Zwanzigstes Kapitel.

Zwanzigstes Kapitel.

Der Mensch tut viel, um geliebt zu werden; um beneidet zu werden, tut er alles.

Querkopf Wilsons Kalender

Der botanische Garten von Adelaide ist ein wahres Eden; bei uns zu Lande wäre aber eine so paradiesische Schöpfung einfach ein Ding der Unmöglichkeit. Wenn wir auch ein viele Morgen großes Glashaus mit Dampfheizung bauen wollten, so bliebe das doch immer nur ein Notbehelf, denn die schwüle Hitze, die enge, dumpfe Luft, die uns zu ersticken droht, würden wir doch nicht los. In Australien dagegen lacht die helle Sonne vom blauen Himmel, uns umfächelt ein köstlicher Windhauch, und wir können alles, was bei uns im Treibhaus wächst, üppig im Freien wuchern sehen. Als der erste weiße Ansiedler in das Land kam, war es an Pflanzenarten fast so arm wie die Wüste Sahara; jetzt findet man dort und in Ozeanien alles was die Erde trägt. Mit wie gutem Erfolg Australien seinen Tribut von der Flora der ganzen übrigen Welt eingesammelt hat, erkennt man allenthalben, wohin man blickt, in Feld, Garten und Wald, sowie in dem üppigen Grün, das die Landstraßen umsäumt. Bei jedem auffallend schönen und merkwürdigen Baum, Busch oder sonstigen Gewächs, nach dem man fragt, erhält man sicherlich zur Antwort, daß es aus irgend einem fremden Lande – Indien, Afrika, Japan, China, England, Amerika, Java, Sumatra, Neu Guinea, Polynesien oder anderswoher stammt.

Im zoologischen Garten von Adelaide sah ich den einzigen ›Lachenden Hans‹ ober Rieseneisvogel, der sich jemals gestimmt zeigte, mir Aufmerksamkeit zu erweisen. Er sperrte den langen Schnabel weit auf und lachte wie ein Dämon oder wie ein Verrückter, der bei dem abgedroschensten Wortwitz in ein Hohngelächter ausbricht. Es klang nicht wie tierische Laute; ich wäre überzeugt gewesen, daß ich einen Menschen lachen hörte, hätte ich den wunderlichen Vogel nicht vor mir gesehen, dessen Kopf und Schnabel viel zu groß sind für den übrigen Körper. Mit der Zeit werden alle wilden Tiere Australiens vermutlich ausgerottet werden, nur dieser Räuber wird übrig bleiben, weil ihm der Mensch wohlgesinnt ist und ihm nicht nachstellt. Das hat natürlich seinen guten Grund, wie immer, wenn wir einem wilden Geschöpf Barmherzigkeit erweisen – sei es Mensch oder Tier. Man verschont den Vogel, weil er die Schlangen tötet. Ich kann dem ›Lachenden Hans‹, den man auch Königsfischer nennt, zu seinem eigenen Besten nur ernstlich raten, nicht alle zu vertilgen, sondern stets ein paar Schlangen am Leben zu lassen.

Ebendaselbst sah ich auch den wilden australischen Hund, den Dingo. Es war ein schönes, ebenmäßig gebautes Tier, das zwar etwas an den Wolf erinnerte, aber einen freundlichen Ausdruck in den Augen hatte und gesellige Neigungen zeigte. Der Dingo ist nicht importiert worden. Als die Weißen zuerst auf das Festland kamen, fanden sie ihn schon in großer Menge vor. Er gilt für den ältesten Hund in der Naturgeschichte, man kennt seinen Ursprung und die Gegend, aus der seine Vorfahren stammen, ebensowenig wie die Herkunft des Kamels. Zwar ist er der vorzüglichste Hund, den es gibt, denn er bellt nicht; aber er hat leider in einer schwachen Stunde der Versuchung nicht widerstehen können und ist in die Schafhürden eingebrochen, um seinen Hunger zu stillen. Damit war sein Geschick besiegelt; man jagt ihn jetzt, als wäre er ein Wolf, weil man beschlossen hat ihn zu vertilgen, und dies Todesurteil wird sicherlich vollzogen werden. Dagegen läßt sich nichts einwenden, es ist vollkommen gerechtfertigt, denn die Erde ist für den Menschen geschaffen worden – das heißt, für den Weißen.

Der Name Südaustralien ist recht unpassend gewählt, weil alle australischen Kolonien – außer Queensland – eine südliche Lage haben. Man hätte die Provinz Mittelaustralien nennen sollen, denn sie geht gerade mitten durch das Festland hindurch, wie die eingelegte Platte in einem runden Tisch. Sie mißt 2000 Meilen von Süden nach Norden und ihre Breite beträgt etwa ein Drittel der Länge. In einem winzig kleinen Stückchen der südöstlichen Ecke wohnen neun Zehntel der Bevölkerung. Das übrige Zehntel verteilt sich in andere Gegenden, wo es sich nach Gefallen ausbreiten kann – Raum genug ist dazu vorhanden. Südaustralien hat in den Jahren 1871 und 72 eine zweitausend Meilen lange Telegraphenverbindung, zwischen Adelaide und Port Darwin an der Nordküste, in gerader Linie durch die Wüste und die Wildnis gelegt. Die Einwohnerzahl betrug damals erst 185 000. Es war ein großes Unternehmen, denn es gab weder Weg noch Steg, und ein Teil der Strecke – dreizehnhundert Meilen – war vorher nur ein einzigesmal von weißen Männern durchwandert worden. Alle Lebensmittel, alle Stangen und Telegraphendrähte mußten durch weite Wüsten mitgeführt werden; ja, man war genötigt, unterwegs Brunnen zu graben, damit Menschen und Tiere nicht vor Durst umkamen.

Da bereits ein Kabel von Port Darwin nach Java und von dort nach Indien gelegt war, und auch zwischen England und Indien telegraphische Verbindung bestand, so brauchte Adelaide nur die Linie nach Port Darwin zu eröffnen, um mit der ganzen Welt Anschluß zu haben. Das Werk gelang, und nun konnte man täglich die Schwankungen des Londoner Marktes beobachten, was den Wollproduzenten Australiens sofort einen ungeheuren Gewinn brachte.

Einige Monate nach meinem ersten Aufenthalt besuchte ich Adelaide abermals, um den Nationalfesttag der Provinz mitzubegehen. Alle Welt strömte nach der benachbarten Stadt Glenelg, wo zur Erinnerung an die Gründung der Kolonie, die Proklamation von 1836 öffentlich verlesen wurde. Das Fest ward mit großem Jubel gefeiert; es ist das höchste im ganzen Jahr, und das will viel sagen in diesem Lande, wo eine Sucht nach Feiertagen herrscht, die den Engländern sonst fern ist. Es sind meistens Arbeiterfeiertage, denn in Südaustralien ist der Arbeiter die Hauptperson: er gibt den Ausschlag bei allen Wahlen, jeder Politiker bewirbt sich um seine Stimme. Das Parlament ist nur dazu da, um den Willen des Arbeiters zu verkünden, und die Regierung um ihn zu vollstrecken. Ueberall in Australien spielt der Arbeiter eine große Rolle, aber die Provinz Südaustralien ist sein Paradies. Mich freut, daß er eins gefunden hat, denn es ist ihm sauer genug geworden in der Welt und er hat es wohl verdient.

Wie duldsam die Provinz in religiöser Beziehung ist, haben wir bereits gesehen. Sie zeichnet sich aber auch noch auf andere Weise aus: ihre mittlere Temperatur beträgt 62°, und die Sterblichkeitsziffer 13 vom 1000 – etwa halb so viel wie in New York. Das heißt, das ist die Zahl für den Durchschnittsgänger; alte Leute sind ausgeschlossen, denen kann der Tod hier nichts anhaben, wie es scheint. Es waren ihrer sechs beim Festbankett zugegen, die sich noch an Cromwell erinnerten; auch hatten sie die Verlesung der ursprünglichen Proklamation im Jahre 1836 mit angehört. Aeußerlich waren sie zwar von der Zeit nicht unberührt geblieben, aber ihre Herzen hatten sich jung und froh erhalten. Sie wurden nicht müde als Redner aufzutreten und Geschichten aus ihrer Jugendzeit zu erzählen nebst allem was sie erlebt und gelitten hatten, als es galt, unter harter Arbeit die starken Grundpfeiler ihres Gemeinwesens, Freiheit und Duldsamkeit, aufzurichten.

Einer der sechs alten Herren machte mir später noch verschiedene interessante Mitteilungen, hauptsächlich über die Ureinwohner des Landes, von denen er sagte, sie wären in mancher Beziehung merkwürdig begabt gewesen und hätten, neben einzelnen unangenehmen Eigenschaften, auch ihre großen Vorzüge gehabt, weshalb das Aussterben der Rasse sehr zu beklagen sei. Als Beispiele ihres erfinderischen Geistes nannte er den Bumerang und das ›Weetweet‹, mit denen sie Wunder der Geschicklichkeit verrichteten, die kein einziger Weißer je im stande gewesen sei, ihnen nachzumachen. Nur der Eingeborene, meinte der Alte, vermöchte die Bewegung des Bumerangs so zu lenken, daß er ihm allen Willen tut. Auch erzählte er mir die unglaublichsten Dinge, welche die Neger mit dem seltsamen Wurfgeschoß in seiner Gegenwart vollbracht hätten; sie sind mir später durch andere alte Ansiedler bestätigt worden, und auch in australischen Büchern habe ich davon gelesen.

Man behauptet – und wir wollen es nicht bestreiten –, daß einige wilde Stämme in Europa den Bumerang schon zur Römerzeit gekannt haben; Belege hiefür finden sich bei Vergil und noch zwei anderen römischen Dichtern. Auch den alten Aegyptern soll er nicht fremd gewesen sein.

Dadurch entstehen zweierlei Möglichkeiten: entweder ist jemand in frühster Zeit mit einem Bumerang nach Australien gekommen, bevor noch in Europa die Kunde davon verloren gegangen war, oder – die Ureinwohner jenes Erdteils haben ihn neu erfunden. Es wird nicht leicht sein, ausfindig zu machen, auf welche von den beiden Arten die Sache wirklich vor sich gegangen ist. Aber es hat keine Eile, man kann sich alle Zeit zu der Untersuchung nehmen.

Einundzwanzigstes Kapitel.

Einundzwanzigstes Kapitel.

Wir besitzen in unserm Lande drei unschätzbare Güter, für die wir Gott gar nicht genug danken können: Redefreiheit, Gewissensfreiheit und die Klugheit, uns weder der ersteren noch der letzteren jemals zu bedienen.

Querkopf Wilsons Kalender.

Ehe ich nach Australien kam, hatte ich überhaupt noch nie von dem ›Weetweet‹ reden hören, auch sind mir nur wenige Leute begegnet, die selbst gesehen hatten, wie man es wirft. Es gleicht einer dicken hölzernen Zigarre, welche man mit dem stumpfen Ende an einen biegsamen Zweig befestigt hat; das ganze Ding ist ein paar Fuß lang, wiegt aber kaum zwei Lot. Man schnellt es nicht in die Luft, sondern wirft es eine Strecke weit vor sich auf den Boden, von dem es abspringt, um ihn in langen Sätzen immer wieder zu berühren, wie der flache Stein, den ein Knabe über das Wasser hüpfen läßt. Freilich, der Stein findet auf der glatten Fläche keinerlei Hindernis; ein Mann kann ihn mit starkem Arm fünfzig bis fünfundsiebzig Meter weit springen lassen. Das ›Weetweet‹ hat es viel schwerer, denn es trifft bald auf Gras, bald auf Sand und Erde, und doch hat ein geschickter Eingeborener es schon zweihundert und zwanzig Meter weit hüpfen lassen, bis das Gestrüpp von Farnkraut und Unterholz ihm den Weg versperrten. Hätte nicht Mr. Brough Smyth dies mit eigenen Augen gesehen, die Strecke ausgemessen und die Tatsache in seinem Buch über das Leben der Eingeborenen verzeichnet, das er im Auftrag der Regierung von Viktoria geschrieben hat, so würde ich es für unmöglich erklären, daß ein so federleichtes Ding auf unebenem Boden so weit springen kann. Wie wird aber dies Kunststück gemacht? – Niemand weiß das; es verstößt anscheinend gegen alle Gesetze der Natur, und keiner hat mir das Rätsel lösen können.

Mein Ansiedler sagte, das ›Weetweet‹ sei fast ebenso wunderbar wie der Bumerang; er hätte es in seiner Jugend ganz unglaublich weit fliegen sehen. Der Missionar I. G. Wood findet eine große Aehnlichkeit zwischen den Sprüngen des ›Weetweet‹ und denen einer Känguruh-Ratte, die angstvoll vor ihren Verfolgern flieht und den langen Schwanz nachschleppt. »Das ›Weetweet‹,« sagt er, »schießt mit dem zischenden, unheilverkündenden Laut einer Flintenkugel durch die Luft, erhebt sich aber höchstens sieben oder acht Fuß vom Boden; es ist ganz erstaunlich, wie weit die Australneger es werfen können.«

Sie müssen wirklich einen gehörigen Vorrat von Scharfsinn und Schlauheit besessen haben, diese nackten, spindeldürren Eingeborenen, wie hätten sie sonst so unnachahmliche Pfadfinder, so unvergleichliche Bumerang- und Weetweet-Werfer sein können! Wahrscheinlich ist es dem Rassenhaß zuzuschreiben, daß man so lange in der ganzen Welt der Meinung war und noch heutzutage behauptet, sie stünden auf einer der niedrigsten geistigen Stufen.

Träge sind sie allezeit gewesen, das ist wahr, und Trägheit ist ein schlimmer Fehler, der Todfeind jedes höheren Strebens. Sie hätten doch gewiß die Kunst erfinden können, wie man ein ordentliches Haus baut, oder wie man das Land urbar macht und bepflanzt, aber das taten sie nicht. Sie hatten kein Obdach, gingen nackt einher, nährten sich von Fischen, Früchten, Beeren und mancherlei Gewürm und blieben bei all ihrer Schlauheit doch nach wie vor echte Wilde.

Ihr Land, in dem sie hätten wachsen und sich mehren sollen, war so groß wie die Vereinigten Staaten, und ansteckende Krankheiten wurden ihnen erst durch die Weißen gebracht, nebst den anderen Wohltaten der Zivilisation. Trotzdem hat die australische Rasse wohl zu keiner Zeit mehr als 100 000 Köpfe gezählt. Die Ureinwohner duldeten keine Uebervölkerung; sie beschränkten ihre Zahl mit allem Fleiß, teils durch Kindermord, teils durch gewisse andere Methoden. Als sie jedoch mit den Weißen in Berührung kamen, brauchten sie sich in dieser Beziehung nicht länger zu bemühen.

Die Zunahme der Bevölkerung zu hindern, verstand der Weiße noch viel besser als der Eingeborene; er konnte die Zahl der Ureinwohner eines Landes binnen zwanzig Jahren um achtzig Prozent verringern. So weit hatte es der Australneger noch nie gebracht.

Als die Engländer in den dreißiger Jahren zuerst in Australien landeten, sollen in der jetzigen Kolonie Viktoria noch 4500 Eingeborene gelebt haben; davon kamen 1000 auf das sogenannte ›Gippsland‹ von denen nach vierzig Jahren etwa 200 übrig waren. Der Geelong-Stamm schmolz noch rascher zusammen: nach zwanzig Jahren lebten von 173 Leuten noch 34 und nach abermals zwanzig Jahren war nur noch ein einziger Mann am Leben. Die beiden Melbourne-Stämme zählten 300 Köpfe, und 1875, als die Weißen siebenunddreißig Jahre im Lande waren, höchstens 20. Zwar haben sich noch hier und da Ueberreste verschiedener Stämme in der Kolonie Viktoria erhalten, aber Vollblut-Eingeborene sollen jetzt, wie man mir sagt, eine große Seltenheit sein; nur in den ausgedehnten Länderstrecken von Queensland trifft man sie noch in ziemlicher Menge.

Die ersten Weißen waren nicht an den Verkehr mit Wilden gewöhnt. Sie kannten nicht einmal das Grundgesetz der Eingeborenen, wonach der ganze Stamm für jede Unbill verantwortlich ist, die einer seiner Angehörigen jemand zugefügt hat. Man darf sich an jedem einzelnen dafür rächen, ohne erst lange nach dem Schuldigen zu suchen. Wenn nun ein Weißer einen Neger tötete, so handelten die Eingeborenen nach ihrem uralten Gesetz und brachten den ersten besten Weißen um, der ihren Weg kreuzte. Das kam den Europäern ganz schauderhaft vor und sie hielten es in ihrer Entrüstung für völlig gerechtfertigt, derartige Geschöpfe vom Erdboden zu vertilgen. Zwar brachten sie nicht alle Schwarzen um, aber doch so viele, als es ihre eigene Sicherheit verlangte. Diese Vorsichtsmaßregel haben sie von Anbeginn der Zivilisation bis auf den heutigen Tag stets angewendet.

In den ›Skizzen aus dem Leben in Australien‹ von Mrs. Campbell Praed, die ihre Kindheit in Queensland zugebracht hat, finden wir lehrreiche Beispiele von der Art, wie Weiße und Schwarze einander anfänglich zu reformieren suchten.

Ueber die Zeit, als die ersten Ansiedler sich in der ungeheuren Wildnis von Queensland niederließen, berichtet Mrs. Praed u. a.: »Zuerst zogen sich die Eingeborenen vor den Weißen zurück und beunruhigten sie wenig; höchstens töteten sie dann und wann ein Stück Vieh aus der Herde durch einen Speerwurf. Aber die Zahl der Squatter wuchs; jeder nahm große Strecken Landes für sich in Besitz und brachte zwei oder drei Dienstleute mit, so daß die Schäferhütten und die Stationen der Viehzüchter vereinzelt und schutzlos inmitten feindlicher Negerstämme lagen. Da wurden auch die Raubzüge der Schwarzen häufiger, und Mordtaten waren bald an der Tagesordnung.

»Wie einsam es im australischen Busch ist, läßt sich kaum in Worten schildern. Meilenweit dehnt sich der Urwald, den noch nie der Fuß eines Weißen betreten hat, nach allen Seiten aus. Unabsehbare Strecken sind mit den mächtigen Stämmen des Eukalyptus bewachsen, welche den roten Gummi ausschwitzen, der wie phantastische Tropfsteingebilde von den dünnen Zweigen herabhängt. An den steilen Schluchten wuchert langes Gras in dichten Massen. Große baumlose Ebenen wechseln mit hügligem Weideland, das hier und da von einem Gebirgszug, einer tiefen Kluft oder einem ausgetrockneten Flußbett durchschritten wird. Alles ist wild, pfadlos und menschenleer; überall begegnet dem Auge dasselbe einförmige Grau, außer wo der Akazienbusch zur Blütezeit seine geflügelten, goldgelben Blumen entfaltet, oder der ›Scrub‹, der in seiner Undurchdringlichkeit einem indischen Dschungel gleicht, wie ein grüner, glänzender Gürtel die Einöde durchzieht.

»Das Gefühl der Verlassenheit wird noch durch die seltsamen Laute der Tierwelt verstärkt, die wohl geeignet sind, selbst starke Nerven zu erschüttern. Bei Tage hört man zuweilen das Getrampel einer Herde Känguruhs, die in wilder Flucht dahinstürmen, das Rascheln der Beutelratte oder den Fußtritt des Dingos, der durch das hohe Gras zu seiner Höhle schleicht. Dazwischen schwirren Heuschrecken, der Lachvogel läßt sein dämonisches ha! ha! ha! erschallen, Kakadus und Papageien kreischen, die Krageneidechse zischt, und zahllose Insekten, die sich im dichten Unterholz verbergen, summen ohne Unterlaß. Dazu gesellt sich bei Nacht noch der schauerliche Klagelaut der Sumpfvögel, das Geheul des Dingos und das ohrenzerreißende Gequake der Frösche. Kein Wunder, wenn sich bange Furcht in das Herz des einsamen Squatters schleicht und der Schlaf sein Lager flieht.«

Dies war der Schauplatz, auf dem sich so manches Drama mit blutigem Ausgang abgespielt hat. Es ließ sich auch kaum etwas Anderes erwarten, wenn man alle Einzelheiten bedenkt: Die Stationen der Viehzüchter waren über die ganze ungeheure Wildnis verteilt, kaum ein halbes Dutzend Leute wohnten beisammen in meilenweiten Zwischenräumen. Sie hatten große Herden, während die Eingeborenen bei dürftiger Nahrung stets Hunger litten. Und doch war das Land ihr Eigentum; die Weißen hatten es nicht gekauft, das konnten sie gar nicht, denn die Stämme besaßen keine Häuptlinge. Niemand war da, der die Befugnis gehabt hätte, einen Handel abzuschließen, auch wären die Neger außer stande gewesen, einen solchen Wechsel des Landbesitzes zu begreifen. Ueberdies verachteten die weißen Eindringlinge die Stämme, deren Grund und Boden sie in Besitz genommen hatten, und zeigten ihnen ihre Geringschätzung bei jeder Gelegenheit. Wie hätte da der Beginn der Feindseligkeiten lange ausbleiben können?

