20. Kapitel Bei Steerforth

Als das Stubenmädchen früh um acht Uhr an meine Tür klopfte, hereinkam und mir meldete, daß draußen warmes Wasser zum Rasieren für mich bereit stehe, empfand ich es schmerzlich, daß ich dessen nicht bedurfte und errötete darüber im Bett.

Der Argwohn, das Mädchen könnte darüber gelacht haben, quälte mich die ganze Zeit über beim Anziehen und verlieh mir ein scheues, schuldbewußtes Aussehen, als sie auf dem Weg zum Frühstück mir auf der Treppe begegnete. Ich war mir meiner Jugend so unangenehm bewußt, daß ich mich gar nicht entschließen konnte, unter so demütigenden Umständen an ihr vorüberzugehen, sondern, während sie unten kehrte, am Fenster stehenblieb und so lang durch ein Fenster die Reiterstatue König Karls, umgeben von einem Labyrinth von Fiakern und in dem feinen Regen und dunkelbraunen Nebel nichts weniger als majestätisch aussehend, betrachtete, bis mir der Kellner meldete, der Herr warte mit dem Frühstück auf mich.

Steerforth empfing mich nicht im Gastzimmer, sondern in einem hübschen separaten Zimmer mit roten Vorhängen und türkischen Teppichen, wo ein helles Feuer brannte und ein warmes Frühstück auf dem sauber gedeckten Tisch stand. Ein niedliches Miniaturbild des Zimmers, des Feuers, des Frühstücks und Steerforths und alles übrigen malte sich in dem kleinen runden Spiegel über dem Seitentische ab. Ich war ein wenig befangen am Anfang, weil Steerforth so selbstbewußt und elegant war und mir nicht nur an Jahren überlegen. Sein gefälliges, ungezwungnes Benehmen brachte jedoch bald alles ins Gleichgewicht, und ich fühlte mich wie zu Hause. Ich kam aus dem Staunen nicht heraus, wie sehr sich das »Goldne Kreuz« – verglichen gegen gestern verwandelt hatte.

Die Familiarität des Kellners war verschwunden, als sei sie niemals dagewesen. Er bediente uns sozusagen in Sack und Asche.

»Nun, Copperfield?« fragte Steerforth, als wir allein waren. »Was treibst du eigentlich, welches Ziel hast du – und so weiter. Ich weiß nicht, es kommt mir vor, als ob du mein Eigentum wärst.«

Glühend vor Vergnügen, daß er noch so viel Teilnahme an mir nahm, erzählte ich ihm, daß meine Tante mich zu dieser kleinen Reise veranlaßt habe, und daß Yarmouth mein Ziel sei.

»Da du also keine Eile hast«, sagte Steerforth, »so komm doch mit zu meiner Mutter nach Highgate und bleib ein oder zwei Tage bei uns. Meine Mutter wird dir gefallen, – sie ist ein bißchen eingebildet auf mich und spricht viel von mir, aber das darfst du ihr nicht übelnehmen. Und du wirst ihr auch gefallen.«

»Ich wollte, es wäre so, wie du sagst«, erwiderte ich lächelnd.

»O«, sagte Steerforth, »wer mich gern hat, hat ein Anrecht auch an sie und findet sicher Anerkennung.«

»Dann werde ich bei ihr allerdings in besonderer Gunst stehen«, sagte ich.

»Gut, komm und beweise es. Wir wollen uns ein paar Stunden in der Stadt umsehen. Es ist ordentlich eine Freude, sie einem Grünschnabel wie dir, Copperfield, zeigen zu können. Und dann fahren wir mit dem Wagen nach Highgate.«

Ich konnte mir nur mit Mühe klarmachen, daß ich nicht träumte und nicht sogleich in Nummer 44 oder in der Box im Gastzimmer bei dem familiären Kellner aufwachen würde.

Nachdem ich an meine Tante über das glückliche Zusammentreffen mit meinem vielbewunderten Schulkameraden und die Einladung geschrieben, fuhren wir in einem Fiaker aus, und ich bewunderte das Panorama, das Museum und andre Sehenswürdigkeiten. Ich konnte dabei nicht umhin, zu bemerken, wie viel Steerforth über alle möglichen Dinge wußte, und wie gering er solches Wissen anzuschlagen schien.

