf eine Vermehrung der Pfänder der Liebe kurz, sie ist in andern Umständen. Mrs. Micawbers Familie hat geruht, über diesen Umstand Äußerungen der Unzufriedenheit fallen zu lassen. Ich will bloß bemerken, daß es sie nichts angeht und daß ich solche Einmischung mit Entrüstung zurückweise.«

Dann schüttelte mir Mr. Micawber die Hand und verließ mich.

28. Kapitel Mr. Micawber wirft seinen Fehdehandschuh hin


28. Kapitel Mr. Micawber wirft seinen Fehdehandschuh hin

Bis zu dem Tag, wo ich meine neuaufgefundnen alten Freunde bewirten sollte, lebte ich hauptsächlich von Dora und Kaffee. In meinem Liebessiechtum schwand mein Appetit. Ich freute mich darüber, denn ich hätte es als Treulosigkeit gegen Dora aufgefaßt, Genuß an einem Mittagessen zu finden. Meine ausgedehnten Spaziergänge verfehlten die gewöhnliche Wirkung, da der Gram meiner Seele der frischen Luft entgegenwirkte. Ich habe auch meine Zweifel, die sich auf die damals erlangte drückende Erfahrung gründen, ob sich ein gesunder Appetit im Menschen entwickeln kann, wenn er beständig von zu engen Schuhen gepeinigt wird.

Ich traf diesmal nicht so große Vorbereitungen wie zu meinem ersten Gastmahl. Das Essen sollte bloß aus Zunge, einer kleinen Schöpsenkeule und aus Taubenpastete bestehen.

Mrs. Crupp wurde rebellisch, als ich ihr zuerst schüchtern die Bereitung von Fisch und Braten zumutete, und sagte gekränkt und würdevoll: »Nein, nein, Sir. So was könnens von mir nicht verlangen. Sie kennens mich zu gut, als daß Sie so was bei mir voraussetzen könnten.« Aber zuletzt verständigten wir uns doch, als ich auf ihre Bedingung, vierzehn Tage nicht zu Hause zu essen, einging.

Überhaupt mußte ich von Mrs. Crupp wegen der Tyrannei, die sie auf mich ausübte, Schreckliches ertragen. Noch nie habe ich mich vor jemand so gefürchtet. Immer mußte ein Vergleich geschlossen werden, und wenn ich zögerte, einzuschlagen, brach jedesmal sofort ihre seltsame Krankheit, die bei ihr immer im Hinterhalt zu liegen schien, aus und nahm von ihren Lebensgeistern Besitz. Wenn ich nach sechsmaligen, schüchternen und erfolglosen Versuchen endlich ungeduldig an der Klingel riß und sie erschien – was auch dann nicht immer der Fall war –, trat sie jedesmal mit vorwurfsvoller Miene herein, sank atemlos auf einen Stuhl bei der Tür, legte verletzt die Hand auf das Nankinggebiet, und ich mußte sie immer mit einem Opfer von Brandy wieder versöhnen. Wenn ich es mir nicht gefallen lassen wollte, daß mein Bett erst um fünf Uhr nachmittags gemacht wurde, so genügte eine Bewegung ihrer Hand, um mich zu einer gestotterten Bitte um Verzeihung zu veranlassen. Kurz, sie verkörperte den Schrecken meines Lebens.

Ich kaufte einen gebrauchten Serviertisch für das Gastmahl, denn ich wollte um keinen Preis den gewandten jungen Mann wieder engagieren. Ich hegte ein Vorurteil gegen ihn, weil ich ihm an einem Sonntagmorgen auf dem Strand in einer Weste begegnete, die einer von mir, seit jenem Feste vermißten, wunderbar ähnlich sah. Das »Gschöpf« bestellte ich wieder, aber unter der Bedingung, daß sie nur die Gerichte hereinzubringen und dann vor der Eingangstüre zu warten habe, wo man ihr Schnaufen nicht hören konnte und der Rückzug auf Teller eine physische Unmöglichkeit war.

Nachdem ich das Nötige zu einer Punschbowle, deren Bereitung Mr. Micawber vorbehalten bleiben sollte, ferner eine Flasche Lavendelwasser, zwei Wachskerzen, ein Papier voll verschiedener Nadeln und ein Kissen dazu, damit Mrs. Micawber ihre Toilette bei mir machen könne, gekauft und in meinem Schlafzimmer für Mrs. Micawber Feuer angemacht und schließlich eigenhändig den Tisch gedeckt hatte, sah ich voll Fassung den kommenden Dingen entgegen.

Zur bestimmten Stunde trafen meine drei Gäste ein. Mr. Micawber mit einem noch hohem Hemdkragen als gewöhnlich, einem neuen Band an seinem Augenglase, – Mrs. Micawber, ihre Haube in ein Papierpaket eingeschlagen, am Arme Traddles.

Alle waren über meine Wohnung entzückt. Als ich Mrs. Micawber an meinen Toilettetisch führte und sie die Vorbereitungen bemerkte, die ich für sie getroffen, geriet sie so außer sich, daß sie ihren Gatten herbeirief.

»Lieber Copperfield«, sagte Mr. Micawber, »das ist wirklich luxuriös. Es verrät eine Lebensführung, die mich an meine eigne Junggesellenzeit erinnert, als Mrs. Micawber noch nicht gebeten worden war, Treue an Hymens Altar zu schwören.«

»Er meint, von ihm gebeten, Mr. Copperfield«, setzte Mrs. Micawber kokett hinzu. »Von andern kann er das nicht sagen.«

»Meine Liebe«, entgegnete Mr. Micawber und wurde plötzlich sehr ernst. »Von andern zu sprechen, hege ich nicht den Wunsch. Ich bin mir wohl bewußt, daß es vielleicht für einen geschah – als du nach dem unerforschlichen Ratschluß des Schicksals für mich aufbewahrt wurdest –, der nach langem Kampfe einer materiellen Verlegenheit höchst verwickelter Natur zum Opfer fallen sollte. Ich verstehe deine Anspielungen, meine Liebe; es schmerzt mich, aber ich ertrage es mit Fassung.«

»Micawber!« rief Mrs. Micawber in Tränen aus. »Habe ich das verdient? Ich, die ich dich nie verlassen habe, die dich nie verlassen wird, Micawber!«

»Meine Liebe«, sagte Mr. Micawber sehr gerührt. »Du wirst verzeihen und gewiß auch unser alter, erprobter Freund Copperfield wird es, wenn die frische Wunde eines verletzten Gemüts, empfindlich geworden durch eine Kollusion mit einem Knechte der öffentlichen Gewalt, kurz, mit einem ordinären Röhrenarbeiter beim Wasserwerk, – in einem solchen Augenblick wieder aufbricht, und wirst mich wegen meiner Verirrung nicht verdammen.«

Er umarmte seine Frau und drückte mir die Hand und ließ mich durch seine dunkeln Andeutungen vermuten, daß man ihm zu Hause wegen Zahlungsversäumnisses das Wasser abgesperrt hatte.

