Kapitel 13

 

13

 

Jim Morlake hatte die Abendmahlzeit beendet, die Mahmet ihm aufgetragen hatte, und las Zeitung. Binger war früher als gewöhnlich nach Hause gegangen und hatte außerdem Anweisung, nicht vor drei Tagen zurückzukommen. Morlake hatte die Absicht, diesen Abend noch nach Wold House zurückzukehren. In der Halle stand schon sein Koffer, und sein Wagen hielt vor der Tür. Er hätte zeitiger aufbrechen können, aber der Nebel war am Nachmittag so dicht gewesen, daß er lieber wartete, bis es aufklarte. Schließlich legte er die Zeitung fort, trat an das Fenster, zog die schweren Übergardinen beiseite und schaute hinaus.

 

»Ich fahre jetzt, Mahmet«, sagte er dann.

 

Im selben Augenblick schrillte das Telefon.

 

Er nahm den Hörer ab.

 

»Ist dort Mr. Morlake?« fragte eine fremde Stimme erregt. »Ich spreche von Blackheath aus… Binger ist von einem Autobus überfahren worden… man hat ihn nach Cranfield Gardens Nr. 12 gebracht. Können Sie sofort dorthin kommen?«

 

»Ist er schwer verletzt?« fragte Morlake schnell.

 

»Ich glaube nicht, daß er mit dem Leben davonkommt – ich bin Doktor Grainger.«

 

Jim sah sich auf der Karte rasch die genaue Lage von Cranfield Gardens an und fuhr ein paar Minuten später in größter Eile nach Blackheath. Der Nebel im Süden Londons war dichter, als Jim erwartet hatte, und man konnte nur langsam vorwärtskommen. Aber bei New Cross klarte es auf.

 

Lieber hatte Morlakes Wohnung beobachtet und ihn abfahren sehen. Er eilte zur nächsten Telefonzelle und rief Marborne an.

 

»Er ist fort«, sagte er. »Es war fünf Minuten nach zehn.«

 

»Ist er allein?«

 

»Ja, er fährt in seinem eigenen Wagen. Es sah so aus, als ob er große Eile hätte.«

 

Marborne hängte den Hörer ein und zahlte dann seine Zeche in dem kleinen Restaurant in Greenwich, in dem er schon seit einer Stunde auf die Nachricht gewartet hatte. Rasch trat er zu Slone und Colley auf die Straße hinaus.

 

»Wir dürfen keine Zeit verlieren. Brechen Sie jetzt so schnell als möglich in das Haus ein, Colley. Die Leute legen sich immer schon um neun Uhr schlafen.«

 

Das Auto, das sie für die ganze Nacht gemietet hatten, brachte sie nach Blackheath, und an der Ecke von Cranfield Gardens erhielt Colley die letzten Instruktionen.

 

»Sie müssen durch das Fenster in der Speisekammer eindringen und dann zum ersten Stock hinaufsteigen. Schlagen Sie eine der Vitrinen ein, in denen die Juwelen liegen. Sie riskieren nichts dabei, Colley. Sobald Sie Ihre Aufgabe erfüllt haben und die Familie wach ist, machen Sie, daß Sie fortkommen!«

 

Colley verschwand in der Dunkelheit.

 

»Die Sache ist etwas sehr plump, Inspektor«, wandte sich Slone an seinen Vorgesetzten. »Ich fürchte, Morlake geht nicht in eine solche Falle. Er fährt wahrscheinlich direkt zur Wohnung seines Dieners und findet ihn gesund zu Hause.«

 

»Und ich sage Ihnen, daß er geradenwegs hierherkommt. Ich hörte schon an seiner Stimme, daß er in großer Sorge um Binger ist.«

 

Die beiden gingen schnell Cranfield Gardens hinunter und traten in einen dunklen Torweg.

 

»Das Auto kommt eben den Hügel herauf«, sagte Marborne plötzlich. »Kommen Sie noch tiefer in den Schatten.«

 

»Die ganze Geschichte ist verpfuscht«, brummte Slone. »Das ist zu plump angelegt – das kann nicht gut ausgehen.«

 

»Halten Sie den Mund«, fuhr ihn Marborne an. »Da ist der Wagen schon.«

 

Jim Morlake hielt vor Nr. 12 und stieg aus. Es war das vierte Haus von der Straßenecke und hatte eine große, schöne Fassade, aber es war kein Licht zu sehen. Er war schon durch das Tor in der Umzäunung gegangen, als ihm plötzlich auffiel, daß die rote Laterne, die gewöhnlich die Wohnung eines Arztes ankündigt, nicht brannte. Er kehrte um und schaute auf den Torpfosten, um sich zu vergewissern. Es stimmte, dieses Haus war Nr. 12. Er zögerte nun nicht länger, ging den kurzen Weg zur Haustür und stieg die Treppe hinauf. Da hörte er von innen einen Schuß und das Geräusch von Schritten in der Halle.

 

Plötzlich erkannte er instinktiv, in welcher Gefahr er schwebte, und eilte die Stufen wieder hinunter. Aber kaum hatte er zwei Schritte auf das Tor zu getan, als er einen Schlag erhielt, der ihm beinahe das Bewußtsein raubte. Noch ein Hieb sauste auf ihn nieder, dann wurde alles um ihn her dunkel.

 

Als er wieder zu sich kam, lag er auf einer harten, hölzernen Pritsche; jemand war mit seinem Kopf beschäftigt. Er öffnete die Augen und sah im spärlichen Licht der Zelle einen Mann, der ihn verband.

 

»Bleiben Sie still liegen«, sagte der Doktor entschieden.

 

Es war wirklich eine Zelle. Wie war er nur hierhergekommen? Plötzlich erinnerte er sich an den Schlag, der ihn niedergestreckt hatte. Sein Kopf schmerzte furchtbar, und er hatte ein unangenehmes Gefühl an den Händen. Als er sie betrachtete, bemerkte er, daß sie gefesselt waren.

 

»Warum hat man mich hierhergebracht?« fragte er.

 

»Der Polizeiinspektor wird Ihnen wohl alles Nötige mitteilen,« meinte der Arzt.

 

»Ach so«, erwiderte Jim düster. »Ich wünschte, er käme möglichst bald, um mir Aufklärung zu geben. Wie geht es denn Binger?«

 

Er lächelte schwach. »Die ganze Geschichte war wohl nur erfunden? Der Polizeiinspektor, von dem Sie sprechen, ist natürlich Marborne?«

 

»Fragen Sie ihn lieber selbst«, entgegnete der Arzt diplomatisch. »Er wird in ein paar Minuten hier sein.«

 

Er ging hinaus und schloß die Zellentür. Mühsam setzte sich James Morlake aufrecht und überdachte seine unglückliche Lage. Er befühlte seine Taschen. Man hatte ihm alle Gegenstände abgenommen, die er bei sich getragen hatte.

 

Nach einer Weile wurde die Zellentür geöffnet, und Marborne trat mit einem triumphierenden Lächeln ein.

 

»Nun, Morlake? Jetzt haben wir Sie doch gefaßt!«

 

»Ich hätte Ihnen doch damals die Streichhölzer lassen sollen«, sagte Jim kühl. »Wenn ich gewußt hätte, mit welcher Absicht Sie sie nahmen und daß Sie mir auflauern und mich berauben wollten, dann hätte ich Ihnen die Mühe sparen können!«

 

»Ich weiß gar nicht, was Sie da von Streichhölzern reden«, sagte Marborne brüsk. »Ich weiß nur, daß wir Sie mit Ihrer Beute gefangengenommen haben. Ich bin Inspektor Marborne«, fuhr er in amtlichem Ton fort, »und ich beschuldige Sie, daß Sie gestern abend in das Haus Cranfield Gardens Nr. 12 eingebrochen sind. Ebenso erhebe ich Klage gegen Sie, weil Sie im Besitz eines geladenen Revolvers und von Einbrecherwerkzeug waren. Weiter lege ich Ihnen zur Last, daß Sie am siebzehnten dieses Monats in der Burlington-Depositenbank eingebrochen sind und am zwölften August die Home-Counties-Bank beraubt haben.«

 

»Ich will Ihre Deklamationen nicht unterbrechen«, erwiderte Morlake. »Sie müßten mich noch warnen, daß alles, was ich sage, als Beweis gegen mich verwendet werden kann. Das ist Ihre Pflicht, das wissen Sie doch! Haben Sie vielleicht unseren Freund Hamon auch verhaftet?«

 

»Sie wissen sehr wohl, daß ich Mr. Hamon nicht verhaftet habe. Welche Anklage könnten Sie denn vorbringen?«

 

»Vorsätzlichen Mord! Und Sie würde ich beschuldigen, nach der Tat sein Helfer gewesen zu sein!«

 

Kapitel 14

 

14

 

Der Polizeibeamte verstand nicht sofort.

 

»Was heißt das?« fragte er rauh. »Vorsätzlicher Mord?«

 

»Wieviel Sie von der Sache wissen, muß ich erst noch erfahren«, sagte Jim Morlake ruhig. »Aber an dem Tag, an dem ich Hamon fange, geht es auch Ihnen schlecht!«

 

»Wenn Sie Hamon fangen – wollen Sie denn Polizeibeamter werden?« fragte Marborne ironisch.

 

»Das ist gar nicht nötig – so tief werde ich niemals sinken.«

 

Der Detektiv bückte sich, packte ihn und zog ihn hoch, so daß Jim auf die Füße zu stehen kam.

 

»Kommen Sie jetzt mit und sehen Sie sich ein paar von den Sachen an, die man gefunden hat, als Sie verhaftet wurden«, sagte er und führte ihn den Korridor entlang ins Amtszimmer.

 

Auf dem Tisch des Sergeanten lagen verschiedene Dinge. Eine schwarze Seidenmaske, eine Pistole, ein vollständiger Satz von Einbrecherinstrumenten, eine kleine Azetylenlampe, ein Gummibehälter mit sechs Fläschchen und drei Bündel Dietriche.

 

»Das soll mir gehören? Wo hatte ich denn all diese Dinge – in meiner Westentasche vielleicht?«

 

»Einiges fand sich in Ihrem Mantel, das andere war unter dem Sitz Ihres Wagens verborgen«, sagte der Detektiv. »Sie geben doch wohl zu, daß Ihnen das alles gehört?«

 

»Ich gebe gar nichts zu. Das einzige, was ich nicht sehen kann, ist eine goldene Uhr mit Kette, die mir wirklich gehört. Ich nehme an, daß Sie sie zu persönlichen Zwecken konfisziert haben. Ich trug auch ein wenig Geld bei mir – ungefähr fünfundsechzig Pfund – auch das ist verschwunden. Das haben Sie wohl ebenfalls für sich behalten?«

 

»Geld und Uhr verwahre ich«, erwiderte der Sergeant. »Sie machen Ihre Lage nicht besser, wenn Sie diesen Beamten beschuldigen.«

 

»Vielleicht stimmt das«, gab Jim nach kurzem Nachdenken zu. Dann zeigte er seine gefesselten Hände.

