Viertes Kapitel

Als Nechludoff sich am nächsten Morgen ankleidete, brachte ihm der Diener eine Karte des Advokaten Fajnitzin, der sich selbst auf den Weg gemacht hatte, nachdem er sein Telegramm erhalten. Er fragte Nechludoff nach den Namen der Senatoren, vor denen die Sache zur Verhandlung gelangen sollte.

»Man möchte wahrhaftig glauben, sie wären absichtlich ausgesucht, um die verschiedenen Typen des Senators zu verkörpern,« rief er. »Wolff ist der Petersburger Beamte, Skoworosnikoff der gelehrte Jurist, und Be der praktische Jurist. Auf ihn können wir am meisten rechnen. Na, und wie steht’s mit der Begnadigungskommission?«

»Ich will eben zu dem Baron Worobjeff gehen. Gestern konnte ich nicht zu ihm gelangen.«

»Wissen Sie, warum dieser Worobjeff Baron ist?« fragte der Advokat als Antwort auf die ironische Betonung, mit der Nechludoff diesen fremden Titel »Baron« aussprach, der einem so durchaus russischen Namen beigefügt war. »Der Kaiser Paul hat diesen Titel seinem Großvater verliehen, der bei ihm Kammerdiener war. Da dieser Diener ihm einige Dienste intimen Genres erwiesen hatte, so ernannte ihn der Kaiser zum Baron, denn einen russischen Titel wagte er ihm nicht zu geben, das hätte zu viel Geschrei gegeben. Seitdem haben wir die Barone Worobjeff. Und man muß sehen, wie stolz der Kerl auf seinen Titel ist. Uebrigens ein Stockfisch ohnegleichen. Ich habe einen Wagen vor der Thür; soll ich Sie hinbringen?«

Auf der Freitreppe übergab der Portier Nechludoff ein Billet, das ein Diener eben für ihn gebracht. Es war von Mariette und lautete folgendermaßen:

»Um Ihnen gefällig zu sein, habe ich ganz gegen meine Grundsätze gehandelt und mich bei meinem Manne für Ihren Schützling verwendet. Die betreffende Person kann sofort freigelassen werden. Mein Mann hat an den Kommandanten geschrieben. Machen Sie mir doch jetzt einen »uneigennützigen« Besuch, Ich erwarte Sie. – M.«

»Wie?« rief Nechludoff; »diese Frau halten sie seit sieben Monaten in geheimem Gewahrsam, und jetzt entdecken sie, daß sie nichts verbrochen hat! Und es hat nur eines Wortes bedurft, um sie in Freiheit zu setzen!«

»Darüber dürfen Sie sich nicht wundern,« sagte der Advokat lächelnd. »Sie sollten sich lieber freuen, daß Sie in dieser Sache durchgedrungen sind!«

»Nein, ich mag thun, was ich will, dieser Erfolg erfüllt mich mit tiefer Bitterkeit. Ist es möglich, daß es so zugeht? Warum behielt man sie denn im Gefängnis?«

»Wenn Sie das ergründen wollen, dann werden Sie sich nur selbst Sorgen bereiten.«

Diesmal empfing der Baron Worobjeff. In dem ersten Zimmer, das Nechludoff betrat, saß ein junger Beamter mit ungeheuer langem Halse und stark hervortretendem Adamsapfel.

»Ihr Name?« fragte er Nechludoff.

Nechludoff nannte seinen Namen.

»Ach, ganz recht; der Baron haben eben von Ihnen gesprochen. Sie werden gleich empfangen werden.«

Der Beamte trat in das Zimmer im Hintergrunde und kam nach einer Minute in Begleitung einer schwarzgekleideten alten Dame, die ohne Unterbrechung weinte, wieder heraus.

»Treten Sie gefälligst ein,« sagte der junge Beamte zu Nechludoff und deutete auf die Thür von des Barons Arbeitszimmer.

Der letztere war eine magere, aber muskulöse Mittelfigur mit kurzgeschnittenen Haaren. Er saß an einem ungeheuren Schreibtisch und blickte wohlgefällig vor sich hin. Sein rotes Gesicht überflog ein wohlwollendes Lächeln, als er Nechludoff erblickte.

»Bin entzückt, Sie zu sehen; Ihre Mutter und ich, wir waren die besten Freunde. Ich habe Sie als Kind und später als Offizier gekannt. Na, setzen Sie sich und sagen Sie mir, womit ich Ihnen dienen kann!«

Nechludoff erzählte ihm Fedossjas Geschichte.

»Sehr gut, sehr gut; ich sehe schon, um was es sich handelt,« sagte der Greis. »Das ist in der That sehr rührend, – Haben Sie ein Gnadengesuch aufgesetzt?«

»Jawohl,« versetzte Nechludoff und zog ein Papier aus der Tasche. »Doch ich wollte Sie persönlich sprechen, um Sie zu bitten, diesem Falle Ihre besondere Aufmerksamkeit zu schenken.«

»Sie haben daran sehr recht gethan. Ich werde mich mit der Sache selbst beschäftigen. Die Geschichte ist wirklich sehr rührend,« fuhr der Baron mit der freundlichsten Miene fort. »Ich sehe die Sache förmlich vor mir. Diese Unglückliche war ein Kind, ihr Mann widerte sie durch seine Plumpheit an; dann haben beide bereut und sich gegenseitig in einander verliebt. Ja, ich werde mich mit der Angelegenheit selbst beschäftigen.«

»Der Graf Iwan Michaelowitsch hat mir übrigens versprochen, er würde ebenfalls …«

Doch kaum hatte Nechludoff diese Worte gesprochen, als sich der Gesichtsausdruck des Barons veränderte und er in kühlem Tone zu Nechludoff sagte:

»Geben Sie Ihr Gesuch doch im Bureau ab, und ich werde sehen, was sich thun läßt!«

Nechludoff verließ das Gemach und begab sich in die Bureaus, um sein Gesuch abzugeben. Auch hier sah er, wie im Senat, eine Menge Beamte, Angestellte und Aufseher, die alle auffallend sauber und höflich waren.

»Wie viele das sind, und wie wohlgenährt! wie glänzend, geschniegelt und gebügelt! Aber was haben sie wohl für einen Zweck?« fragte sich Nechludoff, während er sie betrachtete.

Der Mann, in dessen Händen das Schicksal der Gefängnisgefangenen lag, war ein alter General, der zwar in dem Rufe stand, ein großer Dummkopf zu sein, trotzdem aber die glänzendsten Diensterfolge aufwies. Er besaß eine große Menge von Orden, deren Insignien er übrigens zu tragen verschmähte, mit Ausnahme eines kleinen weißen Kreuzes, das in seinem Knopfloch hing. Er hatte sich dieses Kreuz im Kaukasus verdient, weil er unter seinem Befehle stehende junge russische Bauern gezwungen hatte, Tausende von Leuten aus dem Lande zu töten, die ihre Freiheit, ihre Häuser und ihre Familie verteidigten. Dann hatte er in Polen gedient, wo er junge russische Bauern gezwungen hatte, dieselben Handlungen zu begehen, was ihm neue Ehren eingebracht hatte; dann hatte er noch irgendwo anders gedient und sich dort in derselben Weise ausgezeichnet. Jetzt war er alt und abgespannt, und bekleidete den Posten eines Festungsinspektors. Er erfüllte die Pflichten seines Amtes mit unbeugsamer Strenge und hielt dieselben für die heiligste Sache von der Welt.

Die Pflichten seines Amtes bestanden darin, politische Gefangene beiderlei Geschlechts im geheimen in düstere Zellen einzusperren und sie derart zu behandeln, daß die Hälfte von ihnen unfehlbar in zehn Jahren starb; einige verloren den Verstand, andere wurden schwindsüchtig, und eine große Anzahl tötete sich, indem sie Hungers starben, sich mit einem Glasscherben die Adern öffneten oder sich an der Stange eines Fensters aufhingen.

Der alte General wußte das alles, und das alles passierte unter seinen Augen; doch diese Vorfälle regten ihn nicht mehr auf, als das Unglück, das der Blitz, die Ueberschwemmungen und andere Naturerscheinungen hervorbrachten. Das einzige, was ihn interessierte, war der Gehorsam gegen das ihm vorgeschriebene Reglement. Dieses Reglement mußte vor allen Dingen befolgt werden; die Folgen, die daraus entstanden, kümmerten ihn wenig. Einmal in der Woche besuchte der alte General nach der Vorschrift des Reglements sämtliche Zellen und fragte die Gefangenen, ob sie irgend eine Beschwerde vorzubringen hätten. Die Gefangenen führten sehr oft Beschwerde, er hörte sie ruhig an, ohne etwas zu erwidern, erledigte dieselben aber nie, denn er wußte im voraus, daß alle diese Beschwerden Dinge verlangten, die mit dem Reglement nicht im Einklang standen.

Als Nechludoff sich dem alten General vorstellte, saß dieser in einem kleinen Salon, dessen sämtliche Fenstervorhänge heruntergelassen waren, so daß man sich in vollständiger Dunkelheit befand. Er war eben damit beschäftigt, in Gesellschaft eines jungen Malers, des Bruders eines seiner Untergebenen, einen Tisch zum Klopfen zu bringen. Die dünnen und zarten Finger des jungen Künstlers berührten die dicken, runzligen und zum Teil verknöcherten Finger des alten Generals. Der Tisch war eben im Begriff, auf eine von dem General gestellte Frage zu antworten, und zwar lautete dieselbe, »ob die Seelen sich nach dem Tode wohl wiedererkennen«.

An diesem Tage sprach die Seele der Jeanne d’Arc aus dem Tische. Schon hatte sie gesagt: »Ja, die Seelen erkennen sich,« und hatte schon das folgende Wort zu diktieren angefangen, als sie plötzlich innehielt. Sie hatte von dem folgenden Wort bereits die ersten Buchstaben, ein p, ein o und ein s diktiert. Thatsächlich hatte sie innegehalten, weil der General wünschte, der folgende Buchstabe solle ein l werden, während der Künstler wollte, es würde ein v. Der General wünschte, Jeanne d’Arc solle sagen, die Seelen erkennen sich nach ( posl) ihrer Reinigung, der Künstler dagegen wollte Jeanne d’Arc sagen lassen, die Seelen erkennten sich nach dem Lichte ( po svitu), das ihnen entströmte.

Der General zog mit mürrischer Miene seine ungeheuren weißen Augenbrauen zusammen, betrachtete starr seine Hände und dachte noch immer, der Tisch würde sich entschließen, ein l zu schreiben; der Künstler dagegen, der das Gesicht der Ecke des Zimmers zuwandte, machte mechanisch mit seinen Lippen die zur Aussprache des Buchstabens v erforderliche Bewegung. Inzwischen übergab ein Soldat, der die Stelle des Kammerdieners bei dem alten General vertrat, dem letzteren Nechludoffs Karte. Der General, dem es sehr unangenehm war, gestört zu werden, zog die Brauen noch stärker zusammen; setzte dann nach einer minutenlangen Pause sein Lorgnon auf die Nase, las die Karte, die er mit ausgestreckten Armen hielt, erhob sich mit schmerzlicher Anstrengung, rieb sich lange die Lenden und Beine und sagte dann:

»Laß ihn in mein Kabinett treten.«

»Ew. Excellenz brauchen sich nicht zu beunruhigen, ich werde die Sache allein zu Ende bringen; ich fühle, wie das Fluidum wiederkehrt.«

»Es ist gut, bringen Sie es allein zu Ende,« versetzte der General in seinem strengen Tone und ging, mühselig seine alten, angeschwollenen Beine nachschleppend, in sein Kabinett.

»Freue mich, Sie zu sehen,« sagte er zu Nechludoff und deutete auf einen an seinem Schreibtisch stehenden Stuhl. »Sind Sie schon lange in St. Petersburg?«

Nechludoff versetzte, er wäre eben angekommen.

»Und der Fürstin, Ihrer Mutter, geht es noch immer gut?«

»Meine Mutter ist tot, Excellenz.«

»Verzeihen Sie, ich bin untröstlich. Wissen Sie, daß ich mit Ihrem seligen Vater zusammen gedient habe? Wir waren Freunde, Brüder. Und Sie, sind Sie noch im Dienst?«

»Nein, augenblicklich nicht.«

Der General schüttelte mißbilligend den Kopf.

»Ich habe eine Bitte an Sie zu richten, Herr General,« fuhr Nechludoff fort.

»Schön, worin kann ich Ihnen dienen?«

»Wenn meine Bitte Ihnen nicht annehmbar erscheinen sollte, so bitte ich jetzt schon um Entschuldigung; doch ich glaubte mich verpflichtet, sie vorzutragen.«

»Na, was wünschen Sie denn?«

»Unter den Ihrer Obhut anvertrauten Gefangenen befindet sich ein gewisser Gurkewitsch; seine Mutter bittet um die Erlaubnis, ihn sprechen und, wenn das unmöglich sein sollte, ihm doch wenigstens Bücher schicken zu dürfen.«

Der General hatte diese Bitte ohne das geringste Zeichen von Zustimmung oder Unzufriedenheit angehört und sich darauf beschränkt, den Kopf zu neigen und eine nachdenkliche Haltung anzunehmen. Thatsächlich dachte er aber gar nicht nach und interessierte sich für die Worte Nechludoffs absolut nicht, denn er wußte im voraus, daß das Reglement die Erlaubnis nicht zuließ. Deshalb hörte er nur aus Höflichkeit zu und erwiderte:

»Sehen Sie, das alles hängt nicht von mir ab. Was die Besuche anbetrifft, so werden die Bedingungen derselben durch ein kaiserliches Dekret geregelt. Was dagegen die Bücher anbelangt, so haben wir hier eine Bibliothek, und die Gefangenen haben das Recht, Bücher aus derselben zu entnehmen.«

»Ja, aber dieser Gurkewitsch möchte wissenschaftliche Werke haben und sich beschäftigen.«

»Glauben Sie doch das nicht, er will sich gar nicht beschäftigen; nur aus Insubordination verlangt er die Bücher.«

»Aber diese Unglücklichen müssen doch in ihrer traurigen Lage den Wunsch hegen, sich zu beschäftigen,« sagte Nechludoff.

»Sie beklagen sich stets,« sagte der General; »wir kennen sie.«

Er sprach immer von »ihnen«, wie von einer ganz besonderen Menschenrasse.

»Und tatsächlich haben sie hier Bequemlichkeiten, wie Sie sie in anderen Festungen vergeblich suchen würden,« fuhr er fort.

Darauf begann er, diese Bequemlichkeiten ausführlich zu beschreiben, und wenn man ihn hörte, konnte man glauben, die Gefangenen würden nur zu dem Zweck in die Festung eingesperrt, um ihnen einen angenehmen Aufenthalt zu verschaffen.

»Früher behandelte man sie allerdings sehr streng, doch jetzt werden sie so gut wie nur möglich behandelt. Sie bekommen drei Gerichte zu essen, und darunter immer eine Fleischspeise: Cotelettes oder Hackfleisch. Sonntags geben wir ihnen sogar ein Gericht mehr, eine Zwischenspeise. Wollte Gott, daß sich ganz Rußland eines Tages so wie sie ernähren könnte.«

Wie alle alten Leute hielt der General, wenn er sich einmal in einen Gegenstand festgebissen hatte, nicht mehr auf und wiederholte sich immer aufs neue.

