Sechzehntes Kapitel.

Sechzehntes Kapitel.

In jedem Beruf muß einer, dem es glücken soll, gesunden Menschenverstand zeigen; nur bei der Rechtspflege ist es sicherer, ihn zu verbergen.

Querkopf Wilsons Kalender.

Eigentlich sollten sich die Bewohner Sydneys vor den Haifischen fürchten, aber sie sind weit davon entfernt – warum, weiß ich nicht. Samstags machen die jungen Leute gewöhnlich eine Segelfahrt, und das Wasser ist oft ganz bedeckt mit kleinen Booten. Nicht selten schlägt eins aus Zufall um, was Anlaß zu den tollsten Possen gibt; häufig bringen die Burschen ihr Boot auch absichtlich zum kentern, so daß die Insassen ins Wasser fallen, trotzdem sie sehen, daß die Haifische in der Nähe nur darauf lauern. Rasch klettert dann alles wieder hinein, manchmal heil und ganz – aber nicht immer. Während ich in Sydney war, geschah es, daß ein Knabe bei der Mündung des Paramattaflusses aus dem Boot fiel. Auf sein Hilfegeschrei sprang ein Knabe aus einem andern Boot ins Meer, um ihn vor den herbeischwimmenden Haifischen zu retten. Die Untiere machten jedoch mit allen beiden nur kurzen Prozeß.

Die Regierung zahlt, wie gesagt, eine Prämie für den Fang. Um das Geld zu verdienen, befestigen die Fischer ein Stück saftiges Hammelfleisch als Köder an den Angelhaken oder das Schleppnetz. Die Kunde hiervon verbreitet sich wie ein Lauffeuer, und nun kommen die Haifische aus dem ganzen Stillen Ozean herbeigeschwommen, um sich an der leckern Speise gütlich zu tun. Wenn das so fortgeht, wird die Haifischzucht bald eins der erträglichsten Gewerbe in der Kolonie werden.

Im Mai war ich in New York krank gewesen, hatte mich dann zweiundachtzig Tage lang erträglich wohl befunden, und war auf dem Schiff wieder erkrankt. Auch in Sydney bekam ich einen Rückfall, aber erst nachdem ich manchen schönen Ausflug gemacht und alle meine Vorlesungen gehalten hatte. Doch ging mir wegen dieser Krankheit mein Besuch in Queensland verloren, da es unter diesen Umständen nicht für ratsam gehalten wurde, nordwärts zu reisen, wo die Hitze noch größer war.

So wandten wir uns denn nach Südwesten und fuhren mit der Eisenbahn siebzehn Stunden nach Melbourne, Hauptstadt der Kolonie Victoria, das, erst sechzig Jahre alt, bereits eine halbe Million Einwohner zählt. Auf der Karte scheint die Entfernung nur klein, aber das ist in einem so großen Lande wie Australien mehr oder weniger bei allen Entfernungen der Fall. Die ganze Kolonie Victoria sieht auf der Karte nicht viel größer aus, wie eine englische Grafschaft und hat doch denselben Umfang wie England, Schottland und Wales zusammengenommen.

Melbourne abgerechnet, scheint Victoria einer kleinen Zahl von Squattern zu gehören, von denen jeder Schafweiden besitzt, die etwa so groß sind, wie der Staat Rhode Island. Wenigstens muß man das aus dem Gerede der Leute schließen; doch ist die Wollindustrie dort lange nicht so ausgedehnt wie in Neusüdwales. In Victoria fehlt es auch nicht an andern Hilfsquellen, es wird viel Weizen gebaut, und die Weinkultur ist sehr bedeutend.

Wir fuhren nachmittags mit dem Vieruhrzug von Sydney ab und zwar in einem ganz amerikanischen, höchst vernünftig eingerichteten Schlafwagen, der sauber, schön und neu war und in keiner Weise an die Eisenbahnen erinnerte, wie sie meist auf dem europäischen Festland sind. Aber unser Gepäck wurde gewogen und besonders bezahlt, was ebenso europäisch wie lästig ist.

Wir hatten Rundreisebillets nach Melbourne, von da nach Adelaide in Südaustralien und dann wieder zurück bis nach Sydney – zwölfhundert Meilen mehr als wir wirklich fahren wollten. Da aber die Rundreise nicht teurer war als ein gewöhnliches Billet, so hielten wir es doch für besser, uns die größte Meilenzahl zu kaufen, die man für den Preis haben konnte, obgleich wir sie, aller Wahrscheinlichkeit nach, nicht benützen würden. Der Mensch hat stets ein natürliches Verlangen, von etwas Gutem mehr zu bekommen als er braucht.

Jetzt muß ich aber noch eine Merkwürdigkeit erwähnen, das wunderlichste, seltsamste, unerklärlichste und erstaunlichste Ding in seiner Art, das ganz Australien aufzuweisen hat: An der Grenze zwischen Neusüdwales und Victoria wurden die sämtlichen, zahlreichen Insassen des Zuges, morgens bei Laternenlicht, in einer hoch gelegenen Gegend, wo es bitterkalt war, aus ihren behaglichen Betten geholt, um den Wagen zu wechseln. Und doch geht die ganze Bahn von Sydney nach Melbourne ohne Unterbrechung fort! Der Gedanke kann nur einem vollständig vernagelten Hirn entsprungen sein, und eine vorsintflutliche Gesetzgebung muß die Verordnung erlassen haben.

Bis zur Grenze ist die Eisenbahn nämlich schmalspurig und von da bis Melbourne hat sie eine größere Schienenweite. Das ist so von den beiden Regierungen, welche die Bahn erbaut haben und denen sie gehört, wohlweislich eingerichtet. Ihre gegenseitige Eifersucht scheint der Hauptgrund dieses merkwürdigen Zustands der Dinge zu sein. Man gibt zwar noch andere Gründe dafür an, aber sie kommen nicht in Betracht, da sie das Unerklärliche doch nicht erklären könnten; übrigens habe ich sie auch vergessen.

Alle Passagiere ärgern sich über die verschiedene Schienenweite, und wie lästig ist sie erst für den Frachtverkehr! Nutzlose Kosten, Verzögerungen und Unbequemlichkeit aller Art sind unzertrennlich damit verbunden; kein Mensch hat einen Vorteil davon.

Unser Wagenwechsel fand in Albury statt, und dort sahen wir auch bei Sonnenaufgang die ferne Kette der ›Blauen Berge‹. Sie tragen ihren Namen mit Recht! ›Auf mein Wort‹, wie der Australier sagt, ein solches Blau sucht seinesgleichen. Es ist bald tief, stark glänzend, wundervoll, erhaben, majestätisch – eine einzige blaue Masse; bald sanft leuchtend oder durchsichtig, als hätte man im Innern ein Feuer angezündet. Das Blau des Himmels erlosch davor, es nahm eine weißliche, ausgewaschene Farbe an und sah bleich und ungesund aus neben jener wahrhaft köstlichen Bläue.

Ein Bürger von Albury sagte mir, das wären gar keine Berge, sondern Haufen von Kaninchenleibern, die man so lange der Luft und Fäulnis ausgesetzt hätte, daß sie davon ganz blau aussähen. Vielleicht sprach der Mann die Wahrheit; aber ich habe so viele Reiseberichte gelesen, daß ich alle Belehrung, welche mir unerbeten, auf nicht amtlichem Wege zu teil wird, nie ohne Mißtrauen aufnehme. Die Reisenden werden oft in ganz unverantwortlicher Weise durch falsche Angaben irre geführt. Nie Kaninchenplage in Australien ist freilich sehr groß gewesen, und wenn es sich nur um einen Berg handelte, so wollte ich es gern glauben. Aber ein ganzer Gebirgszug – das ist doch wohl übertrieben.

Wir frühstückten auf dem Bahnhof. Alles war billig und gut, außer dem Kaffee. Die Preise bestimmt die Regierung selbst und läßt sie öffentlich anschlagen. Daß wir männliche Bedienung hatten, war etwas Ungewöhnliches in Australien; meistens findet man Kellnerinnen, das heißt junge Damen, die man für Prinzessinnen halten könnte. Wie sie gekleidet gehen? – So, daß sie in Europa beim Gala-Empfang einer Königin Bewunderung erregen müßten. Selbst Fürstinnen und Herzoginnen ziehen sich nicht so an. Ihre Mittel würden es ihnen zwar erlauben, aber sie brächten es doch nicht zu stände.

Den ganzen Morgen über fuhren wir in der Ebene dahin, durch lichte Wälder von großen Gummibäumen, deren Rinde in langen, gerollten Streifen herunterhing, wie die Haut von Kranken, die sich nach dem Scharlachfieber schälen. Ueberall standen winzige Hütten, teils aus Holz, teils aus graublauem Wellblech; auf den Zäunen und Türschwellen sah man Scharen kleiner stämmiger Buben, in einfacher Kleidung, die ihren Altersgenossen an den Ufern des Mississippi zum verwechseln ähnlich waren. Auch an Dörfern kamen wir vorüber, deren saubere Bahnhofsgebäude von oben bis unten mit Anzeigen beklebt waren. Wir sahen allerlei Vögel, aber weder ein Känguruh, noch einen Emu, weder ein Schnabeltier, noch einen Vorleser, auch keinen Eingeborenen; alles Wild war im Lande wie ausgestorben. Aber nein – ich habe mich geirrt. Unter Eingeborenen versteht man nur Weiße, die in Australien zur Welt gekommen sind. Ich hätte sagen sollen, daß ich keine Wilden, keine Schwarzen gesehen habe – und zwar bis auf den heutigen Tag nicht. Die großen Museen sind voll von Wundern aller Art, aber was den Fremden am meisten interessieren würde, sucht er dort vergebens. Auch in Amerika haben wir zahllose Museen, allein man findet nicht eine einzige amerikanische Rothaut darin. Das ist so verkehrt, wie nur irgend möglich, aber merkwürdigerweise habe ich früher noch nie daran gedacht; es fällt mir heute zum erstenmal ein.

Siebzehntes Kapitel.

Siebzehntes Kapitel.

Der Mensch hat einen Sinn für das was recht ist und einen Sinn für das was unrecht ist. Die Geschichte lehrt uns, daß er den ersteren gebraucht, um dem rechten aus dem Wege zu gehen und den letzteren, um aus dem Unrechten Nutzen zu ziehen.

Querkopf Wilsons Kalender.

Seit vielen Jahren schwebte über mir ein Geheimnis, das sich nirgends anders enträtseln ließ, als in Melbourne. Die Sache verhielt sich folgendermaßen:

Ich war im Jahre 1873 mit Frau und Kind eben in London angekommen, als ich aus Neapel eine Zuschrift erhielt, unter der ein mir unbekannter Name stand. Es war nicht Bascom und auch nicht Henry, aber der Bequemlichkeit halber will ich den Briefsteller Henry Bascom nennen. Das Schreiben bestand aus etwa sechs Zeilen auf einem weißen Papierstreifen, der am untern Ende abgerissen war. Im Lauf der Jahre erhielt ich noch viele solche Streifen, die alle einander an Form und Größe völlig gleich sahen; auch der Inhalt war meist der nämliche: der Schreiber forderte mich auf, mit den Meinigen an dem und dem Tage nach seinem Landsitz in England zu kommen, um ihm einen achttägigen Besuch zu machen. Der Zeitpunkt für Ankunft und Abreise war genau angegeben. Diese Einladungen erfolgten stets lange im voraus; wenn wir in Europa waren, etwa drei Monate, waren wir in Amerika, schon ein halbes oder ein ganzes Jahr vorher. Auch der Zug, mit dem wir kommen und gehen sollten, war jedesmal in dem Schreiben bestimmt erwähnt.

Jener erste Brief setzte einen Tag in drei Monaten für unsere Ankunft fest; wir sollten am sechsten August mit dem Nachmittagszug 4.10 von London abfahren und im Wagen abgeholt werden. Eine Woche später würde uns der Wagen wieder zu dem und dem Zug auf den Bahnhof bringen. Als Nachschrift standen noch die Worte darunter:

»Sprechen Sie mit Tom Hughes.«

Ich zeigte dem Verfasser von ›Tom Brown in Oxford‹ den sonderbaren Brief, und er sagte:

»Nehmen Sie die Einladung mit Dank an.« Hierauf schilderte er mir Herrn Bascom als einen genialen, hochgebildeten und in jeder Beziehung außergewöhnlichen Mann, einen so edlen und reinen Charakter, wie man ihn nur selten findet. Auch sei es schon der Mühe wert, eine weite Reise zu machen, um Bascom Hall – eins der stattlichsten herrschaftlichen Schlösser aus der Zeit der Königin Elisabeth – in Augenschein zu nehmen. Herr Bascom sei eine gesellige Natur und sehe gern interessante und liebenswürdige Menschen bei sich. Man könne daher dort im Hause stets die angenehmsten Bekanntschaften machen.

Wir statteten damals den Besuch ab und noch mehrere andere im Lauf der nächsten Jahre, den letzten 1879. Bald darauf trat Bascom auf seinem eigenen Dampfer eine Reise um die Welt an. Er wollte lange fortbleiben, alles mit Muße betrachten und in den fremden Ländern auch Vögel, Schmetterlinge u. dgl. sammeln.

Am 2. Juli 1881, dem Tage, an welchem Präsident Garfield von dem Mörder Guiteau tödlich verwundet wurde, kam in dem kleinen Badeort am Sund von Long Island, wo wir unsere Sommerfrische hielten, ein Brief mit dem Poststempel Melbourne an. Er war an meine Frau adressiert, da ich aber Bascoms Handschrift erkannte, machte ich ihn auf. Der Brief enthielt wie gewöhnlich nur ein paar Zeilen auf einem Papierstreifen, aber ihr Inhalt war sehr merkwürdig und ganz anders als sonst. – Vielleicht könne es den Kummer meiner Frau lindern – so ungefähr lautete das Schreiben – wenn sie erführe, wie erfolgreich die Vorlesungstour ihres Gatten in Australien von Anfang bis zu Ende gewesen sei. Der Briefsteller könne das nach bestem Wissen bezeugen und die Mitteilung hinzufügen, daß der allzu frühe Tod ihres Gatten von der ganzen Bevölkerung aufs tiefste beklagt werde. Sie würde das jedoch ohne Zweifel bereits aus Zeitungstelegrammen ersehen haben. Alle Beamten und Würdenträger der Kolonie und der städtischen Regierung wären bei dem Begräbnis zugegen gewesen. Schreiber dieser Zeilen hätte zwar leider Melbourne nicht mehr rechtzeitig erreichen können, um die Leiche noch einmal zu sehen, doch hätte er es sich nicht versagen wollen, als Freund der Familie wenigstens unter den Hauptleidtragenden zu sein.

Unterschrieben: ›Henry Bascom‹.

Wenn er doch den Sarg hätte öffnen lassen! Das war mein erster Gedanke. Er würde sich dann überzeugt haben, daß es die Leiche eines Betrügers war, er hätte sie öffentlich versteigern und mir das Geld schicken können und das ganze Trauergefolge, samt der betrübten Regierung, würde sich die Tränen aus den Augen gewischt haben.

Damals ließ ich die Sache auf sich beruhen. Ich hatte schon früher mehrmals die Polizei in Anspruch genommen, um mich gegen meine lebendigen Vorlesungs-Doppelgänger in Amerika zu schützen; doch war man ihrer niemals habhaft geworden. Auch andere meiner Kollegen hatten umsonst versucht, ihre betrügerischen Duplikate zu entlarven. Was sollte es da wohl nützen, einen abgeschiedenen Geist zu beunruhigen? – So störte ich denn seinen Frieden nicht; aber neugierig war ich doch, Näheres über die Vorlesungstour jenes Menschen und seine letzten Lebensstunden zu erfahren. Ich wollte warten, bis ich Bascom wiedersähe, und mir alles von ihm erzählen lassen; er starb jedoch, ohne daß wir uns zuvor noch einmal im Leben trafen, und dann dachte ich nicht mehr an jenes Ereignis.