Um seine Gedanken von diesem traurigen Vorfall abzulenken, führte ich ihn zu den Zitronen und gestand ihm, daß ich hinsichtlich der Punschbereitung auf ihn rechne.

Im Handumdrehen wich seine Verzweiflung. Noch nie habe ich einen Menschen beim Duft von Zitronenschalen und heißem Rum so vergnügt gesehen wie Mr. Micawber an diesem Nachmittag. Wunderbar glänzte uns sein Gesicht aus der dünnen Wolke dieser köstlichen Dämpfe entgegen, wie er rührte und mischte und kostete und aussah, als ob er anstatt Punsch ein Vermögen für seine Familie bis ins letzte Glied zurechtmachte.

Mrs. Micawber, ich weiß nicht, ob es die Haube ausmachte, die sie jetzt auf hatte, oder das Lavendelwasser oder die Nadeln oder das Feuer oder die Wachslichter, trat, für ihre Jahre wirklich liebenswürdig aussehend, aus meinem Zimmer. Eine Lerche konnte nicht fröhlicher sein als diese vortreffliche Frau.

Ich wagte nie zu fragen, aber ich vermute, daß Mrs. Crupp schon beim Backen der Seezungen krank geworden war, denn mit dem andern Essen ging es schief. Die Hammelkeule kam auf den Tisch, innen sehr rot und außen sehr blaß und über und über mit einem unbekannten sandigen Stoff bestreut, als ob sie in die Asche des merkwürdigen Küchenherdes gefallen wäre. Wir wurden nicht in den Stand gesetzt, uns durch Untersuchung der Sauce darüber klarzuwerden, denn das »Gschöpf« hatte sie auf die Treppen getropft. Noch lange war sie als Fettfleck sichtbar, bis die Tritte mit der Zeit alles verwischten. Die Taubenpastete war nicht schlecht, aber eine Täuschung. Die Rinde glich einem phrenologischen Schädel, der viel verspricht, aber nichts hält: außen lauter Buckel und Erhöhungen, inwendig nichts. Kurz, das Gastmahl war ein Mißgriff, so daß ich mich höchst unglücklich fühlte wegen des Mißgriffs nämlich, denn wegen Dora fühlte ich mich immerwährend unglücklich. Zum Glück kamen mir die vortreffliche Laune meiner Gäste und ein guter Einfall Mr. Micawbers zu Hilfe.

»Mein lieber Freund Copperfield«, sagte nämlich Mr. Micawber, »unvorhergesehene Ereignisse treten auch in den bestgeleiteten Haushaltungen ein. In Familien, die nicht durch den alles durchdringenden Einfluß, der zugleich den Genuß heiligt und ihn erhöht, – kurz, ich wollte sagen, wenn keine Hausfrau da ist, sind sie mit Sicherheit zu erwarten und müssen mit stoischem Gleichmut getragen werden. Wenn Sie erlauben, daß ich mir die Freiheit nehme zu bemerken, daß nur wenige Speisen halb gar sind und daß ich der Meinung bin, wir könnten mit einiger Arbeitsteilung daraus etwas Gutes bereiten, wenn unsere jugendliche Aufwärterin uns einen Rost verschaffen wollte, so würde ich glauben, daß das kleine Mißgeschick leicht gutzumachen ist.«

In meiner Speisekammer befand sich ein Rost, auf dem ich meinen Frühstücksschinken zu braten pflegte. Er war im Augenblick herbeigeschafft, und wir machten uns sofort daran, Mr. Micawbers Vorschlag zur Ausführung zu bringen. Die Arbeitsteilung, von der er gesprochen, ging folgendermaßen vor sich:

Traddles schnitt die Schöpsenkeule in Scheiben, Mr. Micawber, in allen solchen Dingen ein Meister, bestreute sie mit Pfeffer, Salz, Senf und Cayenne, – ich legte sie auf den Rost, wendete sie mit der Gabel um und nahm sie nach Mr. Micawbers Anleitung vom Feuer. Mrs. Micawber wärmte und rührte Champignonsauce in einer kleinen Pfanne. Als wir genug Schnitten hatten, fingen wir mit noch aufgestreiften Ärmeln an zu essen, während noch mehr Scheibchen auf dem Feuer zischten und unsere Aufmerksamkeit sich zwischen dem Fleisch auf unsern Tellern und dem auf dem Rost teilte.

Das Neuartige dieser Kocherei, die Vortrefflichkeit des Gerichtes, die Aufregung, die mit der Zubereitung verknüpft war, das häufige Aufstehen, um nach dem Rechten zu sehen, das Essen, wenn die knusperigen Schnitten ganz heiß vom Roste kamen, die damit verbundenen Spaße, der Lärm und der Duft, der uns umgab, alles trug dazu bei, daß wir die Hammelkeule bis auf den letzten Rest verzehrten. Mein Appetit kehrte wie durch ein Wunder wieder. Es ist eine Schande, aber ich glaube wirklich, ich vergaß Dora eine Zeitlang. Ich bin überzeugt, Mr. und Mrs. Micawber hätten nicht erfreuter sein können, wenn sie ein Bett verkauft haben würden. Traddles lachte herzlich die ganze Zeit über und aß und schaffte. Wir alle taten desgleichen, und ich muß sagen, niemals war ein Mahl fröhlicher.

Auf dem Höhepunkt der Freude angekommen, wollten wir eben die letzten Scheibchen in den höchsten Zustand der Vollkommenheit versetzen, als ich bemerkte, daß sich noch jemand im Zimmer befand; und meine Augen sahen in die Littimers, der den Hut in der Hand vor mir stand.

»Was ist geschehen?« fragte ich unwillkürlich.

»Ich bitte um Verzeihung, Sir, ist mein Herr nicht hier?«

»Nein.«

»Haben Sie ihn nicht gesehen, Sir?«

»Nein. Kommen Sie nicht von ihm?«

»Nicht direkt, Sir.«

»Hat er Ihnen gesagt, daß Sie ihn hier finden würden?«

»Das gerade nicht, Sir, aber wahrscheinlich wird er wohl morgen erst hier sein, da es heute noch nicht der Fall ist.«

»Kommt er von Oxford hierher?«

»Dürfte ich sehr bitten, Sir«, war die respektvolle Erwiderung; »mir zu erlauben, diese Arbeit zu übernehmen?« Damit nahm Littimer mir die Gabel aus meiner widerstandslosen Hand und beugte sich über den Rost, als ob seine Aufmerksamkeit jetzt ganz von dieser Beschäftigung in Anspruch genommen würde.