»Auf der Nie Nie-Station,« erzählt Mrs. Praed, »hatte der arglose Squatter in einer dunklen Nacht seine Hütte, wie er glaubte, vor jedem Angriff sicher verwahrt und lag, in seine Decke gewickelt, in festem Schlummer. Da kamen die Schwarzen geräuschlos durch den Kamin herabgeglitten und schlugen ihm den Schädel ein, während er schlief.«

Diese wenigen Zeilen geben uns einen klaren Einblick in den Stand der Dinge. Der Kampf hatte begonnen und sollte nicht eher enden, bis eine der beiden Parteien sich dauernd der Obergewalt bemächtigt hatte. »Verrat lauerte auf beiden Seiten,« fährt die Erzählerin fort. »Die Schwarzen töteten die Weißen, sobald diese unbeschützt waren, und die Weißen erschlugen die Schwarzen massenhaft, ohne Gnade und Barmherzigkeit, so daß sich mein kindliches Gerechtigkeitsgefühl oft gewaltig darüber empörte … Die Neger wurden für wenig besser als Tiere geachtet und in einigen Fällen hat man sie förmlich vertilgt wie Ungeziefer.

»Ich will nur ein Beispiel anführen: Ein Squatter, dessen Weideplatz von Negern umschwärmt wurde, denen er feindliche Absichten zutraute, trat vor seine Hüttentür und hielt ihnen eine Ansprache. Er sagte, es sei jetzt Weihnachtszeit, und da pflegten alle Menschen sich gütlich zu tun, sie möchten schwarz oder weiß sein. Nun habe er aber viel Mehl, Rosinen und allerlei gute Dinge in der Vorratskammer, und er wolle ihnen einen Pudding machen, wie sie ihn ihr Lebtag noch nicht gekostet hätten, einen so großen Pudding, daß alle davon essen könnten, bis sie satt wären. Die Neger hörten auf seine Worte, und da war es um sie geschehen. Von dem Pudding bekam jeder sein Teil; aber am nächsten Morgen ging lautes Heulen und Wehklagen durch das Lager. Der Zucker war mit Arsenik vermischt gewesen.«

Eigentlich war der Squatter ganz in seinem Recht, verwerflich war nur die Methode. Seine Gesinnung unterschied sich in nichts von derjenigen, welche der zivilisierte Weiße gewöhnlich gegen den Neger hegte, aber die Anwendung des Gifts war ungebräuchlich. Darin lag auch meiner Meinung nach das hauptsächlichste Unrecht. Im übrigen scheint mir sein Verfahren besser, menschenfreundlicher, rascher und weniger unbarmherzig als manches andere, welches die Sitte geheiligt hat. Vor der Anwendung so ungewöhnlicher Mittel muß man sich hüten, weil sie die Einbildungskraft des Publikums auf krankhafte Weise beschäftigen. Sie machen den Eindruck nutzloser Grausamkeit und bringen unsere Zivilisation in Verruf, was bei den alten gewalttätigen Methoden nicht der Fall ist, weil sie längst hergebracht und also unschuldig sind. In vielen Ländern haben wir den Wilden angekettet und Hungers sterben lassen oder ihn am Marterpfahl verbrannt; wir haben die Schwarzen, samt Frauen und Kindern, mit Hunden durch Wälder und Sümpfe gehetzt, um uns ein Jagdvergnügen zu machen und haben uns totlachen wollen über ihre verzweifelten Sprünge, ihr Geschrei und ihr Flehen um Erbarmen. Wo wir konnten, haben wir dem Neger Grund und Boden genommen und ihn zu unserem Sklaven gemacht; wir haben ihm täglich die Peitsche gegeben, seinen Stolz gebrochen, ihn gezwungen zu arbeiten, bis er vor Erschöpfung zusammenbrach und den Tod als sein einziges Heil ansah. Wäre es da nicht im Vergleich eine wahre Wohltat gewesen, ihn rasch durch Gift zu töten? – Noch heute bleiben wir im Matabele-Land der vom Alter geheiligten Sitte treu, wir südafrikanischen Millionäre und englischen Herzöge – kein Mensch macht ein Aufhebens davon; wer möchte auch an den alten heiligen Bräuchen rütteln? Wir verlangen nur, daß keine neuen, aufregenden Methoden eingeführt werden, die unsere Gewissensruhe stören. Mrs. Praed sagt über den Giftmischer: »Dieser Squatter verdient, daß sein Name für alle Zeiten mit Abscheu von der Nachwelt genannt werde.«

Es tut mir leid, dies Urteil zu hören. Ich selbst habe, wie gesagt, nur das eine an dem Menschen auszusetzen, daß er eine neue Methode eingeführt hat, die geeignet ist, ein schlechtes Licht auf unsere Zivilisation zu werfen. Das hätte er bleiben lassen sollen. Im übrigen zeichnete sich dieser Squatter in mancher Beziehung vorteilhaft aus. Wenn er irrte, so war daran mehr sein Verstand schuld als sein Herz. Er ist fast der einzige Pionier unserer Zivilisation, von dem die Geschichte erzählt, daß er sich über die angeerbten Vorurteile seiner Kaste hinwegzusetzen vermochte und versucht hat, bei dem Verkehr der höher begabten Rasse mit dem Wilden menschliches Erbarmen walten zu lassen. Es ist zu beklagen, daß man seinen Namen nicht kennt, denn er verdient von der Nachwelt mit Preis und Verehrung genannt zu werden.

In einer Londoner Zeitung stand folgender Artikel zu lesen:

»Wenn wir wissen wollen, auf welche Weise Frankreich die Segnungen der Zivilisation in seinen auswärtigen Besitzungen verbreitet, so brauchen wir nur einen Blick nach Neu-Kaledonien zu werfen. Um freie Ansiedler zur Auswanderung nach dieser Strafkolonie zu bewegen, nahm M. Feillet, der Gouverneur, den Kanakas ihre besten Pflanzungen zwangsweise fort und gab ihnen dafür eine lächerliche Entschädigung, trotz des Einspruchs, den der Generalrat der Insel dagegen erhob. Wer sich entschloß, übers Meer zu fahren, um sich dort niederzulassen, wurde sofort Besitzer von zahlreichen Kaffee-, Kakao-, Bananen- und Brotfruchtbäumen, welche die armen Eingeborenen unter jahrelanger Mühe und Arbeit großgezogen hatten; diese selber aber behielten nichts, als ein paar Frankenstücke, die sie in den Branntweinschenken von Noumea vertrinken konnten.«

Was ist das anders als Beraubung, Unterdrückung und langsamer Mord durch Mangel und durch das Feuerwasser der Weißen? Der einzige edle, großmütige und selbstlose Freund, den der Neger je gehabt hat, war leider nicht zur Stelle, um ihm mit seinem vergifteten Pudding ein gnädiges, rasches Ende zu bereiten.

Es gibt wunderliche Dinge in der Welt; aber eins der lächerlichsten ist die Einbildung des weißen Mannes, daß er weniger barbarisch sei als die andern Wilden.

Die Australneger pflegen sich im allgemeinen nicht von der romantischen Seite zu zeigen, bis auf einzelne Ausnahmen. Mrs. Praed erwähnt ein solches Beispiel. Zur Zeit als die Weißen und Schwarzen einander im ganzen Lande verfolgten und umbrachten, reiste Mr. Murray, (der Vater von Mrs. Praed) mit Frau und Kindern und einigen schwarzen Dienern durch die Wildnis, um einer ihm befreundeten Familie beizustehen. Unterwegs rasteten sie in einer Gegend, wo ein gewisser Douga Billy, ein starker und berühmter schwarzer Krieger, häufig mit seinen Gefährten umherschweifte. Bald bemerkte man denn auch die Spuren eines Negerlagers in nächster Nähe.

»Es stand kein Mond am tiefblauen Himmel,« sagt Mrs. Praed, »nur die lieben Sterne leuchteten durch die Nacht – der Orion, das Unterste zu oberst gekehrt, der Skorpion, das Kreuz des Südens – und das Lagerfeuer erhellte einen dunkeln Fleck Erde, wo hohes Gras über alten Baumstämmen wucherte. Neben den mächtigen Gummibäumen nahmen sich die Grasbäume mit den langen Büscheln ganz gespensterhaft aus; wie müde Schildwachen hielten sie ihre braunen Speere in schräger Richtung. In das Summen der Insekten mischte sich das klägliche Geschrei der Nachtvögel und das Stampfen der Rosse. Mein Vater saß am Feuer, beschäftigt, sich eine Peitschenschnur zu flechten, als ich unsern Tombo heranschleichen sah.

»›Massa, ich glaube es lauern wilde Schwarze im Hinterhalt.‹

»Kaum hatte er das gesagt, als eine zweite dunkle Gestalt aus dem Schatten der Bäume herangeschlichen kam – ein Neger, der nur einen Gürtel trug, sonst war er unbekleidet und mit roter und blauer Farbe tätowiert und bemalt; am Halse hatte er Schnüre von Schilfperlen und auf seiner starken Brust hing ein Amulett aus Knochen. Er war mit Speer, Bumerang und Nulla-Nulla versehen, doch hielt er die Waffen nicht zum Angriff bereit. Es lag etwas Freimütiges und Furchtloses in seinem Wesen; offenbar hatte er weder nächtlichen Verrat noch sonst einen Mordplan im Sinne.

»Mein Vater blickte auf und sah den Schwarzen. Doch griff er nicht nach seiner Flinte, die in der Nähe des Platzes, wo er saß, an einem Baum lehnte. Nun entspann sich die folgende Unterhaltung:

»›Murray?‹

»›Ja.‹

»›Ich bin Donga Billy. Meine schwarzen Gefährten sagen, du bist böse auf mich.‹

»›Ja‹, wiederholte mein Vater mit unerschütterlicher Ruhe; dann erklärte er, Donga Billy habe häufig auf den Ansiedlungen, die er besuche, Aufruhr erregt und die Schwarzen veranlaßt, das Vieh mit Speerwürfen zu töten, deshalb werde er seine Gegenwart in Naraigin, wo er wohne, nicht dulden.

»›Gut!‹ lautete die Antwort. ›Ich fürchte mich nicht. Ich werde nach Naraigin kommen. Wenn du böse bist, wirst du eine Pistole nehmen und ich habe Speer, Nulla-Nulla und Bumerang. Wir wollen sehen, wer von uns am stärksten ist und den andern tötet.‹

»Als Donga Billy mit seiner Rede fertig war, richtete er sich stolz in die Höhe wie ein Held und wartete, ob die Herausforderung angenommen würde.

»›Ja. Ich verstehe. Aber gehe jetzt weg!‹

»›Gut; ich gehe!‹ und er entfernte sich.

»Es vergingen einige Wochen, dann trafen sich die beiden in der Schlacht. Donga Billy gehörte zu den wenigen Schwarzen, die sich ihrem Gegner im offenen Kampfe stellen. Dies war vielleicht die erste und letzte Gelegenheit im Leben des mutigen Eingeborenen, seine Waffen gegen die Verteidigungsmittel der Weißen zu erproben. Mein Vater erinnerte sich an jene Herausforderung und suchte ihn im Kampfe auf. Donga Billy trat ihm tapfer gegenüber und focht wie ein Mann. Meines Vaters Pferd ward vom Speer getroffen und er selbst mit dem Bumerang schwer verwundet; aber die Pistole behielt die Oberhand und Donga Billy ward zu seinen Vätern versammelt.«

Zweiundzwanzigstes Kapitel.

Zweiundzwanzigstes Kapitel.

Es gibt auf der Welt nichts so Unzuverlässiges wie unsere linke Hand, außer der Taschenuhr einer Dame.

Querkopf Wilsons Kalender.

Man merkt gleich, daß Mrs. Praed eine geborene Schriftstellerin ist: sie schildert die Dinge so, daß man sie leibhaftig vor sich sieht. Mit diesem Talent steht sie jedoch nicht allein; Australien ist reich an Verfassern, in deren Schriften sich die Geschichte des Landes und das Leben seiner Bewohner getreu widerspiegelt. Aus dem trefflichen Stoff, der sich ihnen in Fülle bot, haben Marcus Clarke, Ralph Baldrewood, Gordon, Kendall und andere, eine glänzende, lebenskräftige Literatur entwickelt, die ihren Platz dauernd behaupten wird. Wahrlich, an Stoff ist kein Mangel! Ueber die Ureinwohner allein könnte man eine ganze Büchersammlung schreiben, so bunt und mannigfaltig sind ihre Sitten und Charaktere, so ganz verschieden von allem Hergebrachten, das für uns den Reiz der Neuheit verloren hat. Man braucht die romantische Einkleidung nicht erst zu erfinden, sie bietet sich ganz von selber dar. In der Geschichte der Ureinwohner, welche die Weißen aufgezeichnet haben und in ihren Archiven bewahren, findet man alle Fehler und Tugenden wieder, die ein Menschenkind nur jemals besessen hat:

Der eingeborene Australier ist ein Feigling – das beweisen zahllose Beispiele; aber in tausend Fällen hat er auch große Tapferkeit an den Tag gelegt. Wie verräterisch er ist, läßt sich kaum mit Worten sagen; doch ist er auch treu, anhänglich und wahrhaftig, was durch manche edle, hochherzige Tat aufs rührendste und schönste bezeugt wird. Oft hat er den halb verhungerten Fremden, der ihn um Nahrung und Obdach bat, erbarmungslos umgebracht, dagegen aber auch einem verirrten Weißen bereitwillig Hilfe geleistet, der noch tags zuvor ohne jede Veranlassung auf ihn geschossen hatte, er hat ihn gespeist, getränkt und ihm den sicheren Weg gezeigt – auch dafür gibt es Beweise. Der Wilde entführt seine widerstrebende Braut mit Gewalt, wirbt mit Keulenschlägen um ihre Gunst und liebt sie dann treulich ihr Leben lang. Stirbt sie, so nimmt er auf gleiche Art eine andere Frau, mißhandelt sie täglich zur bloßen Kurzweil und gibt bei Gelegenheit sein Leben hin, um sie zu schützen, falls ihr von außen Gefahr droht. Er stellt sich hundert Feinden kühn entgegen, wenn es gilt, eines seiner Kinder zu retten, und tötet ein anderes Kind mit eigener Hand, weil er keine zu zahlreiche Familie haben will. Ihn ekelt vor mancherlei, womit der Weiße sich nährt; aber verdorbene Fische, gebratenes Hundefleisch, Katzen und Ratten ißt er gern, ja, er verspeist seinen eigenen Oheim mit besonderem Behagen. Er ist ein geselliges Geschöpf; doch wenn er seine Schwiegermutter vorbeigehen sieht, weicht er ihr aus und versteckt sich hinter seinen Schild. Vor Gespenstern und etwaigen Zufälligkeiten, die seine Seele gefährden könnten, hat er eine kindische Furcht; drohen ihm aber körperliche Schmerzen, so kennt er weder Schwäche noch Angst. Allen großen Sternbildern und selbst vielen kleinen hat der Australneger Namen gegeben. Er besitzt eine Zeichenschrift, durch welche er Botschaften an nahe oder ferne Stämme senden kann; auch hat er ein richtiges Auge für Form und Ausdruck und versteht ein gutes Bild zu zeichnen. Sein scharfer Blick erkennt die Spur eines Flüchtlings, wo der Weiße nichts zu sehen vermag, selbst der klügste Europäer begreift nicht, auf welche Weise er die Fährte entdeckt. Er hat ein Wurfgeschoß erfunden, das der Weiße lange Zeit vergebens gesucht hat nachzuahmen und über dessen geheimnisvolle Kraft sich die Mathematiker siebzig Jahre lang vergebens die Köpfe zerbrochen haben. Der Eingeborene verrichtet Wunder damit, die dem Weißen ein Rätsel bleiben, selbst wenn man ihm sagt, wie sie gemacht werden. Kurz, innerhalb gewisser Grenzen ist der Wilde so aufgeweckt und zeigt einen so scharfen Verstand, wie nur irgend ein Geschöpf Gottes, und doch ist der Aermste weder im stande gewesen, ein Zahlensystem auszudenken, das über fünf hinausgeht, noch ein Gefäß herzustellen, in dem man das Wasser zum Kochen bringen kann. Es gibt keine zweite Rasse auf Erden, die so merkwürdige Gegensätze in sich vereinigt; zwar ist sie so gut wie ausgestorben, aber ihre eigentümlichen Charakterzüge werden in Geschichte und Ueberlieferung unvergänglich fortleben.

Die folgenden Einzelheiten sind persönlichen Beobachtungen des Regierungsbeamten Philipp Chauncy entnommen, welche er in seinem Bericht über die Eingeborenen für das Archiv von Viktoria zusammengestellt hat. Er rühmt besonders die Schärfe und Genauigkeit ihres Blicks im Verfolgen der Richtung, die ein Wurfgeschoß nehmen wird, sowie die Geschmeidigkeit ihrer Glieder und die Schnelligkeit, mit der sie dem Wurf ausweichen. Von einem Wilden erzählt Chauncy, daß er eine halbe Stunde lang als Zielscheibe für geübte Cricketspieler gedient habe, welche versuchten, auf eine Entfernung von zehn bis fünfzehn Meter aus allen Kräften mit dem Ball nach ihm zu werfen. Er konnte sich nur mit dem Schilde decken oder durch eine plötzliche Seitenbewegung dem Wurf entgehen, der ihn, wenn er traf, womöglich getötet hätte; doch verließ er sich in aller Ruhe auf sein Auge und seine Behendigkeit.

Dabei ist noch zu bemerken, dass der Schild des Australnegers nicht breiter ist als ein Ofenrohr und etwa Armeslänge hat; der Weiße könnte sich unmöglich damit schützen. Und wenn ein Cricketball kunstgerecht geworfen wird, pflegt er plötzlich noch dicht vor dem Ziel die Richtung zu ändern, und geradeswegs darauf loszufliegen, statt darüber hinaus oder seitwärts, wie es den Anschein hatte. Ich selbst wäre nicht im stande, mich auch nur zehn Minuten lang gegen solche Würfe zu decken. Wir haben alle schon gesehen, wie ein Zirkusreiter vom Sprungbrett aus über acht nebeneinander stehende Pferde hinwegsetzt. Chauncy sah einen Wilden über elf Pferde springen, und man versicherte ihm, er spränge gelegentlich auch über vierzehn. Weit merkwürdiger ist aber noch folgendes Kunststück: Ein Eingeborener schoß vom Boden aus einen Purzelbaum in der Luft ohne die Hände zu gebrauchen und stülpte sich dabei einen Hut auf, den ein Reiter, welcher aufrecht zu Pferde saß, mit der Öffnung nach oben auf dem Kopfe trug – Roß und Reiter waren etwa mittelgroß. Den Hut auf dem Kopf landete der Wilde glücklich hinter dem Pferde. Die Höhe des Sprunges und die Sicherheit, mit welcher der Mann dabei genau in den Hut hineintraf, sind wahrhaft staunenswert. Nun weiß man doch auch, von wem das Känguruh seine Sprünge gelernt hat.

Sir George Grey und Mr. Eyre berichten, daß die Wilden im Sand vierzehn bis fünfzehn Fuß tiefe Brunnen gegraben haben, die zwei Fuß im Durchmesser hatten, ›ganz kreisrund waren und senkrecht in die Tiefe gingen‹. Wie haben sie das gemacht? – Sie hatten keine andern Werkzeuge als ihre Hände und Füße. Wie haben sie den Sand von unten aus dem Loch geworfen? Wie konnten sie sich in dem zwei Fuß großen Raum bücken, um ihn auszugraben? Wie schützten sie sich davor, in dem engen Schacht vom Sande verschüttet zu werden?

– Ich habe keine Ahnung davon. Es scheint ein Ding der Unmöglichkeit – und doch ist es geschehen – vielleicht haben sie den Sand verschluckt – wer weiß!

