Zweites Kapitel.

Zweites Kapitel.

Im Wohlstand kann man an seinen Grundsätzen am besten festhalten.

Querkopf Wilsons Kalender.

14. Januar abends. – Die ›Rosetta‹, mit der wir absegeln, ist ein schlechtes altes Schiff, das man versichern und untergehen lassen sollte. Auch hier, wie auf der ›Oceana‹, hält man die Mittagstoilette für eine Art frommer Pflicht. Aber dergleichen vornehme Formen stehen in grellem Gegensatz zu der Aermlichkeit der schäbigen Ausstattung des Fahrzeugs…. Wenn man zum Nachmittagstee eine Limonenscheibe haben möchte, muß man erst am Schenktisch eine Anweisung unterzeichnen. Und dabei kostet das Faß Limonen vierzehn Cents.

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18. Januar. Nachdem wir das Arabische Meer durchschifft haben, sind wir jetzt dicht an Bombay, das wir noch heute abend erreichen sollen.

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20. Januar. Bombay! – wie ein Märchen aus ›Tausend und eine Nacht‹, entzückend, verwirrend, bezaubernd! Es ist eine ungeheure Stadt, mit etwa einer Million Einwohnern, meist braune Leute; die wenigen Weißen, die man zerstreut unter der Masse der Bevölkerung findet, kommen gegen alle die dunkeln Gesichter kaum in Betracht. Hier ist es Winter: ein himmlisches Juniwetter und frisches, köstliches Sommerlaub. Im Schatten der großen prächtigen Baumreihe dem Hotel gegenüber sitzen malerische Gruppen von Eingeborenen beiderlei Geschlechts; der Gaukler im Turban mit den Schlangen und Zauberkünsten ist natürlich dabei. Den ganzen Tag sieht man die verschiedenartigsten Trachten zu Fuß und zu Wagen vorüberziehen; es ist, als könnte man nie müde werden, diese endlosen Wandelbilder, dies glänzende und stets wechselnde Schauspiel zu betrachten… Die fest eingekeilte Masse der Eingeborenen im großen Bazar bot einen wunderbaren Anblick; es war ein Meer von buntfarbigen Turbans und faltigen Gewändern, zu dem die fremdartigen, prunkvollen indischen Bauwerke gerade den richtigen Hintergrund bildeten. Bei Sonnenuntergang folgte ein anderes Schauspiel: eine Fahrt am Seestrande bis zur Malabar-Spitze, wo Lord Sandhurst, der Gouverneur der Präsidentschaft Bombay, wohnt. Auf der ersten Hälfte des Weges, den alle Welt fährt, steht ein schöner Parsenpalast neben dem andern. Die Privatequipagen der reichen Engländer und vornehmen Eingeborenen haben außer dem Kutscher noch drei Bediente in wundervollen orientalischen Livreen. Zwei davon, prächtig anzuschauen, stehen als beturbante Statuen hintenauf. Manchmal nehmen die öffentlichen Fuhrwerke dergleichen überschüssige Diener mit: einen zum Fahren, einen um neben dem Kutscher zu sitzen und ihm zuzusehen, und einen, der hinten auf dem Tritt steht und schreit, wenn jemand im Wege ist; wenn niemand da ist, schreit er auch, um nicht aus der Uebung zu kommen. Das alles bringt Leben und Bewegung mit und erhöht den Gesamteindruck von Hast, Schnelligkeit und Verwirrung.

In der Nähe der ›Läster-Spitze‹ – ein sehr bezeichnender Name – sind Felsen, auf denen man bequem sitzen kann, um nach der einen Seite hin den herrlichen Blick auf das Meer zu genießen und auf der andern die Menge der schön geschmückten Wagen bei der Hin- oder Rückfahrt vorbeirasseln und -jagen zu sehen; dort haben die Frauen wohlhabender Parsen in Gruppen Platz genommen, wahre Blumenbeete voll Farbenglanz, ein unwiderstehlich fesselndes Bild. Trab, trab, trab, kommt es die Straße entlang, einzeln, zu zweien, in Gruppen und Abteilungen – das sind Arbeiterscharen, Männer und Frauen, aber nicht gekleidet wie bei uns. Der Mann, meist eine große, stolze Athletengestalt, hat außer seinem Lendentuch nicht einen Fetzen an, seine Gesichtsfarbe ist dunkelbraun, auf der glatten Haut, die wie Atlas glänzt, treten die Muskeln in Wülsten hervor, als ob Eier darunter lägen. Die Frau ist gewöhnlich schlank und wohlgebildet, kerzengerade wie ein Blitzableiter und trägt nur ein Kleidungsstück – einen langen, hellfarbigen Stoffstreifen, den sie um Kopf und Leib windet, fast bis zu den Knieen herunter, und der sich so fest wie ihre eigene Haut an den Körper schmiegt. Füße und Beine sind nackt, desgleichen die Arme, bis auf die Gehänge von losen, verschlungenen Silberringen an den Armen und Fußgelenken. Auch in der Nase trägt sie Schmuck und glänzende Ringe an den Fußzehen. Beim Schlafengehen wird sie ihr Geschmeide wohl ablegen; mehr kann sie nicht ausziehen, sonst würde sie sich erkälten. Man sieht sie meist mit einem großen, schön geformten Wasserkrug von blankem Metall, den sie mit erhobenem Arm auf dem Kopfe festhält. Aufrecht, würdevoll und doch mit leichtem, anmutigem Gang kommt sie daher; ihr gebogener Arm und der blanke Krug erhöhen noch die malerische Wirkung und machen sie zu einer wahren Zierde für die Straße. Unsere Arbeiterfrauen können es ihr darin auch nicht entfernt gleichtun.

Farben, wohin man blickt, entzückende, bezaubernde Farben, rings umher und längs der gewundenen Straße an der großen, bunt schillernden Bucht, bis man das Haus des Gouverneurs erreicht. Dort stehen, den Turban auf dem Kopf, die großen Chuprassies, die eingeborenen Diener in ihren feuerroten Gewändern an der Eingangspforte gruppiert und bilden den theatralischen Schluß des prächtigen Schauspiels. O, wäre ich doch ein Chuprassy!

Ja, das ist Indien! Das Land der Romantik und der Träume, wo fabelhafter Reichtum und fabelhafte Armut wohnt, das Land der Pracht und Herrlichkeit, der Lumpen, der Paläste und elenden Hütten, der Pest und Hungersnot, der Schutzgeister und Riesen, wo Aladdins Lampe, Tiger, Elefanten, die Kobra, der Dschungel zu finden sind, wo hunderterlei Völker in hunderterlei Sprachen reden, das tausend Religionen und zwei Millionen Götter hat. Indien ist die Wiege des Menschengeschlechts, der Geburtsort der menschlichen Sprache, die Mutter der Geschichte, die Großmutter der Sage, die Urgroßmutter der Ueberlieferung; was für andere Völker graues Altertum ist, zählt zu Indiens jüngster Vergangenheit. Es ist das einzige Land unter der Sonne, das für den Fürsten und den Bettler, den Gebildeten und den Unwissenden, den Weisen und den Toren, den Sklaven und den Freien den gleichen, unzerstörbaren Reiz hat. Alle Menschen möchten es sehen, und wer es einmal auch nur flüchtig geschaut hat, würde die Wonne dieses Anblicks nicht für alles Schaugepränge eintauschen, das der gesamte übrige Erdball zu bieten vermag.

Selbst jetzt, nach Ablauf eines Jahres, ist mir die sinnverwirrende Freude jener Tage in Bombay noch vollkommen gegenwärtig, und ich hoffe, sie wird mich nie verlassen. Es war alles ganz neu und ungewohnt; auch warteten die Überraschungen nicht erst bis zum nächsten Morgen, sie waren da, sobald wir das Hotel betraten. In den Hallen und Vorsälen wimmelte es von braunen Eingeborenen mit Turban, Fez oder gestickter Mütze, die in baumwollenem Gewand barfuß durcheinander liefen oder ruhig auf dem Boden saßen und hockten. Einige schwatzten mit großem Nachdruck, andere saßen still und träumerisch da; im Speisezimmer stand hinter dem Stuhl jedes Gastes sein farbiger Aufwärter, angekleidet wie in einem Märchen aus ›Tausend und eine Nacht‹.

Unsere Zimmer waren nach vorn hinaus in einem oberen Stock. Ein Weißer – es war ein handfester deutscher – führte uns hinauf und nahm drei Hindus mit, um alles in Ordnung zu bringen. Etwa vierzehn andere folgten in langem Zuge mit dem Handgepäck; jeder trug nicht mehr als ein Stück, was es auch sein mochte. Ein starker Eingeborener trug meinen Ueberzieher, ein anderer einen Sonnenschirm, der dritte eine Schachtel Zigarren, der vierte einen Roman, und der letzte kam nur noch mit einem Fächer beladen daher. Sie taten das alles mit großem Ernst und Eifer; von vorn bis hinten war in dem ganzen Zuge auf keinem Gesicht ein Lächeln zu sehen. Jeder einzelne wartete, ruhig, geduldig und ohne die geringste Eile zu verraten, bis er ein Kupferstück erhielt, dann verneigte er sich ehrfurchtsvoll, legte die Finger an die Stirn und ging seiner Wege. Diese Leute scheinen sanften und milden Gemüts zu sein; es lag etwas Rührendes in ihrem Verhalten, das zugleich für sie einnahm.

Eine große Glastür führte zum Balkon hinaus. Sie sollte geputzt oder verriegelt werden – was weiß ich – und ein Hindu kniete auf dem Boden, um die Arbeit zu tun. Anscheinend machte er seine Sache ganz ordentlich, aber das mußte wohl nicht der Fall sein, denn die Miene des Deutschen verriet Unzufriedenheit, und ohne ein Wort der Erklärung schlug er den Hindu plötzlich derb ins Gesicht und sagte ihm dann erst, was er falsch gemacht hatte. Der Diener nahm die Züchtigung demütig und schweigend hin; auch zeigte weder sein Gesichtsausdruck noch sein Wesen überhaupt den geringsten Groll. Mir schien es eine wahre Schande, so etwas in unserer Gegenwart zu tun; seit fünfzig Jahren hatte ich solchen Auftritt nicht erlebt. Urplötzlich fühlte ich mich in meine Knabenzeit zurückversetzt und mir fiel ein, daß dies ja die gewöhnliche Art sei, wie man einem Sklaven seine Wünsche begreiflich machte – eine Tatsache, die mir ganz entfallen war. Damals hatte ich diese Methode richtig und natürlich gefunden, denn ich war von klein auf daran gewöhnt und glaubte, man mache das nirgends anders; aber ich erinnere mich recht gut, daß mir bei solchen stumm ertragenen Schlägen der Empfänger stets leid tat und ich mich für den Strafenden schämte. Mein Vater war ein edler, gütiger Mann, sehr ernst und enthaltsam, von strengster Gerechtigkeit und Redlichkeit, ein rechtschaffener Charakter durch und durch. Zwar war er nicht Mitglied irgend einer Kirche, sprach auch nie von religiösen Dingen und nahm an den frommen Freuden seiner presbyterianischen Familie keinen Anteil, doch schien er das nicht als Entbehrung zu empfinden. Er hat mich, so lange er lebte, nur zweimal körperlich gezüchtigt und gar nicht hart. Einmal, weil ich ihn belogen hatte – was mich höchlich überraschte und mir sein gutes Zutrauen bewies, denn es war keineswegs mein erster Versuch gewesen. Mich schlug er, wie gesagt, nur zweimal und seine anderen Kinder gar nicht; aber unsern kleinen gutmütigen Sklaven Lewis ohrfeigte er häufig für die geringfügigste Ungeschicklichkeit oder ein kleines Versehen. Mein Vater hatte von Geburt an unter Sklaven gelebt, und wenn er sie schlug, so tat er das nach damaliger Sitte, gegen seine Natur. – Als ich zehn Jahre alt war, sah ich einmal, wie ein Mann einem Sklaven im Zorn ein Stück Eisenerz an den Kopf warf, weil er etwas ungeschickt gemacht hatte – als ob das ein Verbrechen wäre. Es sprang von seinem Schädel ab, und der Mensch fiel hin, ohne einen Laut von sich zu geben. Nach einer Stunde war er tot. – Ich wußte wohl, daß der Herr das Recht hatte, seinen Sklaven zu töten, wenn er wollte, aber doch kam es mir erbärmlich vor und eigentlich unstatthaft, wiewohl ich nicht gescheit genug gewesen wäre, um zu erklären, was unrecht daran sei, wenn man mich gefragt hätte. Niemand in unserm Dorf billigte jene Mordtat, aber es war natürlich nicht viel davon die Rede.

Merkwürdig, wie der Gedanke Raum und Zeit überspringen kann! Eine Sekunde lang war mein ganzes Ich in dem kleinen Dorf von Missouri auf der andern Halbkugel der Erde; jene vergessenen Bilder von vor fünfzig Jahren standen mir lebendig vor Augen, und alles übrige versank gänzlich vor meinem Bewußtsein. In der nächsten Sekunde war ich schon wieder in Bombay, während die Backe des knieenden Dieners noch von der Ohrfeige brannte. Bis zur Knabenzeit – fünfzig Jahre – zurück ins Alter – abermals fünfzig, und ein Flug um den ganzen Erdball – alles in einem Zeitraum von zwei Sekunden!

Verschiedene Eingeborene – ich weiß nicht mehr wie viele – begaben sich nun in mein Schlafzimmer, brachten alles in Ordnung und befestigten das Moskitonetz. Dann legte ich mich zu Bett, um meine Erkältung rascher los zu werden. Es war etwa neun Uhr abends und an Ruhe gar nicht zu denken. Drei Stunden lang dauerte das Geschrei und Gekreisch der Eingeborenen in der Vorhalle noch ununterbrochen fort, auch das sammetweiche Getrappel ihrer behenden, nackten Füße hörte nicht auf. Nein, dieser Lärm! Alle Bestellungen und Botschaften wurden drei Treppen hinunter geschrieen; es klang wie Aufruhr, Meuterei, Revolution. Auch noch andere Geräusche kamen hinzu: von Zeit zu Zeit ein furchtbarer Krach, als ob Dächer einfielen, Fenster zerbrächen, Leute ermordet würden. Dann hörte man die Krähen krächzen, hohnlachen, fluchen; Kanarienvögel kreischten, Affen schimpften, Papageien plapperten, zuletzt erscholl wieder ein teuflisches Gelächter, gefolgt von Dynamitexplosionen. Bis Mitternacht hatte ich alle nur erdenklichen Schreckschüsse über mich ergehen lassen und wußte nun, daß mich nichts mehr überraschen und stören konnte – ich war auf alles gefaßt. Da trat plötzlich Ruhe ein – eine tiefe, feierliche Stille, die bis fünf Uhr morgens dauerte.

Dann ging der Spektakel aber von neuem los. Und wer hat ihn angefangen? Die indische Krähe, dieser Vogel aller Vögel. Mit der Zeit lernte ich ihn näher kennen und war dann ganz in ihn vernarrt. Ich glaube, er ist der durchtriebenste Spitzbube, der Federn trägt und dabei so lustig und selbstzufrieden wie kein anderer. Ein solcher Vogel konnte nicht mit einemmal zu dem geschaffen werden, was er ist: unvordenkliche Zeitalter haben an seiner Entwicklung gearbeitet. Er ist öfter wiedergeboren als der Gott Schiwa und hat bei jeder Seelenwanderung etwas zurückbehalten und es seinem Wesen einverleibt. Im Verlauf seines stufenweisen Fortschritts, seines glorreichen Vorwärtsschreitens zu schließlicher Vollendung, ist er ein Spieler gewesen, ein zuchtloser Priester, ein Komödiant, ein zänkisches Weib, ein Schuft, ein Spötter, ein Lügner, ein Dieb, ein Spion, ein Angeber, ein käuflicher Politiker, ein Schwindler, ein berufsmäßiger Heuchler, ein bezahlter Patriot, auch Reformator, Vorleser, Anwalt, Verschwörer, Rebell, Royalist, Demokrat; er hat sich überall eingemischt, sich unehrerbietig und zudringlich benommen, hat ein gottloses, sündhaftes Leben geführt, bloß weil es ihm das größte Gaudium machte. Und das Ergebnis der stetigen Ansammlung aller verwerflichsten Eigenschaften ist merkwürdigerweise, daß er weder Sorge, noch Kummer, noch Reue kennt; sein Leben ist eine einzige Kette von Wonne und Glückseligkeit, und er wird seiner Todesstunde ruhig entgegengehen, da er weiß, daß er vielleicht als Schriftsteller oder dergleichen wiedergeboren wird, um sich dann womöglich als noch größerer Schwerenöter behaglicher zu fühlen denn je zuvor.

Wenn die Krähe mit großen Schritten breitbeinig einherkommt, dann seitlich ein paar kräftige Hopfer macht, eine unverschämte, pfiffige Miene aufsetzt und den Kopf schlau auf die Seite legt, erinnert sie an die amerikanische Amsel. Doch ist sie viel größer und lange nicht so schlank und wohlgebaut; auch ihr schäbiger grau und schwarzer Rock hat natürlich nicht den herrlichen Metallglanz, in dem das Federkleid der Amsel prangt. Die Krähe ist ein Vogel, der nicht schweigen kann; er zankt, schwatzt, lacht, schnarrt, spottet und schimpft beständig. Seine Ansicht äußert er über alles, auch wenn es ihn gar nichts angeht, mit größter Heftigkeit und Rücksichtslosigkeit. Er nimmt sich nicht erst Zeit nachzudenken, weil er keine Gelegenheit vorbeigehen lassen will, ohne seine Meinung zum Besten zu geben, selbst wenn es sich gerade um etwas ganz anderes handelt.

Ich glaube, die indische Krähe hat keinen Feind unter den Menschen. Sie wird weder von Weißen noch Mohammedanern belästigt, und der Hindu tötet schon aus religiösen Rücksichten überhaupt kein Geschöpf; er schont das Leben der Schlangen, Tiger, Flöhe und Ratten. Wenn ich an einem Ende auf dem Balkon saß, pflegten sich die Krähen auf dem Gitter am andern Ende zu versammeln und ihre Bemerkungen über mich zu machen; nach und nach flogen sie näher herzu, bis ich sie fast mit der Hand erreichen konnte. Da saßen sie und unterhielten sich ohne Scham und Scheu über meine Kleider, mein Haar, meine Gesichtsfarbe und vermutlich auch über meinen Charakter, Beruf und politischen Standpunkt, und wie ich nach Indien gekommen sei, was ich schon alles getan hätte, wie viele Tage mir zur Verfügung standen, warum ich noch nicht an den Galgen gekommen wäre, ob es mir noch lange glücken würde, dem Strick zu entgehen, ob es da, wo ich herkäme, noch mehr Leute meines Schlages gäbe, und so immer fort, bis ich es vor Verlegenheit nicht länger aushalten konnte und sie wegscheuchte. Darauf kreisten sie eine Weile in der Luft, unter Geschrei, Gespött und Hohngelächter, kamen dann wieder auf das Gitter geflogen und fingen die ganze Geschichte noch einmal von vorne an.

