14. Kapitel Meine Tante kommt zu einem Entschluß über mich

Als ich früh herunterkam, saß meine Tante in so tiefem Sinnen am Frühstückstisch, die Ellbogen auf das Teebrett gestützt, daß sie gar nicht bemerkte, daß der Teekessel übergelaufen war und das ganze Tischtuch unter Wasser gesetzt hatte. Bei meinem Erscheinen kam sie wieder zu sich. Überzeugt, daß sie meinetwegen nachgedacht habe, wünschte ich nichts sehnlicher, als zu wissen, was sie mit mir vorhatte. Doch ich wagte nicht zu fragen, aus Angst, sie zu beleidigen.

Meine Augen jedoch, die ich nicht so im Zaume halten konnte wie meine Zunge, fühlten sich während des Frühstücks sehr oft zu meiner Tante hingezogen. Ich konnte sie kaum ein paar Augenblicke hintereinander ansehen, ohne daß sie mich nicht ebenfalls anblickte, und zwar in einer seltsamen nachdenklichen Art, als ob ich in unendlich weiter Ferne säße und nicht an der andern Seite des kleinen runden Tisches.

Als sie mit dem Frühstück fertig war, lehnte sie sich sehr gedankenvoll in ihren Stuhl zurück, zog die Brauen zusammen, verschränkte die Arme und betrachtete mich mit so unablässiger Aufmerksamkeit, daß ich vor Verlegenheit mir gar nicht mehr zu helfen wußte. Ich war mit meinem Frühstück noch nicht zu Ende und versuchte, durch Essen meine Verlegenheit zu verbergen. Aber mein Messer stolperte über die Gabel, die Gabel warf das Messer um, ich schnellte ein Stückchen Schinken in überraschende Höhe in die Luft empor, anstatt es zurechtzuschneiden, und der Tee kam mir so oft in die unrechte Kehle, daß ich es zuletzt ganz aufgab und errötend still saß und mich mustern ließ.

»Hallo!« sagte meine Tante nach einer langen Zeit.

Ich blickte auf und begegnete mit ehrerbietiger Miene ihren scharfen glänzenden Augen.

»Ich habe an ihn geschrieben«, sagte meine Tante.

»An –?«

»An deinen Stiefvater«, sagte meine Tante. »Ich habe ihm einen Brief geschrieben, er möge hierherkommen, oder er bekäme es mit mir zu tun.«

»Weiß er, wo ich bin, Tante?« fragte ich sehr beunruhigt.

»Ich habe es ihm geschrieben«, nickte meine Tante.

»Wird er – soll er – nimmt er mich wieder mit?« stotterte ich.

»Ich weiß nicht, was er tun wird«, sagte meine Tante. »Wir werden sehen.«

»Ach, ich darf gar nicht daran denken!« rief ich aus. »Ich weiß nicht, was ich anfangen soll, wenn ich wieder zu Mr. Murdstone zurückkehren muß.«

»Ich auch nicht«, sagte meine Tante und schüttelte den Kopf. »Ich weiß es auch nicht. Wir werden sehen.«

All mein Mut verließ mich bei diesen Worten, und ich wurde ganz niedergeschlagen und schweren Herzens. Ohne anscheinend darauf zu achten, band sich meine Tante ein große Schürze vor, die sie aus dem Schrank nahm, wusch die Teetassen eigenhändig aus, stellte sie dann auf das Teebrett, faltete das Tischtuch zusammen und klingelte Janet. Dann zog sie ein paar Handschuhe an, kehrte mit einem kleinen Besen die letzten Krumen weg, bis auch kein mikroskopisches Fleckchen mehr auf dem Tisch zu sehen war, staubte ab und ordnete das Zimmer auf das sorgfältigste. Als alles zu ihrer Zufriedenheit erledigt schien, legte sie Handschuhe und Schürze wieder ab, faltete sie zusammen, legte sie an ihren Platz im Schranke, stellte ihr Arbeitskörbchen auf den Tisch am offnen Fenster und setzte sich nieder, den grünen Schirm zwischen sich und das Licht gerückt.

»Du könntest hinaufgehen«, sagte sie, als sie dann ihre Nadel einfädelte, »mich Mr. Dick empfehlen und ihn fragen, wie er mit seiner Denkschrift vorwärtskommt.«

Ich sprang auf, um den Auftrag auszuführen.

»Ich vermute«, sagte meine Tante und sah mich so scharf an wie vorhin die Nadel beim Einfädeln, »du denkst dir, Mr. Dick ist ein sehr kurzer Name.«

»Er kam mir gestern abends ein wenig kurz vor«, gestand ich.

»Du brauchst nicht zu glauben, daß er keinen längern zur Verfügung hätte, wenn er wollte«, sagte meine Tante, mit einer großartigen Geste. »Babley – Mr. Richard Babley – ist dieses Gentlemans wirklicher Name.«

Ich wollte im Bewußtsein meiner Jugend, und um die Respektlosigkeit, deren ich mich schuldig gemacht zu haben glaubte, wieder gut zu machen, eben bescheiden bemerken, daß ich Mr. Dick von jetzt an seinen vollen Namen wolle zukommen lassen, als meine Tante fortfuhr:

»Aber nenne ihn bei Leibe nicht so! Er kann den Namen nicht ausstehen. Das ist eine seiner Eigenheiten. Es ist bei Licht betrachtet vielleicht nichts Sonderbares dabei! Verwandte, die denselben Namen tragen, haben ihn schlecht behandelt, so daß sein tödlicher Widerwille wohl gerechtfertigt erscheint. Also nimm dich in acht, Kind, daß du ihn nicht anders als Mr. Dick nennst.«

Ich versprach es und ging mit meiner Botschaft hinauf. Unterwegs dachte ich, Mr. Dick müßte wohl mit seiner Denkschrift gut vorwärtskommen, wenn er immer so eifrig an ihr arbeitete, wie ich es heute früh beim Vorbeigehen durch die offne Tür gesehen.