Chauncy spricht voll Bewunderung von der Geduld, der Geschicklichkeit und wachsamen Klugheit des Eingeborenen, wenn er auf die Jagd geht, um den Emu, das Känguruh oder irgend ein anderes Wild zu erlegen. Mit leichtem, geräuschlosem Tritt, kaum den Boden berührend, gleitet er durch den Busch; sein scharfes Auge erspäht jede Fährte, ein umgewandtes Blatt, ein geknickter Zweig, ein niedergetretener Grashalm fesselt seine Aufmerksamkeit. Ihm entgeht nichts, weder auf der Erde noch oben in den Bäumen, sei es nah oder fern, was ihm zur Nahrung dienen oder ihn vor drohender Gefahr warnen kann. Am Stamm eines Baumes, dessen Rinde die hinauf- und herunterkletternden Opossums über und über zerkratzt haben, vermag er ohne Schwierigkeit zu erkennen, ob eins der Tiere am Abend zuvor hinaufgestiegen ist, ohne wieder herunter zu kommen.

Das wäre etwas für unsern Fenimore Cooper gewesen! Er hätte diese Wilden zu schätzen gewußt und würde selbst den dümmsten von ihnen nicht für den schlausten Mohikaner eingetauscht haben, den er je erfunden hat.

Alle Wilden pflegen Gegenstände in Umrissen auf die Rinde der Bäume zu zeichnen, aber die Aehnlichkeit mit dem Vorbilde ist nicht groß und in den Gesichtern fehlt der Ausdruck. Nur der Australier hat es verstanden, Tiere zu zeichnen, die in Gestalt, Gang und Haltung richtig sind und voller Geist und Leben. Auch seine Bilder von Weißen und Eingeborenen sind nicht weniger gut; er kleidet die Weißen sogar – Herren wie Damen – nach der neuesten Mode. Kein ungelehrter Naturmensch hat wohl je den Stift mit so großem Geschick geführt wie diese Wilden.

Man wird zugeben müssen, daß sie eine hohe Stelle unter den Zeichenkünstlern einnehmen, wenn man alle Umstände in Betracht zieht. Ich würde dem Eingeborenen seinen Platz etwa zwischen Botticelli und Du Maurier anweisen. Das heißt, er zeichnet nicht so gut wie Du Maurier, aber besser als Botticelli. Im Ausdruck sowohl als auch in Bezug auf die Anordnung der Gruppen und sein Lieblingsthema, erinnert er an beide. Seine ›Kriegstänze‹ aus der australischen Wildnis finden ihr Gegenstück in Du Mauriers vornehmen Londoner Ballsälen; nur sind die Tanzenden dort von der Kultur beleckt und haben Kleider an. In Botticellis ›Frühling‹ ist das Gegenstück zwar noch idealisierter, trägt aber weniger Kleider und ziert sich um so mehr. Die Absicht der Künstler mag gut sein, aber – das ist auch alles!

Der Wilde versteht – wie bekannt – Feuer zu machen, indem er zwei Holzstücke aneinander reibt. Das ist keine Kleinigkeit – ich habe es selbst versucht und spreche aus Erfahrung.

Wieviel körperlichen Schmerz der Eingeborene ertragen kann, ist kaum zu glauben. Henry Wollaston aus Melbourne, der Wundarzt war, ehe er Prediger wurde, erzählt davon wahrhaft nervenerschütternde Einzelheiten, mit denen ich den Leser jedoch verschonen will.

Nun werde ich mich wohl endlich von den Wilden losreißen müssen, was ich höchst ungern tue, denn sie haben für mich eine ganz außergewöhnliche Anziehung. Seit einem Vierteljahrhundert hat ihnen die Regierung in allen Kolonien Stationen angewiesen, wo die Ueberlebenden behaglich untergebracht, gut genährt und auf jede Weise versorgt werden. Hätte ich das nur gewußt als ich in Australien war, so würde ich mir die Leute angesehen haben. Ich ginge jetzt gern dreißig Meilen weit zu Fuß, wenn ich auch nur einen einzigen ausgestopften Wilden zu Gesicht bekommen könnte.

Dreiundzwanzigstes Kapitel

Dreiundzwanzigstes Kapitel

Deinen Anzug magst du meinetwegen vernachlässigen, doch im Herzen muß alles sauber sein.

Querkopf Wilsons Kalender.

Als wir nach längerem Aufenthalt Adelaide verließen, war unser nächstes Ziel Horsham in der Kolonie Viktoria, eine ziemlich weite, aber nicht unangenehme Reise. Das friedliche Landstädtchen liegt in einer vollkommen flachen Gegend, wie wir sie in australischen Büchern so oft beschrieben finden: während der kurzen Dürre ist sie grau, kahl, düster, trübselig, der Boden rissig und versengt, und der erste Regen verwandelt sie in ein endloses, wogendes Meer von grünem Gras. Horsham sieht freundlich und einladend aus mit seinen hübschen Häusern und den Garten voller Blumen und Gebüschen.

Aus dem Tagebuch. Horsham 17. Oktober. – Wundervolles Wetter. Dem Hotelfenster gegenüber, vor der Londoner Bank von Australien prangt eine schöne kanadische Pappel im herrlichsten Frühlingsgrün; jedes einzelne Blatt ist deutlich erkennbar, man meint ordentlich es wachsen zu sehen. Am Ufer entlang und im hintern Teil des Gartens stehen hohe, vielästige Bäume mit zartem, gefiedertem Laub, das jeder Windhauch bewegt und auf deren üppigem Grün die Streiflichter in wechselnden Farben spielen und funkeln gleich Opalen. Auf meine Frage erfuhr ich, es seien Pfefferbäume, die aus China stammen; sie haben einen weichen Seidenglanz und einige tragen lange Büschel mit roten Trauben wie Johannisbeeren, die sich unter den Blättern verbergen. In der Entfernung sieht der Baum dadurch bei gewisser Beleuchtung aus, als sei er in Rosenfarbe getaucht, was seine Schönheit noch erhöht.

Acht Meilen von Horsham ist eine landwirtschaftliche Schule, die wir besichtigen wollten. Der Vorsteher fuhr uns im offenen Wagen um die Mittagszeit dorthin; die Luft war ganz still, der Himmel wolkenlos und strahlender Sonnenschein – 92° F. im Schatten. In anderen Ländern würde eine solche anderthalbstündige Fahrt ohne Schutz und Schirm die grenzenloseste Erschöpfung zur Folge haben; aber hier, in diesem köstlichen Klima, ist davon keine Rede. Man fühlte die Hitze gar nicht; ja, die Luft war überhaupt nicht heiß, sondern herrlich rein und frisch. Hätte die Fahrt auch den halben Tag lang gedauert, wir würden kein Unbehagen empfunden haben oder matt und schläfrig geworden sein. Nur aus der ungewöhnlichen Trockenheit der Atmosphäre, welche in jener Ebene herrscht, läßt es sich erklären, daß 112° im Schatten dem Menschen dort nicht beschwerlicher sind als eine Temperatur von 80° oder 90° in New York.

Unterwegs sahen wir die gewöhnlichen australischen Vögel – hübsche kleine grüne Papageien, Elstern und andere; auch den schlanken, einheimischen Vogel mit dem dunkeln Gefieder und dem Namen, den ich nie behalten kann; ich weiß nur, daß er mit einem M. anfängt. Er ist der schlauste von allen Vögeln und plappert geläufiger als ein Dutzend Papageien.

Die Elster war überall auf Feldern und Zäunen in Menge zu sehen. Dieser schöne große Vogel hat schneeweiße Flecken und eine tiefe, volltönende Singstimme. Früher soll er bescheiden und schüchtern gewesen sein, aber seit er entdeckt hat, daß er der einzige Sänger von Australien ist, fehlt es ihm nicht an Selbstbewußtsein. Eine zahme Elster zu haben ist ein großes Vergnügen, denn sie besitzt alle Eigenschaften des verzogenen Lieblings – sie ist klug, mutwillig, unverschämt, kommt nie, wenn man sie ruft, ist immer da, wo man sie nicht braucht und übt sich mit großem Eifer im Ungehorsam. Man hält sie nicht im Käfig, sondern läßt sie sich frei im Garten und Haus herumtreiben, gleich dem Lachvogel. Ob sie sprechen kann weiß ich nicht, aber sie lernt verschiedene Melodien singen und das Stehlen braucht man sie nicht erst zu lehren. In Melbourne machte ich die Bekanntschaft einer zahmen Elster, die seit mehreren Jahren bei einer Dame wohnte und der Meinung war, das Haus gehöre ihr. Die Dame hatte sie abgerichtet und mußte nun alles tun, was die Elster wollte. Der Vogel setzte seinen Willen stets durch; sobald man seine Gegenwart nicht wünschte, kam er zum Vorschein, er tyrannisierte den Hund und quälte die Katze schier zu Tode. Er konnte viele Melodien und sang sie alle hinter einander ganz richtig und im Takt, aber nur wenn er still sein sollte; forderte man ihn auf zu singen, so war er verhindert und ging seiner Wege.

Lange war man der Meinung gewesen, daß in der dürren, wasserlosen Umgegend von Horsham keine Obstbäume gedeihen könnten, aber die landwirtschaftliche Schule hat den Gegenbeweis geliefert. Man zieht Apfelsinen, Aprikosen, Zitronen, Mandeln, Pfirsiche, Kirschen, achtundzwanzig verschiedene Apfelsorten, kurz alle möglichen Früchte in reichster Fülle. Die Bäume schienen das Wasser nicht zu entbehren; sie sahen sehr kräftig und wohlerhalten aus. Auch stellte man dort Versuche an, um zu sehen, in welchem Erdboden dies oder jenes Gewächs am besten gedeiht, und welches Klima ihm am meisten zusagt. Die Landwirte kommen aus allen Gegenden Australiens herbei und holen sich in der Schule guten Rat, wie sie ihr Land am vorteilhaftesten anbauen und den größten Ertrag erzielen können.

Außer einigen Landwirten, welche die Anstalt besuchen, um sich gründlicher auszubilden, kommen die meisten Zöglinge – es waren ihrer vierzig – als gänzliche Neulinge aus den Städten. Mir schien es sonderbar, daß junge Leute, die in der Stadt aufgewachsen sind, Lust haben sollten, eine landwirtschaftliche Schule zu besuchen, aber die Tatsache steht fest. Es sind sogar sehr tüchtige Schüler, die in geistiger Beziehung über dem Durchschnittsstandpunkt der ländlichen Bevölkerung stehen; sie bringen keine ererbten Vorurteile mit und hängen nicht an uralten, törichten Mißbräuchen, die durch lange Gewohnheit geheiligt sind.

An drei Tagen in der Woche arbeiten die Zöglinge von morgens bis abends auf dem Felde, in der Baumschule und bei der Schafschur, um die praktische Seite ihres Berufs zu erlernen. Die andern drei Tage studieren sie und hören Vorlesungen über Chemie und ähnliche Wissenschaften, die für die Landwirtschaft unentbehrlich sind. Wir sahen die Schüler der zweiten Klasse bei der Schafschur ein Dutzend Schafe scheren. Es geschah mit der Hand, nicht mit Maschinen. Das Schaf wurde ergriffen, hingeworfen, festgehalten, und die Schüler nehmen ihm rasch und geschickt seine Wolle ab. Manchmal schnitten sie freilich auch ein Stückchen vom Schaf mit fort, aber das tun alle Schafscherer ohne Gewissensbisse. Sie machen sogar noch weniger Aufhebens davon als das Schaf selbst, schmieren rasch eine Salbe auf die Stelle und fahren in ihrem Geschäft fort.

Das Vließ der Tiere war ganz unglaublich dick. Ehe das Schaf geschoren ist, sieht es aus wie die dicke Frau im Zirkus, nachher gleicht es einer hölzernen Bank. Die Wolle war bis auf die Haut glatt und gleichmäßig abgeschnitten, sie kommt in einem Stück herunter und läßt sich ausbreiten wie eine Decke.

Von Horsham fuhren wir mit der Bahn nach Stawell, das gleichfalls in der Kolonie Viktoria liegt; in der Umgegend sind reiche Goldbergwerke. Auf der Bank bewahrt man ein Fünflitermaß, das mit reinem, glänzendem Goldstaub und Goldsand gefüllt ist, im Kassenschrank; es war ein angenehmes Gefühl, ihn durch die Finger gleiten zu lassen, vielleicht würde es noch angenehmer gewesen sein, wäre er daran kleben geblieben. Auch ein paar Goldklumpen waren da, die sich nicht leicht heben ließen. Sie hatten einen Wert von 7500 Dollars das Stück und kamen aus einem ergiebigen Quarzbergwerk, von welchem zwei Drittel einer Dame gehören. Ihr Einkommen belauft sich monatlich auf 75 000 Dollars; damit läßt sich der Haushalt schon bestreiten.

In der Nähe von Stawell gibt es nicht nur Gold, sondern auch ausgedehnte Weinberge, die ein treffliches Gewächs liefern. Am berühmtesten ist der Musterweinberg des Herrn Irving, dessen vorzüglicher Champagner und köstlicher Rotwein auch im Anstände beliebt sind. Für Weißwein hat er vor zwei oder drei Jahren in Frankreich einen Preis erhalten. Der Champagner wird in einem in den Felsen gesprengten, unterirdischen Labyrinth aufbewahrt, um ihm während der dreijährigen Lagerzeit, deren er zu seiner völligen Reife bedarf, eine stets gleichmäßige Temperatur zu sichern. Ich habe in jenen Gewölben 120 000 Flaschen Champagner liegen sehen. Man sagt, daß die Bevölkerung der Kolonie Viktoria, die sich auf eine Million beläuft, jährlich 25 000 000 Flaschen Champagner trinkt. Das müssen einmal durstige Kehlen sein! – Kürzlich hat die Regierung den Einfuhrzoll auf fremde Weine heruntergesetzt. Solche Härten bringt der Schutzzoll mit sich. Wenn ein Mann, im Vertrauen auf die bestehenden Gesetze, jahrelange Arbeit und große Summen Geldes auf ein tüchtiges Unternehmen verwendet hat, wird eines schönen Tages das Gesetz zu seinem Schaden umgeändert, und die eigene Regierung raubt dem Unternehmer seinen rechtmäßigen Gewinn.

Auf unserm Rückweg nach Stawell sahen wir die ›drei Schwestern‹, eine merkwürdige Gruppe von Felsblöcken, die auf einer Hochebene liegen, welche sich allmählich abdacht. Weit und breit ist kein Berg zu sehen, von dem sie sich hätten loslösen können, vielleicht hat sie das Gletschereis vor Urzeiten hergeführt. Es sind ganz ansehnliche Felsstücke. Das eine ist so groß, glatt und ausgebaucht wie ein Riesenballon in Kugelgestalt.

Die Straße führte durch einen Wald von großen, ausgetrockneten Gummibäumen, die sehr trübselig dreinschauten; der Boden war gelblichweiß, vermutlich eine Art Lehmerde. Von Zeit zu Zeit begegneten wir großen Lastwagen, die von einer langen, doppelten Reihe Ochsen gezogen wurden; sie fahren oft zweihundert Meilen weit, wie man mir sagt, und tun den Eisenbahnen großen Abbruch, welche Eigentum der Regierung sind und auf Staatskosten betrieben werden.

Die traurigen Gummibäume im gelben Lehmboden können als Sinnbild der Geduld und Ergebung dienen. Zur Not behilft sich der Baum auch ohne Wasser, doch hat er eine wahrhaft leidenschaftliche Begierde danach. Auf eine Entfernung von fünfzig Fuß merkt der kluge Gummibaum, wo Wasser im Boden verborgen ist, und sendet seine langen, dünnen Wurzelfasern auf die Suche aus. Die finden es richtig und wissen ihm beizukommen, wäre es auch durch eine sechs Zoll dicke Zementmauer. In Stawell nahm eines Tages die Wassermenge einer Zementröhrenleitung bedeutend ab und versiegte zuletzt ganz. Als man die Sache untersuchte, ergab sich, daß das Rohr verstopft war; man fand es ganz angefüllt mit einer undurchdringlichen Masse zarter, haarfeiner Wurzelfasern. Zuerst konnte man sich gar nicht erklären, wie der Faserstoff in das Rohr gekommen sei, bis man einen fast unsichtbaren Ritz entdeckte, durch den die Wurzeln sich Einlaß verschafft hatten. Ein Gummibaum, dessen Standort vierzig Fuß entfernt war, hatte das Rohr angezapft und seither das Wasser getrunken.

In Australien bekommt der Reisende oft höchst ungewöhnliche Wolkenbildungen zu Gesicht. So erging es uns auf dem Wege nach Ballarat, weshalb wir bei dieser Reise mehr vom Himmel als von der Erde sahen. Anfänglich war das ganze hohe Gewölbe mit winzigen, blendend weißen Wölkchen bedeckt; sie hatten alle dieselbe Form, waren an den Enden ausgefasert und durch gleiche Zwischenräume von einander getrennt, wo das wundervolle Blau durchschimmerte. Es sah aus, als würden zahllose Schneeflocken vom Sturmwind über den Himmel gejagt; allmählich flossen die Flocken ineinander, es bildeten sich lange Streifen und dazwischen mattfarbige Höhlungen, die sich in scheinbarer Wellenbewegung fortwälzten, wie eine mächtig wogende See. Dann wurden die Streifen immer dichter und teilten sich schließlich in unzählige, hohe weiße Säulen von gleicher Größe, die sich quer über den Himmelsraum perspektivisch aufstellten, so daß sie einen ungeheuren Säulengang zu bilden schienen – ohne Zweifel eine Luftspiegelung, die aus den feinen Toren des Jenseits zurückgeworfen wurde.

Ehe man Ballarat erreicht, kommt man durch große dünne Strecken hügligen Weidelands; hier und da weilt das Auge mit innigem Vergnügen auf den goldgelben und dunkelgelben Ginsterhecken – und auf dem reizenden See. Der Gedankenstrich ist mit Fleiß eingefügt, um den Leser aufzurütteln, damit er ja nicht vorübergeht ohne den See zu beachten. Das wäre ein großer Verlust, denn die australische Eisenbahn führt zwar häufig an trockenem Land, aber nur äußerst selten an einem schönen See vorbei. Zweiundneunzig Grad im Schatten und dabei frische, balsamische, köstliche Luft – ein ganz herrliches Klima!

Vor sechsundvierzig Jahren war die Stelle, wo das heutige Ballarat liegt, eine paradiesisch schöne Waldeinsamkeit. Keiner hatte je etwas davon gehört. Aber am 25. August 1851 wurde in Australien hier zum erstenmal eine größere Menge Gold entdeckt. Die wandernden Erzschürfer, die es fanden, gewannen gleich am ersten Tage dritthalb Pfund Gold im Wert von 600 Dollars. Schon nach ein paar Tagen wimmelte es dort wie in einem Bienenstock – eine Stadt war entstanden. Die Nachricht von dem Goldfund hatte sich mit Blitzesschnelle nach allen Enden der Welt verbreitet. So urplötzlich ist vielleicht nie zuvor ein Ort zu allgemeiner Berühmtheit gelangt. Es war, als sei der Name Ballarat mit Riesenbuchstaben an den Himmel geschrieben worden, wo alle Welt ihn gleichzeitig lesen konnte.

Schon auf die Nachricht von den kleineren Goldfunden, die man drei Monate früher in Australien gemacht hatte, waren Scharen von Auswanderern nach Neusüdwales aufgebrochen; jetzt strömten ganze Fluten herbei. In einem einzigen Monat kamen hunderttausend Menschen aus England in Melbourne an und überschwemmten die Bergwerke. Die Mannschaft der Schiffe, die sie herübergebracht hatten, zog mit ihnen, dann folgten die Angestellten aus den Regierungsbureaus, die Köche, Dienstmädchen, Kutscher, Kammerdiener und das übrige Hausgesinde; desgleichen die Zimmerleute, Klempner, Buchdrucker, Berichterstatter, Verleger, Anwälte, Klienten, Schenkwirte, Bummler, Schwindler, Gauner, Dirnen, Krämer, Metzger, Bäcker, Doktoren, Apotheker und Wärterinnen; auch die Polizei ging mit, und sogar hohe Beamte gaben ihre vielbeneideten, angesehenen Stellungen auf, um sich dem Zuge anzuschließen. Die lawinenartig wachsende Menge stürmte aus Melbourne hinaus und ließ die Stadt verödet zurück. Es herrschte eine Sabbatstille, alles war gelähmt und zum Stillstand gebracht; die Schiffe lagen müßig vor Anker, jedes Leben schien erstorben, nur Wolkenschatten huschten noch über die leeren Straßen.