In wahrhaft überlästiger Weise zeigten sie aber ihre gesellige Neigung, wenn es etwas zu essen gab. Ohne daß man ihnen erst zuzureden brauchte, kamen sie auf den Tisch geflogen und halfen mir mein Frühstück verzehren. Als ich einmal ins Nebenzimmer ging und sie allein ließ, schleppten sie alles fort, was sie nur tragen konnten, und obendrein lauter für sie ganz nutzlose Dinge. Man macht sich keinen Begriff davon, in welcher Unzahl sie in Indien vorkommen, und der Lärm, den sie verursachen, ist nicht zu beschreiben. Ich glaube, sie kosten dem Land mehr als die Regierung, und das ist keine Kleinigkeit. Doch leisten sie auch etwas dafür, und zwar durch ihre bloße Gegenwart. Wenn man ihre lustige Stimme nicht mehr zu hören bekäme, so würde die ganze Gegend einen trübseligen Anstrich erhalten.

Elftes Kapitel.

Elftes Kapitel.

Wer sich seiner Sittsamkeit rühmt, gleicht einer Statue mit dem Feigenblatt.

Querkopf Wilsons Kalender.

Die Reise nach Benares nahm nur wenige Stunden in Anspruch. Wir machten sie bei Tage; der Staub spottete aller Beschreibung – er legte sich in einer dicken, aschgrauen Schicht auf den Menschen und verwandelte ihn in einen Fakir, bei dem nur der Kuhdünger und die Heiligkeit fehlte. Nachmittags hatten wir in Mogul-Serai Warenwechsel – ich glaube, so heißt der Ort – und mußten zwei Stunden auf den Zug nach Benares warten. Wir hatten auch einen andern Wagen nehmen und nach der heiligen Stadt fahren können, aber dann wären wir um die schöne Wartezeit gekommen. In andern Ländern ist ein langer Aufenthalt auf einer Station unangenehm und ermüdend, aber in Indien hat man kein Recht, sich über Mangel an Unterhaltung zu beklagen. Das Gewimmel der Eingeborenen in ihrem bunten Schmuck, das Gedränge, das Leben, der Wirrwarr, der stets wechselnde Glanz der verschiedenen Trachten – wo fände man Worte, um diesen Anblick in seinem ganzen Zauber zu schildern! Die zweistündige Wartezeit verging nur allzu schnell. Ein besonders interessantes Schauspiel gewährte uns noch ein eingeborener kleiner Fürst aus den Hinterwäldern mit seiner Ehrengarde, einer Bande von fünfzig dunkeln Barbaren, zerlumpt aber sehr farbenprächtig und mit rostigen Feuersteingewehren bewaffnet. Ich hätte es nicht für möglich gehalten, daß die bunte Mannigfaltigkeit des Gesamtbildes noch irgend welchen Zuwachs erhalten könnte, als aber dieser ›Falstaff mit seinen Gesellen‹ anmarschiert kam, trat alles andere dagegen in den Hintergrund.

Mit der Zeit fuhren wir ab und erreichten bald die Vorstädte von Benares, dann mußten wir wieder warten. Auch hier gab es etwas zu beobachten, nämlich eine Gruppe kleiner Palankins. An solchem Leinwandkasten hat man nicht viel zu sehen, wenn er leer ist; sitzt aber eine Dame darin, so erwacht unser Interesse. Die Kasten, welche etwas abseits standen, waren dreiviertel Stunden lang den erbarmungslosen Strahlen der Sonne preisgegeben. Ihre Insassen mußten kerzengerade darin ausharren, sie hatten keinen Raum, um ihre Glieder zu strecken; da es jedoch Haremsdamen waren, die ihr Lebtag in der Gefangenschaft ihres Frauengemachs schmachten müssen, so machte es ihnen vielleicht weniger aus. Wenn die Haremsdamen auf Reisen gehen, trägt man sie in solchen Leinwandkasten bis zur Bahn, und im Zuge werden sie vor allen Blicken verborgen. Viele Leute bedauern sie, und früher tat ich das auch ganz aus freien Stücken, doch jetzt zweifle ich stark, ob das Mitgefühl überhaupt angebracht ist. Während wir in Indien waren, machten einige gutherzige Europäer in einer Stadt den Vorschlag, man möchte den Haremsdamen einen großen Park zur Verfügung stellen, wo sie in sicherer Abgeschlossenheit unverschleiert umhergehen könnten, um sich an Luft und Sonnenschein zu erfreuen, wie noch nie in ihrem Leben. Obgleich man die wohlwollende Absicht nicht verkannte, welche dem Plan zu Grunde lag, so wurde er doch im Namen der Haremsdamen auf das entschiedenste abgelehnt. Sie hatten den Gedanken offenbar höchst anstößig gefunden, etwa wie wenn man Europäerinnen auffordern wollte, sich in mangelhafter und wenig anständiger Bekleidung in einem abgelegenen Privatpark zusammen zu finden. So verschieden sind die Begriffe von Schicklichkeit!

Major Sleeman schildert einmal die Entrüstung einer Dame aus vornehmer Kaste, als sie ein paar englische Mädchen unverschleiert über die Straße gehen sah. Der Anblick verletzte ihr Anstandsgefühl aufs tiefste und sie begriff nicht, wie jemand so schamlos sein könne, sich über alle Regeln hinwegzusetzen und seine Person auf solche Art zur Schau zu stellen. Dabei waren aber die Beine der sittlich empörten Dame bis weit über die Kniee entblößt. Kein Zweifel, sowohl die jungen Engländerinnen als die indische Dame waren die Lauterkeit und Sittsamkeit selbst; sie betrachteten die Sache nur von verschiedenem Standpunkt aus. Da es nun Millionen verschiedener Regeln über Sitte und Anstand gibt, so ist auch der Standpunkt der Menschen ein millionenfach verschiedener und keiner kann den seinigen ohne Schaden mit dem eines andern vertauschen. Ich glaube, alle menschlichen Regeln sind mehr oder weniger blödsinnig, aber das schadet nichts. Wie die Sachen jetzt stehen ist in den Irrenhäusern nur so viel Platz als man für die vernünftigen Menschen brauchen würde; wollten wir alle Verrückten einsperren, so würde uns bald das nötige Baumaterial mangeln. –

Man hat eine weite Fahrt durch die Vorstädte von Benares, ehe man das Hotel erreicht. Ueberall sieht es trübselig aus. Staubiges, dürres Land, zertrümmerte Tempel, eingesunkene Gräber, verfallene Lehmmauern, ärmliche Hütten; wohin man blickt Altersschwäche und Dürftigkeit. Zehntausend Hungerjahre sind vonnöten, um einen solchen Zustand hervorzubringen. Das Hotel sah recht behaglich aus, aber wir zogen vor, in einem etwas entfernten Nebenbau zu wohnen, der einstöckig war wie ein Bungalow und rings von einer Veranda umgeben. Es gibt zwar Türen in Indien, aber ich möchte wohl wissen wozu! Schließen kann man sie nicht, und gewöhnlich hängt ein Vorhang in der Oeffnung, zum Schutz gegen die grelle Sonne. Doch dringt hier niemand unbefugt in die Privatgemächer ein und man ist sicher, nicht gestört zu werden. Weiße Leute lassen sich natürlich vorher anmelden, und die eingeborenen Diener zählen nicht mit. Sie gleiten barfuß und geräuschlos herein und stehen mitten im Zimmer, ehe man sich’s versieht. Zuerst bekommt man einen Schreck und gerät manchmal in Verlegenheit, aber man muß sich darein finden und wird es mit der Zeit gewöhnt.

In unserm ›Compound‹, dem eingezäunten Hof, stand ein heiliger Feigenbaum, auf dem ein Affe wohnte. Für den Baum interessierte ich mich anfangs sehr, denn es war der berühmte ›Peepul‹, in dessen Schatten man keine Lüge sagen kann; er bestand jedoch die Probe nicht, und ich ging enttäuscht von dannen. Nicht weit davon war ein Brunnen, aus dem ein paar Ochsen stundenlang, unter leisem Knarren der Winde, Wasser heraufzogen; die Kleidung der beiden Hindus, welche dies Geschäft beaufsichtigten, bestand wie gewöhnlich aus ›Turban und Taschentuch‹. Außer dem Baum und Brunnen war im Hofe nichts zu sehen, und mir machte die vollkommene Ruhe und Einsamkeit nach dem ewigen Lärm und Gewirr den wohltuendsten Eindruck.

Wir bewohnten unser Bungalow ganz allein und gingen zu Tische in das Hotel, wo die übrigen Gäste abgestiegen waren. Angenehmer hätten wir es gar nicht haben können. Zu jedem Zimmer gehörte das gewöhnliche Bad, ein Raum von zehn bis zwölf Fuß im Quadrat, mit einer ausgemauerten und gepflasterten Vertiefung in der Mitte. Wasser gab es so viel man wollte und es wäre herrlich gewesen, hätte man nur bei der Hitze das warme Wasser ganz fortlassen und ein kaltes Bad nehmen dürfen, aber das war verboten, weil es der Gesundheit schädlich ist. Man warnt den Fremden davor, in Indien kalt zu baden; doch selbst die klügsten Fremden sind töricht genug, den guten Rat nicht zu befolgen und müssen es büßen. Ich war der klügste Tor, der in jenem Jahre des Weges kam. Zwar bin ich jetzt noch klüger – aber leider zu spät!

Benares hat mich nicht getäuscht. Es verdient seinen Ruf als große Sehenswürdigkeit. An einer tiefen Bucht des Ganges amphitheatralisch auf einem Hügel erbaut, den es ganz bedeckt, bildet es eine feste Masse, die nach allen Richtungen hin von labyrinthartig verschlungenen Spalten durchzogen wird, welche Straßen vorstellen. Mit seinen hohen schlanken Minarets und den beflaggten Tempelkuppeln und Spitzen gewährt die Stadt vom Fluß aus gesehen einen höchst malerischen Anblick. Es wimmelt darin wie in einem Ameisenhaufen; ein Wirrwarr ohne gleichen herrscht in den engen Straßen. Auch die heilige Kuh läuft dort nach Belieben umher, holt sich ihren Zehnten aus den Kornläden, ist überall im Wege und eine große Plage für alle Welt, weil man sie nicht belästigen darf.

Benares ist zweimal so alt wie die Geschichte, Ueberlieferung und Sage zusammengenommen. In Mr. Parkers klar und übersichtlich geschriebenem ›Führer durch Benares‹ steht, daß nach Anschauung der Hindus die Erschaffung der Welt dort ihren Anfang genommen hat. Mitten in das uferlose Meer stellte der gute Gott Wischnu ein aufrechtes ›Lingam‹ hin, das zuerst nicht größer war als ein Ofenrohr; allmählich erweiterte er es, bis es zehn Meilen im Durchmesser hatte. Da ihm aber das noch immer nicht genügte, baute er die ganze Erdkugel herum. Also liegt Benares in ihrem Mittelpunkt, und das wird als ein Vorzug angesehen.

Die Geschichte der Stadt ist sowohl in geistlicher als in weltlicher Beziehung höchst wechselvoll gewesen. Ursprünglich herrschten die Brahmanen dort viele Jahrhunderte lang, dann trat in neuerer Zeit, vor etwa 2500 Jahren Buddha auf, und während zwölf Jahrhunderten war Benares buddhistisch. Die Brahmanen bekamen jedoch abermals die Oberhand und haben sich seitdem nicht wieder verdrängen lassen. In den Augen der Hindus ist die Stadt unbeschreiblich heilig, aber sie ist auch ebenso ungesund und riecht ganz pestilenzialisch. Benares gilt als Hauptquartier des Brahmanismus, und die Priester bilden ein Achtel seiner Gesamtbevölkerung, doch sind ihrer nicht zu viel, da ganz Indien für ihren Unterhalt sorgt. Aus allen Himmelsgegenden drängen sich die Pilger herbei, um mit ihren Ersparnissen die Taschen der Priester zu füllen. Der Strom der frommen Spenden versiegt nie. So eine Priesterstelle am Ufer des Ganges ist der einträglichste Posten von der Welt. Ihr heiliger Inhaber sitzt sein Lebenlang in großem Staat unter seinem Regenschirm, segnet alle Pilger, steckt seine Gebühren ein und wird fett und reich dabei; die Stelle erbt sich von Vater auf Sohn weiter und weiter durch alle Zeiten hindurch und bleibt als dauernder, gewinnbringender Besitz in der Familie.

Als mir ein amerikanischer Missionar in Bombay sagte, die Zahl aller protestantischen Missionare in Indien beliefe sich auf 640, kam mir das zuerst sehr viel vor. Nachher überlegte ich mir die Sache. Ein Missionar auf 500 000 Eingeborene, das ist ja so gut wie nichts; wenn die 640 gegen das wohlverschanzte Lager von 300 000 000 anmarschieren, ist doch das Verhältnis gar zu ungleich, die Uebermacht zu groß. In Benares allein hatten 640 Missionare alle Hände voll zu tun, um gegen die 8000 Brahmanenpriester aufzukommen, die ihnen feindlich gegenüberstehen. Unsere Missionare haben von jeher in alle Teile der Welt eine starke Ausrüstung von Hoffnung und Vertrauen mitgenommen. Die besitzt auch Mr. Parker, sonst würde er nicht aus statistischen Angaben, welche andern Mathematikern höchst bedenklich erscheinen, so günstige Schlüsse ziehen. Er sagt zum Beispiel:

»Während der letzten Jahre haben die Scharen der Pilger fortwährend zugenommen, wie wir aus sicherer Quelle wissen. Aber diese religiöse Erweckung – wenn man den Ausdruck gebrauchen darf – trägt alle Spuren des Todes an sich. Es ist nur noch ein krampfhaftes Ringen, ehe die völlige Auflösung eintritt.«

Auf ähnliche Weise hat man bei uns seit Jahrhunderten den Untergang der römisch-katholischen Macht vorausgesagt. Oft schon waren wir ganz bereit sie zu Grabe zu tragen, und doch mußte die Bestattung aus allerlei Gründen – weil das Wetter zu schlecht war oder dergleichen – immer wieder verschoben werden. Durch diese Erfahrung klug geworden, sollten wir, meine ich, erst abwarten, bis sich der Leichenzug in Bewegung setzt, ehe wir den Hut in die Hand nehmen, um uns am Begräbnis des Brahmanismus zu beteiligen. Eine Religion zu Grabe zu tragen ist offenbar eine der ungewissesten Unternehmungen auf dieser Welt.

Gern hatte ich mir irgend welchen Begriff von der Theologie der Inder gemacht, aber die Sache war allzu verwickelt und die Schwierigkeiten unüberwindlich. Nicht einmal über das Abc kommt man hinaus. Es gibt eine Dreieinigkeit – Brahma, Wischnu und Schiwa – scheinbar von einander unabhängige Mächte, aber ganz sicher ist das nicht, denn in einem Tempel steht ein Bildwerk, das alle drei Gottheiten in einer Person zusammenfaßt. Jeder der drei Götter hat mehrere Benennungen, er hat auch Frauen mit verschiedenen Namen und Kinder, die bald so bald so heißen; dadurch entsteht eine heillose Verwirrung, aus der man sich in keiner Weise zurechtfinden kann. Ein Versuch, sich die Scharen der niederen Gottheiten einzuprägen, ist nicht der Mühe wert; ihre Unmenge ist allzu groß.

Will man sich einiges sparen, so könnte man füglich den obersten von allen Göttern, Brahma, ganz beiseite lassen, denn er scheint keine große Rolle in Indien zu spielen. Am meisten Verehrung genießen Schiwa und Wischnu nebst ihren sämtlichen Angehörigen. Schiwas Symbol, das ›Lingam‹, mit welchem Wischnu die Schöpfung begann, wird allgemein angebetet; man begegnet ihm in Benares auf Schritt und Tritt, das Volk bekränzt es mit Blumen und bringt ihm Gaben dar. Meist sieht es aus wie ein aufrecht stehender Stein in Form eines länglichen Fingerhuts und Mr. Parker sagt, daß es mehr ›Linga‹ als Einwohner in Benares gibt.

Die Stadt hat viele mohammedanische Moscheen, und Hindutempel ohne Zahl. Diese wunderlich geformten, mit reichen Steinornamenten versehenen Pagoden füllen alle Straßen. Aber auch der Ganges selbst, ja jeder einzelne Wassertropfen darin gilt als Heiligtum. Das Hauptprodukt von Benares, dieser heiligsten aller heiligen Städte, für welche der fromme Hindu eine unbegrenzte Liebe und Verehrung empfindet, ist Religion. Alle andern Erzeugnisse des Bodens oder Gewerbefleißes haben im Vergleich hierzu nicht die geringste Bedeutung.

»Wenn der Pilger,« sagt Mr. Parker, »der sich vor Alter und Müdigkeit fast nicht mehr auf den Füßen zu halten vermag, schweißtriefend, vom Staub geblendet und halbtot vor Erschöpfung, der Backofenhitze seines Eisenbahnwagens entsteigt und kaum den heiligen Boden berührt hat, so hebt er die abgezehrten Hände empor und ruft mit frommer Begeisterung: ›Kaschi ji ki jai – jai – jai! Heiliges Kaschi (Benares), sei mir gegrüßt! Heil, Heil dir!‹ Erwähnt ein Europäer in irgend einer fernen Stadt Indiens gelegentlich im Bazar, daß er früher einmal in Benares gewohnt hat, so werden gleich Stimmen laut, welche Glück und Segen auf sein Haupt herabwünschen. Denn, wer in Benares geweilt hat, ist der Seligste aller Sterblichen.«

Liest man diese rührende Beschreibung, so erscheinen dagegen unsere eigenen religiösen Gefühle farblos und kalt. Da nun aber die Religion ihr Leben aus dem Herzen schöpft und nicht aus dem Kopfe, so werden wir das von Mr. Parker angekündigte Begräbnis des Brahmanismus wohl noch auf unbestimmte Zeit vertagen müssen.

Zwölftes Kapitel.

Zwölftes Kapitel.

Wer einem Volk seinen Aberglauben vorschreibt, hat mehr Einfluß als wer ihm seine Gesetze macht, oder seine Gesänge.

Querkopf Wilsons Kalender.

Die Stadt Benares ist eine einzige große Kirche, eine Art religiöser Bienenstock, in dem jede Zelle als Tempel, Altar oder Moschee dient. In diesem großen theologischen Vorratshaus kann man sich alle nur erdenklichen irdischen oder himmlischen Güter verschaffen.

Ich will hier einen Wegweiser für den Pilger zusammenstellen, aus dem sich erkennen läßt, wie brauchbar, wie nützlich und vollständig dieses Religions-System ist. Wer mit dem ernstlichen Wunsch, seine geistliche Wohlfahrt zu fördern, nach Benares geht, wird es mir Dank wissen. Daß die Tatsachen, die ich angebe, richtig sind, unterliegt keinem Zweifel; ich habe sie teils in Mr. Parkers ›Führer durch Benares‹ gefunden, teils hat er sie mir bei unserer mündlichen Unterhaltung mitgeteilt.