Als ich jedoch die Reise nach Australien plante, war meine Neugier wieder erwacht. Sehr natürlich – denn, wenn die Zuhörer meiner Vorlesungen etwa gesagt hätten, ich sei recht fade und langweilig, im Vergleich zu dem, was ich vor meinem Tode gewesen, so würde die Einnahme darunter gelitten haben.

Wie sehr war ich nun überrascht, als mir die Zeitungsredakteure in Sydney sagten, sie hätten v on jenem Betrüger noch nie etwas gehört. Ich mochte sie ausfragen so viel ich wollte, sie wußten nichts von ihm und zweifelten an der ganzen Geschichte. Mir war das unverständlich; doch glaubte ich, in Melbourne würde sich die Sache leicht aufklären lassen. Die Regierung und das übrige Trauergefolge mußten sich doch noch an den Leichenzug erinnern. Bei dem Festessen, das mir die Journalisten gaben, stellte sich jedoch heraus, daß auch sie nichts hatten verlauten hören und mir keine Auskunft geben konnten.

So blieb, zu meiner großen Enttäuschung, das Geheimnis nach wie vor in Dunkel gehüllt. Ich hoffte nun nicht mehr, daß ich die Lösung des Rätsels noch auf Erden erfahren würde und suchte mir die Sache aus dem Sinne zu schlagen. Aber endlich, gerade als ich es am wenigsten erwartete – doch nein, hier ist nicht der richtige Platz, um die übrige Geschichte zu erzählen; ich werde in einem viel späteren Kapitel wieder darauf zurückkommen.

*

Die Stadt Melbourne hat eine ungeheure Ausdehnung und Bauwerke von hervorragender Pracht und Größe. Ihre Straßenbahnen sind vortrefflich, sie besitzt Museen, höhere und niedere Schulen, öffentliche Gärten, Gas, Elektrizität, Bibliotheken und Theater. Sie ist der Mittelpunkt für den Bergbau, die Wollindustrie, für Kunst und Wissenschaft, man findet dort Gewerkvereine, Schiffe, Eisenbahnen, einen Hafen, gesellige Vereinigungen, Journalistenklubs, Rennvereine und einen Klub der Squatter, dem ein wundervoll eingerichtetes Haus gehört, auch so viele Banken und Kirchen, wie irgend nebeneinander bestehen können. Kurz, Melbourne hat alles, was zur modernen Großstadt gehört; es ist die bedeutendste Stadt auf dem australischen Festland und den Inseln und füllt ihren Posten als solche mit Ehre und Würde aus. Einen besonderen Vorzug besitzt es aber noch, den man nicht mit andern Dingen zusammenwerfen darf. Es ist nämlich das Zentrum für den Kultus des Pferderennens. Sein Rennplatz ist das Mekka von Australien.

Am 5. November, dem alljährlichen Festopfertag, stehen auf einer Strecke, die länger ist, als von New York nach San Francisco, und breiter als von den nördlichen Seen bis zum Golf von Mexiko, sämtliche Geschäfte völlig still; Männer und Frauen jedes Standes und Ranges, deren Mittel es erlauben, lassen daheim alles stehen und liegen, und kommen herbeigeströmt. Schon zwei Wochen vor dem bestimmten Tage beginnen die Scharen sich zu Schiffe und mit der Eisenbahn einzufinden; täglich erscheinen sie in immer dichteren Schwärmen, bis alle Transportmittel die Last kaum mehr zu bewältigen vermögen und die Hotels und Wohnhäuser von oben bis unten vollgestopft sind. Zu Hunderttausenden sieht man sie anmarschieren, wie glaubwürdige Zeugen versichern, um den Riesenplatz und die Tribünen zu füllen. In ganz Australien bekommt man nirgends ein ähnliches Schauspiel zu Gesicht.

Das Preisrennen von Melbourne ist es, zu dem alle diese Menschen zusammenströmen. Die Festkleider sind schon lange vorher bestellt; sie müssen an Pracht und Schönheit alles überstrahlen, was je dagewesen ist; keine Kosten werden gescheut, und man verbirgt sie sorgfältig vor neugierigen Blicken, bis der große Tag erscheint, dem man sie geweiht hat. Ich meine natürlich die Toiletten der Damen; aber das versteht sich ja von selbst.

Die Tribünen bieten denn auch einen wundervollen, blendenden Anblick; man sieht dort die zauberhaftesten Farben, die entzückendste Schönheit. Der Champagner fließt in Strömen, die allgemeine Stimmung ist lebhaft, aufgeregt, glücklich; jeder wettet, und Unsummen werden gewonnen oder verloren. Tag für Tag finden Wettrennen statt, wobei stets die ausgelassenste Lust und Laune herrscht. Nachdem das Programm des Tages erschöpft ist, tanzen die Leute noch die ganze Nacht hindurch, um sich für das Rennen des nächsten Tages zu stärken. Am Schluß der großen Woche sichern sich die Menschenmassen zuguterletzt Unterkunft und Fahrgelegenheit für das nächste Jahr; dann verstreut sich alles, jeder kehrt nach seiner fernen Heimat zurück, zählt seinen Gewinn oder Verlust, bestellt die Kleider zum nächsten Preisrennen, legt sich zu Bett, schläft vierzehn Tage lang und steht endlich mit dem traurigen Gedanken wieder auf, daß man ein ganzes Jahr warten muß, bevor man sich wieder aus vollster Seele seines Lebens freuen kann.

Das Preisrennen von Melbourne ist das Nationalfest Australiens. Seine Wichtigkeit läßt sich gar nicht hoch genug anschlagen. Jeder andere Fest- oder Feiertag irgend welcher Art, den die Kolonien begehen, wird durch seinen Glanz verdunkelt. Zwar feiert man noch allerlei, teils aus Gewohnheit, teils von Amts wegen, aber nicht so gründlich, so allgemein, so aus freien Stücken, wie das große Wettrennen. Es hat seinesgleichen in keinem andern Lande der Welt. Je näher dies höchste Fest des Jahres herankommt, um so glühender wird die Erwartung, die Vorbereitung und die allgemeine Glückseligkeit; man denkt und redet überhaupt nichts anderes mehr.

In Amerika haben wir keinen Tag im Jahr, der so wie dieser die Gesamtbevölkerung beseligen kann. Wir feiern den vierten Juli, Weihnachten und das Dankfest. Aber keiner dieser drei Festtage hat einen Vorrang vor dem andern, und keiner ist, wie gesagt imstande, das ganze Volk zu beglücken. Von zehn erwachsenen Amerikanern empfinden mindestens acht ein wahres Entsetzen vor dem vierten Juli mit seinem gefährlichen Höllenspektakel und wünschen sich Glück, daß er vorüber ist – wenn sie noch am Leben sind. Auch das Nahen des Weihnachtsfestes bringt vielen trefflichen Menschen Qual und Pein. Sie müssen ganze Wagenladungen von Geschenken kaufen und wissen nie, ob sie den Geschmack der Empfänger getroffen haben. Drei Wochen lang arbeiten sie im Schweiße ihres Angesichts und wenn der Weihnachtsmorgen anbricht, fühlen sie sich, so enttäuscht und so unzufrieden mit ihren Leistungen, daß sie sich am liebsten hinsetzen möchten, um sich nach Herzenslust auszuweinen und nur in dem, Gedanken Trost finden, daß bloß einmal im Jahr Weihnachten ist. Unser Dankfest wird seit einiger Zeit ganz allgemein durch ein Festessen gefeiert. Das Dankgefühl ist bei uns jedoch weit weniger verbreitet. Zu verwundern braucht man sich darüber nicht. Zwei Drittel des Volkes haben jetzt das ganze Jahr hindurch so wenig Glück und ein so schweres Leben, daß ihre Festfreude sich bedeutend abkühlt.

Auch in andern Ländern feiert man hohe Feste, aber wie gesagt, keins an dem das ganze Volk so von Herzen Anteil nimmt. Man wird mir daher wohl zugeben müssen, daß das Preisrennen von Melbourne das Fest aller Feste ist und vermutlich seinen hohen Rang noch lange Zeit behaupten wird.

Für den Reisenden hat in fremden Landen dreierlei das größte Interesse: erstens, die Bevölkerung, zweitens, alles was ihm neu ist und drittens, die geschichtlichen Erinnerungen, welche sich an die Orte knüpfen. In Städten, die auf der Höhe der modernen Zivilisation stehen, wird er selten etwas Neues finden. Kennt man solche Städte in andern Weltteilen, so kennt man tatsächlich auch die großen Städte Australiens. Zwar sind Unterschiede vorhanden, aber es gehört schon ein recht geübtes Auge dazu um sie zu entdecken, und der Fremde hat selten Zeit zu so genauer Beobachtung.

Freilich in den Museen sind endlose Zimmer voll der merkwürdigsten und anziehendsten Gegenstände. Aber das ist doch mehr oder weniger bei allen Museen der Fall; ihre Besichtigung macht uns immer Augenweh und Rückenschmerzen und verzehrt unsere Lebenskraft durch ihr aufreibendes Interesse. Man nimmt sich stets von neuem vor, nie wieder hinzugehen – und tut es schließlich doch. Die Paläste der Reichen m Melbourne gleichen den Palästen der Reichen in Amerika fast aufs Haar, auch die Lebensweise darin ist die nämliche, aber weiter geht die Ähnlichkeit nicht. Die Gartenanlagen, in denen die amerikanischen Paläste liegen, sind selten groß und oft gar nicht schön; aber in Melbourne haben sie meist den Umfang von fürstlichen Parks und die Kunst des Gärtners schafft daraus mit Hilfe des Klimas etwas ganz Zauberhaftes. Manche Landgüter außerhalb der Stadt sollen sich an Größe und wunderbarem Reiz mit der Besitzung eines englischen Lords messen können. Aber das weiß ich nicht aus eigener Anschauung; ich hatte in der Stadt alle Hände voll zu tun und bin nicht aufs Land hinaus gekommen.

Wie ist aber diese Riesenstadt mit ihren palastähnlichen Häusern und Landsitzen entstanden? Ein englischer Sträfling hat den ersten Stein dazu gelegt und das erste Haus gebaut. Die Geschichte Australiens ist durch und durch romantisch, voll der sonderbarsten, merkwürdigsten Begebenheiten, gegen die alles andere Neue, das man sieht und hört, in den Hintergrund tritt. Sie liest sich gar nicht wie Geschichte, sondern wie eine Sammlung der schönsten Lügen und zwar noch nie dagewesener, keiner abgedroschenen. Allerlei Ueberraschungen, Abenteuer, Ungereimtheiten, Widersprüche und unglaubliche Dinge werden einem aufgetischt; aber sie sind buchstäblich wahr und haben sich wirklich zugetragen.

Auch die Geschichte des Mannes, der den Grundstein von Melbourne gelegt hat, ist ein förmlicher Roman. Sein Name war Buckley, und über kurz oder lang wird man Melbourne in Buckleystadt oder Buckleyburg umtaufen müssen, um die bisherige Ungerechtigkeit wieder gut zu machen. Buckley war ein junger, riesenstarker Engländer, der das Maurerhandwerk betrieb. Später wurde er Soldat und brachte aus den Kriegen mit Holland eine ehrenvolle Wunde heim; die Narbe trug er sein Leben lang. In England wurde er eines Tages angeklagt und überführt, gestohlene Waren verborgen zu haben – wahrscheinlich im Wert von sechs Schillingen –, und einstweilen ins Gefängnis geworfen. Dabei schiffte man ihn mit einer Ladung anderer Sträflinge nach Australien ein – auf wie viele Jahre sagt die Geschichte nicht. Dies war der vielversprechende, ereignisreiche Anfang seines jungen Lebens. Es geschah 1803, als er dreiundzwanzig Jahre zählte.

Die Fahrt dauerte fünf und einen halben Monat, dann landete das Schiff nicht weit von der Stelle, wo jetzt Melbourne erbaut ist. Die Gegend war noch mit wildem Urwald bedeckt, in dem nur Eingeborene lebten. Die nächste Niederlassung der Weißen, die kleine Kolonie Sydney, lag viele hundert Meilen entfernt. Man begann sofort eine Sträflingskolonie einzurichten (die bald wieder aufgegeben wurde), und Buckley legte den Grundstein des ersten Hauses.

Der schmachvolle Sklavendienst seines neuen Lebens war Buckley ein Greuel; auch das Klima sagte ihm nicht zu, als im Januar der Hochsommer kam, und er seine harte Arbeit bei einer Temperatur von 110° im Schatten verrichten mußte. So machte er denn einen Fluchtversuch und erlangte glücklich seine Freiheit wieder. Von den Gefährten seiner Flucht wurde einer durch die Wache erschossen, die andern irrten sechs Tage lang mit Buckley im Busch umher, dem Hungertode preisgegeben. Da sie aber sahen, daß ihre Leiden in der Freiheit nicht geringer waren als beim Sträflingsleben, wo sie doch wenigstens Nahrung erhielten, kehrten sie wieder um. Buckley wollte sie nicht begleiten und blieb allein zurück; als Mann von echtem Schrot und Korn dachte er an keinen Rückzug.

Ursprünglich hatte er die Absicht gehabt, mit den Genossen nach Kalifornien zu wandern; sie waren eben ungebildete Leute und wußten wenig von der Erdbeschreibung. Als nun Buckley sich selbst überlassen war, gab er den Plan auf, teils wegen der Entfernung, teils weil ihm nicht ganz klar war, in welcher Richtung er Kalifornien zu suchen hätte. Er beschloß dagegen, nach Sydney zu wandern, ging jedoch fehl und kam immer weiter von seinem Ziel ab. Lange fristete er sein Leben mit Beeren, Muscheln und dergleichen, bis er endlich den Eingeborenen in die Hände fiel. Gerade an jenem Morgen hatte er jedoch, ohne es zu wissen, einen glücklichen Fund getan. Er hatte einen Speer, der in einem Grabhügel steckte, herausgezogen und hielt ihn noch in der Hand, als die Eingeborenen ihn umringten. Sie glaubten, er sei der wieder lebendig gewordene Insasse jenes Grabes und begrüßten ihn als Stammesgenossen und Verwandten. In ihrer Freude über seine Wiederkehr versahen sie ihn alsbald mit Speise und Weibern, auch mit einem Neffen und andern zum Leben notwendigen Erfordernissen und nahmen ihn gastlich in ihrer Mitte auf.

Er lebte unter den Wilden und wurde ein wichtiger, einflußreicher Häuptling des Stammes, lernte dessen Sprache und vergaß mit der Zeit seine eigene. Ohne jemals wieder einen Weißen zu sehen, brachte dieser neue Robinson zweiunddreißig Jahre unter so seltsamen Verhältnissen zu, und kein Mensch ahnte, daß er noch am Leben sei.

So etwas kann auch nur in Australien vorkommen. Die andern Robinsone verschwinden vielleicht auf vier Jahre, tauchen dann wieder auf und kommen in Ziegenfelle gekleidet, großprahlerisch einherstolziert; aber der australische Robinson geht ein ganzes Menschenalter verloren und kehrt bescheiden zurück, ohne irgend etwas anzuhaben, weil er die Aufmerksamkeit nicht auf sich zu lenken wünscht.