Bald war die paradiesische Waldeinsamkeit in Ballarat zerstört: der Boden aufgerissen, zerkratzt, durchwühlt und ausgeplündert in der fieberhaften Gier nach den verborgenen Schätzen. Eine himmlische Gegend zu Schanden zu machen, ihr alle Anmut, Schönheit und Fruchtbarkeit zu rauben, und sie in eine Stätte des Grauens und Entsetzens umzuwandeln, versteht wohl niemand besser als die Goldgräber.

Was für Reichtümer wurden aber auch gewonnen! Während der Zeit, die man brauchte, um das Schiff zu entladen und neu zu befrachten, hatten die Auswanderer schon ihr Glück gemacht und konnten mit Schätzen beladen in derselben Kajüte auf immer heimkehren, in der sie arm übers Meer gekommen waren. Das heißt nicht alle – aber doch manche. Die Zurückgebliebenen – soweit sie Zeit und Tod noch verschont und ihre unstäte Wanderlust sie nicht fortgetrieben hatte – habe ich selbst fünfundvierzig Jahre später in Ballarat gesehen. Einst waren sie jung und lustig gewesen, jetzt sind sie altersgrau und ernsthaft. Nichts bringt sie mehr in Aufregung; sie reden von früheren Tagen und leben in der Vergangenheit, in Rückerinnerungen; die Gegenwart ist für sie nur ein Traum.

In Ballarat kam das Gold häufig in Klumpen vor; man fand dort größere als in Kalifornien, ja die größten in der ganzen Welt. Zwei solcher Goldklumpen hatten zusammen einen Wert von 90 000 Dollars und wogen jeder etwa 180 Pfund. Man bot sie dem ersten besten Armen zum Geschenk an, wenn er sie auf seine Schultern laden und forttragen könne. So freigebig hatte der Ueberfluß an Gold die Leute bereits gemacht.

Zuerst war Ballarat eine Zeltstadt und es wimmelte darin wie in einem Ameisenhaufen. Alle Welt war zufrieden und auch anscheinend glücklich. Doch das dauerte nicht lange. Die Regierung forderte plötzlich eine Grubensteuer und zwar eine der schlimmsten Art, denn nicht von dem, was der Goldgräber gefunden hatte, sollte er die Abgabe zahlen, sondern von dem, was er möglicherweise finden könnte. Es war eine Konzessionssteuer, und wer sie nicht bezahlt hatte, durfte nicht anfangen auf seiner Parzelle zu graben.

Machen wir uns einmal klar, was das heißen will: Kein anderes Geschäft auf Erden ist so unsicher wie das Goldgraben. Die Parzelle kann gut sein, aber auch völlig wertlos; sie macht ihren Eigentümer vielleicht in einem Monat zum wohlhabenden Mann, aber er kann auch ein halbes Jahr im Schweiße seines Angesichts arbeiten und Zeit und Kraft vergeuden, weil das zu Tage geförderte Gold nicht die Kosten deckt. Es wäre gar kein übler Plan, wenn die Regierung dem Bergmann monatlich eine Summe vorschießen wollte, um ihm Lust zu machen, die Schätze der Erde auszugraben; aber ihn monatlich im voraus zu besteuern, an so etwas hätte man in Amerika auch nicht im Traum gedacht. Dort wurde weder für die Parzelle selbst, noch für den Ertrag, mochte er groß oder klein sein, irgend welche Abgabe bezahlt.

Die Goldgräber von Ballarat sandten Proteste, Klagen, Bittschriften ein – alles umsonst. Die Regierung beharrte auf ihrem Willen; sie fuhr fort die Steuer zu erheben und zwar unter Gewaltmaßregeln, die jeden freien Menschen aufs äußerste erbittern mußten. Da zog sich ein grollendes Gewitter zusammen und der Ausbruch des Sturms ließ nicht lange auf sich warten.

Es war nur eine kleine Revolution, aber politisch von großer Bedeutung – ein Kampf um die Freiheit, eine Auflehnung gegen Willkürherrschaft und Bedrückung, wie ihn die englischen Barone einst gegen König Johann geführt, wie er bei Concord und Lexington ausgefochten worden. Dies neue Beispiel einer verlorenen Schlacht, durch die der Sieg gewonnen wurde, ist zugleich das schönste, ruhmreichste Blatt in der Geschichte Australiens – das Volk weiß es und ist stolz darauf. Das Andenken der Männer, die auf den Schanzen von Eureka gefallen sind, wird treulich bewahrt, und Peter Lalor, ihrem Führer, hat man ein Denkmal errichtet.

Die oberen Bodenschichten bei Ballarat waren durch und durch voll Gold; sie wurden umgegraben, zerwühlt, durchpflügt, zerkrümelt und ihres kostbaren Schatzes beraubt. Dann ging man tiefer in die Erde hinein, bis zu dem Kiesbett der alten Bäche und Flüsse; man folgte ihrem Lauf, grub den Kies aus, förderte ihn eimerweise durch den Schacht zu Tage, wo er ausgewaschen wurde und einen reichen Goldertrag lieferte. Einige der größten Goldklumpen fand man in einem alten Flußbett, 180 Fuß unter der Erde.

Zuletzt kamen die Quarzgänge an die Reihe. Das ist keine Arbeit für mittellose Leute. Quarzbau und Pochwerke erfordern große Ausdauer, Geduld und Kapitalien. Es bildeten sich bedeutende Aktiengesellschaften und mehrere Jahrzehnte lang sind die Gruben jetzt mit Erfolg ausgebeutet worden und haben reiche Schätze geliefert. Seit 1853 hat man aus den Goldbergwerken von Ballarat, alles in allem, Gold im Wert von über dreihundert Millionen Dollars gewonnen. Also hat dieser kleine, auf der Erdkarte kaum erkennbare Fleck, in vierundvierzig Jahren etwa ein Viertel von dem Ertrag gehabt, den ganz Kalifornien in siebenundvierzig Jahren lieferte. Die Summe, welche von 1848 bis 1895 incl. aus Kalifornien bezogen wurde, beträgt nach statistischen Angaben aus der Münze der Vereinigten Staaten 1 265 217 217 Dollars.

Ballarat ist jetzt eine Stadt von kaum 40 000 Einwohnern. Da es aber in Australien liegt, besitzt es alle Einrichtungen und Vorzüge der modernsten Kultur, was sich ganz von selbst versteht. Ich sollte wohl endlich aufhören, diese Tatsache immer wieder zu erwähnen, aber es wird mir schwer, weil es mich stets von neuem überrascht. So will ich denn nur noch berichten, daß die kleine Stadt einen Park von 326 Morgen Flächeninhalt besitzt und einen Blumengarten, der 83 Morgen groß, mit den kostbarsten Farnkrautanlagen und ungewöhnlich schönen Statuen geschmückt ist. Besonders bemerkenswert ist auch der künstliche See, mit einer Ausdehnung von 600 Morgen, auf dem eine kleine Flotte von Kähnen, Segelbooten und kleinen Vergnügungsdampfern schwimmt.

Vierundzwanzigstes Kapitel.

Vierundzwanzigstes Kapitel.

Klassisch nennt man Bücher, welche viel gelobt werden, die aber kein Mensch liest.

Querkopf Wilsons Kalender.

Wieder auf der Eisenbahn – die Fahrt geht nach Bendigo.

Aus dem Tagebuch: 23. Oktober. Um sechs Uhr aufgestanden; Abfahrt 7.30; bald kamen wir nach Castlemaine, einem der ältesten und ergiebigsten Goldfelder, wo wir bis 3.40 auf den Zug warten mußten, der uns dann in einer Stunde nach Bendigo brachte. Mein Reisegefährte, ein katholischer Priester, war ein weit besserer Mensch als ich, was er jedoch nicht zu wissen schien; man mußte in lieb haben, weil er so reich an Gemüt, Geist und Herz war. Er wird noch zu hohen Ehren kommen, wird Bischof, Erzbischof und Kardinal werden. Und zuletzt hoffentlich ein Erzengel. Dann wird er sich einmal in der Ewigkeit meiner erinnern, wenn ich zu ihm sage: »Wissen Sie noch, wie wir mit einander von Ballarat nach Bendigo gefahren sind – damals, als Sie nur der einfache Pater C. waren und ich nichts im Vergleich zu dem, was ich jetzt bin?«

Die Fahrt nach Bendigo hat wirklich volle neun Stunden in Anspruch genommen. Wir würden sieben Stunden erspart haben, wären wir zu Fuß gegangen. Aber wir hatten ja keine Eile.

Auch in der Gegend von Bendigo wurden einige der ersten großen Goldlager entdeckt. Jetzt ist dort der Quarzbau in starkem Betrieb, ein Geschäft, das mehr Verstand, Ruhe und Ausdauer erfordert als alle andern, die ich kenne. Der Ort ist voll himmelhoher Schornsteine und Fördermaschinen; er sieht aus wie eine Petroleumstadt. Nur ein Beispiel, wieviel Geduld man braucht: Eine dortige Gesellschaft hat die Tiefbohrungen und das Schürfen elf Jahre lang ununterbrochen fortgesetzt, ohne eine Spur von Gold zu finden oder auch nur einen Pfennig Ersatz zu bekommen – dann stieß sie plötzlich auf eine Goldader und wurde steinreich. Die elfjährige Arbeit hatte 55 000 Dollars gekostet und der erste Fund war ein Goldkorn, so groß wie ein Stecknadelknopf. Man verwahrt es als ungeheure Kostbarkeit hinter Schloß und Riegel; der Fremde darf es nur mit abgezogenem Hut in ehrfurchtsvoller Scheu betrachten. Als man es mir zeigte, kannte ich seine Geschichte noch nicht. »Es ist Gold,« ward mir gesagt; »betrachten Sie es genau mit dem Vergrößerungsglas. Wieviel glauben Sie wohl, daß es wert ist?«

»Etwa zwei Cents, sollte ich meinen, oder vier englische Heller,« war meine Antwort.

»Hm. Es hat elftausend Pfund gekostet.«

»Sie spaßen wohl?«

»Durchaus nicht. Ballarat und Bendigo haben die drei berühmtesten Goldklumpen der Welt geliefert und dies hier ist der merkwürdigste. Die beiden andern haben jeder einen Wert von 9000 Pfund, aber dieser kostet noch ein paar Tausend mehr. Er ist klein und unansehnlich, trägt jedoch seinen Namen mit Recht. Er heißt Adam, weil er das erste Goldkorn der Grube war, und Adams Kinder zählen nach Millionen.«

Jawohl, Geduld ist vonnöten. In einem andern Bergwerk wurde siebzehn Jahre lang mit großen Unkosten gearbeitet, bis der Erfolg die Mühe belohnte, und bei einem dritten mußte man sogar einundzwanzig Jahre auf den Ertrag warten. In beiden Fällen ersetzten sich dann die Auslagen innerhalb eines Jahres mit Zinseszins.

Bendigo hat noch mehr Schätze geerntet als Ballarat. Beide zusammengenommen haben etwa Gold im Werte von 650 000 000 Dollars geliefert – halb so viel als Kalifornien.

Daß mein Aufenthalt in Bendigo sich so angenehm und interessant gestaltete, war hauptsächlich das Verdienst eines gewissen Herrn Blank. Er machte mir das selber klar, indem er versicherte, er habe bewirkt, daß die Stadt für mich das Fest im Rathaus veranstaltete, bei dem mir zu Ehren so viele Reden gehalten wurden, die ich dankend erwidern durfte; auf seine Veranlassung hin habe man mit mir die schöne Spazierfahrt durch die Stadt gemacht, um mir alle Sehenswürdigkeiten zu zeigen; seinem Einfluß sei es zuzuschreiben, daß ich Gelegenheit erhielt, die großen Bergwerke zu besichtigen und das Hospital, wo der kranke Chinese lag, der acht Wochen zuvor um Mitternacht in seiner einsamen Hütte von Räubern überfallen, durch sechsundvierzig Dolchstöße verwundet und dann skalpiert worden war. Als ich an sein Bett trat, saß der jammervoll zusammengeflickte und bepflasterte Unglückliche da, und tat, als ob er eins meiner Bücher läse – auch das war eine Veranstaltung des Herrn Blank. Außerdem hatte er sich nach Kräften bemüht, mir bei dem katholischen Erzbischof von Bendigo eine Einladung zur Tafel auszuwirken und den anglikanischen Bischof zu bewegen, eine Abendgesellschaft für mich zu geben. Seinem Einfluß war es auch zu verdanken, daß der Chef aller Zeitungsredakteure mit mir in die umliegenden Wälder fuhr, wo sich uns von einem Berggipfel der herrlichste Ausblick über weite Täler und bewaldete Höhen bot, den ich in ganz Australien genossen habe. Als mich Blank zuletzt fragte, was mir in Bendigo den größten Eindruck gemacht hätte und ich erwiderte, es sei der gemeinnützige Geist und gute Geschmack der Einwohner, der sie bewogen habe, die Straßen hundertfünf Meilen lang mit schattigen Bäumen zu bepflanzen – da teilte er mir mit, daß dies auf seine Veranlassung geschehen wäre.

Aber, ich stelle Blank vielleicht in ein falsches Licht. Er hat gar nicht gesagt, ich hätte das alles seinem Einfluß zuzuschreiben – das wäre ja unhöflich gewesen. Er hat es nur durch die Blume zu verstehen gegeben, in leisen Andeutungen, so daß ich es von ferne ahnen konnte, wie man den Wohlgeruch spürt, von dem die Luft erfüllt ist, wenn man im Sommer durch die Felder geht. Es lag auch in seinen Andeutungen keine Spur von Prahlerei und Selbstbewußtsein, nichts was man hätte übel nehmen können – aber doch gab er es zu verstehen.

Blank war ein Irländer, ein gebildeter, ernsthafter Mann, höflich und freundlich in seinem Benehmen, unverheiratet und dem Ansehen nach 45, höchstens 50 Jahre alt. Er suchte mich im Hotel auf und da hatten wir die oben erwähnte Unterhaltung, bei der er mich gleich für sich einzunehmen wußte, ohne daß es ihm irgend welche Mühe kostete. Teils gefiel er mir um seines angenehmen, zuvorkommenden Wesens willen, teils wegen der fabelhaften Vertrautheit mit meinen Werken, welche er im Laufe des Gesprächs verriet. Er kannte sogar die allerneusten, und ihr Inhalt war ihm so geläufig, als hätte er sie sein Lebenlang Wort für Wort studiert. Das schmeichelte mir ungemein; noch nie war ich so zufrieden mit mir selbst gewesen. Offenbar besaß der Mann einen ungewöhnlichen Sinn für Humor, doch merkte man seinem Gesichtsausdruck nichts davon an, er blieb immer ernsthaft und verzog keine Miene. Mich aber brachte er die ganze Zeit über zum Lachen – was recht anstrengend war und zugleich ein großes Vergnügen – denn alle Witze, die er zum Besten gab, stammten aus meinen eigenen Büchern.

Beim Fortgehen wandte er sich an der Tür noch einmal um.

»Sie haben sich meiner wohl nicht mehr erinnert?« fragte er.

»Ich? – Nein, wieso? Sind wir einander schon früher begegnet?«

»Das nicht, aber wir haben Briefe gewechselt.«

»Briefe?«

»Ja, vor vielen Jahren; es können zwölf oder fünfzehn Jahre sein – vielleicht noch mehr. Aber natürlich –« er schwieg gedankenvoll und fuhr dann fort: »An Schloß Corrigan werden Sie sich aber jedenfalls erinnern?«

Nein, der Name kam mir ganz unbekannt vor. Einen Augenblick blieb Blank mit der Klinke in der Hand zögernd stehen, dann sagte er, ich hätte mich früher einmal für Schloß Corrigan interessiert; er würde gern mit mir heute abend bei einem Glase heißen Grogs gemütlich darüber plaudern, wenn ich ihn besuchen wollte. Da ich zum Mäßigkeitsverein gehöre und mich freue einmal eine Ausnahme zu machen, nahm ich die Einladung an.

Als meine Vorlesung um halb elf Uhr aus war, fuhren wir zusammen nach seiner Wohnung, die sehr hübsch und geschmackvoll eingerichtet ist und glänzend erleuchtet war. Gute Bilder hingen an den Wänden; auf dem Kaminsims, in Nischen und Ecken standen allerlei indische und japanische Vasen und sonstige Zierate; Bücher sah man, wohin man blickte – größtenteils meine Werke, was mich mit Stolz erfüllte. Ich lehnte mich behaglich in die weichen Kissen des Armstuhls zurück und zündete mir eine Zigarre an. Als der Grog gebraut war, schob mir Blank einen Briefbogen hin und fragte:

»Kennen Sie das?«

Und ob ich es kannte! Das Papier trug ein verschlungenes Monogramm in Gold, Rot und Blau, wie es vor Jahren in England Mode gewesen, und darunter stand in saubern, gotischen Buchstaben mit blauer Druckschrift:

Mark Twain-Klub
Schloß Corrigan
den …… 187..

»Merkwürdig!« sagte ich. »Wie kommt das in Ihre Hände?«

»Ich war Präsident des Klubs.«

»Nicht möglich! Sie –«

»Jawohl, der erste Präsident. Alljährlich wurde ich wieder gewählt, solange die Versammlungen in meinem Schloß – Corrigan – stattfanden, fünf Jahre lang.«

Nun zeigte er mir ein Album mit dreiundzwanzig Photographien meiner Person. Fünf davon waren älteren Datums, die übrigen aus späteren Jahren; das letzte Bild der Sammlung war erst vor einem Monat bei Falk in Sydney gemacht.

»Die fünf ersten haben Sie uns geschickt; die übrigen sind gekauft.«

Ich fühlte mich wie im Paradiese. Bis spät in die Nacht hinein saßen wir beisammen und plauderten ohne Ende über den Mark Twain-Klub vom Corrigan-Schloß in Irland.

Die erste Kenntnis von diesem Klub hatte ich vor etwa zwanzig Jahren durch einen verbindlichen Brief auf einem Bogen von der oben beschriebenen Sorte erhalten, dessen Unterschrift lautete: »Im Auftrag des Präsidenten. – C. Pembroke, Sekretär.« Mir wurde darin gemeldet, der Klub sei mir zu Ehren gegründet worden und man hoffe, ich werde gegen diesen Beweis der Anerkennung, die man meiner schriftstellerischen Tätigkeit zolle, nichts einzuwenden haben.

Natürlich sandte ich den gebührendsten Dank und gab mir dabei große Mühe, meine innere Genugtuung nicht allzusehr durchblicken zu lassen.

Nun begann ein langer Briefwechsel. Mir wurden die Namen der zweiunddreißig Mitglieder und die Liste des Vorstands: Präsident, Vizepräsident, Sekretär, Schatzmeister u. s. w. zugeschickt, sowie der Plan für die Zusammenkünfte, nebst einer Abschrift der Statuten und anderweitigen Bestimmungen. Einmal monatlich sollten Artikel über meine Werke verlesen werden und allgemeine, zwanglose Besprechungen stattfinden; alle Vierteljahre aber eine Geschäftsverhandlung mit darauffolgendem Abendessen und Tischreden gehalten werden. Die Zuschrift machte mir große Freude, da sie bewies, mit wieviel Eifer und Interesse die Mitglieder bei der Sache waren. Zum Schluß bat man um meine Photographie und ich ging sofort hin, ließ mein Bild machen und schickte es – natürlich mit einem Briefe.

Zunächst erhielt ich das Abzeichen des Klubs, ein wahres kleines Kunstwerk in seiner Art. Auf einem vergoldeten Untergestell erhob sich ein malerisches Gewirr von Grashalmen und Binsen, daraus schaute ein emaillierter Frosch hervor, der eine goldene Nadel auf dem Rücken trug. Fiel das Licht seitwärts darauf, so sah man, daß die zarten Binsenstengel sich zu einem Monogramm verschlangen – es war das meinige! – Dies kostbare kleine Ding machte mir ein förmlich kindisches Vergnügen, und ich konnte mich gar nicht satt daran sehen.

Der Klub hielt nun regelmäßige Sitzungen und der Sekretär versah mich mit reichlicher Beschäftigung für alle meine Mußestunden. Er erstattete mir ausführlichen Bericht über die Besprechungen meiner Bücher im Klub. Meistens teilte er sie nur in geistvollen Auszügen mit, was ihm vortrefflich gelang, war aber eine Rede ungewöhnlich interessant, so stenographierte er sie und schrieb die schönsten Stellen wörtlich für mich auf. Letzteres tat er besonders bei den fünf besten Rednern, deren Stil und Ausdrucksweise ebenso verschiedenartig wie charakteristisch war. Im Laufe der Zeit ward ich mit den Eigentümlichkeiten dieser fünf Herren so genau vertraut, daß ich über die Person des jedesmaligen Redners nie den geringsten Zweifel hegte.