»Du wirst dir gewiß einen hohen akademischen Rang erwerben, Steerforth«, sagte ich, »wenn du ihn nicht schon besitzt. Sie müssen sehr stolz auf dich sein.«

»Ich einen Rang erwerben?« rief Steerforth. »Ich nicht, mein liebes Gänseblümchen. Du nimmst es doch nicht übel, wenn ich dich Daisy nenne?«

»Durchaus nicht«, sagte ich.

»Bist doch ein guter Junge! Mein liebes Gänseblümchen also, ich wünsche und beabsichtige nicht im mindesten, mich in dieser Hinsicht auszuzeichnen. Für meine Zwecke habe ich schon genug gelernt. Ich komme mir selber schon so ziemlich fad vor.«

»Aber der Ruhm –« fing ich an.

»Du romantisches Gänseblümchen«, sagte Steerforth und lachte noch herzlicher. »Soll ich mich vielleicht plagen, damit ein Dutzend dickköpfiger Kerle den Mund aufsperren und verwundert die Hände zusammenschlagen. Das mögen sie meinetwegen bei jemand anders tun.«

Ich war ordentlich beschämt, daß ich so fehlgegriffen hatte, und bemühte mich, die Rede auf etwas andres zu bringen. Das war zum Glück nicht schwer, denn Steerforth konnte immer mit einer ihm eignen Leichtigkeit und Gewandtheit von einem Gegenstand zum andern übergehen.

Während unserer Umschau in der Stadt nahmen wir den Lunch ein, und der kurze Wintertag verging so schnell, daß wir erst in der Dämmerung an einem alten steinernen Haus in Highgate oben auf der Höhe hielten.

Eine ältere Dame, wenn auch noch nicht sehr bei Jahren, von stolzer Haltung und mit schönen Zügen, stand in der Tür, als wir ausstiegen, und schloß Steerforth mit der Begrüßung: »Mein liebster James!« in die Arme.

Diese Dame wurde mir als Mrs. Steerforth vorgestellt, und sie bewillkommnete mich mit großer Freundlichkeit.

Das Haus war ein vornehmes, altmodisches Gebäude, sehr still und wohlgehalten. Von den Fenstern meines Zimmers aus sah ich in der Ferne London liegen wie eine große Dunstwolke, durch die hie und da die Lichter funkelten.

Während des Umziehens fand ich Gelegenheit, einen Blick auf die soliden Möbel, die eingerahmten Stickereien – wahrscheinlich Jugendarbeiten von Steerforths Mutter – und ein paar Kreidezeichnungen, Damen mit gepudertem Haar im Reifrock darstellend, zu werfen, die an den Wänden sichtbar wurden und wieder verschwanden, wenn das frisch angezündete Feuer aufflackerte. Dann rief man mich zu Tisch.

Im Speisezimmer war noch eine zweite Dame anwesend von kleinerm Wuchs, dunklem Teint und nicht sehr angenehmem Äußern, wenn sie auch durchaus nicht häßlich war. Sie zog meine Aufmerksamkeit auf sich, vielleicht weil ich nicht erwartet hatte, sie zu sehen, vielleicht weil ich ihr gegenübersaß, vielleicht auch, weil etwas Bemerkenswertes an ihr war.

Sie hatte schwarzes Haar, lebhafte schwarze Augen und eine Narbe auf der Lippe. Es war eine alte Narbe, eher ein schmaler weißer Strich quer über die Lippen bis herunter zum Kinn. In mir setzte sich sofort die Vorstellung fest, daß die Dame dreißig Jahre alt sei und sich einen Mann wünschte. Sie sah ein wenig verfallen aus, – wie ein Haus, das lange nicht bewohnt gewesen ist, doch hatte sie, wie schon gesagt, kein gerade häßliches Äußere. Ihre Hagerkeit schien die Folge eines verzehrenden Feuers in ihrem Innern zu sein, das sich noch deutlicher in ihren dunklen Augen offenbarte.