Nicht einmal das plötzliche Erscheinen Steerforths selbst hätte uns so aus der Fassung bringen können. In einem Augenblick wurden wir zu Schwächlingen vor diesem respektablen Diener. Mr. Micawber, ein Liedchen summend, um seine Befangenheit zu bemänteln, warf sich in seinen Stuhl zurück, und der Griff einer hastig versteckten Gabel guckte aus seiner Brusttasche hervor. Es sah aus, als ob er sich angestochen hätte. Mrs. Micawber zog ihre braunen Handschuhe an und setzte eine vornehm schlaffe Miene auf. Traddles fuhr sich mit seinen fettglänzenden Händen durch das Haar, daß es sich straff aufrichtete, und starrte verwirrt auf das Tischtuch. Ich selbst war an meiner eignen Tafel wieder zum Kinde geworden und wagte kaum einen Blick auf die respektable Erscheinung zu werfen, die weiß Gott woher gekommen war, um meinen Haushalt in Ordnung zu bringen.

Unterdessen nahm Littimer das Fleisch vom Rost und servierte es mit ernster Miene. Wir langten alle zu, aber es schmeckte uns nicht mehr, und wir taten nur, als ob wir davon äßen. Dann räumte er die Teller geräuschlos auf und stellte den Käse auf den Tisch. Schließlich räumte er ab und brachte die Weingläser. Den Serviertisch schob er eigenhändig in die Speisekammer. Alles dies vollbrachte er in untadelhafter Weise und wandte keinen Blick von seiner Arbeit. Aber selbst in seinen Ellbogen, wenn er mir den Rücken kehrte, schien der Ausdruck seiner unerschütterlichen Meinung, daß ich außerordentlich jung sei, zu lauern.

»Kann ich sonst noch etwas besorgen, Sir?«

Ich dankte, sagte nein und fragte ihn, ob er selbst nicht etwas essen wollte.

»Nichts. Ich danke verbindlichst, Sir.«

»Kommt Mr. Steerforth aus Oxford?«

»Ich bitte um Entschuldigung, Sir?«

»Kommt Mr. Steerforth aus Oxford?«

»Ich vermute, er muß morgen hier sein, Sir, ich glaubte eigentlich, er müßte schon heute hier sein. Die Schuld des Irrtums liegt jedenfalls an mir, Sir.«

»Falls Sie ihn vor mir sehen sollten –« begann ich.

»Ich bitte um Verzeihung, Sir, ich glaube nicht, daß ich ihn vor Ihnen. sehen werde.«

»Falls Sie ihn aber doch sehen sollten, sagen Sie ihm bitte, es täte mir sehr leid, daß er heute nicht hier gewesen ist, da ich einen Besuch von einem seiner Schulkameraden hatte.«

»In der Tat, Sir?« Und Mr. Littimer teilte eine Verbeugung zwischen mir und Traddles, dem er einen flüchtigen Blick zuwarf.

Er bewegte sich geräuschlos nach der Tür, als ich mit einer verzweifelten Anstrengung, irgend etwas Natürliches herauszubringen – was mir diesem Mann gegenüber nie glücken wollte –, noch sagte:

»Sie, Littimer!«

»Sir?«

»Sind Sie noch lange in Yarmouth geblieben?«

»Nicht besonders lang, Sir.«

»Ist das Boot fertig?«

»Ja, Sir. Ich blieb dort, bis es fertig war.«

»Davon bin ich überzeugt.« Er sah mich ehrerbietig an. – »Mr. Steerforth hat es natürlich noch nicht gesehen?«

»Ich kann es wirklich nicht sagen, Sir. Ich vermute – kann es aber nicht mit Bestimmtheit angeben. Ich erlaube mir, Ihnen gute Nacht zu wünschen, Sir.«

Die ehrerbietige Verbeugung, mit der er seine letzten Worte begleitete, galt uns allen zugleich, und er verschwand.

Meine Gäste schienen freier aufzuatmen, als er fort war; aber ich selbst fühlte mich nicht sehr erleichtert. Mir schlug das Gewissen bei dem Gedanken, daß ich seinem Herrn ein wenig mißtraut hatte, und konnte eine unbestimmte Angst nicht abschütteln, daß er es gemerkt habe. Wie kam es nur, daß ich das Gefühl nicht loswerden konnte, daß dieser Mann stets meine geheimsten Empfindungen durchschaute!

Mr. Micawber riß mich aus meinen Betrachtungen, indem er auf Littimer eine große Lobrede hielt und ihn als einen höchst respektablen Menschen bezeichnete. Er hatte den ihm gebührenden Anteil an Littimers für uns alle bestimmten Verbeugung mit unendlicher Herablassung entgegengenommen.

»Der Punsch, lieber Copperfield«, sagte er sodann und kostete, »wartet wie Ebbe und Flut auf keinen Menschen. Ah, er hat gerade jetzt die schönste Blume. Meine Liebe, was ist deine Meinung?«

Mrs. Micawber fand ihn ebenfalls vortrefflich.

»Dann will ich mir die Freiheit nehmen, wenn mein Freund Copperfield gestattet, auf die Tage zu trinken, wo er und ich noch jünger waren und Schulter an Schulter unsern Weg durch die Welt erkämpften.«

Er leerte sein Glas, und wir folgten seinem Beispiel, – Traddles, ganz in Grübeln versunken, in welcher Zeit Mr. Micawber und ich wohl Schulter an Schulter im Kampf des Lebens gerungen haben mochten.

»Ahem!« sagte Mr. Micawber, sich räuspernd, ganz durchglüht von dem Punsch. »Liebe Frau, wünschest du noch ein Glas?«

Mrs. Micawber wollte nur ganz wenig eingeschenkt haben, aber wir ließen uns das nicht gefallen, und sie bekam ein volles Glas.

»Da wir so hübsch unter uns sind, Mr. Copperfield«, sagte sie und nippte an ihrem Punsch, – »Mr. Traddles bildet ja sozusagen einen Teil unserer Familie, – so wüßte ich gern Ihre Meinung über Mr. Micawbers Aussichten. Der Getreidehandel«, fuhr sie gedankenvoll fort, »ist wohl, wie ich zu Mr. Micawber des öfteren geäußert habe, ein ehrenwerter Beruf, aber nicht rentabel. Provisionen in der Höhe von zwei Schilling neun Pence in vierzehn Tagen können, so genügsam unsere Ansprüche auch sind, kein lohnender Ertrag genannt werden.«

Darin stimmten wir alle mit ihr überein.