Die Berichte wurden mir monatlich eingeschickt, auf großen Foliobogen; fünfundzwanzig engbeschriebene Seiten, von denen jede etwa sechshundert Wörter enthielt. Eine Riesenarbeit! Das Schriftstück zu lesen war trotz seiner Länge sehr unterhaltend, aber es kam unglücklicherweise nicht allein, sondern war von einer ganzen Liste von Fragen über die Bedeutung einzelner Stellen und Aussprüche in meinen Büchern begleitet, auf die der Klub Antwort zu haben wünschte. Jedes Vierteljahr trafen auch noch die Aufzeichnungen des Schatzmeisters, des Komites und des Revisors ein, sowie der Schlußbericht des Präsidenten. Ueber sämtliche Zuschriften sollte ich meine Meinung abgeben und auch sonst zum Besten des Klubs allen möglichen guten Rat erteilen.

Mit der Zeit bekam ich ein wahres Grauen vor diesen Sendungen, das mehr und mehr zunahm, bis mich schon im voraus ein kalter Schauer überlief, wenn ich nur daran dachte. Denn ich bin von Natur ein träger Mensch und Briefschreiben ist mir ein Greuel. Sobald die Schriftstücke ankamen, mußte ich aber, – um meiner eigenen Gemütsruhe willen – alles stehen und liegen lassen, mußte mich hinsetzen und mir den Kopf zerbrechen, bis ich die Antwort glücklich zu stande gebracht hatte. Im ersten Jahr ging es noch ziemlich gut, aber in den vier folgenden Jahren war der Mark Twain-Klub vom Corrigan-Schloß meine Qual, mein Schreckgespenst, der Fluch und das Elend meines Lebens. Auch bekam ich einen förmlichen Abscheu davor, mich ewig photographieren zu lassen. Fünf Jahre war ich regelmäßig zum Photographieren gegangen, in der Hoffnung, den unersättlichen Klub endlich zufrieden zu stellen, da riß mir der Geduldfaden. Ich empörte mich gegen den unerträglichen Druck, raffte alle meine Kraft zusammen, zerbrach die Ketten und war wieder ein freier, glücklicher Mensch. Von jenem Tage an verbrannte ich die dicken Briefe des Sekretärs sofort nach ihrer Ankunft, und mit der Zeit blieben sie ganz aus.

Als wir nun an jenem Abend in Bendigo gesellig beisammen sahen, bekannte ich diese ganze Geschichte ohne jeglichen Rückhalt, und Blank antwortete mir mit derselben Offenheit. Zuerst schickte er ein Wort der Entschuldigung voraus und gestand dann freimütig: er sei der Mark Twain-Klub, und es gebe außer ihm gar keine Mitglieder.

Eigentlich hatte ich mich darüber schrecklich erbosen sollen, aber mir war gar nicht zornig zu Mute. Blank sagte, er habe nie nötig gehabt, sein Brot selber zu verdienen, und als er dreißig Jahre alt gewesen sei, hätte sich der größte Lebensüberdruß seiner bemächtigt. Das Dasein erschien ihm als Last und Plage, jedes Interesse war für ihn erloschen. Er war der Verzweiflung nahe und trug sich mit Selbstmordgedanken. Da kam ihm plötzlich der Einfall, einen Phantasie-Klub zu gründen, und er machte sich voller Eifer und Hingebung ans Werk. Die Tätigkeit beglückte ihn und sie wuchs zusehends unter seinen Händen; immer schwieriger und verwickelter wurden die Geschäfte, die ihm anfänglich so einfach erschienen. Jede Vergrößerung seines ursprünglichen Planes, die er sich ausdachte, vermehrte seine Freude und verschaffte ihm neue Interessen. Er machte selbst den Entwurf zu dem Abzeichen des Klubs, änderte und besserte tagelang daran und bestellte es endlich in London. Nur das eine Exemplar für mich wurde gemacht, der ›übrige Klub‹ mußte sich ohne Abzeichen behelfen.

Die zweiunddreißig Mitglieder und ihre Namen, die fünf besten Redner und ihr verschiedenartiger Stil, waren lauter Erfindungen von ihm, ihre Reden und die Berichte darüber verfaßte er selbst. Wenn es nach ihm gegangen wäre, und ich nicht die Flinte ins Korn geworfen hätte, würde er den Klub bis auf den heutigen Tag fortgeführt haben. An jedem einzelnen Bericht hatte er wochenlang im Schweiße seines Angesichts zu arbeiten. Die Beschäftigung freute ihn, sie machte ihm das Leben wieder lieb, und er empfand es als einen schweren Schlag, daß er den Klub eingehen lassen mußte. Auch das Schloß Corrigan lag weder in Irland noch sonstwo – er hatte es gleichfalls erfunden.

Eine wunderbare Geschichte von Anfang bis zu Ende! Mir war ein so mühsam ausgeklügelter, lustiger und arbeitsreicher Spaß noch nie vorgekommen. Alles in allem war er wirklich gar nicht so übel; ich hörte Blank ordentlich mit Vergnügen zu, als er ihn mir erzählte, und doch habe ich mein Lebtag, so lange ich denken kann, einen wahren Abscheu vor derartigen Scherzen gehabt.

Zuletzt sagte er noch:

»Erinnern Sie sich wohl an einen Brief, der vor etwa fünfzehn Jahren aus Melbourne bei Ihnen ankam und über Ihre Vorlesungstour in Australien, Ihren Tod und Ihr Begräbnis berichtete? – Ein Schreiben von Henry Bascom, dem Besitzer von Bascom Hall in Upper Holywell?«

»Jawohl.«

»Den Brief habe ich verfaßt.«

»Was sagen Sie!?!«

»Ja, ich habe es getan; warum weiß ich nicht. Der Gedanke fuhr mir plötzlich durch den Kopf, und ich führte ihn ohne weitere Ueberlegung aus. Es war sehr unrecht und hätte großen Schaden anrichten können; ich habe es oft bereut und bitte Sie um Verzeihung. Bascom hatte mich auf seiner Reise um die Welt mitgenommen, er sprach oft von Ihnen und wie angenehm ihm Ihre Besuche auf seiner Besitzung gewesen waren. Da kam ich einmal in Melbourne auf den Einfall; ich ahmte seine Hand nach und schrieb den Brief.«

So ward mir denn nach vielen, vielen Jahren auch dieses Geheimnis aufgeklärt.

Fünfundzwanzigstes Kapitel.

Fünfundzwanzigstes Kapitel.

Es gibt Menschen, die im stande sind die edelsten Taten zu vollbringen; nur eines ist ihnen unmöglich, sie können es nicht unterlassen, Unglücklichen von ihrem Glück zu erzählen.

Querkopf Wilsons Kalender.

Nachdem wir noch Maryborough und einige andere australische Städte besucht hatten, schifften wir uns nach Neuseeland ein. Wenn es nicht den Anschein hätte, als wollte ich mich mit meiner Weisheit brüsten, so würde ich dem Leser sagen, wo Neuseeland liegt. Aber es geht ihm gewiß, wie es mir erging: er glaubt, daß er es schon weiß. Im allgemeinen ist man nämlich der Ansicht, daß Neuseeland irgendwo dicht bei Australien oder Asien liegt und man auf einer Brücke hinübergehen kann – aber das verhält sich nicht so. Neuseeland liegt nirgends dicht am Lande, sondern ganz für sich. Am nächsten ist es noch an Australien, aber doch durchaus nicht nahe, sondern zwölf bis dreizehnhundert Meilen entfernt, und eine Brücke gibt es nicht. Ich weiß das alles von einem Professor der Yale-Universität, den ich kurz vor meiner Reise nach dem Stillen Ozean auf einem Eriedampfer traf. Um mit ihm ins Gespräch zu kommen, brachte ich die Rede auf Neuseeland, in der Meinung, er werde nach einigen allgemeinen Bemerkungen dies Thema fallen lassen und von andern, ihm geläufigeren Dingen sprechen. War nur erst einmal das Eis gebrochen, so konnten wir Bekanntschaft machen und uns angenehm unterhalten. Zu meiner Ueberraschung setzte ihn jedoch meine Frage keineswegs in Verlegenheit, er schien sie vielmehr mit Freuden zu begrüßen. Fließend, ohne Anstoß, frei und zuversichtlich sprach er über den Gegenstand, während ich ihm mit Staunen und stets wachsender Bewunderung zuhörte, denn ich sah, daß er nicht nur wußte, wo Neuseeland lag, sondern auch dessen Geschichte, Politik, Religionen und Handelsverkehr bis ins einzelne kannte, und in der Flora, Fauna und Geologie, den Erzeugnissen und klimatischen Verhältnissen der Insel genau bewandert war. Als er geendet hatte, starrte ich ihn wie verzaubert an und sagte mir: der Mann weiß alles; im Reiche menschlicher Erkenntnis herrscht er als König.

Da ich begierig war, ihn noch mehr Wunder verrichten zu sehen, stellte ich ihm nun andere verfängliche Fragen, aber da erging er sich in Gemeinplätzen und kam nicht vom Fleck. Sobald man Neuseeland nicht aufs Tapet brachte, glich er dem seines Haupthaars beraubten Simson und war schwach, wie andere Menschen auch. Dies Rätsel ging mir so sehr im Kopf herum, daß ich alle Scheu überwand und ihn geradezu bat, es mir zu erklären.

Zuerst machte er Ausflüchte, dann meinte er lachend, es verlohne sich nicht der Mühe, die Sache in Dunkel zu hüllen, er wolle mir das Geheimnis anvertrauen, und erzählte folgende Geschichte:

»Letzten Herbst saß ich eines Morgens daheim bei der Arbeit, als eine Visitenkarte mit einem mir fremden Namen hereingebracht wurde; darunter stand eine Zeile, welche besagte, daß der unbekannte Besucher ein Professor der Theologie an der Wellington-Universität in Neuseeland war. Das setzte mich in große Verlegenheit, wegen der Kürze der Frist. Denn nach der Satzung unserer Hochschule mußte er von einem Mitglied der Fakultät zu Tische gebeten werden und zwar noch für den nämlichen Tag; die Einladung auf einen der folgenden zu verschieben wäre ein Verstoß gegen die herrschende Sitte gewesen. Diese verlangt außerdem, daß wenn ein fremder Gast zugegen ist, das Tischgespräch mit einem schmeichelhaften Hinweis auf sein Land, dessen große Männer, gelehrte Anstalten, Verdienste um den Kulturfortschritt und dergleichen eingeleitet wird. Dafür ist natürlich der Wirt verantwortlich; er muß entweder jene Bemerkungen selber machen oder Sorge tragen, daß ein anderer es tut. Meine Not war groß; je mehr ich mein Gedächtnis befragte, um so ängstlicher war mir zu Mute. Denn ich wußte ja gar nichts von Neuseeland, außer allenfalls wo es lag, nämlich irgendwo dicht bei Australien oder Asien, so daß man auf einer Brücke hinübergehen kann. Aber vielleicht war selbst das nicht richtig und jedenfalls genügte es nicht für das Tischgespräch. Es mußte ja der ganzen Fakultät zur Schande gereichen, wenn ich, ein Professor der ersten Universität Amerikas, eine so grobe Unwissenheit verriet; natürlich würde der Gast es weiter erzählen und sich über mich lustig machen.

»Mich überlief es heiß bei dem Gedanken. Ganz aufgeregt ging ich zu meiner Frau, sagte ihr alles und bat sie mir beizustehen, worauf sie vorschlug, sie wolle den Besuch einstweilen empfangen und sagen, ich sei ausgegangen, werde aber sogleich wiederkommen. Inzwischen solle ich zur Hintertür hinausschlüpfen und Professor Lawson ankündigen, daß er den Fremden zu Tische bitten müsse. Lawson wisse ja alles und könne gewiß die Ehre der Universität retten. Ich folgte ihrem Rat, ward aber schwer enttäuscht. Lawson – dies schrecklich gelehrte Haus – wußte nichts von Neuseeland, als daß es irgendwo dicht bei Australien oder Asien läge und man auf einer Brücke hinübergehen könne. Also war ihm alle seine Gelehrsamkeit nichts nütze, sie ließ ihn im Stich, wo er sie am nötigsten brauchte.

»Was war zu tun? Der Ruf der Universität stand auf dem Spiel; wir mußten die andern Mitglieder der Fakultät zu Hilfe holen. Vielleicht wußte doch einer von ihnen mehr über Neuseeland als wir. Zuerst riefen wir den Professor der Astronomie ans Telephon; er erwiderte, daß er nur wisse, Neuseeland läge irgendwo dicht bei Australien oder Asien und man ginge –

»Wir machten ›Schluß‹ und riefen den Professor der Biologie, welcher sagte, es sei dicht bei Aust – Abermals Schluß! – Nein, das ging nicht an, wir mußten einen andern Plan ausdenken. Lange überlegten wir hin und her und trafen endlich folgende Entscheidung: Das Mittagessen sollte bei Lawson stattfinden, und die Fakultät sofort per Telephon benachrichtigt werden, daß sie sich vorbereiten und fleißig studieren müsse, um nach acht und einer halben Stunde, wenn wir zu Tische kämen, so genau über Neuseeland unterrichtet zu sein, daß wir vor dem Gast nicht zu erröten brauchten. Um als gebildete Leute zu erscheinen, mußten wir über Bevölkerungszahl, Politik, Regierungsform, Handel, Steuern und Produkte des Landes Bescheid wissen, mußten seine alte und neue Geschichte kennen, nebst den verschiedenen Religionen, Gesetzen, klimatischen Verhältnissen, den Quellen, aus welchen sein Einkommen floß und dergleichen mehr; kurz wir mußten die Karten und das Konversationslexikon in- und auswendig lernen. Während wir uns so das Nötigste einpaukten, sollten die Damen der Fakultät nach einander, wie von ungefähr, zu meiner Frau herüber kommen und ihr beistehen, den Neuseeländer festzuhalten, damit er ja nicht ins Freie gelangen und uns bei unsern Studien stören könnte.

»Der Plan glückte vollkommen, aber er brachte alles zum Stillstand – die ganze Kulturarbeit der Universität geriet plötzlich ins Stocken. Die Annalen von Yale werden noch künftigen Geschlechtern von dem denkwürdigen Feiertage erzählen, an welchem die Räder des Fortschritts plötzlich gehemmt wurden und eine Sabbatstille eintrat, während die Fakultät sich gebührend vorbereitete, um mit Ehren in Gegenwart des Professors der Theologie aus Neuseeland bei Tische sitzen zu können.

»Als die Essensstunde kam, waren wir alle entsetzlich matt und müde, aber wohl unterrichtet, das muß ich sagen. Unsere Kenntnisse waren geradezu erstaunlich, und man konnte sich nicht genug wundern, wie natürlich und ungezwungen sie uns von den Lippen flossen. Neuseeland bildete ein völlig unerschöpfliches Thema der Unterhaltung.

»Auf einmal bemerkte jemand, daß unser Gast ganz verblüfft und stumm dasaß, und wir waren sogleich eifrig bemüht, ihn in die Unterhaltung zu ziehen. Da tat er den Mund auf und sprach uns in beredten Worten eine so ehrliche, aufrichtige Bewunderung aus, daß die Fakultät davor erröten mußte. Er sagte, er fühle sich unwürdig in der Gesellschaft solcher Männer zu sitzen – vor Staunen habe er geschwiegen, aber auch vor Scham über seine Unwissenheit. ›Achtzehn Jahre lebe ich schon in Neuseeland,‹ fuhr er fort, ›seit fünf Jahren bin ich Professor; ich sollte das Land und seine Einrichtungen genau kennen und weiß doch so gut wie nichts davon. Zu meiner Schande muß ich gestehen, daß ich in diesen zwei Stunden bei Tische hundertmal mehr über Neuseeland erfahren habe, als je zuvor in der ganzen langen Zeit. Darum, bitte, meine Herren, lassen Sie mich schweigend zuhören und fahren Sie mit diesem Gespräch fort, bei dem ich Ihnen wenigstens folgen kann. Wenn Sie irgend ein anderes Thema wählen, um Ihre Gelehrsamkeit zu entfalten, würde ich mir ja ganz wie verraten und verkauft vorkommen. Wer über ein so kleines, unbedeutendes Stückchen Erde wie Neuseeland so genaue und umfassende Kenntnis besitzt, was mag der erst alles von andern Dingen wissen!‹« –

Sechsundzwanzigstes Kapitel.

Sechsundzwanzigstes Kapitel.

Die allgemeine Menschenliebe ist unser köstlichstes Gut – aber, wie selten ist es auch!

Querkopf Wilsons Kalender.

Aus dem Tagebuch. 1. November.

Wir fahren zwischen Tasmanien, dem früheren Vandiemensland, und den benachbarten Inseln hindurch. Von diesen Inseln aus haben die armen verbannten Wilden weinend nach ihrem verlorenen Heimatland hinübergeblickt, und vor Sehnsucht ist ihnen das Herz gebrochen. Mich freut es, daß die Vertilgung der eingeborenen Rassen jetzt ein Ende hat, da fast alle so gut wie ausgestorben sind. Von den Ureinwohnern Tasmaniens lebt wenigstens kein einziger mehr.

James Bonwick sagt in der Einleitung seines Buches über die ›verschwundene tasmanische Rasse‹:

»Die Eingeborenen Tasmaniens glaubten, sie seien allein auf der Welt. Ihre Haut war dunkel, ihre Augen glänzend; große Zähne, ein starker Unterkiefer, wolliges Haar, ein gekräuselter Bart, eine platte Nase, ein Leib voller Narben, wohlgeformte Füße und kleine Hände zeichneten sie aus. Die zerstreuten Stämme leben von der Jagd, den Ackerbau kannten sie nicht. Um Feuer zu machen, rieben sie zwei Holzstücke aneinander und brieten das Fleisch in der Asche. Sie besaßen weder Haus, noch Kochgerät, noch Kleidung außer rohen Tierfellen, hatten keine festen Wohnsitze und brauchten auch keine.

»Aber, trotzdem sie auf der tiefsten Stufe der Barbarei standen, waren sie weder einfältig noch unglücklich. In ihrer tausendjährigen Abgeschlossenheit hatten sie sich nicht über den rohesten Zustand erhoben, doch waren sie Menschen und konnten denken und fühlen.

»Sie hatten wenig leibliche, noch weniger seelische Bedürfnisse, dienten keinen Götzen und kannten keine Form der Gottesverehrung; nur das wilde, schauerliche Getöse von Sturm und Gewitter erfüllte sie mit unbestimmter Furcht. Ganz der Erde angehörig, Kinder an Verständnis, ohne höheres Streben, zufrieden mit der Nahrung und Freude, die ihnen der Tag brachte, lebten sie sorglos dahin, wie ihre Väter vor ihnen.

»Da landete eine andere Rasse auf der Insel, die auch das springende Känguruh verfolgte. Der Eingeborene sah einen Menschen gleich ihm, aber weiß von Haut, welcher Kleider trug und mit dem Donner bewaffnet war, den er aus dem Himmel entwendet hatte. In jene Täler und Wälder, wo sich die farbige Rasse solange unbekümmert ihres Lebens gefreut hatte, brachte der fremde Eindringling Mißtrauen und Arglist. Mit einem Schlage war alles verwandelt und ein neuer Himmel wölbte sich über den Menschenkindern.«

Die englische Flagge wurde aufgehißt und, wie in Sydney, eine Verbrecherkolonie gegründet. Zwar hatte die Regierung strengen Befehl erteilt, daß die Weißen den Eingeborenen freundlich begegnen und sie in ihrer Lebensweise nicht stören sollten, aber schon im Jahre 1804 kam es zu einem blutigen Zusammenstoß. Bei einer Känguruhjagd stürmten etwa vierhundert Eingeborene mit Frauen und Kindern den Berg hinunter; den englischen Soldaten war die Art der Wilden neu; in der Meinung, das bedeute einen kriegerischen Ueberfall, feuerten sie auf die harmlosen Leute und töteten ihrer fünfzig. Die Gegenwart der Frauen und Kinder war der sicherste Beweis friedlicher Gesinnung, aber das wußten die Soldaten nicht.

Von da ab scheiterten alle Bemühungen, das Vertrauen der Eingeborenen wieder zu gewinnen, und sie nährten einen unversöhnlichen Haß gegen die Weißen. Kein Wunder, denn sie kamen fast nur mit dem Auswurf derselben in Berührung: mit entflohenen Verbrechern, die als sogenannte Buschranger in den Wäldern hausten und vor keiner Schandtat zurückbebten und mit andern Bösewichten, meist früheren Deportierten, die auf einsamen Stationen als Diener der Weißen zerstreut in der Wildnis Tasmaniens wohnten, oft mit den Schwarzen in Streit gerieten und sie niederschossen.