»Was die Bücher anbetrifft, so stellen wir ihnen religiöse Werke und auch alte Zeitungen zur Verfügung. Wir haben eine sehr gut ausgestattete Bibliothek. Aber sie lesen nur selten. Zuerst thun sie allerdings so, als wenn sie sich für die Lektüre interessierten; doch nach kurzer Zeit geben sie die Bücher zurück, ohne sie nur angerührt zu haben. Auch schreiben können sie; wir geben ihnen Schiefertafeln, damit sie zu ihrem Vergnügen und Zeitvertreib darauf schreiben können. Sie können schreiben, auslöschen und wieder schreiben, aber auch das thun sie nicht. Nein, nein, nur in der ersten Zeit denken sie daran, sich zu beschäftigen; später werden sie fett und immer bequemer und fühlloser.«

Nechludoff hörte diese heisere Stimme an, betrachtete die schwerfälligen Glieder, die unter den ungeheuren Augenbrauen angeschwollenen Lider, den kahlen Schädel, und das kleine weiße Kreuz im Knopfloch; und wieder erkannte er, wie unnütz es war, einem solchen Menschen irgend etwas zu erklären.

Er erhob sich und verbarg mit großer Mühe das Gemisch von Abscheu und Mitleid, das ihm dieser gräßliche Greis einflößte. Diesem dagegen war es ganz angenehm, dem Sohne seines alten Freundes die Leviten lesen zu können.

»Adieu, mein Kind,« fuhr er fort. »Nehmen Sie das, was ich Ihnen gesagt, nicht übel auf, ich sage es Ihnen aus reiner Freundschaft; doch kümmern Sie sich nicht um unsere Gefangenen. Bilden Sie sich nur nicht ein, daß es Unschuldige unter ihnen giebt! Alle, die einen wie die andern, sind elende Verbrecher, und wissen, was sie wert sind … Und dann glauben Sie mir, treten Sie wieder in den Dienst, der Kaiser bedarf aller seiner Leute und das Vaterland auch. Denken Sie doch nur, was passieren würde, wenn ich und alle Leute unseres Standes nicht mehr dienen wollten.«

Nechludoff stieß einen Seufzer aus, verneigte sich sehr tief, schüttelte dem Greise die grobe, knochige Hand und verließ das Zimmer.

Als der General wieder allein war, rieb er sich lange Zeit die Hüften und schleppte sich wieder in den Salon, wo der junge Künstler während seiner Abwesenheit die vom Geiste Jeanne d’Arcs diktierte Antwort niedergeschrieben hatte. Der General las durch sein Lorgnon: »Sie erkennen einander an dem Lichte, das ihrem Astralkörper entströmt.«

»Ha,« rief der General, heftig mit den Augen blinzelnd; doch plötzlich erfaßte ihn ein Zweifel.

»Dieses Licht ist also nicht für alle gleich?« fragte er, legte von neuem seine Hand auf die des Künstlers und ließ sich neben dem kleinen Tische nieder.

Als Nechludoff auf die Freitreppe getreten war, rief er seinen Kutscher.

»Ach, gnädiger Herr, wie man sich hier langweilt,« sagte der Kutscher, »ich wäre beinahe, ohne auf Sie zu warten, fortgefahren.«

»Ja, man langweilt sich hier wirklich,« versetzte Nechludoff seufzend, setzte sich in den Wagen und versuchte sich zu zerstreuen, indem er das Spiel der grauen Wolken am Himmel und die glitzernden Wasser der Newa bewunderte, die von Barken und Dampfschiffen durchfurcht wurde.

Am nächsten Tage, einem Mittwoch, sollte der Fall der Maslow untersucht werden, und Nechludoff kam frühzeitig in den Senat. Vor dem Eingangsthor traf er mit dem Advokaten zusammen, der auch eben angekommen war. Zusammen stiegen sie die ungeheure, feierliche Treppe bis zum zweiten Stock hinauf. Im ersten Zimmer, das sie betraten, nahm ihnen ein Nuntius ihre Stöcke und Mäntel ab und sagte ihnen, die vier Senatoren wären schon da, der letzte wäre eine Minute vor ihnen gekommen. Fajnitzin, der Frack und weiße Kravatte trug, ließ Nechludoff in das Nebenzimmer treten, an dessen Wänden große Schränke von etwas außergewöhnlicher Form standen. Ein Greis von patriarchalischem Aussehen befand sich dort in diesem Augenblick, ein großer Mann mit weißen Haaren; zwei Diener halfen ihm ehrfurchtsvoll den Mantel ausziehen, dann wandte er sich einem der Schränke zu, in dem Nechludoff ihn plötzlich verschwinden sah.

Indessen hatte Fajnitzin einen seiner Kollegen, der ebenfalls Frack und weiße Kravatte trug, bemerkt, lief auf ihn zu, und Nechludoff hatte volle Muße, die andern Personen die sich im Saale befanden, zu betrachten. Es waren etwa 15 Männer und zwei Damen anwesend, die eine jung, mit einem Lorgnon, die andere schon mit grauen Haaren. An diesem Tage sollte ein Preßbeleidigungsprozeß untersucht werden, daher dieser Zulauf eines Publikums, das sich gewöhnlich zu den Sitzungen des Kassationshofes nicht drängte.

Der Nuntius, ein schöner Mann mit rotem Gesicht, der eine imposante Uniform trug, näherte sich Fajnitzin, um ihn zu fragen, in welcher Angelegenheit er plädieren wolle. Während er die Antwort des Advokaten auf ein Papier notierte, öffnete sich die Thür des Schrankes, und Nechludoff sah den Greis mit dem patriarchalischen Aussehen heraustreten; derselbe trug aber jetzt nicht Jacket und graue Pantoffeln wie vorher, sondern hatte vielmehr seine Kleider gegen eine buntscheckige Uniform vertauscht, die ihm das Aussehen eines Riesenvogels gab. Diese Verkleidung mußte ihm übrigens peinlich sein, denn er verließ den Saal im Laufschritte.

»Das ist Be, ein respektabler Mann,« sagte der Advokat zu Nechludoff, und fing an, den Fall, der eben zur Verhandlung gelangte, zu erklären.

Kurz darauf wurde die Sitzung eröffnet, und mit dem übrigen Publikum trat auch Nechludoff in den Sitzungssaal, der weniger groß und einfacher ausgestattet als der des Schwurgerichtshofes, aber sonst in derselben Weise eingerichtet war. Dieselbe Trennung zwischen Publikum und Richter, dieselben Bilder an den Wänden; und als der Nuntius meldete: »Der Gerichtshof!« erhoben sich alle, um die Senatoren zu begrüßen, die sich in großer Uniform an den Tisch setzten und eine möglichst feierliche Miene annahmen.

Es waren vier Senatoren; zuerst Nikitin, ein großer, glattrasierter Mann mit dünnem Gesicht und stählernen Augen, der das Amt des Präsidenten versah; dann Wolff, der frisch rasiert war und seine schönen weißen Hände zeigte; dann Skoworodnikoff, ein kleiner, dicker und schwerfälliger alter Mann, dessen Gesicht von den Blattern ganz zerfressen war, und endlich Be, der Greis mit dem patriarchalischem Aussehen. Hinter den Senatoren traten der Aktuar und der Staatsanwalt auf die Estrade; der letztere ein noch junger, magerer Mann mit dunkler Gesichtsfarbe und tieftraurig blickenden Augen. Trotz des seltsamen Kostüms, das er trug, erkannte Nechludoff sofort in ihm einen seiner besten Freunde von der Universität.

»Heißt dieser Staatsanwalt nicht Selenin?« fragte er seinen Advokaten, der sich auf den für das Publikum bestimmten Bänken neben ihn gesetzt hatte.

»Ja, was weiter?«

»Ich kenne ihn genau, er ist ein bedeutender Mensch.«

»Und ein außergewöhnlich hervorragender Staatsanwalt, sehr thätig und bereits sehr einflußreich. An ihn hätten Sie sich wenden müssen,« sagte der Advokat.

»O, der wird einzig und allein nur nach seinem Gewissen handeln,« sagte Nechludoff, der sich an die hervorragenden Eigenschaften der Milde, Rechtlichkeit und vornehmen Gesinnung seines früheren Mitschülers erinnerte.

»Uebrigens wäre es jetzt auch zu spät,« erwiderte Fajnitzin und hörte wieder aufmerksam die weitere Diskussion des Falles mit an.

Auch Nechludoff hörte zu und suchte eifrig zu begreifen, was sich da vor ihm abspielte; doch von neuem wurde er daran dadurch verhindert, daß man, anstatt den eigentlichen Prozeß zu besprechen, die ganze Verhandlung auf die Nebenumstände leitete. Der Prozeß hatte einen Zeitungsartikel zur Grundlage, in welchem die Schwindeleien des Präsidenten einer Aktiengesellschaft aufgedeckt worden waren. Die Hauptfrage wäre gewesen, ob dieser Präsident seine Mandaten wirklich bestahl, und wie man in diesem Falle diesen Diebstählen ein Ende machen konnte. Man stritt aber einzig und allein um die Frage, ob der Zeitungsredakteur nach einem bestimmten Paragraphen das Recht hatte, den Artikel zu drucken und ob er, wenn er nicht das Recht hatte, durch die Drucklegung eine Beleidigung oder eine Verleumdung oder eine verleumderische Beleidigung begangen hatte.

Nur zweierlei fiel Nechludoff auf; er beobachtete zuerst, daß Wolff, der ihm einige Tage vorher erklärt hatte, der Senat beschäftige sich nur mit den in der Verhandlung begangenen Formfehlern, mit großer Wärme die den Prozeß selbst betreffenden Argumente anrief, um die Verurteilung des Zeitungsredakteurs annullieren zu lassen; er beobachtete ferner, daß Selenin, der gewöhnlich so kühl war, die entgegengesetzte These mit gleicher Wärme aufrecht erhielt; ja, er glaubte sogar, bei dieser Wärme des Staatsanwalts eine gewisse Feindseligkeit Wolff gegenüber zu bemerken, der schließlich wohl einen ähnlichen Eindruck empfangen mußte, denn bei einer Bemerkung Selenins zitterte er, errötete und erwiderte kein Wort mehr.

Nachdem die Diskussion beendet war, zogen sich die Senatoren zur Beratung zurück. Der Nuntius machte Fajnitzin darauf aufmerksam, daß der Fall der Maslow in einigen Augenblicken zur Verhandlung gelangen würde.

Sobald die vier Senatoren in ihrem Beratungszimmer Platz genommen hatten, begann Wolff mit vieler Wärme die Gründe auseinanderzusetzen, weshalb man das gegen den Zeitungsredakteur gefällte Urteil kassieren müsse.

Der Präsident, ein schon im allgemeinen wenig wohlwollender Mann, war an diesem Tage ganz besonders schlecht aufgelegt. Schon während der Fall in öffentlicher Sitzung verhandelt wurde, hatte er sich seine feste Meinung gebildet und blieb jetzt in seine Gedanken versunken, ohne auf Wolff zu hören. Seine Gedanken wandten sich fortwährend der Thatsache zu, daß er am vorigen Tage in seinen Memoiren erzählt, wie Weljanoff und nicht er zu einem Posten ernannt worden war, um den er sich seit langer Zeit beworben hatte. Dieser Präsident Nikitin war im tiefsten Innern davon überzeugt, daß seine Meinung über die verschiedenen hohen Beamten, die kennen zu lernen er Gelegenheit gehabt, ein höchst wichtiges Dokument für die Geschichte bilden würde. In dem Kapitel, das er am vorigen Tage geschrieben, beurteilte er mit äußerster Strenge das Verhalten einiger dieser hohen Beamten, die ihn, wie er sich ausdrückte, verhindert hatten, Rußland vor dem Untergang zu retten, was einfach sagen wollte, sie hatten ihn verhindert, ein höheres Gehalt zu erheben; jetzt fragte er sich, ob er sich auch klar genug ausgedrückt, damit die Nachwelt das alles einmal von einem ganz neuen Gesichtspunkte aus beurteilen konnte.

»Gewiß, gewiß,« gab er Wolff zur Antwort, wenn dieser sich an ihn zu wenden schien, hörte aber nicht ein Wort von dem, was jener sagte.

Auch Be hörte nichts von dem, was Wolff sprach. Mit vertiefter Miene zeichnete er Wappen auf ein vor ihm liegendes Papier. Dieser Be war ein Liberaler der alten Klasse. Noch immer hegte und pflegte er die Tradition der Schule von 1860, und nur seine politischen Meinungen ließen ihn von seiner Unparteilichkeit abweichen. So wollte er auch in dem Verleumdungsfalle nichts weiter sehen, als einen Angriff auf die Freiheit der Presse. Als Wolff zu sprechen aufgehört, erhob der Greis einen Augenblick den Kopf, setzte seine Ansicht in einigen klaren Worten auseinander, senkte seinen weißen Kopf von neuem und fing wieder an, Wappen zu zeichnen.

Skorowodnikoff, der Wolff gegenüber saß und die ganze Zeit damit zubrachte, seine Schnurrbarthaare in den Mund zu stecken, unterbrach sich einen Augenblick bei dieser Beschäftigung und erklärte, in Ermanglung eines jeglichen Formfehlers erscheine ihm das Urteil zur Kassation nicht geeignet. Der Präsident stimmte dieser Ansicht bei, und das Urteil wurde infolgedessen aufrecht erhalten. Wolff war wütend, um so mehr, als er aus mehreren Anspielungen bei seinen Kollegen, wie beim Staatsanwalt Zweifel an seiner Uneigennützigkeit herausgemerkt hatte. Doch als Mann comme il faut verstand er es, seine schlechte Laune zu verbergen, nahm sofort ein anderes Aktenstück zur Hand und fing an, die auf den Fall Maslow bezüglichen Dokumente vorzulesen. Seine drei Kollegen klingelten und bestellten sich Thee und unterhielten sich dann über ein Ereignis, das sich mit dem Duell Kamensky in die Aufmerksamkeit von ganz Petersburg teilte. Ein höchst bedeutender Beamter, Abteilungschef in einem Ministerium, war unter der Anklage eines Sittlichkeitsverbrechens verhaftet worden.

»Gräßlich!« sagte Be in einem Tone des Ekels.

»Was finden Sie denn daran so gräßlich?« fragte Skoworodnikoff, während er mit der Zunge die Cigarette befeuchtete, die er sich eben gewickelt hatte, »Ich habe in diesen Tagen eine Studie eines deutschen Schriftstellers gelesen, der verlangt, die Ehe eines Mannes mit einem anderen Manne solle als gesetzlich angesehen werden.«

»Nicht möglich?!« rief Be.

»Ich werde Ihnen den Artikel nächstens mitbringen,« versetzte Skoworodnikoff und zitierte ohne Stocken ganze Sätze aus dem Artikel, dessen Titel, Datum und Erscheinungsort er außerdem nannte.

»Man sagt, er solle irgendwo nach Sibirien als Gouverneur geschickt werden,« sagte Nikitin.

»Das wäre der Gipfel! Ich sehe schon, wie der Ex-Priester ihm mit seinen ganzen Klerus entgegenzieht!« rief Skoworodnikoff, stieß einige Züge aus seiner Cigarette und fing wieder an, seine Barthaare zu kauen.

Jetzt trat der Nuntius in das Beratungszimmer und sagte den Senatoren, der Advokat Fajnitzin wünsche der Verhandlung über die Berufung der Maslow beizuwohnen.

»Diese Sache Maslow ist ein ganzer Roman,« sagte Wolff und erzählte seinen Kollegen, was er von dem Verhältnis Nechludoffs zur Maslow wußte.

Die Senatoren, die Eile hatten, fortzukommen, hätten diese Angelegenheit viel lieber unter sich, im Handumdrehen, erledigt, doch das Ersuchen des Advokaten konnte anstandshalber nicht zurückgewiesen werden; sie entschlossen sich daher, ihr Beratungszimmer zu verlassen und in den öffentlichen Sitzungssaal zurückzukehren.