»Ich muß mir also folgende Frage vorlegen«, sagte Mrs. Micawber, die sich stets einbildete, die Dinge sehr klar zu sehen, und durch ihren gesunden Menschenverstand ihren Gatten auf gerader Bahn zu erhalten wähnte. »Wenn man sich nicht auf Getreide werfen kann, worauf sonst. Auf Kohlen? Keineswegs. Schon einmal haben wir unser Augenmerk auf den Rat meiner Familie hin auf Versuche dieser Art gelenkt, und sie sind fehlgeschlagen.«

Mr. Micawber lehnte sich in seinen Stuhl zurück, die Hände in den Taschen, sah uns von der Seite an und nickte mit dem Kopfe, als wollte er sagen, die Sache läge jetzt ungemein klar.

»Da also Getreide und Kohlen«, fuhr Mrs. Micawber noch überlegsamer fort, »vollständig außer Frage gerückt sind, sehe ich mich natürlich in der Welt um und frage mich, in welchem Fache wohl könnte ein Mann von Mr. Micawbers Talenten sein Glück machen? Kommissionsgeschäfte schließe ich von vornherein aus, da sie unsicherer Natur sind. Für eine Person von Mr. Micawbers besondern Anlagen ist eine sichere Sache die allergeeignetste.«

Traddles und ich drückten unsere Zustimmung, daß diese große Entdeckung zweifellos richtig sei, durch beifälliges Gemurmel aus.

»Ich will nicht hinter dem Berge halten, Mr. Copperfield, daß ich schon lange herausgefühlt habe, das Brauereigeschäft müßte Mr. Micawber direkt auf den Leib geschrieben sein. Sehen Sie einmal Barclay & Perkins, Truman, Hanbury und Buxton an. Nur in einem ausgedehnten Wirkungskreis kann Mr. Micawber, wie ich am besten weiß, sich entfalten, und der Gewinn ist, wie ich mir sagen ließ, ungeheuer. Wenn aber nun Mr. Micawber solchen Firmen nicht beitreten kann – man beantwortet seine Briefe nicht einmal, selbst wenn er seine Dienste für eine Stellung untergeordneten Ranges anbietet –, was nützt es da, sich noch länger mit dieser Idee zu befassen? Nichts! Ich habe die felsenfeste Überzeugung, daß Mr. Micawbers Manieren –«

»Hm, aber ich bitte dich, meine Liebe«, unterbrach Mr. Micawber.

»Lieber Mann, sei still«, sie legte ihren braunen Handschuh auf den Arm ihres Gatten; »ich bin felsenfest überzeugt, Mr. Copperfield, daß Mr. Micawbers Manieren ihn in hervorragender Weise für das Bankiergeschäft qualifizieren. Ich kann mir genau ausmalen, wie Mr. Micawbers Manieren, wenn ich ihn als Repräsentanten eines Bankiers vor mir sähe, mein Vertrauen erwecken müßten, falls ich ein Depot zu erlegen gedächte. Wenn sich aber nun die verschiedenen Bankhäuser weigern, sich Mr. Micawbers Fähigkeiten zu bedienen, und ein derartiges Anerbieten mit Geringschätzung zurückweisen, was hat es da für einen Zweck, noch länger bei einem solchen Gedanken zu verweilen? Keinen! Und was die Eröffnung eines Bankgeschäfts auf eigne Faust betrifft, so wären immerhin einige Mitglieder aus meiner Familie, wenn sie ihr Geld nur Mr. Micawber anvertrauen wollten, in der Lage, ein derartiges Unternehmen begründen zu können. Aber wenn sie ihr Geld Mr. Micawber nun eben nicht anvertrauen wollen – und sie wollen nicht –, was bleibt da übrig? Ich stelle fest, daß wir noch nicht weitergekommen sind als vorhin!«

Ich schüttelte den Kopf und sagte: »Durchaus nicht.« Traddles schüttelte gleichfalls den Kopf und sagte ebenso: »Durchaus nicht.«

»Was habe ich daraus zu folgern? Was ist der Schluß, den ich aus alledem ziehen muß, Mr. Copperfield? Habe ich unrecht, wenn ich sage, es liegt doch klar auf der Hand, daß wir leben müssen?«

Ich antwortete: »Keineswegs«, und Traddles antwortete ebenfalls: »Keineswegs«, und ich setzte noch sehr weise hinzu, der Mensch müsse entweder leben oder sterben.

»Sehr richtig«, erwiderte Mrs. Micawber. »Das ist es eben, und die Sachen, lieber Mr. Copperfield, stehen so, daß wir nicht leben können, wenn sich nicht sehr bald etwas von unsern gegenwärtigen Verhältnissen vollkommen Verschiedenes findet. Ich bin nun davon durchdrungen und habe es Mr. Micawber bei den verschiedensten Gelegenheiten auseinandergesetzt, daß sich nichts von selber findet. Wir müssen gewissermaßen mit dazu beitragen, daß sich etwas findet. Vielleicht habe ich unrecht, aber ich habe nun einmal diese Meinung.«

Traddles und ich stimmten ihr lebhaft bei.

»Sehr gut. Was empfehle ich also? Mr. Micawber ist mit den verschiedenartigsten Eigenschaften – mit großem Talent –«

»Aber ich bitte dich, meine Liebe.«

»Bitte, laß mich ausreden, lieber Mann. Also Mr. Micawber ist mit den verschiedenartigsten Eigenschaften, mit großem Talent, fast möchte ich sagen mit Genie ausgestattet. Man wird sagen, daß ich als seine Gattin voreingenommen sei –«

Traddles und ich murmelten: »Nein.«

»Und trotz alledem ist Mr. Micawber ohne passende Stellung und Beruf. Auf wen fällt die Verantwortung? Auf wen sonst als auf die Gesellschaft! Und daher soll man eine so schmähliche Tatsache laut verkünden und die Gesellschaft öffentlich auffordern, sie in Ordnung zu bringen. Und das hat, nach meiner Ansicht, lieber Mr. Copperfield«, sagte Mrs. Micawber mit Anstrengung, »Mr. Micawber zu tun, er hat der Gesellschaft den Fehdehandschuh hinzuwerfen und zu ihr zu sagen: Wer ihn aufheben will, der trete vor.«

Ich wagte die Frage, wie dies anzufangen sei.

»Durch Annoncieren! In allen Zeitungen! Nach meiner Ansicht muß Mr. Micawber, um sich seiner selbst, seiner Familie, ja sogar der Gesellschaft, die ihn bisher ganz und gar übersehen hat, gerecht zu werden, in allen Zeitungen annoncieren. Er muß sich deutlich beschreiben als den und den mit den und den Eigenschaften und kann die Forderungen stellen: jetzt stellt mich an mit den gebührenden Bezügen – frankierte Offerten an W. M., poste restante, Camdentown.«

»Dieser Gedanke meiner Gattin, lieber Copperfield«, sagte Mr. Micawber, blickte mich von der Seite an und versenkte sein Kinn so tief, daß die beiden Kragenspitzen vorn zusammenstießen, »deckt sich mit dem ›Sprung‹, den ich neulich andeutete, als ich das Vergnügen hatte, Sie zu sehen.«

»Annoncieren in den Zeitungen ist ziemlich kostspielig«, gab ich zu bedenken.