Sie wurde als Miss Dartle vorgestellt, und Steerforth und seine Mutter nannten sie Rosa. Ich erfuhr, daß sie im Hause wohnte und seit langem Mrs. Steerforths Gesellschafterin war. Sie sagte niemals etwas grade heraus, sondern deutete es immer bloß an und ließ es dadurch meist viel wichtiger erscheinen, als es in Wirklichkeit war. Als zum Beispiel Mrs. Steerforth bei Gelegenheit und mehr im Scherz als im Ernst die Befürchtung fallenließ, ihr Sohn lebe an der Universität etwas allzu flott, sagte Miss Dartle:

»O wirklich? Du weißt, wie wenig ich das kenne, und daß ich bloß frage, um mich belehren zu lassen. Aber ist das nicht immer so? Ich habe immer geglaubt, das Leben auf der Universität sei immer – nicht?«

»Es ist die Vorbereitung zu einer sehr ernsten Laufbahn, wenn du das meinst, Rosa«, antwortete Mrs. Steerforth ein wenig kühl.

»O ja. Das ist sehr wahr«, entgegnete Miss Dartle. »Aber ist es bei alledem nicht –? Ich lasse mich gern belehren, wenn ich unrecht habe. Ist es wirklich nicht –?«

»Was soll es denn wirklich sein«, fragte Mrs. Steerforth.

»O, wenn du meinst, so ist es also nicht –«, erwiderte Miss Dartle. »O, es freut mich, das zu hören. Nun weiß ich, was ich zu tun habe. Das ist der Vorteil des Fragens. Ich werde nie mehr zugeben, daß die Leute das Universitätsleben verschwenderisch und liederlich nennen.«

»Da tust du sehr recht«, sagte Mrs. Steerforth. »Der Erzieher meines Sohnes ist ein gewissenhafter Herr, und wenn ich mich nicht schon unbedingt auf James verließe, so könnte ich doch ihm vollständig vertrauen.«

»Wirklich?« sagte Miss Dartle. »O Gott! Gewissenhaft ist er? Wirklich gewissenhaft?«

»Ja, ich bin davon überzeugt«, sagte Mrs. Steerforth.

»Ach, wie reizend! Wie angenehm! Wirklich gewissenhaft? Da ist er also nicht – aber natürlich kann ers ja nicht sein, wenn er wirklich gewissenhaft ist. Ach, ich werde ganz glücklich sein, da ich es jetzt weiß. Du kannst dir gar nicht denken, wie ihn das in meinen Augen hebt, daß er so gewissenhaft ist.«

Miss Dartle gab ihre Ansichten über jede Frage auf diese Weise zu verstehen und manchmal mit großem Nachdruck, auch wenn sie sich im Widerspruch mit Steerforth befand.

Ein Beispiel dieser Art kam noch während des Essens vor. Mrs. Steerforth sprach von meiner beabsichtigten Reise nach Suffolk, und ich sagte zufällig, wie sehr ich mich freuen würde, wenn ihr Sohn mit mir ginge.

Ich erzählte ihnen von meiner alten Kindsfrau und Mr. Peggottys Familie und erinnerte meinen Freund an den Schiffer, den er damals in der Schule gesehen hatte.

»Aha, der rauhe Bursche!« sagte Steerforth. »Er hatte einen Sohn mit, nicht?«

»Nein. Es war sein Neffe«, gab ich zur Antwort, »den er aber als Sohn adoptiert hat. Er hat auch eine sehr hübsche kleine Nichte als Tochter angenommen. Mit einem Wort, sein Haus oder vielmehr sein Boot, denn er wohnt in einem solchen, auf trocknem Land, ist voll von Leuten, die sein Edelmut und seine Güte erhält. Du wirst entzückt sein, diese Häuslichkeit zu sehen.«

»Meinst du«, sagte Steerforth. »Ja, wenn du glaubst. – Wir werden sehen, was sich tun läßt. Es wäre die Reise wert, – gar nicht zu reden von dem Vergnügen, mit dir zu reisen, Daisy, – einmal mitten unter Leuten dieses Schlages zu leben.«

Mein Herz schlug voll Hoffnung auf eine neue Freude. Sein Ton, mit dem er »von Leuten dieses Schlages« gesprochen hatte, veranlaßte jetzt Miss Dartle, deren glänzende Augen uns beobachtet hatten, einzufallen.