1. Reinigung. – Bei Sonnenaufgang gehe zum Ganges hinab, bade dort, bete und trinke etwas Wasser. Dies dient zur allgemeinen Läuterung.

2. Schutz gegen den Hunger. Um dich im Kampf gegen dies traurige Erdenübel zu stärken, verrichte eine kurze Andacht im Tempel der Kuh. Am Eingang steht ein Bildnis von Ganesch, einem Sohne des Gottes Schiwa, das einen Elefantenkopf auf einem menschlichen Körper trägt, Gesicht und Hände sind aus Silber. Bete es an und gehe dann weiter auf eine bedeckte Veranda, in der roh geschnitzte, häßliche Götzenbilder stehen. Dort findest du Andächtige, die mit Hilfe ihrer Lehrer in den heiligen Büchern lesen. Gib eine Beisteuer zu ihrem Unterhalt und betritt dann den Tempel, einen düstern, übelriechenden Raum voll heiliger Kühe und Bettler. Letzteren spende ein Almosen und küsse allen Kühen, die frei herumlaufen, ehrfurchtsvoll den Schwanz, denn dieser ist ganz besonders heilig; tust du das, so wirst du an selbigem Tage keinen Hunger leiden.

3. Der Freund des armen Mannes. – Diesen Gott mußt du zunächst anbeten. Er wohnt im Grunde eines steinernen Brunnens im Tempel zu Dalbhyesvar, der im Schatten eines hohen Peepul-Baumes auf einem Felsvorsprung am Ganges steht. Gehe daher zum Fluß zurück. Der ›Freund des armen Mannes‹ ist der Gott weltlichen Glückes im allgemeinen und außerdem auch ein Regengott. Er wird dir irdische Güter gewähren, wenn du ihn anbetest, oder einen Regenguß – vielleicht auch beides. Er ist Schiwa unter fremdem Namen und weilt in Form eines steinernen ›Lingam‹ auf dem Grunde des Brunnens. Begieße ihn mit Gangeswasser und er wird dir zum Dank für die Huldigung seine Gaben spenden. Kommt der Regen nicht gleich, so gieße immer mehr Wasser in den Brunnen, bis er ganz voll ist. Dann bleibt der Regen gewiß nicht aus.

4. Fieber. Der Kedar Ghaut ist eine breite steinerne Treppe, die zum Fluß hinabführt. Auf halber Höhe findest du einen Behälter, in dem das Schmutzwasser zusammenläuft. Trinke davon soviel du willst, es vertreibt das Fieber.

5. Blattern. – Gehe von da geradeswegs nach dem Haupt-Ghaut. Stromaufwärts kommst du an ein kleines weißgetünchtes Gebäude; es ist ein Tempel, welcher der Göttin der Blattern, Sitala, geheiligt ist. Doch findest du nur ihre Stellvertreterin, dort hinter einem Metallschirm, eine rohe menschliche Gestalt, der du Anbetung erweisen sollst.

6. Der Schicksalsbrunnen. – Den suche zunächst auf. Er gehört zum Dandpan-Tempel, der in der Stadt liegt. Durch ein viereckiges Loch im Mauerwerk fällt von oben das Licht herein. Tritt mit scheuer Ehrfurcht herzu, denn es handelt sich hier um die wichtigsten Dinge. Beuge dich nieder und schaue hinein. Sind die Schicksalsgötter deinem Leben günstig, so erblickst du dein Antlitz tief unten im Brunnen. Haben sie dein Verderben beschlossen, so verhüllt plötzlich eine Wolke die Sonne und du kannst nichts sehen. Dann hast du kaum noch ein halbes Jahr zu leben. Vielleicht stehst du schon an des Todes Tür. Verliere keine Zeit, laß ab von dieser Welt, bereite dich auf das Jenseits. Dazu bietet sich dir die beste Gelegenheit dicht nebenan. Wende dich um und bete zu dem Bilde des großen Schicksalsgottes Maha Kal, das sichert dein Glück im künftigen Leben. Ist dein Atem noch nicht entflohen, so mache einen letzten Versuch, ob dir nicht eine kleine Verlängerung deines Lebens auf Erden gewährt wird. Die Möglichkeit ist nicht ausgeschlossen, denn in dem wundervoll eingerichteten Vorratshaus für weltliche und geistliche Güter kann man alles haben. Laß dich

7. – nach dem Lebensbrunnen tragen. Er ist im Vorhof des verfallenen ehrwürdigen Briddhkal-Tempels, der zu den ältesten Heiligtümern von Benares gehört. An einem Steinbilde des Affengottes Hanuman vorbei, gelangt man auf den mit Trümmern bedeckten Höfen zu einer seichten Zisterne mit stehendem Wasser. Sie riecht wie der beste Limburger Käse; der Schmutz von den Waschungen aller Kranken und Aussätzigen hat sich dort angesammelt. Aber was tut das? Bade dich darin mit Dank und Andacht, denn dies ist der Jungbrunnen, das ›Wasser des langen Lebens‹. Dein graues Haar wird verschwinden mit allen Runzeln; Gliederweh, Sorgenlast und Altersschwäche werden von dir abfallen; jung, frisch, elastisch, und begierig den Wettlauf des Lebens von neuem zu beginnen, entsteigst du dem Bade. Natürlich stürmen nun auch die mannigfachen Träume und Wünsche der holden Jugendzeit wieder auf dich ein. Deshalb gehe dahin, wo du

8. – die Erfüllung der Wünsche findest, nämlich in den Kemeschwar-Tempel, welcher Schiwa, dem Herrn der Wünsche geweiht ist und hole dir die Gewährung der deinigen. Liegt dir etwas an Götzenbildern, so kannst du dort in den zahllosen Tempeln genug zu sehen bekommen, um ein ganzes Museum auszustaffieren. Vermutlich wirst du nun mit neuem Eifer anfangen Sünden zu begehen; ich kann dir daher nur raten, häufig eine Stätte aufzusuchen, wo du 9. zeitweilige Reinigung von Sünden erhältst. Dies ist der Brunnen des Ohr-Rings, der weihevollste Ort in ganz Benares, das Allerheiligste in der Vorstellung des Volkes, dem man sich nur in tiefster Ehrfurcht nahen darf. Das Wasserbecken ist mit einem Gitter umgeben, zu dem steinerne Treppen hinabführen. Natürlich ist das Wasser nicht rein; wie wäre das möglich, da fortwährend Menschen darin baden. Wie lange man auch dort stehen mag, immer sieht man die Sünder in ununterbrochener Reihe hinab- und heraufsteigen. Mit Sünde beladen gehen sie hinunter und frei von Schuld kommen sie wieder herauf. »Der Lügner, der Dieb, der Mörder, der Ehebrecher, waschen sich hier und werden rein,« sagt Mr. Parker in seinem Buch. Gut, daß ich Mr. Parker kenne und glaube was er sagt; hatte jemand anderes das behauptet, so würde ich ihm raten, sofort ins Wasser hinunterzusteigen und sich tüchtig abzuwaschen. – Jugend, langes Leben, Sündenreinheit sind zwar köstliche Gaben, aber das ist noch nicht genug. Vor allem mußt du dich

10. deiner Seligkeit versichern. Das kannst du auf mancherlei Art. Erstens, wenn du im Ganges ertrinkst, aber das ist nicht angenehm. Oder du stirbst in Benares; dabei ist jedoch zu bedenken, daß du gerade außerhalb der Stadt sein könntest, wenn dein letztes Stündlein kommt. Am sichersten ist eine Wallfahrt rund um die Stadt. Du mußt sie barfuß machen und der Weg ist vierundvierzig Meilen lang, weil er eine Strecke weit über Land führt, so daß der Marsch wohl fünf bis sechs Tage dauern kann. An Gesellschaft wird es dir aber nicht mangeln. Scharen beglückter Pilger ziehen dieselbe Straße; der Farbenglanz ihrer Kleider gewährt dir ein schönes Schauspiel, auch erheitern ihre Loblieder und heiligen Triumphgesänge dir das Herz und lassen dich keine Ermüdung spüren. Von Zeit zu Zeit triffst du auf einen Tempel, wo du ausruhen und dich mit Speise erfrischen kannst. Ist deine Wallfahrt zu Ende, so hast du dir die Seligkeit sicher erworben. Aber du wirst ihrer doch vielleicht nicht teilhaftig, außer wenn du

11. deine Erlösung eintragen lässest. – Dies kannst du im Sakhi Binayak Tempel tun. Du darfst es ja nicht versäumen, weil du sonst nicht beweisen kannst, daß du die Pilgerfahrt wirklich gemacht hast, falls man es dir einst bestreiten sollte. Ueber der Tür dieses Heiligtums, das hinter dem Kuh-Tempel liegt, ist ein rotes Bildnis von Ganesch mit dem Elefantenkopf, dem Sohn und Erben des Gottes Schiwa, der sozusagen Kronprinz des theologischen Kaisertums ist. Der Gott im Tempel hat das Amt deine Wallfahrt einzutragen und sich für dich zu verbürgen. Ihn selber bekommst du zwar nicht zu sehen, aber ein Brahmane empfängt dich, besorgt dein Geschäft und läßt sich das Geld dafür auszahlen. Falls er letzteres vergißt, darfst du ihn daran erinnern. Er weiß jetzt, daß deine Seligkeit gesichert ist, aber natürlich möchtest du es auch gern selbst erfahren, dazu brauchst du nur

12. an den Brunnen zur Kenntnis der Seligkeit zu gehen. Er ist dicht beim Goldenen Tempel. Da steht ein Stier aus einem einzigen schwarzen Marmorblock gemeißelt und viel größer als irgend ein lebendiger Stier, der dir jemals vorgekommen ist; auch ein Bildnis von Schiwa wird dort gezeigt, eine große Seltenheit! Sein Lingam hast du vielleicht schon fünfzehntausendmal gesehen, aber dies hier ist Schiwa selbst und man sagt, das Porträt sei sehr ähnlich. Es hat drei Augen; so viele besitzt kein anderer Gott. Ueber dem Brunnen ist ein schöner steinerner Baldachin, der auf vierzig Säulen ruht; wie allenthalben in Benares, beten auch hier Scharen von andächtigen Pilgern. Das heilige Wasser wird ihnen eingelöffelt, und dabei durchströmt sie zugleich die klare und feste Zuversicht ihrer Erlösung. Man sieht es ihnen am Gesicht an, daß sie das höchste Glück gefunden haben, welches es auf Erden gibt, dem sich keine andere Freude vergleichen läßt. Wer das Wasser getrunken und seine Einzahlung gemacht hat, was sollte der noch begehren? Gold, Edelsteine, Macht oder Ruhm? – In einem Augenblick ist das alles nichtig und wertlos geworden und zu Staub und Asche zerfallen. Die Welt hat dem Menschen nichts mehr zu bieten, sie muß sich ihm gegenüber für bankerott erklären. –

Ich will nicht behaupten, daß alle Pilger ihre Andacht immer genau in der Reihenfolge verrichten, wie mein Wegweiser sie angibt, aber es wäre gar nicht so übel, wenn sie es täten. Sie hatten dann einige feste Anhaltspunkte, ein bestimmtes Ziel und brauchten ihre gottesdienstlichen Uebungen nicht aufs Geratewohl zu betreiben: Das Gangesbad am Morgen erregt des Pilgers Eßlust; sie vergeht ihm, wenn er die Kuhschwänze küßt. Nun sehnt er sich nach weltlichen Gütern; er eilt hin und gießt Wasser auf Schiwas Symbol. Das sichert ihm sein irdisches Glück, bringt ihm aber auch einen Regenschauer, von dem er das Fieber bekommt. Zur Heilung trinkt er das Schmutzwasser am Khedar Ghaut, das Fieber verläßt ihn, aber er bekommt die Blattern. Um zu wissen, welche Wendung es mit ihm nehmen wird, geht er zum Dandpan-Tempel und sieht in den Brunnen hinab. Die Sonne umwölkt sich, sie zeigt ihm, daß er dem Tode nahe ist. Was kann er da Besseres tun, als sich seine Seligkeit im Jenseits zu sichern? Das geschieht mit Hilfe des großen Schicksalsgottes. Nun ist ihm der Himmel gewiß, er wird daher vermutlich Sorge tragen, noch solange wie möglich auf Erden zu bleiben. In dieser Absicht geht er zum Briddhkal-Tempel und gewinnt Jugend und langes Leben durch ein Bad in der scheußlichen Pfütze, die selbst eine Mikrobe umbringen würde. Die Sündenlust erwacht mit der Jugend von neuem; er sucht den Tempel der ›Erfüllung der Wünsche‹ auf, um sein Verlangen zu stillen. Im Brunnen des Ohr-Rings reinigt er sich dann von Zeit zu Zeit von Sünden und stärkt sich zu ferneren verbotenen Genüssen. Da er aber ein Mensch ist, kann er sich der Zukunftsgedanken nicht entschlagen. Deshalb macht er die große Wallfahrt rund um die Stadt, sichert sich seine Erlösung, läßt sie eintragen und verschafft sich noch die persönliche Gewißheit seines künftigen Heils durch einen Gang nach dem Brunnen zur ›Kenntnis der Seligkeit ‹. – Nun ist er aller Sorgen ledig, er kann tun und lassen, was er will und genießt einen Vorzug, den er einzig und allem seiner Religion verdankt: Sollte er hinfort auch noch Millionen Sünden begehen, so schadet es nichts und niemand kann ihm etwas dafür anhaben.

So ist das ganze System klar und übersichtlich zusammengestellt und läßt an Vollständigkeit nichts zu wünschen übrig; ich möchte es allen empfehlen, denen die andern Religionen zu anspruchsvoll in ihren Forderungen erscheinen und zu beschwerlich für die kurze Spanne unseres mühevollen Erdenlebens.

Aber ich will niemand durch falsche Vorspiegelungen täuschen und so muß ich noch eines Umstands erwähnen, der in meinem Wegweiser fehlt. Trotz aller Mühe und Kosten, die sich der Pilger gemacht hat, kann sein ganzes Werk zu Schanden werden, wenn er zufällig auf das andere Ufer des Ganges gerät und dort stirbt. Er würde dann sofort wieder lebendig werden, jedoch in der Gestalt eines Esels. Gegen die Verwandlung in einen Esel hat der Hindu aber eine merkwürdige Abneigung – und doch wäre es für ihn gar kein schlechter Tausch. Er fände dadurch Erlösung aus der sklavischen Abhängigkeit von 2 000 000 Göttern und 20 000 000 Priestern, Fakirn, heiligen Bettlern und andern frommen Bazillen; auch der Hindu-Hölle könnte er entfliehen und desgleichen dem Hindu-Himmel. Würde sich der Hindu nur aller dieser Vorteile bewußt, er ginge sofort über den Ganges und stürbe am andern Ufer.

Benares ist ein religiöser Vulkan. In seinen Eingeweiden sind die theologischen Kräfte schon seit Jahrtausenden geschäftig; es donnert und grollt und kracht, es wühlt und erbebt, es brodelt und kocht, es flammt und raucht darin ohne Unterlaß. Am Fuß des Kraters aber haben kleine Gruppen von Missionaren voller Hoffnung Posten gefaßt. Sie gehören zu den Missionsgesellschaften der Baptisten, der Wesleyaner, der Londoner Mission, der Kirchenmission, der Zenana-Bibelmission und der Heilsmission. Die Haupterfolge erzielen sie in ihren Schulen unter den Kindern. Das ist auch sehr natürlich, denn erwachsene Menschen halten sich überall mit Vorliebe an das Religionsbekenntnis, in dem sie erzogen worden sind.

Erstes Kapitel.

Erstes Kapitel.

Vergib und vergiß! Das ist nicht schwer, wenn man’s nur recht versteht: Wir sollen unbequeme Pflichten vergessen und uns vergeben, daß wir sie vergessen haben. Bei strenger Übung und festem Willen gewöhnt man sich leicht daran.

Querkopf Wilsons Kalender.

Montag, 23. Dezember 1895. Von Sydney nach Ceylon in dem P. und O. Dampfer ›Oceana‹ abgesegelt. Die Mannschaft besteht aus Laskaren, den ersten, die ich je gesehen habe. Sie tragen weißbaumwollene Unterröcke und Beinkleider, einen roten Schal als Gürtel; auf dem Kopf einen Strohhut ohne Krempe; gehen barfuß; Gesichtsfarbe dunkelbraun, Haar kurz, glatt und schwarz; schöner Schnurrbart, glänzend, seidenweich und tiefschwarz. Sanfte, gute Gesichter; willige, gehorsame Leute, auch arbeitstüchtig. Doch sagt man, daß sie in der Stunde der Gefahr vor Angst völlig den Kopf verlieren. Sie kommen von Bombay und der benachbarten Küste. Die ›Oceana‹ ist ein großes, prächtig ausgestattetes Schiff, das alle Bequemlichkeit bietet; es hat geräumige Promenadendecks, große Zimmer und eine gut ausgewählte Offiziersbibliothek, was nicht häufig vorkommt … Zu den Mahlzeiten wird man durch Hornsignale gerufen, wie auf Kriegsschiffen; man ist froh das schreckliche Gong einmal los zu sein … Wir haben drei große Katzen an Bord, sehr leutselige Bummler, die sich auf dem ganzen Schiff herumtreiben; die weiße Katze folgt dem Proviantmeister überallhin wie ein Hund; auch ein Korb mit jungen Kätzchen ist da. Wenn das Schiff in den Hafen kommt, sei es in England, Indien oder Australien, so begibt sich der eine Kater ans Land, um zu sehen, wie es seinen verschiedenen Familien ergeht, und man bekommt ihn erst wieder zu Gesicht, wenn das Schiff im Begriff ist, die Anker zu lichten. Woher er das Datum der Abfahrt weiß, kann niemand sagen; vermutlich kommt er täglich nach dem Hafendamm und sieht sich um; wenn viel Gepäck an Bord geschafft wird und die Passagiere sich einfinden, merkt er daran, daß es auch für ihn Zeit ist, wieder das Schiff zu besteigen. Wenigstens glauben das die Matrosen …

Tischgespräche: Ein Passagier äußerte: »Meinen Sie, echter Mokka werde in der ganzen Welt verkauft? Denkt gar nicht daran! Sehr wenige Fremde, außer dem Kaiser von Rußland, bekommen in ihrem ganzen Leben auch nur eine Bohne davon zu sehen.« Ein anderer Mann sagte: »Australischer Wein hat in Australien keinen Absatz. Man schickt ihn nach Frankreich, von wo er als französische Sorte zurückkommt, dann kaufen ihn die Leute.« – Ich habe oft behaupten hören, daß der französische Rotwein, welchen New York trinkt, meist in Kalifornien gekeltert wird. Auch erinnerte ich mich, was mir Professor S. einmal über Veuve Cliquot erzählt hat. Er war bei einem großen Weinhändler zu Besuch, dessen Wohnort nicht weit von jenem berühmten Weinberg lag, und sein Wirt fragte ihn, ob in Amerika viel Veuve Cliquot getrunken würde.