Wieder entwickelte Wolff mit seiner Flötenstimme die Annullierungsgründe des Urteils; wieder that er es mit offenkundiger Parteilichkeit und ließ dabei seinen Wunsch durchblicken, das Urteil möge kassiert werden.

»Haben Sie noch etwas zu bemerken?« fragte der Präsident, sich zu Fajnitzin wendend.

Fajnitzin erhob sich, reckte sich in seiner ausgeschnittenen Weste auf und begann, Punkt für Punkt mit bemerkenswerter Klarheit und Schärfe zu beweisen, daß die Schwurgerichtsverhandlung sechs, dem Gesetze zuwiderlaufende Punkte ergeben habe; dann erlaubte er sich, der Sache selbst mit eigenen Worten zu Leibe zu gehen, um die Zusammenhangslosigkeit und augenscheinliche Ungerechtigkeit des Urteils des Schwurgerichtshofes zu beweisen. Nach dieser in gleichzeitig ehrerbietigem und festem Tone gesprochenen Rede schien die Annullierung des Urteils unvermeidlich, und Nechludoff war um so mehr überzeugt, er werde seine Sache gewinnen, als ihm der Advokat beim Sprechen befriedigt zugelächelt hatte. Doch ein Blick auf das Gesicht der Senatoren bewies ihm, daß Fajnitzin nur allein lächelte und entzückt war. Die Senatoren und der Staatsanwalt lächelten keineswegs und waren durchaus nicht entzückt; sie machten das gelangweilte Gesicht von Männern, die unnütz ihre Zeit verloren, und alle schienen dem Advokaten zu sagen: »Sprich du nur immerhin! wir haben noch ganz andere wie dich gehört!«

Sobald Fajnitzin mit Sprechen aufgehört, erteilte der Präsident dem Staatsanwalt das Wort; dieser aber beschränkte sich auf die Erklärung, die verschiedenen, angeführten Anullierungsgründe wären nicht wichtig und das Urteil müsse bestehen bleiben; darauf erhoben sich die Senatoren und gingen in ihr Beratungszimmer.

Hier teilten sich die Ansichten von neuem. Wolff war für die Annullierung; Be, der der einzige war, der sich die Natur des Falles klargelegt, sprach in demselben Sinne und entwarf seinen Kollegen ein treffendes Bild von der mangelhaften Intelligenz der Geschworenen und der Nachlässigkeit der Richter. Nikitin dagegen, der stets Anhänger des strengen Gesetzes war, stimmte gegen die Annullierung. Alles hing daher von Skoworodnikoffs Stimme ab. Dieser erklärte sich dagegen, und zwar nur, weil ihn der Entschluß Nechludoffs, sich aus Pflichtgefühl mit der Maslow zu verheiraten, im höchsten Grade empört hatte.

Dieser Skoworodnikoff war Materialist und Darwinianer; jede Kundgebung des Pflichtgefühls und noch mehr des religiösen Gefühls wirkte auf ihn nicht nur wie eine empörende Albernheit, sondern auch wie eine persönliche Beleidigung. Darum erklärte er, ohne sich im Kauen seiner Barthaare zu unterbrechen, er sähe in der Sache nichts Gesetzwidriges und die zur Kassation angeführten Gründe wären unzureichend.

»Aber das ist ja entsetzlich!« rief Nechludoff, nach der Verlesung des Urteils auf den Advokaten zugehend. »Eine offenkundig ungerechte Verurteilung! Und diese Leute bestätigen sie unter dem Vorwande, sie enthielte keinen Formfehler.«

»Das ist bei ihnen Voreingenommenheit!« versetzte der Advokat.

»Und auch Selenin war gegen die Annullierung! Das ist entsetzlich,« wiederholte Nechludoff. »Was jetzt thun?«

»Ein Gnadengesuch einbringen! Reichen Sie es selbst ein, während Sie hier sind! Ich werde es Ihnen aufsetzen.«

In diesem Augenblick trat der Senator Wolff mit allen seinen Kreuzen auf seiner Uniform in den Saal, näherte sich Nechludoff und sagte, seine schmalen Schultern zuckend:

»Was thun, mein werter Fürst? Die Annullierungsgründe reichten nicht aus!«

Darauf trat er schnell in einen der Schränke, um sich umzukleiden, hinter Wolff kam Selenin, der seinen früheren Freund sofort erkannte.

»Dich erwartete ich nicht, hier zu treffen!« sagte er zu ihm, mit den Lippen lächelnd, während seine Augen ihren traurigen Ausdruck beibehielten.

»Ich wußte nicht, daß du Ober-Staatsanwalt bist!«

»Staatsanwalt,« verbesserte Selenin. »Und was thust du hier?«

»Hier? Ich kam in der Hoffnung, hier Gerechtigkeit und Mitleid für ein ungerecht verurteiltes Weib zu finden,«

»Was für ein Weib?«

»Nun, das, das ihr eben von neuem verurteilt habt.«

»Ach so, die Maslow!« erinnerte sich Selenin. »Ihre Berufung war nicht begründet.«

»Nicht um ihre Berufung handelt es sich, sondern um sie selbst. Sie ist unschuldig, und man bestraft sie ohne Grund.«

Selenin seufzte.

»Ja, das ist möglich, aber …«

»Das ist nicht nur möglich, es ist gewiß!«

»Woher weißt du das?«

»Ich gehörte zu den Geschworenen, die sie verurteilt haben, und weiß, daß wir in unserer Urteilsfällung einen Irrtum begangen haben.«

Selenin dachte einen Augenblick nach und fuhr fort:

»Du hättest gleich auf den Irrtum aufmerksam machen müssen.«

»Das habe ich gethan!«

»Man hätte das ins Protokoll aufnehmen sollen! Das wäre ein Grund zur Annullierung gewesen.«

»Aber die Prüfung des Falles bewies schon allein zur Genüge, daß das Urteil der Geschworenen widersinnig war!« sagte Nechludoff.

»O, darum hat sich der Senat nicht zu kümmern! Wenn er sich erlaubte, ein Urteil im Namen der Gerechtigkeit zu kassieren, so würde er sich nicht allein bald der Gefahr aussetzen, die Ungerechtigkeit wachsen zu sehen,« versetzte Selenin, indem er an Wolff und den vorher verhandelten Fall dachte, »sondern die Entscheidungen der Geschworenen würden ihre ganze Daseinsberechtigung verlieren.«

»Ich weiß nur, daß dieses Weib unschuldig ist, und daß es jetzt jede Hoffnung verloren hat, ihrer ungeheuerlichen Strafe zu entgehen. Der höchste Gerichtshof hat die Ungerechtigkeit bestätigt!«

»Aber nicht doch, er hat sie nicht bestätigt, denn er hatte sich darum ja gar nicht zu kümmern!« wiederholte Selenin mit einer gewissen Ungeduld in der Stimme, dann fügte er mit augenscheinlichem Verlangen, den Gesprächsstoff zu wechseln, hinzu: »Man hatte mir gestern gesagt, du wärest hier. Die Gräfin Katharina Iwanowna hat mich neulich abend eingeladen, bei ihr den neuen Propheten zu hören. Ich wäre hingegangen, hätte ich mir denken können, du würdest da sein.«

»Ich war auch da, bin aber angeekelt fortgegangen!«

»Weshalb angeekelt? Es ist auf jeden Fall die Kundgebung eines religiösen Gefühls, so seltsam und verroht dieselbe auch ist!«

»Ach, warum nicht gar! Eine ungeheuerliche Tollheit ist es,« erklärte Nechludoff.

»Aber nicht doch, nicht doch! Das einzige Seltsame und Häßliche dabei ist, daß wir mit den Lehren der Kirche so wenig vertraut sind, daß wir das als etwas Neues betrachten, was nur die Erklärung der Grundlehren unseres Glaubens ist,« sagte Selenin in verlegenem Tone, denn er erinnerte sich, daß er einst vor Nechludoff ganz andere Ideen ausgesprochen hatte.

Nechludoff betrachtete ihn mit großer Aufmerksamkeit, in die sich eine gewisse Ueberraschung mischte. Selenin hielt seinen Blick aus, doch Nechludoff glaubte auf dem Grunde seiner traurigen Augen ein leises Mißtrauen zu bemerken.

»Uebrigens sprechen wir noch darüber,« sagte Selenin, nachdem er dem Nuntius ein Zeichen gegeben, er habe mit ihm zu sprechen – »denn wir müssen uns um jeden Preis wiedersehen. Du triffst mich stets zur Dinerstunde zu Hause.«

Er nannte Nechludoff seine Adresse und schüttelte ihm liebevoll die Hand; dann fügte er, bevor er sich entfernte, hinzu: »Ach, wie viel Wasser ist seit unserer letzten Unterredung die Brücken hinuntergeflossen!«

»Ja, ich werde dich besuchen, wenn ich kann,« versetzte Nechludoff. Doch im Grunde seines Herzens fühlte er, daß in dieser kurzen Begegnung aus einem der Menschen, die er am meisten auf der Welt liebte und achtete, auf immer ein für ihn Fremder, ja fast ein Feind geworden war.

Neuntes Kapitel

Einer der beiden Gefangenen, die eben eingetreten waren, war ein noch junger, kleiner und trockener Mann mit kurzem Pelz und hohen Stiefeln. Er ging mit leichtem und raschem Schritte, trug in jeder Hand eine große Kanne mit kochendem Wasser und hielt unter jedem Arm ein in eine Serviette gewickeltes Brot.

»Ah, da ist ja auch wieder unser Fürst,« sagte er und setzte die Theekannen zu den Tassen, die die Rantzeff sorgfältig ausgewaschen hatte. »Wir haben ganz großartige Sachen gekauft,« fuhr er fort, nachdem er seinen Pelz ausgezogen und über die Köpfe der andern hinweg in einen Winkel des Zimmers geworfen hatte, in welchem sein Bett stand, »Markel bringt euch Milch und Eier mit. Ein wahres Festmahl, was! Und Emilja wird uns das alles servieren und es mit ihrer ästhetischen Sauberkeit noch verschönen,« fügte er mit einem an die Rantzeff gerichteten Lächeln hinzu.

Die ganze äußere Erscheinung dieses Mannes, seine Bewegungen, der Ton seiner Stimme, sein Blick, alles drückte bei ihm ein Gemisch von Mut und Fröhlichkeit aus. Dagegen hatte sein Gefährte ein düsteres und trauriges Aussehen. Auch er war ein Mann von kleiner Gestalt, doch knochig, mit einem grauen Gesicht und vorstehenden Kiefern. Er trug einen alten wattierten Mantel und Galoschen über den Stiefeln. Als er den Korb und den Topf abgesetzt, den er in der Hand hielt, begrüßte er Nechludoff sehr kühl mit einem Kopfnicken, indem er seine großen grünen Augen auf ihn richtete.

Diese beiden politischen Gefangenen stammten aus dem Volke. Der erste, ein gewisser Nabatoff, war ein Bauer; der andere, der Markel hieß, ein Fabrikarbeiter. Doch während ersterer seit fünf Jahren Revolutionär geworden war, war es Nabatoff schon fast seit seiner Kindheit. In der Schule seines Dorfes hatte er solche Anlagen gezeigt, daß man ihn aufs Gymnasium geschickt hatte; und auch hier hatte er wieder die ersten Plätze eingenommen. Er hatte es mit einer goldenen Medaille verlassen; doch anstatt dann die Universität zu besuchen, hatte er sich entschlossen, zum Volke zurückzukehren, denn er hielt es für seine Pflicht, das, was er gelernt, mit seinen Brüdern zu teilen. Er hatte sich in seinem Dorfe zum Schreiber ernennen lassen, hatte den Bauern allerlei Bücher geliehen oder ihnen vorgelesen, eine Art gegenseitiger Unterstützungskasse unter ihnen gegründet, und war bald verhaftet worden. Man hatte ihn, nachdem er acht Monate im Gefängnis gesessen, wieder freigelassen, doch von nun an hatte die Polizei ein Auge auf ihn. Kaum war er indessen in Freiheit gesetzt, als er in ein anderes Gouvernement gezogen war, wo er sich in einem Dorfe zum Schulmeister ernennen lassen und sein Apostolat von neuem begonnen hatte. Er wurde von neuem verhaftet und zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt; doch diese Strafe hatte ihn in seiner Ueberzeugung nur bestärkt.

Als er seine zweite Strafe verbüßt, war er in das Gouvernement Perm verschickt worden. Hier war er sieben Monate geblieben und war dann, weil er sich geweigert, dem neuen Zaren den Eid der Treue zu leisten, von neuem ins Gefängnis geworfen und zur Deportation nach dem Gouvernement Irkutsk, tief nach Sibirien, verurteilt worden. So hatte er die Hälfte seines Lebens in den Gefängnissen oder in der Verbannung zugebracht. Doch alle diese Prüfungen hatten ihm, anstatt ihn zu verbittern, mehr Lebenslust und Energie verliehen. Er war ein Mann von höchster Widerstandskraft, körperlich und moralisch durch und durch gesund. Wo er sich auch befand, stets war er gleich thätig, kraftvoll und heiter. Nie bereute er das Vergangene, nie suchte er die Zukunft vorherzusehen; alle Kräfte seines Verstandes, seiner Geschicklichkeit, seines politischen Sinnes wandte er im augenblicklichen Zeitpunkt an. Wenn er in Freiheit war, bemühte er sich, die Sache zu verfolgen, die er sich zum Ziele gesetzt, das heißt, die Bildung und Aufklärung der Bauern. Wurde ihm die Freiheit geraubt, so bemühte er sich, die Lebensbedingungen in den Grenzen der Möglichkeit, sowohl für sich wie für seine Umgebung zu verbessern.

Für andere zu leben war bei ihm übrigens eine natürliche Notwendigkeit. Da er für sich selbst kein Bedürfnis hatte, und das Essen ebenso gut wie den Schlaf entbehren konnte, so verwandte er instinktiv seine kräftige Bauernthätigkeit zum Wohle der andern. In allem war er ein richtiger Bauer geblieben; gewandt mit seinen Händen, leichtlebig, unermüdlich, rechtschaffen ohne Anstrengung, aufmerksam und bedacht auf die Gefühle und Gedanken eines jeden.

Seine alte Mutter, eine ungebildete und abergläubische Bäuerin, lebte noch; und jedesmal, wenn Nabatoff in Freiheit gesetzt wurde, besuchte er sie. Er half ihr in allen ihren häuslichen Sorgen, ging mit seinen früheren Mitschülern im Dorfe in die Schenke, begleitete sie auf die Felder, rauchte mit ihnen Cigaretten und schlug sich mit ihnen herum, um ihnen zu beweisen, welchen Schaden ihnen ihre Dummheit und ihre Schwäche verursachte.

Während er von ganzer Seele eine Revolution zum Nutzen des Volkes erträumte, wollte er doch nicht, daß diese Revolution das Volk in etwas anderes verwandele, als was es war, noch daß es seine Lebensbedingungen allzu stark verändere; würde sie Bauern zu Herren des Bodens machen und sie von den Gutsbesitzern und Beamten befreien, Die Revolution sollte – nach seiner Ansicht – und darin war er ganz anderer Ansicht als Nowodworoff – nicht vollständig mit der Vergangenheit brechen und die Sitten und Gewohnheiten von Grund auf erneuern, sondern nur den verehrungswürdigen und kostbaren Schatz der nationalen Tradition zur besseren Verteilung bringen.