 

»War das unbedingt notwendig?«

 

»Ich glaube nicht.«

 

Der Sergeant nahm einen Schlüssel, schloß die Handschellen auf und nahm sie ihm ab. Dann wurde Morlake in seine Zelle zurückgebracht. –

 

Joan Carston saß beim Frühstück in Lowndes Square und las in der Morgenzeitung, als Hamon gemeldet wurde. Seufzend legte sie das Blatt hin und sah ihren Vater an.

 

»Dieser Mensch! Warum kommt er jetzt schon wieder?« fragte er aufgeregt. »Ich dachte, wir hätten nun einmal für einen Monat Ruhe vor ihm!«

 

»Es wird vorübergehen«, meinte Joan resigniert. »Wir müssen ihn empfangen.«

 

Ralph Hamon war lebhaft und liebenswürdig, sie hatte ihn noch nie so strahlend gesehen.

 

»Ich habe einige sehr interessante Neuigkeiten für Sie«, sagte er jovial, nahm sich ohne Aufforderung einen Stuhl und setzte sich an den Frühstückstisch. »Wir haben den Teufel!«

 

»Na, dann legen Sie ihn in Ketten und schicken Sie ihn zur Hölle!« brummte der Lord.

 

»Von welchem besonderen Teufel sprechen Sie denn, Mr. Hamon?« fragte Joan niedergeschlagen.

 

»Von Morlake. Man hat ihn letzte Nacht auf frischer Tat ertappt, als er in ein Haus in Blackheath einbrach.«

 

Sie sprang auf.

 

»Das ist doch nicht wahr!« rief sie erregt. »Mr. Morlake … o nein, das ist nicht wahr!«

 

»Es ist einwandfrei erwiesen«, erklärte Hamon. »Er wurde verhaftet, als er in das Haus eines Mannes einbrach, der eine Juwelensammlung besitzt. Glücklicherweise folgten ihm zwei Polizeibeamte, die ihn schon seit einiger Zeit beobachteten, und nahmen ihn fest, als er eben fliehen wollte. Colonel Paterson störte ihn nämlich bei der Arbeit.«

 

Lord Creith nahm seine Brille ab und schaute ihn erstaunt an.

 

»Sie meinen James Morlake, unseren Nachbarn?« fragte er ungläubig.

 

Hamon nickte: »Ich meine ›den Schwarzen‹, den geschicktesten Einbrecher seit Jahren.«

 

Joan war in ihren Sessel zurückgesunken, das Zimmer schien sich um sie zu drehen. Hamon sprach die Wahrheit. Seine Heiterkeit war der beste Beweis dafür.

 

»Meine Schwester wird sich übrigens die Ehre geben, Sie zu besuchen, Lady Joan«, wandte er sich höflich an sie.

 

»So?« fragte sie abwesend. »Ach ja, Sie haben eine Schwester in Paris. Es tut mir leid, daß ich heute nachmittag nicht zu Hause bin.«

 

»Das dachte ich mir und sagte ihr deshalb, daß sie morgen kommen solle. Sie wird Ihnen gefallen, sie ist ein gutes Mädchen, obwohl ich sie ein wenig verzogen habe.«

 

»Wann wird Mr. Morlake verhört?« fragte sie, ohne weiter auf Lydia Hamon einzugehen.

 

»Heute früh beginnt die Voruntersuchung, dann kommt er wieder in Untersuchungshaft, und nächste Woche wird er vor Gericht gestellt. Sie interessieren sich wohl für ihn? Nun, das ist ja natürlich. Solche Menschen haben etwas Romantisches an sich.«

 

»Hat er Freunde? Ich meine, jemand, der sich für ihn verbürgt?«

 

»In seinem Falle gibt es keine Bürgschaft. Die Polizei wird sich hüten, ihn gegen Kaution freizulassen, zumal seine Verhaftung nur nach einem harten Kampf möglich war.«

 

»Wurde er verletzt?« fragte sie schnell.

 

»Er hat einen oder zwei Schläge abbekommen«, erwiderte Hamon mit einem sorglosen Achselzucken.

 

Ihre Augen ließen ihn nicht los.

 

»Sie wissen sehr viel darüber. Man hat Sie vermutlich angerufen und Ihnen alles erzählt?«

 

»Ich weiß nur, was in den Zeitungen steht«, erwiderte Hamon schnell.

 

»Es steht nichts in den Zeitungen – es passierte wohl zu spät in der Nacht, um noch in die Morgenpresse zu kommen.«

 

Sie erhob sich und ging ohne ein Wort aus dem Zimmer.

 

Kapitel 1

 

1

 

Mr. Reeder reiste nach den Vereinigten Staaten, um bei der Aufklärung einer großen Unterschlagungsaffäre mitzuhelfen; es handelte sich dabei um den Fall der Gessler-Bank.

 

Selbstverständlich wurde er bei seiner Ankunft in New York von den Spitzen der städtischen Polizei wie ein Prinz aus königlicher Familie empfangen. Die Polizeibeamten dieser Riesenstadt waren nicht nur äußerst höflich zu ihm, sondern bewiesen auch, daß sie an Originale jeder Art gewöhnt waren.

 

Es lächelte also niemand über die ein wenig altmodische Kleidung des Detektivs, und keiner hätte sich eine boshafte Bemerkung über seinen steifen Filzhut und seinen Selbstbinder erlaubt. Jeder sah in ihm nur den berühmten Kriminalisten und ließ sich nicht durch sein zurückhaltendes und fast schüchternes Wesen täuschen.

 

Mr. Reeder blieb nur verhältnismäßig kurze Zeit in den USA, aber immerhin fand er Gelegenheit, den Polizeiapparat der vier größten amerikanischen Städte zu studieren. Unter anderem besuchte er das Zuchthaus in Atlanta, und zwei Tage vor seiner Abfahrt ließ er es sich nicht nehmen, auch noch nach Ossning zu fahren. Dort öffneten sich vor ihm die gewaltigen Stahltore von Sing- Sing, und geführt von dem Gefängnisdirektor persönlich, lernte er alle Einrichtungen dieses weltberühmten Zuchthauses kennen – angefangen von der Gefangenenkartei bis zu dem Raum, wo der elektrische Stuhl stand.

 

»Es wäre mir sehr lieb gewesen, wenn Sie sich einmal einen bestimmten Häftling näher angesehen hätten«, sagte der Gefängnisdirektor, kurz bevor er sich von ihm verabschiedete. »Es handelt sich um einen Engländer – einen Mann namens Redsack. Haben Sie jemals etwas von dem Burschen gehört?«

 

Mr. Reeder schüttelte den Kopf.

 

»Leider gibt es eine ganze Menge von Leuten, deren Existenz ich bisher noch nicht in meinem Gedächtnis registriert habe«, erwiderte er fast entschuldigend in seiner etwas umständlichen Art. »Dazu gehört auch Mr. Redsack. Wird er Ihnen noch lange zur Last fallen?«

 

»Er muß eine lebenslängliche Zuchthausstrafe absitzen«, entgegnete der Direktor, »und er darf noch froh sein, daß er nicht auf dem elektrischen Stuhl gelandet ist. Aus drei verschiedenen Gefängnissen konnte er schon ausbrechen, aber hier in Sing-Sing wird ihm das nicht gelingen. Er ist einer der gefährlichsten Verbrecher, die wir jemals beherbergten.«

 

»Ich würde ihn gerne sehen.«

 

»Im Augenblick kann ich Ihnen Redsack leider nicht vorführen. Wir mußten ihn nämlich in eine Strafzelle stecken, weil er wieder einmal einen Ausbruchsversuch gemacht hat. Eigentlich hatte ich angenommen, daß Sie ihn kennen würden. Viermal ist er in den USA schon verurteilt worden, und er hat wahrscheinlich mehr Morde auf dem Gewissen, als wir ahnen. Dabei ist er einer der klügsten Burschen, die mir je unter die Hände gekommen sind.«

 

»Ich habe bis jetzt noch keinen wirklich intelligenten Verbrecher kennengelernt. Nur schade, daß Redsack seine Straftaten nicht in England begangen hat.«

 

»Warum schade?« fragte der Direktor erstaunt.

 

»Dann wäre er nämlich jetzt nicht mehr am Leben«, erwiderte Mr. Reeder und seufzte.

 

In diesem Winter fuhren die Schiffe von New York nicht gerade regelmäßig ab; das Wetter war sehr schlecht. Auch der Dampfer, den Mr. Reeder wählte, hatte eine Verspätung von vierundzwanzig Stunden. So füllte er die Wartezeit damit aus, die Akten des Polizeipräsidiums von New York zu studieren. Besonders interessierten ihn dabei Angaben über die Person dieses Mr. Redsack.

 

Mr. Reeder staunte, als er einen ziemlich dicken Ordner durchblätterte. Redsack war anscheinend ein ziemlich gerissener Verbrecher. Es existierten zwar viele Fotos von ihm, aber er hatte es immer wieder verstanden, sich auf jedem davon ein anderes Aussehen zu geben. Sein Geburtsort war Vancouver in Kanada, in London wurde er erzogen. Schon mit dreißig Jahren hatte er so zahlreiche Gaunereien verübt, daß er in Verbrecherkreisen hohes Ansehen genoß. Der Mann schien wirklich klug zu sein. Er hatte es verstanden, sich bereits dreimal mit außergewöhnlicher Schlauheit aus der Schlinge zu ziehen.

 

Das Schiff verließ New York gegen Mitternacht, und als Mr. Reeder sich schlafen legte, hatte er keine Ahnung, daß fünf Decks unter ihm der Mann als Heizer arbeitete, mit dem er sich noch vor kurzem so intensiv beschäftigt hatte.

 

Redsacks Flucht aus Sing-Sing war eine äußerst kühne Tat. Sie wirkte um so sensationeller, als er sie nicht vorher hatte planen können.

 

Jede Flucht ist ein abenteuerliches Unternehmen, doch die des Sträflings Redsack würde fast ans Unglaubhafte grenzen, wenn nicht ihre Begleitumstände in den Akten der amerikanischen Polizeibehörden genau niedergelegt worden wären. Glück, Geschicklichkeit – und vor allem eine Verknüpfung seltsamer Zufälle standen dem Gefangenen an jenem Tag bei.

