Achtzehntes Kapitel.
Die Engländer kommen schon in der Bibel vor, wo es heißt: ›Selig sind die Sanftmütigen, denn sie werden das Erdreich besitzen.‹
Querkopf Wilsons Kalender.
Wenn wir bedenken, wie ungeheuer groß der Flächeninhalt des britischen Kaiserreichs ist, wie bedeutend seine Einwohnerzahl und sein Handel, so wird es uns schwer zu glauben, daß Australien und Ozeanien wirklich einen so hervorragenden Anteil an Englands Weltstellung haben, wie man versichert. Der Länderbesitz aller andern Mächte – außer Rußland – ist im Vergleich zum britischen Reich winzig klein, und es übertrifft selbst Rußland etwa um ein Viertel an Größe, was ich aus sicherer Quelle weiß. Großbritannien und China herrschen ungefähr über die gleiche Bevölkerungszahl; jedes dieser beiden Reiche hat 400 000 000 Untertanen. Da bleiben alle andern Mächte – auch Rußland – weit zurück.
Die vier Millionen Einwohner von Australien scheinen zwar nur ein Tropfen in dem kaiserlich britischen Meer von vierhundert Millionen Köpfen; allein, sie gewinnen sehr an Bedeutung, wenn man ihren Einfluß auf den britischen Welthandel in Betracht zieht. Englands jährliche Einfuhr und Ausfuhr wird auf drei Billionen Dollars geschätzt und davon soll mehr als ein Zehntel auf die Ausfuhr und Einfuhr zwischen Australien und England kommen. Daneben treibt Australien noch Handel mit anderen Staaten, wodurch ein jährlicher Ertrag von hundert Millionen Dollars erzielt wird, während der Umsatz innerhalb der Kolonien sich auf hundert und fünfzig Millionen beläuft.
In runden Zahlen ausgedrückt kaufen und verkaufen also die 4 000 000 Einwohner jährlich etwa Waren im Wert von 600 000 000 Dollars, wovon die Hälfte, wie behauptet wird, aus einheimischen Produkten Australiens besteht.
Die Ausfuhr der Produkte Indiens trägt jährlich eine Kleinigkeit über 500 000 000 Dollars ein, woraus sich Zahlen ergeben, die höchst verwunderlich sind, nämlich:
Indiens Produktion (300 000 000 Einwohner) $ 500 000 000.
Australiens Produktion (4 000 000 Einwohner) $ 300 000 000.
Demnach produziert der einzelne Inder an Ausfuhrartikeln durchschnittlich für $ 1.75 im Jahr; der einzelne Australier dagegen für $ 75!
Nach zuverlässigen statistischen Tabellen, welche von Sir Richard Temple und andern aufgestellt worden sind, beläuft sich die jährliche Produktion eines Inders für Ausfuhr und Verbrauch im Lande auf $ 7.50 oder $ 37.50 für eine Familie von fünf Personen; während die Durchschnittsproduktion einer ebenso großen Familie in Australien fast $ 1600 beträgt.
Es gibt doch wirklich nichts Ueberraschenderes in der Welt als Zahlen, wenn man erst einmal anfängt sich mit ihnen einzulassen.
Wir fuhren von Melbourne mit der Eisenbahn nach Adelaide, der Hauptstadt der großen Provinz Südaustralien – eine Reise von siebzehn Stunden. Unterwegs trafen wir mehrere Bekannte aus Sydney, u. a. einen Richter, der auf der Rundreise war und in Broken Hill, wo das berühmte Silberbergwerk ist, eine Gerichtssitzung halten wollte. Der Weg, den er einschlug, um in jene Gegend zu gelangen, schien uns etwas sonderbar gewählt: Broken Hill liegt dicht an der Westgrenze von Neusüdwales und Sydney in dessen äußerstem Osten; die Entfernung zwischen beiden Orten mag in gerader Linie etwa 700 Meilen betragen, während der Richter mehr als 2000 Meilen mit der Eisenbahn fahren mußte, nämlich von Sydney südwestlich bis Melbourne, dann nordwestlich nach Adelaide, von da zurück nordöstlich und wieder über die Grenze von Neusüdwales bis Broken Hill.