Er war sogar in seinem Verhalten der Religion gegenüber Bauer. Nie kümmerte er sich um das metaphysische Problem, die ersten Grundlagen, das künftige Leben, Er wiederholte gern, Gott wäre für ihn, wie für Laplace, eine Hypothese, deren Notwendigkeit er nicht einsehe. Es kümmerte ihn wenig, wie das Weltall begonnen hatte; und der Darwinismus, den die meisten seiner Gefährten sehr ernsthaft auffaßten, war in seinen Augen nur eine ebenso müßige Spielerei wie die Erschaffung der Welt in sechs Tagen.

Was das künftige Leben betraf, so dachte er nie daran; doch im Grunde seines Herzens glaubte er, er trage einen Glauben in sich, den er von seinen Vätern ererbt, einen allen Menschen, die in der Berührung mit der Erde leben, gemeinsamen Glauben. Ebenso glaubte er, daß in der Tier- und Pflanzenwelt nichts umkommt und alles sich umwandelt, ebenso daß der Mensch nicht umkommt; er wechsle nur das Leben. Er glaubte das, und deshalb betrachtete er den Tod ohne Furcht oder Zorn. Doch er dachte nicht gern über diese Glaubensanschauung nach, und noch weniger sprach er gern darüber. Nur die Arbeiter waren ihm lieb, und stets beschäftigte er sich mit praktischen Fragen und bemühte sich, seine Gefährten dazu ebenfalls zu veranlassen.

Ganz anders geartet war sein Gefährte, der Arbeiter Markel. Dieser war mit fünfzehn Jahren in eine Fabrik eingetreten, und im Alter von fünfzehn Jahren hatte er zu rauchen und zu trinken angefangen, um das Gefühl der Demütigung, das in ihm lebte, zu ersticken. Dieses Gefühl war an einem Weihnachtsabend in ihm erwacht, als die Frau des Fabrikbesitzers ihn zu einem Feste eingeladen, das sie für die Kinder der Arbeiter veranstaltet hatte. Markel und seine Kameraden hatten als Geschenk, der eine eine Pfeife, der andere einen Apfel, der dritte eine vergoldete Nuß bekommen, während man den Kindern des Fabrikbesitzers wunderbares Spielzeug geschenkt hatte, das für jeden wenigstens fünfzig Rubel gekostet hatte.

Trotzdem hatte Markel noch zwanzig Jahre lang das gewöhnliche Leben des Arbeiters weitergeführt. Er zählte fünfunddreißig Jahre, als er mit einer revolutionären Studentin Bekanntschaft angeknüpft, die Arbeiterin geworden war, um Propaganda zu treiben. Diese junge Person hatte ihm Broschüren und Bücher geliehen, mit ihm zu diskutieren angefangen und ihm über seine Lage, die Ursachen dieser Lage und die Mittel, sie zu verbessern, die Augen geöffnet.

Als Markel die Möglichkeit gesehen hatte, sich und die andern von der grausamen Bedrückung, unter der er seit seiner Kindheit litt, zu befreien, war ihm die Ungerechtigkeit dieser Bedrückung noch klarer vor Augen getreten, und seinem Wunsch nach Befreiung hatte sich ein tiefer Wunsch nach Rache gegen diejenigen, die ihn ungerechterweise unterdrückt hatten, zugesellt.

Die Möglichkeit der Befreiung für sich selbst und die andern käme von der Wissenschaft – so hatte man ihm versichert, und Markel hatte sich mit Leidenschaft darauf geworfen, Wissen zu erwerben. Hatte ihm die Wissenschaft nicht schon die Ungerechtigkeit der Lage, in der er sich befand, vor Augen geführt? Offenbar konnte nur sie dazu beitragen dieser Ungerechtigkeit ein Ende zu bereiten. Und außerdem hatte die Wissenschaft in seinen Augen den Vorteil, ihn über die andern Menschen zu erheben, was stets sein geheimer Ehrgeiz gewesen war. Deshalb hatte er zu trinken und zu rauchen aufgehört, um alle seine freien Augenblicke dem Studium zu widmen.

Die Revolutionärin fuhr fort, mit ihm zu korrespondieren, und bewunderte mehr und mehr den erstaunlichen Eifer, mit dem er sich die verschiedenartigsten Kenntnisse zu eigen machte. Thatsächlich hatte Markel in kaum zwei Jahren Geometrie, Algebra, Geschichte gelernt, und alle möglichen kritischen und philosophischen Werke gelesen und vor allem die ganze moderne socialistische Litteratur in sich aufgenommen.

Dann war die Revolutionärin verhaftet worden; man hatte Briefe von Markel bei ihr gefunden, und dieser war ebenfalls verhaftet worden. In dem Gouvernement Wologda, wohin man ihn verschickt, hatte er die Bekanntschaft Nowodworoffs gemacht, hatte wieder eine Menge Bücher gelesen, eine Menge Dinge gelernt, die er nach und nach vergessen, und war in seinem Socialismus immer eifriger geworden. Als man ihm nach einigen Monaten erlaubte, in seine Heimat zurückzukehren, hatte er sich einen Streik in den Kopf gesetzt, der zum Brande der Fabrik und zur Ermordung des Direktors geführt hatte. Von neuem hatte man ihn verhaftet, und jetzt zog er, für den Rest seines Lebens zur Verschickung verurteilt, nach Sibirien. In Sachen der Religion zeigte er sich ebenso radikal, wie in Sachen der Wirtschaftspolitik. Da er von der Falschheit der Glaubensanschauungen, in denen er erzogen war, überzeugt war und sich davon freigemacht hatte, zuerst mit Furcht, dann mit Begeisterung, so empfand er gleichsam ein Verlangen, sich an allen denen zu rächen, die ihn im Irrtum erhalten hatten. Er sprach stets mit Haß von den Popen und verspottete die religiösen Dogmen auf das bitterste.

Er hatte die Gewohnheiten eines Asketen; und wie alle, die seit ihrer Kindheit zur Arbeit herangezogen werden, war er bei körperlichen Anstrengungen gewandt und unermüdlich. Noch im Gegensatz zu Nabatoff verachtete er die Anstrengungen und die Handarbeit unter allen Formen. Im Rasthause wie im Gefängnisse suchte er sich möglichst viele freie Zeit zu schaffen, um sich weiter zu unterrichten, was ihm stets mehr als die einzige ehrenhafte und nützliche Beschäftigung erschien. Er war im Begriff, in diesem Augenblick den ersten Band des Marxschen »Kapitals« zu studieren; er versteckte das Buch in seiner Reisetasche und bewachte es wie den allerkostbarsten Schatz.

Gegen seine Genossen zeigte er sich gleichgültig und zurückhaltend, bis auf Nowodworoff, an den er sich leidenschaftlich angeschlossen hatte und dessen Ansicht über alle Gegenstände er stets für die Quintessenz der Wahrheit selbst hielt.

Das Weib erschien ihm als das hauptsächliche Hindernis des sozialen Emancipationswerkes und der freien Entwicklung des Verstandes; daher empfand er für die Frauen eine absolute Verachtung. Nur bei der Maslow machte er eine Ausnahme, denn in ihr sah er ein typisches Beispiel der Ausbeutung der niedrigen Klassen von seiten der Begüterten. Er bezeugte ihr bei jeder Gelegenheit viel Rücksichten; und aus demselben Grunde verabsäumte er nie eine Gelegenheit, Nechludoff die ganze Abneigung, die er gegen ihn hegte, zu erkennen zu geben.

Viertes Kapitel

An dem nämlichen Tage, an welchem sich beim Abmarsch die Scene zwischen dem Offizier und dem Verbrecher wegen des kleinen Mädchens abgespielt hatte, erwachte Nechludoff, der die Nacht in einem Wirtshause zugebracht, ziemlich spät am Morgen, und hatte noch eine Zeit lang mit Briefen zu thun, die er nach der Kreisstadt schicken wollte. Auf diese Weise geschah es, daß er das Wirtshaus später als sonst verließ und den Zug nicht mehr auf der Landstraße antraf; er kam nämlich erst gegen Einbruch der Dämmerung in das Dorf, in welchem die nächste, auf einen halben Tag berechnete Rast abgehalten wurde.

Er säuberte sich in dem Gasthause, dessen Wirtin ein altes, beleibtes Weib mit ganz besonders weißem, dickem Hals war, und saß nun in einem saubern Zimmer, dessen Ausstattung in einer großen Anzahl von Heiligenbildern und andern Gemälden bestand. Hier nahm er den Thee zu sich und begab sich dann nach dem Rastgebäude, um den Offizier um die Erlaubnis zu bitten, den Gefangenen einen Besuch machen zu dürfen.

An den letzten sechs Rasttagen hatten sämtliche Offiziere, obwohl sie sich ablösten, Nechludoff keinen Eintritt in das Rastgebäude gewährt, so daß er Katuscha schon seit längerer Zeit nicht zu Gesicht bekommen hatte. Diese außergewöhnliche Strenge hatte darin ihre Erklärung, daß man eine Revision von seiten eines durchreisenden hohen Beamten in Sachen des Gefängniswesens erwartete. Jetzt aber war dieser hohe Beamte bereits durchgereist, ohne den Gefangenenzug auch nur eines Blickes zu würdigen, und Nechludoff hegte deshalb die Hoffnung, der Offizier, der das Kommando am Morgen angetreten, werde ihm ebenso wie seine Vorgänger die Erlaubnis erteilen, mit Katuscha sprechen zu dürfen.

Die Wirtin des Gasthauses wollte Nechludoff einen Tarantaß zur Verfügung stellen, mit dem er nach dem Rastgebäude fahren konnte, das am äußersten Ende des Dorfes lag, doch Nechludoff zog es vor, in Begleitung eines starkschultrigen Burschen, der ungeheuer große, mit Birkenharz geschmierte Stiefel trug, zu Fuß dorthin zu wandern.

Ein dichter, feuchter Nebel fiel hernieder, und die Dunkelheit wurde so stark, daß Nechludoff den Burschen nicht mehr zu sehen vermochte, wenn er sich nur drei Schritte weit entfernte und der Lichtschein aus den Fenstern nicht auf ihn fiel. Er hörte dann nur noch, wie der Bursche mit seinen großen Stiefeln durch den dicken Kot tappte. Zuerst kamen sie über einen Platz, auf dem eine Kirche stand, und durch eine lange Straße, in der viele Fenster hell erleuchtet waren, und endlich gelangte Nechludoff mit seinem Begleiter an das Ende des Dorfes, das in tiefe Finsternis gehüllt war.

Bald aber zuckten auch in dieser Dunkelheit rötliche Flämmchen auf, die den Nebel zerrissen. Das war das Licht der Laternen, die an dem Rastgebäude brannten. Diese rötlichen Flämmchen traten immer deutlicher hervor und vergrößerten sich, und bald zeigte sich auch die Umfriedigung und die dunkle Gestalt einer Schildwache, hinter der ein Laternenpfahl und ein Schilderhaus auftauchte. Wie üblich rief die Schildwache die Näherkommenden mit den Worten: »Wer da?« an, und als sich herausstellte, daß es Fremde waren, wurde sie so grob, daß sie Nechludoff nicht einmal gestatten wollte, neben der Umfriedung stehen zu bleiben. Doch sein Begleiter ließ sich durch den groben Ton der Schildwache nicht verblüffen, sondern sagte zu dem Soldaten:

»Na, was ist denn los? Warum wirst du denn so wütend? Ruf‘ mal den Unteroffizier! Wir werden so lange hier warten!«

Der Soldat erwiderte kein Wort, brüllte etwas in die Thür hinein und rührte sich nicht vom Flecke, sondern beobachtete mit aufmerksamem Blicke den stämmigen Burschen, der Nechludoffs Stiefel beim Scheine der Laterne mit einem Stückchen Holz von dem daran klebenden Schmutz säuberte.

Jetzt ließ sich hinter der Umfriedigung ein dumpfes Gemisch von männlichen und weiblichen Stimmen vernehmen. Etwa drei Minuten später wurde das Rasseln von Ketten hörbar, eine Thür wurde aufgerissen, und in den Lichtschein der Laterne trat aus der tiefen Finsternis ein Unteroffizier, der in einen Mantel gehüllt war. Er fragte, was man wünsche, und Nechludoff übergab ihm seine Karte, die er bereits hervorgezogen, und auf der er die Bitte aussprach, man möchte ihm in persönlichen Angelegenheiten den Eintritt in das Gebäude gewähren.

Der Unteroffizier war zwar nicht so grob wie die Schildwache, dafür zeigte er sich aber um so neugieriger, Er wollte um jeden Preis wissen, in welcher Angelegenheit Nechludoff den Offizier sprechen wollte, und wer er war. Nechludoff erklärte, er hätte eine rein persönliche Angelegenheit zu erledigen, fügte hinzu, er werde sich dankbar erweisen und bat, man möchte de Karte übergeben. Der Unteroffizier nahm sie an sich, nickte zustimmend mit dem Kopfe und verschwand.

Einige Zeit darauf knarrte die Thür von neuem, und es erschienen einige Weiber, die Körbe, aus Birkenrinde geflochtene Eimer, irdene Töpfe und Leinensäcke trugen. Sie unterhielten sich eifrig in ihrem sibirischen Dialekt, während sie die Schwelle der Thür überschritten. Einzelne waren bäuerisch, andere wieder nach städtischer Mode gekleidet und trugen Mäntel und Pelze; die Röcke hatten sie hochgeschürzt, und um den Kopf hatten sie Tücher gebunden.

Als sie Nechludoff und seinen Begleiter beim Scheine der Laterne erblickten, starrten sie sie mit neugierigen Augen an. Eine schien ganz besonders an dem kräftigen, stämmigen Burschen Wohlgefallen zu finden und überhäufte ihn im Spaß sofort mit einer Flut sibirischer Scheltworte.

»Was treibst du denn hier, du Schweinekerl?« schrie sie ihm zu.

»Ich habe einen Fremden hergeführt,« versetzte der Bursche. »Aber was trägst du denn da?«

»Weißen Käse! Wir sollen morgen früh wieder herkommen!«

»Na, aber über Nacht bleibt ihr doch nicht?« fragte der Bursche unter lautem Lachen.

»Hol‘ dich der Teufel, du frecher Schreihals!« versetzte sie ebenfalls lachend. »Komm‘ lieber mit uns ins Dorf mit!«

Der Bursche machte noch eine Bemerkung, über die nicht allein die Frauen, sondern auch die Schildwache in lautes Gelächter ausbrachen. Dann wandte er sich zu Nechludoff um und fragte:

»Finden Sie denn auch den Weg? Werden Sie sich auch nicht verirren?«

»Nein, nein; ich werde mich schon zurechtfinden.«

»Na, also, wenn Sie an der Kirche vorbei sind, dann ist es von dem zweistöckigen Hause auf der rechten Seite das zweite. Da haben Sie auch meinen Spazierstock,« meinte er und gab Nechludoff den dicken, etwa mannshohen Knüppel in die Hand, den er mitgebracht hatte, um dann gleichzeitig mit den Weibern zu verschwinden. Mit seinen langen Stiefeln tappte er durch den Kot, und man hörte noch hin und wieder seine Stimme und die der Weiber, als die Thür von neuem knarrte und ein Unteroffizier heraustrat, der Nechludoff aufforderte, sich zum Offizier zu begeben.

Fünftes Kapitel

Das Rastgebäude lag ebenso wie alle Gebäude, in denen auf halbe und ganze Tage gerastet wurde, an der großen sibirischen Landstraße, in einem Hof, der von spitzen Palisaden umstellt war. Es befanden sich hinter demselben die einstöckigen Häuser. In dem einen, und zwar dem größten, das vergitterte Fenster hatte, brachte man die schweren Verbrecher unter, in dem andern hielt sich das Wachkommando auf, während das dritte den Offizieren als Aufenthaltsort und als Kanzlei diente.