Bei meinem Eintritt schrieb er immer noch höchst eifrig, und sein Kopf lag fast auf dem Papier. Er war so in seine Arbeit vertieft, daß ich Zeit genug hatte, mir einen großen Papierdrachen in einer Ecke, eine Menge beschriebenes Papier in Bündeln und vor allem die in Dutzenden herumstehenden dicken Tintenkrüge anzusehen, ehe er meiner gewahr wurde.

»Ha! Phöbus!« sagte er dann, die Feder weglegend. »Wie gehts in der Welt?«

»Ich will dir was sagen«, setzte er leiser hinzu, »aber du mußt es für dich behalten«, – er winkte mir und legte seine Lippen dicht an mein Ohr – »es ist eine verrückte Welt, verrückt wie ein Irrenhaus, mein Sohn!« Dann nahm er eine Prise aus einer großen runden Tabaksdose, die auf dem Tische stand, und lachte herzlich.

Ohne mir eine Meinungsäußerung zu erlauben, richtete ich meinen Auftrag aus.

»Gut«, antwortete Mr. Dick. »Bitte, ebenfalls meine Empfehlungen, und ich – ich hätte einen tüchtigen Ansatz gemacht!« Er fuhr mit der Hand durch sein graues Haar und warf einen keineswegs zuversichtlichen Blick auf sein Manuskript.

»Hast du die Schule besucht?«

»Ja, Sir«, erwiderte ich, »kurze Zeit.«

»Kannst du dich an das Datum erinnern«, fragte Mr. Dick, sah mich ernst an und nahm eine Feder, um meine Antwort aufzuschreiben, »wann König Karl I. enthauptet wurde?«

Ich sagte, ich glaubte, es sei das Jahr 1649 gewesen.

»Hm«, entgegnete Mr. Dick, indem er sich mit der Feder hinter dem Ohre kratzte und mich voll Zweifel ansah. »Das sagen die Bücher, aber ich sehe nicht ein, wie das stimmen kann. Wenn das so lange her ist, warum haben da die Leute das Versehen begangen, ein paar Sorgen aus seinem Kopf, nachdem sie ihm ihn abgeschnitten, in meinen zu stecken?«

Ich war sehr verblüfft durch diese Frage, konnte aber keine Antwort finden.

»Es ist sehr sehr seltsam«, meinte Mr. Dick mit einem verzagten Blick auf seine Papiere und sich wieder mit der Hand durch die Haare fahrend, »daß ich nie damit ins reine kommen kann! – Aber schadet nichts, schadet nichts«, sagte er vergnügt und wieder Mut fassend. »Ich habe ja Zeit genug. Meine Empfehlungen an Miss Trotwood und ich käme recht gut vorwärts.«

Ich wollte hinausgehen, als er meine Aufmerksamkeit auf den Drachen lenkte.

»Was sagst du zu diesem Drachen?« fragte er.

Ich antwortete, er sei sehr schön. Man sollte meinen, er müßte sieben Fuß hoch sein.

»Ich habe ihn selbst gemacht, wir wollen ihn mal zusammen steigen lassen. Schau einmal her.«

Er zeigte mir, daß der Drache über und über beschrieben war, und zwar so deutlich, – wenn auch in kleinster Schrift – daß ich beim Überfliegen der Zeilen an ein paar Stellen Anspielungen auf König Karls des Ersten Kopfs zu lesen glaubte.

»Die Schnur ist sehr lang«, sagte Mr. Dick, »und wenn er hoch fliegt, nimmt er die Tatsachen weit fort. Das ist so meine Art, sie zu verbreiten. Ich weiß nicht, wo sie niederfallen, – das hängt von den Umständen und vom Winde ab –, aber ich treffe meine Vorkehrungen darnach.«

Sein gesundes und frisches Gesicht war so sanft und freundlich und hatte etwas so Ehrwürdiges an sich, daß ich vermutete, er treibe einen fröhlichen Scherz mit mir. Daher lachte ich, und er lachte auch, und wir schieden als die besten Freunde.

»Nun, Kind«, fragte meine Tante, als ich die Treppen herunterkam, »was ists mit Mr. Dick heute morgen?«

Ich richtete ihr aus, daß er sich empfehlen lasse und recht gute Fortschritte mache.

»Was hältst du von ihm?« forschte meine Tante.

Ich wollte der Frage dadurch ausweichen, daß ich sagte, er sei ein sehr gewinnender Gentleman. Aber meine Tante ließ sich nicht so leicht abfertigen; sie legte ihre Arbeit in den Schoß, verschränkte die Arme und sagte:

»Schau! Deine Schwester Betsey Trotwood würde mir ohne Ausflüchte gesagt haben, was sie denkt. Sei doch deiner Schwester ähnlich und sprich ganz offen!«

»Ist er – ist Mr. Dick – ich frage, weil ich es nicht wissen kann, Tante, – ist er nicht recht bei Sinnen?« stotterte ich, denn ich fühlte, daß ich mich auf einem gefährlichen Gebiet bewegte.

»O durchaus nicht«, sagte meine Tante.