»O ja,« erwiderte S., »außerordentlich viel.«

»Kann man die Marke leicht bekommen?«

»Ohne alle Schwierigkeit; sämtliche Hotels erster und zweiter Klasse führen sie.«

»Was bezahlt man dafür?«

»Je nach dem Hotel fünfzehn bis zwanzig Franken die Flasche.«

»Was für ein glückliches Land! Hier an Ort und Stelle kostet sie mindestens hundert Franken.«

»Nein!«

»Doch!«

»Sie glauben also, daß wir drüben bei uns nicht echten Veuve Cliquot trinken?«

»Keine Rede. Seit Columbus‘ Zeiten ist noch nicht eine einzige Flasche vom echten Gewächs nach Amerika gekommen. Der Weinberg, welcher es liefert, ist so klein, daß er nicht allzuviele Flaschen ergibt, und der Ertrag wird alljährlich einer einzigen Person zugeschickt – dem Kaiser von Rußland. Er kauft die ganze Ernte zum voraus, mag sie klein oder groß sein.«

*

4. Januar 1896. Weihnachten in Melbourne, Neujahr in Adelaide. Wiedersehen mit den meisten Bekannten in beiden Städten … Jetzt liegen wir hier in Westaustralien vor Albany im König Georgs Sund. Es ist ein ganz vom Land eingeschlossener Hafen oder vielmehr eine Reede – anscheinend sehr geräumig, aber kein tiefes Wasser. Ringsum kahle Felsen und zerklüftete Hügelketten. Die Schiffe kommen jetzt in Menge an, alles strömt nach der Goldgegend. Die Zeitungen wissen wunderbare Dinge zu berichten, wie sie immer im Umlauf sind, wenn neue Goldfelder entdeckt werden. Zum Beispiel: Ein junger Mann hatte eine Parzelle in Besitz genommen, von der er die Hälfte für fünf Pfund verkaufen wollte; aber, es fand sich kein Liebhaber. Vierzehn Tage lang harrte er aus, trotz Hunger und Not, dann stieß er auf eine Goldader und verkaufte die Grube für 10 000 Pfund …

Gegen Sonnenuntergang erhob sich eine frische Brise, und wir lichteten den Anker. Aus der kleinen tiefen Wasserlache, auf der wir schwammen, führte ein schmaler, dicht mit Bojen besetzter Kanal ins Meer hinaus. Ich blieb auf Deck, um zu sehen, wie unser großes Schiff bei dem starken Wind die Durchfahrt bewerkstelligen werde. Auf der Kommandobrücke stand der Kapitän, ein wahrer Riese, neben ihm ein kleiner Lotse in prächtiger Uniform mit Goldschnüren; auf dem Vorderdeck ein weißer Maat, ein paar Quartiermeister und eine bunte Menge Laskaren, zur Arbeit gerüstet. Unser Heck war gerade auf den Eingang des Kanals gerichtet, das Schiff mußte also in der Wasserlache eine vollständige Schwenkung machen, und das war bei solchem Wind keine Kleinigkeit. Aber es gelang ganz prächtig mit Hilfe eines Klüvers. Wir wühlten zwar viel Schlamm auf, kamen aber nicht auf den Grund und drehten uns in der eigenen Wasserspur um – anscheinend ein Ding der Unmöglichkeit. Als wir die Drehung glücklich gemacht hatten und der Schiffsschnabel nach dem Kanal zu stand, lag die erste Boje kaum noch hundert Meter vor uns. Es war mir eine Lust gewesen, das Manöver mit anzusehen; die übrigen Passagiere verzehrten inzwischen ihr Mittagbrot, meines kam der P. und O. Gesellschaft zugute … Es zeigen sich noch mehr Katzen. Smythe sagt, das englische Gesetz befiehlt, auf der Fahrt Katzen mitzunehmen; er wußte von einem Fall, wo das Schiff nicht unter Segel gehen durfte, bis man sich ein paar verschafft hatte. Die Rechnung kam auch gleich mit: »Preis für zwei Katzen – zwanzig Schillinge« … Wir haben einen Geier an Bord mit kahlem rotem Kopf von seltsamer Form; am Körper hat er hier und da rote Stellen ohne Federn, seine großen, schwarzen Augen sind von fleischigen, brennendroten Rändern umgeben. Er sieht wie ein vollkommener Wüstling aus, wie ein gewissenloser, eigensüchtiger Räuber und Mörder. Und doch bringt der Vogel nichts Lebendiges um. Weshalb mag ihm die Natur nur eine so grimmige Außenseite gegeben haben, die gar nicht zu seinem unschuldigen Geschäft paßt! Er nährt sich nämlich nur von Aas, das ihm um so besser zusagt, je älter es ist. Trüge er ein schäbiges, schwarzes Federkleid, so wäre alles in Ordnung; er gliche dann einem Leichenbestatter und sein Aeußeres würde mit seiner Beschäftigung im Einklang stehen. Der Geier stammt aus der öffentlichen Menagerie von Adelaide, einer großen und sehr interessanten Sammlung.

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5. Januar. Um neun Uhr morgens kamen wir am Kap Leeuwin (Löwin) vorüber und mußten nun, nach der ganz westlichen Fahrt längs dem Südrande von Australien, unsere Richtung ändern. Wir fahren in einer schrägen, nordwestlichen Linie nach Ceylon hinauf. Je höher wir kommen, um so heißer wird es, aber kühl ist es auch hier nicht gerade.

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13. Januar. Eine unerträgliche Hitze. Der Aequator kommt immer näher; die Entfernung beträgt nur noch acht Grad. Da ist Ceylon! O, wie wunderschön! Welche tropische Pracht, welcher Reichtum üppigen Laubwerks! Die Hauptstadt Colombo ist ganz orientalisch und unaussprechlich reizend …

In unserm vornehmen Schiff kleiden sich die Passagiere zu Mittag um. Die schönen, buntfarbigen Toiletten der Namen passen ganz zu der hochfeinen Ausstattung aller Räume und dem strahlenden Glanz der elektrischen Beleuchtung. Auf dem stürmischen Atlantischen Ozean sieht man die Passagiere nie im Gesellschaftsanzug. Höchstens einen Mann, der sich aber nur einmal während der langen Reise blicken läßt – am Abend ehe das Schiff in den Hafen kommt, wenn das Konzert stattfindet mit Dilettanten-Geheul und Deklamationen. Er übernimmt meist die Tenorpartie … Sonderbarerweise ist an Bord viel Cricket gespielt worden; das Promenadendeck wurde mit Netzen überspannt, so daß der Ball nicht ins Wasser fallen konnte. Das Spiel nahm einen guten Fortgang und gewahrte die nötige An- und Aufregung … Jetzt sagen wir der ›Oceana‹ Lebewohl.

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14. Januar. Hotel Bristol. Der Diener Namens Brampy ist ein flinker, sanfter, lachender, brauner Singhalese mit schönem, glänzend schwarzem Haar. Er trägt es wie ein Mädchen zurückgekämmt, in einen Knoten geschlungen und mit dem Schildpattkamm aufgesteckt. Brampy ist schlank und hübsch von Gestalt. Unter der Jacke hat er ein weißes, baumwollenes Gewand an, das ihm ohne Gürtel vom Hals bis zu den Füßen herabfällt. Weder er noch sein Anzug hat irgend etwas Männliches; es ist eine ordentliche Verlegenheit sich vor ihm auszukleiden.

Wir fuhren nach dem Markt und benutzten zum erstenmal den japanischen Jinrickscha, einen leichten Karren, den ein Eingeborener zieht. Anfänglich geht die Fahrt gut von statten, aber für den Mann ist es eine sauere Arbeit, er ist nicht stark genug. Nach der ersten halben Stunde hört das Vergnügen auf, der Mann tut einem leid; man hat Mitleid mit ihm, wie mit einem müden Pferde und kann an nichts anderes mehr denken. Solche Rickschas sind in Menge vorhanden, und die Taxe ist unglaublich billig.

Vor Jahren war ich in Kairo; da ist man im Orient – aber doch nicht ganz, weil man eine unbestimmte Empfindung hat, daß noch etwas mangelt. In Ceylon ist das anders, dort fehlt nichts mehr. Der Orient und die Tropenwelt finden sich da in größter Vollkommenheit vereinigt und unser natürliches Gefühl sagt uns, daß diese zwei zusammen gehören. Nein, man vermißte gar nichts. Alle Kostüme waren echt, desgleichen die schwarzen und braunen Menschen in ihrer unbewußten Nacktheit. Die Gaukler waren da, mit dem unvermeidlichen Korb, den Schlangen, der Manguste und allen Vorkehrungen, um aus dem Samenkorn einen Baum mit Laubwerk und reifen Früchten emporwachsen zu lassen. Ueberall sah man Blumen und Pflanzen, die man zwar aus Abbildungen kannte, aber in Wirklichkeit nie erblickt hatte, weil diese seltenen, wunderbaren und köstlichen Gewächse nur in der heißen Zone, am Aequator, gedeihen. Auch wußte man, daß in der nächsten Umgegend die tödlichen Giftschlangen und grimmigen Raubtiere hausen, samt den Affen und wilden Elefanten. In der Luft lag eine Schwüle, wie sie nur in den Tropen vorkommt, eine erstickende Hitze, von unbekannten Blumendüften geschwängert; dann verbreitete sich plötzlich eine purpurne Finsternis, aus welcher grelle Blitze zuckten; der Donner krachte, der Regen goß in Strömen – gleich darauf lachte wieder alles im Sonnenschein. Und weit ab, im undurchdringlichen Dschungel und dem fernen Gebirge lagen die verfallenen Städte und alten Tempelruinen als geheimnisvolle Ueberbleibsel von der Herrlichkeit vergessener Tage und einer verschwundenen Menschenrasse. Auch dies Bewußtsein war unentbehrlich, wenn es einem wirklich orientalisch zu Mute werden sollte, denn dabei darf vor allem der Eindruck des Düstern, Rätselhaften und Altertümlichen nicht fehlen.

Die Fahrt durch die Stadt und am Seestrande entlang war wie ein Traumbild von tropischem Glanz, Blütenpracht und orientalischem Farbenreichtum. Die zu Fuß einherwandelnden Gruppen von Männern, Frauen, Knaben, Mädchen und kleinen Kindern glühten wie Feuerflammen in ihrer strahlenden Gewandung. Alle Farben des Regenbogens und leuchtender Blitze mischten sich hier aufs wunderbarste und verschmolzen zur wohltuendsten Harmonie. Nirgends fühlte sich das Auge verletzt durch zu grelle Töne, keine Farbe stach unangenehm von der andern ab; auch wenn verschiedene Gruppen in Berührung kamen, wurde die wunderbare Farbenwirkung nicht im mindesten gestört. Die Kleider waren aus dünnem, zartem, sich weich anschmiegendem Seidenstoff, meist in ganz bestimmten, satten Farben: ein prächtiges Grün, ein prächtiges Blau, ein prächtiges Gelb, ein prächtiges Lila, ein prächtiges Rubinrot von leuchtendem Glanz – so zogen sie in zahllosem Gewimmel, in Massen, scharenweise vorüber, glühend, blitzend, strahlend – dazwischen alle Augenblicke ein so blendendes Feuerrot, daß einem das Herz im Leibe lachte und man den Atem anhielt vor Staunen. Und wie anmutig waren diese Trachten! Oft bestand der ganze Anzug einer Frau nur in der Schärpe, die sie um den Kopf und Leib gewunden hatte, oder der Mann hatte einen Turban auf und ein paar Lappen nachlässig um die Hüften geschwungen. Bei beiden kam die dunkle glänzende Haut dazwischen ungehindert zum Vorschein, und immer erfreute der Anblick der Gestalten Auge und Herz.

Noch heutigen Tages sehe ich dies köstliche Panorama in seiner überschwenglichen Farbenfülle und dem Schmelz der bunten Schattierungen vor mir; die geschmeidigen, halb unbekleideten Gestalten, die schönen braunen Gesichter, die anmutigen Stellungen und freien, zwanglosen Bewegungen, bei denen von Förmlichkeit und Steifheit keine Rede war.

Aber ach, da kam ein schriller Mißklang in diesen paradiesischen Zaubertraum: Aus der Tür einer Missionsschule schritten paarweise sechzehn kleine, fromme, gesetzte, schwarze Christenmädchen in europäischem Anzug. Ganz so ausstaffiert hätte man sie an einem Sommersonntag in jedem englischen oder amerikanischen Dorfe sehen können. Wie namenlos häßlich waren diese Kleider! Abscheulich, barbarisch, geschmacklos, unanmutig, alle Gefühle verletzend! Ich blickte auf die Kleider meiner Damen: sie glichen in vergrößertem Maßstab genau den greulichen Verunstaltungen, mit denen man jene armen, kleinen, mißhandelten Geschöpfe quälte – ich schämte mich, mit Frau und Tochter auf der Straße zu gehen. Nun sah ich meine eigene Kleidung an und schämte mich vor mir selber.

Aber was hilft es – wir müssen uns darein ergeben unsere Kleider zu tragen wie sie sind und können ihre Daseinsberechtigung nicht leugnen. Freilich dienen sie dazu, gerade das auszuposaunen, was wir verbergen möchten – unsere Unaufrichtigkeit und versteckte Eitelkeit. Wir heucheln für Anmut, Wohlgestalt und Farbenglanz eine Geringschätzung, die wir nicht haben, und ziehen die häßlichen Kleider an, um diese Lüge glaubhaft zu machen und weiter zu verbreiten. Noch täuschen wir damit unsere Nächsten nicht, und wenn wir nach Ceylon kommen, werden wir alsbald inne, daß wir uns nicht einmal selbst zu täuschen vermögen. Ja, gestehen wir es nur: wir lieben leuchtende Farben und anmutige Trachten, und wenn wir sie zu Hause bei einem Festzug sehen können, achten wir weder Regen noch Sturm und beneiden die geschmückten Teilnehmer. Wir gehen ins Theater, staunen die Kostüme an und sind betrübt, daß wir uns nicht auch so kleiden können. Beehrt uns der König mit einer Einladung zum Hofball, so betrachten wir die prächtigen Uniformen und strahlenden Ordenszeichen mit wahrem Hochgenuß. Wird uns gestattet, einer kaiserlichen Cour beizuwohnen, so schließen wir uns vorher zu Hause ein, stolzieren stundenlang in unserm schönen Gala-Anzug einher, bewundern uns im Spiegel und fühlen uns unaussprechlich glücklich. Auch jeder Beamte im Stabe jedes Gouverneurs im demokratischen Amerika macht es ebenso mit seiner neuen Staatsuniform, und wenn man nicht aufpaßt, um ihn rechtzeitig zu hindern, läßt er sich gewiß auch darin photographieren. So oft ich die Diener des Lord-Mayors sehe, fühle ich mich unzufrieden mit meinem Lose. Kurz und gut: unsere Kleider sind seit hundert Jahren nichts als Lug und Trug gewesen. Sie sind ebenso unwahr wie unschön und vollkommen geeignet unser inneres Scheinwesen und moralisches Verderben ins rechte Licht zu stellen.

Der kleine braune Junge, den ich zuletzt unter den sich drängenden Scharen von Colombo bemerkte, hatte nichts an, außer einem um die Hüften geschlungenen Bindfaden, aber in meiner Erinnerung bildet der ehrliche Mangel seiner Bekleidung einen wohltuenden Gegensatz zu der widerwärtig scheinheiligen Vermummung, in welche man die farbigen Dämchen aus der Sonntagsschule gesteckt hatte.

Fünftes Kapitel.

Fünftes Kapitel.

Der Lärm tut nichts zur Sache: Oft gackert eine Henne, die nur ein Ei gelegt hat so laut, als hätte sie einen Planeten gelegt.

Querkopf Wilsons Kalender.

Mittwoch 11. September. Wir fahren jetzt stetig nach Süden und immer weiter hinunter auf dem runden Bauch der Erdkugel. Gestern abend sahen wir den Großen Bären und den Nordstern am Horizont untergehen und aus unserer Welt verschwinden. Das heißt, irgend jemand hat es gesehen und mir davon erzählt. Aber das macht keinen Unterschied, mir ist es so wie so einerlei, da ich die beiden herzlich satt habe. Sie sind ja in ihrer Art gar nicht übel, aber man will sie doch auch einmal los werden. Ich hatte jetzt nur noch Interesse für das ›Kreuz des Südens‹, von dem ich mein Lebenlang gehört hatte, ohne es zu sehen; natürlich brannte ich vor Verlangen danach. Kein anderes Sternbild verursacht so viel Gerede. Im allgemeinen habe ich, wie gesagt, gegen den Großen Bären nichts einzuwenden – wie sollte ich auch? Er ist ja ein Bürger unseres Himmelsgewölbes und gehört zum Besitzstand der Vereinigten Staaten. Aber doch war ich froh, daß er aus dem Wege ging, um diesem Fremdling Platz zu machen. Nach meinem Dafürhalten brauchte ein Sternbild, von dem man so viel Wesens macht wie von dem Kreuz des Südens, den ganzen Himmel für sich allein.

Aber das war ein Irrtum. Heute abend haben wir das Kreuz gesehen; es ist weder groß noch ungewöhnlich hell. Freilich stand es tief am Horizont; es wird vielleicht noch schöner, wenn es hoch am Himmel steht. Sein Name ist sehr sinnreich gewählt, denn es sieht gerade so aus, wie ein Kreuz aussehen würde, das man ebensogut für etwas ganz Anderes halten könnte. Aber diese Bemerkung ist viel zu allgemein und unbestimmt, ich will mich deutlicher ausdrücken: ein Kreuz mag es wohl sein, doch ist es entweder aus den Fugen gegangen oder verzeichnet, denn es hat zwar einen langen und einen kurzen Balken, aber letzterer ist ganz schief geraten.

Vier große Sterne und ein kleiner bilden das Kreuz. Der kleine Stern liegt außer dem Strich und verdirbt die Form vollends; er sollte an der Stelle stehen, wo die Balken zusammengefügt sind. Wenn man nicht eine gedachte Linie zwischen den Sternen zieht, würde man gar nicht auf die Idee kommen, daß sie ein Kreuz vorstellen – oder überhaupt irgend etwas.

Um den kleinen Stern darf man sich nicht kümmern; er muß ganz beiseite bleiben, weil er alles verwirrt. Läßt man ihn weg, so kann man aus den vier Sternen wohl eine Art schiefes Kreuz machen, aber ebenso gut einen schiefen Drachen oder einen schiefen Sarg.