 

Es war ein trüber Winternachmittag. Etwa ein Dutzend Sträflinge trabten im Kreis auf dem großen Hof des Zuchthauses umher. Sie wurden scharf bewacht, doch konnten es ihnen ihre Wächter schließlich nicht verbieten, über die hohe Gefängnismauer hinweg zu dem grauverhangenen Himmel emporzusehen. Ganz in der Nähe manövrierte ein Freiballon, der von einem benachbarten Militärflugplatz aufgestiegen war. Einige heftige Windböen hatten ihn von seinem Kurs abgetrieben und zu Boden gedrückt. Die Besatzung, die Wetterbeobachtungen anstellen sollte, bemühte sich verzweifelt, Ballast abzuwerfen, doch irgend etwas an dem Mechanismus der Abwurfvorrichtung für die Sandsäcke funktionierte nicht. Der Ballon sank tiefer und tiefer, bis er schließlich nur noch ungefähr fünfzig Meter über der Erdoberfläche dahingetrieben wurde.

 

Was die Sträflinge und ihre Wächter – auch diese beobachteten gespannt den Vorfall – nicht sahen, war das gleichzeitig als Haltetau bei einer Landung dienende Schleppseil des Ballons, das über den Boden schleifte.

 

Eine neue Windbö trieb den Ballon zur Seite. Er jagte jetzt nur dreißig Meter über dem Boden direkt auf das Gefängnis zu.

 

In Sekundenschnelle hatte er sich der Umfassungsmauer genähert und stand gleich darauf – riesengroß aus dieser Nähe – direkt über dem Hof. Das Schleppseil verfing sich einen Augenblick in den auf der Mauer angebrachten Eisenzacken und klatschte dann auf das Pflaster des Hofs, wo die Sträflinge in ihrer gleichförmigen Bewegung einen Augenblick erstarrten und, wie ihre Wachmannschaften, die Hälse nach oben reckten.

 

Was jetzt folgte, spielte sich im Bruchteil einer Sekunde ab. Der Ballon wurde über den Hof getrieben, das Schleppseil hatte schon fast die gegenüberliegende Mauer erreicht, als sich plötzlich ein Sträfling aus dem Kreis löste und mit einigen mächtigen Sätzen bei dem Seil war. Er packte es, eine neuerliche Bö warf den Ballon einige Dutzend Meter in die Höhe und jagte ihn gleichzeitig nach vorn. Bevor die verdutzten Wächter noch ihre Gewehre von den Schultern gerissen hatten, waren Ballon und Mann schon hinter einem nahen Gehölz verschwunden.

 

Die Besatzung des Ballons sah natürlich ihren ungebetenen Passagier, konnte aber beim besten Willen nichts gegen ihn unternehmen. Die Männer in der Gondel hatten alle Hände voll zu tun, die Abwurfvorrichtung in Ordnung zu bringen, damit sie endlich aus der für sie gefährlichen Nähe des Erdbodens freikamen.

 

Dichtes Schneetreiben hatte eingesetzt. Der Ballon trieb ungefähr zwei Kilometer weit, und Redsack – so hieß der Sträfling, der diese tollkühne Flucht gewagt hatte – wurden allmählich die Finger klamm. Er mußte damit rechnen, daß es der Ballonbesatzung jede Minute gelingen konnte, Ballast abzuwerfen – und dann würde es steil in die Höhe gehen. Er blickte unter sich … Die Gelegenheit war günstig, der Ballon wurde in diesem Moment wieder zu Boden gedrückt. Noch zwanzig Meter Abstand zwischen ihm und der tief verschneiten Erdoberfläche – noch fünfzehn Meter – noch zehn Meter – mit dem Mut der Verzweiflung ließ er los und landete sich überschlagend in einer tiefen Schneewehe, die wie für einen solchen Zweck geschaffen, vom Wind an einer Straßenböschung aufgehäuft worden war.

 

Genau das Richtige für seine Zwecke war auch der kleine Fordwagen, der zehn Meter weiter am Straßenrand parkte. Er gehörte einem Sonntagsjäger, der mit seiner Schrotflinte hier in der Gegend auf den Krähenstrich gegangen war. Eine zweite Flinte, die für einen Freund gedacht gewesen war, der ihn eigentlich hatte begleiten wollen, lag auf dem Rücksitz. Mr. Redsack stieg ein und hielt eine halbe Stunde später vor einer Bank in einer kleinen Stadt, ungefähr zehn Meilen von Jersey City entfernt.

 

Er verließ den Wagen mit einem doppelläufigen Gewehr unter dem Arm und ging in die Bank. Es war eine Minute vor Schluß, und im Schalterraum befanden sich nur noch der Kassierer und der Prokurist. Der letztere wollte gleich anschließend in Urlaub fahren und hatte sein Reisegepäck ins Büro mitgenommen.

 

Kurz darauf verließ Redsack die Bank mit einem Koffer in der Hand und sechstausend Dollar in der Tasche. Auch hatte er sich zwei Revolver angeeignet, die er in einer Schreibtischschublade gefunden hatte. Aus dem Keller, in dem er die beiden Bankbeamten einschloß, nahm er den Arbeitsanzug des Hausmeisters mit.

 

Bei der nächsten Gelegenheit warf er den Koffer in den Straßengraben und wechselte seine Sträflingskleidung in einem Gebüsch mit dem alten, abgetragenen Arbeitsanzug des Hausmeisters aus. Den Ford ließ er zwei Meilen von New Jersey City entfernt auf der Straße stehen. Dann stieg er in einen Bus.

 

Es war ihm klar, daß die Polizei hinter ihm her war, aber natürlich suchte sie nach einem Mann, der die Kleider des Prokuristen trug. So durfte er ziemlich sicher sein, daß man ihn nicht erkennen würde. Er hatte noch keine festen Pläne, als er zum Hafen von New York fuhr.

 

Dort brauchte er aber nur kurze Zeit, um sich über seine nächsten Schritte klarzuwerden; von da ab ging alles glatt.

 

Heizer waren stets gesucht, und so wurde er gleich der ersten Wache zugeteilt und war damit beschäftigt, Kohlen ins Feuer zu werfen, bevor der Dampfer den Hafen von New York verließ.

 

Als die Beamten von Scotland Yard später den Fall Redsack bearbeiteten, schüttelten sie die Köpfe. Es war doch ein eigenartiger Zufall, daß Redsack ausgerechnet an dem Tag aus der Strafzelle herauskam, als die Geschichte mit dem Wetterballon passierte. Wenn Mr. Reeder ihn wenigstens vorher gesehen hätte, dann wäre viel Mühe und Arbeit gespart worden. Und wahrscheinlich wäre auch die große Betrugssache bei der L. und O.-Bank nicht vorgekommen.

 

Mr. Reeder hatte übrigens diesen intelligenten Verbrecher durchaus nicht vergessen. Als er wieder in England war, ließ er sich sofort alle Unterlagen über Redsack vorlegen, die in den Archiven von Scotland Yard schlummerten. Er notierte sogar die wichtigsten Stationen auf dem Lebensweg Mr. Redsacks, denn er war der Meinung, daß jedes Verbrechen in irgendeiner abgewandelten Form später wieder einmal auftauchen würde.

 

Merkwürdigerweise dachte er aber nicht im entferntesten an Redsack, als die L. und O.-Bank beraubt wurde.

 

Kapitel 2

 

2

 

Mr. Reeder ging nur selten ins Theater, und wenn er es einmal tat, dann suchte er sich meistens ein klassisches, möglichst romantisches Stück aus. Die modernen Inszenierungen sagten ihm wenig zu.

 

Eines Abends ließ er sich dazu verleiten, den Kriminalreißer ›Herzen in Flammen‹ anzusehen. Es war eine Enttäuschung, er wußte bereits nach dem ersten Akt, wer der Täter war, und von da ab interessierte ihn das ganze Stück nicht mehr.

 

In der Pause zwischen dem ersten und zweiten Akt schlenderte er im Foyer auf und ab und rauchte eine billige Zigarette. Nach der Pause, wenn die Zuschauer wieder auf ihren Plätzen saßen und es weniger auffiel, wollte er sich Mantel und Hut holen und nach Hausegehen.

 

Zu diesem Entschluß war er gerade gekommen, als ein eleganter Herr auf ihn zutrat. Der Mann war groß und stattlich, er machte einen ausgesprochenen distinguierten Eindruck. Seine Hände waren sorgsam gepflegt, und auf seinem Gesicht lag ein stereotypes Lächeln, das seinen Zügen so angegossen schien wie sein Anzug seiner Figur.

 

Als Mr. Reeder den Herrn auf sich zukommen sah, schoß ihm der Gedanke durch den Kopf, daß es vielleicht doch besser wäre, schnell in den Zuschauerraum zurückzugehen und auch den zweiten Akt über sich ergehen zu lassen.

 

»Sicher habe ich das Vergnügen mit Mr. Reeder«, sprach ihn der Fremde an. »Mein Name ist Hallaty. Ich bin Geschäftsführer bei der L. und O.-Bank in Gunnersbury. Erinnern Sie sich nicht mehr, daß Sie mich seinerzeit in meinem Büro aufsuchten? Es handelte sich um einen Angestellten, der Schecks gefälscht hatte.«

 

Mr. Reeder setzte seine Brille auf und betrachtete den Mann genauer.

 

»Ja – jetzt fällt es mir wieder ein, daß die L. und O.-Bank auch eine Niederlassung in Gunnersbury hat. Diese großen Banken errichten ja heutzutage überall Filialen.«

 

»Ich bin einigermaßen überrascht, Sie im Theater zu treffen«, fuhr Mr. Hallaty lächelnd fort.

 

»Man sieht mich hier auch nur selten«, erwiderte Reeder kurz.

 

»Ich habe mich vorher mit Lord Lintil unterhalten, den Sie ja wahrscheinlich auch kennen. Wir sind gut miteinander bekannt, ich möchte fast sagen – befreundet.«

 

Diese Worte machten offenbar Eindruck auf Mr. Reeder.

 

»So?« sagte er respektvoll. »Ich habe Lord Lintil seit seinem dritten Bankrott allerdings noch nicht wiedergesehen. Er ist entschieden ein interessanter Mann.«

 

Mr. Hallaty versuchte, sich seinen Ärger nicht anmerken zu lassen.

 

»So etwas kann jedem einmal passieren«, meinte er dann.

 

»Haben Sie mit ihm auch über mich gesprochen?« fragte Mr. Reeder.

 

»Ich sagte ihm nur, daß Sie ein ziemlich kluger Mann sein müßten«, entgegnete Hallaty ausweichend.

 

Mr. Reeder war dieses Lob unangenehm.

 

»Wir unterhielten uns hauptsächlich über diese Betrugsaffären bei Banken, die jetzt immer häufiger vorkommen. Es ist anscheinend ziemlich schwierig, die Leute, die solche Verbrechen begehen, zu fassen. Sie sind doch auch der Meinung, Mr. Reeder, daß hier exemplarische Strafen am Platz wären?«

 

»Ja, das ist kein schlechter Gedanke.«

 

Der Detektiv war gespannt, was dieser Mann eigentlich von ihm wollte.