»O wirklich«, bemerkte ich schüchtern.

»Wenn es irgend jemand in der Welt nicht ist«, sagte meine Tante mit großer Entschiedenheit, »so ist es Mr. Dick.«

Ich wußte nichts Besseres zu erwidern als abermals ein schüchternes »O wirklich.«

»Man hat wohl behauptet, er sei verrückt«, sagte meine Tante. »Mir macht es ein besonderes Vergnügen, daß das geschehen ist, denn ich hätte sonst nicht die Freude seiner Gesellschaft und seines Rates genossen seit den letzten zehn Jahren, oder so. Kurz, seit deine Schwester Betsey Trotwood mich im Stiche gelassen hat.«

»So lange schon«, sagte ich.

»Und nette Leute waren es, die die Frechheit besessen haben, ihn für verrückt zu erklären«, fuhr meine Tante fort. »Mr. Dick ist eine Art entfernter Verwandter von mir; es ist gleichgültig, in welchem Grade. Wäre ich nicht dazwischengetreten, so hätte ihn sein eigner Bruder zeitlebens eingesperrt. So steht die Sache.«

Ich fürchte, es war heuchlerisch von mir, daß ich ein teilnehmendes Gesicht machte, aber ich tat es, weil meiner Tante die Sache offenbar sehr zu Herzen ging.

»Ein hochmütiger Narr dieser Bruder! Weil Mr. Dick ein bißchen eigentümlich ist, – noch lange nicht so eigentümlich wie viele andere Leute – mag er ihn nicht um sich sehen und schickt ihn in ein Privatirrenhaus, trotzdem er ihm von seinem Vater, der ihn auch für närrisch hielt, auf dem Totenbett ausdrücklich zur Pflege auf die Seele gebunden worden war. Muß auch ein weiser Mann gewesen sein, der Vater! Offenbar selber verrückt.«

Da meine Tante sehr überzeugt dreinschaute, bemühte ich mich, ein gleiches Gesicht zu machen.

»Darum mischte ich mich hinein«, fuhr meine Tante fort, »und machte ihm ein Anerbieten. Ich sagte, Ihr Bruder ist vernünftig, hoffentlich viel vernünftiger als Sie sind oder jemals sein werden. Geben Sie ihm sein kleines Einkommen, dann mag er zu mir ziehen. Ich schäme mich seiner nicht, ich bin nicht hochmütig und nehme ihn gern unter meine Obhut. Ich werde ihn auch nicht mißhandeln, wie es gewisse Leute getan haben. Nach einer langen Balgerei bekam ich ihn, und seitdem ist er hier. Er ist das freundlichste und gefügigste Wesen, das es gibt. Und was für ein Ratgeber! Aber niemand außer mir kennt seine Befähigung.«

»Er hatte eine Lieblingsschwester«, fuhr sie fort, »ein sanftes Geschöpf, die sehr gut zu ihm war. Aber sie tat, was sie eben alle tun –, sie nahm einen Mann. Und ihr Mann tat, was sie alle tun: er machte sie unglücklich. Das brachte auf Mr. Dick einen derartigen Eindruck hervor, daß er – die Furcht vor seinem Bruder und das Gefühl, immer unfreundlich behandelt zu werden, kam noch dazu, – in ein heftiges Fieber verfiel. Das geschah, bevor er hierher zog. Aber die Erinnerung daran bedrückt ihn immer noch. – Sagte er dir etwas über König Karl den Ersten, Kind?«

»Ja, Tante.«

»Ach«, sagte meine Tante und rieb sich ein wenig verlegen die Nase, »das ist nur so eine allegorische Art von ihm sich auszudrücken. Seine Krankheit erinnert ihn natürlich an große Aufregungen und Wirrsale, und darum wählt er dieses Bild oder Gleichnis. Warum sollte er auch nicht, wenn er es für gut findet!?«

»Gewiß, Tante.«

»Es ist keine allgemein übliche Ausdrucksweise«, fuhr meine Tante fort, »ich weiß das recht wohl, und deshalb bestehe ich auch darauf, daß kein Wort davon in seine Denkschrift kommen darf.«

»Handelt seine Denkschrift von seiner eignen Lebensgeschichte, Tante?«

»Ja, mein Kind!« Meine Tante rieb sich weiter die Nase. »Er verfaßt eine Bittschrift an den Lordkanzler oder den Lord Dingskirchen, jedenfalls an einen der Männer, die bezahlt werden, um Denkschriften entgegenzunehmen. Ich glaube, er wird nächstens damit fertig sein. Bis jetzt hat er immer wieder sein Gleichnis hineingebracht. Aber das schadet nichts. Er hat wenigstens eine Beschäftigung.«

Tatsächlich fand ich später heraus, daß Mr. Dick sich schon länger als zehn Jahre bemüht hatte, König Karl den Ersten aus der Denkschrift fernzuhalten, aber diese fixe Idee war beständig wieder hineingeraten und befand sich auch jetzt wieder darin.

»Ich sage nochmals, niemand außer mir kennt dieses Mannes Begabung, und er ist das umgänglichste und freundlichste Geschöpf von der Welt. Wenn er manchmal einen Drachen steigen läßt, was tut das? Franklin ließ auch Drachen steigen. Und der war Quäker oder so etwas Ähnliches, wenn ich nicht irre. Und wenn ein Quäker einen Drachen steigen läßt, ist das noch viel lächerlicher, als wenn es ein anderer Mensch tut.«

Wenn ich hätte annehmen können, daß meine Tante mir diese Einzelheiten als einen Beweis ihres Vertrauens erzählte, würde ich mich sehr ausgezeichnet gefühlt und auf meine Zukunft sehr günstig geschlossen haben. Aber leider entging es mir nicht, daß sie nur so viel sprach, um sich selbst zu beruhigen.