»Sehr wahr«, sagte Mrs. Micawber und behielt unbeirrt ihre logisch aussehende Miene bei. »Sehr richtig, lieber Mr. Copperfield! Ich habe dasselbe schon Mr. Micawber gegenüber festgestellt. Hauptsächlich aus diesem Grunde bin ich der Meinung, daß Mr. Micawber eine gewisse Summe Geldes, lediglich, wie ich schon sagte, um sich, seiner Familie und der Gesellschaft gerecht zu werden, aufnehmen sollte, und zwar gegen Wechsel.«

Mr. Micawber, in seinen Stuhl zurückgelehnt, spielte mit seinem Augenglas und blickte nach der Decke. Aber es schien mir, als ob er dabei einen Seitenblick auf Traddles werfe, der in das Feuer sah.

»Wenn kein Mitglied meiner Familie«, nahm Mrs. Micawber ihre Rede wieder auf, »natürliches Gefühl genug besitzt, diesen Wechsel zu finanzieren, – ich glaube es gibt einen bessern Geschäftsausdruck dafür –«

»Eskomptieren«, berichtigte sie Mr. Micawber, ohne seine Blicke von der Decke zu wenden.

»Diesen Wechsel zu eskomptieren, dann würde ich vorschlagen, daß Mr. Micawber in die City gehen, den Wechsel auf den Geldmarkt bringen und ihn um den höchstmöglichen Preis begeben möge. Wenn die Leute auf dem Geldmarkt Mr. Micawber nötigen, ein großes Opfer zu bringen, so haben sie das mit ihrem Gewissen abzumachen. Ich betrachte die Summe als Anlagekapital! Ich empfehle Mr. Micawber dasselbe zu tun, nämlich, sie als Betriebskapital anzusehen, das sichern Gewinn abwirft, und vor keinem Opfer zurückzuschrecken.«

Ich fühlte – ich wußte zwar nicht warum –, daß dies ein Beweis großer Selbstverleugnung von Seiten Mrs. Micawbers war, und versuchte durch Murmeln meine Meinung in diesem Sinn auszudrücken. Traddles, von meiner Auffassung angesteckt, tat dasselbe und sah unentwegt ins Feuer.

»Ich will meine Ansichten über meines Gatten Geldverhältnisse nicht weiter ausspinnen«, sagte Mrs. Micawber, trank ihren Punsch aus und nahm ihr Umhängetuch zusammen, um sich in mein Schlafzimmer zurückzuziehen. »An Ihrem Tisch, mein lieber Copperfield, und in Gegenwart Mr. Traddles, der, wenn auch kein so alter Freund, so doch einer der Unsrigen ist, konnte ich mich nicht enthalten, Sie mit dem Wege bekannt zu machen, den einzuschlagen ich Mr. Micawber anrate. Ich fühle die Zeit gekommen, wo er eine Anstrengung machen und die ihm zukommende Stellung in der Welt beanspruchen muß. Meiner Ansicht nach sind das die richtigen Mittel dazu. Ich bin mir wohl bewußt, daß ich bloß eine Frau bin und daß zur Diskussion solcher Fragen im allgemeinen der männliche Verstand für geeigneter gehalten wird. Ich darf aber andererseits nicht vergessen, daß Papa oft zu mir sagte – als ich noch zu Hause bei Papa und Mama war –: ›Emmas Körper ist zart und gebrechlich, aber sie erfaßt die Gegenstände mit einer Geistesschärfe, die keiner andern nachsteht.‹ Ich weiß sehr wohl, daß mein Vater zu parteiisch dachte, aber daß er bis zu einem gewissen Grade ein Menschenkenner ersten Ranges war, verbieten mir Pflicht und Verstand zugleich zu bezweifeln.«

Mit diesen Worten und gegenüber allen unsern Bitten, daß sie die Punschrunde noch ferner mit ihrer Gegenwart beehren möge, taub, zog sich Mrs. Micawber in mein Schlafzimmer zurück. Ich hatte das sichere Gefühl, daß sie eine edle Frau sei, eine Frau des römischen Altertums hätte sein können und als solche allerlei heroische Taten in den Zeiten öffentlicher Gefahr zu vollbringen imstande gewesen wäre. Unter diesem Eindruck gratulierte ich Mr. Micawber zu dem Schatz, den er besaß. Das Gleiche tat Traddles. Mr. Micawber reichte uns beiden nacheinander die Hand und bedeckte dann das Gesicht mit seinem Taschentuch, in dem sich mehr Schnupftabak befand, als er ahnte. Dann machte er sich in heiterster Laune wieder über den Punsch her.

Er überströmte von Beredsamkeit. Er belehrte uns, daß in seinen Kindern der Mensch wieder neu zu leben beginne und daß unter dem Druck von Geldverlegenheiten jede Vermehrung ihrer Zahl doppelt willkommen sei. Er erzählte, daß seine Gattin anfangs hinsichtlich dieses Punktes ihre Zweifel gehabt habe, daß er sie aber diesbezüglich vollständig beruhigt hätte. Ihre Familie sei ihrer gänzlich unwürdig, und die Gefühle derselben ließen ihn vollkommen kalt. Sie könnten, wie er sagte, zum Teufel gehen.

Sodann erging er sich in warmen Lobsprüchen über Traddles. Traddles sei ein Charakter, auf dessen Beharrlichkeit er selbst ja keinen Anspruch machen könne, den er aber, Gott sei Dank, noch imstande sei zu bewundern. Gefühlvoll spielte er auf die junge, ihm noch unbekannte Dame an, die Traddles so sehr mit seiner Zuneigung ehre und die diese Neigung dadurch vergelte, daß auch sie wiederum Traddles mit ihrer Zuneigung ehre und glücklich mache. Er ließ sie leben. Ich auch. Traddles dankte uns und sagte mit einer Einfachheit und Ehrlichkeit, die ich wohl zu schätzen wußte: »Ich danke euch wirklich sehr. Ich versichere euch, sie ist ein liebes Mädchen.«

Mr. Micawber benützte die erste Gelegenheit, um mit größter Schonung und Förmlichkeit sich nach dem Zustande meiner Gefühle zu erkundigen. Nur eine ausdrückliche gegenteilige Versicherung meinerseits, bemerkte er, könne ihn von dem Eindruck befreien, daß ich, sein alter Freund Copperfield, liebe und geliebt werde. Nach langem verlegenen Erröten, Stottern und Leugnen sagte ich endlich, mit dem Glas in der Hand: »Also gut, wir wollen auf D.s Wohl trinken«, und das regte Mr. Micawber so sehr an und erfreute ihn derart, daß er mit einem Punschglas in das Schlafzimmer eilte, damit auch Mrs. Micawber auf D.s Wohl trinken könne.