Mit den Namen, die man den Sternbildern gegeben hat, ist es von jeher eine heikle Sache gewesen; sie wollen sich diesen Namen durchaus nicht anpassen und bestehen meist hartnäckig darauf, den Dingen, nach denen sie benannt sind, in keiner Weise zu gleichen. Zur Beruhigung der Gemüter sieht man sich zuletzt häufig genötigt, den phantastischen Namen in einen solchen umzuwandeln, der dem gemeinen Menschenverstand besser einleuchtet. Wenn es auf mich ankäme, würde ich das ›Kreuz des Südens‹ nicht den ›Sarg des Südens‹, sondern den ›Drachen des Südens‹ nennen. Kreuze und Särge haben dort oben in dem großen leeren Raum nichts zu schaffen, aber für einen Drachen ist es gerade der rechte Platz. In einiger Zeit – ob über kurz oder lang weiß ich nicht – wird der ganze Erdball im Besitz der englisch redenden Rasse sein und natürlich auch das Himmelsgewölbe. Dann müssen alle Sternbilder neugeordnet, blank geputzt und umgetauft werden; die meisten wird man vermutlich ›Victoria‹ nennen, schon jetzt tragen viele Städte und Geräte den Namen ihrer britischen Majestät. Aber ein Sternbild wird auch als ›Drache des Südens‹ droben wandeln oder überhaupt von der Bildfläche verschwinden.

In den letzten paar Tagen sind wir durch eine förmliche Milchstraße von Inseln gefahren. Auf der Karte liegen sie so dicht beisammen, daß man denken sollte, es wäre dazwischen kaum Platz für ein Kanoe – und doch bekommen wir selten eine Insel zu Gesicht. Neulich sahen wir einmal zwei in weiter Ferne gespenstisch und schattenhaft auftauchen, Alofi und Futuna oder Horne. Auf der größeren herrschen zwei eingeborene Könige, die einander grimmig befehden. Sie sowohl wie ihre Untertanen gehören zur katholischen Kirche; französische Missionare haben sie bekehrt.

Von den unzähligen Inseln in diesen Meeren bezog man früher die ›Rekruten‹ für die Plantagenarbeit in Queensland, und ich glaube, man holt sie noch jetzt dort her. Fahrzeuge, die in ihrer Ausrüstung den alten Sklavenschiffen glichen, schafften die Eingeborenen nach jener großen Provinz Australiens, wo sie als Arbeiter Verwendung fanden. Anfangs raubte man die Leute ohne alle Umstände, wie die Missionare bezeugen; von anderer Seite wird das zwar geleugnet, aber es läßt sich nicht widerlegen. Später verbot das Gesetz, die Eingeborenen gegen ihren Willen anzuwerben, und die Regierungsbeamten hatten Befehl, auf allen Werbeschiffen für Aufrechterhaltung des Gesetzes zu sorgen, was sie nach Aussage der Werber wirklich taten, aber auch oft unterließen, wie die Missionare behaupten. Ein Arbeiter konnte auf drei Jahre regelrecht angeworben werden und dann freiwillig noch ebenso lange im Dienst bleiben, wenn es ihm gefiel. War seine Zeit um, so durfte er auf seine Insel zurückkehren und erhielt auch die Mittel dazu. Die Regierung ließ sich dies Geld von dem Arbeitgeber auszahlen, ehe der ›Rekrut‹ ihm überlassen wurde.

*

Kapitän Wawn, der viele Jahre ein Werbeschiff befehligte, hat ein Buch über seine Erlebnisse geschrieben, aus dem hervorgeht, daß das Werbegeschäft im allgemeinen bei den Insulanern sehr beliebt war. Doch scheint es dabei weder langweilig noch einförmig gewesen zu sein, denn es bot allerlei kleine Abwechslungen, von denen der Kapitän berichtet, zum Beispiel die folgende: »Am Nachmittag, nachdem wir die Leprainsel erreicht hatten, lag der Schoner, bei fast vollständiger Windstille, im Schutz des gebirgigen Teils der Insel, etwa dreiviertel Meilen vom Ufer. Wir hatten die Boote ausgesetzt, konnten sie jedoch in Sicht behalten. Das Werbeboot war in eine kleine Bucht der felsigen Küste eingelaufen, wo auf steilem Uferrand eine einsame Hütte lag, hinter der sich dichter Wald erhob. Das zweite Boot, in dem sich der Regierungsbeamte und der Maat befanden, lag etwa 400 Meter westwärts.

»Plötzlich hörten wir Schüsse und das laute Geheul der Eingeborenen am Ufer und sahen das Werbeboot mit anscheinend verminderter Bemannung das Weite suchen. Das andere Boot fuhr ihm rasch entgegen, nahm es ins Schlepptau und brachte es zum Schoner zurück. Von der Mannschaft war kein einziger ohne leichte oder schwere Verwundung davongekommen. Die Insulaner hatten unsere Leute unter dem Schein der Freundschaft in die Bucht gelockt; sie umschwärmten den Stern des Bootes, und einige der farbigen Burschen stiegen sogar an Bord. Urplötzlich schwangen sie aber ihre Keulen und Tomahawks und gingen zum Angriff über. Der Werber schützte sich mit den Fäusten gegen die ersten grimmigen Schläge, bis er Zeit fand, sich des Revolvers zu bedienen. Einer der Matrosen, Tom Sayers, erhielt einen Hieb mit der Streitaxt, der ihm die Kopfhaut durchschnitt, aber zum Glück den Schädel nicht spaltete; einem andern, Babby Towns, wurden beide Daumen zerschmettert, als er die Schläge abwehren wollte; den linken Daumen, der nur noch an Haut und Knochen hing, mußte der Wundarzt ganz von der Hand ablösen. Lihu, ein Knabe aus Lifu, der Diener des Werbers, hatte verschiedene leichte Hieb- und Stichwunden. Dem unglücklichen Jack, einem ›Rekruten‹ von der Insel Tanna, der als Bootsmann angeworben war, wurde der Vorderarm von einem Pfeil durchschossen, der noch auf beiden Seiten herausstak, als das Boot zurückkam. Der Werber selbst wäre frei ausgegangen, hätte nicht, gerade im Augenblick der Abfahrt, ein Pfeil ihm die Hand an den Griff des Steuerruders festgenagelt. Der Kampf war zwar kurz, doch heftig gewesen; auf feindlicher Seite waren zwei Mann erschossen worden.«

Kapitän Wawns Buch enthält eine große Menge von Beispielen solcher gefährlichen Zusammenstöße zwischen den Eingeborenen und den englischen und französischen Werbeschiffen; denn auch die Franzosen betreiben das Geschäft für die Plantagen von Neu-Caledonien. Die Werber scheinen daher doch nicht allzu beliebt bei den Insulanern zu sein, wie ließen sich sonst diese wilden Angriffe und blutigen Kämpfe erklären? Der Kapitän schiebt freilich die ganze Schuld auf die unverständigen Philanthropen. Wenn diese sich nur nicht einmischen wollten, meint er, würden die eingeborenen Väter und Mütter nicht mehr weinen und klagen, daß man ihre Kinder in die Verbannung schleppt, wo sie nicht selten ein frühes Grab finden, sondern ohne Frage ganz damit einverstanden sein und keinen Versuch machen, die freundlichen Werber totzuschlagen.

Sechstes Kapitel.

Sechstes Kapitel.

Die Geschichte ist eine Prophetin. Sie lehrt, daß wenn ein starkes, aufgeklärtes Volk einem schwachen, unwissenden Volke etwas nehmen will, was es besitzt, letzteres sich friedlich darein ergeben muß.

Querkopf Wilsons Kalender.

Eins ist sonnenklar: Kapitän Wawn kann die Missionare nicht ausstehen, weil sie ihm das Geschäft verderben. Seine Werbefahrten, die er wie eine Lustpartie betreiben möchte, nennen sie schlechtweg ›Sklavenfang‹ und machen sie ihm zur Last. Die Missionare haben nämlich ihre ganz eigene, nicht sehr schmeichelhafte Ansicht über den Handel mit Eingeborenen und die Art, wie die Werber die Gesetze zu umgehen wissen. Kapitän Wawns Buch ist erst kürzlich erschienen, aber mir liegt noch eine Broschüre neueren Datums über dasselbe Thema vor, welche soeben aus der Presse kommt und den Missionar W. Gray zum Verfasser hat. Ich habe es sehr interessant gefunden, das Buch und die Broschüre zusammen zu lesen.

Es war mir auch alles leicht verständlich, nur ein Umstand nicht, auf den ich sogleich zurückkommen will. Warum der Besitzer der Zuckerpflanzung in Queensland den Kanaka haben will, liegt auf der Hand: einen so billigen Arbeiter bekommt er schwerlich wieder. Was der Pflanzer bezahlt ist folgendes: 20 £ an den Weiber, der den Kanaka gedungen – oder ›gefangen‹ hat, wie die Missionare sagen; 3 £ Einfuhrgebühren an die Regierung in Queensland und 5 £ für Rückbeförderung des Kanaka, falls er nach Ablauf seiner drei vertragsmäßigen Jahre noch am Leben ist; an den Kanaka selbst für Lohn und Kleidung während der drei Jahre 25 £ Summa summarum 53 £ und mit Verköstigung 60 £. –

Daß dem Werber sein Geschäft gefällt, begreift man ebenfalls. Der ›Rekrut‹ kostet ihn nichts als ein paar billige Geschenke – die nicht er erhält, sondern seine Verwandten – und bringt ihm bei der Ablieferung in Queensland 20 £ ein. Pflanzer und Werber ziehen also Gewinn aus dem Handel; aber weshalb der ›Rekrut‹ darauf eingeht, kann ich durchaus nicht verstehen. Er ist jung und kräftig; daheim auf seiner Insel führt er ein wonniges Leben, das einem langen, köstlichen Feiertag gleicht. Will er arbeiten, so braucht er nur jede Woche ein paar Säcke Kopra zu sammeln, die er für vier bis fünf Schillinge den Sack verkaufen kann. In Queensland muß er dagegen aufstehen, ehe der Morgen graut und täglich acht bis zwölf Stunden bei einem viel heißeren Klima als er gewohnt ist und für einen Wochenlohn, der nicht einmal vier Schillinge beträgt, in den Zuckerrohrfeldern arbeiten. Was ihn dazu bewegen kann, bleibt mir ein ungelöstes Rätsel. Der Pflanzer erklärt es sich auf seine Weise wie ich aus der Broschüre des Missionars ersehe:

»Wenn der Kanaka seine Heimat verläßt, ist er nur ein gewöhnlicher Wilder. Er schämt sich nicht, daß er nackt geht und jeden Schmuckes entbehrt. Wenn er zurückkehrt ist er gut gekleidet, trägt eine Waterbury-Uhr mit Sekundenzeiger, Kragen, Manschetten, Stiefel und Schmuck. Er bringt auch ein paar Koffer mit, welche Kleidungsstücke, Musikinstrumente, Wohlgerüche und andere Luxusartikel enthalten, an deren Gebrauch er sich gewöhnt hat.« –

Sollte das die Lösung sein? – Einen Augenblick scheint uns wirklich ein Licht darüber aufzugehen, was den Kanaka in Verbannung treibt: Er möchte sich zivilisieren. Erst war er nackt und schämte sich nicht, jetzt tragt er Kleider und hat gelernt sich zu schämen; er war unwissend, jetzt besitzt er eine Waterbury-Uhr; es fehlte ihm an seiner Sitte, jetzt trägt er Schmuck und duftet nach Wohlgerüchen; er genoß daheim kein besonderes Ansehen, jetzt ist er in fernen Ländern gewesen und hat ein erhöhtes Selbstgefühl.

Das läßt sich hören und klingt gar nicht unwahrscheinlich. Aber der Missionar will von dieser Erklärung nichts wissen; er zerpflückt sie schonungslos, bis nichts mehr davon übrig bleibt, indem er fortfährt:

»Mag auch die vorhergehende Beschreibung im allgemeinen richtig sein, so ist das Nachspiel gewöhnlich folgendes: Die Manschetten und Kragen werden von den jungen Burschen entweder gar nicht benutzt oder zum Staat unterhalb des Knies am Bein getragen. Die Uhr wandert zerbrochen und schmutzig für eine Kleinigkeit zum Trödler, oder das Werk wird herausgenommen, die Räder auf eine Schnur gezogen und um den Hals gehängt. Die Messer, Beile, Taschentücher und der Kleiderstoff werden unter die Freunde verteilt; mehr als ein Stück für jeden gibt es nicht. Oft geht der Kofferschlüssel auf dem Heimweg verloren, die Koffer selbst werden für drittehalb Schillinge verkauft, man kann sie in den Uferdörfern der Insel Tanna verfault umherliegen sehen, (ich sage das aus eigener Wahrnehmung). Ein heimgekehrter Kanaka geriet einmal gegen mich in heftigen Zorn, weil ich ihm nicht seine Beinkleider abkaufen wollte, die gerade für mich paßten, wie er behauptete. Später verkaufte er sie an einen meiner Lehrer aus Aniwa für ein Paket Tabak im Wert von dreiviertel Schilling, wahrend er in Queensland gewiß acht bis zehn Schillinge für das Kleidungsstück bezahlt hatte. Einen Rock oder ein Hemd zu haben ist nützlich bei kalter Witterung. Auch die weißen Taschentücher, den › senet‹ (Wohlgeruch), den Regenschirm und vielleicht den Hut behält der Insulaner; die Stiefel nur, wenn sie zufällig dem Koprahändler nicht passen. › Senet‹ im Haar, das Gesicht mit Farbe bemalt, ein schmutziges weißes Taschentuch um den Hals, ein Stück Schildkrötenschale im Ohr, am Gürtel ein Messer mit der Scheide und einen Regenschirm in der Hand, so sieht man den heimgekehrten Kanaka am Tage nach seiner Landung umherstolzieren.«

Bis auf den Hut, den Regenschirm und das Taschentuch ist er splinternackend. In einem einzigen Tage schmilzt die sauer erworbene Zivilisation so weit zusammen. Auch diese letzten vergänglichen Dinge bleiben nicht lange in seinem Besitz. Nur ein Stück seiner Zivilisation wird er sicherlich nicht wieder los – nach des Missionars Bericht hat er nämlich fluchen gelernt. Das ist auch eine Kunst – und die Kunst ist lang, wie der Dichter sagt.

Die Gesetze eines Landes werfen stets ein Licht auf seine Vergangenheit. In Queensland lassen sie tief blicken. Sie zeigen uns, daß die Mißbräuche, über welche die Missionare klagen, von alters her bestanden und auch unter dem Schutzgesetz fortbestehen, da die Werber – nach Behauptung der Missionare – das Gesetz zu umgehen wissen, und der Regierungsbeamte ihnen dabei behilflich ist. Es kommt häufig vor, daß ein törichter junger ›Rekrut‹ wieder zu Verstande kommt, nachdem er seine Freiheit auf drei Jahre verkauft hat und für sein Leben gern die Verpflichtung wieder loswerden und daheim bei seinen Angehörigen bleiben möchte; dann schüchtert man ihn jedoch durch Drohungen ein, hält ihn mit Gewalt auf dem Werbeschiff zurück und zwingt ihn, seinen Kontrakt zu erfüllen. Solche Gewaltmaßregeln verbietet das Gesetz aufs strengste; der Paragraph 31 befiehlt dem Werber, den Kanaka in diesem Fall nicht nur freizulassen, sondern ihn wieder ans Ufer zu befördern und zwar im Boot, weil die Meere von Haifischen wimmeln.

Das Gesetz und die Missonare haben Mitgefühl für den Kanaka, dem sein Vertrag wieder leid wird, und das ist sehr natürlich, weil er noch jung und unerfahren ist und sich leicht überreden läßt, zu tun was ihn reut; der Werber aber kennt kein Erbarmen. »Ein Kapitän, der den Handel viele Jahre hindurch betrieben hat,« erzählt Gray, »hat mir mitgeteilt, wie man mit dem kontraktbrüchigen Kanaka verfährt:

»Wenn ein Bursche über Bord springt,« sagte er, »setzen wir ein Boot aus, das ihm vorausrudert und sich zwischen ihn und das Ufer legt. Schwimmt er an dem Boote vorbei, so fährt es immer wieder voraus, bis der Schwimmer erschöpft ist, freiwillig hineinsteigt und sich ruhig wieder an Bord zurückbringen läßt. Der Kunstgriff schlägt selten fehl.«

Wäre der Schwimmer ein Sohn jenes Kapitäns und seine Verfolger Eingeborene, so würde er wohl anders darüber denken. Allein die Fähigkeit, sich in die Lage anderer Leute zu versetzen, ist nicht jedem gegeben.

Auch der freie Geist des Kapitäns Wawn empört sich gegen das Schutzgesetz; es bereitet ihm viel Aergernis und vergiftet sein Leben, gerade so, wie es die Missionare tun. Wie sehr er sich nach der guten alten Zeit sehnt, die auf immer dahin ist, kann man in seinem Buche lesen; man meint ordentlich ihn zwischen den Zeilen weinen und fluchen zu hören, wenn er schreibt: »Lange Zeit durften wir alle Ausreißer, die den Vertrag an Bord unterzeichnet hatten, einfangen und festnehmen. Aber die ›eisernen Verordnungen‹ des Gesetzes von 1884 machten dem ein Ende. Sie gestatten dem Kanaka den dreijährigen Vertrag zu unterzeichnen, in dem Schiff spazieren zu fahren, sich füttern zu lassen und sich gütlich zu tun und dann auf und davon zu gehen, sobald es ihm beliebt. Nur darf er seine Vergnügungsfahrt nicht bis nach Queensland ausdehnen.«

Missionar Gray dagegen, nennt jene ›eiserne Verordnung‹ ein Possenspiel. »Unter dem Schutz des Gesetzes,« sagt er, »wird gegen die Eingeborenen weit mehr Grausamkeit und Ungerechtigkeit verübt, als durch gesetzwidrige Taten. Die bestehenden Verordnungen sind ungerecht und in hohem Grade mangelhaft und werden es ewig bleiben.« Er belegt diese Behauptung auch durch Gründe, die ich jedoch des Raumes wegen hier nicht anführen kann.

Wenn indessen der Kanaka von seinem dreijährigen Studium der Zivilisation in Queensland keinen andern Vorteil davonträgt als ein Halsband, einen Regenschirm und eine höchst unvollkommene Ausbildung des Fluchens, dann muß wohl der ganze Profit des Handels dem weißen Manne zugute kommen. Es laßt sich schon hieraus mit einiger Bestimmtheit die Schlußfolgerung ziehen, daß der Handel von Rechts wegen abgeschafft werden sollte.

Man hat übrigens allen Grund anzunehmen, daß dies bald von selbst geschehen wird. Innerhalb der nächsten zwanzig oder dreißig Jahre müssen die Bezugsquellen des Handels versiegen, weil dann die Inseln gänzlich entvölkert sein werden. Für weiße Leute ist Queensland sehr gesund, die Ziffer der Sterbefälle beträgt nur 12 auf das Tausend; bei den Kanaken ist sie aber weit höher, im Jahre 1893 belief sie sich nach statistischen Angaben auf 52 und 1894 (im Mackay-Bezirk) auf 68. In den ersten sechs Monaten ist das Klima für den Kanaka ganz besonders gefährlich, von 1000 der neuen Ankömmlinge sterben oft 180, während die Sterbeziffer auf seiner heimischen Insel sich in Friedenszeiten auf 12 und in Kriegszeiten auf 15 vom Tausend beläuft. Der Aufenthalt in Queensland, der ihm Gelegenheit gibt, Zivilisation, einen Regenschirm und ungenügende Uebung im Fluchen zu erwerben, ist also zwölfmal so tödlich für ihn als ein Krieg.