Heutzutage würden Telegraphen, Zeitungen und illustrierte Journale sich einer neuentdeckten Persönlichkeit, wie dieser Buckley, annehmen, seinen Namen in alle Welt posaunen, und ihn zum reichen Manne machen. Aber der Buckley aus alter Zeit konnte den Roman seines Lebens zu keinem so glänzenden Abschluß bringen. Er pries sich schon glücklich, als er zum Leibdiener des kommandierenden Obersten der Kolonie ernannt wurde und die nötigen Kleidungsstücke erhielt; eine Zeitlang tat er auch Dienste als Konstabler und Geheimpolizist. Bald legte er jedoch sein Amt nieder, ging nach Van Diemensland (dem jetzigen Tasmanien) und wurde zweiter Verwalter im Auswandererheim. Zuletzt erhielt er den Posten eines Torschließers im Frauenasyl. 1840, als er sechzig Jahre alt war, heiratete er die Witwe eines Handwerkers. Mit siebzig Jahren ließ er sich pensionieren und erhielt ein Ruhegehalt von 60 Pfund Sterling, das er noch sechs Jahre lang genießen durfte. Dann nahm ihn der Tod hinweg, der ihm sein Glück nicht länger gönnen mochte. So endete denn der wunderbare Lebenslauf des Gründers von Melbourne auf sehr hausbackene und alltägliche Weise.

Achtzehntes Kapitel.

Achtzehntes Kapitel.

Die Engländer kommen schon in der Bibel vor, wo es heißt: ›Selig sind die Sanftmütigen, denn sie werden das Erdreich besitzen.‹

Querkopf Wilsons Kalender.

Wenn wir bedenken, wie ungeheuer groß der Flächeninhalt des britischen Kaiserreichs ist, wie bedeutend seine Einwohnerzahl und sein Handel, so wird es uns schwer zu glauben, daß Australien und Ozeanien wirklich einen so hervorragenden Anteil an Englands Weltstellung haben, wie man versichert. Der Länderbesitz aller andern Mächte – außer Rußland – ist im Vergleich zum britischen Reich winzig klein, und es übertrifft selbst Rußland etwa um ein Viertel an Größe, was ich aus sicherer Quelle weiß. Großbritannien und China herrschen ungefähr über die gleiche Bevölkerungszahl; jedes dieser beiden Reiche hat 400 000 000 Untertanen. Da bleiben alle andern Mächte – auch Rußland – weit zurück.

Die vier Millionen Einwohner von Australien scheinen zwar nur ein Tropfen in dem kaiserlich britischen Meer von vierhundert Millionen Köpfen; allein, sie gewinnen sehr an Bedeutung, wenn man ihren Einfluß auf den britischen Welthandel in Betracht zieht. Englands jährliche Einfuhr und Ausfuhr wird auf drei Billionen Dollars geschätzt und davon soll mehr als ein Zehntel auf die Ausfuhr und Einfuhr zwischen Australien und England kommen. Daneben treibt Australien noch Handel mit anderen Staaten, wodurch ein jährlicher Ertrag von hundert Millionen Dollars erzielt wird, während der Umsatz innerhalb der Kolonien sich auf hundert und fünfzig Millionen beläuft.

In runden Zahlen ausgedrückt kaufen und verkaufen also die 4 000 000 Einwohner jährlich etwa Waren im Wert von 600 000 000 Dollars, wovon die Hälfte, wie behauptet wird, aus einheimischen Produkten Australiens besteht.

Die Ausfuhr der Produkte Indiens trägt jährlich eine Kleinigkeit über 500 000 000 Dollars ein, woraus sich Zahlen ergeben, die höchst verwunderlich sind, nämlich:

Indiens Produktion (300 000 000 Einwohner) $ 500 000 000.

Australiens Produktion (4 000 000 Einwohner) $ 300 000 000.

Demnach produziert der einzelne Inder an Ausfuhrartikeln durchschnittlich für $ 1.75 im Jahr; der einzelne Australier dagegen für $ 75!

Nach zuverlässigen statistischen Tabellen, welche von Sir Richard Temple und andern aufgestellt worden sind, beläuft sich die jährliche Produktion eines Inders für Ausfuhr und Verbrauch im Lande auf $ 7.50 oder $ 37.50 für eine Familie von fünf Personen; während die Durchschnittsproduktion einer ebenso großen Familie in Australien fast $ 1600 beträgt.

Es gibt doch wirklich nichts Ueberraschenderes in der Welt als Zahlen, wenn man erst einmal anfängt sich mit ihnen einzulassen.

Wir fuhren von Melbourne mit der Eisenbahn nach Adelaide, der Hauptstadt der großen Provinz Südaustralien – eine Reise von siebzehn Stunden. Unterwegs trafen wir mehrere Bekannte aus Sydney, u. a. einen Richter, der auf der Rundreise war und in Broken Hill, wo das berühmte Silberbergwerk ist, eine Gerichtssitzung halten wollte. Der Weg, den er einschlug, um in jene Gegend zu gelangen, schien uns etwas sonderbar gewählt: Broken Hill liegt dicht an der Westgrenze von Neusüdwales und Sydney in dessen äußerstem Osten; die Entfernung zwischen beiden Orten mag in gerader Linie etwa 700 Meilen betragen, während der Richter mehr als 2000 Meilen mit der Eisenbahn fahren mußte, nämlich von Sydney südwestlich bis Melbourne, dann nordwestlich nach Adelaide, von da zurück nordöstlich und wieder über die Grenze von Neusüdwales bis Broken Hill.

Die Sache erklärte sich jedoch auf sehr einfache Weise: Vor Jahren war die Welt plötzlich durch den fabelhaft reichen Silberfund von Broken Hill überrascht worden. Die Aktien hatten anfänglich nur ein paar Schillinge gegolten, allein im Handumdrehen stieg ihr Wert bis zu ganz unglaublichen Summen. Es war einer jener Fälle, wo die Köchin für ihren Monatslohn einen Anteilschein ersteht, und im folgenden Jahre ihrer Herrschaft das Haus abkauft und selbst hineinzieht; wo der Kutscher ein paar Aktien nimmt und nach Monatsfrist eine Bank eröffnet; wo der gemeine Matrose sich mit dem Preis, den ihn ein Zechgelage kosten würde, bei dem Unternehmen beteiligt und im nächsten Monat ein eigenes Handelsgeschäft gründet, mit dem er der Dampfschiffgesellschaft Konkurrenz macht. Kurzum, es entstand ein förmliches Entdeckungsfieber; urplötzlich strömten große Menschenmassen auf ein und derselben Stelle zusammen, und man mußte unverzüglich für ihre Bedürfnisse sorgen. Adelaide war in nächster Nähe und Sydney weit entfernt; da baute Adelaide natürlich eine kurze Eisenbahn über die Grenze, bevor Sydney noch Zeit hatte eine lange Linie zu bauen. Der ganze ungeheure Handelsprofit von Broken Hill wurde unwiderruflich nach Adelaide gelenkt, und für Sydney verlohnte es sich später überhaupt nicht mehr der Mühe, eine Bahn dorthin anzulegen. So steht denn Broken Hill unter der Gerichtsbarkeit von Neusüdwales, das seine Richter 2000 Meilen weit schicken muß – meist durch andere Provinzen – während Adelaide ruhig und ohne sich zu beklagen, sämtliche Dividenden einstreicht. Wir fuhren nachmittags um 4.20 ab und meist durch ebenes Land. Am Morgen kamen wir in den ›Scrub‹, so heißen die mit verkrüppeltem Buschwerk bewachsenen Gegenden, welche in den australischen Romanen eine so große Rolle spielen. Dort lauert der feindliche Eingeborene, schweift ungesehen umher, macht von Zeit zu Zeit plötzliche Ausfälle, beraubt und tötet den allzu sichern Ansiedler und schleicht ins Dickicht zurück, ohne eine Spur zu hinterlassen, welche der weiße Mann zu entdecken vermöchte. Dort verirrt sich auch die Heldin des Romanschreibers; alles Suchen nach ihr ist vergebens, sie wandert hierhin und dorthin, bis sie ermattet und bewußtlos niedersinkt. Die ausgesandten Retter gehen wenige Meter von der Stelle wo sie liegt an ihr vorüber, ohne ihre Nähe zu ahnen, und erst viel später findet irgend jemand zufällig ihr Gebeine und das hinterlassene Tagebuch, das sie noch mit Aufbietung ihrer letzten Kraft geschrieben hat. Eine verlorene Heldin im Scrub aufzuspüren, vermag keiner außer dem eingeborenen Pfadfinder, und der gibt sich nur damit ab, wenn es dem Romanschreiber in seinen Plan paßt. Der Scrub erstreckt sein grünes Dickicht viele Meilen weit nach allen Richtungen und sieht aus wie ein plattes Dach, in dem weder Riß noch Spalte ist, oder wie eine große Decke ohne Naht. Sich im Scrub zurecht zu finden ist ein Ding der Unmöglichkeit, er ist pfadlos wie eine Wasserwüste. Und doch sagt man, daß der Eingeborene verirrte Wanderer im Scrub, im Busch und in der Wüste aufspüren, ja ihnen selbst über nackte Felsen oder Sandbänke folgen kann, von denen die Fluten jede Spur eines Fußtritts hinweggespült haben.

Sowohl aus australischen Büchern, wie aus den mündlichen Schilderungen, die mir gemacht wurden, habe ich die Ueberzeugung gewonnen, daß der eingeborene Pfadfinder so viel Schlauheit, Scharfblick, Klugheit und Beobachtungsgabe besitzt, wie man es bei keinem Volke der Erde, weder unter Weißen noch Farbigen wiederfindet. In einer von der Regierung der Provinz Victoria veröffentlichten Beschreibung der Negerbevölkerung Australiens, heißt es unter anderm, daß der Eingeborene nicht nur an der Rinde des Baumes die schwache Spur entdeckt, welche das Opossum beim Klettern zurückläßt, sondern auch irgendwie zu erkennen vermag, ob die Spur von gestern oder erst von heute herrührt.

Man sagt, der Ansiedler A. habe einmal mit seinem Nachbar B eine Wette gemacht, daß ein Eingeborener B’s Kuh wiederfinden würde, wo und wie er sie auch verbergen möchte. B zeigte dem Eingeborenen die Fußspuren der Kuh und läßt ihn dann einschließen und bewachen. Hierauf führt er das Tier auf eine Straße, von der nach allen Seiten Kreuzwege abzweigen und die mehrmals wieder in der Runde zurückführt. Er wählt die schwierigsten Pfade aus, treibt das Tier öfters durch große Kuhherden, wo seine Spur unter den andern Rindern ganz verloren geht, und bringt die Kuh schließlich wieder nach Hause. Nun entläßt man den Eingeborenen aus seinem Gewahrsam, worauf er sofort im Kreise herumgeht und die Fußspuren aller Kühe solange untersucht, bis er die richtigen gefunden hat; dann folgt er den verschlungenen Wanderungen der Kuh, ohne sich beirren zu lassen und entdeckt sie zuletzt wirklich in dem Stall, wo B das Tier verborgen hat. Nun sage mir einmal jemand, wodurch sich die Spuren der einen Kuh von denen einer andern unterscheiden? Es muß irgend ein Unterschied vorhanden sein, sonst könnte der Eingeborene sein Kunststück nicht ausführen. Und wie merkwürdig, daß für den Abkömmling einer Rasse, von der viele behaupten, sie stehe auf der niedrigsten geistigen Stufe menschlicher Entwicklung, dieser wesenlose, schattenhafte Unterschied erkennbar ist, welchen weder ich, noch einer meiner Volksgenossen – selbst nicht der verstorbene Sherlock Holmes – imstande wäre aufzuspüren.

  1. N.S.W. Blaubuch.
  2. D. M. Luckie.
  3. Ebda.
  4. N.S.W. Blaubuch.
  5. Der berühmte Detektiv in den C. Doyle’schen Erzählungen; siehe die Sherlock Holmes-Serie, illustr. Ausgabe in 6 Bänden.

Erstes Kapitel.

Erstes Kapitel.

Es kommt vor, daß ein Mensch zwar keine üblen Angewohnheiten hat – aber Schlimmeres.

Querkopf Wilsons Kalender.

Der Ausgangspunkt meiner Vorlesungstour um die Welt war Paris, wo ich seit ein paar Jahren mit den Meinigen lebte. Wir reisten von dort nach Amerika, um die nötigen Vorbereitungen zu treffen. Das war schnell geschehen. Zwei meiner Angehörigen beschlossen die Reise mitzumachen – desgleichen ein Karbunkel. Im Wörterbuch steht: ein Karbunkel oder Karfunkel ist eine Art Edelstein. Ich muß gestehen, daß der Humor in einem Wörterbuch schlecht am Platze ist.

Mitten im Sommer brachen wir von New York nach dem Westen auf; alles Geschäftliche übernahm Herr Pond, bis zum Stillen Ozean. Es war ein heißes Stück Arbeit und in den letzten vierzehn Tagen obendrein rauchig zum Ersticken, weil in Oregon und Britisch Columbia gerade die Waldbrände wüteten.

Während einer Woche genossen wir den Rauch auch noch am Seestrande, wo wir eine Zeitlang auf unser Schiff warten mußten. Es hatte im Rauch die Richtung verloren, war auf den Grund geraten und mußte erst gedockt und aufgezimmert werden.

Endlich wurden die Anker gelichtet, und damit endete unser Schneckengang auf dem Festland, der vierzig Tage gedauert hatte. Wir segelten westwärts über die leicht gekräuselte, glitzernde Sommersee, die, zum Entzücken klar und kühl, von jedermann an Bord freudig begrüßt wurde. Am willkommensten war sie mir, nach dem Staub, dem Rauch und der Hitze, die ich in den letzten Wochen durchgemacht hatte. Die Seereise verschaffte mir eine dreiwöchentliche, fast ununterbrochene Ruhezeit. Wir hatten den ganzen Stillen Ozean vor uns, und nichts zu tun als nichts zu tun und uns gemütlich zu fühlen. Victoria, die Hauptstadt der Vancouver-Insel, leuchtete nur noch schwach aus ihrer Rauchwolke herüber und wollte eben verschwinden. Wir legten die Feldstecher beiseite und ließen uns friedlich auf den Klappstühlen nieder, wie zufriedene Leute. Aber sie brachen unter uns in Trümmer zusammen und brachten uns in Schmach und Schande vor allen Passagieren. Zum Preis von guten Stühlen hatten wir sie aus dem größten Möbelgeschäft von Victoria bezogen, und dabei waren sie keinen Heller per Dutzend wert. Im Indischen und im Stillen Ozean muß jeder noch immer seinen eigenen Klappstuhl mit an Bord bringen, wie das in längst vergangenen Zeiten auch auf dem Atlantischen Ozean Sitte war – im finstern Mittelalter der Seereisen.

Unser Dampfer war sonst recht behaglich eingerichtet; wir bekamen die gewöhnliche Schiffskost – gute und reichliche Nahrung, von der Vorsehung gespendet, aber in des Teufels Küche gekocht. Auch die Mannszucht an Bord war so gut, wie sie überhaupt in jenen Breiten zu haben ist. Für eine Fahrt in den Tropen war das Schiff nicht besonders zweckmäßig ausgerüstet, aber das ist ja durchgängig bei allen Fahrzeugen der Fall, die man nach den Tropen schickt. An Kakerlaken litten wir keinen Mangel; auch das ist die Regel auf den Schiffen in jenen Meeren, das heißt, auf allen, die schon längere Zeit im Dienste stehen.