Sie tat es mit großer Begeisterung und rief mit schriller Stimme: »Hoch, hoch! Mein lieber Mr. Copperfield, das ist ja entzückend. Hoch!« Und zum Zeichen ihres Beifalls klopfte sie an die Verbindungswand.

Unser Gespräch nahm allmählich wieder eine weltliche Färbung an. Mr. Micawber erzählte, daß ihm Camdentown nicht mehr recht gefalle und daß das erste, was er tun werde, sobald sich etwas durch die Zeitung gefunden, eine neue Wohnung zu nehmen wäre. Er sprach von einer Terrasse am Westende der Oxfordstraße, Hydepark gegenüber, die er von jeher im Auge gehabt, die er aber wahrscheinlich nicht gleich werde mieten können, da viel Einrichtung dazu nötig sein würde. Mittlerweile müßte es vorläufig der obere Teil eines Hauses über einem anständigen Geschäftslokal, vielleicht in Piccadilly, tun, wo Mrs. Micawber sehr angenehm wohnen würde und wo sich nach Einbau eines Bogenfensters oder Aufbau eines neuen Stockwerks oder ähnlichen kleinen Veränderungen ein paar Jahre ganz bequem und angenehm zubringen ließen. Was aber auch die Zukunft ihm vorbehalten habe, setzte er hinzu, wo immer seine Wohnung dereinst auch stünde, stets könnten wir darauf bauen, daß ein Zimmer für Traddles und Messer und Gabel für mich da sein würden. Wir dankten ihm für seine Güte, und er bat uns um Entschuldigung, daß er sich in diese praktischen und geschäftsmäßigen Einzelheiten eingelassen habe, und entschuldigte sich damit, daß sie für einen Mann, der sein Leben ganz neu beginne, etwas sehr Natürliches seien.

Unsere Unterhaltung wurde durch Mrs. Micawber, die an die Wand klopfte und wissen wollte, ob wir für den Tee bereit seien, unterbrochen. Sie bereitete ihn sodann für uns in liebenswürdigster Weise und fragte mich stets, wenn ich beim Reichen der Tassen und des Butterbrotes in ihre Nähe kam, flüsternd, ob D. blond oder brünett, klein oder schlank sei, und anderes der Art, was mir sehr wohl tat.

Nach dem Tee sprachen wir beim Kamin über die verschiedenartigsten Dinge, und Mrs. Micawber war so gütig, uns mit einer dünnen blechernen Stimme, die mir zur Zeit unserer ersten Bekanntschaft schon wie eine Art Tischbier der Akustik vorgekommen war, die Lieblingsballaden »Der flotte weiße Sergeant« und »Little Tafflin« vorzusingen. Um dieser beiden Lieder willen war sie, als sie noch zu Hause lebte bei Papa und Mama, berühmt gewesen. Mr. Micawber belehrte uns, daß sie seine Aufmerksamkeit, als er sie damals das erstemal unter ihrem elterlichen Dache hatte singen hören, derartig auf sich gezogen habe, daß er bei der ersten Ballade, der von »Little Tafflin«, bereits den Entschluß gefaßt habe, das Herz der Sängerin zu gewinnen oder unterzugehen.

Es war zehn Uhr vorbei, als Mrs. Micawber aufstand, um die Haube wieder in der braunen Papiertüte unterzubringen und ihren Hut aufzusetzen. Mr. Micawber benutzte die Pause, als Traddles ihm in seinen Überzieher half, mir einen Brief zuzustecken, den ich gelegentlich lesen sollte. Ich meinerseits nahm die Gelegenheit wahr, als ich meinen Gästen über die Treppe hinableuchtete, wobei Mr. Micawber mit seiner Gattin am Arm vorausging und Traddles mit der Haube in der Tüte folgen wollte, letzteren einen Augenblick festzuhalten.

»Traddles«, sagte ich, »Mr. Micawber meint es nicht schlecht, der arme Kerl, aber ich an deiner Stelle würde ihm niemals etwas borgen.«

»Lieber Copperfield«, entgegnete Traddles. »Ich habe gar nichts zu verborgen.«

»Aber einen Namen hast du.«

»O, den kann man auch verborgen?« fragte Traddles mit einem dankbaren Blick.

»Selbstverständlich.«

»O! – Ja, du hast recht. Ich danke dir recht sehr, Copperfield, aber ich fürchte, den habe ich ihm schon geliehen.«

»Zu dem Wechsel, der so eine sichere Anlage sein soll?«

»Nein, nicht zu dem. Ich habe heute abend zum ersten Mal davon gehört. Sie werden mir wahrscheinlich auf dem Nachhauseweg den Vorschlag machen. Es handelte sich um etwas anderes.«

»Ich hoffe, die Sache fällt nicht schlimm aus«, sagte ich.

»Ich hoffe nicht. Mr. Micawber erwähnte noch, daß für Deckung gesorgt sei. Das waren seine Worte. Daß für Deckung gesorgt sei.«

Da Mr. Micawber jetzt zu uns heraufsah, konnte ich nur noch schnell meine Warnung wiederholen. Traddles dankte mir und ging die Treppe hinunter.

Als ich sah, wie gutmütig er Mrs. Micawber die Haube nachtrug und ihr dann den Arm reichte, konnte ich mich der Befürchtung nicht erwehren, er werde sich an Händen und Füßen gebunden auf den Geldmarkt schleppen lassen.

Ich kehrte in meine Stube zurück und dachte, halb ernsthaft, halb belustigt, über Mr. Micawbers Charakter und unsere alten Beziehungen zueinander nach, als ich einen raschen Schritt die Treppe heraufkommen hörte. Anfangs dachte ich, Mrs. Micawber hätte etwas vergessen und Traddles käme es holen, aber als die Schritte näher kamen, fühlte ich mein Herz lauter klopfen und mir das Blut ins Gesicht schießen, denn ich erkannte Steerforth.

Ich vergaß niemals Agnes, und sie kam nie aus dem Allerheiligsten meiner Gedanken, wohin ich sie von Anfang an gestellt hatte. Aber als er eintrat, vor mir stand, mir die Hand hinstreckte, da wurde der Schatten, der auf ihn gefallen, zu Licht, und nur mit Scham und Verwirrung konnte ich an meine Zweifel denken. Ich liebte Agnes deshalb nicht weniger, und sie erschien mir immer noch als derselbe sanfte, segenbringende Engel meines Lebens. Mir und nicht ihr warf ich vor, Steerforth unrecht getan zu haben, und ich hätte gerne Buße getan, wenn ich nur gewußt hätte, wie und womit.