Sämtliche drei Häuser waren jetzt mit Lichtern beleuchtet, die wie stets, so auch hier, in den hellglänzenden Räumen den Anschein von Genuß und Behaglichkeit hervorriefen. Laternen brannten an den Eingängen, während der Hof von noch fünf andern erhellt wurde.

Nechludoff wurde von dem Unteroffizier, der ihn über ein schmales Brett führte, zu der Treppe des kleinsten der drei Häuser geleitet. Dann ließ er ihn drei Stufen hinaufsteigen und öffnete ein kleines, von einer qualmigen Lampe beleuchtetes Vorzimmer, das mit Rauch angefüllt war, und in das er ihn vorangehen ließ. Am Ofen saß ein Soldat in grobem Hemd und einer Halsbinde und schwarzen Hosen, der einen Stiefel in der Hand hielt und mit dem zusammengedrückten Schaft desselben, den er wie einen Blasebalg handhabte, das Feuer in einem Samowar anblies.

Als dieser Soldat Nechludoff bemerkte, wandte er sich von dem Samowar fort, half Nechludoff seinen schweren Mantel abnehmen und ging damit in das Nebenzimmer.

»Er ist da, Ew. Gnaden!«

»Na, dann bring‘ ihn doch ‚rein,« versetzte eine brummige Stimme.

»Treten Sie gefälligst ein,« sagte der Soldat und nahm gleich wieder seine vorige Thätigkeit am Samowar auf.

In dem zweiten Zimmer, das sein Licht von einer Hängelampe erhielt, saß ein Offizier mit großem, blondem Schnurrbart und stark aufgedunsenem Gesicht; er trug eine Jacke, die seine breite Brust und seine Schultern stark hervortreten ließ; vor ihm stand ein mit Speiseüberresten und zwei Weinflaschen bedeckter Tisch. Ein scharfer Tabaksrauch durchzog das warme Zimmer, und außerdem verspürte man noch einen andern übeln und durchdringenden Geruch.

Als der Offizier Nechludoff bemerkte, erhob er sich und musterte den Nähertretenden mit höhnischen und nichtachtenden Blicken.

»Was wollen Sie?« fragte er, und rief dann, ohne auch eine Antwort abzuwarten, zur Thür: »Bernoff, bring‘ den Samowar! Ist der Thee bald fertig?«

»Ja, gleich!«

»Warte! Ich werde dir dein »Ja, gleich!« anstreichen, daß du dran denken sollst!« schrie der Offizier mit zornfunkelnden Augen.

»Ich bring‘ ihn ja schon,« rief der Soldat und trat mit dem Samowar herein.

Nechludoff wartete, bis der Soldat den Samowar auf den Tisch gestellt hatte, und sah dabei den Offizier an, der den Soldaten mit seinen kleinen, boshaft blinzelnden Augen betrachtete, als wenn er etwas gegen ihn im Schilde führte und nur auf den geeigneten Moment wartete, um einen Streich gegen ihn zu führen.

Als der Samowar auf dem Tische stand, bereitete der Offizier Thee, dann holte er aus einem Reiseköfferchen eine viereckige Flasche Cognac und Albert-Cakes hervor, stellte alles auf die Tischdecke und fragte, sich wieder nach Nechludoff umwendend:

»Was wünschen Sie also?«

»Ich möchte Sie um die Erlaubnis bitten, mit einer Gefangenen sprechen zu dürfen,« sagte Nechludoff, der noch immer stand.

»Mit einer Politischen? Das ist gesetzlich verboten,« sagte der Offizier.

»Nein, diese Frau ist keine politisch Verurteilte,« versetzte Nechludoff.

»Aber setzen Sie sich doch, bitte!«

Nechludoff setzte sich.

»Sie ist keine politische Gefangene,« fuhr er fort: »doch auf meine Bitte hat ihr die Behörde gestattet, sich bei den Politischen aufzuhalten.«

»Ach ja, ich weiß,« versetzte der Offizier, »eine kleine Brünette, nicht wahr? Wirklich eine sehr niedliche Person. Na, meinetwegen sollen Sie sie sprechen. Wollen Sie rauchen?«

Er reichte Nechludoff ein Paket mit Cigaretten und schob ihm ein Glas mit Thee hin.

»Ich danke, ich möchte …«

»Der Abend ist lang, Sie haben ja noch Zeit, ich werde sie rufen lassen.«

»Könnte ich sie nicht, anstatt daß Sie sie rufen lassen, auf ihrem Zimmer sprechen?« fragte Nechludoff. »In der Abteilung der Politischen Gefangenen? Das ist verboten,«

»Man hat es mir schon mehrmals gestattet. Wenn man befürchten sollte, ich bringe Contrebande mit, so braucht man mich ja nur zu visitieren, und man wird sehen, daß ich nichts bei mir habe.«

»Es ist gut, es ist gut,« sagte der Offizier, »ich verlasse mich auf Sie,« fuhr er fort und goß Cognac in Nechludoffs Glas. – »Sie wollen keinen Cognac? Nun, nach Ihrem Belieben. Wenn man in diesem verdammten Sibirien lebt, so ist es ein wahres Vergnügen, einem Manne der guten Gesellschaft zu begegnen. Sehen Sie, unser Dienst ist sehr hart, und das Schlimmste dabei ist, daß ein Polizeileutnant für die meisten Menschen eine grobe, plumpe, schlecht erzogene und unwissende Person ist. Man hat keine Ahnung, daß es unter uns Leute von ganz anderem Schlage giebt.«

Das rote Gesicht des Offiziers, sein nach Branntwein duftender Atem, der ungeheure Stein seines Ringes und vor allem sein bösartiges Lachen verursachten Nechludoff einen tiefen Ekel. Doch an diesem Abend, wie auch während der ganzen Zeit seiner Reise, befand er sich in der ernsthaften Geistesverfassung, in der er sich nicht erlaubte, jemanden leichtfertig zu beurteilen, und wo er mit jedem von dem, was er zu sagen nötig fand, sprechen zu müssen glaubte. Als er die Bemerkungen des Offiziers zu Ende gehört, sagte er zu ihm in ernstem Tone:

»Ich glaube, Sie würden in Ihrem Dienste einen Trost finden, wenn Sie sich bemühen wollten, die Leiden der Gefangenen zu lindern.«

»Was für Leiden? Ich sehe schon, Sie kennen diese Sorte nicht.«

»Ist diese Sorte etwa von den andern Menschen verschieden?« fragte Nechludoff. »Es sind Menschen, genau so wie wir, und einzelne von ihnen sind ungerecht verurteilt worden.«

»Gewiß giebt es alle möglichen darunter, und sie thun mir auch leid, glauben Sie das nur. Andere lassen ihnen nichts hingehen, während ich mein Möglichstes thue, ihr Schicksal zu lindern. Oft setze ich mich sogar eigenen Unannehmlichkeiten aus, um ihnen einen Schmerz zu ersparen. Noch ein bißchen Thee?« fragte er, sich ein Glas einschenkend, »Was ist denn das eigentlich für ein Weib, das Sie zu sprechen wünschen?«

»Es ist ein unglückliches Geschöpf, man hat sie ungerecht wegen Mordes verurteilt. Eine Person, die wirklich hohe Vorzüge, besitzt.«

Der Offizier schüttelte den Kopf.

»Ja, ja, es giebt ganz niedliche darunter. In Kasan, lassen Sie sich das mal von mir erzählen, habe ich eine kennen gelernt, eine gewisse Emma. Sie stammte aus Ungarn, hatte aber die Augen einer Persierin,« fuhr er fort, indem er bei dieser Erinnerung vor sich hinlächelte, »und Chic hatte das Weib, wie eine richtige Gräfin!«

Nechludoff unterbrach ihn, um auf seinen Gegenstand zurückzukommen.

»Ich glaube, Sie haben die Macht, die Lage dieser Unglücklichen bedeutend lindern zu können, und ich hege die Ueberzeugung, Sie würden eine große Quelle der Freude darin finden.«

Der Offizier betrachtete Nechludoff mit seinen glänzenden Augen. Mit Ungeduld erwartete er, daß er seinen Sermon beendete, um wieder die Geschichte seiner Ungarin mit den persischen Augen ausnehmen zu können.

»Ja, ja, es ist wahr, Sie haben ganz recht,« unterbrach er, »und sie thun mir auch wirklich leid, das kann ich Sie versichern; aber um wieder auf diese Emma zurückzukommen, von der ich Ihnen erzählte, wissen Sie, was sie gemacht hat?«

»Ich habe nicht die geringste Lust, es zu erfahren,« erklärte Nechludoff in schneidendem Tone, »und ich will Ihnen auch ganz aufrichtig sagen, daß ich zuerst ein sehr unmoralisches Leben geführt habe und heute so weit gekommen bin, daß ich vor dieser Art von galanten Abenteuern Frauen gegenüber einen wahren Ekel habe.«

Der Offizier betrachtete Nechludoff mit unruhigen Blicken.

»Sie wollen also wirklich keinen Thee mehr?«

»Nein, ich danke!«

»Bernoff,« rief der Offizier, »führe den Herrn nach Wakuloff und lasse ihn zu den Politischen hinein. Er mag dort bis zum Thoresschluß bleiben.«

Sechstes Kapitel

Von dem Soldaten begleitet, befand sich Nechludoff wieder in dem Hofe, in dem nur hier und da die roten Feuer der Laternen leuchteten.

»Wo willst du denn hin?« fragte ein Aufseher, der vor der Thür des Mittelgebäudes stand.

»Nach dem fünften Saal,« verletzte der Soldat.

»Hier ist kein Durchgang, hier ist geschlossen, ihr müßt rund herumgehen.«

»Warum ist es denn geschlossen?«

»Der Oberaufseher ist fortgegangen und hat den Schlüssel mitgenommen.«

»Na gut, gehen wir herum, kommen Sie hier entlang,«

Der Soldat führte Nechludoff nach einem andern Thor, durch einen wahren Sumpf von Kot. Man hörte noch immer im Innern des Gebäudes dasselbe fortgesetzte Geräusch von Stimmen und Lachen. Kaum war Nechludoff eingetreten, als sich in dieses Geräusch der Ton der rasselnden Ketten mischte, während gleichzeitig ein dumpfer Gestank sich bemerkbar machte.

Diese beiden Sensationen, das Klirren der Ketten und der Gestank waren etwas Bekanntes für Nechludoff geworden, seit er unter den Gefangenen verkehrte; doch an diesem Abend wirkten sie auf ihn, genau wie am ersten Tage, mit unwiderstehlicher Heftigkeit, und er fühlte sich dem Ersticken nahe.

Das Erste, was Nechludoff in dem Korridor des Mittelgebäudes erblickte, war ein Weib, das mit hochgeschürzten Röcken auf dem Nachteimer saß. Ohne sich den geringsten Zwang aufzuerlegen, unterhielt sich dieses Geschöpf mit einem vor ihm stehenden Manne, einem Sträfling mit rasiertem Kopfe, der eine Kette am Fuße trug. Als der Sträfling Nechludoff bemerkte, blinzelte er mit den Augen und sagte:

»Der Zar muß das auch machen, wenn’s ihn packt.«

Das Weib richtete sich ruhig wieder auf und strich ihren Rock glatt.

Die Thüren der einzelnen Kammern führten auf den Korridor hinaus: zuerst kam die Kammer der von ihren Familien begleiteten Gefangenen, dann die der Junggesellen, und dann die der ledigen Frauenspersonen; während am Ende des Korridors zwei kleine Säle den politischen Gefangenen als Obdach dienten. Das Rastgebäude, das zur Aufnahme von hundertfünfzig Personen bestimmt war, enthielt an diesem Abend mehr als vierhundert. Die Gefangenen waren darin so zusammengepfercht, daß sie den ganzen Korridor einnahmen; die einen saßen oder lagen an der Erde; andere gingen hin und her und hielten Theegläser in der Hand.

»Unter dieser Zahl befand sich Taraß, Fedossjas Gatte, Er kam Nechludoff entgegen und begrüßte ihn freundlich. Sein gutmütiges Gesicht war vollständig mit blauen Flecken bedeckt, und er trug eine Binde über den Augen.

»Was ist dir denn zugestoßen?« fragte Nechludoff.

»Na, ich habe hier so ’ne Sache gehabt!« meinte Taraß lächelnd.

»Sie haben sich alle wütend geprügelt!« sagte der Aufseher, der Nechludoff begleitete.

»Und alles wegen dieser vermaledeiten Weiber!« fügte ein Gefangener hinzu, der sich ihnen zugesellt hatte. »Er kann noch von Glück sagen, wenn er ein Auge behält, Fedkas Mann!«

»Und Fedossja ist nichts Schlimmes widerfahren?«

»Ach nein, gar nichts; der geht’s ganz gut! Ich bringe ihr gerade den Thee,« sagte Taraß und trat in die Stube.

Nechludoff warf durch die halbgeöffnete Thür einen Blick in die Stube. Sie war mit Männern und Frauen angefüllt, die auf den Betten oder auf der Diele zwischen den Betten lagen. Doch das folgende Zimmer, das der Unverheirateten, war noch voller, so daß hier mehrere Gefangene auf demselben Bett lagen. Mitten im Zimmer umstand eine Gruppe einen alten Sträfling, der etwas an seine Umgebung zu verteilen schien. Der Aufseher erklärte Nechludoff, das wäre der Aelteste des Zuges, der die Summen, die sie im Kartenspiel gewonnen, unter sie verteile. Kaum aber hatten die Leute den Aufseher bemerkt, als alle verstummten, alle Hände niedersanken und alle Augen einen halb furchtsamen, halb bösartigen Ausdruck annahmen.

Nechludoff erkannte in dieser Gruppe den Sträfling Fedoroff, der ihn früher im Gefängnis ganz besonders interessiert hatte; derselbe hatte seinen Arm um den Hals eines blonden, bartlosen und aufgedunsenen jugendlichen Gefangenen gelegt, eines lasterhaften und abstoßenden kleinen Menschen, mit dem man ihn stets zusammensah. Ein anderer Sträfling, der auch dabei stand, ein Kahlkopf ohne Nase, war Nechludoff als eine Berühmtheit des Zuges vorgestellt worden; man erzählte, er hätte bei seiner Flucht aus dem Zuchthaus seinen Gefährten getötet, um ihn zu verzehren. Dieser Schurke, der am Eingang des Korridors stand, betrachtete Nechludoff mit kecker und spöttischer Miene, ohne ihn zu grüßen, wie es auch die meisten anderen Gefangenen thaten.

So vertraut Nechludoff dieses Schauspiel auch seit mehreren Monaten geworden war, so konnte er doch nie dieser Schar von Verurteilten gegenübertreten, ohne wie an diesem Abend ein grausames Gefühl der Scham und fast der Reue, das Gefühl seiner eigenen Schuld diesen Unglücklichen gegenüber zu empfinden. Und diese Scham und diese Gewissensbisse waren ihm um so furchtbarer, als sie bei ihm von einem ebenso unüberwindlichen Gefühl des Grauens und der Abneigung begleitet wurden. Er wußte, diese Unglücklichen mußten in der Lebenslage, in der sie sich seit ihrer Kindheit befunden hatten, notgedrungen das werden, was sie waren; und doch konnte er nicht umhin, sie zu verachten und zu hassen und einen tiefen Ekel vor ihnen zu empfinden.