Demnach verlangt die christliche Nächstenliebe, ja schon die bloße Menschlichkeit, daß man die Leute sämtlich nach ihrer Heimat zurückschickt. Wenn, statt der Werber, Krieg, Pestilenz und Hungersnot bei ihnen einkehrten, würden sie nicht aussterben.

Zum Besten der Inseln des Stillen Ozeans und ihrer Bevölkerung hat schon vor Zeiten – das heißt vor fünfundfünfzig Jahren – ein redegewaltiger Prophet den Mund aufgetan. Er sprach sogar etwas allzufrüh. Das Prophetentum ist zwar kein schlechtes Geschäft, aber es bringt mancherlei Gefahr. Der Prophet, den ich meine, war Seine Ehrwürden, der Doktor beider Rechte M. Russel aus Edinburgh.

»Soll sich die Flut der Zivilisation nur bis zum Fuß des Felsengebirges wälzen?« fragt er. »Soll das Licht der Wissenschaft in den Wellen des Stillen Ozeans untergehen? Nein, der große Schöpfungstag, der vor vier Jahrtausenden begann, nähert sich endlich seinem Ende, die Sonne der Menschheit hat den ihr bestimmten Lauf vollbracht. Aber lange bevor ihre letzten Strahlen im Westen verlöschen, ist ihr Licht schon von neuem über den Inseln der östlichen Meere aufgegangen… Wir sehen, wie sich das Geschlecht Japhets aufmacht, um die Inseln zu bevölkern Und den Grund zu einem neuen Europa und einem zweiten England in den Regionen des Südens zu legen. Aber vernehmt das Wort der Weissagung: ›Er soll in den Zelten Sems wohnen und Canaan wird sein Diener sein‹ .Sein Diener – nicht sein Sklave. Der anglosächsischen Rasse ist das Szepter des Erdballs verliehen, aber weder die Peitsche des Sklavenvogts noch die Marterwerkzeuge des Henkers. Der Osten soll sich nicht mit denselben Greueln beflecken wie der Westen; der furchtbare Krebsschaden einer geknechteten Rasse soll nicht an dem Mark der Söhne Japhets im Lande der Sonne zehren. Wenn der Brite die Völker, unter denen er wohnt, nicht zu vernichten, sondern immer mehr zu humanisieren trachtet, je weiter er vorwärts dringt, wenn er mit ihnen in Eintracht steht, statt sie zu Sklaven zu machen, dann u. s. w. u. s. w.«

Und er schließt seine Vision mit einem Aufruf aus Thomson:

»Komm, holder Fortschritt, wandle deine Bahn!
Mach dir die Welt als Herrscher Untertan!« –

Jawohl, der holde Fortschritt ist gekommen, wie wir gesehen haben. Er hat die Zivilisation, die Waterbury-Uhr, den Regenschirm und die Kunst des Fluchens mitgebracht, auch einen Mechanismus, um die Völker zu humanisieren und nicht auszurotten, samt der Sterbeziffer von 180 auf das Tausend; kurz, er hat alles aufs beste in Gang gebracht.

Aber, der Prophet, der zuletzt das Wort ergreift, ist immer im Vorteil gegenüber dem Pionier, der das Amt zuerst übernimmt. Hören wir, was der Missionar Gray sagt:

»Es liegt mir schwer auf dem Herzen, daß eine christliche Nation wie wir, diese Rassen vertilgt, um sich selbst zu bereichern.« Und er schließt seine Broschüre mit einer harten Anklage, deren ungeschminkte, offenherzige Sprache ebenso beredt ist, wie der blumige Wortschwall seines Vorgängers im Prophetenamt.

»Was ich gegen den Kanaka-Handel mit Queensland einzuwenden habe,« sagte er, »ist folgendes:

»1. Er wirkt im allgemeinen demoralisierend auf die Kanaken, stürzt sie in Armut, beraubt sie ihres Bürgerrechts und entvölkert die Inseln, welche sie bewohnen.

»2. Der Handel schadet dem Ansehen des weißen Arbeiters im landwirtschaftlichen Betrieb von Queensland und verkürzt jedenfalls seinen Lohn.

»3. Das ganze System bringt in gesundheitlicher Beziehung große Gefahren mit sich, sowohl für das Festland von Australien als auch für die Inseln.

»4. In sozialer und politischer Hinsicht macht die Fortdauer des Kanaka=Handels jede feste Vereinigung der Kolonien in Australien unmöglich.

»5. Die gesetzlichen Vorschriften, welche für diesen Handel in Queensland bestehen, sind ungeeignet zur Verhinderung von Mißbräuchen; auch werden sie stets mangelhaft bleiben, das liegt schon in der Natur der Sache.

»6. Das ganze System steht in völligem Widerspruch zu dem Geist und den Lehren des Evangeliums Jesu Christi, welches uns befiehlt, dem Schwachen Hilfe zu leisten, während der Kanaka geschunden und mit Füßen getreten wird.

»7. Der Handel gründet seine Berechtigung auf die Annahme, daß Leben und Freiheit für einen Farbigen weniger Wert haben als für einen Weißen. Er hat sich aus der Sklavenjagd entwickelt und wird sich niemals weit von seinem Ursprung entfernen.«

Siebentes Kapitel.

Siebentes Kapitel.

Ehrlich währt am längsten, sagt das Sprichwort; aber mit dem Schein der Ehrlichkeit kommt man oft sechsmal so weit.

Querkopf Wilsons Kalender.

Aus dem Tagebuch.

Seit einigen Tagen durchschiffen wir eine unsichtbare Wildnis von Inseln und bekommen manchmal die eine oder andere in schattenhaftem Umriß zu Gesicht. Auf der Karte erscheint das Insel-Gewirr undurchdringlich und ihre Zahl ohne Ende. Jetzt sind wir mitten in der Gruppe der Fidschis, die aus 224 Inseln und Inselchen bestehen. Das Gewirr erstreckt sich westwärts vor uns bis nach Australien, geht im Bogen hinauf nach Neuguinea und immer weiter bis Japan; hinter uns dehnt es sich nach Osten durch sechzig Längengrade über den ganzen Stillen Ozean aus; nach Süden zu liegt Neuseeland. Unter diesen Myriaden soll auch irgendwo Samoa sein; auf der Karte kann ich es nicht finden. Wer aber dorthin gehen möchte, braucht nur der Anweisung zu folgen, die Robert Louis Stevenson dem Dr. Conan Doyle und Mr. I. M. Barrie gegeben hat:

»Fahrt nach Amerika,« sagt er, »und quer durch den Kontinent bis San Francisco, dann noch zweimal links um die Ecke, und ihr seid am Ziel.« – Eine nette Beschreibung!

Mittwoch, 11. September. Wenn man sich einer der Fidschi-Inseln nähert, sieht man zuerst rings herum einen breiten Gürtel von blendend weißem Korallensand, dahinter hohe schlanke Palmen, unter denen die Hütten der Eingeborenen zwischen dem Buschwerk zum Vorschein kommen; weiter zurück eine Strecke ebenes Land von tropischem Pflanzenwuchs bedeckt und ganz im Hintergrund die malerischen Formen der wilden Gebirgszüge. Liegt nun noch im Vordergrund ein altes Wrack hoch oben auf der Uferklippe – wie wir es sahen – so läßt das ganze Bild vom künstlerischen Standpunkt aus nichts zu wünschen übrig.

Am Nachmittag erblickten wir Suva, die Hauptstadt der Gruppe, und fuhren in den kleinen geschlossenen Hafen ein, der mit seinen glänzend blauen und grünen Gewässern im Schutz der umgebenden Hügel still und friedlich daliegt. Ruderboote schwammen vom Ufer herbei, sie waren mit Eingeborenen bemannt, den ersten, welche wir zu sehen bekamen. Daß sie bei der Hitze keine überflüssige Kleidung trugen, konnte man ihnen nicht verargen. Es waren große, muskelstarke Männer mit dunkler Haut, ebenmäßigem Gliederbau und klugen, charaktervollen Gesichtern. Ich glaube kaum, daß man irgendwo unter den farbigen Rassen schöneren Gestalten begegnen wird.

Wir gingen alle ans Ufer, um die Insel in Augenschein zu nehmen und eine Mahlzeit am Lande zu halten, was der größte Hochgenuß für einen Seereisenden ist. Dort sahen wir noch mehr Eingeborene: runzlige alte Weiber mit flachen Brüsten, junge dralle Dirnen, deren freundlich lachender Ausdruck und anmutige Bewegungen den wohlgefälligsten Anblick boten; hübsche junge Frauen von edlem Wuchs, die den Kopf hoch trugen und in ihrer unbewußten Würde stattlich einhergeschritten kamen; majestätische junge Männer, wahre Athletengestalten, in lose, weiße Gewandung gekleidet, welche die bronzefarbene Brust und die Beine nackt ließ. Auf dem Kopf hatten sie eine förmliche Bürste von dichtem Haar, das vom Schädel abstand und brennend ziegelrot gefärbt war. Vor kaum sechzig Jahren steckten sie noch in tiefer, geistiger Finsternis; jetzt ist das Fahrrad auch bis zu ihnen gedrungen.

Wir schlenderten in den Straßen der kleinen Stadt der Weißen umher und über die Berge auf Pfaden und Wegen, die zu europäischen Wohnhäusern, Gärten und Pflanzungen führten. Die großen Blüten der Hibiskussträucher mit ihrem feurigen Rot blendeten uns förmlich die Augen. Bei einem alten englischen Kolonisten blieben wir endlich stehen, um ein paar Fragen an ihn zu richten und uns teilnehmend über die furchtbare Hitze zu äußern. Darüber verwunderte er sich jedoch höchlich.

»Das nennen Sie heiß?« fragte er. »Da sollten Sie einmal im Sommer hier sein.«

»Ist denn nicht Sommer? Es sieht doch täuschend so aus. In keinem Lande der Erde würde man es für etwas Anderes halten. Was fehlt denn daran?«

»Ein halbes Jahr. Wir sind jetzt mitten im Winter.«

Ich litt schon seit mehreren Monaten an Husten und Schnupfen, und ein so plötzlicher Wechsel der Jahreszeiten mußte mir schädlich sein. Natürlich erkältete ich mich gleich von neuem.

Vor vierzehn Tagen haben wir Amerika im Sommer verlassen, jetzt ist es Winter und in einer Woche, bei unserer Ankunft in Australien werden wir mitten im Frühling sein. Diese plötzlichen Sprünge von einer Jahreszeit in die andere sind höchst verwunderlich.

Nach Tische traf ich im Billardzimmer einen Bewohner der Insel, dem ich schon früher in einem anderen Weltteil begegnet war, auch machte ich ein paar neue Bekanntschaften und wir fuhren zusammen aus, um den Gouverneur auf seinem Landsitz zu besuchen, der hoch und luftig gelegen, ein viel behaglicheres Klima hat, als die niederen Regionen, wo der Winter ein strenges Regiment führt und einem fast das Haar versengt, wenn man den Hut abnimmt, um zu grüßen. Von dem Hause seiner Excellenz hat man einen herrlichen Blick über das Meer, die Inseln und die zackigen Bergspitzen, während ringsum alles wie traumversunken in jener heiteren, ungestörten Ruhe zu schlummern scheint, welche dem Leben auf den Inseln des Stillen Ozeans seinen Hauptreiz verleiht.

Einer meiner neuen Bekannten war mir durch seine ungewöhnliche Größe aufgefallen; ich sah noch bewundernd zu ihm empor, als er neben dem Gouverneur auf der Veranda stand. Da trat der Diener, ein Fidschi-Insulaner heraus, um uns zum Tee zu rufen – und jener große Mann wurde zum Zwerge. Oder, wenn auch das nicht, so schien doch der Abstand gewaltig. Der farbige Riese war gewiß ein abgesetzter Inselkönig. Ich glaube, bei unserem Gespräch dort auf der Veranda wurde auch erwähnt, daß die eingeborenen Könige und Häuptlinge, sowohl auf den Fidschi- wie auf den Sandwichinseln viel mächtiger von Gestalt sind als der gemeine Mann. Die weißen, faltigen Gewänder, in die der Diener gekleidet war, schienen wie für ihn geschaffen; ein europäischer Anzug hätte ihm seine Würde und Eigentümlichkeit genommen. Das weiß ich ganz gewiß, denn es ist bei jedem Menschen der Fall, der unsere moderne Kleidung trägt. Man sagt, daß sich die Anhänglichkeit und Verehrung, welche die Eingeborenen der Person ihres Häuptlings zollten, noch unverändert erhalten hat. Das Oberhaupt eines Stammes der Fidschianer in der Hauptstadt ist ein gebildeter junger Herr, der ganz wie ein vornehmer Europäer gekleidet geht; aber seine Tracht vermag ihm nicht die Ehrfurcht des Volks zu rauben. Der Stolz auf des Häuptlings hohen Rang und alte Abkunft besteht fort, trotz seiner verlorenen Herrschermacht und der Hexenkunst seines Schneiders. Er braucht sich weder durch Arbeit zu entwürdigen, noch sein Herz mit niederen Erdensorgen zu belasten; der Stamm schützt ihn vor jedem Mangel und gibt ihm die Mittel, ein Herrenleben zu führen, um sein Ansehen zu bewahren. Ich sah ihn unten in der Stadt einen Augenblick im Vorbeigehen. Vielleicht ist er ein Abkömmling des letzten Königs – dessen Name so schwer zu behalten ist und dem man mitten in der Stadt ein großes, steinernes Denkmal gesetzt hat. Ja so – Thakombau heißt er, eben fällt es mir wieder ein. Der Name kommt einem so leicht aus dem Kopf, es ist gut, daß er auf dem Granitblock steht.

Im Jahre 1874 trat dieser König die Fidschi-Inseln an England ab. Man sagt, der englische Bevollmächtigte habe den armen Thakombau trösten wollen, indem er versicherte, die Uebergabe seiner Herrschaft an England sei nur eine Art Wohnungswechsel, wie ihn der Einsiedlerkrebs vornimmt, worauf Thakombau die rührende Antwort gab: »Nur mit dem Unterschied, daß der Einsiedlerkrebs in eine unbewohnte Muschel kriecht, aber mein Gehäuse ist nicht leer.«

Dem Könige scheint damals übrigens, wie ich gelesen habe, nur die Wahl zwischen zwei Uebeln freigestanden zu sein. Er schuldete den Vereinigten Staaten eine große Summe, die er ohne Aufschub bezahlen mußte, sonst drohte man sein Land mit Krieg zu überziehen. Um die Fidschianer vor diesem Schicksal zu bewahren, trat er das Land an Großbritannien ab, und eine Klausel des englischen Vertrags verbürgte die schließliche Tilgung seiner Schuld an Amerika.

Vor Zeiten war das Volk sehr kriegerisch gesinnt und seinem Götzendienst mit großem Eifer ergeben. Die Häuptlinge waren stolze Gebieter und lebten in mancher Hinsicht auf sehr großem Fuße; alle hatten mehrere Weiber, die vornehmsten oft fünfzig Stück. Starb ein Häuptling und sollte begraben werden, so erdrosselte man vier oder fünf seiner Weiber und legte sie zu ihm ins Grab.

Im Jahre 1804 gelang es siebenundzwanzig britischen Sträflingen, von Australien nach den Fidschi-Inseln zu entkommen; sie brachten auch Flinten und Schießbedarf mit. Man stelle sich nun vor, welche Macht diese Waffen ihnen verliehen! Hatten sie verstanden die Gelegenheit zu benutzen, wären sie tatkräftige nüchterne Menschen gewesen, so war ihre Herrschaft gesichert – sie konnten siebenundzwanzig Könige werden, von denen jeder acht oder neun Inseln unter seinem Szepter hatte. Allein sie verscherzten ihr Glück und vergeudeten ihr Leben in üppiger Schwelgerei. Die meisten starben eines gewaltsamen ehrlosen Todes. Nur einer, ein Irländer Namens Connor, scheint eine Ausnahme gemacht zu haben. Er hatte den Ehrgeiz, fünfzig Kinder groß zu ziehen, brachte es aber nur auf achtundvierzig und konnte sich über diesen Mißerfolg sein Lebenlang nicht zugute geben. Das war eine Habgier seltsamer Art; mancher Vater wäre sich schon mit 40 Kindern reich genug vorgekommen.

Ja, die Fidschianer sind eine schöne Rasse; auch fehlt es ihnen nicht an Klugheit und Wißbegierde. Ihre wilden Vorfahren hatten eine Art Unsterblichkeitslehre – das heißt, in beschränktem Sinne. Sie glaubten nämlich, daß ihre toten Freunde nur in ein glückliches Jenseits hinübergingen, wenn man imstande war, ihre Körperteile zu sammeln. Das machten sie zur Bedingung. Um dem Missionar zu beweisen, daß seine Lehre viel zu allgemein und unbegrenzt sei, lenkten sie seine Aufmerksamkeit auf gewisse, nicht zu bestreitende Tatsachen: Viele ihrer Freunde, sagten sie, seien zum Beispiel von Haifischen gefressen worden; die Haifische wären dann ihrerseits von andern Leuten getötet und verzehrt worden; später wurden diese zu Kriegsgefangenen gemacht und die Feinde verspeisten sie.

Dadurch seien die ursprünglichen Personen zu Fleisch und Blut der Haifische und diese zu Bestandteilen der Kannibalen geworden. Wie sollte man nun die Glieder jener Personen wieder ausfindig machen und zusammensetzen können? Diese Schwierigkeit verursachte den Fidschianern tausend Zweifel, und sie waren nicht davon abzubringen, daß die Missionare die Sache gar nicht mit dem gehörigen Ernst und der ihr gebührenden Aufmerksamkeit erwogen hätten.

Die Missionare brachten diesen schwer zu befriedigenden Wilden viele schätzenswerte Dinge bei und lernten auch ihre Vorstellungen kennen, von denen eine besonders zart und poetisch war. Die armen, einfachen Naturkinder glaubten nämlich, daß die Blumen, nachdem sie verwelkt sind, vom Winde emporgetragen werden und droben, auf den himmlischen Gefilden, ewiglich in unvergänglicher Schönheit blühen!

Achtes Kapitel.

Achtes Kapitel.

Er war so bescheiden wie eine Zeitung, wenn sie von ihren eigenen Vorzügen spricht.

Querkopf Wilsons Kalender.