»Was, Daisy, alter Junge, ganz stumm geworden?« lachte Steerforth und schüttelte mir herzlich die Hand und warf sie scherzend wieder weg. »Hab ich dich wieder bei einem Gelage ertappt, du Sybarit! Diese Leute aus Doctors‘ Commons sind die größten Lebemänner der Stadt und schlagen uns soliden Leute von Oxford aufs Haupt.« Sein lebhaftes Auge schweifte munter im Zimmer umher, als er sich neben mich auf das Sofa setzte und das Feuer anschürte, daß es im Kamin emporloderte.

»Du hast mich so überrascht«, sagte ich und begrüßte ihn jetzt mit aller Herzlichkeit, »daß ich kaum den Atem hatte dich zu bewillkommnen, Steerforth.«

»Nun, ›mein Anblick tut schlimmen Augen gut‹, wie die Schotten sagen«, entgegnete Steerforth. »Und das tut der deinige auch, du voll entfaltetes Gänseblümchen. Was machst du übrigens, du Schwelger?«

»Ich befinde mich sehr wohl und schwelge heute durchaus nicht, obwohl ich auch diesmal ein Gastmahl zu viert eingestehen muß.«

»Die andern drei traf ich schon auf der Straße, überströmend von deinem Lobe. Wer ist der Herr mit den engen Hosen?«

Mit ein paar Worten skizzierte ich Mr. Micawber, so gut ich konnte. Steerforth lachte herzlich über das schwache Porträt dieses Herrn und sagte, er müsse ihn unbedingt kennenlernen. »Wer, glaubst du, ist der andere?« fragte ich.

»Gott weiß! Hoffentlich kein Fadian. Er sah ein wenig danach aus.«

»Traddles!« rief ich triumphierend.

»Wer ist das?« fragte Steerforth leichthin.

»Du erinnerst dich nicht mehr an Traddles? Traddles aus Salemhaus!«

»Ach, der Bursche!« sagte Steerforth, ein Stück Kohle im Feuer mit dem Schüreisen zerschlagend. »Ist er immer noch so simpel? Wo zum Kuckuck hast du den aufgegabelt?«

Ich pries Traddles, so sehr ich konnte, denn ich fühlte, daß Steerforth geringschätzig von ihm dachte.

Steerforth brach das Gespräch mit einem leichten Nicken und der Bemerkung ab, daß es ihn freuen würde, den alten Burschen wiederzusehen; er sei immer ein närrischer Kauz gewesen. Und ob ich nichts zu essen habe. Während ich die Überreste der Taubenpastete hervorholte, hämmerte er immer mit dem Schüreisen auf die Kohlen.

»Das ist ja ein Abendessen für einen König, Daisy«, sagte er dann nach längerem Schweigen mit auffallender Lebhaftigkeit und nahm am Tische Platz. »Ich werde ihm Gerechtigkeit widerfahren lassen, denn ich komme von Yarmouth.«

»Nicht von Oxford?«

»O nein. Ich habe mich auf dem Meer herumgetrieben – besser beschäftigt.«

»Littimer war heute hier, um nach dir zu fragen, und ich glaubte ihn so zu verstehen, daß du in Oxford wärest, obgleich mir jetzt auffällt, daß er es eigentlich nicht direkt gesagt hat.«

»Littimer ist ein größerer Narr, als ich dachte, wenn er sich nach mir erkundigt«, sagte Steerforth, schenkte sich ein Glas Wein ein und trank mir zu. »Wenn du ihn verstehen kannst, Daisy, bist du gescheiter als wir alle.«

»Das ist wahr«, sagte ich und rückte meinen Stuhl näher an den Tisch. »Du bist also in Yarmouth gewesen, Steerforth? Warst du lange dort?«

»Nein, so einen Seitensprung von einer Woche oder so.«

»Und was machen sie alle? Natürlich ist die kleine Emly noch nicht verheiratet?«

»Noch nicht. Wird schon kommen. Ich glaube, in einigen Wochen oder Monaten oder – was weiß ich. Ich habe die Leute nicht viel gesehen. Übrigens«, – er legte Messer und Gabel hin, die er mit großem Eifer gebraucht hatte, und fühlte in seine Taschen – »ich habe einen Brief für dich.«

»Von wem?«

»Na, von deiner alten Kindsfrau.« Er zog verschiedene Papiere aus seiner Brusttasche. »Rechnung für Herrn J. Steerforth aus dem ›Guten Vorsatz‹. Das ist es nicht. Nur ein bißchen Geduld. Wir werden ihn gleich haben. Der Alte, wie heißt er gleich, befindet sich schlecht, und davon schreibt sie, glaube ich.«

»Barkis meinst du?«

»Ja.« Er untersuchte immer noch den Inhalt seiner Tasche. »Ich fürchte, es ist mit dem armen Barkis vorbei. Ich sprach mit einem kleinen Apotheker oder Wundarzt oder was er sonst ist, der dich hat auf die Welt bringen helfen. Er sprach furchtbar gelehrt von der Krankheit, aber es lief darauf hinaus, daß der Fuhrmann seine letzte Reise ziemlich bald antreten werde. Greif einmal in die Brusttasche des Überrocks auf dem Stuhl dort! Da wird der Brief wahrscheinlich drin sein, nicht wahr?«

»Hier ist er.«

»Nun, dann ists gut.«

Der Brief war von Peggotty, etwas weniger leserlich als gewöhnlich und recht kurz. Sie schrieb, ihr Mann läge hoffnungslos darnieder und sei noch etwas knickeriger als früher und deshalb schwer zu pflegen. Von ihren Mühen und Nachtwachen erwähnte sie nichts, sondern lobte ihren Gatten nur höflichst. Der Brief atmete die einfache, ungekünstelte Frömmigkeit, die ich an ihr kannte, und schloß mit einem »lieben Gruß an mein Herzenskind.«

Während ich die Schrift entzifferte, fuhr Steerforth fort zu essen und zu trinken.