Der Kapitän war ein junger, schöner Mann, groß und hübsch gebaut; eine Gestalt, auf der sich eine kleidsame Uniform besonders vorteilhaft ausnimmt. Er meinte es sehr gut mit uns und war freundlich und höflich, wie ein vollendeter Kavalier. Durch sein angenehmes, verbindliches Wesen verwandelte er jeden Raum, den er betrat, sofort in einen Salon; im Rauchzimmer ließ er sich nicht blicken. Von schlechten Gewohnheiten war er ganz frei; er rauchte und schnupfte nicht, kaute auch keinen Tabak; man hörte ihn weder fluchen noch schimpfen, kein grobes oder unfeines Wort kam je aus seinem Munde. Er machte keine schlechten Witze, erzählte keine Anekdoten, lachte nie unmäßig oder erhob die Stimme lauter, als es die Gesetze der Schicklichkeit vorschrieben; jeder Befehl, den er erteilte, nahm den Ton einer Bitte an. Nach Tische erschien er mit seinen Offizieren bei der Gesellschaft im Damensalon, beteiligte sich am Gesang und Klavierspiel oder wendete die Notenblätter um. Er besaß eine weiche, angenehme Tenorstimme und sang mit Geschmack und gutem Vortrag. War die Musik zu Ende, so kam eine Whistpartie an die Reihe, bis es für die Damen Schlafenszeit wurde. Im Salon brannte das elektrische Licht, solange die Gesellschaft es irgend wünschte, im Rauchzimmer aber nur bis elf Uhr. Keine von allen Vorschriften an Bord wurde so streng gehandhabt wie diese. Der Kapitän erklärte uns, daß er so fest darauf bestehen müsse, weil seine eigene Kajüte neben dem Rauchzimmer läge, und ihm vom Tabakgeruch übel würde. Da sich nun aber die beiden Zimmer auf dem Oberdeck befanden, wo immer frische Luft wehte, begriff ich nicht recht, wie unser Rauch in seine Kajüte kommen sollte. Die Zimmer waren durch keine Tür verbunden, und in der dicken Zwischenwand gab es weder Sprünge noch Risse. Für einen empfindlichen Magen ist aber vielleicht bloß eingebildeter Tabakrauch schon schädlich.

Mit seiner sanften Natur, dem feinen, liebenswürdigen Wesen, seiner Lauterkeit in Sitte und Rede, paßte der Kapitän für den herrischen, rauhen Seemannsberuf so gut wie die Faust aufs Auge. Er war mir ein rechtes Beispiel von der Ironie des Schicksals.

Obendrein lastete ein Mißgeschick auf ihm; das wußten die Passagiere und er tat ihnen leid: In der Nähe von Vancouver hatte er bei einer engen und schwierigen Durchfahrt, wo der dichte Rauch der Waldbrände alles in Dunkel hüllte, seinen Kurs verloren und war mit dem Schiff auf die Klippen geraten. Dergleichen würde unsereins für einen verzeihlichen Irrtum ansehen; bei den Direktoren einer Dampfschiffgesellschaft gilt es aber als ein Verbrechen. Zwar hatte das Admiralitätsgericht in Vancouver den Kapitän von aller Schuld freigesprochen, aber das konnte ihn nicht trösten. Bei seiner Heimkehr nach Sydney würde ein strengerer Gerichtshof den Fall untersuchen – das Direktorium der Gesellschaft, auf deren Schiffen der junge Mann seit Jahren als Steuermann gedient hatte. Dies war seine erste Reise als Kapitän.

Die Offiziere an Bord waren wackere und gesellige junge Leute, die sich an allen Belustigungen mit Vergnügen beteiligten, damit den Passagieren die Zeit nicht lang würde. Die Reisen auf dem Stillen und Indischen Ozean sind überhaupt wahre Lustfahrten für die Mannschaft. Unser Zahlmeister, ein junger Schotte, zeigte sich immer aufgeräumt, gesprächig und voller Leben, und doch war er ein körperlich kranker Mensch, das sah man ihm an. Aber sein Geist triumphierte über das Leiden; er besaß eine wunderbare Selbstbeherrschung, redete nie von seinen Schmerzen und benahm sich ganz wie jemand, der gesund und kräftig ist. Zu Zeiten litt er jedoch an den entsetzlichsten Herzkrämpfen, die oft viele Stunden dauerten. Während eines solchen Anfalls konnte er weder sitzen noch liegen; einmal hatte er sogar vierundzwanzig Stunden lang aufrecht stehen müssen, bei dem qualvollen Kampf auf Leben und Tod. Aber tags darauf sprudelte er wieder über von Lust und Laune, als ob nichts geschehen sei.

Der geistreichste Passagier an Bord, ein Mensch von glänzender Begabung, war ein junger Kanadier, dem es die Branntweinflasche angetan hatte. Er stammte aus einer reichen, angesehenen Familie und schien bestimmt Großes in der Welt zu leisten, doch nützten ihm alle Talente nichts, weil er seine Trunksucht nicht bezähmen konnte. Schon oft hatte er das feierliche Versprechen abgelegt, sich des Trinkens zu enthalten: aber man weiß ja, wie wenig dergleichen törichte Gelübde einem Menschen helfen, der nicht einen wahrhaft eisernen Willen hat. Dies Mittel ist in doppelter Hinsicht gänzlich verkehrt: erstens greift es das Uebel nicht bei der Wurzel an, und zweitens ist jedes Gelübde irgendwelcher Art etwas durchaus Naturwidriges. Es gleicht einer klirrenden Kette, die den Träger ohne Unterlaß daran erinnert, daß er kein freier Mensch ist.

Ja, ich wiederhole es: das Mittel greift das Uebel nicht bei der Wurzel an. Nicht das Trinken sollte man bekämpfen, sondern das Verlangen nach geistigen Getränken. Das ist ganz zweierlei. Zu ersterem gehört nur Willenskraft, die aber sehr stark und ausdauernd sein muß; zu letzterem nichts als Wachsamkeit und zwar während einer verhältnismäßig kurzen Frist. Da das Verlangen natürlich der Tat vorangeht, sollte man ihm auch die erste Aufmerksamkeit widmen. Was nützt es, immer und immer wieder der Tat zu wehren und das Verlangen ganz frei und unbehelligt zu lassen? Es macht sich stets von neuem geltend und endlich trägt es doch den Sieg davon. Sobald das Verlangen Einlaß begehrt, sollte man ihm die Türe verschließen; man muß unausgesetzt auf seiner Hut sein und es beizeiten vertreiben; sonst hat es sich fest eingenistet, ehe man sich’s versieht. Weist man dagegen ein Verlangen nur vierzehn Tage lang beständig zurück, so kann man fast mit Sicherheit darauf zählen, daß es nach Ablauf dieser Zeit stirbt. Das ist die einzige Art, um die Trunksucht zu heilen. Sich nur immer wieder des Trinkens zu enthalten, ohne gegen das Verlangen zu Felde zu ziehen, scheint mir die törichtste Kriegsführung, die sich denken läßt.

Ich habe früher auch Gelübde abgelegt und sie gleich darauf gebrochen. Das ließ sich nicht ändern, denn mein Wille war nicht stark genug. Auch ärgert es einen im übrigen freien Menschen, sich irgendwie gebunden zu fühlen, und er zerrt so lange an seiner Kette, bis sie zerreißt. Deshalb übernahm ich zuletzt gar keine bestimmten Verpflichtungen mehr und beschloß nur, das schädliche Verlangen zu ertöten, ohne mich der Freiheit zu berauben, Verlangen und Gewohnheit wieder aufzunehmen, sobald ich wollte. Nun hatte ich keine Beschwerde mehr. In fünf Tagen machte ich meinem Verlangen Tabak zu rauchen den Garaus und brauchte nun nicht mehr auf der Hut zu sein, denn ich empfand niemals einen sehr heftigen Wunsch danach. Eines Tages wollte ich wieder anfangen ein Buch zu schreiben, nachdem ich fünfviertel Jahre so gut wie nichts getan hatte; aber seltsamerweise kam ich damit nicht von der Stelle. Da versuchte ich zu rauchen, um zu sehen, ob es mir dann gelingen würde. Und wirklich – das half. Nun rauchte ich fünf Monate lang täglich acht bis zehn Zigarren und ebensoviele Pfeifen, bis das Buch fertig war. Dann rauchte ich ein ganzes Jahr über gar nicht mehr, bis ich ein neues Buch beginnen mußte.

Ich vermag jede meiner neunzehn schlechten Gewohnheiten beliebig abzulegen, ohne daß es mir unbehaglich oder lästig wird. Auch Leute wie Doktor Tanner und andere, die vierzig Tage lang nichts essen, können das sicherlich nur durchsetzen, weil sie das Verlangen nach Speise gleich zu Anfang mit Entschlossenheit unterdrücken. Schon nach wenigen Stunden wird das Verlangen schwach und bleibt bald ganz aus.

Einmal habe ich meine Methode auch in großem Maßstabe als Kur angewendet. Ich lag schon mehrere Tage am Rheumatismus zu Bett, und mein Zustand wollte sich nicht bessern. Zuletzt sagte der Doktor:

»Meine Arzneien können Ihnen unmöglich helfen; bedenken Sie nur, wogegen ich alles ankämpfen muß; Sie rauchen ungemein stark, nicht wahr?«

»Jawohl.«

»Und trinken sehr viel Kaffee?«

»Jawohl.«

»Auch Tee?«

»Jawohl.«

»Sie essen allerlei durcheinander, was sich nicht zusammen verträgt?«

»Jawohl.«

»Auch trinken Sie jeden Abend zwei Gläser heißen Grog?«

»Jawohl.«

»Nun sehen Sie, das alles leistet mir Widerstand. Wie soll da die Genesung Fortschritte machen? Sie müssen sich durchaus in allen diesen Dingen beschränken und ein paar Tage lang weit weniger davon zu sich nehmen.«

»Das kann ich nicht, Doktor.«

»Warum denn nicht?«

»Mir fehlt die Willenskraft. Sie mir ganz versagen – das kann ich. Aber sie nur mäßig zu genießen, geht über mein Vermögen.«

Er meinte, das werde auch dem Zweck entsprechen; morgen wolle er mich wieder besuchen. Doch wurde er selber krank und konnte nicht kommen; es war aber auch nicht mehr nötig. Zwei Tage und zwei Nächte lang enthielt ich mich aller jener Genußmittel, ja ich aß überhaupt nichts und trank nur Wasser. Nach vierundzwanzig Stunden verlor der Rheumatismus alle Kraft und verschwand spurlos. Ich war wieder kerngesund, dankte meinem Schöpfer und nahm meine frühere Lebensweise von neuem auf.

Das Heilverfahren schien mir sehr empfehlenswert und ich riet es einer Dame an. Sie war sehr leidend und wurde immer schwächer, bis ihr zuletzt keine Arznei mehr helfen wollte. Als ich ihr sagte, ich könnte sie ohne allen Zweifel in acht Tagen wieder gesund machen, bekam sie neuen Mut und versprach, meine Ratschläge pünktlich zu befolgen. Nun sagte ich ihr, sie solle vier Tage lang weder trinken, noch fluchen, noch rauchen, noch zu viel essen, dann würde sie ganz hergestellt sein. Und ich weiß, meine Prophezeiung wäre auch eingetroffen; aber sie meinte, sie könne nicht aufhören zu rauchen, zu fluchen und zu trinken, weil sie so etwas überhaupt noch nie getan hätte. Da lag der Hase im Pfeffer: sie besaß gar keine Angewohnheiten, an die sie sich jetzt hätte halten können. Da sie versäumt hatte sich rechtzeitig einen Vorrat anzulegen, der ihr im Notfall zu gute käme, war ihr nicht mehr zu helfen. Sie glich einem sinkenden Schiff, das keinen Ballast hat, den man über Bord werfen kann, um das Fahrzeug zu retten. Irgend ein paar schlechte Gewohnheiten hätten sie noch retten können, aber es fand sich nichts bei ihr vor, sie war die reinste moralische Bettlerin. Als sie noch jung genug war, um sich dies oder jenes anzugewöhnen, hinderten ihre Eltern sie daran, die zwar in der besten Gesellschaft lebten, aber die Unwissenheit selber waren. Man muß für dergleichen in der Kindheit sorgen; wenn erst Alter und Krankheit kommen, läßt sich nichts mehr nachholen, und man hat kein Mittel in der Hand, um sie zu bekämpfen.

Als junger Mensch faßte ich, wie gesagt, oft die besten Vorsätze und gelobte auch sie auszuführen, aber ich habe es nie gekonnt, weil ich meine Gewohnheiten nicht bei der Wurzel packte und das böse Verlangen ausriß; mehr als einen Monat setzte ich die Tugend nie durch. Einmal versuchte ich Maß zu halten und eine Weile ging es auch gut. Ich hatte mich verpflichtet, täglich nur eine Zigarre zu rauchen; das schob ich immer auf bis zur Schlafenszeit, und dann schmeckte sie mir wundervoll. Aber das Verlangen verfolgte mich Tag für Tag, vom Morgen bis zum Abend. Vor Ablauf einer Woche fing ich an, mich nach größern Zigarren umzusehen, als ich zu rauchen gewohnt war; dann wählte ich noch größere und immer größere. Als vierzehn Tage um waren, bestellte ich mir besondere Zigarren; sie wuchsen fort und fort. Am Ende des Monats war meine Zigarre zu solcher Länge und Dicke gediehen, daß ich sie als Krückstock hätte brauchen können. Da erkannte ich denn, daß es töricht sei, sich auf eine Zigarre zu beschränken, weil es den Menschen doch nicht vor dem Verlangen schützt. Also warf ich mein Versprechen über den Haufen und war wieder ein freier Mann.

Doch, um wieder auf den jungen Kanadier zu kommen: er war auf ›Monatsgeld gesetzt‹, eine Einrichtung, von der ich bisher noch nie gehört hatte und die ich mir von den Passagieren erklären ließ. Die angesehenen Familien in England und Kanada pflegen nämlich ihre Taugenichtse nicht auszustoßen, solange noch irgend welche Hoffnung für sie vorhanden ist. Schwindet aber endlich jede Aussicht auf Besserung, dann wird der Tunichtgut eingeschifft und bekommt nur so viel Geld in die Tasche – nein, in des Zahlmeisters Tasche – um die Reisebedürfnisse zu bestreiten. Erreicht er den Ort seiner Bestimmung, so erwartet ihn dort ein Monatsgeld, und vier Wochen später trifft wieder ein Wechsel im gleichen – nicht sehr hohen – Betrage ein. Damit pflegt er unverzüglich seine monatliche Kost und Wohnung zu bezahlen – der Hauswirt sorgt dafür, daß er diese Pflicht nicht vergißt – und den Rest noch am selben Abend zu verprassen. Dann treibt er sich müßig, voll Kummer, Not und Schwermut umher, bis der nächste Wechsel kommt. Ein solches Leben erweckt das tiefste Mitgefühl.

Wir hatten noch zwei andere Taugenichtse an Bord, die aber dem Kanadier in keiner Weise glichen; sie besaßen weder seinen Verstand noch seine hübsche Außenseite, weder sein anständiges Wesen noch seine Entschlossenheit, Großmut und Höflichkeit. Der eine mochte etwa zwanzig Jahre zählen, war aber in Kleidung, Sitte und äußerer Erscheinung eine lebendige Ruine. Er behauptete der Sprößling eines herzoglichen Hauses in England zu sein, den man, um der Familie willen, nach Kanada eingeschifft hatte, wo er alsbald in Ungelegenheiten geraten war; jetzt wurde er nach Australien befördert. Einen Titel hatte er nicht, wie er sagte; im übrigen ging er jedoch sehr sparsam mit der Wahrheit um. Bei seiner Ankunft in Australien brachte er es gleich so weit, daß man ihn ins Loch steckte, und am nächsten Morgen gab er sich bei dem Verhör auf dem Polizeiamt für einen Grafen aus, konnte aber den Beweis für diese Behauptung nicht liefern.