»O wirklich? Erzählen Sie. Sind sie wirklich –?«

»Was sollen sie sein, und wer soll was sein?« fragte Steerforth.

»Leute dieses Schlages – sind sie wirklich Stöcke und Klötze und Geschöpfe anderer Art? Darüber möchte ich belehrt sein.«

»Nun es ist ein ziemlich großer Unterschied zwischen ihnen und uns«, sagte Steerforth gleichgültig. »Man kann doch nicht erwarten, daß sie so feinfühlig sind wie wir. Ihr Zartgefühl ist nicht so leicht zu verletzen. Sie sind entsetzlich tugendhaft, glaube ich, wenigstens behaupten das viele Leute, und ich will dem nicht widersprechen. Aber sie sind keine feinen Naturen und können dankbar dafür sein, daß sie wegen ihrer Dickfelligkeit nicht so leicht verwundbar sind.«

»Wirklich?« sagte Miss Dartle. »Nun, ich muß gestehen, es freut mich sehr, so etwas zu hören. Es ist so tröstlich! Es ist eine wahre Wonne, zu wissen, daß sies nicht fühlen, wenn sie leiden. Manchmal habe ich mir ordentlich Kummer gemacht um diese Art Leute. Aber von jetzt an werde ich jeden Gedanken an sie fallenlassen. Man lebt, um zu lernen. Ich gestehe, ich hatte meine Zweifel. Aber jetzt sind sie behoben. Ich wußte es nicht, aber jetzt weiß ich es. Und das beweist, wie nützlich es ist, zu fragen, nicht wahr?«

Ich nahm an, Steerforth habe das, was er sagte, im Scherz gemeint oder um Miss Dartle aufzuziehen, und ich erwartete, er würde es mir sagen, als sie fort waren und wir beide allein am Kamin saßen. Aber er fragte mich bloß, was ich von ihr hielte.

»Sie ist sehr gescheit, nicht wahr?« fragte ich.

»Gescheit! Sie hält alles an einen Schleifstein«, sagte Steerforth »und macht es scharf, wie sie sich und ihr Gesicht seit Jahren scharf gemacht hat. Sie hat sich schon halb aufgebraucht durch beständiges Schärfen. Sie ist ganz Schneide.«

»Was für eine merkwürdige Narbe sie auf der Lippe hat«, sagte ich.

Steerforths Gesicht verfinsterte sich, und er schwieg einen Augenblick. »Hm«, sagte er dann, »an der bin eigentlich ich schuld.«

»Durch einen unglücklichen Zufall?«

»Nein. Ich war noch ein kleiner Junge, und sie brachte mich auf, und ich warf ihr einen Hammer ins Gesicht. Ein vielversprechender junger Engel muß ich gewesen sein.«

Es tat mir sehr leid, ein so peinliches Thema berührt zu haben, aber es ließ sich nicht mehr ändern.

»Sie hat die Narbe seit jener Zeit behalten, wie du siehst«, sagte Steerforth, »und wird sie mit sich ins Grab nehmen, wenn sie je in einem ruht. Ich kann kaum glauben, daß sie überhaupt jemals Ruhe finden wird. Sie war das mutterlose Kind eines Vetters meines Vaters. Als meine Mutter Witwe geworden war, nahm sie sie als Gesellschafterin zu sich. Sie hat ein paar tausend Pfund eigenes Vermögen und legt die Zinsen alljährlich auf das Kapital. Da hast du die Geschichte von Miss Rosa Dartle.«

»Sie liebt dich gewiß wie einen Bruder?« fragte ich.

»Hm«, entgegnete Steerforth und sah ins Feuer. »Manche Brüder werden nicht allzu sehr geliebt und manche lieben – aber schenk dir ein, Copperfield. Wir wollen auf die Gänseblümchen im Tale trinken, dir zu Ehren, – und auf die Lilien auf dem Felde, die nicht säen und nicht ernten, mir zu Ehren und zur Schande.« Das trübe Lächeln, das auf seinem Gesicht gelegen, verschwand, als er diese Worte fröhlich sagte, und er war wieder ganz der alte, offene, gewinnende Steerforth.