Ihr Großmut gegenüber dem armen harmlosen Mr. Dick jedoch erfüllte mein junges Herz nicht nur mit Hoffnung, sondern zog es auch zu ihr hin. Ich begann zu begreifen, daß meine Tante bei allen ihren Wunderlichkeiten und Launen Eigenschaften besaß, die man sehr hoch anschlagen mußte. Sie war heute gerade so schroff wie gestern, machte wieder Ausfälle auf die Esel und geriet in fürchterliche Entrüstung, als ein junger Bursche im Vorbeigehen Janet ansah, eines der ernstesten Vergehen, deren man sich in den Augen meiner Tante schuldig machen konnte, aber sie schien mir mehr Ehrfurcht und weniger Angst einzuflößen.

Meine Furcht in der Zwischenzeit, die bis zum Eintreffen einer Antwort von Mr. Murdstone verlaufen mußte, war außerordentlich, aber ich versuchte, mich zu beherrschen und mich auf stille Art meiner Tante und Mr. Dick so angenehm wie nur möglich zu machen. Er und ich hätten gern den großen Drachen steigen lassen, aber ich besaß keine andern Kleider als diejenigen, in die man mich am ersten Tage meines Hierseins eingehüllt hatte, und die mich beständig an das Haus fesselten, außer eine Stunde nach Dunkelwerden, wo meine Tante mit mir aus Gesundheitsrücksichten auf der Klippe draußen spazierenging.

Endlich traf die Antwort Mr. Murdstones ein, und meine Tante teilte mir zu meinem größten Schrecken mit, daß er morgen selbst kommen werde.

Am nächsten Tag saß ich, immer noch in meine sonderbare Bekleidung gehüllt, herum und zählte die Minuten aufgeregt, in sinkender Hoffnung und immer mehr steigender Angst, und jede Sekunde gewärtig, von dem Anblick des finstern Gesichtes meines Stiefvaters erschreckt zu werden.

Meine Tante sah noch gebieterischer und strenger drein als gewöhnlich, sonst aber konnte ich nicht bemerken, daß sie sich auf den Empfang des von mir so gefürchteten Besuches irgendwie vorbereitete. Bis ziemlich spät am Nachmittag saß sie im Fenster und arbeitete und ich neben ihr, mir in Gedanken alle möglichen und unmöglichen Resultate von Mr. Murdstones Besuch ausmalend.

Unser Mittagessen war auf unbestimmte Zeit hinausgeschoben worden; aber es wurde so spät, daß eben gedeckt werden sollte, als meine Tante den plötzlichen Alarmruf Esel! ausstieß, und ich zu meiner Bestürzung Miss Murdstone kaltblütig über den heiligen Rasenfleck reiten und vor dem Hause halten sah.

»Marsch fort!« schrie meine Tante und drohte mit der Faust am Fenster. »Sie haben da nichts zu suchen! Wie können Sie sich unterstehen, meinen Rasenfleck zu betreten! Marsch fort! Sie Ding da mit dem frechen Gesicht!«

Meine Tante war so erbost über die Kaltblütigkeit, mit der Miss Murdstone um sich schaute, daß sie nicht imstande war, ein Glied zu rühren und nach ihrer Gewohnheit hinauszustürzen. Ich benutzte die Gelegenheit, um ihr zu sagen, wer es sei, und daß der Herr, der jetzt nachkam, Mr. Murdstone selbst wäre.

»Kümmert mich wenig, wers ist«, rief meine Tante und schüttelte immer noch den Kopf und schnitt nichts weniger als freundliche Gesichter hinter dem Bogenfenster. »Es wird hier nicht herumgeritten. Ich erlaube es nicht. Marsch, fort! Janet dreh ihn herum! Führ ihn fort!«

Ich lugte hinter meiner Tante hervor und gewahrte eine wahre Schlachtszene. Der Esel, die vier Füße fest in den Boden gestemmt, widerstand hartnäckig jedermanns Bemühungen. Janet versuchte ihn mit dem Zaum aus der Richtung zu bringen, Mr. Murdstone ihn anzutreiben, Miss Murdstone schlug mit dem Sonnenschirm auf Janet los, und mehrere Jungen, die als Zuschauer herbeigeeilt waren, jauchzten vor Lust. Als meine Tante unter ihnen plötzlich den jungen Verbrecher erspähte, unter dessen Obhut der Esel stand, und der einer ihrer hartnäckigsten Feinde war, stürzte sie hinaus, fiel über ihn her, fing ihn ein und schleppte ihn in den Garten, daß er, die Jacke über den Kopf gezogen, mit seinen Absätzen Furchen in den Erdboden pflügte. Dort hielt sie ihn fest und befahl Janet, die Polizei und die Richter zu holen, damit er auf der Stelle verhört und abgeurteilt werde. Ihre Freude dauerte jedoch nicht lange. Der junge Bösewicht, in allerlei Listen und Ränken erfahren, von denen meine Tante kein Ahnung hatte, riß sich geschickt los und suchte johlend das Weite, in den Blumenbeeten tiefe Spuren seiner benagelten Schuhe zurücklassend und den Esel im Triumph mit sich nehmend.