»Dem sollte man mal die Taschen durchsuchen!« sagte eine heisere Stimme hinter Nechludoff gerade in dem Augenblick, als dieser sich bereits der Thür des Nebensaales näherte.

Die Schar der Verurteilten brach in Gelächter aus.

Siebentes Kapitel

Vor der Thür der für die politischen Gefangenen reservierten Stube verließ ihn der Aufseher, der ihn herbegleitet, und versprach ihm, wenn die Thore geschlossen würden, wolle er ihn wieder abholen. Kaum hatte er sich entfernt, als Nechludoff sah, daß ein Sträfling, so schnell es die an seinem Fuß befestigte Kette gestattete, auf ihn zugelaufen kam, sich zu seinem Ohr neigte und ihm mit geheimnisvoller Miene zuflüsterte:

»Sie müssen dazwischentreten, Herr. Sie haben den Kleinen ganz behext und ihn betrunken gemacht. Heut‘ hat er sich schon beim Appell unter dem Namen Karmanoff gemeldet. Sie allein können dazwischentreten. Wenn wir es versuchen wollten, würden sie uns totschlagen,«

Nachdem der Sträfling ihm diese Worte unter scheuen Blicken zugeflüstert, entfloh er schnell und verlor sich in der Menge, die den Korridor anfüllte.

Es handelte sich um folgendes:

Ein Sträfling, Namens Karmanoff, hatte einen Verschickten, der ihm ähnlich sah, veranlaßt, mit ihm den Namen zu tauschen, so daß der Sträfling verschickt wurde und zwar nur auf zwei Jahre, während der junge Bursche sein Leben lang seine Stellung im Zuchthaus einnehmen sollte.

Derselbe Gefangene hatte Nechludoff bereits in der vorigen Woche von den Vorbereitungen dieser Unterschiebung unterrichtet und ihn gebeten, dazwischen zu treten, wenn er könnte, um ein so ungeheuerliches Verbrechen zu verhindern. Dieser Gefangene war übrigens für Nechludoff, dem er schon bei der Abreise von Tomsk aufgefallen war, eine der merkwürdigsten Figuren des Zuges. Es war ein großer, kräftiger Bauer von etwa dreißig Jahren mit dicker Nase und kleinen Augen, der wegen Raubmordversuchs zur Zwangsarbeit verurteilt worden war. Er hieß Makar Djewkin und hatte Nechludoff erzählt, das Verbrechen, wegen dessen er verurteilt worden, wäre wirklich verübt worden, aber nicht er, Makar, hätte es begangen. Das Verbrechen wäre von jemand verübt worden, den er nur unter dem Namen »Er« bezeichnete, der aber offenbar der leibhaftige Teufel war.

Eines Tages war ein Fremder zu Makars Vater gekommen und hatte für zwei Rubel einen Schlitten gemietet, mit dem er nach einem vierzig Werst entfernt liegenden Dorfe hatte fahren wollen. Makar hatte sein Pferd angeschirrt, sich angekleidet und auf den Weg gemacht. Man hatte auf halbem Wege in einer Schenke Halt gemacht, um Thee zu trinken. Der Fremde hatte Makar mitgeteilt, er wolle sich mit einem jungen Mädchen aus dem Dorfe, nach welchem er fahre, verheiraten, und hätte in einer Brieftasche fünfhundert Rubel, sein ganzes Vermögen, bei sich. Sobald er das erfahren hatte, war Makar in den Hof der Schenke gegangen, hatte eine Axt ergriffen und sie im Schlitten unter dem Stroh versteckt.

»So wahr ich an Gott glaube, Barin,« erzählte er; »ich weiß nicht, warum ich diese Axt genommen habe. »Er« hat mir gesagt: »Nimm die Axt!« und da habe ich sie genommen. Man steigt wieder in den Schlitten und fährt los; ich denke nichts Böses. An die Axt dachte ich gar nicht mehr. Wir nähern uns dem Dorfe: noch sechs Werst. Wir müssen einen Hügel hinauffahren und durch einen Wald; ich steige ab, um das Pferd nicht anzustrengen, und nun flüstert er mir von neuem ins Ohr: »Na, woran denkst du denn? Oben auf dem Hügel, wenn du erst aus dem Walde heraus bist, sind doch Leute; da beginnt das Dorf. Dann nimmt er sein Geld mit! Na, verliere keine Zeit; der Augenblick ist gekommen! Ich neige mich zu dem Schlitten, als wollte ich das Stroh in Ordnung bringen, und die Axt fliegt mir von selbst in die Hand. Nun wendet sich der Mann nach mir um und sagt zu mir: »Was machst du denn da?« Da hebe ich die Axt; doch der Mann, ein kräftiger Bursch, wirft sich an die Erde und packt mich bei der Hand. »Hallunke,« ruft er mir zu, »was thust du da?« Dann wirft er mich in den Schnee, und ich, ich leiste keinen Widerstand, sondern lasse alles mit mir geschehen. Er bindet mir die Hände mit seinem Taschentuch, setzt mich in den Schlitten und führt mich geradeswegs zum Starosten. Man wirft mich ins Gefängnis und hält über mich Gericht. Das ganze Dorf giebt mir das Zeugnis, ich wäre ein ehrlicher Mann, und man hätte mir niemals einen Vorwurf machen können. Der Herr, bei dem ich diente, giebt mir auch ein gutes Zeugnis. Doch ich hatte nicht die Mittel, mir einen Advokaten zu leisten, und darum habe ich vier Jahre Zwangsarbeit bekommen.«

Und nun verriet dieser selbe Mann, um einen seiner Gefährten zu retten, Nechludoff ein Geheimnis, das ihm auf der Seele brannte; er setzte sich dabei der Gefahr aus, sein Leben einzubüßen, denn er wußte, die Gefangenen würden ihn zweifellos erdrosseln, wenn sie seinen Verrat entdeckten!

Achtes Kapitel

Die politischen Gefangenen hatten zwei kleine Zimmer inne, denen ein auf den Korridor hinausführendes Vorzimmer voranging. In diesem Vorzimmer fand Nechludoff Simonson, der an einem Ofen, mit einem Scheit Holz in der Hand, an der Erde kauerte und eifrig beschäftigt war, das Feuer anzuzünden.

Als er Nechludoff bemerkte, legte er das Holz einen Augenblick fort, um ihm die Hand zu reichen, ohne sich aber aus seiner hockenden Lage zu erheben.

»Ich bin glücklich, daß Sie gekommen sind, denn ich habe mit Ihnen zu sprechen,« sagte er mit seiner ernsthaften Miene, indem er Nechludoff gerade in die Augen sah.

»Was giebt’s denn?« fragte Nechludoff.

»Das werde ich Ihnen später sagen. Für den Augenblick bin ich beschäftigt!«

Mit diesen Worten nahm Simonson das Scheit wieder auf und begann, auf das Feuer aufzupassen, das er nach einer rationellen Methode eigenster Erfindung angezündet hatte.

Nechludoff wollte in die erste der beiden Stuben eintreten, als er die Maslow aus dem andern Zimmer treten sah, die in einer Schürze einen ungeheuren Packen Unrat und Staub trug, das sie in den Ofen werfen wollte. Sie trug ihre weiße Jacke und Holzschuhe an den Füßen. Ihren Kopf bedeckte ein weißes Tuch, das die Hälfte ihres Gesichts verbarg, und, um bequemer ausfegen zu können, hatte sie ihre Röcke sehr hoch aufgeschürzt. Als sie Nechludoff erblickte, wurde sie rot; dann legte sie ihren Packen an die Erde, wischte sich die Hände, indem sie sie an ihrem Rocke rieb, und trat mit sehr lebhaftem Gesicht auf Nechludoff zu.

»Sie räumen auf?« fragte Nechludoff, indem er ihr die Hand drückte.

»Ja, ich habe meinen alten Beruf wieder aufgenommen,« versetzte sie mit einem Lächeln. »Was hier für ein Schmutz herrscht, davon können Sie sich gar keinen Begriff machen! Seit einer Stunde fegen wir aus!«

Sie wandte sich nach Simonson um: »Na, ist das Plaid trocken?«

»Fast trocken!« versetzte Simonson, indem er einen Blick auf die Maslow warf, der Nechludoff auffiel.

»Ich werde ihn sofort holen und Ihnen noch andere Gegenstände zum Trocknen bringen,« sagte die Maslow und meinte dann, sich zu Nechludoff wendend und ihm das erste Zimmer zeigend:

»Sie sind alle da drin!«

Nechludoff öffnete die Thür dieses Zimmers und ging hinein.

Es war ein rechteckiges Zimmer, das von einer Metalllampe erleuchtet wurde. Es war darin im Vergleich zu den andern Sälen kalt, doch man atmete nicht einen so ,unerträglichen Geruch von Staub, Tabak und Feuchtigkeit. Die Lampe warf ein grelles Licht auf die Mitte des Zimmers und ließ die an den Wänden stehenden Betten im Dunkel; man konnte kaum die Gesichter der Verurteilten erblicken, die auf den Betten saßen.

In diesem Zimmer waren alle politischen Gefangenen des Zuges versammelt, mit Ausnahme von Simonson und zwei andern Männern, die für die Lebensmittel sorgten und das Essen einzuholen gegangen waren.

Hier befand sich auch Wera Efremowna Bogoduschoffska, die mit ihren großen, erschrockenen Augen und ihrer angeschwollenen Ader auf der Stirn noch magerer und gelber als im Gefängnis aussah. Sie trug eine graue Jacke, saß vor einer ausgebreiteten Zeitung und war damit beschäftigt, Tabak in Cigarettenhülsen zu stecken.

Es befand sich da noch eine andere Gefangene, die Nechludoff kannte, und die er sehr lieb hatte, eine gewisse Emilja Rantzeff. Sie hatte es übernommen, die Stuben in Ordnung zu halten, und verstand es ausgezeichnet, denselben selbst unter den schwierigsten Verhältnissen einen ganz eigentümlichen Zauber von Behaglichkeit und Intimität zu verleihen. Mit aufgestreiften Aermeln saß sie bei der Lampe und war damit beschäftigt, mit ihren schönen, feinen und leichten Händen Tassen und Näpfe abzutrocknen. Sie war noch jung, aber nicht hübsch, und trotzdem besaß ihr kluges und gütiges Gesicht die Eigentümlichkeit, sich vollständig zu verwandeln, wenn sie lächelte, und dann einen fröhlichen, kräftigen, ja sogar wahrhaft schönen Ausdruck anzunehmen. Mit einem solchen liebenswürdigen Lächeln empfing sie auch Nechludoff.

»Wir glaubten, Sie wären wieder nach Rußland zurückgereist,« sagte sie.

In einem Winkel erblickte Nechludoff Maria Pawlowna, die ein blondes kleines Mädchen auf den Knieen hielt, das fortwährend mit seiner sanften Kinderstimme etwas vor sich hinmurmelte.

»Wie schön, daß Sie gekommen sind! Haben Sie Katja gesehen?« fragte das junge Mädchen Nechludoff. »Unsere kleine Familie hat sich um ein neues Mitglied vermehrt,« fügte sie hinzu, indem sie auf das kleine Mädchen zeigte.

Anatole Krülzoff war auch da. Blaß und mager saß er, die Beine unter sich kreuzend, die Hände in den Aermeln seines Pelzes verborgen, auf seinem Lager, Mit seinen großen hohlen Augen, aus denen die Schwindsucht blickte, betrachtete er Nechludoff. Dieser wollte auf ihn zugehen, als er auf seinem Wege auf einen dicken, rothaarigen jungen Mann stieß, der in seiner Reisetasche wühlte und dabei mit einer hübschen jungen Frau plauderte, die ihm zulächelte und dabei alle ihre Zähne zeigte. Nechludoff schüttelte diesem jungen Manne zuerst die Hand, nicht weil er für ihn eine besondere Zuneigung hatte, sondern im Gegenteil, weil er der einzige von den politischen Gefangenen des Zuges war, der ihm in tiefster Seele und unbesieglich antipathisch war; er hielt daher die Notwendigkeit, ihn begrüßen zu müssen, für eine peinliche Pflicht, der er sich stets schnell entledigte. Der junge Mann, der Nowodworoff hieß, richtete seine kleinen Augen, die unter den Gläsern seines Lorgnons glänzten, auf ihn und reichte ihm seine lange, schmale Hand.

»Nun, sind Sie noch immer mit Ihrer Reise zufrieden?« fragte er mit einem sichtlichen Anklang von Ironie.

»Allerdings, das interessiert mich sehr,« versetzte Nechludoff und that, als habe er die verletzende Absicht nicht gemerkt, die in Nowodworoffs Frage lag. Deshalb beeilte er sich, zu Krülzoff zu gehen.

Er trug eine gleichgültige Miene zur Schau, doch thatsächlich hatten Nowodworoffs Worte und sein augenscheinliches Bemühen, ihm etwas Unangenehmes zu sagen, die optimistische Stimmung zerstört, in der er sich seit einigen Tagen befand. Er empfand jetzt ein Gefühl von Verlegenheit, in das sich eine gewisse Traurigkeit mischte, und es fehlte wenig, so hätte er bedauert, überhaupt gekommen zu sein.

»Und wie steht’s mit der Gesundheit?« fragte er Krülzoff, indem er seine eisige und im Fieber zitternde Hand drückte.

»Danke; ich fühle mich ziemlich wohl. Aber ich bin ganz durchnäßt, und es ist nicht möglich, warm zu werden,« sagte Krülzoff, indem er seine Hand schnell im Aermel seines Pelzes verbarg. – »Ganz abgesehen davon, daß hier in diesem Zimmer eine Hundekälte herrscht! Zwei Fenster sind zerbrochen; man hätte sich wohl die Mühe nehmen können, sie einzusetzen!«

Damit zeigte er Nechludoff zwei Fensterscheiben, die in dem Gitterfenster fehlten.

»Na, und Sie,« fuhr er fort, »warum sind Sie in den letzten Tagen nicht gekommen?«

»Man hat mich nicht hereingelassen. Erst heut‘ hat sich der neue Offizier zugänglicher gezeigt.«

»Zugänglich! Sie können gerade mitreden! – Fragen Sie nur Mascha, was er heut‘ morgen gethan hat!«

Ohne sich von ihrem am andern Ende des Saales belegenen Platze zu erheben, erzählte Maria Pawlowna Nechludoff die Scene, die sich wegen des kleinen Mädchens abgespielt hatte.

»Ich bin der Ansicht, wir haben alle die Pflicht, eine allgemeine Beschwerde zu unterzeichnen,« rief Wera Efremowna mit ihrer ruhigen Stimme, indem sie ihren erschrockenen Blick von einem ihrer Gefährten zum andern schweifen ließ. –

»Wladimir Simonson hat diesem rohen Patron den Standpunkt klar gemacht; doch ich meine, das genügt nicht!«

»Wozu sollen wir uns beschweren?« sagte Krülzoff mit ärgerlicher Grimasse. Man merkte, daß ihn der Mangel an Einfachheit bei Wera Bogoduschoffska schon lange ärgerte und ihm tatsächlich einen nervösen Schmerz verursachte.

»Sie suchen Katja?« fuhr er, sich nach Nechludoff umwendend, fort. »Sie arbeitet immer! Sie hat schon unsere Sachen gereinigt und bürstet jetzt die Mäntel der Frauen aus. Nur von den Flöhen wird sie uns wohl nie befreien; die schmutzigen Tiere fressen uns auf; es ist ein wahrer Jammer! Und was macht denn Mascha da drüben in ihrem Winkel?« fragte er und versuchte, sich aufzurichten, um nach Maria Pawlowna hinüberzusehen.