Ich mußte mit peinlichem Interesse nochmals die Narbe betrachten, als wir beim Tee saßen. Ich bemerkte bald, daß es der empfindlichste Fleck des Gesichtes der Dame war; daß er sich zuerst veränderte, wenn sie die Farbe wechselte, und in seiner ganzen Länge einen bleifarbigen Streifen darstellte, der wie ein Zeichen mit sympathetischer Tinte geschrieben, wenn man es ans Feuer hält, aussah.

Es entstand ein kleiner Streit zwischen ihr und Steerforth beim Pochbrettspiel. Sie war einen Augenblick ganz wütend, und da wurde der Streif sichtbar wie die Schrift an der Mauer des Königs Belsazar.

Ich wunderte mich natürlich nicht, daß Mrs. Steerforth große Stücke auf ihren Sohn hielt. Sie zeigte mir sein Bild als kleines Kind in einem Medaillon mit einer abgeschnittenen Locke, sie zeigte mir sein Bild aus der Zeit, in der ich ihn zuerst kennengelernt, und trug ihn, wie er jetzt war, auf der Brust. Alle seine Briefe, die er ihr je geschrieben, hatten ihr eignes Schränkchen am Kamin, und sie würde mir gewiß einige zu meiner Freude vorgelesen haben, wenn er sie nicht durch gute Worte von ihrem Vorhaben abgebracht hätte.

»Mein Sohn erzählte mir, Sie wären bei Mr. Creakle mit ihm bekannt geworden«, sagte Mrs. Steerforth, als wir uns beide an einem Tisch unterhielten, während James und Miss Dartle an einem andern ihr Pochbrett spielten. »Ich kann mich noch aus jener Zeit erinnern, daß er mir von einem jungen Schüler erzählte, an dem er Gefallen gefunden hatte, aber wie Sie sich wohl denken können, ist mir Ihr Name entfallen.«

»Er benahm sich damals sehr hochherzig und edel gegen mich, Ma’am«, sagte ich, »und ich hatte einen solchen Freund sehr nötig. Ich wäre ohne ihn zugrunde gegangen.«

»Er ist immer hochherzig und edel«, sagte Mrs. Steerforth mit Stolz.

Ich stimmte mit vollem Herzen ein, Gott weiß es. Sie fühlte das, denn die Steifheit ihres Wesens fing an, etwas nachzulassen, außer wenn sie lobend von ihrem Sohn sprach, wobei sie stets eine stolze Miene aufsetzte.

»Es war eigentlich keine passende Schule für meinen Sohn«, fuhr sie fort. »Durchaus nicht; aber es kamen damals bei der Wahl besondere Umstände in Betracht. Meines Sohnes Feuergeist machte es notwendig, daß er mit einem Mann zusammenkam, der seine Überlegenheit fühlte und sich vor ihm beugte. Und wir fanden dort einen solchen Mann.«

Ich wußte das, da ich den Burschen kannte. Und dennoch verachtete ich ihn deshalb nicht noch mehr, sondern hielt es eher für nen Zug, der manches wiedergutmachte. Überhaupt schien es mir ein Milderungsgrund für Creakle zu sein, daß er einem so unwiderstehlichen Menschen, wie Steerforth war, nicht hatte standhalten können.

»Die großen Fähigkeiten meines Sohnes«, fuhr Mrs. Steerforth in ihrem mütterlichen Stolz fort, »wurden von freiwilligem Wetteifer und selbstbewußtem Stolz angestachelt. Er würde sich gegen jeden Zwang empört haben, aber da er dort der Herr war, war er fest entschlossen, sich seiner Stellung würdig zu erweisen. Das sah ihm ganz ähnlich.«

Ich stimmte aus vollstem Herzen bei.