Miss Murdstone war gegen Ende des Kampfes abgestiegen und wartete jetzt mit ihrem Bruder vor der Haustür, bis es meiner Tante gefällig wäre, sie zu empfangen. Meine Tante, durch die Schlacht ein wenig aufgeregt, ging mit großer Würde an ihnen vorbei ins Haus und nahm von beiden keine Notiz, bis sie von Janet angemeldet wurden.

»Soll ich hinausgehen, Tante?« fragte ich zitternd.

»Nein, mein Kind, gewiß nicht.« Und damit schob sie mich in eine Ecke neben sich und stellte einen Stuhl vor, daß es aussah wie eine Gerichtsschranke. In dieser Ecke blieb ich während der ganzen Unterredung, und von hier aus sah ich jetzt Mr. und Miss Murdstone in das Zimmer treten.

»O«, nahm meine Tante das Wort. »Ich wußte anfangs nicht, gegen wen ich das Vergnügen hatte, einzuschreiten. Aber ich erlaube niemand, über diesen Rasenfleck zu reiten. Ich mache keine Ausnahme. Ich gestatte es niemand.«

»Ihre Maßnahme ist etwas beschwerlich für Fremde«, entgegnete Miss Murdstone.

»Wirklich?« bemerkte meine Tante.

Mr. Murdstone schien eine Erneuerung der Feindseligkeiten zu befürchten und sagte vermittelnd: »Miss Trotwood.«

»Ich bitte um Verzeihung«, bemerkte meine Tante mit einem schneidenden Blick. »Sie sind der Mr. Murdstone, der die Witwe meines seligen Neffen, David Copperfield, von Blunderstone-Krähenhorst geheiratet hat? Warum eigentlich Krähenhorst, weiß ich nicht.«

»Der bin ich«, sagte Mr. Murdstone.

»Sie werden mir die Bemerkung nicht übelnehmen, Sir«, fuhr meine Tante fort, »aber ich glaube, es hätte sich besser und glücklicher gefügt, wenn Sie das arme Kind in Ruhe gelassen hätten.«

»Ich stimme insofern mit Miss Trotwood überein«, fiel Miss Murdstone gereizt ein, »daß unsere viel beklagte Klara in allen wesentlichen Punkten wirklich das reinste Kind war.«

»Es ist ein Trost für uns beide, Ma’am«, sagte meine Tante, »die wir in die Jahre kommen und schwerlich unserer persönlichen Reize wegen unglücklich gemacht werden können, daß niemand dasselbe von uns sagen kann.«

»Allerdings«, erwiderte Miss Murdstone, wie mir schien, nicht sehr freudig beistimmend. »Sie haben ganz recht, es wäre besser und glücklicher für meinen Bruder ausgefallen, wenn er diese Ehe nie geschlossen hätte. Ich war immer dieser Meinung.«

»Sie gewiß, das glaube ich«, sagte meine Tante. Dann klingelte sie. »Janet, richte meine Empfehlungen an Mr. Dick aus, ich lasse ihn bitten, herunterzukommen.«

Bis er kam, saß meine Tante so kerzengerade da und sah mit gerunzelter Stirn die Wand an. Als er eintrat, stellte sie ihn vor.

»Mr. Dick. Ein alter und vertrauter Freund, auf dessen Urteil«, sie sah Mr. Dick, der an seinem Zeigefinger kaute und ziemlich blöde dreinschaute, mit einem ermahnenden Blick an, »ich mich verlasse.«

Mr. Dick nahm auf diesen Wink den Finger aus dem Mund und stand mit ernstem und aufmerksamem Gesicht unter der Gruppe. Meine Tante verneigte sich gegen Mr. Murdstone, der daraufhin fortfuhr:

»Miss Trotwood, beim Empfang Ihres Briefes hielt ich es, teils um meinen Standpunkt besser vertreten zu können, teils aus Rücksicht für Sie, für besser –«

»Danke«, warf meine Tante hin, Mr. Murdstone unablässig fixierend, »ich beanspruche keine.«

»– trotz der Unannehmlichkeit einer Reise lieber persönlich als brieflich zu antworten. Dieser unglückselige Junge, der von seinen Freunden und seiner Beschäftigung fortgelaufen ist –«

»– und dessen äußere Erscheinung«, unterbrach Miss Murdstone, auf meinen unbeschreiblichen Anzug hindeutend, »eine Schmach und ein wahrer Skandal ist –«

»Jane Murdstone, sei so gut und unterbrich mich nicht! Dieser unglückselige Junge also, Miss Trotwood, hat uns viel häusliches Ungemach und Leidwesen verursacht. Während der Lebzeiten meines verstorbenen geliebten Weibes und nachher. Er hat einen mürrischen, trotzigen Charakter, ein gewalttätiges Temperament und ein verstocktes störrisches Wesen. Meine Schwester wie ich haben uns bemüht, seine Laster ihm abzugewöhnen, aber vergeblich. Darum hielt ich es für das beste, oder vielmehr, wir beide hielten es für das beste, – meine Schwester besitzt mein vollständiges Vertrauen – Sie dieses ernste und unparteiische Urteil aus unserem eigenen Munde hören zu lassen.«

»Ich habe wohl nicht nötig, was aus meines Bruders Mund kommt, noch zu bestätigen«, sagte Miss Murdstone. »Aber ich bitte zu bemerken, daß ich meinerseits ihn von allen Jungen auf der Welt für den allerschlechtesten halte.«

»Stark!« sagte meine Tante kurz.

»Durchaus nicht zu stark den Tatsachen gegenüber«, erwiderte Miss Murdstone.