Zehntes Kapitel.

Zehntes Kapitel.

Eure menschliche Umgebung, die macht das Klima.

Querkopf Wilsons Kalender.

Der Oktober war vor der Tür, der Frühling hatte sich eingestellt. Alle, die man fragte, erklärten, daß es Frühling sei, aber in Canada hätte man ihn, ohne den geringsten Argwohn zu erregen, für Sommer verkaufen können. Solches Wetter ist bei uns zu Hause wunderschön, wenn man nämlich einen Aufenthalt im Gebirge ober am Seestrande macht. Aber dort nannten sie es kühl und behaupteten, wer wissen wolle was Wärme sei, müsse im Sommer nach Sydney kommen, und um die eigentliche Hitze kennen zu lernen, brauche man nur etwa tausend Meilen nach Norden zu gehen; in der Nähe des Aequators legen die Hennen gebackene Eier.

Kapitän Sturt, der große Forschungsreisende, macht folgende Beschreibung von der Hitze:

»Der Wind, der den ganzen Morgen aus N.O. geblasen hatte, wurde zum heftigen, alles ausdörrenden Sturm. Ich werde seine verheerende Wirkung nie vergessen. Zwar suchte ich Schutz hinter einem großen Gummibaum, aber die glühenden Windstöße waren so entsetzlich, daß ich glaubte, das Gras müsse in Brand geraten. Ein unerträglicher Zustand, der alles Leben zu vernichten drohte. Die Pferde standen mit dem Rücken nach dem Winde und senkten die Nase tief zu Boden; sie hatten nicht Muskelkraft genug, um den Kopf in die Höhe zu halten; alle Vögel waren verstummt, und die Blätter des Baums, unter dem wir saßen, fielen massenhaft von den Zweigen. Zur Mittagszeit nahm ich meinen Thermometer, der in 127° geteilt war, aus dem Futteral; das Quecksilber stand auf 125°. Ich glaubte, das könne nicht richtig sein und legte das Instrument in die Gabel eines nahen Baumes, wo es dem Einfluß von Wind und Sonne ausgesetzt war. Als ich eine Stunde später danach sah, war das Quecksilber bis zur Spitze gestiegen und hatte die Kugel zersprengt, was wohl noch kein Reisender je zu berichten gehabt hat. Mir fehlen die Worte, um dem Leser auch nur eine schwache Vorstellung von der intensiven, atembeklemmenden Glut zu geben, welche während der Zeit herrschte.«

Wenn solche heiße Winde über Sydney dahinwehen, führen sie manchmal einen sogenannten ›Staubregen‹ mit sich, der auch in andern Städten Australiens häufig genug vorkommt. Selbst erlebt habe ich keinen, aber nach der Schilderung zu urteilen, welche Mr. Gane davon gibt, muß die Naturerscheinung den in Nevada herrschenden Alkalistaubwirbeln nicht unähnlich sein.

»Je mehr wir von der Höhe hinabstiegen,« sagt Gane, »um so größer wurde die Hitze, bis wir die hübsche Stadt Dubbo erreichten, die nur sechshundert Fuß über dem Meeresspiegel auf einer weiten Ebene liegt … Bei trockenem Wetter zerkrümelt der Erdboden förmlich und die Oberfläche bedeckt sich mit einer dicken Staubschicht. Weht nun der Wind aus einer gewissen Richtung, so hebt er die ganze Schicht in einem Stück in die Luft empor; gleich einer langen, schwärzlichen Wolke. Bei solchem Staubregen kann man die Hand kaum vor Augen sehen, und der Unglückliche, den er im Freien überrascht, muß so schnell wie möglich ein schützendes Obdach suchen. Jede gute Hausfrau, welche die dunkle Säule im Wirbel auf ihr Heim zusteuern sieht, beeilt sich, Türen und Fenster zu schließen. Eine Dame, die mehrere Jahre in Dubbo wohnte, hat mir gesagt, daß wenn man aus Nachlässigkeit das Fenster des Wohnzimmers beim Staubregen offen läßt, der Staub so dick auf dem Teppich liegt, daß man ihn mit einer Schaufel fortschaffen muß.«

Wahrscheinlich in ganzen Wagenladungen. Nein, so schlimm ist es in Nevada doch nicht.

Elftes Kapitel.

Elftes Kapitel.

Leben ist Leiden. Selbst die verborgene Quelle des Humors ist nicht Freude, sondern Schmerz. Es gibt keinen Humor im Himmel.

Querkopf Wilsons Kalender.

Kapitän Cook hat Australien im Jahre 1770 entdeckt und achtzehn Jahre später gründete die britische Regierung ihre dortige Sträflingskolonie. Alles in allem wurden im Lauf von dreiundfünfzig Jahren 83 000 Sträflinge nach Neusüdwales eingeschifft. Sie trugen schwere Ketten, wurden schlecht genährt und von ihren Aufsehern arg mißhandelt. Bei der geringsten Uebertretung der Regel drohten ihnen harte Strafen; sie standen unter der ›grausamsten Zucht, die je geübt worden ist‹, sagt ein Schriftsteller.

Damals kannte das englische Gesetz kein Erbarmen. Für geringfügige Vergehen, die heutzutage mit einer kleinen Geldbuße oder ein paar Tagen Gefängnis bestraft würden, schickte man Männer und Frauen auf sieben oder vierzehn Jahre bis ans andere Ende der Welt und für schwere Verbrechen auf Lebenszeit.

Kinder, die ein Kaninchen gestohlen hatten, kamen auf sieben Jahren nach der Strafkolonie.

Als ich vor dreiundzwanzig Jahren in London war, hatte man eben eine neue Strafe eingeführt, um dem Garrottieren und der Mißhandlung von Ehefrauen Einhalt zu tun – fünfundzwanzig Hiebe mit der neunschwänzigen Katze auf den nackten Rücken. Man sagt, diese furchtbare Strafe habe auch den verstocktesten Bösewicht bekehrt, und kein Mensch sei je imstande gewesen, nach dem neunten Hiebe seine Gefühle noch für sich zu behalten; gewöhnlich fing das Klagegeheul schon früher an. Die Wirkung des Gesetzes auf die Garrottierer und schlechten Ehemänner war ganz vortrefflich, aber es kam dem modernen London zu unmenschlich vor und wurde wieder aufgehoben. Manches arme, zerschlagene englische Eheweib hat seitdem Anlaß gehabt, diese grausame Nachsicht einer sentimentalen Menschlichkeit bitter zu beklagen.

Fünfundzwanzig Hiebe! In Australien und Tasmanien erhielt der Sträfling fünfzig für jedes kleine Vergehen; oft fügte ein roher Beamter noch fünfzig hinzu und abermals fünfzig, solange das unglückliche Opfer die Qual aushielt ohne den Geist aufzugeben. In einer alten amtlichen Urkunde habe ich von einem Fall in Tasmanien gelesen, wo ein Sträfling, der ein paar silberne Löffel gestohlen hatte, dreihundert Hiebe erhalten hat. Und das war noch nicht die höchste Zahl. Wer teilte sie aber aus? Häufig ein anderer Sträfling, zuweilen der beste Kamerad des Unglücklichen, und er mußte die Peitsche mit allem Nachdruck führen, sonst bekam er sie selber zu kosten zum Lohn für sein Erbarmen, ohne daß er dem Freunde damit einen Dienst geleistet hätte. Das Strafinstrument wanderte nur in eine andere Hand, bis das Urteil in vollster Ausdehnung vollzogen war.

Das Sträflingsleben in Tasmanien war so unerträglich, und ein Selbstmord so schwer auszuführen, daß die Menschen in ihrer Verzweiflung sich zuweilen zusammentaten und durch das Los bestimmten, wer von ihnen einen aus ihrer Zahl töten sollte, damit dem Leben des Mörders und der Augenzeugen seiner Tat durch Henkers Hand ein Ende gemacht würde.

Dies sind nur Beispiele aus einer ganzen Flut ähnlicher Fälle, nur schwache Andeutungen, welche die Unsumme von Leiden ahnen lassen, die das Sträflingsleben mit sich brachte und von denen wir uns schaudernd abwenden.

Zwölftes Kapitel.

Zwölftes Kapitel.

Wir können uns das Wohlgefallen anderer Menschen sichern, wenn wir uns nichts zu schulden kommen lassen und ihnen zu Diensten sind; aber unser eigener Beifall ist hundertmal mehr wert, und es ist noch kein Mittel entdeckt worden, uns den zu sichern.

Querkopf Wilsons Kalender.

Vier Jahre nach Ankunft der ersten Sträflinge zählte die Kolonie deren etwa 2500. Einige – vielleicht eine ziemliche Menge – waren wohl sehr schlechte Menschen, selbst für die damalige Zeit; aber die meisten werden vermutlich nicht viel verderbter gewesen sein, als es die Leute, die daheim blieben, im allgemeinen waren. Wir können kaum umhin das zu glauben. Ein Volk, das es unentwegt mit ansehen konnte, wie man Frauen, die von Frost und Hunger getrieben ein Stück Speck oder einen alten Lumpen stahlen, an den Galgen brachte, wie man Knaben ihrer Mutter und den Vater seiner Familie entriß, um sie wegen ähnlicher kleiner Vergehen auf lange Jahre in die Strafkolonie zu schleppen – ein solches Volk läßt sich doch unmöglich als ›zivilisiert‹ bezeichnen. Auch muß sein Fortschritt in der Zivilisation weder rasch noch bedeutend gewesen sein, da alle wußten wie es jenen Unglücklichen in der Verbannung erging und sich vierzig Jahre lang ruhig darein ergaben.

Wenn wir uns zudem noch den Charakter und das Verhalten der hohen Herren und der Beamten vergegenwärtigen, welche für Aufsicht, Ernährung und Zucht der Sträflinge zu sorgen hatten, so finden wir auch da keinen wesentlichen Unterschied der Moral oder Gesittung im Vergleich mit den Sträflingen selbst oder ihren Volksgenossen im Heimatland. Sie standen so ziemlich alle auf der gleichen Stufe.

Nicht lange, so begannen sich auch freiwillige Ansiedler in der Kolonie niederzulassen, und diese sowohl als die schon beträchtliche Anzahl der Deportierten, bedurften des Schutzes für den Fall, daß Zwistigkeiten unter ihnen selbst oder mit den Eingeborenen entstünden. Letztere kamen auch einigermaßen in Betracht, wiewohl sie sehr wenig zahlreich waren. Zu einer Zeit, als man sie noch ziemlich ungestört ließ, weil sie niemand im Wege standen, rechnete man in Neusüdwales etwa einen Eingeborenen auf ein Gebiet von 45 000 Morgen.

Wie sollte man die Kolonie schützen? Kein Offizier der regulären Armee hätte sich um einen Dienst am andern Ende der Welt beworben, bei dem weder Ehre noch Auszeichnung zu holen war. So sah sich denn England genötigt, eine Art uniformierter Bürgermiliz auszurüsten und einzuschiffen, das sogenannte ›Korps von Neusüdwales‹, das aus tausend Mann bestand.

Für die Kolonie war das ein furchtbarer Schlag, der sie fast zu Boden schmetterte. Anschaulicher hätte der moralische Zustand Englands außerhalb der Gefängnisse gar nicht dargestellt werden können, als durch diese Korps. Die Kolonisten zitterten vor Angst, daß man ihnen nächstens auch noch eine Schiffsladung von Adligen herüberbringen würde.

Anfänglich vermochte die Kolonie sich noch nicht selbst zu erhalten. Nahrung, Kleidung und alle andern Lebensbedürfnisse wurden aus England geschickt und in großen Warenhäusern der Regierung aufgestapelt. An die Sträflinge verteilte man was sie brauchten, und den Ansiedlern verkaufte man es mit einem kleinen Profit über den Selbstkostenpreis. Diesen Umstand machte sich das Korps zu nutze. Sämtliche Offiziere begannen Handel zu treiben und zwar auf völlig gesetzlose Weise. Allen Warnungen und Verboten der Regierung zum Trotz führten sie Spirituosen ein und errichteten eigene Branntweinbrennereien im Lande. Sie schlossen einen Bund, der den Markt beherrschte und die Regierung samt allen andern Händlern boykottierte; auch verstanden sie es, ihr Monopol streng aufrecht zu erhalten. Kam ein mit Rum befrachtetes Schiff an, so wurde außer ihnen kein Käufer zugelassen, und sie zwangen den Eigentümer, seine Ladung zu dem niedrigen Preise herzugeben, welchen sie bestimmten. Durchschnittlich kauften sie den Rum zu zwei Dollars die Gallone und verkauften ihn zu zehn Dollars; ja, sie machten den Rum zur Hauptwährung im Lande, denn Geld gab es damals so gut wie gar nicht. Achtzehn oder zwanzig Jahre lang beherrschten sie die Kolonie ausschließlich und setzten ihren verderblichen Einfluß fort, bis es endlich der Regierung gelang, sie zu besiegen und zu vernichten.

Es kann kaum Wunder nehmen, daß sich bei diesen Verhältnissen die Trunksucht unter der gesamten Einwohnerschaft verbreitete; mancher Ansiedler hatte seine Farm nach und nach gegen Rum verschachert, und die Offiziere des Korps waren steinreich geworden. Wenn ein Farmer sich vor Durst nicht mehr zu lassen wußte, nahmen sie ihren Vorteil wahr, um ihn bis aufs Blut zu schinden. Einmal verkauften sie einem Mann eine Gallone Rum, die zwei Dollars wert war, für ein Grundstück, dessen Preis später bis auf 100 000 Dollars stieg.

Als die Kolonie etwa zwanzig Jahre lang bestanden hatte, entdeckte man, daß sich das Land vorzüglich zur Schafzucht eigne. Damit war sein Wohlstand begründet, es trat mit seiner Wolle in den Welthandel ein; bald fand man auch reiche Schätze an Edelmetallen, Einwanderer strömten herbei, auch Kapitalien blieben nicht aus.

So hat sich im Laufe der Zeit das große, begüterte und aufgeklärte Staatswesen von Neusüdwales gebildet. Bergbau, Schafzucht, Straßen- und Eisenbahnen, Dampferlinien, Zeitungen, Schulen, Universitäten, botanische Gärten, Bildergalerien, Bibliotheken, Museen, Hospitäler – alles ist dort in Fülle vorhanden. Jede Art von Kultur, jedes praktische Unternehmen findet Anklang und bereitwillige Förderung; Kirchen gibt es wie Sand am Meere, und Rennbahnen im Ueberfluß.

Ich vollende meine Lehrzeit.

Ich vollende meine Lehrzeit.

Als ich von meiner Umschau auf dem Dampfer nach dem Steuerhäuschen zurückkehrte, hatten wir St. Louis bereits aus den Augen verloren. Aber ich, ich selber war auch verloren. Da hatten wir gerade eines jener Stücke vom Fluß, die auf das genaueste in meinem Buche standen, und doch konnte ich weder Kopf noch Schwanz daraus machen. Es ist leicht einzusehen, warum, – es war jetzt die umgekehrte Geschichte. Ich hatte alles gesehen und aufgeschrieben, als wir den Fluß hinaufgekommen waren, aber ich hatte nie versucht, mir einzuprägen, wie es stromabwärts aussehen möchte. Mein Herz brach aufs neue. Es war klar, – ich hatte diesen entsetzlichen Fluß zweimal zu lernen!