»So wählte mein Sohn aus eignem freien Willen ohne Zwang den Weg, auf dem er immer, wenn er will, jeden Mitbewerber überholen kann. Mein Sohn sagte mir, Mr. Copperfield, daß Sie ihn förmlich verehrt haben und ihn gestern, als Sie ihn trafen, mit Freudentränen im Auge anredeten. Es würde affektiert aussehen, wenn ich mich überrascht stellen sollte, daß mein Sohn solche Gemütsbewegungen hervorzurufen imstande ist. Aber ich kann gegen eine Person, die seine Verdienste so tief fühlt, nicht gleichgültig sein, und ich kann Ihnen nur versichern, daß auch er für Sie Gefühle ungewöhnlicher Freundschaft hegt, und daß Sie sich auf seinen Schutz verlassen können.«

Miss Dartle spielte genau so eifrig, wie sie alles andere tat. Aber ich müßte sehr irren, wenn sie auch nur ein Wort von unserm Gespräch verloren hätte.

Als der Abend ziemlich weit vorgerückt war, und Gläser und Flaschen hereingebracht wurden, versprach mir Steerforth, am Kamin sitzend, daß er allen Ernstes an die Reise nach Yarmouth denken wolle. Es habe weiter keine Eile damit, sagte er. In einer Woche sei auch noch Zeit genug, und seine Mutter wiederholte gastfreundlich dasselbe. Während des Gesprächs nannte er mich mehr als einmal »Daisy«, was Miss Dartle wieder anregte.

»Ist das nicht, Mr. Copperfield, ein Spitzname? Und warum nennt er Sie so? Vielleicht – vielleicht, weil er Sie für jung und unschuldig hält? Ich bin so dumm in solchen Dingen.«

Ich wurde rot, als ich antwortete, daß es nur deswegen sei.

»O«, sagte Miss Dartle, »wie freue ich mich, daß ich es weiß. Ich frage, um aufgeklärt zu werden, und bin froh, es zu wissen. Also er denkt, Sie sind jung und unschuldig! Sie sind also sein Freund. Ach, das ist ja entzückend!«

Sie ging bald darauf zu Bett und Mrs. Steerforth ebenfalls.

Nachdem Steerforth und ich noch eine halbe Stunde am Feuer gesessen und von Traddles und all den übrigen aus der alten Zeit geplaudert hatten, gingen wir zusammen hinauf. Steerforths Zimmer stieß an das meinige, und ich warf einen Blick hinein. Es war ein wahres Muster von Komfort, voller Lehnstühle, Kissen und Fußschemel, von seiner Mutter gestickt, und ausgestattet mit allem, was man nur wünschen konnte.

Mrs. Steerforths hübsches Gesicht sah von der Wand herab auf ihren Liebling, als wenn es ihr noch ein Genuß wäre, zu wissen, daß ihr Bildnis ihn während des Schlummers überwachen konnte.

Ein helles Feuer brannte in meinem Zimmer, und die weißen Gardinen an meinem Fenster und Bett gaben dem Raum ein sehr sauberes Aussehen. Ich nahm in einem großen Lehnstuhl vor dem Kamine Platz, um über mein Glück nachzudenken, und hatte mich eine Zeitlang in diesen Genuß versenkt, als ich bemerkte, daß ein Porträt Miss Dartles mit forschendem Blick vom Kaminsims auf mich herabsah.

Das Bildnis war erschreckend ähnlich. Der Maler hatte die Narbe weggelassen, aber ich ergänzte sie mir, und da sah ich sie bald hervortreten, bald verschwinden, jetzt nur auf der Oberlippe, dann wieder in ganzer Länge dunkelfarbig erscheinend.

Es berührte mich unangenehm, daß Miss Dartles Bild grade in meiner Stube untergebracht war.

Um den Anblick loszuwerden, entkleidete ich mich rasch, blies das Licht aus und ging zu Bett. Aber noch vor dem Einschlafen mußte ich immer darüber nachdenken, ob sie mich nicht forschend ansehe: »Ists wirklich so? Ich möchte das wissen –«

Und wenn ich in der Nacht aufwachte, da kam mir zum Bewußtsein, daß ich im Traum allerlei Leute gefragt hatte, ob es wirklich so sei oder nicht, – ohne zu wissen, was ich eigentlich meinte.