»Es ist eine böse Geschichte«, sagte er, als ich fertig war, »aber die Sonne geht jeden Tag unter und Menschen sterben alle Minuten; wir dürfen uns über das uns allen gemeinsame Schicksal nicht aufregen. Wenn wir uns jedesmal aufhalten ließen, wenn dieser unausbleibliche Gast an irgendeine Türe klopft, würden wir nie etwas in dieser Welt erreichen. Nur immer drauflos. Scharf, wenns sein muß, langsam, wenn es nicht anders geht, aber nur immer drauflos. Über alle Hindernisse hinweg und das Rennen gewinnen!«

»Welches Rennen?«

»Nun, das Rennen, in das man sich jeweilig eingelassen hat. Nur drauflos!«

Als er innehielt und mich, seinen schönen Kopf ein wenig zurückgeworfen und das Glas erhoben, ansah, glaubte ich in seinem Gesicht, obwohl es von der scharfen Seeluft gebräunt war, Spuren zu entdecken, als ob er unter dem verzehrenden Feuer der wilden Energie, die ihn manchmal so leidenschaftlich durchtobte, ein wenig gelitten habe. Ich wollte ihm anfangs Vorstellungen wegen seiner tollen Rücksichtslosigkeit, mit der er sich zuweilen seinen Launen überließ, machen, aber meine Gedanken kehrten wieder zum Ausgangspunkt unseres Gesprächs zurück.

»Ich möchte dir etwas sagen, Steerforth, wenn du mir in deiner guten Laune ein wenig zuhören willst.«

»Sprich nur«, antwortete er und rückte wieder an den Kamin.

»Ich will dir etwas sagen, Steerforth, ich möchte hinreisen und meine alte Kindsfrau besuchen. Nicht, daß ich ihr besondere Dienste leisten könnte, aber sie ist mir so zugetan, daß mein Besuch sie vielleicht trösten kann. Es wird ihr eine Zerstreuung sein und eine Unterstützung. Es macht mir nicht viel Mühe, und ich habe ihr doch so viel zu danken. Würdest du nicht auch an meiner Stelle einen Tag der Reise opfern?«

Sein Gesicht war nachdenklich geworden, und nach einigem Besinnen sagte er halblaut: »Ja, geh. Es kann nichts schaden.«

»Du bist eben erst wieder zurück. Es hätte daher keinen Zweck, dich zu fragen, ob du mitreisen willst.«

»Natürlich. Ich fahre heute noch nach Highgate. Ich habe die ganze lange Zeit meine Mutter nicht gesehen, und es liegt mir ordentlich schwer auf dem Gewissen, denn es ist etwas daran, so geliebt zu werden wie ich, – ihr verlorener Sohn. – Pah! Unsinn! – Du wirst wohl morgen abreisen?« fragte er mich dann und legte mir seine Hände auf die Schultern.

»Ja, ich glaube wohl.«

»Geh erst übermorgen! Ich wollte dich einladen, ein paar Tage bei uns zu bleiben, und bin zu diesem Zweck bei dir. Und jetzt reißest du nach Yarmouth aus!«

»Du hast gar kein Recht, von Ausreißen zu sprechen, Steerforth! Du selbst fährst wild in der Welt herum auf unbekannten Pfaden.«

Er sah mich eine Weile stumm an, dann schüttelte er mich und sagte:

»Also übermorgen! Und mittlerweile verbringst du mit uns den morgigen Tag, so gut es geht. Wer weiß, wann wir wieder zusammenkommen! Also abgemacht? Sag also: übermorgen! Du mußt dich zwischen Rosa Dartle und mich stellen, um uns auseinanderzuhalten.«

»Damit ihr euch nicht zu sehr liebt?«

»Ja. Oder haßt, das kommt auf eins heraus! Also abgemacht.«

Ich sagte zu. Steerforth zog seinen Überzieher an, zündete sich eine Zigarre an und begab sich nach Hause. Ich nahm auch meinen Überzieher um, zündete mir aber keine Zigarre an, denn vom Rauchen hatte ich vorläufig genug, und begleitete ihn bis zur Landstraße, die abends wie ausgestorben dalag. Er war die ganze Zeit bester Laune, und als wir voneinander schieden und ich ihm nachsah, wie er so stramm und elastisch dahinschritt, mußte ich an seine Worte denken: »Nur immer drauflos! Über alle Hindernisse hinweg, das Rennen gewinnen und dem Ziel entgegen!« und ich wünschte zum erstenmal, daß er ein seiner würdiges Ziel haben möge.

Ich entkleidete mich; dabei fiel mir Mr. Micawbers Brief aus der Tasche. Er war anderthalb Stunden vor dem Mittagessen datiert und lautete:

Sir! – denn ich wage nicht zu sagen, mein lieber Copperfield! Ich kann nicht umhin, Sie zu benachrichtigen, daß der Endesgefertigte untendurch ist. Einige schwache Versuche, Ihnen die vorzeitige Kenntnis seiner unglücklichen Lage zu ersparen, werden Ihnen vielleicht heute bemerklich werden. Aber die Hoffnung ist versunken und der Endesgefertigte ist zerschmettert.

Gegenwärtiges Schreiben wird in der persönlichen Nähe – ich kann es nicht Gesellschaft nennen – eines Individuums geschrieben, das sich in einem an Trunkenheit grenzenden Zustand befindet. Dieses Individuum, der Angestellte eines Wucherers, ist in gerichtlichem Besitz des Hauses kraft einer Zwangsvollstreckung wegen rückständigen Zinses. Das Inventar besteht nicht nur aus dem dem Endesgefertigten gehörigen beweglichen Eigentum und Mobiliar jeder Art, sondern auch aus dem des Mr. Thomas Traddles, Aftermieters und Mitgliedes unserer ehrenwerten Gesellschaft vom innern Juristenkollegium.

Wenn noch ein bitterer Tropfen in dem überschäumenden Kelch fehlte, der jetzt, um mit den Worten des unsterblichen Dichters zu reden, den Lippen des Endesgefertigten dargereicht wird, so wäre er in der Tatsache zu finden, daß eine Freundesbürgschaft über £ 23?4 s.?9½ d, die der eben erwähnte Mr. Thomas Traddles geleistet hat, fällig ist und der Deckung entbehrt; ferner in der Tatsache, daß die an den Endesgefertigten hängenden lebendigen Verantwortlichkeiten sich nach dem Lauf der Natur noch um ein hilfloses Opfer mehren werden, dessen unglückliches Erscheinen nach Verlauf von – in runden Zahlen zu sprechen – von nicht ganz sechs Monaten von heute an gerechnet zu erwarten steht.

Unter diese Prämissen wäre es ganz überflüssig hinzuzufügen, daß Staub und Asche für immer bedecken das Haupt des
       Wilkins Micawber

Der arme Traddles! Wie ich Mr. Micawber kannte, fürchtete ich nicht, daß er sich von dem Schlage nicht erholen werde, aber meine Nachtruhe wurde ernstlicher gestört durch Gedanken an Traddles und die Pfarrerstochter – eine von zehn Schwestern in Devonshire –, die ein so liebes Mädchen sein sollte und auf Traddles warten wollte, sechzig Jahre und noch länger.