Das Steuerhaus war voller Lotsen, die abwärts fuhren, um »einen Blick auf den Fluß zu werfen.« Der sog. ›obere Strom‹ (die zweihundert englischen Meilen zwischen St. Louis und Kairo, wo der Ohio einmündet) hatte einen niedrigen Stand und der Mississippi ändert sein Fahrwasser so beständig, daß die Lotsen, wenn ihre Boote eine Woche im Hafen liegen mußten, es stets für nötig hielten, nach Kairo hinabzufahren, um sich den Strom aufs neue anzusehen – d. h. nur wenn der Wasserstand niedrig war. Unter diesen Lotsen, welche sich den Fluß ›besahen‹, war stets eine Anzahl armer Teufel, die selten eine Stelle hatten, und deren einzige Hoffnung, eine zu bekommen, darin bestand, daß sie stets auf dem Laufenden und jederzeit zur Aushilfe bereit waren, um an die Stelle eines Steuermanns zu treten, der durch plötzliche Krankheit oder sonstige dringende Umstände verhindert war. Außerdem fuhren manche fortwährend auf und ab und »sahen sich den Strom an« – nicht weil sie wirklich hofften, einmal eine Stelle auf einem Dampfer zu bekommen, sondern weil es ihnen als Gäste des Dampfboots billiger war, »den Strom anzusehen«, als am Lande zu bleiben und Logis und Kostgeld zu bezahlen. Diese Leute wurden nach und nach wählerisch und suchten nur Dampfer heim, deren Küche und Tafel in gutem Rufe standen. Die als Gäste an Bord befindlichen Lotsen machten sich übrigens nützlich und waren Sommer und Winter, bei Tag und bei Nacht, gern bereit, mit der Jolle hinauszufahren und beim Auslegen der Bojen zu helfen oder den Steuerleuten des Dampfers jeden sonstigen Beistand zu leisten. Sie waren auch sonst willkommen, weil die Lotsen, wenn eine Anzahl von ihnen zusammentrifft, unermüdlich im Plaudern sind; und da sie nur vom Mississippi reden, verstehen sie sich stets und sind immer interessant. Für den echten Lotsen hat nichts in der Welt Interesse als nur der Strom, und er ist auf seine Beschäftigung stolzer als ein König.

Wir hatten diesmal eine hübsche Gesellschaft solcher Flußinspektoren – acht oder zehn, die alle Raum in Fülle in unserem großen Steuerhause hatten. Zwei oder drei von ihnen trugen glänzende Seidenhüte, kunstvolle Hemdeneinsätze, Diamantbusennadeln, Glacéhandschuhe und Lackstiefel. Sie sprachen ein gewähltes Englisch und benahmen sich mit solcher Würde, wie es sich für Männer von soliden Mitteln und ausgezeichnetem Ruf geziemt. Die andern waren mehr oder wenig nachlässig gekleidet und trugen hohe Filzkegel, die an die Zeit der Puritaner erinnerten.

Ich erschien mir wie eine Null in dieser erlauchten Gesellschaft und war ganz niedergedrückt, um nicht zu sagen betäubt. Ich war sogar am Steuer überflüssig, wenn es nötig wurde, das Rad rasch nach der einen oder andern Seite hinüberzudrehen; wer von den Gästen am nächsten stand, legte Hand an, wenn es erforderlich war – und das war wegen der Krümmung und der Seichtheit des Fahrwassers fast immer der Fall. Ich stand in der Ecke und hörte dem Gespräch aufmerksam zu, das mir alle und jegliche Hoffnung benahm. Einer unserer Gäste sagte zu einem andern:

»Jim, wie hast du Plum Point stromaufkommend passiert?«

»Es war Nacht und ich steuerte, wie mir’s einer der Jungens von der ›Diana‹ gesagt hatte; lief etwa fünfzig Schritt oberhalb des Holzhaufens von der ›falschen Landspitze‹ ab und hielt dann auf die Hütte unterhalb Plum Point zu, bis ich das Riff erreichte – ein und drei viertel Faden – steuerte darauf direkt nach der mittleren Barre, bis ich reichlich querab von dem einastigen Baumwollenbaum in der Biegung war, richtete dann das Heck aus diesen Baum, den Bug auf die flache Stelle oberhalb der Landspitze und lief mit voller Fahrt hindurch – neun und einen halben Fuß.«

»Ganz nette Kreuzung, he?«

»Ja, aber die obere Barre arbeitet sich rasch abwärts.«

Nun nahm ein anderer Lotse das Wort und sagte:

»Ich hatte besseres Wasser und kreuzte weiter unten; ging von der ›falschen Landspitze‹ aus – zwei Faden – erreichte das zweite Riff quer ab von dem großen, gesunkenen Baumstamm in der Biegung, ein drei viertel Faden.«

Einer der vornehmen Lotsen bemerkte:

»Ich will euren Lotwerfern keinen Vorwurf machen, aber das ist, wie mir scheint, reichlich viel Wasser für Plum Point.«

Ein billigendes Kopfnicken rund herum zollte dieser ruhigen, aber gründlichen Abfertigung Beifall. Was mir mittlerweile durch den Sinn fuhr, war etwa: Wenn meine Ohren recht hören, muß ich nicht nur die Namen aller der Städte, Inseln und Krümmungen u. s. w. auswendig lernen, sondern sogar die persönliche, innige Bekanntschaft jedes gesunkenen alten Baumstammes, jedes einästigen Baumwollenbaumes und jedes obskuren Holzhaufens machen, welcher die Ufer dieses Flusses auf zwölfhundert Meilen Länge schmückt; ja noch mehr – ich muß sogar wissen, wo diese Dinge in der Dunkelheit sind, wofern ein Lotse nicht mit Augen begabt wird, die durch zwei Meilen dichter Schwärze sehen können. Ich wollte, die Lotserei wäre im Pfefferland, und ich hätte nie daran gedacht.

Bei Eintritt der Dämmerung schlug Herr Bixby die große Glocke dreimal an (das Signal zum Landen); der Kapitän tauchte aus seiner Kajüte am vorderen Ende des Hauptdecks auf und blickte fragend empor. Herr Bixby sagte:

»Wir wollen hier die Nacht über liegen bleiben, Kapitän.«

»Ganz recht, Herr Bixby.«

Das war alles. Das Dampfboot drehte ans Ufer und wurde für die Nacht festgemacht. Es schien mir großartig, daß der Lotse thun konnte, was ihm beliebte, ohne den mächtigen Kapitän um Erlaubnis fragen zu müssen. Nach dem Abendessen ging ich sogleich zu Bett, entmutigt von dem, was ich den Tag über beobachtet und erfahren hatte. Die Notizen über meine letzte Reise waren nur ein Wirrwarr bedeutungsloser Namen; sie hatten mich jedesmal, wenn ich sie während des Tages zu Rate gezogen, vollkommen verwirrt. Ich hoffte im Schlaf Erholung zu finden; aber nein – es arbeitete bis zum Sonnenaufgang fortwährend in meinem Kopfe umher – ein abscheuliches, unablässiges Alpdrücken.

Am nächsten Morgen war ich recht verdrießlich und niedergeschlagen. Wir fuhren mit vollem Dampf dahin, ziemlich waghalsig, da wir vor Anbruch der Nacht ›aus dem Strom‹ (d. h. nach Kairo) zu kommen wünschten. Herrn Bixbys Kollege, der andere Lotse, setzte jedoch sehr bald den Dampfer auf den Grund, und wir verloren mit dem Flottmachen des Schiffes so viel Zeit, daß die Nacht offenbar hereinbrechen mußte, lange bevor wir die Mündung erreichen konnten. Das war ein großes Mißgeschick, besonders für einige der als Gäste bei uns weilenden Lotsen, deren Boote auf ihre Rückkehr warten mußten, gleichviel wie lange es dauerte. Das ernüchterte das Geplauder im Lotsenhaus bedeutend. Stromaufwärts kümmerten die Lotsen sich weder um flaches Wasser, noch um die tiefste Finsternis; nur der Nebel hielt sie zurück. Stromabwärts lag die Sache aber ganz anders; wenn eine starke Strömung hinten nachdrängte, waren die Boote nahezu hilflos, und es war daher nicht gebräuchlich, bei niedrigem Wasserstand nachts stromabwärts zu fahren.

Eine kleine Hoffnung schien aber noch übrig zu sein: wenn wir vor Dunkelwerden durch die äußerst schwierige und gefährliche Kreuzung bei Hat Island passierten, konnten wir das übrige wagen, weil wir dann mehr geraden Kurs und tiefes Wasser hatten. Diese Kreuzung aber bei Nacht zu versuchen, wäre Wahnsinn gewesen. Den ganzen noch übrigen Tag wurde viel auf die Uhren gesehen und fortwährend die Fahrgeschwindigkeit berechnet; das Gespräch drehte sich nur um Hat Island: manchmal stieg die Hoffnung hoch um dann wieder zu sinken, wenn wir in einer schwierigen Kreuzung aufgehalten wurden. Stundenlang lastete auf allen diese unterdrückte Erregung, die sich selbst mir mitteilte; ich sehnte mich so mächtig nach Hat Island und fühlte eine solch schreckliche Verantwortung mich drücken, daß ich auf fünf Minuten am Lande zu sein wünschte, um tüchtig, voll, erleichternd Atem schöpfen zu können. Wir gingen keine regelmäßigen Wachen: jeder unsrer beiden Lotsen steuerte auf derjenigen Stromstrecke, auf welcher er stromaufwärts gesteuert hatte und mit welcher er deshalb besser vertraut war; beide aber blieben fortwährend im Steuerhause.

Eine Stunde vor Sonnenuntergang übernahm Bixby das Ruder, und W. – – trat zur Seite. Während der nächsten dreißig Minuten hielt jeder die Uhr in der Hand; jeder war nervös, schweigsam und unruhig. Endlich sagte einer mit einem traurigen Seufzer: –

»Ah, dort ist Hat Island, aber wir können’s nicht erreichen.«

Alle Uhren schlossen sich – schnapp! jeder seufzte und murmelte etwas zwischen den Zähnen wie: »’s ist zu schlimm – ach, wenn wir nur eine halbe Stunde früher hieher gekommen wären!« Alle waren enttäuscht; einige wollten schon hinausgehen, zögerten aber noch, weil sie das Glockenzeichen zum Landen noch nicht hörten. Die Sonne verschwand unter dem Horizont, aber das Boot dampfte weiter. Die Gäste tauschten fragende Blicke aus. Der eine, der die Hand schon auf dem Thürdrücker hatte, blieb stehen und ließ gleich darauf den Thürknopf wieder los. Wir steuerten stetig die Biegung des Flusses hinab; wieder wurden Blicke ausgetauscht und hie und da ein bewunderndes Kopfnicken – aber keine Worte. Unmerklich drängten sich die Männer hinter Bixby zusammen, als es anfing dunkel zu werden und einige blasse Sterne sichtbar wurden. Die Totenstille und die Erwartung wurden drückend. Bixby riß am Glockenstrang, und zwei tiefe, weiche Töne der großen Glocke fluteten in die Nacht hinaus. Dann folgte eine kurze Pause, darauf ein dritter Glockenton. Und nun ertönte die Stimme der Lotsen vom Sturmdeck:

»Backbordlot, da! Steuerbordlot!«

Dann erschollen in einiger Entfernung die Rufe der Loter, die von zwei Matrosen auf dem Oberdeck dumpf wiederholt wurden.

»Drei Faden! … Drei Faden! … Zwei und drei Viertel Faden! … Zwei und ein halber Faden! … Zwei und ein Viertel Faden! … Zwei Faden! … Ein und drei …«

Bixby zog an zwei Glockensträngen, was durch schwaches Klingeln weit unten im Maschinenraum beantwortet wurde, worauf unsere Geschwindigkeit sich verringerte. Der Dampf begann durch die Entweichungshähne zu zischen. Das Rufen der Loter dauerte fort – bei Nacht ein seltsamer Schall. Jeder Lotse beobachtete jetzt in höchster Spannung was vorging, alles sprach leise. Niemand war ruhig und gelassen außer Bixby. Er legte das Ruder hart über, ganz an Bord, stellte sich auf eine Speiche, und als der Dampfer in die für mich ganz unsichtbaren Marken – denn ringsum schien alles eine weite düstere See zu sein, – gebracht war, drehte er das Ruder zurück und hielt das Boot fest in der erforderlichen Richtung. Nunmehr hörte man aus den halblauten Gesprächen hier und dort einen zusammenhängenden Satz heraus, wie:

»Da; der Dampfer hat das erste Riff passiert!«

Nach einer Pause:

»Das Heck kommt jetzt haarscharf in die Richtung, bei Gott!«

»Nun ist er in den Marken, da geht er hinüber!«

Und dann wieder:

»Oh, das war schön – wunderschön!«

Dann wurden die Maschinen ganz zum Stehen gebracht, und wir trieben mit der Strömung. Ich will damit nicht sagen, daß ich das Boot treiben sehen konnte; nein – die Sterne waren jetzt alle verschwunden. Dieses Treiben war das Entsetzlichste; das Herz stand einem dabei still. Bald darauf entdeckte ich noch eine schwärzere Finsternis als die, welche uns umgab; das war das obere Ende der Insel. Wir steuerten gerade darauf zu, kamen in den tieferen Schatten derselben, und die Gefahr schien so unmittelbar drohend, daß ich zu ersticken meinte; ich empfand den stärksten Antrieb, etwas – irgend etwas zu thun, um das Fahrzeug zu retten. Aber noch stand Bixby am Steuer – schweigsam, aufmerksam wie eine Katze; und alle Lotsen standen Schulter an Schulter hinter ihm.

»Es wird nicht gehen!« flüsterte einer.

Das Wasser wurde nach den Meldungen der Loter flacher und flacher, bis es endlich hieß:

»Acht und ein halb! … Acht Fuß! … Sieben und …«

Bixby rief dem Maschinisten durchs Sprachrohr warnend zu:

»Klar bei der Maschine jetzt!«

»Jawohl, Herr Bixby!«

»Sieben ein halb! Sieben Fuß! Sechs und –«

Wir berührten den Grund! Bixby setzte augenblicklich eine Reihe von Glocken in Bewegung, rief durch das Sprachrohr: »Nun Dampf her, was das Zeug hält!« und dann seinem Kollegen zu: »Hart an Bord mit dem Ruder! Hart über! Nochmal!« Das Dampfboot bahnte sich knirschend und ächzend den Weg durch den Sand, hing einen entsetzlichen Augenblick am Rande des Verderbens und glitt dann hinüber! Ein solches Jubelgeschrei, wie es sich jetzt hinter Bixby erhob, hat noch nie zuvor das Dach eines Ruderhauses erschüttert!

Jetzt waren alle Schwierigkeiten überwunden. Herr Bixby wurde in jener Nacht zum Helden, und seine Kollegen erzählten noch geraume Zeit von dieser Großthat.

Um sich einen ganz klaren Begriff zu machen von der wunderbaren Präzision, die erforderlich war, um den Dampfer in jener finstern Wasserwüste auf dem richtigen Wege zu halten, muß man wissen, daß das Boot sich nicht nur durch Baumstämme und blinde Riffe hindurchzwängen und dann so dicht am oberen Ende der Insel hinfahren mußte, daß es das überhängende Laubwerk mit dem Heck berührte, sondern es mußte an einer Stelle beinahe in Armeslänge an einem gesunkenen, unsichtbaren Wrack vorbei, das ihm, wenn es darauf gestoßen wäre, den Boden fortgerissen und binnen fünf Minuten das Dampfschiff nebst Ladung im Gesamtwerte von etwa einer Viertelmillion Dollars und obendrein noch etwa hundert und fünfzig Menschenleben vernichtet hätte.