 

»Was mich interessieren würde, Mr. Reeder – Sie verwenden zur Aufklärung von Verbrechen wahrscheinlich ein ganz bestimmtes System, wie?«

 

»Höchstwahrscheinlich tue ich das.« Mr. Reeder sah auf die Uhr. »Entschuldigen Sie mich jetzt bitte, ich möchte mir den zweiten Akt ansehen«, schwindelte er skrupellos.

 

»Es ist seit jeher mein geheimer Wunsch, einmal selbst bei der Aufklärung eines Verbrechens mithelfen zu können«, fuhr Mr. Hallaty unbekümmert fort. »Es gibt da so eine Redensart, daß man am besten einen Dieb dazu anstellt, einen anderen zu fangen.«

 

Mr. Reeder tat so, als ob er den Scherz nicht verstünde.

 

»Wollen Sie damit etwa sagen, Mr. …, wie war doch Ihr Name?«

 

Mr. Hallaty wurde rot.

 

Glücklicherweise klingelte es in diesem Augenblick zum drittenmal, und Mr. Reeder hatte einen Grund, sich zu entfernen. Leider war sein Opfer umsonst, denn als er nach dem zweiten und noch schlechteren Akt das Theater verließ, sah er zu seinem Schrecken, daß Mr. Hallaty auf ihn wartete.

 

»Darf ich Sie einladen, in meinem Klub ein Glas mit mir zu trinken?«

 

Mr. Reeder schüttelte energisch den Kopf.

 

»Sehr liebenswürdig von Ihnen, Mr. …« Hallaty sagte ihm aufs neue seinen Namen. »Im allgemeinen besuche ich aber keine Klubs und trinke auch keinen Alkohol.«

 

»Darf ich Sie dann wenigstens in meinem Wagen ein Stück mitnehmen?«

 

Mr. Reeder erwiderte, daß er lieber zu Fuß nach Hause gehen würde.

 

»Aber soviel ich weiß, wohnen Sie doch ziemlich weit draußen in Brockley?«

 

»Ganz richtig. Und den ganzen Weg dorthin mache ich zu Fuß. Soll gut für den Blutdruck sein.«

 

Er begann sich über die Zudringlichkeit und Hartnäckigkeit Mr. Hallatys zu wundern. Wenn er auch als berühmter Kriminalist viel mit Leuten verkehren mußte, die sich aus den unmöglichsten Gründen an ihn heranmachten, war ihm diese selbstsichere Unverfrorenheit doch ein wenig zuviel.

 

Mit einem Kopfnicken verabschiedete er sich und suchte ein Restaurant auf, um ein Glas Milch zu trinken und ein paar belegte Brote zu essen. Aber der Appetit verging ihm, als Mr. Hallaty wieder vor ihm auftauchte und sich einfach an seinen Tisch setzte. Er ließ Milch und Butterbrote stehen und hörte schweigend den langatmigen Ausführungen von Mr. Hallaty über Verbrechen und deren Verhütung zu.

 

»Ein Verbrecher müßte es schon schlau anfangen, wenn er mich täuschen wollte! Ich durchschaue die meisten Menschen auf den ersten Blick«, erklärte Hallaty und steckte sich eine dicke Zigarre an.

 

Mr. Reeder betrachtete angelegentlich ein Plakat mit der Aufschrift ›Rauchen verboten‹.

 

»Sie haben doch hoffentlich nichts dagegen, daß ich rauche?« fragte Mr. Hallaty.

 

»Doch, es ist mir unangenehm.«

 

Der andere lachte und ließ sich nicht stören.

 

»Ich persönlich bin davon überzeugt, daß es wenig wirklich kluge Berufsverbrecher gibt. Wenn sie an einen nur einigermaßen über dem Durchschnitt stehenden Geschäftsmann geraten, sind sie schnell mit ihrer Weisheit am Ende.«

 

Mr. Hallaty plauderte noch eine Zeitlang selbstgefällig weiter, bis Mr. Reeder schließlich die Geduld verlor.

 

»Bitte, lassen Sie mich jetzt allein. Ich möchte meine Mahlzeit gern in Ruhe beenden.«

 

Jetzt endlich merkte Hallaty, daß er mit seiner Unverfrorenheit zu weit gegangen war und entschuldigte sich. Rasch stand er auf und verließ das Lokal, ohne seine Tasse Tee bezahlt zu haben.

 

Als der Detektiv später über das Gespräch nachdachte, das er mit Mr. Hallaty geführt hatte, fiel ihm auf, daß der sich hauptsächlich danach erkundigt hatte, wie die Verfolgung von entsprungenen Sträflingen durchgeführt wurde. Zu Hause schrieb er den Namen Hallaty in ein kleines Buch, auf dessen Einband ein großes Fragezeichen stand.

 

Aber es schien eigentlich unmöglich, daß ein Mann, der so offen über Verbrechen sprach, selbst etwas auf dem Kerbholz hatte. Verbrecher hüteten sich für gewöhnlich, in der Öffentlichkeit aufzufallen.

 

Hallaty hatte gesagt, daß er der Geschäftsführer der London und Orient-Bank in Gunnersbury sei, und das stimmte auch, wie Mr. Reeder feststellen konnte. Er bewohnte ein Apartment in der Albemarle Street, fuhr seinen Wagen meist selbst, hielt sich aber einen Chauffeur und einen Diener und hatte einen großen Freundeskreis. Außerdem besaß er noch eine kleinere Wohnung in Hammersmith, wo er die meiste freie Zeit verbrachte.

 

Die L. und O.-Bank unterhielt eine bedeutende Niederlassung in Gunnersbury. Eine Reihe größerer Elektrizitätsgesellschaften hatte dort ihre Konten, ebenso die Gaswerke von Kelson und verschiedene andere Firmen und Fabriken.

 

*

 

Etwa einen Monat nach der Unterhaltung mit Mr. Reeder suchte Hallaty die Londoner Filiale der Ninth Avenue Bank in der Lombard Street auf. Er erklärte dort, daß einer seiner besten Kunden, ein englisch-amerikanischer Konzern, eine größere Summe in amerikanischen Banknoten brauche, und erkundigte sieh, ob die Ninth Avenue Bank in der Lage wäre, den nötigen Betrag von fünfundsiebzigtausend Dollar zu liefern.

 

Die Angestellten der amerikanischen Bank waren sehr liebenswürdig und versicherten Mr. Hallaty, daß das Geld für ihn bereitliegen würde. Am Freitagnachmittag erschien Hallaty, zahlte die englischen Banknoten ein und erhielt das amerikanische Geld dafür.

 

Die Direktion der L. und O.-Bank berief am selben Nachmittag eine dringende Konferenz ein.

 

»Ich mache mir Sorgen wegen dieses Hallaty«, sagte der Generaldirektor. »Einer unserer Detektive hat herausgebracht, daß er ziemlich über seine Verhältnisse lebt.«

 

»Wie hoch ist denn sein Gehalt?« fragte einer der Anwesenden.

 

»Nicht ganz tausend Pfund im Jahr.«

 

Es folgte ein peinliches Schweigen.

 

»Er ist ein tüchtiger Mann, vielleicht hat er sein Geld gut angelegt.«

 

Die Frage wurde noch akuter, als ein Beamter erschien und dem Generaldirektor von einem Telefongespräch berichtete. Eine andere amerikanische Bank – die Dyers-Bank – meldete, daß Mr. Hallaty eben eine Summe von zehntausend Pfund in amerikanischen Banknoten umgewechselt hätte. Am Vormittag hatte er das Geschäft telefonisch vorbereitet und dabei angegeben, daß die Brite-Lite-Gesellschaft das Geld benötige. Die Leitung der Dyers-Bank hatte jedoch Verdacht geschöpft, als der Kassierer meldete, daß Mr. Hallaty die Hundertdollarscheine in eine Aktentasche gesteckt hatte, die bereits halb mit amerikanischen Geldscheinen gefüllt war.

 

Diese Nachricht rief große Bestürzung hervor. Sofort wurde ein Bankdetektiv nach Gunnersbury geschickt, der jedoch Mr. Hallaty nicht mehr antraf. Auch die Schlüssel zum Geldtresor fehlten.

 

Als der Detektiv den Safe mit einem zweiten Schlüssel, der in der Direktion aufbewahrt wurde, öffnete, fand er dort nur noch einige Bündel von Zehnschilling- und Pfundnoten.

 

Mr. Hallaty war weder in seiner Wohnung in Hammersmith, noch in der Albemarle Street anzutreffen.

 

*

 

Weitere Nachforschungen ergaben, daß Mr. Hallaty zu einem kleinen Privatflugplatz gefahren war, wo stets ein Sportflugzeug für ihn bereitstand. Ein Mechaniker wollte die Maschine für Mr. Hallaty startklar machen, entdeckte jedoch, daß die Tragflächen von unbekannten Tätern beschädigt worden waren.

 

Als Mr. Hallaty sich den Schaden besehen hatte, war er totenbleich geworden, wieder in seinen Wagen gestiegen und mit seinen Koffern davongefahren.

 

Von diesem Augenblick an wurde Mr. Hallaty nicht mehr gesehen. Er tauchte in London unter, niemand wußte, wo er sich aufhielt.

 

Der Verlust von zweiundsiebzigtausend Pfund ist für eine Bank schon eine ernste Angelegenheit, es stellte sich aber heraus, daß Mr. Hallaty noch andere Betrügereien verübt hatte. Er war dabei sehr schlau vorgegangen, denn er kannte die Geschäftsmethoden der Banken bis in jede Einzelheit. Als die Bücher revidiert wurden, merkte man, daß er über eine Viertelmillion Pfund veruntreut hatte.

 

Drei Tage nach Hallatys Verschwinden wurde Mr. Reeder benachrichtigt, und der Direktor der Bank war außerordentlich erleichtert, als er sofort die Untersuchung des Falles übernahm.

 

»Sie wissen ja, was hier vorgefallen ist«, wandte er sich an den Detektiv. »Wir möchten die ganze Angelegenheit vertrauensvoll in Ihre Hände legen. Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn wir Sie schon früher gerufen hätten?«

 

Mr. Reeder erwiderte, daß er ihm in diesem Punkt nur recht geben könne.

 

»Hier sind unsere ganzen Unterlagen«, seufzte der Generaldirektor und schob ihm einen dicken Aktenordner über den Tisch zu. »Die Polizei hat mir bis jetzt wenig Hoffnungen gemacht, und ich muß sagen, daß ich kaum mehr damit rechne, Mr. Hallaty jemals wiederzusehen.«

 

Reeder rieb sich bedächtig das Kinn.

 

»Große Versprechungen kann ich Ihnen auch nicht machen«, sagte er. »Es ist genau derselbe Fall wie bei der Tynedale-Bank. Das gleiche hat sich bei der Manchester und Oldham-Bank ereignet, und bei der Devon-Bank liegt die Sache ähnlich. Man könnte fast den Eindruck gewinnen, daß hier nach einem bestimmten System vorgegangen wird …«

 

Der Bankdirektor runzelte die Stirn.