Natürlich übten die Wilden Wiedervergeltung an allen Weißen, die in ihre Hände fielen, und der Kampf der Rassen ward Jahrzehnte lang auf beiden Seiten mit großer Grausamkeit fortgesetzt, wie sehr auch die Regierung bemüht war, eine Versöhnung herbeizuführen und die Eingeborenen zu schonen. Diese waren nicht zahlreich, aber wachsam, schlau und behende; sie kannten jeden Schlupfwinkel in ihrem Lande und es glückte ihnen trotz ihrer geringen Anzahl lange Zeit Widerstand zu leisten, so daß sie vielen Weißen Tod und Verderben brachten.

Die Regierung ergriff die verschiedensten Maßregeln, um womöglich die gänzliche Ausrottung der Eingeborenen zu verhindern: Sie wollte diese auf eine benachbarte Insel schaffen lassen und bot für jeden lebendig eingelieferten Schwarzen fünf Pfund als Prämie. Einen Wilden zu fangen ist aber kein leichtes Werk, und bei den Streifzügen der Weißen wurde meist, um einen Gefangenen zu machen, ein halbes Dutzend getötet. Das lag nun nicht in den Absichten der Regierung und man schritt daher zu einem andern Versuch: die Schwarzen wurden alle nach einem Ende der Insel getrieben und man zog zur Abwehr eine Truppenkette quer durch das Land, Auch das half wenig, denn die Eingeborenen brachen unaufhörlich durch und fuhren fort zu sengen und zu morden.

Nun erließ der Gouverneur eine gedruckte Proklamation, welche den Schwarzen befahl, die öde Gegend, die man ihnen angewiesen hatte, nicht zu verlassen! Aber das nützte nichts, weil keiner sie zu lesen verstand. Es folgte nun eine Proklamation in Bilderschrift, die auf Bretter gemalt und im Walde angenagelt wurde. Ich füge hier einen photographischen Abdruck derselben bei.

Ihre Bedeutung war im wesentlichen folgende:

  1. Der Gouverneur wünscht, daß Schwarze und Weiße einander lieben sollen.
  2. Er liebt seine farbigen Untertanen.
  3. Wenn ein Schwarzer einen Weißen tötet, wird er gehängt.
  4. Wenn ein Weißer einen Schwarzen tötet, wird er gehängt.

Die Ausführung ihrer mancherlei Pläne kostete der Regierung etwa 30 000 Pfund; mehrere Tausend Weiße strengten jahrelang alle Kraft und allen Scharfsinn an, um den gewünschten Zweck zu erreichen – aber, es war ein erfolgloses Bemühen. Endlich, nachdem die Feindseligkeiten zwischen beiden Rassen ein Vierteljahrhundert gedauert hatten, wurde der rechte Mann gefunden. Dies war Georg August Robinson, den die Geschichte ›den Versöhner‹ nennt. Er war zwar weder ein gebildeter noch ein angesehener Mann, sondern lebte als gewöhnlicher Maurer in der Stadt Hobart, doch muß er eine ganz wunderbare Persönlichkeit gewesen sein. Ich wäre gern weit gereist, um ihn einmal zu Gesicht zu bekommen, denn mag es auch irgendwo seinesgleichen in der Weltgeschichte gegeben haben, so ist mir doch davon nichts bekannt.

Die Aufgabe, die er sich stellte, war ein unerhörtes Wagestück. Er wollte in die Wildnis hinausgehen, wo sich die zu Tode gehetzten Eingeborenen, die kein Erbarmen kannten, in Sümpfen und Bergschluchten versteckten; unbewaffnet wollte er unter sie treten und sie durch Liebe und Güte bewegen, das wilde freie Leben in der Heimat, das ihrem Herzen so teuer war, aufzugeben und ihm zu den verhaßten Weißen zu folgen. Unter ihrem Schutz und Schirm und von ihren Wohltaten lebend, sollten die Eingeborenen dann den Rest ihres Daseins verbringen.

Auf den ersten Blick glaubte man es mit dem Hirngespinst eines Wahnsinnigen zu tun zu haben; alle Welt lachte und spottete darüber. Zwanzig Jahre früher hatte auch die Regierung gelacht, aber jetzt lieh sie dem Plan ihr Ohr; alle vernünftigen Maßregeln waren umsonst erschöpft worden, weshalb sollte man es nicht einmal mit einer unvernünftigen versuchen? Es konnte viel Gutes daraus entstehen und nichts Schlimmes – außer für den ›Versöhner‹ selbst.

Die Lage der Dinge war einzig in ihrer Art, etwas Aehnliches hatte die Welt noch nicht erlebt. Die weiße Bevölkerung belief sich im Jahre 1831 auf vierzigtausend, die Zahl der Eingeborenen betrug dreihundert, Weiber und Kinder mit eingeschlossen. Die Weißen waren mit Flinten bewaffnet, die Schwarzen mit Keule und Speer. So hatten sie einander seit fünfundzwanzig Jahren befehdet, ohne daß die Weißen den Sieg davontrugen, obwohl sie kein Mittel unversucht ließen, um die Eingeborenen zu fangen, zu töten und zur Unterwerfung zu zwingen. Die dreihundert unüberwindlichen Wilden wollten nicht nachgeben, keine Bedingungen annehmen und sich bis zum letzten Blutstropfen verteidigen. Dabei war nicht einmal ein Dichter unter ihnen, der ihren Heldenmut neu entfachen und ihre beispiellose Vaterlandsliebe in feurigen Gesängen preisen konnte!

Nach einem Vierteljahrhundert erbitterten Kampfes trotzten die überlebenden dreihundert nackten Wilden dem Gouverneur und seinen 40 000 noch ungebrochenen Mutes. Man wußte sich weder Rat noch Hilfe.

Da ging der Maurer Robinson – jener Wundermann – in die Wildnis hinaus, ohne Waffen und ohne Schutz, nur der Macht seiner Rede, seiner treuen Augen und seines menschenfreundlichen Herzens vertrauend. Er spürte die grimmigen Wilden in ihren Schlupfwinkeln auf, folgte ihnen in die dunkeln Wälder und auf die beschneiten Berggipfel und bezwang sie durch die Menschenliebe, die in ihm wohnte und mit überzeugender Gewalt aus seinem Wort und Wesen sprach. Vier Jahre lang ging er geduldig jeder einzelnen Gruppe der Schwarzen nach über Berg und Tal, viele hundert Meilen weit. Kam er zuerst in ihre Nähe, so stürmten sie auf ihn zu, um ihn zu töten, aber er wich und wankte nie, unbewaffnet stand er vor ihnen und zwang sie ihn anzuhören. Aber alle, die seine Rede vernahmen, warfen ihre Speere weg und zogen mit ihm.

In vier Jahren hatte er die Eingeborenen sämtlich herbeigebracht, ohne einen Tropfen Blut zu vergießen; freiwillig waren sie ihm gefolgt, hatten sich dem Gouverneur als Gefangene ergeben und dem Krieg ein Ende gemacht, der seit dem Jahre 1804 von vielen Tausenden mit Pulver und Blei vergebens geführt worden war.

Marsyas, der einst wilde Tiere durch den Zauber seiner Musik gezähmt haben soll, gehört ins Fabelreich; aber das Wunder, das Robinson vollbracht hat, ist eine geschichtlich beglaubigte Tatsache, die uns mit Staunen und Ehrfurcht erfüllt. Weder das Altertum noch die Neuzeit hat etwas aufzuweisen, das sich ihr an die Seite stellen ließe. Und zum Andenken des größten Mannes, den Australien und Ozeanien je hervorgebracht, ist dem ›Versöhner‹ Georg August Robinson von der dankbaren Nachwelt ein stattliches Denkmal errichtet worden, das in – – ach nein, ich bin im Irrtum – es ist das Denkmal eines andern Mannes, dessen Namen ich vergessen habe.

Robinsons eigene Zeitgenossen haben es jedoch nicht an Ehrenbezeigungen für ihn fehlen lassen und sich dadurch selbst geehrt. Die Regierung belohnte ihn mit einer großen Summe und verlieh ihm tausend Morgen Land; das Volk aber hielt Massenversammlungen, um seine Tat zu verherrlichen und es ward ihm, zum Zeichen der allgemeinen Hochachtung, ein reiches Geldgeschenk übergeben.

Uebrigens hatte Robinson sein großes Unternehmen nicht unbedachtsam begonnen; er war kein törichter Schwärmer, der sich blindlings in Todesgefahr stürzt. Vor allem verlangte er, daß die Feindseligkeiten seitens der Weißen gänzlich eingestellt würden, solange er sein Friedenswerk betrieb. Für das Gelingen derselben verließ er sich vor allem auf seine jahrlange genaue Kenntnis des Charakters der Eingeborenen, die er als menschliche Wesen betrachtete und nicht als wilde Bestien, wie es die Leute taten, die seinen Plan verspotteten. Auch ging er nur ungern allein; aber, obgleich hohe Summen geboten wurden, fand sich kein Weißer, der ihm unbewaffnet in die Wildnis folgen wollte, nur mehrere Eingeborene beiderlei Geschlechts, die sich den Weißen unterworfen hatten, ließen sich überreden, ihn zu begleiten, trotzdem sie einem beinahe sichern Untergang entgegengingen. Ein Beweis, wie groß sein Einfluß auf die Gemüter war.

Wenn wir bedenken, welchen Gefahren Robinson und seine schwarzen Führer trotzen mußten, so erfüllt uns die größte Bewunderung für seine Kühnheit und ihre unwandelbare Treue. Die wilden Stämme waren nirgends vereinigt, sie hausten in einzelnen Gruppen von zwanzig, zwölf, sechs oder selbst drei Personen in den Bergen, und es galt weite Strecken der ödesten Gegenden zu durchwandern, wo kein lebendes Geschöpf, selbst kein Vogel zu sehen war, weil sich dort keinerlei Nahrung vorfand. Mitten im Winter mußten die Friedensboten unter unsagbarer Mühsal über tiefe, reißende Ströme setzen, sechstausend Fuß hohe Berge erklimmen und sich durch gefährliches Dickicht ihren Weg bahnen.

»Bei allen Beschwerden und Entbehrungen bewies die kleine Schar jedoch einen wahren Heldenmut. In einem an den Sekretär Burnett gerichteten Brief vom 2. Oktober 1844 hat Robinson später die Schrecken geschildert, welche sie umgaben. Er sagt, die Eingeborenen hätten ein förmliches Grauen vor den furchtbaren Bergpässen gehabt; sieben Tage lang seien sie über ›endlose Eisfelder gewandert, wo die Schwarzen oft über die Hüften im Schnee versanken‹. Doch der ermutigende Zuruf ihres hochherzigen Freundes hielt die armen, schlecht gekleideten und genährten, bis aufs äußerste ermatteten Männer und Weiber immer wieder aufrecht, und sie wankten nicht in ihrer Ergebenheit.«

Bonwick, der uns dies alles schildert, sagt auch, daß Robinsons friedlicher Sieg über den Big River-Stamm die größte Tat war, die er vollbracht hat. Dieser Stamm stand unter dem allergefürchtetsten Häuptling und war der Schrecken der ganzen Kolonie. Lange mußte Robinson suchen und Drangsale aller Art durchmachen, bis er die grimmigen schwarzen Krieger endlich im Westen einer wilden Berggegend des Innern fand. Jetzt kam der entscheidende Augenblick. War auch das Unternehmen bisher von Erfolg gekrönt gewesen, so hoffte doch Robinson hier selbst auf kein Gelingen; er glaubte, seine Todesstunde sei gekommen.

In drohender Haltung, den achtzehn Fuß langen Speer in der Hand, stand der fürchterliche Häuptling da, hinter ihm seine kampfbereiten Krieger mit haßerfüllten Mienen, aus denen der alte Ingrimm gegen die weiße Rasse sprach. »Sie rasselten mit den Speeren und stießen ihr Kriegsgeschrei aus.« Die Weiber hielten einen neuen Vorrat von Waffen bereit, und alle harrten nur auf das Zeichen des Häuptlings zum Angriff.

Da nahm Robinson seinen ganzen Mut und alle Ueberredungskunst zusammen. Er begann seine Ansprache in des Stammes eigenem Dialekt, was den Häuptling verwunderte und ihm zu gefallen schien.

»Wer seid ihr?« fragte er.

»Eure Freunde.«

»Wo sind eure Schießgewehre?«

»Wir haben keine.«

Der Krieger staunte.

»Und eure kleinen Flinten (Pistolen)?«

»Wir haben keine.«

Es vergingen einige Minuten – die Stammesgenossen berieten untereinander. Inzwischen hatten sich Robinsons eingeborene Begleiterinnen zu den wilden Frauen hinübergewagt, um sie günstig zu stimmen. Der Häuptling aber trat zu den alten Weibern, welchen »die eigentliche Entscheidung über Krieg oder Frieden oblag,« um mit ihnen zu beraten.

»Auf das Schlimmste gefaßt,« fährt Bonwick fort, »harrte die kleine beherzte Schar des Ausgangs; ihre ängstliche Spannung war jedoch nur von kurzer Dauer. Da reckten die Frauen des Stammes dreimal die Arme in die Höhe, das war ein untrügliches Friedenszeichen. Die Speere senkten sich, und mit einem Seufzer der Erleichterung aus tiefer Brust und einem dankbaren Blick nach oben wagten die Geretteten näher heran zu treten. Als die Wilden in ihren Reihen Angehörige des eigenen Stammes erblickten, stürzten sie jubelnd und weinend auf sie zu. Nun folgte ein allgemeines Freudenfest, und mit Lachen und frohen Tänzen endete der ereignisreiche Tag.

»So war auch dieser gefürchtete Stamm zu friedlicher Unterwerfung gebracht worden. Um eine Handvoll Feinde zu bekämpfen, die sich nur mit hölzernen Speeren verteidigten, hatte die Regierung Riesensummen verausgabt und die ganze Bevölkerung der Kolonie zu den Waffen gerufen – das erfuhr man jetzt mit Staunen und Ueberraschung. Der berüchtigte Big River-Stamm, unter dem sich die Europäer in ihrer Furcht ein ganzes Heer vorgestellt hatten, bestand nur aus sechzehn Männern, neun Frauen und einem Kinde. Aber wieviel Unheil hatten sie in der ganzen Gegend angerichtet, welche wunderbaren Märsche hatten sie gemacht, wieviel Beweise von Mut und kriegerischer Tüchtigkeit gegeben! Alle eingeborenen Völkerschaften, welche je den Engländern Widerstand geleistet hatten, sowohl die Zulus in Afrika als die Maori in Neuseeland und die Araber im Sudan waren besser mit Waffen versehen, auch weit zahlreicher und erfahrener in der Kriegskunst als die nackten Tasmanier, die sich als so gefährliche Feinde erwiesen. Mit Recht hat sie der Gouverneur Arthur eine edle Rasse genannt.«

Ein wunderbares Volk, diese Eingeborenen! Man hätte sie nicht aussterben lassen, sondern sie mit der weißen Rasse vermischen sollen; dieser wäre das nur vorteilhaft gewesen, und den Eingeborenen hätte es keinen Schaden getan. Statt dessen wurde das Leben jener kühnen, wilden Menschenkinder unnütz vergeudet. Man pferchte sie auf den benachbarten Inseln in kleinen Ansiedlungen zusammen und die Regierung nahm sich ihrer väterlich an, ließ ihnen Religionsunterricht erteilen und verbot ihnen das Tabakrauchen, weil der Superintendent der Sonntagsschule das Tabakrauchen nicht leiden konnte und das Rauchen für sündhaft erklärte.

Die Eingeborenen waren weder an Kleider noch Häuser, noch regelmäßige Zeiteinteilung gewöhnt, Kirche, Schule, Sonntagsfeier, Arbeit und alle andern übelangebrachten Quälereien der Zivilisation hatten keinen Reiz für sie, und sie wurden die Sehnsucht nach dem freien, ungebundenen Leben in der Heimat nicht los. Zu spät bereuten sie, ihren Himmel gegen diese Hölle eingetauscht zu haben. Klagend saßen sie auf den fremden Felsenklippen und schauten Tag für Tag mit nassen Augen ins Meer hinaus, wo in der Ferne ihr einstiges Paradies in nebligen Umrissen auftauchte; so verzehrten sie sich einer nach dem andern in ungestilltem Verlangen, bis ihnen das Herz vor Heimweh brach.

Nach einigen Jahren war nur noch ein kleiner Ueberrest am Leben. Wenige schleppten sich weiter bis ins Alter. 1864 starb der letzte Mann und 1876 das letzte Weib; es lebte nun niemand mehr von den Spartanern Australiens.

Selbst der gutherzigste Weiße ist nun und nimmermehr befähigt für das Wohl der Wilden zu sorgen, das ist eine alte Erfahrung. Er sollte nur einmal versuchen den Spieß umzudrehen und sich vorzustellen, wie ihm zu Mute sein würde, wenn ein wohlmeinender Wilder ihm sein Haus, seine Kirche, seine Kleider, Bücher und Leckerbissen nehmen und ihn in eine schauerliche Einöde verbannen wollte, unter Sand und Klippen, Schnee und Eis, Hagel, Sturm und Sonnenglut, wo Schlangen, Aas und Gewürm seine einzige Nahrung wären und er kein Obdach, kein Lager, keine Decke fände, um seinen nackten Leib zu schützen. Das wäre für ihn die Hölle auf Erden. Warum kann er denn nun nicht einsehen, daß seine Zivilisation für den Wilden genau solche Hölle ist? Wahrlich, er sollte Verstand genug haben, um das zu begreifen; aber daran fehlt es ihm eben, daran hat es ihm zu allen Zeiten gefehlt. Wie wäre er sonst imstande gewesen, die unglücklichen Eingeborenen zu der entsetzlichen Qual seiner Zivilisation zu verdammen, und ein solches Verbrechen obendrein im besten Glauben zu begehen? – Er sah die armen Geschöpfe in ihrer Pein, schaute sie voll ratloser Unruhe an und ahnte nicht, was ihnen fehlen könne. Fast tun uns jene Missetäter leid in ihrer bodenlosen Unwissenheit; sie haben es so aufrichtig gemeint, sie waren so reich an guten, menschenfreundlichen Absichten! Weshalb die verbannten Wilden dahinstarben, war und blieb ihnen unbegreiflich, bis endlich ein Mann in einem gleichen Fall in Neusüdwales den Ausspruch tat: »Sie vergingen vor dem Zorn Gottes, der vom Himmel offenbar wurde gegen alle Sündhaftigkeit und Gottlosigkeit der Menschen.«

Das erklärt ja die Sache!

Sechzehntes Kapitel.

Sechzehntes Kapitel.

In jedem Beruf muß einer, dem es glücken soll, gesunden Menschenverstand zeigen; nur bei der Rechtspflege ist es sicherer, ihn zu verbergen.

Querkopf Wilsons Kalender.

Eigentlich sollten sich die Bewohner Sydneys vor den Haifischen fürchten, aber sie sind weit davon entfernt – warum, weiß ich nicht. Samstags machen die jungen Leute gewöhnlich eine Segelfahrt, und das Wasser ist oft ganz bedeckt mit kleinen Booten. Nicht selten schlägt eins aus Zufall um, was Anlaß zu den tollsten Possen gibt; häufig bringen die Burschen ihr Boot auch absichtlich zum kentern, so daß die Insassen ins Wasser fallen, trotzdem sie sehen, daß die Haifische in der Nähe nur darauf lauern. Rasch klettert dann alles wieder hinein, manchmal heil und ganz – aber nicht immer. Während ich in Sydney war, geschah es, daß ein Knabe bei der Mündung des Paramattaflusses aus dem Boot fiel. Auf sein Hilfegeschrei sprang ein Knabe aus einem andern Boot ins Meer, um ihn vor den herbeischwimmenden Haifischen zu retten. Die Untiere machten jedoch mit allen beiden nur kurzen Prozeß.

Die Regierung zahlt, wie gesagt, eine Prämie für den Fang. Um das Geld zu verdienen, befestigen die Fischer ein Stück saftiges Hammelfleisch als Köder an den Angelhaken oder das Schleppnetz. Die Kunde hiervon verbreitet sich wie ein Lauffeuer, und nun kommen die Haifische aus dem ganzen Stillen Ozean herbeigeschwommen, um sich an der leckern Speise gütlich zu tun. Wenn das so fortgeht, wird die Haifischzucht bald eins der erträglichsten Gewerbe in der Kolonie werden.