Die letzte Bemerkung, die ich in jener Nacht hörte, war ein Kompliment für Herrn Bixby, das einer der Gäste im Selbstgespräch und mit vieler Salbung äußerte. Derselbe sagte:

»Beim Schatten des Todes, er ist ein Blitzkerl von einem Lotsen.«

  1. Englisch » Mark Twain«.

Kunst und Wissenschaft des Lotsen.

Kunst und Wissenschaft des Lotsen.

Es dauerte eine geraume und, wie mir schien, nicht wenig mühselige Zeit, bis ich es endlich dahin gebracht hatte, meinen Kopf mit Inseln, Städten, Bänken, Landspitzen u. s. w. vollzupacken, und mich dieses leblosen Ballasts sicher zu fühlen. Aber natürlich – kaum hatte sich mein Selbstgefühl so weit erholt, daß ich wagte, den Kopf wieder höher zu tragen, als auch Bixby es schon für seine Pflicht hielt, ihn wieder sinken zu machen. Eines Tages richtete er ganz plötzlich die Frage an mich:

»Welche Form hat die Walnußbucht?«

Er hätte mich ebenso gut nach der Ansicht meiner Großmutter über die Protoplasmen-Theorie fragen mögen. Ich dachte eine kleine Weile unter achtungsvollem Schweigen nach und erwiderte dann, es sei mir nicht bewußt, daß die Walnußbucht überhaupt irgend eine Form habe. Mein Pulverfaß von Chef fuhr natürlich mit einem Krach auf, und sofort begann ein Feuern und Schießen, bis er wieder einmal sein ganzes Pulver von Beinamen total verschossen hatte. Indessen, meine Erfahrung mit ihm hatte mich bereits gelehrt, wie groß sein Munitionsvorrat war und daß ich sicher sein konnte, er werde sich nach Verbrauch desselben alsbald wieder in einen guten, alten Patron verwandeln. Dieses ›alt‹ ist lediglich als ein Ausfluß von Zuneigung zu nehmen, denn in Wirklichkeit war Herr B. nicht älter als 34 Jahre.

Es war mir klar, daß ich mich in erster Linie mit den Ufern des Flusses in jeder erdenklichen Weise vertraut machen mußte – stromaufwärts und stromabwärts, von hinten und vorne, von innen und außen, bei Tag und bei Nacht – und damit nicht genug, sollte ich auch Bescheid wissen in grauen Nebelnächten, in denen der Fluß überhaupt keine Gestalt und keine Ufer mehr hatte. Ich that alles, was in meinen Kräften stand, dieser Erkenntnis gerecht zu werden, bis ich denn endlich im Laufe der Zeit und mannigfacher Fahrten zwischen New-Orleans und St. Louis meine verzwickte Lektion allen Ernstes zu bemeistern anfing und sich mein Selbstbewußtsein aufs neue mächtig zu regen begann. Aber auch jetzt noch war Herr B. jeden Augenblick gerüstet, diese Regungen zu unterdrücken und mich schnell wieder in meine alte Demut und Zerknirschung zurückzustoßen. Eines Tages sagte er zu mir:

»Wie viel Wasser hatten wir auf unserer vorvorigen Reise in der Mitte der Durchfahrt von Hole-in-the-Wall

Diese Frage kam mir wie eine Beleidigung vor. Ich entgegnete:

»Bei jeder Fahrt, stromauf- und stromabwärts wirft der Bootsmann an jener verteufelten Stelle alle Minuten das Lot und ruft ununterbrochen während drei Viertelstunden die Tiefen aus. Glauben Sie denn, ich könne eine solche Menge Zeug im Kopf behalten?«

»Du mußt das genau behalten, mein Junge. Du hast dir den Platz und den Wasserstand des seichtesten Fahrwassers in allen den 500 seichten Stellen zwischen New-Orleans und St. Louis für jede Fahrt zu merken und darfst ja nicht die Messungen von einer Fahrt mit denen der andern verwechseln, denn es ist kaum denkbar, daß sie je ganz gleich seien. Du mußt das alles genau und jedes für sich merken.«

Als ich wieder zu mir selbst kam, rief ich aus:

»Wenn ich jemals so weit komme, das fertig zu bringen, so werde ich auch imstande sein, Tote aufzuerwecken, und dann habe ich nicht mehr nötig, Steuermann zu sein, um meinen Unterhalt zu gewinnen. Ich möchte dies Geschäft lieber aufgeben. Ich bin bloß ein Mensch und bitte um einen Wassereimer und eine Scheuerbürste, um fortan nur noch als Deckarbeiter zu schaffen. Ich bin zu nichts Besserem geeignet. Ich habe nicht Gehirn genug, um Lotse zu werden.«

»Schon gut, mein Junge. Wenn ich einmal gesagt habe, ich ›lerne‹ jemandem den Fluß, so meine ich auch, was ich gesagt habe. Du kannst dich drauf verlassen, – ich bringe ihm die Geschichte bei oder bringe ihn um.«

Mit einem solchen Menschen war es unmöglich, sich zu verständigen. Ich fügte mich in mein Schicksal und spannte mein Gedächtnis in einer Weise an, daß ich schließlich sogar die seichten Stellen, ihre verschiedenen Wasserstände und die zahllosen Punkte, an denen das Wasser gekreuzt werden mußte, in meinen Kopf gepfropft hatte. Aber damit hatte ich noch nicht gewonnen. Denn kaum hatte ich eine verwickelte Aufgabe los, als sich auch schon eine neue und womöglich noch schwierigere aufdrängte. So hatte ich unter anderm oft beobachtet, wie die Lotsen auf das Wasser hinabzuschauen pflegten, genau mit dem Blick von Leuten, die in einem Buch lesen. Auch ich versuchte dies hin und wieder, aber es war für mich ein Buch, welches mir nichts sagte. Endlich kam jener Augenblick, da Bixby mich für hinlänglich vorangeschritten hielt, um auch der Lektion des ›Wasserlesens‹ gewachsen zu sein.

»Siehst du dort die lange, quer über den Fluß sich ziehende Linie? Das ist ein Flußriff! Und mehr als das, es ist ein wirkliches, aus Sand und Schlamm bestehendes Riff! Eine solide Sandbank liegt dort unter dem Wasserspiegel, steil aufsteigend wie die Mauer eines Hauses. Dicht daneben ist Fahrwasser genug, auf seinem Kamm dagegen nur verwünscht wenig davon. Würdest du auf diesen letzteren auffahren, so wäre es einfach um das Boot geschehen. Aber dort weiterhin, wo die Linie in einzelne leichte Striche verläuft und dann ganz aufhört, – siehst du es? Dort magst du ohne Furcht mit dem Boot hinhalten und darüber hinwegschießen, ohne daß es im mindesten etwas thäte.«

Und so war es. Ich folgte seiner Anweisung, – denn eben hatte er mir das Rad übergeben und sich als Zuschauer hinter mich gestellt, – und wir kamen glücklich über das Riff hinweg. Aber auch nach dieser Seite hin blieb mir, wie ich nur zu bald einsehen sollte, noch mancherlei zu lernen, und ich vergesse des Tages nie, als ich aus Furcht, auf ein Riff aufzufahren, das Boot um eines Haares Breite auf das Ufer gesetzt hätte. Bixby, der mir eine Viertelstunde vorher das Steuerrad übergeben hatte, trat eben im entscheidenden Augenblick wieder in das Steuerhäuschen und fragte mich mit einem Sarkasmus, der mir durch Mark und Bein schnitt:

»Warum gehst du ans Land, mein Junge? Hat man vom Ufer aus gerufen?«

Ich errötete und erwiderte, daß man uns nicht angerufen habe.

»Ah, – so war es sicherlich, um Holz einzunehmen. Aber du solltest doch damit warten, bis der erste Heizer dir anzeigen würde, daß dies nötig ist.«

Ich biß mich auf die Lippen und sagte, daß es auch nicht geschehen sei, um Holz einzunehmen.

»Wirklich? Ja, aber was hast du denn sonst hier hart am Lande gesucht? Hast du je gehört, daß man bei einem Wasserstande wie diesem an ein Ufer wie dieses auf hundert Ellen, geschweige denn auf zehn Fuß herangeht?«

»Nein, Herr – und ich wollte auch gar nicht an das Ufer heran, sondern nur jenem Riff da aus dem Wege gehen.«

»Jenem Riff da? Aber wir haben ja auf drei Meilen Entfernung nicht das Geringste, was einem Flußriff ähnlich sehe.«

»Aber ich sehe es doch dort – das ist doch ein Riff, wenn ich je eins gesehen!«

»Wohl, mein Junge! – nimm es getrost aufs Korn, – fasse es, wo du’s eben bekommen kannst, – je mehr in der Mitte, um so besser!«

»Ist das Ihr Befehl?«

»Jawohl, – nur frisch darüber hinweg.«

»Aber ums Himmels willen, Herr Bixby, – ich stürbe, wenn’s nicht gelingt!«

»Schon recht, ich übernehme die Verantwortung.«

Ich konnte mich kaum fassen. Eine wahrhaft teuflische Begierde ergriff mich, das Boot und alles, was darin war, Bixby und mich selbst eingerechnet, umzubringen. Und so hielt ich stramm auf die Höhe der das Riff anzeigenden Wasserlinie hin. Aber noch ehe wir sie erreichten, schien sie mir zu verschwinden, – und gleich darauf glitten wir sanft und leicht darüber hin wie auf Öl.

Bixby lachte und sagte:

»Siehst du nun den Unterschied? Es war nichts als ein ›Windriff‹, – und das ist gar ein mächtig andres Ding, als ein wirkliches Flußriff! Der Wind macht das, – das ist alles.«

»Ich verstehe. Aber es sieht doch genau wie ein Flußriff aus. Wie soll ich denn dergleichen von einander unterscheiden können?«

»Bei meiner Seele, mein Junge, das kann ich dir selbst nicht sagen. Aber mit der Zeit wirst du sie von einander unterscheiden lernen und nachher wird dir’s gerade so gehen und wirst du nicht imstande sein, einem andern den Unterschied zu erklären.«

Und wieder sollte Bixby recht haben! Mit der Zeit wurde mir auch die Oberfläche des Wassers zu einem Buch, – zu einem Buch, das für den gewöhnlichen Flußfahrer sieben Siegel trug, das aber zu mir ohne jede Rückhaltung sprach und seine geheimsten Geheimnisse mit einer Bereitwilligkeit preisgab, als spräche es mit einer Stimme zu mir, wie meine eigene. Und zwar war es keines jener Bücher, das man einmal liest und dann beiseite wirft, denn es wußte an jedem neuen Tage eine neue Geschichte zu erzählen. Auf diesen ganzen zwölfhundert Meilen zwischen St. Louis und New-Orleans gab es keine Seite, die nicht ein eigenes Interesse bot; keine, welche man ohne Verlust ungelesen lassen konnte; keine, die man Lust hatte zu überschlagen, im Wahne, an etwas anderem mehr Vergnügen zu finden. Es war ein Buch, so wundervoll, wie es nie von Menschenhänden geschrieben, von Menschenköpfen hätte erdacht werden können. Der gewöhnliche Reisende, welcher es nicht zu lesen verstand, erblickte vielleicht hin und wieder (wenn er überhaupt etwas derartiges erblickte!) ein leichtes, flüchtiges Zeichen auf seiner Oberfläche. Dem Steuermann war dieses Zeichen eine leuchtende Schrift und mehr als das, eine ganze Geschichte, gedruckt mit mächtigen Initialen, gesperrten Sätzen, und weithin sichtbaren Ausrufungszeichen, denn es sprach ihm von einer Sandbank, einem Riff oder einem in der Tiefe liegenden Wrack, die dort unten nach Schiff- und Menschenleben lechzten. Der gewöhnliche Reisende, der dieses Buch nicht zu lesen verstand, sah nichts als allerlei hübsche und freundliche Bilder, von der Sonne vergoldet, von den Wolken überschattet. Für den kundigen Mann am Rade war all dieses Bilderwerk der feierlichste, unerschöpflichste, tödlich ernsteste Lesestoff!

Als ich in dieser Weise endlich auch die Sprache des Wassers bemeistert hatte und mir endlich alles was zu dem großen Strom in irgend einer Beziehung stand, geläufig geworden war, wie mein ABC, da fühlte ich, daß ich einen wertvollen Schatz erworben hatte. Aber ich fühlte zugleich auch, daß ich etwas eingebüßt hatte, und zwar etwas, das mir, so lange ich lebe, nicht wieder zurückerstattet werden kann. Alle Anmut, alle Schönheit, aller poetischer Reiz waren für mich aus dem majestätischen Flusse geschwunden!

Noch heute bewahre ich aus jener Zeit, als ich ein Neuling auf dem Flusse war, das Andenken an einen ganz bestimmten wundervollen Sonnenuntergang. Eine breite Fläche des Wasserspiegels erschien zu Blut verwandelt. In der Mitte verklärte sich der rote Schimmer zu flammendem Gold, durch welches ein einsamer Baumstamm scharf abgezeichnet und schwarz dahintrieb. An einer Stelle zog sich ein leicht schäumender Streifen über die Flut; an einer andern war die glatte Fläche durch zitternde, sich ewig erneuende Kreise unterbrochen, die in allen Farben des Opals spielten. Das Ufer zur Rechten war dicht bewaldet, und die dunkeln Schatten, welche von dort aus ins Wasser fielen, wurden an einer Stelle von einem langen, gekräuselten Streifen unterbrochen, der wie Silber glitzerte. Aus dem Gehölz aber erhob sich ein mächtiger, abgestorbener Baumriese, dessen einziger noch belaubter Ast im ungebrochenen Sonnenlicht wie eine Flamme sprühte. Wo das Auge hinfiel, erblickte es anmutige Wellenlinien, bunte Spiegelbilder, bewaldete Höhen, weiche Uferumrisse. Und über dem allen gaukelten und zitterten wechselnde Lichter, welche den Gegenständen, die sie verklärten, mit jedem Moment neue Farbenwunder liehen.

Ich stand wie bezaubert. Ich sog es ein, in stummem Entzücken. Die Welt war wie neu für mich; ich hatte dergleichen daheim nie gesehen. Aber, wie ich schon sagte, – es kam ein Tag, an dem ich aufhörte, ein waches Auge für all diese Pracht und all diese Reize zu haben, welche Sonne, Mond und Zwielicht über das Antlitz des Riesenstromes auszugießen wußten. Und dann kam noch ein Tag, an dem ich aufhörte, überhaupt ein Auge für sie zu haben. Jener Sonnenuntergang, der mich einst in so maßloses Entzücken versetzt hatte, würde mich jetzt nicht nur nicht mehr entzückt haben, sondern ich hätte ihn bloß noch betrachtet, um folgenden Kommentar daran zu knüpfen: »Diese blutige Sonne deutet an, daß wir morgen Wind haben werden; jener schwimmende Baumstamm, daß der Fluß steigt, jener zitternde Querstreif weist auf ein Sandriff, das nicht verfehlen wird, in einer der nächsten Nächte ein Schiff umzubringen; jene tanzenden Kreise im Wasser sagen an, daß sich dort ein neuer Fahrkanal bildet; und jener alte Baumriese mit dem einen belaubten Zweige winkt uns etwas wie ein letztes Lebewohl zu, – und wer soll sich, wenn er niedergestürzt sein wird, ohne den alten wohlbekannten Wegweiser hier noch zurecht finden?«

Nein, – mit der Romantik und der Schönheit des Flusses war es für mich auf ewig vorbei! Die mannigfachen Erscheinungen desselben hatten nur noch insoweit einen Wert für mich, als sie für die Leitung eines Dampfbootes in Betracht kamen. Das war alles.