Ja, das Inselgewirr im Stillen Ozean, wie wir es auf der Karte sehen, ist eine Täuschung. Weite Meereswüsten liegen zwischen den einzelnen Gruppen; auch ist noch vieles über die Inseln, deren Bewohner und Sprachen, bisher unerforscht geblieben. Zum Beweis hierfür erwähne ich nur die Tatsache, daß vor zwanzig Jahren zwei fremde, einsame Wesen auf die Fidschis gebracht wurden, die aus einem unbekannten Lande kamen und eine unbekannte Sprache redeten. Viele hundert Meilen entfernt von jeder bisher entdeckten Insel, hatte ein vorüberfahrendes Schiff sie in einem kleinen Kanoe auf dem Meer treiben sehen und an Bord genommen. Als man sie fand waren sie nichts als Haut und Knochen; niemand konnte verstehen, was die Leute sagten, und sie haben das Land ihrer Herkunft nie genannt, wenigstens keinen Namen, der auf irgend einer Karte steht. Jetzt sind sie dick und wohlgenährt und freuen sich ihres Lebens. Im Logbuch des Schiffes ist die Länge und Breite eingetragen, unter der sie gefunden wurden; Aufschluß über ihre verlorene Heimat wird man vielleicht nie erhalten.

Klingt das nicht höchst seltsam und romantisch? – Ueberhaupt ist ja diese Inselwelt der richtige Schauplatz für alle phantastischen, geheimnisvollen Traumgebilde – und noch manches andere: Wer in der großen Welt Schiffbruch gelitten hat beim Kampf ums Dasein, der findet hier in der erhabenen Einsamkeit, in der Schönheit und tiefen Ruhe der Natur, was er für sein wundes Herz bedarf; Menschen, welche die Welt eines Verbrechens wegen ausstößt, Leute, die ein träges, sorgloses Leben führen möchten, und andere, die gern frei umherschweifen, weil sie Abenteuer und Abwechslung lieben, sie alle finden hier was sie brauchen. Auch können Glücksritter, die auf bequeme Weise Geld zu erwerben und Handel zu treiben wünschen, daneben noch manches Eheband knüpfen, das nicht allzu fest hält, auch nicht erst vor Gericht mit vielen Kosten gelöst werden muß. Jeder, der sich in seinem Spaß und Zeitvertreib nicht beschränken lassen will, gelangt hier mühelos zu vollem Lebensgenuß.

Neu gestärkt und erfrischt segelten wir weiter.

Die gebildetste Persönlichkeit bei uns an Bord war ein junger Engländer aus Neuseeland. Von Beruf Naturforscher, besaß er tiefe, gründliche Kenntnisse in seinem Fach und betrieb es mit wahrer Leidenschaft. Er hatte auch eine ziemliche Rednergabe, und wenn er vom Tierreich sprach, hörte man ihm mit Vergnügen zu. Was er sagte war sehr belehrend, nur manchmal schwer aufzufassen, weil er allerlei technische Ausdrücke brauchte, die über unser Verständnis gingen. Wenigstens lagen sie ganz außerhalb meines Horizonts, aber, da er uns gern erklärte, was wir nicht begriffen hatten, machte ich mir eine Pflicht daraus, diese Gelegenheit zur Bereicherung meines Wissens nicht unbenützt vorbeigehen zu lassen. Ich war zwar in Naturgeschichte für einen Laien ziemlich bewandert, aber erst durch seinen Unterricht erhielt was ich wußte, eine klare, wissenschaftliche Form und bekam wirklichen Wert.

Hauptsächlich interessierte er sich für die Fauna Ozeaniens, über die er ebenso genaue wie erschöpfende Studien gemacht hatte. Von den dort eingeführten Kaninchen und ihrer wunderbaren Fruchtbarkeit war mir schon viel zu Ohren gekommen; im Gespräch mit ihm erfuhr ich jedoch, daß die Kaninchenplage über alle meine Begriffe ging und im Handel und Verkehr die lästigste Störung verursacht. Er erzählte mir, das erste Kaninchenpaar, welches man nach Ozeanien brachte, habe sich so wunderbar vermehrt, daß die Tiere schon nach einem halben Jahr das ganze Land bedeckten, und man die dichte Masse mit Laufgräben durchziehen mußte, um von Stadt zu Stadt zu kommen.

Der gelehrte Herr sagte mir auch allerlei von Würmern, vom Känguruh und andern Colcoptera, und versicherte, er kenne die Geschichte und Lebensweise aller dieser Pachydermata. Das Känguruh habe Taschen, in die es seine Jungen hineinstecke, wenn es keine Aepfel fände. Der Emu wäre so groß wie ein Strauß und sähe diesem ähnlich, er fräße alles durcheinander, selbst Ziegelsteine. Zwischen einem Dingo und einem Dodo sei nur der Unterschied, daß sie beide nicht bellten, sonst glichen sie einander aufs Haar. Aber ein Dingo wäre gar kein Dingo, sondern einfach ein wilder Hund.

Unter den einheimischen Vögeln, sagte er, sei der schönste der Paradiesvogel, dann käme der Leierschwanz. Aber, der ›Sonnenvogel‹ sei gar kein Vogel, sondern ein Mensch. ›Sonnenvogel‹ ist nur die australische Bezeichnung für einen Herumtreiber, Trinker und Schmarotzer, der zur Zeit der Schafschur unter dem Vorwand Arbeit zu suchen, das Land durchstreift. Er weiß es dabei so einzurichten, daß er immer erst nach Sonnenuntergang bei einer Schafweide anlangt, wenn das Tagewerk zu Ende ist. Was er sucht, ist nur Whisky, Abendbrot, Nachtlager und Frühstück; das läßt er sich geben und dann verschwindet er wieder. Der Naturforscher sprach auch vom Glockenvogel, der den ganzen Tag mit kurzen Unterbrechungen aus der Tiefe des Waldes sein weiches, wundervolles Geläute ertönen läßt. Der ›Sonnenvogel‹ liebt ihn sehr und betrachtet ihn als seinen besten Freund; denn, da er weiß, daß es überall, wo der Glockenvogel sich aufhält, nur Wasser zu trinken gibt, geht er stets nach einer andern Richtung. Der sonderbarste Vogel von allen, sagte der Gelehrte, sei der ›lachende Hans‹ und der größte, die jetzt ausgestorbene Moa. Dieser Riesenvogel war dreizehn Fuß hoch; er konnte über einen gewöhnlichen Menschen hinwegschreiten und ihm dabei den Hut samt dem Kopf abreißen. Flügel hatte er nicht, war aber ein Schnelläufer; die Eingeborenen benützten ihn als Reitpferd, er konnte hintereinander vierhundert Meilen ohne Ermüdung zurücklegen, vierzig Meilen die Stunde. Als die Eisenbahn nach Neuseeland kam, lebte er noch und war als Postbote angestellt. Gleich anfangs führte die Bahnverwaltung einen Fahrplan ein, wie er noch heutigen Tages besteht, nämlich wöchentlich zwei Schnellzüge, mit zwanzig Meilen die Stunde. Um den Postbetrieb zu bekommen, mußte die Eisenbahngesellschaft erst die Moas vertilgen.

Die seltsamen Abweichungen von den bestehenden Gesetzen, welche sich die Natur in Australien erlaubt, ließen sich, meinte der Gelehrte, am besten beim Schnabeltier beobachten, das eine wunderliche Verbindung von Vogel, Fisch, Amphibium, Grabetier, Reptil, Christ und Vierfüßler sei. An Vielseitigkeit des Charakters und der Beschaffenheit stehe das Schnabeltier, auch Ornithorhynchus genannt, weit über allen anderen Geschöpfen der Welt.

»Man kann es zu jeder Tierart zählen und wird nicht irre gehen,« sagte er. »Es ist ein Fisch und verbringt sein halbes Leben im Wasser, die übrige Zeit aber als Landtier auf dem Ufer, und da es nicht weiß, wo es ihm besser gefällt, ist es ein Amphibium. Es hält Winterschlaf sobald in der Welt nicht viel los ist und es Langeweile hat, vergräbt sich auf dem Grunde einer Pfütze im Schlamm und haust dort zur Abwechslung ein paar Wochen. Zu den Enten gehört es auch, denn es hat einen Entenschnabel und Schwimmhäute an den Füßen, Fisch und Vierfüßler zugleich, rudert es mit den Schwimmfüßen im Wasser oder stampft damit auf dem Lande umher; auch für einen Seehund kann es gelten, weil es einen Pelz hat wie er. Das Schnabeltier ist Fleischfresser, Pflanzenfresser, Insektenfresser und Würmerfresser, denn es nährt sich von Fischen, Gras, Schmetterlingen und allerlei Gewürm, das es im Schlamm findet. Offenbar ist es ein Vogel, da es Eier legt und sie ausbrütet, aber auch ein Säugetier, denn es säugt seine Jungen. Daß es eine Art Christ ist, wird niemand bestreiten, da es Sonntagsruhe hält, wenn es sich beobachtet weiß, diese Pflicht jedoch unterläßt, wenn keiner es sehen kann. Es hat Geschmack für alles, nur keinen geläuterten und nimmt alle Sitten und Gewohnheiten an, die es gibt, mit Ausnahme der guten.

»Charles Darwin hat die Theorie über die Entstehung der Arten aufgestellt, nach welcher der Kampf ums Dasein mit dem ›Ueberleben des Passendsten‹ endet. Das Schnabeltier aber hat das unbestrittene Verdienst, dies Experiment selbst ausgeführt und damit zuerst den Beweis geliefert zu haben, daß sich Darwins Theorie auch in der Praxis bewährt. Beiden gebührt daher der gleiche Ruhm.

»Als die Sündflut kam, flüchtete es sich nicht in die Arche Noah, dort würde man seinen Namen vergebens suchen. Nein – es besaß Selbstlosigkeit genug, um draußen zu bleiben und an der praktischen Entwicklung der Theorie zu arbeiten, auch war ja kein Geschöpf der Welt für dies Werk so gut ausgerüstet wie das Schnabeltier. Die Arche schwamm dreizehn Monate auf den Wassern, welche die Erde überfluteten, so daß nirgends Land zu erblicken war. Es gab weder Speise noch Trank mehr für ein Säugetier; kein Pflanzenwuchs, kein Nahrungsmittel war übrig geblieben, und das Salzwasser der Meere hatte sich mit den reinen Fluten des Himmels gemischt, so daß kein gewöhnliches lebendes Wesen es hätte trinken können. Aber dieser Zustand der Dinge war dem Ornithorhynchus gerade recht. Das Wasser seiner Flußheimat hatte immer den Salzgeschmack der Meeresfluten gehabt, und die Wogen, welche über die Berggipfel dahinrollten, führten zahllose Stämme von Waldbäumen mit sich. Auf diesen schiffte der Ornithorhynchus friedlich weiter und schwamm von einer Zone zur andern, von einer Halbkugel zur andern, in aller Behaglichkeit und Gemütsruhe. Voll Interesse für den stets wechselnden Schauplatz seiner Fahrt und dankbar für die ihm verliehenen Vorrechte, verfolgte er in stets wachsender Begeisterung die Entwicklung der großen wissenschaftlichen Theorie, für deren Wahrheit er – wenn ich mich so ausdrücken darf – bereit war, sein Leben, sein Glück und seine Ehre einzusetzen.

»So lebte das Schnabeltier in ruhigem Wohlbehagen, wie jemand der sein genügendes Auskommen hat. Von allem, was es zu einem glücklichen Dasein bedurfte, mangelte ihm nichts. Wollte es einen Spaziergang machen, so kroch es auf dem Baumstamm entlang; bei Tage träumte es unter dem Blätterdach und schlief nachts in dessen Schutz. So oft das Tier wollte, konnte es ein Schwimmbad nehmen; hatte es Verlangen nach Pflanzenkost, so fraß es Baumblätter, unter der Rinde grub es nach Würmern und Larven oder fing es sich einen Fisch; wollte es Eier haben, so brauchte es sie nur zu legen. Wenn alles Gewürm in einem Baume verzehrt war, so schwamm es nach einem andern hin, und Fische gab es stets in solchem Ueberfluß, daß es nur die Qual der Wahl hatte. Bekam es aber Durst, so schlürfte es mit Wonne die salzige Mischung, an der ein Krokodil umgekommen wäre.

»Als das Schnabeltier endlich nach seiner dreizehnmonatlichen Forschungsreise in allen Zonen auf einem Berggipfel gelandet war, stieg es ans Ufer und dachte stolzen Mutes: ›Mögen die, welche nach mir kommen, Theorien erfinden, und sich in ihrer Phantasie mit dem ›Ueberleben des Passendsten‹ beschäftigen; aber ich habe die Möglichkeit zuerst durch die Tat bewiesen‹

»Dies wunderbare Geschöpf,« fuhr der Gelehrte fort, »stammt gleich dem Känguruh und vielen andern merkwürdigen Tierarten Australiens aus einer Erdperiode, in der vom Menschen noch keine Spur vorhanden war. Damals führte ein viele hundert Meilen breiter und Tausende von Meilen langer Riesendamm von Australien nach Afrika hinüber; die Tierwelt beider Erdteile war die nämliche und gehörte jener geologischen Epoche der Urzeit an, welche die Wissenschaft unter dem Namen ›alte rote totliegende Post-Pleosaurius-Formation‹ kennt. Später versank der Riesendamm im Meere und gewaltige Erderschütterungen hoben das afrikanische Festland um tausend Fuß höher als vormals, während Australien seinen alten Standpunkt behauptete. In dem neuen afrikanischen Klima entwickelte sich notwendigerweise auch die Tierwelt ganz anders und begann die Formen abzustreifen, wodurch neue Familien und Arten entstanden. Die Tiere in Australien dagegen blieben wie sie waren, bis auf den heutigen Tag. Auch der afrikanische Ornithorhynchus hat sich im Lauf einiger Millionen Jahre immer weiter entwickelt und eine Eigenheit nach der andern abgelegt, bis das ganze Geschöpf in seine Teile zerfiel und sich zersplitterte. Wenn man jetzt in Afrika einen Vogel oder Vierfüßler sieht, eine Otter oder einen Seehund, so kann man darauf wetten, daß es irgend ein Ueberbleibsel des wunderbaren Urgeschöpfs ist, von welchem ich rede – das der Inbegriff aller Arten war und doch keiner einzelnen angehörte – dem überreich begabten E Pluribus Unum der Tierwelt.

»Dies ist die Lebensgeschichte des ältesten und ehrwürdigsten Geschöpfs, das heutzutage auf Erden lebt, des Ornithorhynchus Platypus Extraordinariensis, das Gott noch lange erhalten möge!«

Zu so hohem Schwung erhob sich der Naturforscher bisweilen in seiner Schilderung, wenn er von dem Gegenstand mächtig ergriffen war, und zwar nicht nur in Prosa, nein, auch in gebundener Rede. Er hatte viele Verse gemacht und lieh den Passagieren sein Manuskript; ja, er erlaubte ihnen sogar eine Abschrift davon zu machen. Ein Gedicht, welches mir am erhabensten von allen erschien, und in dem auch die wenigsten technischen Ausdrücke vorkommen, will ich hierhersetzen: Aufforderung.

Aus deinem Schlammbett komm.
Du liebes Schnabeltier,
Und willig gib und fromm.
Jetzt Red‘ und Antwort mir.

Noch ist mir unbekannt
Dein Stamm und deine Art,
Weshalb dein Körperbau
So ganz und gar apart.

Du trägst den Biberschwanz,
Die Schwimmhaut statt der Klaun,
In deiner Schnauze ist
Manch scharfer Zahn zu schaun.

Auch dir, mein Känguruh,
Mit kurzem Vorderfuß
Und spitzem Rattenkopf
Entbiet‘ ich meinen Gruß!

Wer lehrt‘ dich kühnen Sprung?
Wer gab den Beutel dir?
Geschöpf aus frührer Zeit,
Warum weilst du noch hier?

Versteint im Erdenschoß,
All‘ deine Freunde ruhn.
Was willst in fremder Welt
Du hier allein noch tun?

  1. Forbes, Zwei Jahre auf den Fidschi-Inseln.

Neuntes Kapitel.

Neuntes Kapitel.

Bemitleidet die Lebenden, beneidet die Toten.

Querkopf Wilsons Kalender.

15. September abends. – Jetzt sind wir dicht an Australien. Sydney ist nur noch fünfzig Meilen entfernt.

Das hatte ich eben geschrieben, als die Passagiere auf Deck gerufen wurden, wo es etwas Schönes zu sehen gab. Es war sehr dunkel; das Auge konnte kaum fünfzig Meter in der Runde über die Meeresfläche schweifen, weiterhin verdüsterte sich alles und entschwand dem Blick. Wer aber eine Weile geduldig in die Finsternis hineinschaute, wurde reich belohnt. Nicht lange da erschien eine Viertelmeile entfernt ein blendend heller Schein oder Strahl auf dem Wasser, so plötzlich und mit so wundervollem Glanz, daß man unwillkürlich den Atem anhielt. Die Lichtmasse dehnte sich rasch im Zickzack bis zur ungeheuern Länge der fabelhaften Seeschlange aus; man glaubte jeder Bewegung ihres Körpers folgen zu können. Sowohl das Kielwasser hinter dem Schweif, als auch die Wellen, die vor dem Kopf dahinschossen, waren wie in Feuersglut getaucht. Und mit welcher blitzartigen Geschwindigkeit das Ungetüm daherkam! Ehe man sich’s versah, war der fünfzig Fuß lange, feurige Drache vorbeigestürmt und im Nu verschwunden. Aber auf demselben Fleck, von wo er gekommen war, leuchtete es wieder auf; es folgte ein zweiter Strahl, ein dritter, ein vierter, die sich mit rasender Eile in Seeschlangen verwandelten. Einmal sahen wir sechzehn zu gleicher Zeit aufblitzen und auf uns zuschießen. Die sich in zahllosen Windungen schlängelnden Feuerströme boten einen Anblick von zauberhafter Schönheit, ein Schauspiel so voller Glut und Glanz, wie es die meisten jener Zuschauer wohl erst nach ihrem Tode wieder zu sehen bekommen werden.

Und was war es? – Nichts anderes als zahlreiche Scharen von Delphinen, die sich im phosphoreszierenden Meere tummelten. Sie vereinigten sich gleich darauf zu einem prächtigen, wilden, verworrenen Knäuel unter dem Bug des Schiffes, wo sie wohl eine Stunde lang ihr munteres Spiel trieben. Bald schnellten sie in die Höhe, hüpften und vergnügten sich auf allerlei Weise, bald schossen sie Purzelbäume vor dem Schiffsschnabel und darüber hinweg ohne sich je zu stoßen oder den Vordersteven zu berühren, obgleich sie sich ihm stets auf Zollweite näherten. Es waren Delphine von gewöhnlicher Größe, 8–10 Fuß lang, aber bei jeder Bewegung ihres Körpers schlängelten sich feurige Schneckenwindungen weithin nach rückwärts über das Wasser. Dies glänzende Gewirre bot einen geradezu entzückenden Anblick, auch rührten wir uns nicht von der Stelle, bis das Schauspiel zu Ende war; dergleichen bekommt man im Leben schwerlich ein zweitesmal zu sehen. Die Delphine sind zwar stets voller Lust und Beweglichkeit und haben nichts als Possen im Kopf wie die Spielkätzchen, aber so ausgelassen wie an jenem Abend hatte ich sie noch nie gesehen, sie waren förmlich wie betrunken.