»Sie kämmt eben ihr Töchterchen!« erwiderte Emilja Rantzeff.

»Wenn sie uns nur nicht die Läuse zukommen läßt, die sie ihr abfängt,« versetzte Krülzoff.

»Nein, nein, haben Sie keine Angst, ich mache die Sache gewissenhaft! Uebrigens ist sie jetzt auch ganz sauber,« sagte Maria Pawlowna. »Na, Emilja, nehmen Sie sie zu sich herüber; ich werde jetzt gehen und Katja helfen.«

Die Rantzeff nahm das Kind, setzte es mit mütterlicher Sorgsamkeit auf ihren Schoß und gab ihm ein Stück Zucker.

Maria Pawlowna ging hinaus; und in demselben Augenblick traten die beiden Verurteilten, die das Abendessen holen gegangen waren, in das Zimmer.

Drittes Kapitel

Auf der Reise von Nischni-Nowgorod war es Nechludoff nur zweimal gelungen, Katuscha zu sprechen. Das erste Mal war es in Nischni-Nowgorod gewesen, als man die Gefangenen auf eine mit einem Drahtnetz überflochtene Barke brachte, das andere Mal in Perm im Bureau des Gefängnisses; doch beide Male hatte sie sich schweigsam und zurückhaltend benommen.

Als er sie gefragt, ob sie sich wohl befände und ob sie denn gar nichts brauche, hatte sie ihm ausweichende, mürrische Antworten gegeben und ihm dasselbe vorwurfsvolle und brummige Wesen gezeigt, das er schon früher einmal an ihr wahrgenommen hatte.

Nechludoff bereitete diese ihre trübselige Stimmung, die ihren Grund einzig und allein in den zudringlichen Belästigungen von seiten der Männer hatte, unter denen sie gerade damals zu leiden gehabt, große Sorgen. Er hegte die Befürchtung, sie könnte unter der Einwirkung dieser Belästigungen und dieser entsittlichenden Zustände, denen sie während der ganzen Wanderung ausgesetzt war, wieder aufs neue in den vorigen Zustand der Verzweiflung und Vereinsamung zurücksinken, in welchem sie auf ihn im höchsten Grade erbittert gewesen, viel geraucht und im Branntwein Vergessenheit und Betäubung gesucht hatte.

Er hatte aber keine Ahnung, wie er ihr hilfreich zur Seite stehen konnte, denn während des ganzen ersten Teiles des Marsches war es ihm nicht möglich gewesen, mit ihr zusammenzukommen, und erst, als man sie der Abteilung der politischen Gefangenen zugewiesen hatte, konnte er sich nicht nur davon überführen, daß seine Befürchtungen vollständig unbegründet waren, nein, er machte auch sogar die Wahrnehmung, daß sich immer mehr und mehr jene Wandlung in ihr vollzog, die er so sehnsüchtig erhofft und erfleht hatte.

Schon als er sie das erste Mal in Tomsk wiedersah, war sie genau ebenso wie am Tage der Abreise. Ihr Gesicht ward nicht mürrisch und finster, wenn sie die Blicke auf ihn richtete, sondern sie trat ihm, ganz im Gegenteil, fröhlich und harmlos entgegen und sprach ihm ihren Dank dafür aus, was er für sie gethan, besonders aber war sie ihm dafür dankbar, daß er sie den Leuten zugeführt, unter denen sie sich jetzt aufhielt.

Nach ferneren zwei Monaten der Wanderung machte sich die Veränderung, die in ihr vorging, auch in ihrer äußeren Erscheinung bemerkbar. Sie magerte ab, ihr Gesicht wurde sonnenverbrannt, und sie machte den Eindruck, als wäre sie etwas gealtert. An den Schläfen und in den Mundwinkeln traten kleine Falten hervor; sie ließ die Haare nicht mehr in die Stirn hineinfallen, sondern trug ein Tuch um den Kopf; auch war weder in ihrer Kleidung, noch in ihrer Frisur oder in ihren Manieren die früher so stark hervortretende Koketterie zu entdecken. Diese Umwandlung aber, die sich in ihr vollzogen und sich jetzt noch in ihr vollzog, erfüllte Nechludoff mit hoher Freude.

Er hegte jetzt ein Gefühl für sie, wie er es ihr gegenüber bisher nie empfunden hatte. Dieses Gefühl hatte keinerlei Gemeinschaft mit seinen ersten poetischen Tändeleien und noch weniger mit der geschlechtlichen Liebe, die er später kennen gelernt; ebensowenig hatte es mit dem Bewußtsein der Pflichterfüllung und dem Wohlgefallen mit sich selbst, als er sich nach der Gerichtsverhandlung zu dem Entschlusse aufgerafft hatte, er müsse sie heiraten, etwas zu thun.

Das Gefühl, das er jetzt empfand, war dasselbe einfache Gefühl der Rührung und des Mitleids, das er zuerst kennen gelernt, als er sie im Gefängnis wiedergesehen hatte, das sich, mit erneuter Gewalt nach der Scene im Hospital wiederholt hatte, wo er seinen Abscheu besiegt und ihr das angebliche Verhältnis mit dem Krankenwärter vergeben hatte, das sich später als erlogen herausstellte.

Dasselbe Gefühl empfand er auch jetzt, doch mit dem Unterschied: früher war es nur oberflächlich, vorübergehend gewesen, jetzt aber hatte es sich dauernd gefestigt. Was er auch denken, was er auch thun mochte, stets bekam jenes Gefühl der Rührung, des Mitleids und der Zärtlichkeit die Oberhand, das er nicht allein für sie, sondern für alle Menschen empfand.

Es war gleichsam, als hätte diese Anschauungsweise in Nechludoffs Seele einem Strom von Liebe Durchgang gewährt, der sich früher nicht hatte ergießen können, der jetzt aber auf alle Menschen herabbrauste, mit denen er in Berührung kam.

Auf der ganzen Reise lebte Nechludoff in diesem Zustand der Ekstase, die ihn unbewußt gegen alle Menschen, mit denen er zusammenkam, vom Kutscher und gemeinen Soldaten bis zum Gefängnisinspektor und Gouverneur herauf, teilnahmsvoll und mitfühlend werden ließ.

Dadurch, daß man Katuscha der Abteilung der Politischen zugewiesen hatte, machte Nechludoff auch die Bekanntschaft vieler politischer Verbrecher, Ganz zuerst in Jekaterinenburg, wo man alle ganz harmlos zusammen in einer großen Stube eingesperrt hatte; dann machte er die nähere Bekanntschaft der fünf Männer und vier Frauen, denen man Katuscha überwiesen hatte.

Als Nechludoff in nähere Beziehungen zu ihnen trat, kam er bald zu der Ueberzeugung, daß das nicht alles durchgehends Schurken waren, wie so viele glaubten, und ebenso wenig Helden, wofür sich einige von ihnen ansahen, nein, es waren ganz gewöhnliche Menschen, und unter diesen gab es, wie auch überall sonst, gute, schlechte und mittelmäßige Menschen. Auch solche waren darunter, die von selbstsüchtigen, ruhmgierigen Motiven sich leiten ließen; die meisten aber waren von dem Verlangen fortgerissen worden, Gefahren zu bestehen, von dem Genusse, ihr eigenes Leben aufs Spiel zu setzen, Gefühlen, die man täglich bei der kraftstrotzenden Jugend findet, und die Nechludoff noch von seiner militärischen Dienstzeit her kannte.

Als er näher mit ihnen bekannt wurde, kam Nechludoff zu der Erkenntnis, es wären genau solche Menschen wie alle andern, nur einzig und allein mit dem Unterschiede, daß die von ihnen, die den Durchschnitt überragten, bedeutend höher, die unter ihm standen, bedeutend niedriger zu werten waren, als die andern. Auch viele liederliche, prahlsüchtige, egoistische und hochmütige Menschen waren dabei, und so kam es, daß Nechludoff einzelne seiner neuen Bekannten sehr gleichgültig behandelte, während er andern wieder mit aufrichtiger Hochachtung entgegenkam.

In der Sektion, der man Katuscha zugewiesen hatte, wanderte auch ein an der Schwindsucht leidender Jüngling Namens Krülzoff, den man zur Zwangsarbeit verurteilt und den Nechludoff ganz besonders lieb gewonnen hatte. Er hatte ihn bereits in Jekaterinenburg kennen gelernt, war später auf dem weiten Marsche noch mehrmals mit ihm zusammengetroffen und hatte sich mit ihm in ein Gespräch eingelassen.

Eines Tages, im Sommer, als die Sektion gerade Rast hielt, hatte sich Nechludoff mehrere Stunden bei ihm aufgehalten, und bei dieser Gelegenheit hatte ihm Krülzoff seine ganze Geschichte erzählt, die bis zu seiner Einkerkerung sehr kurz war und folgendermaßen lautete:

Als er noch im zartesten Knabenalter stand, war sein Vater, ein Gutsbesitzer im südlichen Rußland, gestorben. Er war das einzige Kind seiner Eltern, und die Mutter übernahm die Erziehung. Sowohl auf dem Gymnasium wie auch auf der Universität lernte er sehr leicht und absolvierte seine Studien mit dem Zeugnis eines ersten Kandidaten der mathematischen Fakultät. Man machte ihm nun das Anerbieten, bei der Universität zu verbleiben und zu diesem Zwecke seine Studien noch weiter im Auslande fortzusetzen. Er schwankte und zögerte, denn er hatte sich in ein Mädchen verliebt, das er zu heiraten gedachte und mit dem er sich auf dem Lande niederlassen wollte. Er hatte allerlei im Sinne, konnte es aber nicht über sich gewinnen, sich zu irgend etwas zu entschließen. Gerade um diesen Zeitpunkt ersuchten ihn seine Studiengefährten um Geld für das »allgemeine Wohl«. Er wußte wohl, was unter dem »allgemeinen Wohl« zu verstehen war, hatte aber zu jener Zeit nicht das geringste Interesse dafür, und nur aus Rücksicht auf seine Freunde, aus Gründen der Eigenliebe, um nicht den Glauben in ihnen zu erwecken, er fürchte sich , steuerte er das Geld bei. Die Empfänger des Geldes wurden bald darauf verhaftet, man fand bei ihnen ein Schreiben, aus dem hervorging, daß Krülzoff das Geld gespendet hatte. So wurde auch dieser verhaftet und ins Gefängnis geworfen.

Er erzählte Nechludoff das alles, während er auf seinem hohen Lager, eine Decke auf den Knieen, dasaß und mit dem starren Blicke seiner großen schwarzen Augen gerade vor sich hin ins Leere starrte.

»In dem Gefängnis,« sagte er, »in das man mich geworfen hatte, war die Behandlung verhältnismäßig milde. Wir konnten uns nicht allein miteinander verständigen, sondern uns auch in den Korridoren treffen, uns unterhalten, unsere Eßwaren und unseren Tabak miteinander teilen und abends im Chore singen. Diese abendlichen Gesänge machten mir viel Vergnügen, denn ich hatte eine schöne Stimme. Hätte ich nicht an den Kummer meiner Mutter denken müssen, die meine Verhaftung in Verzweiflung versetzt hatte, so wäre ich vollkommen glücklich gewesen. Ich hatte die Bekanntschaft mehrerer sehr interessanter Personen gemacht, ganz besonders die des berühmten Petroff, der sich später mit einem Glasscherben die Kehle durchschnitt. Doch ich war nicht immer Revolutionär und fühlte auch nicht die geringste Anlage, es zu werden.

Eines Tages brachte man zwei junge Leute in das Gefängnis, die man nach Sibirien geschickt, weil sie polnische Proklamationen verteilt und während der Reise einen Fluchtversuch unternommen hatten. Der eine von ihnen war ein Pole, Lozinski, der andere hieß Rosenberg und war jüdischen Ursprungs. Dieser Rosenberg war noch ein Kind. Er behauptete, er wäre siebzehn Jahre, doch man sah, daß er kaum fünfzehn zählte. Klein, mager, mit feurigen, schwarzen Augen, war er beweglich, geschwätzig und wie alle Juden ein sehr guter Musiker. Seine Stimme hatte noch nicht mutiert, und es war ein Vergnügen, ihn singen zu hören.

Einige Tage nach ihrer Ankunft im Gefängnis wurde gegen sie verhandelt. Man holte sie morgens ab, und als sie abends zurückkehrten, teilten sie uns mit, man hätte sie zum Tode verurteilt. Das hatte niemand erwartet. Sie hatten wohl Widerstand zu leisten versucht, als man sie wiedergefangen hatte, doch niemanden verwundet, Uns wäre auch nie der Gedanke in den Kopf gekommen, man könne ein Kind, wie diesen Rosenberg, zum Tode verurteilen. Daher waren wir auch alle in dem Gefängnis der Meinung, diese Verurteilung sollte sie nur erschrecken, würde aber nie zur Ausführung gelangen. Die Aufregung, in die uns dieses Ereignis versetzt, beruhigte sich schließlich, und wir setzten unser Leben wie früher fort.

Eines Tages aber nähert sich mir der Aufseher und teilt mir ganz geheimnisvoll mit, die Arbeiter wären gekommen, um den Galgen aufzurichten. Zuerst verstand ich gar nicht. Den Galgen? Was für einen Galgen? Selbst der alte Aufseher schien so aufgeregt, daß ich, als er mich ansah, alles begriff. Ich wollte Zeichen geben, meine Kameraden benachrichtigen, doch ich fürchtete, meine beiden Nachbarn könnten mich hören. Uebrigens mußten meine Kameraden wohl auch schon unterrichtet sein, denn in den Gängen und Zellen war plötzlich eine Totenstille eingetreten. Niemand war an diesem Abend zum Singen, ja nicht einmal zum Sprechen aufgelegt. Gegen zehn Uhr trat der alte Wärter wieder auf mich zu und teilte mir mit, der Henker wäre eben von Moskau angekommen. Er teilte mir das mit und entfernte sich. Ich rief ihn zurück, um noch weitere Erkundigungen einzuziehen, als ich hörte, wie Rosenberg mir aus seiner Zelle zurief:

»Was giebt’s denn, warum rufen Sie ihn denn?« Ich erwiderte ihm, ich wolle nur Tabak haben; doch Rosenberg mußte offenbar etwas ahnen, denn er fragte mich dann in aufgeregtem Tone, warum nicht gesungen würde und warum niemand spräche. Ich erinnere mich nicht mehr, was ich ihm erwiderte, und weiß nur, daß ich mich schlafend stellte, um dieser Unterhaltung ein Ende zu machen.