»Ach was!« sagte meine Tante. »Weiter, Sir!«

»Ich habe meine eignen Ansichten über die beste Art, ihn zu erziehen«, fuhr Mr. Murdstone fort, dessen Gesicht immer finsterer wurde, je mehr meine Tante und er sich gegenseitig fixierten, was mit großer Gewissenhaftigkeit geschah; – »sie gründen sich zum Teil auf meine Kenntnis seines Wesens, teils richten sie sich nach Maßgabe meiner eignen Mittel und Hilfsquellen. Ich bin mir darüber selbst verantwortlich, handle danach und sage deshalb nichts weiter darüber. Es genügt, daß ich diesen Knaben unter die Obhut eines meiner Freunde in ein achtbares Geschäft brachte. Ihm hingegen gefällt das nicht. Er läuft fort, treibt sich als Vagabund herum, bis er endlich in Lumpen zu Ihnen kommt, Miss Trotwood, um sich an Sie zu wenden. Ich möchte Sie ganz offen auf die Folgen, soweit ich diese überblicken kann, aufmerksam machen, die auf Sie fallen, falls Sie seinen Bitten Gehör schenken.«

»Reden wir erst einmal von dem gewissen achtbaren Geschäft«, sagte meine Tante. »Sie hätten wohl Ihren eignen Sohn auch dorthin gebracht?!«

»Meines Bruders eigner Sohn würde einen andern Charakter gehabt haben«, fiel Miss Murdstone ein.

»Wenn seine Mutter, das arme Kind, noch am Leben wäre, hätten Sie ihn dann auch in dieses achtbare Geschäft gegeben?« fragte meine Tante.

»Ich glaube«, sagte Mr. Murdstone und neigte den Kopf ein wenig, »daß Klara keine Maßnahme bestritten hätte, die ich und meine Schwester Jane Murdstone für die beste würden gehalten haben.«

Miss Murdstone bestätigte es mit einem vernehmbaren Murmeln.

»Hm«, sagte meine Tante, »unglückseliges Geschöpf!«

Mr. Dick, der die ganze Zeit über mit seinem Gelde geklimpert hatte, klimperte jetzt so laut damit, daß meine Tante ihm einen ermahnenden Blick zuwerfen mußte, bevor sie fortfuhr:

»Des armen Kindes Leibrente hörte mit ihrem Tode auf?«

»Hörte mit ihrem Tode auf«, bestätigte Mr. Murdstone.

»Und es fand sich keine testamentarische Bestimmung vor, in der der kleine Besitz, das Haus und der Garten – der Krähenhorst ohne Krähen – dem Knaben zufallen sollte?«

»Ihr erster Gatte hatte ihr das Grundstück ohne alle Einschränkung hinterlassen«, wollte Mr. Murdstone seine Rede beginnen, als meine Tante ihn mit größter Heftigkeit und Ungeduld unterbrach.

»Herrgott, Mensch, das brauchen Sie mir nicht erst zu sagen. Ohne Einschränkungen hinterlassen! Ich kann mir David Copperfield vorstellen, wie er an Einschränkungen irgendeiner Art denkt, trotzdem sie ihm vor der Nase lagen. Natürlich war das Grundstück ohne Einschränkungen vererbt worden. Aber als sie sich wieder verheiratete den höchst unglücklichen Schritt tat, sich mit Ihnen zu verheiraten«, sagte meine Tante, »kurz und gut, hat damals niemand ein Wort für den Knaben eingelegt?«

»Meine selige Gattin liebte ihren zweiten Mann, Ma’am«, sagte Mr. Murdstone, »und verließ sich unbedingt auf ihn.«

»Ihre selige Gattin, Sir, war ein höchst unpraktisches, höchst gutmütiges, höchst unglückliches Kind«, entgegnete meine Tante und schüttelte drohend den Kopf. »Das war sie. Und was haben Sie noch weiter vorzubringen?«

»Nur noch eines, Miss Trotwood. Ich bin hier, um David mit mir zu nehmen. Ihn ohne Bedingung mit mir zu nehmen und über ihn zu verfügen, wie ich es für gut finde. Ich bin nicht hier, um irgend jemand ein Versprechen zu geben oder irgendwelche Verpflichtung zu übernehmen. Sie haben möglicherweise die Absicht, Miss Trotwood, ihm wegen seines Fortlaufens oder in irgendwelchen Beschwerden gegen mich die Stange zu halten. Ihr Benehmen, das, ich muß es gestehen, mir nicht versöhnlich erscheint, veranlaßt mich, das zu glauben. Ich muß Sie aber darauf aufmerksam machen, daß, wenn Sie ihm einmal die Stange halten, Sie es damit für immer tun. Wenn Sie sich zwischen ihn und mich stellen, Miss Trotwood, so müssen Sie das für alle Zeiten tun. Ich kann nicht paktieren und habe keine Lust dazu. Ich bin einmal hergekommen, um ihn mitzunehmen, und tue es ein zweites Mal nicht mehr. Ist er bereit, mitzugehen? Wenn ers nicht ist, und nach Ihren Angaben ist ers nicht, aus welchem Grunde ist mir gleichgültig, so bleibt ihm meine Tür für alle Zeit verschlossen. Ihre, nehme ich an, wahrscheinlich geöffnet.«

Dieser Rede hatte meine Tante mit gespannter Aufmerksamkeit zugehört. Sie saß kerzengerade da, die Hände über ein Knie gefaltet, und sah den Sprecher grimmig an. Als er fertig war, wandte sie ihre Augen mit einem befehlenden Blick auf Miss Murdstone, ohne ihre Stellung zu verändern.