Im Mai war ich in New York krank gewesen, hatte mich dann zweiundachtzig Tage lang erträglich wohl befunden, und war auf dem Schiff wieder erkrankt. Auch in Sydney bekam ich einen Rückfall, aber erst nachdem ich manchen schönen Ausflug gemacht und alle meine Vorlesungen gehalten hatte. Doch ging mir wegen dieser Krankheit mein Besuch in Queensland verloren, da es unter diesen Umständen nicht für ratsam gehalten wurde, nordwärts zu reisen, wo die Hitze noch größer war.

So wandten wir uns denn nach Südwesten und fuhren mit der Eisenbahn siebzehn Stunden nach Melbourne, Hauptstadt der Kolonie Victoria, das, erst sechzig Jahre alt, bereits eine halbe Million Einwohner zählt. Auf der Karte scheint die Entfernung nur klein, aber das ist in einem so großen Lande wie Australien mehr oder weniger bei allen Entfernungen der Fall. Die ganze Kolonie Victoria sieht auf der Karte nicht viel größer aus, wie eine englische Grafschaft und hat doch denselben Umfang wie England, Schottland und Wales zusammengenommen.

Melbourne abgerechnet, scheint Victoria einer kleinen Zahl von Squattern zu gehören, von denen jeder Schafweiden besitzt, die etwa so groß sind, wie der Staat Rhode Island. Wenigstens muß man das aus dem Gerede der Leute schließen; doch ist die Wollindustrie dort lange nicht so ausgedehnt wie in Neusüdwales. In Victoria fehlt es auch nicht an andern Hilfsquellen, es wird viel Weizen gebaut, und die Weinkultur ist sehr bedeutend.

Wir fuhren nachmittags mit dem Vieruhrzug von Sydney ab und zwar in einem ganz amerikanischen, höchst vernünftig eingerichteten Schlafwagen, der sauber, schön und neu war und in keiner Weise an die Eisenbahnen erinnerte, wie sie meist auf dem europäischen Festland sind. Aber unser Gepäck wurde gewogen und besonders bezahlt, was ebenso europäisch wie lästig ist.

Wir hatten Rundreisebillets nach Melbourne, von da nach Adelaide in Südaustralien und dann wieder zurück bis nach Sydney – zwölfhundert Meilen mehr als wir wirklich fahren wollten. Da aber die Rundreise nicht teurer war als ein gewöhnliches Billet, so hielten wir es doch für besser, uns die größte Meilenzahl zu kaufen, die man für den Preis haben konnte, obgleich wir sie, aller Wahrscheinlichkeit nach, nicht benützen würden. Der Mensch hat stets ein natürliches Verlangen, von etwas Gutem mehr zu bekommen als er braucht.

Jetzt muß ich aber noch eine Merkwürdigkeit erwähnen, das wunderlichste, seltsamste, unerklärlichste und erstaunlichste Ding in seiner Art, das ganz Australien aufzuweisen hat: An der Grenze zwischen Neusüdwales und Victoria wurden die sämtlichen, zahlreichen Insassen des Zuges, morgens bei Laternenlicht, in einer hoch gelegenen Gegend, wo es bitterkalt war, aus ihren behaglichen Betten geholt, um den Wagen zu wechseln. Und doch geht die ganze Bahn von Sydney nach Melbourne ohne Unterbrechung fort! Der Gedanke kann nur einem vollständig vernagelten Hirn entsprungen sein, und eine vorsintflutliche Gesetzgebung muß die Verordnung erlassen haben.

Bis zur Grenze ist die Eisenbahn nämlich schmalspurig und von da bis Melbourne hat sie eine größere Schienenweite. Das ist so von den beiden Regierungen, welche die Bahn erbaut haben und denen sie gehört, wohlweislich eingerichtet. Ihre gegenseitige Eifersucht scheint der Hauptgrund dieses merkwürdigen Zustands der Dinge zu sein. Man gibt zwar noch andere Gründe dafür an, aber sie kommen nicht in Betracht, da sie das Unerklärliche doch nicht erklären könnten; übrigens habe ich sie auch vergessen.

Alle Passagiere ärgern sich über die verschiedene Schienenweite, und wie lästig ist sie erst für den Frachtverkehr! Nutzlose Kosten, Verzögerungen und Unbequemlichkeit aller Art sind unzertrennlich damit verbunden; kein Mensch hat einen Vorteil davon.

Unser Wagenwechsel fand in Albury statt, und dort sahen wir auch bei Sonnenaufgang die ferne Kette der ›Blauen Berge‹. Sie tragen ihren Namen mit Recht! ›Auf mein Wort‹, wie der Australier sagt, ein solches Blau sucht seinesgleichen. Es ist bald tief, stark glänzend, wundervoll, erhaben, majestätisch – eine einzige blaue Masse; bald sanft leuchtend oder durchsichtig, als hätte man im Innern ein Feuer angezündet. Das Blau des Himmels erlosch davor, es nahm eine weißliche, ausgewaschene Farbe an und sah bleich und ungesund aus neben jener wahrhaft köstlichen Bläue.

Ein Bürger von Albury sagte mir, das wären gar keine Berge, sondern Haufen von Kaninchenleibern, die man so lange der Luft und Fäulnis ausgesetzt hätte, daß sie davon ganz blau aussähen. Vielleicht sprach der Mann die Wahrheit; aber ich habe so viele Reiseberichte gelesen, daß ich alle Belehrung, welche mir unerbeten, auf nicht amtlichem Wege zu teil wird, nie ohne Mißtrauen aufnehme. Die Reisenden werden oft in ganz unverantwortlicher Weise durch falsche Angaben irre geführt. Nie Kaninchenplage in Australien ist freilich sehr groß gewesen, und wenn es sich nur um einen Berg handelte, so wollte ich es gern glauben. Aber ein ganzer Gebirgszug – das ist doch wohl übertrieben.

Wir frühstückten auf dem Bahnhof. Alles war billig und gut, außer dem Kaffee. Die Preise bestimmt die Regierung selbst und läßt sie öffentlich anschlagen. Daß wir männliche Bedienung hatten, war etwas Ungewöhnliches in Australien; meistens findet man Kellnerinnen, das heißt junge Damen, die man für Prinzessinnen halten könnte. Wie sie gekleidet gehen? – So, daß sie in Europa beim Gala-Empfang einer Königin Bewunderung erregen müßten. Selbst Fürstinnen und Herzoginnen ziehen sich nicht so an. Ihre Mittel würden es ihnen zwar erlauben, aber sie brächten es doch nicht zu stände.

Den ganzen Morgen über fuhren wir in der Ebene dahin, durch lichte Wälder von großen Gummibäumen, deren Rinde in langen, gerollten Streifen herunterhing, wie die Haut von Kranken, die sich nach dem Scharlachfieber schälen. Ueberall standen winzige Hütten, teils aus Holz, teils aus graublauem Wellblech; auf den Zäunen und Türschwellen sah man Scharen kleiner stämmiger Buben, in einfacher Kleidung, die ihren Altersgenossen an den Ufern des Mississippi zum verwechseln ähnlich waren. Auch an Dörfern kamen wir vorüber, deren saubere Bahnhofsgebäude von oben bis unten mit Anzeigen beklebt waren. Wir sahen allerlei Vögel, aber weder ein Känguruh, noch einen Emu, weder ein Schnabeltier, noch einen Vorleser, auch keinen Eingeborenen; alles Wild war im Lande wie ausgestorben. Aber nein – ich habe mich geirrt. Unter Eingeborenen versteht man nur Weiße, die in Australien zur Welt gekommen sind. Ich hätte sagen sollen, daß ich keine Wilden, keine Schwarzen gesehen habe – und zwar bis auf den heutigen Tag nicht. Die großen Museen sind voll von Wundern aller Art, aber was den Fremden am meisten interessieren würde, sucht er dort vergebens. Auch in Amerika haben wir zahllose Museen, allein man findet nicht eine einzige amerikanische Rothaut darin. Das ist so verkehrt, wie nur irgend möglich, aber merkwürdigerweise habe ich früher noch nie daran gedacht; es fällt mir heute zum erstenmal ein.

Siebzehntes Kapitel.

Siebzehntes Kapitel.

Der Mensch hat einen Sinn für das was recht ist und einen Sinn für das was unrecht ist. Die Geschichte lehrt uns, daß er den ersteren gebraucht, um dem rechten aus dem Wege zu gehen und den letzteren, um aus dem Unrechten Nutzen zu ziehen.

Querkopf Wilsons Kalender.

Seit vielen Jahren schwebte über mir ein Geheimnis, das sich nirgends anders enträtseln ließ, als in Melbourne. Die Sache verhielt sich folgendermaßen:

Ich war im Jahre 1873 mit Frau und Kind eben in London angekommen, als ich aus Neapel eine Zuschrift erhielt, unter der ein mir unbekannter Name stand. Es war nicht Bascom und auch nicht Henry, aber der Bequemlichkeit halber will ich den Briefsteller Henry Bascom nennen. Das Schreiben bestand aus etwa sechs Zeilen auf einem weißen Papierstreifen, der am untern Ende abgerissen war. Im Lauf der Jahre erhielt ich noch viele solche Streifen, die alle einander an Form und Größe völlig gleich sahen; auch der Inhalt war meist der nämliche: der Schreiber forderte mich auf, mit den Meinigen an dem und dem Tage nach seinem Landsitz in England zu kommen, um ihm einen achttägigen Besuch zu machen. Der Zeitpunkt für Ankunft und Abreise war genau angegeben. Diese Einladungen erfolgten stets lange im voraus; wenn wir in Europa waren, etwa drei Monate, waren wir in Amerika, schon ein halbes oder ein ganzes Jahr vorher. Auch der Zug, mit dem wir kommen und gehen sollten, war jedesmal in dem Schreiben bestimmt erwähnt.

Jener erste Brief setzte einen Tag in drei Monaten für unsere Ankunft fest; wir sollten am sechsten August mit dem Nachmittagszug 4.10 von London abfahren und im Wagen abgeholt werden. Eine Woche später würde uns der Wagen wieder zu dem und dem Zug auf den Bahnhof bringen. Als Nachschrift standen noch die Worte darunter:

»Sprechen Sie mit Tom Hughes.«

Ich zeigte dem Verfasser von ›Tom Brown in Oxford‹ den sonderbaren Brief, und er sagte:

»Nehmen Sie die Einladung mit Dank an.« Hierauf schilderte er mir Herrn Bascom als einen genialen, hochgebildeten und in jeder Beziehung außergewöhnlichen Mann, einen so edlen und reinen Charakter, wie man ihn nur selten findet. Auch sei es schon der Mühe wert, eine weite Reise zu machen, um Bascom Hall – eins der stattlichsten herrschaftlichen Schlösser aus der Zeit der Königin Elisabeth – in Augenschein zu nehmen. Herr Bascom sei eine gesellige Natur und sehe gern interessante und liebenswürdige Menschen bei sich. Man könne daher dort im Hause stets die angenehmsten Bekanntschaften machen.

Wir statteten damals den Besuch ab und noch mehrere andere im Lauf der nächsten Jahre, den letzten 1879. Bald darauf trat Bascom auf seinem eigenen Dampfer eine Reise um die Welt an. Er wollte lange fortbleiben, alles mit Muße betrachten und in den fremden Ländern auch Vögel, Schmetterlinge u. dgl. sammeln.

Am 2. Juli 1881, dem Tage, an welchem Präsident Garfield von dem Mörder Guiteau tödlich verwundet wurde, kam in dem kleinen Badeort am Sund von Long Island, wo wir unsere Sommerfrische hielten, ein Brief mit dem Poststempel Melbourne an. Er war an meine Frau adressiert, da ich aber Bascoms Handschrift erkannte, machte ich ihn auf. Der Brief enthielt wie gewöhnlich nur ein paar Zeilen auf einem Papierstreifen, aber ihr Inhalt war sehr merkwürdig und ganz anders als sonst. – Vielleicht könne es den Kummer meiner Frau lindern – so ungefähr lautete das Schreiben – wenn sie erführe, wie erfolgreich die Vorlesungstour ihres Gatten in Australien von Anfang bis zu Ende gewesen sei. Der Briefsteller könne das nach bestem Wissen bezeugen und die Mitteilung hinzufügen, daß der allzu frühe Tod ihres Gatten von der ganzen Bevölkerung aufs tiefste beklagt werde. Sie würde das jedoch ohne Zweifel bereits aus Zeitungstelegrammen ersehen haben. Alle Beamten und Würdenträger der Kolonie und der städtischen Regierung wären bei dem Begräbnis zugegen gewesen. Schreiber dieser Zeilen hätte zwar leider Melbourne nicht mehr rechtzeitig erreichen können, um die Leiche noch einmal zu sehen, doch hätte er es sich nicht versagen wollen, als Freund der Familie wenigstens unter den Hauptleidtragenden zu sein.

Unterschrieben: ›Henry Bascom‹.

Wenn er doch den Sarg hätte öffnen lassen! Das war mein erster Gedanke. Er würde sich dann überzeugt haben, daß es die Leiche eines Betrügers war, er hätte sie öffentlich versteigern und mir das Geld schicken können und das ganze Trauergefolge, samt der betrübten Regierung, würde sich die Tränen aus den Augen gewischt haben.

Damals ließ ich die Sache auf sich beruhen. Ich hatte schon früher mehrmals die Polizei in Anspruch genommen, um mich gegen meine lebendigen Vorlesungs-Doppelgänger in Amerika zu schützen; doch war man ihrer niemals habhaft geworden. Auch andere meiner Kollegen hatten umsonst versucht, ihre betrügerischen Duplikate zu entlarven. Was sollte es da wohl nützen, einen abgeschiedenen Geist zu beunruhigen? – So störte ich denn seinen Frieden nicht; aber neugierig war ich doch, Näheres über die Vorlesungstour jenes Menschen und seine letzten Lebensstunden zu erfahren. Ich wollte warten, bis ich Bascom wiedersähe, und mir alles von ihm erzählen lassen; er starb jedoch, ohne daß wir uns zuvor noch einmal im Leben trafen, und dann dachte ich nicht mehr an jenes Ereignis.

Als ich jedoch die Reise nach Australien plante, war meine Neugier wieder erwacht. Sehr natürlich – denn, wenn die Zuhörer meiner Vorlesungen etwa gesagt hätten, ich sei recht fade und langweilig, im Vergleich zu dem, was ich vor meinem Tode gewesen, so würde die Einnahme darunter gelitten haben.

Wie sehr war ich nun überrascht, als mir die Zeitungsredakteure in Sydney sagten, sie hätten v on jenem Betrüger noch nie etwas gehört. Ich mochte sie ausfragen so viel ich wollte, sie wußten nichts von ihm und zweifelten an der ganzen Geschichte. Mir war das unverständlich; doch glaubte ich, in Melbourne würde sich die Sache leicht aufklären lassen. Die Regierung und das übrige Trauergefolge mußten sich doch noch an den Leichenzug erinnern. Bei dem Festessen, das mir die Journalisten gaben, stellte sich jedoch heraus, daß auch sie nichts hatten verlauten hören und mir keine Auskunft geben konnten.

So blieb, zu meiner großen Enttäuschung, das Geheimnis nach wie vor in Dunkel gehüllt. Ich hoffte nun nicht mehr, daß ich die Lösung des Rätsels noch auf Erden erfahren würde und suchte mir die Sache aus dem Sinne zu schlagen. Aber endlich, gerade als ich es am wenigsten erwartete – doch nein, hier ist nicht der richtige Platz, um die übrige Geschichte zu erzählen; ich werde in einem viel späteren Kapitel wieder darauf zurückkommen.

*

Die Stadt Melbourne hat eine ungeheure Ausdehnung und Bauwerke von hervorragender Pracht und Größe. Ihre Straßenbahnen sind vortrefflich, sie besitzt Museen, höhere und niedere Schulen, öffentliche Gärten, Gas, Elektrizität, Bibliotheken und Theater. Sie ist der Mittelpunkt für den Bergbau, die Wollindustrie, für Kunst und Wissenschaft, man findet dort Gewerkvereine, Schiffe, Eisenbahnen, einen Hafen, gesellige Vereinigungen, Journalistenklubs, Rennvereine und einen Klub der Squatter, dem ein wundervoll eingerichtetes Haus gehört, auch so viele Banken und Kirchen, wie irgend nebeneinander bestehen können. Kurz, Melbourne hat alles, was zur modernen Großstadt gehört; es ist die bedeutendste Stadt auf dem australischen Festland und den Inseln und füllt ihren Posten als solche mit Ehre und Würde aus. Einen besonderen Vorzug besitzt es aber noch, den man nicht mit andern Dingen zusammenwerfen darf. Es ist nämlich das Zentrum für den Kultus des Pferderennens. Sein Rennplatz ist das Mekka von Australien.

Am 5. November, dem alljährlichen Festopfertag, stehen auf einer Strecke, die länger ist, als von New York nach San Francisco, und breiter als von den nördlichen Seen bis zum Golf von Mexiko, sämtliche Geschäfte völlig still; Männer und Frauen jedes Standes und Ranges, deren Mittel es erlauben, lassen daheim alles stehen und liegen, und kommen herbeigeströmt. Schon zwei Wochen vor dem bestimmten Tage beginnen die Scharen sich zu Schiffe und mit der Eisenbahn einzufinden; täglich erscheinen sie in immer dichteren Schwärmen, bis alle Transportmittel die Last kaum mehr zu bewältigen vermögen und die Hotels und Wohnhäuser von oben bis unten vollgestopft sind. Zu Hunderttausenden sieht man sie anmarschieren, wie glaubwürdige Zeugen versichern, um den Riesenplatz und die Tribünen zu füllen. In ganz Australien bekommt man nirgends ein ähnliches Schauspiel zu Gesicht.

Das Preisrennen von Melbourne ist es, zu dem alle diese Menschen zusammenströmen. Die Festkleider sind schon lange vorher bestellt; sie müssen an Pracht und Schönheit alles überstrahlen, was je dagewesen ist; keine Kosten werden gescheut, und man verbirgt sie sorgfältig vor neugierigen Blicken, bis der große Tag erscheint, dem man sie geweiht hat. Ich meine natürlich die Toiletten der Damen; aber das versteht sich ja von selbst.

Die Tribünen bieten denn auch einen wundervollen, blendenden Anblick; man sieht dort die zauberhaftesten Farben, die entzückendste Schönheit. Der Champagner fließt in Strömen, die allgemeine Stimmung ist lebhaft, aufgeregt, glücklich; jeder wettet, und Unsummen werden gewonnen oder verloren. Tag für Tag finden Wettrennen statt, wobei stets die ausgelassenste Lust und Laune herrscht. Nachdem das Programm des Tages erschöpft ist, tanzen die Leute noch die ganze Nacht hindurch, um sich für das Rennen des nächsten Tages zu stärken. Am Schluß der großen Woche sichern sich die Menschenmassen zuguterletzt Unterkunft und Fahrgelegenheit für das nächste Jahr; dann verstreut sich alles, jeder kehrt nach seiner fernen Heimat zurück, zählt seinen Gewinn oder Verlust, bestellt die Kleider zum nächsten Preisrennen, legt sich zu Bett, schläft vierzehn Tage lang und steht endlich mit dem traurigen Gedanken wieder auf, daß man ein ganzes Jahr warten muß, bevor man sich wieder aus vollster Seele seines Lebens freuen kann.

Das Preisrennen von Melbourne ist das Nationalfest Australiens. Seine Wichtigkeit läßt sich gar nicht hoch genug anschlagen. Jeder andere Fest- oder Feiertag irgend welcher Art, den die Kolonien begehen, wird durch seinen Glanz verdunkelt. Zwar feiert man noch allerlei, teils aus Gewohnheit, teils von Amts wegen, aber nicht so gründlich, so allgemein, so aus freien Stücken, wie das große Wettrennen. Es hat seinesgleichen in keinem andern Lande der Welt. Je näher dies höchste Fest des Jahres herankommt, um so glühender wird die Erwartung, die Vorbereitung und die allgemeine Glückseligkeit; man denkt und redet überhaupt nichts anderes mehr.