Ich schlief aber die ganze Nacht nicht. Eine entsetzliche Nacht! Nie werde ich diese furchtbaren Stunden vergessen können. Ich blieb unbeweglich auf meinem Bette liegen, lauschte auf das geringste Geräusch und zitterte, als sollte ich selbst gehängt werden. Bei Tagesanbruch hörte ich, wie die Thür des Korridors sich öffnete, und zahlreiche Schritte sich näherten. Ich stand auf und lief an das Guckfenster meiner Zelle. Zuerst sah ich den Gefängnisdirektor vorüberkommen. Er war ein großer, dicker, mit sich selbst sehr zufriedener Herr, der sonst den Kopf sehr hoch trug; doch an diesem Tage war er blaß, düster und ging mit gesenkten Augen. Hinter ihm kam ein Polizeileutnant, dem zwei Gendarmen folgten. Diese vier Personen schritten an meiner Zelle vorüber, um einige Schritte weiter stehen zu bleiben. Dann hörte ich den Offizier mit eigentümlicher Stimme rufen: »Lozinski, stehen Sie auf und ziehen Sie ein weißes Hemd an!« Dann lange Pause, dann höre ich die Schritte Lozinskis, wie er die Zelle verläßt. Durch mein Guckfenster konnte ich nur noch den Direktor sehen. Er stand bleich und entstellt da und drehte an seinem Schnurrbart, ohne den Kopf zu erheben. Plötzlich sehe ich aber, wie er ganz entsetzt zurückweicht. Lozinski ging nämlich an ihm vorüber, um sich der Thür meiner Zelle zu nähern. Ein schöner junger Mann, dieser Lozinski! Sie wissen doch, jener reizende polnische Typus: breite, gerade Stirn, feine blonde Härchen und große blaue Augen, wahre Kinderaugen. Ein junger Mensch voll Gesundheit und Leben, eine wahre menschliche Blüte! Er war an meinem Guckfenster stehen geblieben, so daß ich sein Gesicht vollständig sehen konnte. Dieses Gesicht war schrecklich anzusehen, dieses gleichzeitig düstere und lächelnde Gesicht. »Krülzoff, haben Sie eine Cigarette?« Ich wollte ihm eine geben, als der Direktor mit fieberhafter Eile sein Etui hervorholte und es ihm reichte.

Lozinski nahm eine Cigarette, der Offizier gab ihm Feuer, und er fing an, mit nachdenklicher Miene zu rauchen. Plötzlich aber erhob er den Kopf, als wenn er sich an etwas erinnerte und murmelte: »Das ist ungerecht, ich habe nichts Böses gethan, ich …« Ein Zittern erschütterte seinen jungen weißen Hals, und er schwieg.

In demselben Augenblick hörte ich, wie Rosenberg in seiner Zelle mit seiner scharfen jüdischen Stimme zu schreien anfing. Lozinski warf seine Cigarette fort und trat von meiner Thür weg. Jetzt stellte sich Rosenberg davor. Sein Kindergesicht mit seinen, kleinen schwarzen Augen war rot und mit Schweiß bedeckt. Auch er trug ein reines Hemd, seine Hose war zu weit; er hob sie fortwährend mit seinen beiden Händen hoch, und sein ganzer Körper zitterte beständig.

Er näherte meinem Guckfenster sein hageres Gesicht und sagte:

»Nicht wahr, Anatol Petrowitsch, ich bin krank, der Arzt hat mir Brustthee verordnet? Ich will noch Brustthee trinken.«

Niemand antwortete ihm, und er warf flehende Blicke bald auf mich, bald auf den Direktor. Was er mit seinem Brustthee eigentlich sagen wollte, habe ich niemals erfahren.

Von neuem erhob der Offizier die Stimme und sagte diesmal in strengem Tone:

»Na, machen Sie keine Witze, vorwärts!«

Aber Rosenberg war augenscheinlich außer stande, zu begreifen, was man von ihm wollte. Zuerst fing er an, durch, den Korridor zu laufen, dann blieb er stehen, und ich hörte sein Flehen und Schluchzen. Dann entfernten sich die Töne und wurden immer leiser, die Thür des Korridors schloß sich wieder, und ich hörte nur noch zeitweise das verzweifelte Geschrei des kleinen Rosenberg.

Sie wurden gehängt. Ein Aufseher, der der Prozedur beigewohnt, erzählte mir, Lozinski hätte alles mit sich ruhig geschehen lassen, doch Rosenberg hätte sich lange gesträubt, so daß man ihn auf das Schaffot tragen und ihm den Kopf mit Gewalt in die Schlinge stecken mußte. Dieser Aufseher war ein kleiner Mensch, den der Trunk heruntergebracht hatte.

»Man hatte mir immer gesagt, Herr, es wäre schrecklich anzusehen, aber nein, das war es gar nicht. Sobald sie den Kopf in der Schlinge hatten, haben sie nur noch zweimal mit den Schultern gezuckt. Dann hat der Henker den Knoten aufgelockert, und alles war aus; ich versichere Sie, es war gar nicht schrecklich.«

Noch lange Zeit blieb Krülzoff in tiefes Schweigen versunken, nachdem er seine Erzählung beendet hatte, Nechludoff sah, daß seine Hände zitterten und daß er an sich halten mußte, um sein Schluchzen zu unterdrücken.

»Seit diesem Tage bin ich Revolutionär geworden,« fuhr er fort, als er sich beruhigt hatte, und erzählte in einigen Worten das Ende seiner Geschichte.

Er hatte sich der Partei der »Populisten« angeschlossen und war der Anführer einer Gruppe geworden, die das Ziel verfolgte, die Regierung zu terrorisieren, damit diese auf die Macht verzichte und einzig und allein an das Volk appelliere. Im Namen seiner Gruppe hatte er sich nach Petersburg begeben, war im Auslande gereist, war nach Kiew und Odessa zurückgekehrt und hatte überall wirken können, ohne beunruhigt zu werden. Ein Mann, zu dem er volles Vertrauen hatte, hatte ihn denunciert; man hatte ihn verhaftet, zwei Jahre im Gefängnis behalten und endlich zum Tode verurteilt; doch war seine Strafe in lebenslängliche Zwangsarbeit umgewandelt worden.

Im Gefängnis war er schwindsüchtig geworden, und hatte jetzt, in den Verhältnissen, in denen er sich befand, kaum noch wenige Monate zu leben. Er wußte das und war darüber durchaus nicht bekümmert. Er sagte zu Nechludoff, hätte man ihm ein zweites Leben geschenkt, er hätte es genau in derselben Weise angewendet, nämlich, um an der Zerstörung eines Zustandes zu arbeiten, in dem so viel Grausamkeiten und Ungerechtigkeiten erlaubt waren. Die Geschichte des Unglücklichen, sowie seine ganze Person klärten Nechludoff über viele Dinge auf, die er bis dahin nicht verstanden hatte.

Einundzwanzigstes Kapitel

Als Nechludoff von dem Gouverneur Abschied genommen, begab er sich nach der Post. Er fühlte sich in besserer Stimmung und mehr zur Thätigkeit aufgelegt, als er es seit langer Zeit gewesen war.

Das Postbureau befand sich in einem großen gewölbten, dunklen und feuchten Saale. Hinter den Gittern saßen etwa ein Dutzend Beamte; die meisten plauderten miteinander, während sich in dem für das Publikumbestimmten Raum eine ungeduldige Menge stieß und drängte. An der Thür brachte ein alter Beamter seine ganze Zeit damit zu, unzählige Couverts abzustempeln, die ihm einer seiner Kollegen hinreichte.

Nechludoff brauchte nicht lange zu warten. In diesem Bureau, wie überall, verschaffte ihm seine vornehme Kleidung einen Vorzug, und einer der schwatzenden Beamten gab ihm sofort ein Zeichen, er könne nähertreten. Nechludoff reichte seine Karte, und der Beamte übergab ihm ehrfurchtsvoll die umfangreiche Post, die für ihn lagerte.

Unter dieser Post waren mehrere Wertbriefe und andere Briefe, einige Bücher, Broschüren und Zeitungen. Um wenigstens auf alles einen Blick werfen zu können, setzte sich Nechludoff auf eine Holzbank neben einen Soldaten, der hier mit einem Register in der Hand wartete. Unter den Briefkouverts fiel ihm ganz besonders eins auf, ein großes Kouvert mit höchst imposantem großem Siegel. Er öffnete das Kouvert, blickte nach der Unterschrift, und sofort fühlte er, wie das Blut ihm ins Gesicht schoß und sein Herz zum Zerspringen klopfte. Der Brief trug die Unterschrift Selenins, des früheren Freundes Nechludoffs, der jetzt Staatsanwalt am Senat war; und dem Briefe war ein amtliches Schreiben beigefügt. Es war die Antwort auf das Gnadengesuch der Maslow.

Wie lautete diese Antwort? War es eine Verwerfung? Nechludoff brannte darauf, es zu erfahren, und doch wagte er nicht, den Brief zu lesen, aus dem er es ersehen mußte. Endlich fand er die Kraft, die wenigen Zeilen zu entziffern, die ihm Selenin schrieb, und nun stieß er einen Seufzer der Erleichterung aus. Das Gnadengesuch der Maslow war bewilligt!

»Lieber Freund!« – schrieb ihm Selenin – »unsere letzte Unterredung hat einen tiefen Eindruck bei mir hinterlassen, Du hattest hinsichtlich der Maslow Recht. Ich habe ihre Angelegenheit genau studiert, und bemerkt, daß ihre Verurteilung das Ergebnis eines offenbaren Irrtums war. Leider war es unmöglich, das Urteil kassieren zu lassen; deshalb habe ich mich an die Begnadigungskommission gewendet und mit Freuden erfahren, daß das Gesuch deines Schützlings sich schon dort befand. Gott sei Dank, habe ich die Sache durchsetzen können und schicke dir angeschlossen die Kopie des Dekrets; ich schicke es dir unter der Adresse, die mir die Gräfin Katharina Iwanowna eben gegeben. Was das Dekret selbst betrifft, so ist es an die Maslow nach der Stadt geschickt worden, in der das Urteil gefällt wurde; doch ich glaube, man hat es ihr nachgesandt, und es dürfte deinem Schützling wohl bald zugestellt werden. Ich will dir jedenfalls diese gute Nachricht schnell mitteilen und schüttle dir freundschaftlich die Hand. Dein Sclenin.«

Was Dekret, dessen Abschrift Selenin Nechludoff schickte, lautete folgendermaßen:

»Kanzlei Sr. Kaiserlichen Majestät, Begnadigungskommission. Auf Befehl Seiner Kaiserlichen Majestät wird die p. p. Katharina Maslow benachrichtigt, daß Seine Kaiserliche Majestät von ihrem Gesuche Kenntnis genommen und geruht haben, die ihr zuerkannte Strafe von vier Jahren Zwangsarbeit in vier Jahre Verschickung in irgend ein Gouvernement an der Grenze von Sibirien umzuwandeln.«

Glückliche, glückliche Nachricht! Damit ging alles in Erfüllung, was Nechludoff für Katuscha und für sich selbst wünschen konnte. Doch er dachte dann daran, daß diese Veränderung in Katuschas Lage auch die Bedingungen seiner Beziehungen zu ihr umgestalten würde. So lange sie zur Zwangsarbeit verurteilt blieb, so lange war die Ehe, die er mit ihr einzugehen gedachte, eine rein fiktive Verbindung und hatte nur dadurch Bedeutung, daß sie das Schicksal der Verurteilten linderte. Doch jetzt wurde die Ehe etwas Ernsthafteres, jetzt hinderte Nechludoff und Katuscha nichts mehr, das gemeinsame Leben zu führen, wie es Mann und Frau führen sollen. Und Nechludoff fühlte sich bei diesem Gedanken wieder von seiner früheren Angst ergriffen. Er fragte sich ängstlich, ob er auf dieses gemeinsame Leben auch vorbereitet wäre, und er mußte sich selbst die Antwort geben, daß er es durchaus nicht war.

Dann kamen ihm Katuschas Beziehungen mit Simonson wieder in den Sinn. Was bedeuteten die Worte, die sie ihm am vorigen Tage gesagt? Und wenn sie wirklich einwilligte, sich mit Simonson zu verheiraten, war diese Heirat ein Glück für sie? Würde sie für ihn, für Nechludoff, ein Glück sein?

Alle diese Fragen drängten sich in seinem Hirne, und er wußte nicht, was er darauf antworten sollte. Deshalb nahm er wieder einmal zu seinem gewöhnlichen Verfahren seine Zuflucht. »Ich werde das alles später entscheiden,« sagte er sich; »jetzt muß ich vor allem Katuscha wiederzusehen suchen, ihr die glückliche Nachricht mitteilen und die Formalitäten ihrer Freilassung beschleunigen.«

Die Kopie, die ihm Selenin geschickt, genügte dazu zweifellos, bis die öffentliche Bekanntmachung des Dekretes eintraf.

Nechludoff verließ das Polizeibureau und fuhr nach dem Gefängnis, in welchem die Mitglieder des Transportes sicherlich untergebracht waren.

Zweiundzwanzigstes Kapitel

Obwohl ihm der Gouverneur den Eintritt in das Gefängnis ausdrücklich untersagt hatte, wußte Nechludoff aus Erfahrung, daß man das, was man bei den oberen Behörden nicht durchsetzen konnte, bei den unteren Organen dagegen ohne allzu große Mühe erlangte. Deshalb hoffte er auch, der Gefängnisdirektor würde ihm die Erlaubnis erteilen, bis zur Maslow vorzudringen, um sie von der Bewilligung ihres Gnadengesuches zu unterrichten. Er hoffte gleichzeitig, sich nach der Gesundheit Krülzoffs erkundigen und ihm, sowie Maria Pawlowna das Resultat seiner Unterredung mit dem Gouverneur mitteilen zu können.

Der Direktor des Gefängnisses war ein großer, vierschrötiger Mann, mit imposantem Gesicht und langem Schnurr- und Vollbart. Er empfing Nechludoff äußerst streng und erklärte ihm sofort, der Zutritt für fremde Personen zu den Gefangenen wäre nur mit Erlaubnis des Gouverneurs möglich; und als Nechludoff ihm sagte, man hätte ihm sogar in den großen Städten, auf der Reise des Zuges bei den Gefangenen eingelassen, entgegnete der Direktor in trockenem Tone:

»Das ist schon möglich, aber ich kann Sie nicht hineinlassen.«

Dabei bedeutete sein Ton klar und deutlich:

»Ihr Herren aus der Hauptstadt bildet euch ein, ihr könntet uns in Erstaunen oder Verlegenheit setzen; aber nein, in Sibirien werden wir euch schon zeigen, daß wir die Vorschriften genügend kennen, um sie euch im Notfall ins Gedächtnis zurückrufen zu können.«

Nechludoff überreichte ihm die Ausfertigung des Dekrets, in welchem die Begnadigung der Maslow ausgesprochen war; und auch das machte nicht den geringsten Eindruck auf diesen schrecklichen Menschen. Er weigerte sich nicht nur hartnäckig, Nechludoff die Thore des Gefängnisses überschreiten zu lassen, sondern er wollte ihm auch nicht einmal sagen, ob der Zug schon angelangt wäre. Als Nechludoff ihn naiver Weise fragte, ob die Kopie, die er eben erhalten, zur Freilassung der Maslow genügte, lächelte er bei dieser Frage so verächtlich, daß Nechludoff sich seiner Naivetät schämte. Der Direktor war indessen so gefällig, ihm zu versprechen, er würde der Maslow von der Annahme ihres Gnadengesuches Mitteilung machen; er fügte sogar als Zeichen ganz besonderer Gunst hinzu, er würde sie, sobald seine Vorgesetzten ihm die Freilassungsordre übergeben würden, auch nicht eine Stunde länger zurückhalten.

So stieg denn Nechludoff, ohne etwas erreicht zu haben, wieder in seinen Fiaker und fuhr nach dem Hotel zurück.

Hier erfuhr er dagegen aus dem Munde des Kutschers, daß der Zug bereits seit einer halben Stunde angelangt war, und er erfuhr auch aus derselben Quelle das Motiv der unbeugsamen Strenge des Gefängnisdirektors. Diese Strenge stammte daher, daß in dem überfüllten Gefängnis eine Typhusepidemie ausgebrochen war.

»Das ist gar nicht so wunderbar,« erklärte der Kutscher, indem er sich auf seinem Bock umdrehte; »es sind zweimal mehr Gefangene da, als das Gefängnis zu fassen vermag. Es geht toll genug darin zu, es sterben jeden Tag mehr als zwanzig.«