»Nun, Ma’am? Haben Sie noch etwas zu bemerken?«

»Alles, Miss Trotwood, was ich sagen könnte, hat mein Bruder bereits so gut gesagt, und alles, was ich weiß, so klar dargelegt, daß ich weiter nichts hinzuzufügen habe als – meinen Dank für Ihre Höflichkeit. Für Ihre so außerordentliche Höflichkeit«, sagte Miss Murdstone mit einem Hohn, der meine Tante reizen sollte, sie jedoch so ruhig ließ, wie mich damals die Kanone, neben der ich in Chatham geschlafen hatte.

»Und was sagt der Junge dazu?« wandte sich meine Tante an mich. »Willst du mitgehen, David?«

Ich antwortete: »Nein!« und bat flehentlich, mich nicht fortzuschicken. Ich sagte, daß weder Mr. noch Mrs. Murdstone mich je geliebt hätten oder freundlich zu mir gewesen wären. Daß sie meine Mutter, die mich immer von Herzen lieb gehabt, meinetwegen unglücklich gemacht hätten, wie ich ganz gut wüßte und Peggotty auch. Ich sagte, daß es mir elender ergangen, als man sich angesichts meiner Jugend vorstellen könnte. Und ich bat und flehte meine Tante an, mich um meines Vaters willen zu beschützen und sich meiner anzunehmen.

»Mr. Dick?« fragte meine Tante, »was soll ich mit diesem Kind anfangen.«

Mr. Dick überlegte, schwankte und sagte dann strahlend:

»Lassen Sie ihm sogleich einen Anzug anmessen.«

»Mr. Dick«, sagte meine Tante triumphierend, »geben Sie mir die Hand. Ihr gesunder Menschenverstand ist unschätzbar.« Nachdem sie ihm herzlich die Hand gedrückt, zog sie mich zu sich und sprach zu Mr. Murdstone:

»Sie können jetzt gehen, wenn Sie Lust haben, ich will es mit dem Knaben versuchen. Wenn er wirklich derart ist, wie Sie ihn schildern, kann ich immer noch soviel für ihn tun, wie Sie getan haben. Übrigens glaube ich Ihnen natürlich kein Wort.«

»Miss Trotwood«, entgegnete Mr. Murdstone, stand auf und zuckte die Achseln, »wenn Sie ein Mann wären –«

»Bah! Dummes albernes Geschwätz!« sagte meine Tante. »Kommen Sie mir nicht mit so was.«

»Unendlich höflich!« rief Miss Murdstone aus und stand ebenfalls auf. »Überwältigend. In der Tat!«

»Glauben Sie vielleicht«, sagte meine Tante zu Mr. Murdstone, ohne seine Schwester zu berücksichtigen, »ich weiß nicht, was für ein Leben das arme unglückliche verblendete Kind mit Ihnen geführt hat! Glauben Sie vielleicht, ich weiß nicht, was für ein Unglückstag es für das sanfte Wesen war, als Sie ihr das erstemal begegneten und sie anfeixten und unschuldige Augen machten, als ob Sie zu einer Gans nicht papp sagen könnten!«

»Ich habe noch nie eine so feine Sprache gehört, wahrhaftig«, rief Miss Murdstone.

»Glauben Sie, ich durchschaue Sie nicht?« fuhr meine Tante fort. »Ich sehe und höre Sie, als ob ich dabeigewesen wäre. Ich spreche mit Ihnen ganz frei von der Leber weg, wenn es mir auch kein Vergnügen ist. Gott steh uns bei, wer war so glatt und seidenweich wie Mr. Murdstone zuerst! So einen Mann hat die arme, weichherzige Unschuld noch niemals gesehen. Er bestand nur aus Süßigkeit und betete sie an. Er schwärmte für ihren Knaben, ach, wie zärtlich! Er wollte ihm ein zweiter Vater sein, und sie würden alle zusammen in einem Rosengarten leben! Nicht wahr? Pfui Teufel, gehen Sie mir.«

»So eine Person habe ich noch in meinem ganzen Leben nicht gesehen!« rief Miss Murdstone.

»Und als Sie das arme kleine Närrchen ganz sicher gemacht hatten«, fuhr meine Tante wieder fort, »Gott verzeih mir, daß ich sie so nennen muß, nachdem sie dahingegangen ist, wohin Sie gewiß nicht besonders schnell kommen werden – mußten Sie sie, weil Sie ihr und den ihrigen noch nicht genug Unheil zugefügt hatten, noch ganz brechen, sie abrichten wie einen armen eingesperrten Vogel und sie ihr armes enttäuschtes Leben hinsiechen lassen, damit sie noch zu allem Ihr Lob singen lerne.«

»Sie sind entweder verrückt oder betrunken«, schrie Miss Murdstone in wahrer Verzweiflung, daß sie den Strom der Beredsamkeit meiner Tante nicht auf sich ablenken oder ihn hemmen konnte, »sie muß betrunken sein.«

Ohne die Unterbrechung im mindesten zu beachten, fuhr Miss Betsey fort, bloß zu Mr. Murdstone zu sprechen.