Als wir uns Sydney bis auf dreißig Meilen genähert hatten, kam das große elektrische Licht zum Vorschein, das auf einem der hohen Wälle angebracht ist. Aus dem winzigen Lichtfunken wurde allmählich eine Riesensonne, die das dunkle Firmament wie mit einem fernhin leuchtenden Schwert zerteilte.

Der Hafen von Sydney ist durch eine steile Felswand abgeschlossen, an welcher der neue Ankömmling auch nicht die kleinste Oeffnung bemerken kann. Der richtige Eingang liegt in der Mitte, ist aber so leicht zu übersehen, daß selbst Kapitän Cook vorübersegelte, ohne ihn zu finden; dicht daneben ist ein falscher, der jenem gleicht und ehemals bei Nacht dem Schiffer oft gefährlich geworden ist, als die Einfahrt noch keine Beleuchtung hatte. Auch eins der schrecklichsten Trauerspiele auf dem wilden, ruchlosen Meer, der denkwürdige Schiffbruch des ›Duncan Dunbar‹ entsprang aus dieser Ursache. Es war ein prächtiges und sehr beliebtes Segelschiff, welches von einem Kapitän befehligt wurde, der bei den Passagieren in hoher Gunst stand und sich des besten Rufes erfreute. In Sydney erwartete man die Rückkunft des Schiffes von England und zählte die Stunden bis zu seinem Eintreffen, denn es hatte eine große Menge Mütter und Töchter an Bord, die wegen der Erziehung der letzteren lange von den Ihrigen getrennt gewesen waren, und nun Freude und Leben in die verwaisten Heimstätten Sydneys zurückbringen sollten. In Australien und Indien, wo die Beziehungen zu dem Mutterlande so zahlreich sind, weiß man mehr als sonstwo was es heißt, wenn der Mensch Schiffe mit dem Liebsten, das er auf Erden hat, befrachtet und sie von den tückischen Winden – nicht vom Dampf – befördern lassen muß. Nur dort erfahren die Menschen, wie angstvoll das Warten ist und wie groß das Entzücken, wenn das Fahrzeug mit ihren Kleinodien in den sicheren Hafen einläuft und Furcht und Qual vorüber ist.

An Bord des ›Duncan Dunbar‹ waren die Heimkehrenden eifrig mit Vorbereitungen beschäftigt, als es zu dämmern begann, denn sie sollten ja, noch ehe der Tag zu Ende ging, mit ihren Lieben vereint sein. Frauen und Mädchen legten die Kleider ab, die sie unterwegs getragen hatten, und schmückten sich aufs beste – die armen Bräute des Todes! Aber, sei es nun, daß der Wind sich gelegt hatte oder die Entfernung falsch berechnet war – noch kam die Landzunge nicht in Sicht, als schon das Dunkel hereinbrach. Unter gewöhnlichen Verhältnissen würde der Kapitän wohl auf offener See geblieben sein, um erst den Morgen zu erwarten; aber da er die vielen flehenden Blicke sah und auf allen Gesichtern sich die bitterste Enttäuschung malte, mag ihn sein Mitgefühl bewogen haben, die schwierige Einfahrt trotz der Finsternis zu wagen. Schon siebzehnmahl war er in den Hafen von Sydney eingelaufen und glaubte seiner Sache ganz sicher zu sein. So steuerte er denn in gerader Linie auf die falsche Oeffnung los, die er für die richtige hielt. Als er seinen Irrtum erkannte, war es bereits zu spät. Das Schiff war rettungslos verloren, die hochgehende See riß es mit sich fort und schleuderte es auf die spitzen Klippen am Fuß der Felswand, daß es mit Krachen zerbarst und zersplitterte. Von der ganzen holden Schar liebreizender Frauen und Mädchen blieb auch nicht eine am Leben.

Jeder Fremde, welcher an der Unglücksstätte vorbeifährt, bekommt diese traurige Geschichte zu hören. Sie wird niemals veralten, wie vielen künftigen Geschlechtern man sie auch noch erzählen mag. Der namenlose Jammer, welchen sie in sich schließt, muß jedes Herz erschüttern.

Zweihundert Personen befanden sich an Bord, aber nur ein Matrose entging dem Tode. Eine ungeheure Woge warf ihn an die Felswand, wo er in halber Höhe auf einem schmalen Klippenvorsprung die Nacht über liegen blieb. Unter andern Umständen wäre er dort elend verschmachtet, da seine Auffindung undenkbar schien. Allein, als sich am andern Morgen die entsetzliche Nachricht verbreitete, daß der ›Duncan Dunbar‹ angesichts der Heimat gescheitert sei, strömten die Bewohner der Stadt scharenweise hinaus und spähten von der Felswand ins Meer. Da sah einer, der sich weit vorbeugte, den Mann, welcher durch ein Wunder dem Tode entronnen war. Man brachte Stricke herbei und das schier unmögliche Rettungswerk gelang. Der Matrose war ein Mensch mit praktischen Anlagen; er mietete einen Saal in Sydney und stellte sich dort für ein kleines Eintrittsgeld so lange dem Publikum aus, bis seine Einnahme den Ertrag der Goldfelder in jenem Jahre überstiegen hatte.

Wir fuhren ein, gingen vor Anker und schifften am andern Morgen unter manchem Ach und Oh der Bewunderung durch die Buchten und Krümmungen des schönen, geräumigen Hafens, der ein Wunder der Welt und das Herzblatt von Sydney ist. Daß die Bewohner stolz auf ihren Hafen sind und kaum Worte finden können, um ihrer Begeisterung Luft zu machen, ist sehr begreiflich. Ein heimgekehrter Bürger wollte wissen, was ich dazu sagte, und ich sprach ihm meine Gefühle nach besten Kräften aus, in der Hoffnung es würde ihm genügen. Herrlich, rief ich, wunderschön! Dann aber gab ich unwillkürlich Gott die Ehre. Der Bürger schien jedoch nicht zufrieden.

»Natürlich ist der Hafen schön,« sagte er, »allein damit ist noch nicht alles gesagt; Sydney gehört auch dazu, um die Schönheit vollkommen zu machen, beide zusammen vollenden erst das Ganze. Den Hafen hat Gott geschaffen, dagegen läßt sich nichts einwenden, aber Sydney ist ein Werk des Teufels.«

Ich hatte diesem, seinem Freunde, nicht zu nahe treten wollen und stammelte eine Entschuldigung. Daß Sydney dazu gehörte war ganz richtig; der Hafen an sich wäre nur halb so schön ohne die Stadt. Er hat etwa die Form eines Eichenblatts – in der Mitte eine breite Fläche des herrlichsten blauen Wassers und rechts und links schmale, tiefeinschneidende Buchten zwischen hohen, bewaldeten Landzungen, welche nach beiden Seiten abfallen wie Grabhügel. Auf dem Rücken ihrer Berge stehen hier und da prächtige Villen, halb im Laubwerk versteckt, die man mit Entzücken betrachtet, während das Schiff sich der Stadt nähert. Sydney erhebt sich auf einer Hügelgruppe und deren Ausläufern in wellenförmigen Linien, welche überall durch Türme, Kirchen und Prachtgebäude unterbrochen werden, die aus der Häusermasse hervorragen. Dadurch erhält erst der Gesamteindruck seinen großen malerischen Reiz.

Die schmalen Buchten, die sich, wie gesagt, sehr tief ins Land hineinerstrecken, winden sich hierhin und dorthin, bis in die verborgensten Winkel und wimmeln fortwährend von Vergnügungsbooten mit Gesellschaften, die auf Entdeckungsreisen aus sind, oder irgendwo Picknicks halten wollen. Zuverlässige Leute sagen, daß, wer diese Buchten alle durchschiffen will, eine Wasserfahrt von mindestens siebenhundert Meilen machen muß. Aber, es gibt hier zu Lande auch viele Lügner, die, wenn sie einmal im Zuge sind zu übertreiben, sich nicht scheuen, die Behauptung aufzustellen, daß die Meilenzahl doppelt so groß ist.

Einunddreißigstes Kapitel.

Einunddreißigstes Kapitel.

Laßt uns Adam, unserm Wohltäter, dankbar sein, daß er den ›Segen‹ des Müßiggangs von uns genommen und den ›Fluch‹ der Arbeit über uns gebracht hat.

Querkopf Wilsons Kalender.

Am 20. November erreichten wir Auckland und hielten uns einige Tage in dieser schönen, sehr hoch gelegenen Stadt auf; man hat dort einen Ausblick über das Meer, an dem man sich gar nicht satt sehen kann. Wir machten wundervolle Spazierfahrten mit Bekannten in der Umgegend. Von dem grasbewachsenen Kratergipfel des Mount Eden schweift das Auge über eine weite und wechselvolle Landschaft: dicht belaubte Wälder, grüne Hügel, blumige Wiesen und dahinter lange ebene Strecken, auf denen sich hier und da hohe, ausgebrannte Krater erheben. Weiterhin glänzen und funkeln blaue Buchten, und in traumhafter Ferne schimmern die Berge gespenstisch durch ihre Nebelschleier.

Gewöhnlich fährt man von Auckland aus nach Rotorua zu den berühmten heißen Seen und Springquellen, welche als große Merkwürdigkeit Neuseelands gelten; aber ich war nicht wohl genug, um den Ausflug zu unternehmen. Die Regierung hat dort ein Sanatorium errichtet, wo für den Touristen sowohl wie den Kranken aufs angenehmste gesorgt wird. Der daselbst angestellte Arzt drückt sich stets sehr mäßig aus, wenn er von dem Heilerfolg der Bäder bei Rheumatismus, Gicht, Lähmung und ähnlichen Uebeln spricht; dagegen preist er die Wirkung des Wassers als unvergleichlich in Fällen von Trunksucht. Der Trinker wird unfehlbar geheilt, selbst wenn die Krankheit bei ihm noch so chronisch geworden ist, ja, er verliert sogar die Begierde nach berauschenden Getränken für alle Zeiten. Sobald es nur erst allgemein bekannt sein wird, daß für die Opfer des Alkoholismus hier sichere Rettung zu finden ist, werden die Leute scharenweise aus Europa und Amerika herbeiströmen.

Diese ganze, wegen ihrer Thermalquellen berühmte Gegend Neuseelands umfaßt eine Landstrecke von über 600 000 Morgen oder etwa 1000 Quadratmeilen. Rotorua ist am besuchtesten; es bildet den Mittelpunkt des schönen, gebirgigen Seedistrikts und dient den Reisenden zum Standquartier bei ihren Ausflügen. Die Zahl der Kranken ist groß und wächst beständig. Rotorua ist das Karlsbad Australiens.

In Auckland wird auch der Kauri-Kopal verschifft, hauptsächlich nach Amerika. Man bringt durchschnittlich 8000 Tonnen des Jahrs zur Stadt. Unassortiert hat er einen Wert von 309 Dollars die Tonne; die feinsten Sorten erzielen aber oft einen Preis von 1000 Dollars. Das Harz kommt in Stücken vor, ist hart und glatt und gleicht dem Bernstein; auch ist es, wie dieser, hellgelb bis dunkelbraun. Unter den hellfarbigen Stücken hätte man einige für ziemlich gute Nachahmungen roher südafrikanischer Diamanten halten können, sie waren so wundervoll glänzend, glatt und durchsichtig. Der Kauri-Kopal dient zur Bereitung von Lack und Firnis, er stammt von der Kaurifichte und wird meist aus dem Boden gegraben, wo das Harz seit Jahrhunderten liegt, da viele von den Bäumen, aus denen es geflossen ist, der heutigen Vegetation nicht mehr angehören. Dr. Campbell in Auckland erzählte mir, er habe schon vor fünfzig Jahren eine Ladung nach England geschickt, aber ohne Erfolg. Niemand wußte etwas damit anzufangen und man verkaufte es für fünf Pfund Sterling die Tonne zum Feueranzünden.

*

26. November. 3 Uhr nachmittags abgesegelt. Der Hafen ist schön und ungeheuer groß; noch stundenweit hat man Land ringsumher. Der Tangariwa ragt empor – das ist der Berg, der, wie in Auckland allgemein behauptet wird, überall gleich aussieht, man mag ihn betrachten von welcher Seite man will. Ganz richtig – von welcher Seite man will – mit dreizehn Ausnahmen….

Herrliches Sommerwetter. In der Ferne tummelt sich eine große Schar Walfische. Der Staubregen, den sie emporspritzen, sieht zart und luftig aus in dem rosigen Schein der untergehenden Sonne oder wenn er sich abhebt gegen den dunkeln Hintergrund einer Insel, die im tiefblauen Schatten von Sturmwolken ruht… Zur Linken erhebt sich ein großer Felsblock mitten im Meer. Vor einiger Zeit stieß ein Schiff, das im Nebel zwanzig Meilen aus seinem Kurs gekommen war, bei voller Fahrt dagegen; 140 Menschen ertranken in den Wellen. Der Kapitän nahm sich auf der Stelle selbst das Leben, ohne sich erst zu besinnen. Mochte er schuld an dem Unfall sein oder nicht, er wußte, daß die Gesellschaft, der das Schiff gehörte, ihn jedenfalls sofort entlassen würde, um mit ihrer Sorge für die Sicherheit der Passagiere Reklame zu machen. Dadurch wurde es ihm aber fast unmöglich gemacht, seinen ferneren Lebensunterhalt zu verdienen.

*

27. November. Heute kamen wir bis Gisborne und ankerten in einer großen Bucht, eine Meile weit vom Ufer. Die See ging hoch und wir blieben an Bord. Ein kleiner Schleppdampfer, der vom Lande auf uns zufuhr, war ein Gegenstand atemlosen Interesses. Er klomm bis zum Gipfel einer Welle, schwankte dort einen Augenblick als ein grauer Schatten wie betrunken hin und her, in dem vom Sturm zerstäubten Wasser, tauchte plötzlich in die Tiefe und blieb so lange unsichtbar bis man ihn für verloren hielt; dann schoß er auf einmal wieder in ganz schräger Richtung empor, während das Wasser in Strömen vom Vorderdeck herabstürzte. So trieb es der Dampfer die ganze Zeit über, bis er unser Schiff erreicht hatte. In seinem Bauche befanden sich fünfundzwanzig Passagiere, die zu uns an Bord wollten – Männer und Frauen, meistens Mitglieder einer reisenden Schauspielertruppe. Die Mannschaft war auf Deck in Südwestern, wasserdichten Anzügen von gelbem Segeltuch und hohen Stiefeln. Das Deck stand so schräg wie eine Leiter und schwankte auf und ab; große Wellen sprangen fortwährend an Bord und rollten darüber hin. Wir befestigten ein langes Seil an der Raanocke, hingen einen höchst kunstlosen Korbstuhl daran und ließen ihn im weiten Himmelsraum wie einen Pendel auf gut Glück hin und her schaukeln. Im geeigneten Moment wurde er von geschickten Händen hinabgelassen und drüben fingen zwei Männer am Vorderdeck die gut gezielte Leine auf. Ein junger Bursche von unserer Mannschaft saß im Korbstuhl, um den weiblichen Passagieren herüber zu helfen. Sofort erschienen einige Damen aus der Kajüte, setzten sich ihm auf den Schoß, und wir zogen sie über uns in den Himmel hinauf. Einige Augenblicke warteten wir noch, bis das Schlingern des Schiffes sie herüberbrachte, dann ließen wir das Seil herab und erfaßten den Korb, als er eben das Deck erreichte. So brachten wir alle fünfundzwanzig an Bord und schafften fünfundzwanzig unserer eigenen Passagiere in den Schleppdampfer – darunter mehrere alte Damen und eine Blinde – noch dazu ohne den geringsten Unfall. Es war ein schönes Stück Arbeit.

Wir sind mit unserm Schiff sehr zufrieden, es ist hübsch und geräumig, auch alles darin bequem und gut in Ordnung. In einem Hotel kommt es wohl vor, daß man auf eine Ratte tritt, aber an Bord haben wir lange nichts von Ratten gespürt, außer vielleicht auf der ›Flora‹; aber da waren wir mit wichtigeren Dingen beschäftigt. Es ist mir aufgefallen, daß man nur noch auf Schiffen und in Hotels Ratten findet, wo die abscheulichen chinesischen Gongs gebraucht werden. Der Grund kann nur sein, daß die Ratten nicht nach der Uhr zu sehen verstehen, um zu erfahren, in welcher Tageszeit sie leben, und einen Ort fliehen, an dem sie nie wissen, wann das Essen fertig ist.

2. Dezember. Montag. Von Napier nach Hastings benutzten wir den Schnellzug, der in Neuseeland zweimal die Woche fährt. In Waitukurau war zwanzig Minuten Aufenthalt und wir nahmen einen Imbiß. Ich saß oben am Tisch, so daß ich die rechte Wand sehen konnte, während meine Frau, meine Tochter und Mr. Carlyle Smythe, mein Geschäftsführer, der Wand den Rücken zukehrten. Auf dieser Wand hingen einige Bilder ziemlich weit von mir, so daß ich sie nicht deutlich erkennen konnte, aber nach der ganzen Gruppierung der Gestalten nahm ich an, daß eins derselben die Ermordung von Napoleons des Dritten Sohn durch die Zulus in Südafrika darstellte. Ich unterbrach das Gespräch, welches sich eben um Poesie, Kohlköpfe und bildende Kunst drehte und wandte mich an meine Frau mit der Frage:

»Weißt du noch, wie die Nachricht in Paris ankam –«

»Daß der Prinz ermordet wäre?«

(Ich hatte genau diese Worte im Sinn gehabt.) »Welcher Prinz denn?«

»Napoleon – Lulu.«

»Wie kommst du eben jetzt darauf?«

»Ich weiß nicht.«

Höchst sonderbar! – Wir hatten uns auf keine Weise miteinander verständigt. Die Bilder waren nicht erwähnt worden und meine Frau konnte sie nicht sehen. Vor sieben Monaten waren wir nach einem mehrjährigen Aufenthalt von Paris abgefahren, um diese Reise zu unternehmen und meine Frau hätte an irgend eine Nachricht denken müssen, die in jüngst vergangener Zeit nach Paris gekommen war. Statt dessen dachte sie an ein Erlebnis bei unserm kurzen Besuch in Paris vor sechzehn Jahren.

Es war ein deutliches Beispiel von Gedankentelegraphie, von geistiger Wechselwirkung. Ich hatte die Idee aus meinem Hirn an sie telegraphiert. – Woher ich das so bestimmt weiß? – Nun einfach deshalb, weil es ein Irrtum war. Es ergab sich nämlich, daß jenes Bild weder die Ermordung Lulus darstellte, noch überhaupt etwas, das sich irgendwie auf Lulu bezog. Ich mußte ihr den Irrtum telegraphiert haben, denn außer in meinem Kopfe war er nirgends vorhanden.