 

»Wollen Sie damit andeuten, daß alle diese Betrügereien von einer einzigen Bande organisiert wurden?«

 

»Ich glaube, ja«, entgegnete Mr. Reeder liebenswürdig. »Wenn Sie sich die Mühe geben, die einzelnen Fälle miteinander zu vergleichen, werden Sie sofort begreifen, was ich meine. Jedesmal war es der Geschäftsführer einer größeren Bank, der unter irgendeinem Vorwand hohe Beträge in englischer Währung in Francs oder Dollars umwechselte. Immer geschah dies in London, und jedesmal war der Gauner wie vom Erdboden verschluckt.«

 

Der Direktor schaute ihn fassungslos an. Er wußte, daß Reeder der beste Spezialist für Bankverbrechen war, den es überhaupt gab, und konnte die Tragweite seiner Behauptung als Bankfachmann richtig würdigen.

 

»Sie haben zweifellos recht!«

 

*

 

Die Vereinigung der Bankfirmen hielt schon am nächsten Tag eine Sitzung ab, zu der auch Mr. Reeder zugezogen wurde. Er hielt nicht lange mit seiner Ansicht zurück, sondern erklärte geradeheraus, was er dachte.

 

»Ich gebe zu, daß ich mich nur ungern mit dieser Sache beschäftige«, schloß er seine Ausführungen. »Meine Theorien mögen Ihnen zu phantastisch erscheinen, aber ich wiederhole noch einmal, daß wir uns meiner Meinung nach diesmal einer Organisation gegenübersehen, die versucht, in ganz großem Maßstab die Banken zu schädigen.«

 

Der Vorsitzende der Vereinigung sah ihn ein wenig ungläubig an und schüttelte leicht den Kopf.

 

»Sie glauben also wirklich, Mr. Reeder, daß alle diese Gaunereien bei den verschiedenen Banken miteinander in Zusammenhang stehen?«

 

Mr. Reeder nickte feierlich.

 

»Es sieht tatsächlich so aus. Ich will mich zwar noch nicht endgültig festlegen, aber alle Anzeichen sprechen dafür, daß meine Ansicht richtig ist.«

 

Ein alter Bankier mit graumeliertem Haar wollte sich nicht überzeugen lassen.

 

»Ich halte das Ganze für Übertreibung! Derartige Verbrechen wirken nun einmal ansteckend – wenn jemand bei einer Unterschlagung Glück gehabt hat und entwischt ist, gibt es genug Leute, die dadurch in Versuchung geraten, es nachmachen zu wollen.«

 

Mr. Reeder schüttelte lächelnd den Kopf.

 

»Mit dieser Erklärung kommen wir nicht weit«, erwiderte er freundlich. »Wenn Sie recht hätten, müßten alle die in Frage stehenden Fälle durch die Presse publik geworden sein, in drei von fünf Fällen haben es die Banken aber verstanden, nicht das geringste durchsickern zu lassen. Leider wurde nicht einmal die Polizei immer ganz eingeweiht. Verstehen Sie mich richtig – ich behaupte, daß alle diese Betrügereien nach ein und demselben Schema ausgeführt wurden. In jedem Fall war der Gauner ein Mann, der in hohem Grade das Vertrauen der Bankdirektion besaß und ohne weiteres über große Summen verfügen konnte. Wir haben herausgefunden, daß die Betreffenden durch fehlgeschlagene Börsenspekulationen oder aus irgendwelchen anderen Gründen alle in eine Zwangslage geraten waren. Doch lassen Sie mich noch einmal die einzelnen Punkte anführen!«

 

Er zählte sie an den Fingern auf.

 

»Zunächst haben wir also jedesmal einen Geschäftsführer, der sich in einer schwierigen Lage befindet. Zweitens arbeitet er nach einem genau ausgeklügelten Plan, um das Geld aus der Bank herauszubekommen. An einem bestimmten Tag, an dem sich größere Beträge in den Banktresoren angesammelt haben, wechselt er das englische Geld in ausländische Devisen um und verschwindet dann. All das spielt sich in kaum vierundzwanzig Stunden ab. Und jetzt sagen Sie selbst, meine Herren«, erklärte Mr. Reeder mit Nachdruck. »Kann das ein Zufall sein? Je mehr ich es mir selbst überlege, desto fester bin ich davon überzeugt, daß wir es hier mit einer Organisation zu tun haben, die nicht nur den Plan zu den einzelnen Verbrechen ausarbeitet, sondern die auch den Leuten, die die Verbrechen begehen, die Flucht ins Ausland ermöglicht. Der wichtigste Punkt unserer Überlegungen sollte nun sein: Wie können wir die Zentrale dieser Organisation, sozusagen den Kopf der Bande, zu fassen bekommen? Es bleibt vorerst nur eine Möglichkeit – ich muß einen der Gauner erwischen, kurz bevor er sein Vorhaben ausführt. Einschalten möchte ich hier, daß ich fest damit rechne, von Ihnen in nächster Zeit über noch weitere Betrügereien zu hören! Ich brauche also von jeder Bank eine Liste derjenigen Angestellten, die irgendwie verdächtig erscheinen. Es liegt in Ihrem eigenen Interesse, meiner Bitte nachzukommen.«

 

Die einzelnen Banken folgten dieser Aufforderung sofort, und schon am nächsten Morgen erhielt Mr. Reeder die gewünschten Listen. Im Verhältnis zu der großen Zahl der Angestellten waren es nur wenige Leute, denen man nicht traute. So hatten zum Beispiel ein Bankbeamter, hinter dessen Namen ein Fragezeichen stand, viel und hoch gewettet. Ein Verzeichnis der Buchmacher, mit denen er verkehrte, war dem Bericht beigefügt.

 

Reeder las die Listen langsam durch, bis er auf den Namen von L. G. H. Reigate stieß. Der Mann war achtundzwanzig Jahre alt und stellvertretender Geschäftsführer einer großen Bank. Seine Vorgesetzten waren etwas mißtrauisch geworden, seit sich herausgestellt hatte, daß er sich an Bodenspekulationen beteiligte und dabei ziemlich hereingefallen war. Seit einiger Zeit schon versuchte er vergeblich, eine Reihe wertloser Grundstücke wieder abzustoßen. Sein Gehalt betrug zwölfhundert Pfund im Jahr. Er lebte mit einer Halbschwester, die ihm den Haushalt führte, in einer kleinen Wohnung in Hamstead und hatte anscheinend keine Untugenden. Die meisten Abende verbrachte er zu Hause; er trank nicht, und sogar sein Zigarettenverbrauch war nur mäßig.

 

Dies alles entnahm Mr. Reeder dem Bericht des Bankdetektivs. Er prüfte auch die anderen Berichte sorgfältig, denn gerade aus Kleinigkeiten ließen sich oft wichtige Schlüsse ziehen.

 

Schließlich landete er mit seinen Überlegungen wieder bei Mr. Reigate. Er hatte das Gefühl, daß es sich lohnen würde, diesem Mann ein wenig auf den Zahn zu fühlen.

 

Mit seinen Nachforschungen hatte er bald Erfolg. Schon in der dritten Bank, bei der er anfragte – es handelte sich um eine kanadische Firma, erfuhr er, daß dort ein Auftrag vorlag, in den nächsten Tagen eine große Summe englischen Geldes in Dollars umzuwechseln. Der Auftrag war allerdings nicht von einem Bankbeamten, sondern von einem Kunden der Bank, bei der Mr. Reigate tätig war, erteilt worden. Mr. Reeder setzte seine Ermittlungen mit größter Vorsicht fort, und es gelang ihm, noch einen zweiten ähnlichen Auftrag desselben Mannes festzustellen.

 

Nun trug er dem Bankdirektor die Angelegenheit vor. Er erfuhr, daß Reigate ein sehr gewissenhafter junger Mann war, dem man außer Grundstücksspekulationen nichts vorwerfen konnte.

 

»Wer ist denn der Leiter dieser Bankfiliale?« fragte Mr. Reeder dann.

 

»Ein sehr tüchtiger Bankbeamter, dem man außer einer gewissen Neigung zum Jähzorn nichts nachsagen kann. Da er sich außerdem stets nur im Interesse der Bank aufregt, können wir uns nicht ernsthaft über ihn beschweren.«

 

Der Geschäftsführer, von dem hier die Rede war, hieß Wallat. Er hatte in derselben Woche ein sonderbares Erlebnis. Zu seiner Verwunderung erhielt er nämlich einen Brief von einem Herrn, auf dessen Namen er sich nicht besinnen konnte, der aber allem Anschein nach ein guter Kunde der Bank sein mußte. Der Brief lautete wie folgt:

 

 

›Ich möchte mich bei Ihnen erkundigen, ob Sie nicht auf einer Luxusjacht eine vierzehntägige Erholungsreise nach Norwegen machen wollen. Einer meiner Geschäftsfreunde hat zwei Plätze belegt, ist aber leider verhindert. Er hat die Plätze mir zur Verfügung gestellt, und ich kann sie ganz nach Belieben einem meiner Freunde überlassen. Da Sie mir in der letzten Zeit manchen Gefallen getan haben, möchte ich mich gern erkenntlich zeigen und sie Ihnen anbieten. Wahrscheinlich wissen Sie gar nicht, was Sie für mich getan haben, aber ich darf Ihnen versichern, daß Sie mir als einem alten Kunden Ihrer Bank – meinen richtigen Namen will ich nicht nennen – schon verschiedene Dienste erwiesen haben. Bitte nehmen Sie mein Angebot also an, Sie würden mir damit eine große Freude machen.‹

 

 

Merkwürdigerweise hatte Mr. Wallat eine Woche vorher gesprächsweise erwähnt, daß er sehr gerne einmal nach Norwegen fahren würde. Nun bot sich ihm plötzlich diese Gelegenheit! Er war zwar ein wenig verwundert, gab sich schließlich aber mit dem Gedanken zufrieden, daß es sich sicher um einen kauzigen reichen Sonderling handelte, wie sie ihm in seinem Beruf schon öfters begegnet waren.

 

Sein Urlaub war fällig, und Wallat stellte sofort bei der Direktion den Antrag, ihn antreten zu dürfen. Selbstverständlich erhielt er die Genehmigung und traf darauf in aller Eile seine Reisevorbereitungen.

 

Das Schiff sollte am Donnerstagabend in See stechen, und der Geschäftsführer brachte noch schnell verschiedene laufende Bankangelegenheiten in Ordnung. Am Dienstagmorgen hatte er plötzlich den Einfall, die Bücher noch einmal zu überprüfen, damit er auch wirklich ganz beruhigt fortfahren könne.