Die Sache erklärte sich jedoch auf sehr einfache Weise: Vor Jahren war die Welt plötzlich durch den fabelhaft reichen Silberfund von Broken Hill überrascht worden. Die Aktien hatten anfänglich nur ein paar Schillinge gegolten, allein im Handumdrehen stieg ihr Wert bis zu ganz unglaublichen Summen. Es war einer jener Fälle, wo die Köchin für ihren Monatslohn einen Anteilschein ersteht, und im folgenden Jahre ihrer Herrschaft das Haus abkauft und selbst hineinzieht; wo der Kutscher ein paar Aktien nimmt und nach Monatsfrist eine Bank eröffnet; wo der gemeine Matrose sich mit dem Preis, den ihn ein Zechgelage kosten würde, bei dem Unternehmen beteiligt und im nächsten Monat ein eigenes Handelsgeschäft gründet, mit dem er der Dampfschiffgesellschaft Konkurrenz macht. Kurzum, es entstand ein förmliches Entdeckungsfieber; urplötzlich strömten große Menschenmassen auf ein und derselben Stelle zusammen, und man mußte unverzüglich für ihre Bedürfnisse sorgen. Adelaide war in nächster Nähe und Sydney weit entfernt; da baute Adelaide natürlich eine kurze Eisenbahn über die Grenze, bevor Sydney noch Zeit hatte eine lange Linie zu bauen. Der ganze ungeheure Handelsprofit von Broken Hill wurde unwiderruflich nach Adelaide gelenkt, und für Sydney verlohnte es sich später überhaupt nicht mehr der Mühe, eine Bahn dorthin anzulegen. So steht denn Broken Hill unter der Gerichtsbarkeit von Neusüdwales, das seine Richter 2000 Meilen weit schicken muß – meist durch andere Provinzen – während Adelaide ruhig und ohne sich zu beklagen, sämtliche Dividenden einstreicht. Wir fuhren nachmittags um 4.20 ab und meist durch ebenes Land. Am Morgen kamen wir in den ›Scrub‹, so heißen die mit verkrüppeltem Buschwerk bewachsenen Gegenden, welche in den australischen Romanen eine so große Rolle spielen. Dort lauert der feindliche Eingeborene, schweift ungesehen umher, macht von Zeit zu Zeit plötzliche Ausfälle, beraubt und tötet den allzu sichern Ansiedler und schleicht ins Dickicht zurück, ohne eine Spur zu hinterlassen, welche der weiße Mann zu entdecken vermöchte. Dort verirrt sich auch die Heldin des Romanschreibers; alles Suchen nach ihr ist vergebens, sie wandert hierhin und dorthin, bis sie ermattet und bewußtlos niedersinkt. Die ausgesandten Retter gehen wenige Meter von der Stelle wo sie liegt an ihr vorüber, ohne ihre Nähe zu ahnen, und erst viel später findet irgend jemand zufällig ihr Gebeine und das hinterlassene Tagebuch, das sie noch mit Aufbietung ihrer letzten Kraft geschrieben hat. Eine verlorene Heldin im Scrub aufzuspüren, vermag keiner außer dem eingeborenen Pfadfinder, und der gibt sich nur damit ab, wenn es dem Romanschreiber in seinen Plan paßt. Der Scrub erstreckt sein grünes Dickicht viele Meilen weit nach allen Richtungen und sieht aus wie ein plattes Dach, in dem weder Riß noch Spalte ist, oder wie eine große Decke ohne Naht. Sich im Scrub zurecht zu finden ist ein Ding der Unmöglichkeit, er ist pfadlos wie eine Wasserwüste. Und doch sagt man, daß der Eingeborene verirrte Wanderer im Scrub, im Busch und in der Wüste aufspüren, ja ihnen selbst über nackte Felsen oder Sandbänke folgen kann, von denen die Fluten jede Spur eines Fußtritts hinweggespült haben.
Sowohl aus australischen Büchern, wie aus den mündlichen Schilderungen, die mir gemacht wurden, habe ich die Ueberzeugung gewonnen, daß der eingeborene Pfadfinder so viel Schlauheit, Scharfblick, Klugheit und Beobachtungsgabe besitzt, wie man es bei keinem Volke der Erde, weder unter Weißen noch Farbigen wiederfindet. In einer von der Regierung der Provinz Victoria veröffentlichten Beschreibung der Negerbevölkerung Australiens, heißt es unter anderm, daß der Eingeborene nicht nur an der Rinde des Baumes die schwache Spur entdeckt, welche das Opossum beim Klettern zurückläßt, sondern auch irgendwie zu erkennen vermag, ob die Spur von gestern oder erst von heute herrührt.
Man sagt, der Ansiedler A. habe einmal mit seinem Nachbar B eine Wette gemacht, daß ein Eingeborener B’s Kuh wiederfinden würde, wo und wie er sie auch verbergen möchte. B zeigte dem Eingeborenen die Fußspuren der Kuh und läßt ihn dann einschließen und bewachen. Hierauf führt er das Tier auf eine Straße, von der nach allen Seiten Kreuzwege abzweigen und die mehrmals wieder in der Runde zurückführt. Er wählt die schwierigsten Pfade aus, treibt das Tier öfters durch große Kuhherden, wo seine Spur unter den andern Rindern ganz verloren geht, und bringt die Kuh schließlich wieder nach Hause. Nun entläßt man den Eingeborenen aus seinem Gewahrsam, worauf er sofort im Kreise herumgeht und die Fußspuren aller Kühe solange untersucht, bis er die richtigen gefunden hat; dann folgt er den verschlungenen Wanderungen der Kuh, ohne sich beirren zu lassen und entdeckt sie zuletzt wirklich in dem Stall, wo B das Tier verborgen hat. Nun sage mir einmal jemand, wodurch sich die Spuren der einen Kuh von denen einer andern unterscheiden? Es muß irgend ein Unterschied vorhanden sein, sonst könnte der Eingeborene sein Kunststück nicht ausführen. Und wie merkwürdig, daß für den Abkömmling einer Rasse, von der viele behaupten, sie stehe auf der niedrigsten geistigen Stufe menschlicher Entwicklung, dieser wesenlose, schattenhafte Unterschied erkennbar ist, welchen weder ich, noch einer meiner Volksgenossen – selbst nicht der verstorbene Sherlock Holmes – imstande wäre aufzuspüren.