»Mr. Murdstone«, sie deutete mit dem Finger auf ihn, »Sie waren ein Tyrann gegen das unschuldige Kind und – haben ihr das Herz gebrochen. Sie hatte ein liebebedürftiges Herz, das weiß ich und wußte es viele Jahre, bevor Sie sie noch gesehen hatten. Und wegen des besten Teils ihrer Schwächen gaben Sie ihr die Wunden, an denen sie starb. Das ist die Wahrheit zu Ihrer Erbauung. Mag es Ihnen gefallen oder nicht. Und Sie und Ihr Werkzeug können sich getroffen fühlen.«

»Erlauben Sie mir die Frage«, unterbrach Miss Murdstone, »wen Sie in einer Sprache, an die ich nicht gewöhnt bin, mit dem Werkzeug meinen?«

Stocktaub ihr gegenüber und vollständig unbeirrbar setzte Miss Betsey ihre Rede fort. »Es war mir lange klar, schon Jahre, bevor Sie sie sahen, daß das arme, weichherzige, kleine Geschöpf zu irgendeiner Zeit jemand heiraten würde. Warum gerade ihre Wahl so schlecht ausfiel, warum sie Ihnen nach dem unerforschlichen Willen der Vorsehung begegnen mußte, das zu begreifen ist dem Menschen unmöglich. Ich wußte es um die Zeit, wo sie diesen Knaben gebar, das arme Kind. Dieser arme Junge mußte Ihnen später dazu dienen, die unglückliche Mutter zu quälen. Darin liegt eben für Sie die peinliche Erinnerung und das macht Ihnen den Anblick des Knaben verhaßt. – Ja, ja, zucken Sie nur, ich weiß auch ohnedies, daß es wahr ist.«

Mr. Murdstone hatte die ganze Zeit über in der Tür gestanden und mit verzerrtem Gesicht gelächelt. Jetzt sah ich, wie das Lächeln und zugleich die Farbe einen Augenblick aus seinem Gesicht wichen und er nach Atem rang.

»Guten Tag, Sir, und recht glückliche Reise! Auch Ihnen empfehle ich mich, Ma’am«, – wandte sich meine Tante plötzlich an Miss Murdstone – »und wenn ich Sie noch einmal auf einem Esel über meinen Rasenfleck reiten sehe, haue ich Ihnen den Hut vom Kopf und zertrete ihn, so wahr Sie da stehen.«

Nur ein geschickter Maler hätte das Gesicht meiner Tante bei diesem unerwarteten Ausfall und das Miss Murdstones malen können. Der Ton meiner Tante und ihr Benehmen waren so heftig, daß Miss Murdstone, ohne ein Wort zu sagen, den Arm ihres Bruders nahm und mit hochmütiger Miene das Haus verließ. Meine Tante blieb beim Fenster stehen und schaute ihnen nach, ohne Zweifel bereit, ihre Drohung sofort auszuführen, falls der Esel sich wieder zeigen sollte.

Da jedoch jede Herausforderung unterblieb, verschwand allmählich der strenge Ausdruck ihres Gesichtes und wurde so freundlich, daß ich mir ein Herz faßte, sie küßte und mich bei ihr bedankte. Ich tat es mit größter Herzlichkeit und schlang beide Arme um ihren Hals. Dann schüttelten Mr. Dick und ich uns die Hand und er hörte gar nicht wieder auf und begrüßte die glückliche Beendigung der Angelegenheit mit fröhlichem Gelächter.

»Sie haben sich jetzt mit mir zusammen als Vormund dieses Kindes zu betrachten, Mr. Dick«, sagte meine Tante.

»Es soll mich freuen«, sagte Mr. Dick, »der Vormund von Davids Sohn zu sein.«

»Also, das wäre abgemacht. Wissen Sie, Mr. Dick, daß ich auf den Gedanken gekommen bin, ihn Trotwood zu nennen?«

»Sehr gut, sehr gut. Nennen Sie ihn Trotwood«, stimmte Mr. Dick bei, »Davids Sohn Trotwood.«

»Trotwood-Copperfield, glauben Sie?«

»Ja. Allerdings. Ja, Trotwood-Copperfield«, gab Mr. Dick etwas beschämt zu.

Meine Tante griff diesen Gedanken mit solcher Lebhaftigkeit auf, daß einige noch an diesem Nachmittag für mich fertig gekaufte Kleidungsstücke von ihr mit eigner Hand und mit unverlöschlicher Tinte sofort Trotwood-Copperfield gezeichnet wurden und man den Beschluß faßte, die andern Kleider, die für mich gemacht werden sollten, – an diesem Nachmittag wurde eine ganze Aussteuer für mich bestellt – in gleicher Weise zu zeichnen.

So begann ich ein neues Leben mit einem neuen Namen, und alles war neu rings um mich her. Jetzt, wo jeder Zweifel vorbei, kam ich mir Tage hindurch wie ein Träumender vor. Ich konnte gar nicht mehr ordentlich klar denken. Nur zweierlei stand mir als Gewißheit vor der Seele –, daß das alte Leben in Blunderstone weit in die Ferne gerückt schien, und daß für immer ein Vorhang über meine Stellung bei Murdstone & Grinby gefallen war.

Niemand hat seitdem diesen Vorhang wieder gehoben. Ich selbst tat es in dieser Erzählung nur mit widerstrebender Hand, um ihn gern wieder fallen zu lassen.

Die Erinnerung an dieses Leben ist für mich mit solchem Schmerz verknüpft, mit so viel Seelenleid und Hoffnungslosigkeit, daß ich nie den Mut gehabt habe, genau nachzurechnen, wie lange diese Zeit gedauert hat. Ob ein Jahr, ob länger oder kürzer, ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß es einst gewesen ist und aufgehört hat zu sein. Das habe ich geschrieben und lasse es stehen.