In Amerika haben wir keinen Tag im Jahr, der so wie dieser die Gesamtbevölkerung beseligen kann. Wir feiern den vierten Juli, Weihnachten und das Dankfest. Aber keiner dieser drei Festtage hat einen Vorrang vor dem andern, und keiner ist, wie gesagt imstande, das ganze Volk zu beglücken. Von zehn erwachsenen Amerikanern empfinden mindestens acht ein wahres Entsetzen vor dem vierten Juli mit seinem gefährlichen Höllenspektakel und wünschen sich Glück, daß er vorüber ist – wenn sie noch am Leben sind. Auch das Nahen des Weihnachtsfestes bringt vielen trefflichen Menschen Qual und Pein. Sie müssen ganze Wagenladungen von Geschenken kaufen und wissen nie, ob sie den Geschmack der Empfänger getroffen haben. Drei Wochen lang arbeiten sie im Schweiße ihres Angesichts und wenn der Weihnachtsmorgen anbricht, fühlen sie sich, so enttäuscht und so unzufrieden mit ihren Leistungen, daß sie sich am liebsten hinsetzen möchten, um sich nach Herzenslust auszuweinen und nur in dem, Gedanken Trost finden, daß bloß einmal im Jahr Weihnachten ist. Unser Dankfest wird seit einiger Zeit ganz allgemein durch ein Festessen gefeiert. Das Dankgefühl ist bei uns jedoch weit weniger verbreitet. Zu verwundern braucht man sich darüber nicht. Zwei Drittel des Volkes haben jetzt das ganze Jahr hindurch so wenig Glück und ein so schweres Leben, daß ihre Festfreude sich bedeutend abkühlt.

Auch in andern Ländern feiert man hohe Feste, aber wie gesagt, keins an dem das ganze Volk so von Herzen Anteil nimmt. Man wird mir daher wohl zugeben müssen, daß das Preisrennen von Melbourne das Fest aller Feste ist und vermutlich seinen hohen Rang noch lange Zeit behaupten wird.

Für den Reisenden hat in fremden Landen dreierlei das größte Interesse: erstens, die Bevölkerung, zweitens, alles was ihm neu ist und drittens, die geschichtlichen Erinnerungen, welche sich an die Orte knüpfen. In Städten, die auf der Höhe der modernen Zivilisation stehen, wird er selten etwas Neues finden. Kennt man solche Städte in andern Weltteilen, so kennt man tatsächlich auch die großen Städte Australiens. Zwar sind Unterschiede vorhanden, aber es gehört schon ein recht geübtes Auge dazu um sie zu entdecken, und der Fremde hat selten Zeit zu so genauer Beobachtung.

Freilich in den Museen sind endlose Zimmer voll der merkwürdigsten und anziehendsten Gegenstände. Aber das ist doch mehr oder weniger bei allen Museen der Fall; ihre Besichtigung macht uns immer Augenweh und Rückenschmerzen und verzehrt unsere Lebenskraft durch ihr aufreibendes Interesse. Man nimmt sich stets von neuem vor, nie wieder hinzugehen – und tut es schließlich doch. Die Paläste der Reichen m Melbourne gleichen den Palästen der Reichen in Amerika fast aufs Haar, auch die Lebensweise darin ist die nämliche, aber weiter geht die Ähnlichkeit nicht. Die Gartenanlagen, in denen die amerikanischen Paläste liegen, sind selten groß und oft gar nicht schön; aber in Melbourne haben sie meist den Umfang von fürstlichen Parks und die Kunst des Gärtners schafft daraus mit Hilfe des Klimas etwas ganz Zauberhaftes. Manche Landgüter außerhalb der Stadt sollen sich an Größe und wunderbarem Reiz mit der Besitzung eines englischen Lords messen können. Aber das weiß ich nicht aus eigener Anschauung; ich hatte in der Stadt alle Hände voll zu tun und bin nicht aufs Land hinaus gekommen.

Wie ist aber diese Riesenstadt mit ihren palastähnlichen Häusern und Landsitzen entstanden? Ein englischer Sträfling hat den ersten Stein dazu gelegt und das erste Haus gebaut. Die Geschichte Australiens ist durch und durch romantisch, voll der sonderbarsten, merkwürdigsten Begebenheiten, gegen die alles andere Neue, das man sieht und hört, in den Hintergrund tritt. Sie liest sich gar nicht wie Geschichte, sondern wie eine Sammlung der schönsten Lügen und zwar noch nie dagewesener, keiner abgedroschenen. Allerlei Ueberraschungen, Abenteuer, Ungereimtheiten, Widersprüche und unglaubliche Dinge werden einem aufgetischt; aber sie sind buchstäblich wahr und haben sich wirklich zugetragen.

Auch die Geschichte des Mannes, der den Grundstein von Melbourne gelegt hat, ist ein förmlicher Roman. Sein Name war Buckley, und über kurz oder lang wird man Melbourne in Buckleystadt oder Buckleyburg umtaufen müssen, um die bisherige Ungerechtigkeit wieder gut zu machen. Buckley war ein junger, riesenstarker Engländer, der das Maurerhandwerk betrieb. Später wurde er Soldat und brachte aus den Kriegen mit Holland eine ehrenvolle Wunde heim; die Narbe trug er sein Leben lang. In England wurde er eines Tages angeklagt und überführt, gestohlene Waren verborgen zu haben – wahrscheinlich im Wert von sechs Schillingen –, und einstweilen ins Gefängnis geworfen. Dabei schiffte man ihn mit einer Ladung anderer Sträflinge nach Australien ein – auf wie viele Jahre sagt die Geschichte nicht. Dies war der vielversprechende, ereignisreiche Anfang seines jungen Lebens. Es geschah 1803, als er dreiundzwanzig Jahre zählte.

Die Fahrt dauerte fünf und einen halben Monat, dann landete das Schiff nicht weit von der Stelle, wo jetzt Melbourne erbaut ist. Die Gegend war noch mit wildem Urwald bedeckt, in dem nur Eingeborene lebten. Die nächste Niederlassung der Weißen, die kleine Kolonie Sydney, lag viele hundert Meilen entfernt. Man begann sofort eine Sträflingskolonie einzurichten (die bald wieder aufgegeben wurde), und Buckley legte den Grundstein des ersten Hauses.

Der schmachvolle Sklavendienst seines neuen Lebens war Buckley ein Greuel; auch das Klima sagte ihm nicht zu, als im Januar der Hochsommer kam, und er seine harte Arbeit bei einer Temperatur von 110° im Schatten verrichten mußte. So machte er denn einen Fluchtversuch und erlangte glücklich seine Freiheit wieder. Von den Gefährten seiner Flucht wurde einer durch die Wache erschossen, die andern irrten sechs Tage lang mit Buckley im Busch umher, dem Hungertode preisgegeben. Da sie aber sahen, daß ihre Leiden in der Freiheit nicht geringer waren als beim Sträflingsleben, wo sie doch wenigstens Nahrung erhielten, kehrten sie wieder um. Buckley wollte sie nicht begleiten und blieb allein zurück; als Mann von echtem Schrot und Korn dachte er an keinen Rückzug.

Ursprünglich hatte er die Absicht gehabt, mit den Genossen nach Kalifornien zu wandern; sie waren eben ungebildete Leute und wußten wenig von der Erdbeschreibung. Als nun Buckley sich selbst überlassen war, gab er den Plan auf, teils wegen der Entfernung, teils weil ihm nicht ganz klar war, in welcher Richtung er Kalifornien zu suchen hätte. Er beschloß dagegen, nach Sydney zu wandern, ging jedoch fehl und kam immer weiter von seinem Ziel ab. Lange fristete er sein Leben mit Beeren, Muscheln und dergleichen, bis er endlich den Eingeborenen in die Hände fiel. Gerade an jenem Morgen hatte er jedoch, ohne es zu wissen, einen glücklichen Fund getan. Er hatte einen Speer, der in einem Grabhügel steckte, herausgezogen und hielt ihn noch in der Hand, als die Eingeborenen ihn umringten. Sie glaubten, er sei der wieder lebendig gewordene Insasse jenes Grabes und begrüßten ihn als Stammesgenossen und Verwandten. In ihrer Freude über seine Wiederkehr versahen sie ihn alsbald mit Speise und Weibern, auch mit einem Neffen und andern zum Leben notwendigen Erfordernissen und nahmen ihn gastlich in ihrer Mitte auf.

Er lebte unter den Wilden und wurde ein wichtiger, einflußreicher Häuptling des Stammes, lernte dessen Sprache und vergaß mit der Zeit seine eigene. Ohne jemals wieder einen Weißen zu sehen, brachte dieser neue Robinson zweiunddreißig Jahre unter so seltsamen Verhältnissen zu, und kein Mensch ahnte, daß er noch am Leben sei.

So etwas kann auch nur in Australien vorkommen. Die andern Robinsone verschwinden vielleicht auf vier Jahre, tauchen dann wieder auf und kommen in Ziegenfelle gekleidet, großprahlerisch einherstolziert; aber der australische Robinson geht ein ganzes Menschenalter verloren und kehrt bescheiden zurück, ohne irgend etwas anzuhaben, weil er die Aufmerksamkeit nicht auf sich zu lenken wünscht.

Heutzutage würden Telegraphen, Zeitungen und illustrierte Journale sich einer neuentdeckten Persönlichkeit, wie dieser Buckley, annehmen, seinen Namen in alle Welt posaunen, und ihn zum reichen Manne machen. Aber der Buckley aus alter Zeit konnte den Roman seines Lebens zu keinem so glänzenden Abschluß bringen. Er pries sich schon glücklich, als er zum Leibdiener des kommandierenden Obersten der Kolonie ernannt wurde und die nötigen Kleidungsstücke erhielt; eine Zeitlang tat er auch Dienste als Konstabler und Geheimpolizist. Bald legte er jedoch sein Amt nieder, ging nach Van Diemensland (dem jetzigen Tasmanien) und wurde zweiter Verwalter im Auswandererheim. Zuletzt erhielt er den Posten eines Torschließers im Frauenasyl. 1840, als er sechzig Jahre alt war, heiratete er die Witwe eines Handwerkers. Mit siebzig Jahren ließ er sich pensionieren und erhielt ein Ruhegehalt von 60 Pfund Sterling, das er noch sechs Jahre lang genießen durfte. Dann nahm ihn der Tod hinweg, der ihm sein Glück nicht länger gönnen mochte. So endete denn der wunderbare Lebenslauf des Gründers von Melbourne auf sehr hausbackene und alltägliche Weise.

Achtzehntes Kapitel.

Achtzehntes Kapitel.

Die Engländer kommen schon in der Bibel vor, wo es heißt: ›Selig sind die Sanftmütigen, denn sie werden das Erdreich besitzen.‹

Querkopf Wilsons Kalender.

Wenn wir bedenken, wie ungeheuer groß der Flächeninhalt des britischen Kaiserreichs ist, wie bedeutend seine Einwohnerzahl und sein Handel, so wird es uns schwer zu glauben, daß Australien und Ozeanien wirklich einen so hervorragenden Anteil an Englands Weltstellung haben, wie man versichert. Der Länderbesitz aller andern Mächte – außer Rußland – ist im Vergleich zum britischen Reich winzig klein, und es übertrifft selbst Rußland etwa um ein Viertel an Größe, was ich aus sicherer Quelle weiß. Großbritannien und China herrschen ungefähr über die gleiche Bevölkerungszahl; jedes dieser beiden Reiche hat 400 000 000 Untertanen. Da bleiben alle andern Mächte – auch Rußland – weit zurück.

Die vier Millionen Einwohner von Australien scheinen zwar nur ein Tropfen in dem kaiserlich britischen Meer von vierhundert Millionen Köpfen; allein, sie gewinnen sehr an Bedeutung, wenn man ihren Einfluß auf den britischen Welthandel in Betracht zieht. Englands jährliche Einfuhr und Ausfuhr wird auf drei Billionen Dollars geschätzt und davon soll mehr als ein Zehntel auf die Ausfuhr und Einfuhr zwischen Australien und England kommen. Daneben treibt Australien noch Handel mit anderen Staaten, wodurch ein jährlicher Ertrag von hundert Millionen Dollars erzielt wird, während der Umsatz innerhalb der Kolonien sich auf hundert und fünfzig Millionen beläuft.

In runden Zahlen ausgedrückt kaufen und verkaufen also die 4 000 000 Einwohner jährlich etwa Waren im Wert von 600 000 000 Dollars, wovon die Hälfte, wie behauptet wird, aus einheimischen Produkten Australiens besteht.

Die Ausfuhr der Produkte Indiens trägt jährlich eine Kleinigkeit über 500 000 000 Dollars ein, woraus sich Zahlen ergeben, die höchst verwunderlich sind, nämlich:

Indiens Produktion (300 000 000 Einwohner) $ 500 000 000.

Australiens Produktion (4 000 000 Einwohner) $ 300 000 000.

Demnach produziert der einzelne Inder an Ausfuhrartikeln durchschnittlich für $ 1.75 im Jahr; der einzelne Australier dagegen für $ 75!

Nach zuverlässigen statistischen Tabellen, welche von Sir Richard Temple und andern aufgestellt worden sind, beläuft sich die jährliche Produktion eines Inders für Ausfuhr und Verbrauch im Lande auf $ 7.50 oder $ 37.50 für eine Familie von fünf Personen; während die Durchschnittsproduktion einer ebenso großen Familie in Australien fast $ 1600 beträgt.

Es gibt doch wirklich nichts Ueberraschenderes in der Welt als Zahlen, wenn man erst einmal anfängt sich mit ihnen einzulassen.

Wir fuhren von Melbourne mit der Eisenbahn nach Adelaide, der Hauptstadt der großen Provinz Südaustralien – eine Reise von siebzehn Stunden. Unterwegs trafen wir mehrere Bekannte aus Sydney, u. a. einen Richter, der auf der Rundreise war und in Broken Hill, wo das berühmte Silberbergwerk ist, eine Gerichtssitzung halten wollte. Der Weg, den er einschlug, um in jene Gegend zu gelangen, schien uns etwas sonderbar gewählt: Broken Hill liegt dicht an der Westgrenze von Neusüdwales und Sydney in dessen äußerstem Osten; die Entfernung zwischen beiden Orten mag in gerader Linie etwa 700 Meilen betragen, während der Richter mehr als 2000 Meilen mit der Eisenbahn fahren mußte, nämlich von Sydney südwestlich bis Melbourne, dann nordwestlich nach Adelaide, von da zurück nordöstlich und wieder über die Grenze von Neusüdwales bis Broken Hill.

Die Sache erklärte sich jedoch auf sehr einfache Weise: Vor Jahren war die Welt plötzlich durch den fabelhaft reichen Silberfund von Broken Hill überrascht worden. Die Aktien hatten anfänglich nur ein paar Schillinge gegolten, allein im Handumdrehen stieg ihr Wert bis zu ganz unglaublichen Summen. Es war einer jener Fälle, wo die Köchin für ihren Monatslohn einen Anteilschein ersteht, und im folgenden Jahre ihrer Herrschaft das Haus abkauft und selbst hineinzieht; wo der Kutscher ein paar Aktien nimmt und nach Monatsfrist eine Bank eröffnet; wo der gemeine Matrose sich mit dem Preis, den ihn ein Zechgelage kosten würde, bei dem Unternehmen beteiligt und im nächsten Monat ein eigenes Handelsgeschäft gründet, mit dem er der Dampfschiffgesellschaft Konkurrenz macht. Kurzum, es entstand ein förmliches Entdeckungsfieber; urplötzlich strömten große Menschenmassen auf ein und derselben Stelle zusammen, und man mußte unverzüglich für ihre Bedürfnisse sorgen. Adelaide war in nächster Nähe und Sydney weit entfernt; da baute Adelaide natürlich eine kurze Eisenbahn über die Grenze, bevor Sydney noch Zeit hatte eine lange Linie zu bauen. Der ganze ungeheure Handelsprofit von Broken Hill wurde unwiderruflich nach Adelaide gelenkt, und für Sydney verlohnte es sich später überhaupt nicht mehr der Mühe, eine Bahn dorthin anzulegen. So steht denn Broken Hill unter der Gerichtsbarkeit von Neusüdwales, das seine Richter 2000 Meilen weit schicken muß – meist durch andere Provinzen – während Adelaide ruhig und ohne sich zu beklagen, sämtliche Dividenden einstreicht. Wir fuhren nachmittags um 4.20 ab und meist durch ebenes Land. Am Morgen kamen wir in den ›Scrub‹, so heißen die mit verkrüppeltem Buschwerk bewachsenen Gegenden, welche in den australischen Romanen eine so große Rolle spielen. Dort lauert der feindliche Eingeborene, schweift ungesehen umher, macht von Zeit zu Zeit plötzliche Ausfälle, beraubt und tötet den allzu sichern Ansiedler und schleicht ins Dickicht zurück, ohne eine Spur zu hinterlassen, welche der weiße Mann zu entdecken vermöchte. Dort verirrt sich auch die Heldin des Romanschreibers; alles Suchen nach ihr ist vergebens, sie wandert hierhin und dorthin, bis sie ermattet und bewußtlos niedersinkt. Die ausgesandten Retter gehen wenige Meter von der Stelle wo sie liegt an ihr vorüber, ohne ihre Nähe zu ahnen, und erst viel später findet irgend jemand zufällig ihr Gebeine und das hinterlassene Tagebuch, das sie noch mit Aufbietung ihrer letzten Kraft geschrieben hat. Eine verlorene Heldin im Scrub aufzuspüren, vermag keiner außer dem eingeborenen Pfadfinder, und der gibt sich nur damit ab, wenn es dem Romanschreiber in seinen Plan paßt. Der Scrub erstreckt sein grünes Dickicht viele Meilen weit nach allen Richtungen und sieht aus wie ein plattes Dach, in dem weder Riß noch Spalte ist, oder wie eine große Decke ohne Naht. Sich im Scrub zurecht zu finden ist ein Ding der Unmöglichkeit, er ist pfadlos wie eine Wasserwüste. Und doch sagt man, daß der Eingeborene verirrte Wanderer im Scrub, im Busch und in der Wüste aufspüren, ja ihnen selbst über nackte Felsen oder Sandbänke folgen kann, von denen die Fluten jede Spur eines Fußtritts hinweggespült haben.

Sowohl aus australischen Büchern, wie aus den mündlichen Schilderungen, die mir gemacht wurden, habe ich die Ueberzeugung gewonnen, daß der eingeborene Pfadfinder so viel Schlauheit, Scharfblick, Klugheit und Beobachtungsgabe besitzt, wie man es bei keinem Volke der Erde, weder unter Weißen noch Farbigen wiederfindet. In einer von der Regierung der Provinz Victoria veröffentlichten Beschreibung der Negerbevölkerung Australiens, heißt es unter anderm, daß der Eingeborene nicht nur an der Rinde des Baumes die schwache Spur entdeckt, welche das Opossum beim Klettern zurückläßt, sondern auch irgendwie zu erkennen vermag, ob die Spur von gestern oder erst von heute herrührt.

Man sagt, der Ansiedler A. habe einmal mit seinem Nachbar B eine Wette gemacht, daß ein Eingeborener B’s Kuh wiederfinden würde, wo und wie er sie auch verbergen möchte. B zeigte dem Eingeborenen die Fußspuren der Kuh und läßt ihn dann einschließen und bewachen. Hierauf führt er das Tier auf eine Straße, von der nach allen Seiten Kreuzwege abzweigen und die mehrmals wieder in der Runde zurückführt. Er wählt die schwierigsten Pfade aus, treibt das Tier öfters durch große Kuhherden, wo seine Spur unter den andern Rindern ganz verloren geht, und bringt die Kuh schließlich wieder nach Hause. Nun entläßt man den Eingeborenen aus seinem Gewahrsam, worauf er sofort im Kreise herumgeht und die Fußspuren aller Kühe solange untersucht, bis er die richtigen gefunden hat; dann folgt er den verschlungenen Wanderungen der Kuh, ohne sich beirren zu lassen und entdeckt sie zuletzt wirklich in dem Stall, wo B das Tier verborgen hat. Nun sage mir einmal jemand, wodurch sich die Spuren der einen Kuh von denen einer andern unterscheiden? Es muß irgend ein Unterschied vorhanden sein, sonst könnte der Eingeborene sein Kunststück nicht ausführen. Und wie merkwürdig, daß für den Abkömmling einer Rasse, von der viele behaupten, sie stehe auf der niedrigsten geistigen Stufe menschlicher Entwicklung, dieser wesenlose, schattenhafte Unterschied erkennbar ist, welchen weder ich, noch einer meiner Volksgenossen – selbst nicht der verstorbene Sherlock Holmes – imstande wäre aufzuspüren.

  1. N.S.W. Blaubuch.
  2. D. M. Luckie.
  3. Ebda.
  4. N.S.W. Blaubuch.
  5. Der berühmte Detektiv in den C. Doyle’schen Erzählungen; siehe die Sherlock Holmes-Serie, illustr. Ausgabe in 6 Bänden.