 

Was er dabei fand, jagte ihm einen so furchtbaren Schrecken ein, daß er alle Gedanken an eine Urlaubsreise vergaß. Am Mittwoch ließ er Mr. Reigate zu sich kommen, und der junge Mann war starr vor Entsetzen, als ihm sein Vorgesetzter alle Unregelmäßigkeiten vorhielt, die er begangen hatte.

 

Mr. Wallat war völlig außer sich, drohte mit sofortiger Anzeige bei der Polizei und rief auch tatsächlich das nächste Polizeirevier an, ohne sich zu überlegen, daß eine solche Entscheidung eigentlich nur die Direktion der Bank treffen konnte. Die Folgen waren nicht erfreulich, denn als er den Hörer wieder auflegte, mußte er entdecken, daß Reigate das Zimmer bereits verlassen hatte. Er rannte hinter ihm her und hatte auch das Glück, ihn auf der Straße einholen zu können und einem Polizisten zu übergeben.

 

Hätte Mr. Wallat nicht die Fassung verloren, dann hätte sich für die Bank vielleicht alles noch einrenken lassen. So aber wurde Reigate verhaftet und legte auch bald darauf ein Geständnis ab.

 

Die Direktoren der Bank waren wütend, denn nun würde es zu einer öffentlichen Verhandlung kommen; ziemlich ratlos wandten sie sich an Mr. Reeder, der ihnen seine Hilfe zusagte.

 

Leider hatte der Detektiv zunächst wenig Erfolg, als er sich mit Reigate unterhielt. Der junge Mann war so niedergeschlagen und verwirrt, daß nichts aus ihm herauszubringen war. Am nächsten Morgen wurde er dem Strafrichter vorgeführt, und man beschloß, das Verfahren gegen ihn zu eröffnen.

 

Der Vorsitzende nahm den Fall außerordentlich ernst, und als Reigate den Antrag stellte, ihn gegen Kaution freizulassen, wurde eine ziemlich hohe Summe festgesetzt, die er nicht bezahlen konnte. Er kam ins Gefängnis.

 

Am Nachmittag erschien jedoch Sir George Polkley und bürgte für ihn. Sir George war ein bekannter Reeder in Nordengland. Er wurde von einem Herrn begleitet, der einem Rechtsanwaltsbüro in Newcastle angehörte.

 

Noch am gleichen Nachmittag entließ man Reigate aus dem Gefängnis in Brixton.

 

Um sieben Uhr abends telefonierte Scotland Yard mit Mr. Reeder.

 

»Wissen Sie, daß Reigate heute nachmittag entlassen wurde, nachdem Sir George Polkley für ihn gebürgt hat?«

 

»Ja, das habe ich in der Zeitung gelesen«, entgegnete der Detektiv, »Mir ist bei der Sache nur schleierhaft, woher dieser Mr. Reigate einen Mann wie Sir George kennt.«

 

»Wir haben eben ein Telegramm der Rechtsanwälte von Sir George Polkey aus Newcastle erhalten. Darin wird uns mitgeteilt, daß man dort nichts von all diesen Vorgängen weiß. Sir George hält sich augenblicklich in Südfrankreich auf, und keiner der Anwälte war in London. Außerdem erklärten sie, daß ihnen ein Mann namens Reigate vollkommen unbekannt sei.«

 

Mr. Reeder, der es sich in einem Sessel bequem gemacht hatte, richtete sich plötzlich auf.

 

»Dann ist die ganze Angelegenheit also ein Schwindel? Wo ist denn Reigate?«

 

»Es wurde überall nach ihm gesucht, man konnte ihn aber nicht finden. Vom Gefängnis fuhr er in einem Taxi weg, und zwar in Begleitung des vermeintlichen Rechtsanwalts, und seither hat man nichts mehr von ihnen gesehen.«

 

Das war wieder eine Aufgabe nach dem Geschmack von Mr. Reeder. Wer hatte sich die Mühe gemacht, Reigate freizubekommen? Und was steckte dahinter? Seine Unterschlagungen – wenn sie überhaupt bewiesen werden konnten – beliefen sich bis jetzt höchstens auf ein paar hundert Pfund. Wer mochte also so ängstlich darum besorgt sein, daß der Mann sofort freigelassen wurde?

 

Kurz entschlossen ließ er sich beim Staatsanwalt melden.

 

»Eine merkwürdige Geschichte«, sagte er dort und fuhr sich mit der Hand durch sein dünnes Haar. »Aber vielleicht läßt sie sich sehr einfach erklären. Glücklicherweise kann ich mich gut in die Gedankenwelt eines Verbrechers versetzen!«

 

Der Staatsanwalt lächelte.

 

»Na, und wie reagieren Ihre verbrecherischen Instinkte auf die Vorgänge der letzten Tage?«

 

Mr. Reeder schüttelte besorgt den Kopf.

 

»Ich fürchte, es sieht schlecht aus – auf jeden Fall möchte ich nicht in der Haut von Mr. Reigate stecken!«

 

Der Staatsanwalt hatte zu der Unterredung mit Mr. Reeder auch den Geschäftsführer Wallat herbestellt, einen rundlichen, behäbig aussehenden Herrn, der stark schwitzte. Eine halbe Stunde lang saß er auf seiner Stuhlkante Mr. Reeder gegenüber und wischte sich dauernd mit dem Taschentuch den Schweiß von der Stirn.

 

»Die Herren von der Direktion sind wütend auf mich, Mr. Reeder«, erklärte er betrübt. »Und dabei bin ich jetzt jahrzehntelang bei der Bank, ohne daß das geringste vorgekommen wäre. Man kann mir höchstens vorwerfen, daß ich manchmal zu eifrig war ich brause so schnell auf –, aber auch das nur im Interesse der Bank! Natürlich war es ein Fehler, daß ich den Mann gleich verhaften ließ, aber ich war so wütend, daß ich nicht mehr wußte, was ich tat.«

 

»Schon gut, Mr. Wallat. Was sagten Sie vorher? Sie wollten gerade in Urlaub fahren. Das ist mir neu.«

 

Bereitwillig erzählte der Geschäftsführer von den beiden Schiffskarten und der geplanten Reise nach Norwegen. Zufällig hatte er sogar den Einladungsbrief bei sich. Mr. Reeder überflog das Schreiben schnell, dann führte er ein kurzes Telefongespräch.

 

»Die Adresse des Absenders kam mir irgendwie bekannt vor«, sagte er, als er wieder auflegte. »Leider ist es aber nur eine Scheinadresse; den Mann, der Ihnen den Brief geschrieben hat, gibt es gar nicht unter diesem Namen.«

 

»Aber er hat mir doch die Fahrkarten geschickt, und sie sind auf meinen Namen ausgestellt«, entgegnete Mr. Wallat triumphierend. Doch dann machte er ein enttäuschtes Gesicht. »Jetzt kann ich natürlich nicht verreisen.«

 

Mr. Reeder sah ihn vorwurfsvoll an.

 

»Ja, ich fürchte auch, daß Sie nicht fahren können. Aber ich bin davon überzeugt, daß es für Sie viel schlimmer ausgesehen hätte, wenn Sie tatsächlich nach Norwegen gereist wären! Diese Schiffskarten wurden Ihnen doch aus einem ganz bestimmten Grund zugesandt.

 

Wahrscheinlich wollte man Sie fort haben, damit Mr. Reigate die Geschäfte allein führen und größere Betrügereien begehen konnte.«

 

Mr. Reeder war teils überrascht, teils befriedigt. Dieser typische Fall bewies aufs neue, daß hinter den Bankbetrügereien eine mächtige Organisation stand.

 

Nachdem er sich von Mr. Wallat verabschiedet hatte, fuhr er mit einem Taxi nach Hampstead. Miss Dora Reigate war, kurz bevor er sie aufsuchte, nach Hause zurückgekehrt und hatte von der Verhaftung ihres Bruders bereits in den Abendzeitungen gelesen. Es fiel Mr. Reeder auf, daß sie die Angelegenheit verhältnismäßig ruhig aufnahm. Sie war ein schlankes, hübsches Mädchen, hatte braunes Haar und braune Augen und sah bedeutend jünger aus als vierundzwanzig.

 

»Ich habe noch keine Nachricht von meinem Bruder erhalten«, sagte sie. »Er ist zwar nur mein Halbbruder, aber wir verstehen uns gut, und ich bin sehr besorgt um ihn.«

 

Sie trat ans Fenster und schaute hinaus. Mr. Reeder sah, daß sie die Lippen zusammenpreßte und Tränen in ihren Augen standen.

 

Plötzlich drehte sie sich wieder um.

 

»Ich will Ihnen alles erzählen, Mr. Reeder.«

 

Als er ein wenig verwundert die Augenbrauen hochzog, lächelte sie.

 

»Sie haben mir zwar Ihren Namen noch nicht genannt, aber ich habe Sie trotzdem gleich erkannt. Sie sind ein berühmter Mann in London.«

 

Dieses Lob verwirrte ihn, aber er faßte sich schnell wieder.

 

»Nun, was wollten Sie mir denn erzählen?«

 

»Ich bin eigentlich erleichtert, daß es so gekommen ist. Das wollte ich Ihnen sagen. Ich habe schon seit längerer Zeit erwartet, daß John einmal verhaftet würde – er war in der letzten Zeit nicht mehr wiederzuerkennen. Finanziell hatte er schwere Sorgen; seine Fehlspekulationen müssen ihn um sein ganzes Geld gebracht haben. Erst in der vergangenen Woche habe ich ihm hundert Pfund von meinen eigenen Ersparnissen geliehen und war sehr froh, als er mir das Geld schon am nächsten Tag wieder zurückzahlte. Ich dachte, er hätte seine Schwierigkeiten endgültig überwunden, denn er gab mir nicht die hundert Pfund zurück, sondern fünf Hundertdollarscheine.«

 

»Was, er hat Ihnen amerikanische Banknoten gegeben?« unterbrach sie Mr. Reeder schnell.

 

Sie nickte.

 

»Ja, ich sagte es doch. Die Scheine habe ich auf meiner Bank eingezahlt.«

 

Mr. Reeder war höchst interessiert.

 

»Haben Sie eine Ahnung, woher er das Geld hatte?«

 

»Leider nicht. Ich weiß nur, daß ein ganzes Bündel Banknoten in seiner Brieftasche steckte.«

 

Nachdenklich strich sich der Detektiv mit der Hand über das Kinn, erwiderte aber nichts.