Wie oft habe ich seitdem aus tiefstem Herzen den Mann der ärztlichen Wissenschaft beklagt! Wie häufig ist ihm nicht das holde Erröten auf den Wangen der Schönheit nichts andres als ein flüchtiges Phänomen, das über ein verstecktes tödliches Übel hinzuckt! Sind ihm nicht die meisten ihrer sichtbaren Reize ebenso viele Verräter und Anzeichen verborgenen Verfalls! Ja, vermag er die Schönheit überhaupt noch zu sehen, und, wenn er sie sieht, anders als mit dem Blick des Fachmanns? Und fragt nicht auch er sich wieder und immer wieder: ob er durch den Erwerb all seiner Erkenntnis mehr gewonnen oder verloren hat?!

  1. ›lehren‹ steht nicht im Mississippi-Lotsen-Wörterbuch.

Ich vervollständige meine Ausbildung.

Ich vervollständige meine Ausbildung.

Wer so höflich war, die vorhergehenden Kapitel zu lesen, wird sich vielleicht wundern, daß ich das Lotsen als Wissenschaft so eingehend behandelt habe. Es war der Hauptzweck jener Kapitel und ich bin noch nicht ganz fertig damit; denn ich möchte aufs eingehendste beweisen, welch wunderbare Wissenschaft das Lotsen ist.

Die Schiffahrtskanäle werden mit Bojen und Leuchtfeuern versehen, und es ist deshalb ein vergleichsweise leichtes Unternehmen, sie kennen zu lernen und zu befahren; Flüsse mit klarem Wasser und Kiesgrund ändern ihr Fahrwasser sehr allmählich, und man braucht sie daher nur einmal zu ›lernen‹; das Lotsen wird aber eine ganz andere Sache, wenn es sich um ungeheure Ströme, wie den Mississippi und den Missouri, handelt, wo die angeschwemmten Ufer sich fortwährend aushöhlen und verändern, die treibenden Baumstämme fortwährend neue Plätze aufsuchen, die Sandbänke nie zur Ruhe kommen, das Fahrwasser ewig Winkelzüge und Abweichungen macht, und die Hindernisse bei jeder Dunkelheit und jedem Wetter bekämpft werden müssen – ohne die Hilfe eines einzigen Leuchtturms oder einer einzigen Boje; denn auf dem drei- bis viertausend Meilen langen verwünschten Strome ist nirgends ein Leuchtfeuer oder eine Boje zu finden. Ich fühlte mich berechtigt, mich über diese große Wissenschaft weitläufig zu verbreiten, weil ich überzeugt bin, daß niemals jemand, der selbst ein Dampfboot gelotst hat und also den Gegenstand praktisch kannte, einen Satz darüber geschrieben hat. Wäre das Thema abgedroschen, dann müßte ich mir Enthaltsamkeit auferlegen; da es aber ganz neu ist, glaubte ich der Sache einen beträchtlichen Raum widmen zu dürfen.

Als ich Namen und Lage jedes sichtbaren Merkmals des Stromes gelernt hatte – als ich seinen Lauf so bemeistert hatte, daß ich ihn mit geschlossenen Augen von St. Louis bis New-Orleans verfolgen konnte – als ich gelernt hatte, die Oberfläche des Wassers zu lesen, wie man die Neuigkeiten aus der Morgenzeitung herausfischt – als ich schließlich mein stumpfes Gedächtnis soweit geschult hatte, daß es eine endlose Reihe von Lotungen und Kreuzungsmarken aufgespeichert hatte und festhielt, da glaubte ich, daß meine Ausbildung vollständig wäre: ich rückte also die Mütze auf die Seite und behielt am Steuerrad einen Zahnstocher im Munde. Bixby beobachtete mein dünkelhaftes Wesen. Eines Tages sagte er:

»Wie hoch ist jenes Ufer da drüben?«

»Wie soll ich das wissen? Es ist fast eine halbe Stunde entfernt.«

»Sehr schlechtes Auge, wahrhaftig! Nimm das Fernglas.«

Ich nahm es und bemerkte gleich darauf:

»Ich kann’s nicht sagen. Meiner Ansicht nach ist jenes Ufer etwa anderthalb Fuß hoch!«

»Anderthalb Fuß? Ja – sechs Fuß! Wie hoch war es bei der letzten Fahrt?«

»Das weiß ich nicht; ich habe nicht darauf geachtet.«

»Nicht? Du mußt von nun an immer darauf acht geben.«

»Weshalb?«

»Weil du eine Menge Dinge wissen mußt, die es dir offenbart. Es giebt dir zum Beispiel den Stand des Flusses an – sagt dir, ob mehr oder weniger Wasser hier ist, als bei der letzten Reise.«

»Nun, das sagt mir das Lot.« Ich glaubte, ihn damit entwaffnet zu haben.

»Ja, aber wenn das Lot lügt? Das sagt dir das Ufer und dann gehst du hin und rüttelst den Mann am Lot aus seinem Dusel auf. Bei der letzten Fahrt war das Ufer zehn, jetzt ist es nur noch sechs Fuß hoch; was bedeutet das?«

»Daß der Fluß seitdem um vier Fuß gestiegen ist.«

»Ganz recht. Steigt oder fällt der Fluß?«

»Er steigt.«

»Nein, er steigt nicht.«

»Ich glaube, ich habe recht, Sir. Dort treibt Holz den Strom herab.«

»Ein Ansteigen setzt das Treibholz in Bewegung, aber wohlverstanden, es schwimmt noch eine Zeitlang fort, nachdem der Strom aufgehört hat zu steigen. Und darüber wird das Ufer dich aufklären. Warte, bis wir an eine Stelle kommen, wo es nur wenig abschüssig ist – hier jetzt! siehst du diesen schmalen Streifen seinen Niederschlages? Der hat sich abgelagert, als das Wasser höher stand. Auch siehst du wohl, daß das Holz allmählich strandet. Das Ufer belehrt auch noch in anderer Weise. Siehst du den Baumstumpf auf der ›falschen Landspitze‹?«

»Ja, Sir.«

»Nun, das Wasser reicht gerade bis an seine Wurzeln. Das mußt du dir notieren.«

»Weshalb?«

»Weil das bedeutet, daß in der Passage 103 sieben Fuß Wasser stehen.«

»Aber 103 ist ja noch eine große Strecke weiter flußaufwärts.«

»Da zeigt sich eben die Wohlthat des Ufers. Jetzt ist Wasser genug in 103, vielleicht aber nicht mehr, wenn wir hinkommen; aber das Ufer wird uns darüber auf dem Laufenden erhalten. Bei fallendem Fluß fährt man stromaufwärts überhaupt durch keine schmalen Durchlässe, und stromabwärts darf man nur äußerst wenige passieren; das ist gegen die Gesetze der Vereinigten Staaten. Der Strom kann vielleicht steigen, bis wir nach 103 kommen, und in diesem Falle werden wir hindurchfahren. Wieviel Tiefgang haben wir?«

»Sechs Fuß hinten – sechseinhalb vorn.«

»Nun, du scheinst doch etwas zu wissen.«

»Was ich vor allem wissen möchte ist aber, ob ich fortwährend, jahraus jahrein, die zwölfhundert Meilen dieses Ufers messen muß?«

»Natürlich.«

Meine Stimmung war eine Zeitlang zu erregt für Worte; endlich sagte ich:

»Und wie ist es mit den Durchlässen? Giebt es deren viele?«

»Das will ich meinen. Ich glaube, wir werden auf dieser Fahrt keinen einzigen so durchfahren, wie du es bisher gesehen hast. Wenn der Strom wieder zu steigen anfängt, werden wir über Sandbänke hinwegfahren, die du bisher stets hoch und trocken wie das Dach eines Hauses aus dem Wasser emporragen sahest; wir werden seichte Stellen passieren, die du noch nie überhaupt beobachtet hast, mitten durch Sandbänke, die dreihundert Morgen bedecken; wir werden durch Spalte kriechen, wo du stets festes Land vermutetest; wir werden durch die Wälder dampfen, den Strom in einer Breite von fünfundzwanzig englischen Meilen auf einer Seite lassen und die Rückseite jeder Insel zwischen New-Orleans und Kairo sehen.«

»Dann muß ich mich dahintermachen und noch genau ebensoviel vom Strome lernen, wie ich bereits weiß.«

»Gerade noch zweimal so viel, sofern es dir möglich ist.«

»Nun, man lebt ja, um zu lernen. Allein mir scheint, ich war ein Narr, als ich mich auf dies Geschäft einließ.«

»Ja, das ist wahr, und du bist’s noch, wirst’s aber nicht mehr sein, wenn du es gelernt hast.«

»Ach, ich werde es niemals lernen.«

»Ich will sehen, daß du es doch lernst.«

Bald darauf wagte ich eine weitere Frage: –

»Muß ich das alles gerade so lernen, wie ich den Rest des Stromes kenne, – Gestaltung und alles, – so daß ich auch bei Nacht darnach steuern kann?«

»Ja. Und du mußt gute, zuverlässige Merkzeichen von einem Ende des Stromes zum andern haben, die dir in Verbindung mit dem Ufer sagen werden, ob Wasser genug auf jeder dieser zahllosen Stellen ist – wie jener Baumstumpf, weißt du. Wenn der Strom zu steigen anfängt, kann man ein halbes Dutzend der tiefsten Durchlässe durchfahren; steigt er einen Fuß weiter, ein weiteres Dutzend; beim nächsten Fuß kommen ein paar Dutzend dazu, und so fort: Du siehst also, daß du deine Ufer und Merkzeichen unbedingt sicher kennen mußt und sie nie miteinander verwechseln darfst; denn wenn du einmal in eine dieser Engen hineingefahren bist, kannst du nicht mehr zurück wie im großen Strom; du mußt hindurch oder ein halbes Jahr dort bleiben, wenn du vom fallenden Wasser überrascht wirst. Etwa fünfzig dieser Engen kannst du überhaupt nur dann passieren, wenn der Strom zum Überlaufen voll, oder über die Ufer getreten ist.«

»Diese neue Lehre ist eine heitere Aussicht.«

»Allerdings. Und beachte, was ich dir soeben gesagt habe; wenn du in eine dieser Engen einfährst, mußt du hindurch. Sie sind zu schmal zum Wenden, zu gekrümmt zum Rückwärtsherausfahren, und das seichte Wasser ist immer am oberen Ende, nie anderswo. Und es ist immer anzunehmen, daß das obere Ende sich ganz allmählich auffüllt, so daß die Marken, nach denen du jetzt ihre Tiefe berechnest, in der nächsten Saison vielleicht nicht zutreffen.«

»Ich muß also jedes Jahr das Alphabet von neuem lernen?«

»Versteht sich! Steure nahe an die Sandbank hinan! Weshalb fährst du mitten im Strom?«

Die nächsten paar Monate zeigten mir seltsame Dinge. An demselben Tage, als diese Unterredung stattfand, begann der Strom von oben herab stark zu steigen. Die ganze weite Wasserfläche war schwarz von treibenden Baumstämmen, abgebrochenen Ästen und starken Bäumen, die unterspült und weggewaschen worden waren. Es bedurfte des sorgfältigsten Steuerns, um den Weg durch dieses in Bewegung befindliche Floß zu suchen, selbst bei Tage, wenn man von einer Landspitze nach der andern hinübersteuerte; bei Nacht war die Schwierigkeit noch bedeutend größer; hie und da erschien plötzlich ein ungeheurer, tief im Wasser treibender Baumstamm gerade unter unserm Bug, mit dem einen Ende voran. Es war unnütz, ihm ausweichen zu wollen, wir konnten bloß die Maschinen stoppen; dann ging eines der Schaufelräder von einem Ende zum andern mit donnerndem Getöse über den Baumstamm, wobei das Schiff sich in einer Weise überlegte, die den Passagieren sehr unangenehm war. Hin und wieder versetzten wir einem dieser halb gesunkenen Stämme unter vollem Dampf einen krachenden Stoß gerade in die Mitte, wobei das Boot erzitterte, als wäre es auf einen Kontinent gestoßen. Manchmal blieb dieser Klotz dann quer vor dem Steven liegen; dann mußten wir krebsartig ein wenig zurückfahren, um von dem Hindernis freizukommen. Im Dunkeln stießen wir oft auf weiße Stämme, denn wir sahen sie nicht eher, als bis wir auf ihnen waren; ein schwarzer Stamm ist dagegen bei Nacht ziemlich deutlich sichtbar. Ein weißer Baumstamm ist ein unangenehmer Kunde, wenn das Tageslicht verschwunden ist.

Selbstverständlich kam bei dem großen Steigen des Flusses ein Schwarm von ungeheuren Holzflößen von den oberen Gewässern des Mississippi herab, sowie Kohlenleichter von Pittsburg, kleine Handelsfahrzeuge von überall her, und breite Flachboote von Posey County in Indiana, die letzteren meist mit Früchten beladen. Die Lotsen hegten einen tödlichen Haß gegen diese Fahrzeuge, was deren Schiffer mit reichen Zinsen vergalten. Das Gesetz verlangte, daß alle diese unbeholfenen Handelsfahrzeuge ein Licht führten; allein das war eine Verordnung, die nur zu oft unbeachtet blieb. In dunkler Nacht tauchte plötzlich dicht unter unserem Auge ein Licht vor uns auf, worauf dann eine heisere Stimme im Hinterwäldler-Jargon zu rufen pflegte:

»In des T– Namen, wohin steuert ihr? Könnt ihr nicht sehen, ihr verd– Maulbeeren fressenden Schafe, ihr einäugigen Söhne eines ausgestopften Affen?«

Während wir vorbeischossen, enthüllte uns dann die rote Glut unter den Kesseln wie der Blitz auf einen Augenblick das Flachboot und die Gestalt des gestikulierenden Redners, und in demselben Momente pflegten unsere Heizer und Deckleute eine Wolke von Wurfgegenständen und einen Hagel von Schimpfworten zu empfangen und fortzusenden, worauf dann eines unserer Schaufelräder gewöhnlich die Bruchstücke des zertrümmerten Steuerremens mit fortnahm und alles wieder von schwarzer Dunkelheit eingehüllt war. Und sicherlich ging dann der Besitzer jenes Flachbootes nach New-Orleans, um unseren Dampfer zu verklagen und auf das entschiedenste zu beschwören, daß er zu der betreffenden Zeit ein Licht brennen gehabt habe, während in Wirklichkeit seine Mannschaft, um zu spielen, zu singen und zu trinken, die Laterne in die Kajüte genommen, aber keine Wache an Deck gehalten hatte. Einmal hätten wir nachts in einer jener vom Walde begrenzten Passagen hinter einer Insel, welche von den Dampfbootleuten als »so dunkel, wie das Innere einer Kuh« beschrieben werden, beinahe eine ganze Familie aus Posey County nebst ihrer Ladung in den Grund gebohrt, wenn nicht zufällig in der Kajüte auf einer Fiedel gespielt worden wäre und wir nicht den Schall der Musik noch eben rechtzeitig gehört hätten, um abscheren zu können, wobei leider kein ernsthafter Schaden angerichtet wurde, wir jedoch so nahe kamen, daß wir einen Augenblick die schönste Hoffnung in dieser Beziehung hatten. Selbstverständlich brachten die Leute dann ihre Laterne an Deck, wo sie die ganze Familie – beide Geschlechter verschiedenen Alters – beleuchtete, während wir bei ihrem Fluchen mit der Maschine vorwärts und rückwärts arbeiteten, um frei zu kommen. Ein anderesmal schickte uns ein Kohlenschiffer eine Kugel durch das Steuerhaus, als wir uns an einer sehr engen Stelle einen Steuerremen von ihm geborgt hatten.

  1. Seitdem ist das anders geworden.