 

»Ich habe mir gleich gedacht, daß da irgend etwas nicht stimmte«, fuhr sie nach einige« Zeit besorgt fort. »Schließlich redete ich mir ein, daß er sich das Geld irgendwo geliehen hätte. Dazu paßte aber nicht, daß er sehr niedergeschlagen war – er sagte mir sogar, daß er vielleicht für einige Monate England verlassen müsse, ich solle mir in einem solchen Fall aber keine Sorgen machen.«

 

»Wie war er denn früher?«

 

»Oh, er war immer vergnügt und gut aufgelegt. Erst im letzten Jahr hat sich das geändert, als die Grundstücke, mit denen er spekulierte, plötzlich an Wert verloren. Ich glaube, daß er sehr viel verdient hat, bevor der plötzliche Rückschlag kam.«

 

»Hat er viele Bekannte und Freunde in London?«

 

»Nein, aus Gesellschaft machte er sich eigentlich nie viel.«

 

»Aber einige gute Freunde hat er doch sicher gehabt?«

 

»Nicht, daß ich wüßte, Mr. Reeder. Ab und zu kam zwar ein Mann in unsere Wohnung, aber das war eigentlich kein Freund von ihm – wohl eine Geschäftsbekanntschaft.« Sie zögerte. »Ich weiß nicht, ob ich meinem Bruder damit schade, wenn ich Ihnen das alles erzähle. Er ist im Grunde ein ehrlicher Mensch und nimmt seine Pflichten sehr genau. Aber in den letzten Monaten muß er allerhand mitgemacht haben. Die Bodenpreise sanken immer mehr, und er war ganz verzweifelt. In dieser Verfassung hat er dann Dinge getan, an die er früher nie gedacht hätte. Er litt unter starken Depressionen, und eines Abends sagte er mir, daß es für ihn besser sei, sein Gewissen zu beruhigen – selbst wenn er tatsächlich über alle diese Schwierigkeiten hinwegkäme. Er schrieb dann einen langen Brief an die Direktion der Bank. Die halbe Nacht saß er vor seinem Schreibtisch, aber später änderte er seine Absicht und schickte den Brief nicht ab. Am Morgen las er ihn noch einmal durch und warf ihn hinterher ins Feuer. Ich habe das Gefühl, Mr. Reeder, daß er nicht mehr Herr seiner Entschlüsse war, sondern daß jemand hinter ihm stand, dessen Befehle er ausführte.«

 

Mr. Reeder nickte.

 

»Das glaube ich auch, Miss Reigate. Und wenn Ihr Bruder ein solcher Mensch ist, wie Sie ihn schildern, wird er uns bestimmt manches sagen können.«

 

»Er stand unter dem Einfluß eines anderen«, entgegnete sie, »und ich glaube auch zu wissen, wer der Betreffende ist.«

 

Obwohl er sie drängte, ihm nähere Auskunft zu geben, konnte er nicht mehr aus ihr herausbringen.

 

»Darf ich ihm etwas ins Gefängnis schicken?« fragte sie und erfuhr jetzt erst, daß jemand für ihn gebürgt hatte und daß er seither auf geheimnisvolle Weise verschwunden war. Sie kannte nicht einmal den Namen von Sir George Polkley, und soviel sie wußte, stand ihr Bruder in keinerlei Verbindung mit ihm.

 

»Übrigens kennt mein Bruder Sie, Mr. Reeder«, erklärte sie dann plötzlich zu seinem Erstaunen. »Er hat zweimal Ihren Namen erwähnt, und einmal sagte er mir sogar, daß er die Absicht habe, Sie aufzusuchen und mit Ihnen zu sprechen.«

 

»Das hat er aber nicht getan. Er ist nie in meinem Büro gewesen.«

 

»Nein, dorthin wäre er auch nicht gekommen – er wollte Sie in Ihrem Haus in Brockley aufsuchen.« Mr. Reeder konstatierte überrascht, daß sie sogar die Hausnummer wußte. »Er hat mir erzählt, daß er einmal schon vor Ihrer Haustür gestanden hätte, daß ihm aber im letzten Augenblick dann doch der Mut fehlte, mit Ihnen zu sprechen.«

 

»Wann war das?«

 

»Vor ungefähr einem Monat.«

 

Als Mr. Reeder an diesem Abend nach Hause kam, war er sehr unzufrieden mit sich. Für gewöhnlich bereitete es ihm keine Schwierigkeiten, alle nur möglichen Schlußfolgerungen zu ziehen, wenn er – wie in diesem Fall – einen Anhaltspunkt hatte. Geduldig bearbeitete er dann eine Angelegenheit tage- und wochenlang. Es machte ihm auch nichts aus, wenn Monate und selbst Jahre daraus wurden. Aber hier hatte er zwar Anhaltspunkte genug, doch verwirrte ihn der Umstand, daß es sich um zwei verschiedene Fälle handelte, die einander zwar in allen Einzelheiten glichen, doch sonst auf keinen gemeinsamen Nenner zu bringen waren. Obwohl er hin und her überlegte, fand er keine Lösung.

 

Die Ruhe in seinen Räumen tat ihm wohl. Nur gedämpft drang der Verkehrslärm der Straße durch die dicken Mauern.

 

Mr. Reeder hatte hier, in der Stille seines Arbeitszimmers, die besten Einfälle. Manchmal saß er die ganze Nacht vor seinem Schreibtisch, baute Theorien auf, brachte sie selbst wieder zum Einsturz und errichtete schließlich ein logisches Gedankengebäude, das meistens den Schlußpunkt hinter die Laufbahn irgendeines Verbrechers setzte.

 

Besuch erhielt er kaum. Er war privat nicht sehr umgänglich und hatte deshalb auch keine Freunde. Die Leute in der Umgebung wußten kaum, was sie von ihm halten sollten; die meisten nahmen an, daß er längst pensioniert worden wäre.

 

So saß er denn jeden Abend vor seinem großen Schreibtisch bei einer Tasse Tee und einer Platte mit belegten Broten. Es war an diesem Abend nicht anders als sonst, nur, daß ihm heute beim besten Willen kein guter Gedanke zu kommen schien.

 

*

 

Der Verkehr auf der Hauptstraße, die sich unweit der Brockley Road hinzog, hatte um diese Abendstunde seinen Höhepunkt erreicht. Bei dem allgemeinen Durcheinander achtete zuerst keiner der vielen Passanten auf die ungewöhnliche Erscheinung eines Mannes, der plötzlich mitten auf der Fahrbahn stand; ein Taxichauffeur konnte gerade noch den Wagen zur Seite reißen, sonst hätte er ihn überfahren.

 

Der merkwürdige Passant trug einen Morgenrock über einem Schlafanzug und lief von einer Straßenseite zur anderen. Er hatte keine Schuhe an und war ohne Hut. Mit unglaublicher Schnelligkeit eilte er die Straße entlang und bog in die Brockley Road ein. Niemand hatte gesehen, woher er kam.

 

Ein Polizist versuchte ihn anzuhalten, aber es gelang ihm nicht. Der Mann lief durch die Brockley Road, bis er vor Mr. Reeders Haus stand. Dort zögerte er kurz Und schaute zu den erleuchteten Fenstern des Arbeitszimmers hinauf. Dann öffnete er das Gartentor und eilte zur Haustür.

 

Mr. Reeder hörte draußen Schreien und Lärmen, ging zum Fenster und sah hinaus. Er bemerkte den Fremden, der in größter Hast die Stufen zur Tür hinaufsprang. Gleich darauf hielt ein Motorradfahrer vor dem Gartentor, um das sich bereits eine kleine Menschenmenge ansammelte. Erst glaubte Mr. Reeder, daß der Knall, den er hörte, von einer Fehlzündung des Motors herrührte, mußte dann aber zu seinem Entsetzen feststellen, daß es ein Schuß war, dem noch mehrere folgten.

 

Der Motorradfahrer hatte aus einer Pistole gefeuert und jagte nun davon, ohne daß ihn jemand aufhalten konnte.

 

Reeder eilte die Treppen hinunter und riß die Haustür auf – ein Polizist kam eben in den Garten. Der Mann, der auf der obersten Stufe lag, trug einen auffallend bunt gemusterten Morgenrock.

 

Sie brachten ihn in den Hausflur, und Mr. Reeder knipste das Licht an. Ein Blick sagte ihm, was geschehen war.

 

Der Polizist drängte die Neugierigen zurück, schloß die Tür und kniete neben dem Mann nieder.

 

»Ich fürchte, er ist tot«, sagte Mr. Reeder, als er den Morgenrock öffnete und die schweren Wunden sah.

 

»Der Motorradfahrer hat ihn niedergeknallt, ich habe es deutlich gesehen«, erwiderte der Polizist aufgeregt. »Er hat vier Schüsse abgegeben.«

 

Reeder untersuchte den Mann, der etwa dreißig Jahre alt sein mochte, eingehend. Das Haar des Fremden war tiefschwarz, sein Gesicht glattrasiert – und er hatte keine Augenbrauen, wie Mr. Reeder zu seiner Überraschung feststellte.

 

Der Polizist sah es auch, runzelte die Stirn und zog sein Notizbuch heraus. Sorgfältig verglich er die Züge des Toten mit einer Personalbeschreibung, aber dann schüttelte er enttäuscht den Kopf.

 

»Ich dachte zuerst, daß es sich um jemand handelt, der gesucht wird …«

 

»Meinen Sie Mr. Reigate?«

 

»Ja, aber der kann es nicht sein. Mr. Reigate ist dunkelblond, hat dichte Augenbrauen und einen dunklen Schnurrbart.«

 

Der Morgenrock war so gut wie neu, und der Schlafanzug bestand aus feinster Seide. Sie durchsuchten die Taschen, und der Polizist zog aus einer einen versiegelten Briefumschlag.

 

»Den werde ich verwahren und auf dem Revier abgeben …«, erklärte er, stolz auf seinen Fund, als ihm Mr. Reeder den Brief einfach aus der Hand nahm. Zum größten Schrecken des Polizisten erbrach er die Siegel, öffnete den Umschlag und holte den Inhalt heraus. Es waren fünfzig Banknoten zu je hundert Dollar.

 

»Hm!« machte Mr. Reeder und kratzte sich am Kopf.

 

Woher mochte der Mann gekommen sein? Wie kam er in diesem Aufzug auf die Straße?

 

Mr. Reeder brachte die nächste Stunde damit zu, Antwort auf diese Fragen zu suchen, doch hatte er dabei wenig Glück.

 

Ein Zeitungsjunge hatte gesehen, wie der Mann auf dem Gehsteig entlanglief. Seiner Meinung nach war er aus der Malpas Road eingebogen – einer Straße, die mit der Brockley Road parallel läuft. Ein Verkehrsschutzmann beobachtete ihn dann, wie er über die Straße lief und kopflos den einzelnen Wagen auszuweichen versuchte. Der Chauffeur eines Lieferautos dagegen versicherte, er habe ihn auf der anderen Straßenseite gesehen und erklärte, der Mann wäre in der entgegengesetzten Richtung gelaufen. Keiner aber konnte eine genaue Beschreibung des Motorradfahrers liefern.

 

Um zehn Uhr am gleichen Abend versammelten sich die führenden Beamten von Scotland Yard in Mr. Reeders Wohnung. Die Fingerabdrücke des Toten waren bereits mit den Karteien verglichen worden, aber man hatte nichts finden können. Das einzige Erkennungszeichen an der Leiche war ein Muttermal unterhalb des linken Ellbogens, ungefähr so groß wie eine Stachelbeere.

 

Der Chef von Scotland Yard schüttelte den Kopf.

 

»So etwas habe selbst ich noch nicht erlebt! Meine Beamten haben in allen Häusern der Umgebung nachgefragt – schließlich kann der Mann in seinem Schlafanzug ja nicht von weither gekommen sein – aber es wird niemand vermißt. Was halten Sie von der Sache, Mr. Reeder? Sie haben doch die Leiche bereits untersucht?«

 

Mr. Reeder nickte.

 

»Und konnten Sie sich eine Meinung bilden?«

 

Der Detektiv zögerte.

 

»Bevor ich mich äußere, möchte ich mich eigentlich noch mit einer gewissen jungen Dame unterhalten. Leider hat sie kein Telefon – aber ich habe einen Wagen hingeschickt, um sie zu holen.«

 

»Und wer ist diese junge Dame?«

 

»Miss Reigate, die Schwester des Toten.«

 

Es klingelte an der Haustür, und er ging selbst hinunter, um zu öffnen. Es war Miss Reigate, und er führte sie in das kleine Wohnzimmer, das im Erdgeschoß lag.

 

»Ich muß eine Frage an Sie stellen – und ich wäre sehr froh, wenn Sie mir die richtige Antwort geben könnten. Hat Ihr Bruder irgendwelche besonderen Merkmale, an die Sie sich erinnern?«

 

Sie nickte lebhaft.

 

»Ja, er hat ein kleines Muttermal am Unterarm – gleich unterhalb des Ellbogens. Es hat vielleicht einen Zentimeter Durchmesser.«

 

»Am linken Arm?« fragte Mr. Reeder schnell.

 

»Ja. Aber warum wollen Sie das wissen? Ist irgend etwas passiert?«

 

»Ich fürchte – ja«, entgegnete Mr. Reeder freundlich und erzählte ihr, was er vermutete. Sie war fassungslos und ließ sich schluchzend in einen Sessel sinken. Kopfschüttelnd überließ er sie der Obhut seiner Haushälterin und ging in sein Arbeitszimmer zurück, wo er den Beamten von Scotland Yard mitteilte, was er eben erfahren hatte.

 

»Es war mir von Anfang an klar, daß die Haare gefärbt worden sind. Schnurrbart und Augenbrauen hat man ihm abrasiert.«

 

»Der Tote soll Reigate sein?« fragte einer der Beamten ungläubig. »Das ist doch nicht möglich! Ich habe eine Fotografie von ihm bei mir – er ist dunkelblond! Und sein Gesicht sieht völlig anders aus!«

 

»Ich sagte Ihnen ja, sein Haar ist gefärbt – und zwar sehr geschickt. Abgesehen davon machen Sie sich keine Vorstellung davon, wie sehr es den Gesichtsausdruck eines Menschen verändert, wenn man ihm Augenbrauen und Schnurrbart abrasiert.«

 

Reeder drehte sich um und deutete auf die Dollarnoten, die auf dem Tisch lagen.

 

»Das alles sind Bestandteile eines einzigen großen Plans. Die Veränderungen am Gesicht Mr. Reigates, das Geld, das in seiner Tasche steckte – und ist Ihnen nicht auch an der Kleidung, die er trug, etwas aufgefallen?«

 

»Ein starker Kampfergeruch«, entgegnete ein anderer Beamter eifrig. »Ich habe es vorhin dem Chef gesagt. Meiner Meinung nach deutet das darauf hin, daß die Kleidungsstücke lange Monate aufbewahrt worden waren. Er hatte sich wahrscheinlich Kleider für die Flucht beschafft und sie irgendwo versteckt. Kampfer ist doch einer der Hauptbestandteile von Mottenkugeln, nicht wahr?«

 

Mr. Reeder nickte zuerst, schüttelte dann aber nachdrücklich den Kopf.

 

»Natürlich wird Kampfer zur Herstellung von Mottenkugeln verwendet. Ich bin überzeugt davon, daß der Kampfergeruch ein sehr wichtiger Hinweis ist – doch mit Ihren übrigen Schlüssen sind Sie auf der falschen Spur. Ich kann Ihnen noch nicht alles sagen, was ich vermute – über vieles bin ich mir selbst noch nicht im klaren.«

 

Miss Reigate erkannte ihren Bruder; seine Identität stand also einwandfrei fest. Er war durch vier Schüsse aus einem großkalibrigen Browning getötet worden.

 

Völlig ergebnislos blieben alle Nachforschungen nach dem Motorradfahrer. Man fand nicht den geringsten Anhaltspunkt, der einen Hinweis auf seine Person hätte geben können.

 

*

 

Am nächsten Morgen um neun Uhr ging Mr. Reeder mit einem Beamten in Reigates Wohnung und nahm eine peinlich genaue Haussuchung vor. Es waren im ganzen vier kleine, behaglich eingerichtete Räume, dazu Küche und Bad.

 

Reigate hatte das größere der beiden Schlafzimmer benutzt. In einer Ecke stand ein kleiner Schreibtisch, an dem er wahrscheinlich seine Privatgeschäfte erledigt hatte.

 

Daß er im Grunde seines Wesens ein sehr ordentlicher Mensch gewesen war, bewies die Tatsache, daß er über alle seine Spekulationen genau Buch geführt hatte. Neben Stapeln von unwichtigem Aktenmaterial fand Reeder in der letzten Schublade schließlich eine Stahlkassette. Sie war verschlossen, hatte aber ein verhältnismäßig unkompliziertes Schloß, das der Detektiv mit Hilfe eines Sortiments von Nachschlüsseln bald öffnen konnte. Zwei Lebensversicherungspolicen und ein kleines Notizbuch lagen in der Kassette. Das Notizbuch enthielt genaue Angaben über Reigates Privatvermögen. Außerdem fand er einen versiegelten Briefumschlag, machte ihn auf und nahm zwei Yaleschlüssel heraus, die an einem Stahlring hingen. Reeder verglich sie miteinander und sah, daß sie zu verschiedenen Schlössern gehörten. Das war aber auch alles. Wofür sie bestimmt waren, ließ sich aus keinem Anhaltspunkt ersehen.

 

Reeder zog ein starkes Vergrößerungsglas aus der Tasche, untersuchte die Schlüssel genau und kam schließlich zu der Folgerung, daß sie noch nie benützt worden waren.

 

Der Boden der Kassette war mit einem Stück schwarzen Filz bedeckt. Reeder hob es hoch und fand darunter ein Blatt Papier, das von einem Notizbuch stammte. In einer schönen, regelmäßigen Handschrift standen verschiedene Notizen darauf; einzelne Worte waren mit roter Tinte unterstrichen. Auf der Rückseite war eine Liste von Straßennamen aufgeführt; neben jedem Namen stand eine Zeitangabe. Mr. Reeder sah, daß die Zeitangaben zwischen zehn Uhr morgens und vier Uhr nachmittags schwankten. Es handelte sich durchwegs um Seitenstraßen, die in der Nähe wichtiger Hauptstraßen lagen. Neben verschiedenen Zeit- und Ortsangaben waren farbige Striche in Rot, Gelb, Blau und Grün gezogen. Allerdings hatte diese Striche jemand mit Bleistift durchgekreuzt und das Wort ›Gelb‹ danebengeschrieben.

 

»Können Sie sich darauf einen Reim machen, Mr. Reeder?« fragte der Beamte von Scotland Yard, der den Detektiv begleitete.

 

Reeder zog die Stirn in Falten.

 

»Es könnte ein Verzeichnis von Treffpunkten sein. Vielleicht wartete an jeder der angegebenen Stellen ein Auto auf Mr. Reigate, das er im Notfall benützen konnte! Den Angaben auf diesem Blatt nach waren es vier Wagen – aber aus irgendeinem Grund ließ sich der Plan so nicht durchführen. Die einzelnen Farben weisen wohl auf ein bestimmtes Kennzeichen hin, das jeweils an den Wagen angebracht war.«

 

Einige Stunden später erläuterte Mr. Reeder in Scotland Yard seine Theorie vor einem Kreis interessierter Zuhörer:

 

»Es zeichnet sich immer mehr die Tatsache ab, daß wir es hier mit einer Organisation zu tun haben, die sich vorgenommen hat, alle Banken in London zu plündern. Die Bande ist noch viel gefährlicher, als ich annahm. Wir haben jetzt den Beweis dafür, daß sie vor nichts haltmacht und aufs Ganze geht. Reigate wurde ermordet, weil sie damit rechneten, daß er sie verraten würde. Mit dieser Vermutung hätten sie übrigens höchstwahrscheinlich recht gehabt!«

 

*

 

Auch an diesem Abend saß Mr. Reeder wieder in seiner Wohnung und grübelte über den Fall nach. Wie es seine Gewohnheit war, versuchte er, sich in die Lage eines Verbrechers zu versetzen. Er organisierte im Kopf und auf dem Papier verschiedene Bankraube, arbeitete ganze Systeme von Betrügereien aus und stellte sich bis ins einzelne die Schwierigkeiten vor, mit denen eine solche Organisation zu kämpfen hatte. Immer wieder stieß er dabei am Ende seiner Überlegungen auf die Hauptschwierigkeit der Flucht. Wie es der Bande gelang, Leute aus England herauszuschaffen, deren Personalbeschreibung genauestens bekannt war, blieb ihm unerklärlich. Schließlich wußten doch die Verbrecher genau, wie schwer es gerade von England aus war, unbemerkt ins Ausland zu entkommen. Alle Häfen konnte man beobachten, alle Flugplätze schärfstens kontrollieren. Wurde ein Verbrecher gesucht, von dem man annahm, daß er auf den Kontinent flüchten wollte, gab es buchstäblich keinen einzigen Reisenden, den die Polizei nicht genauestens unter die Lupe genommen hätte, bevor er die Insel verließ.

 

Stundenlang ließ sich Mr. Reeder solche Fragen durch den Kopf gehen.

 

Natürlich mußte es der Organisator einer Bande vermeiden, daß seine Helfershelfer mit der Polizei in Berührung kamen. Er mußte sie also zu einem Versteck bringen, in dem sie nicht entdeckt werden konnten.

 

Auch im Fall Reigate lag dies klar zutage. Dem Mann schlug sein Gewissen, und obwohl er sich zuerst in Sicherheit hatte bringen wollen, fand er doch keine Ruhe, bis er sich entschloß, ein volles Geständnis abzulegen. Nachdem er sich zu diesem Entschluß durchgerungen hatte, floh er aus dem Versteck, wo man ihn festhielt, und suchte Reeder auf – seine Schwester hatte ja gesagt, daß er die genaue Adresse kannte.

 

Gegen Mitternacht erhob sich Mr. Reeder von seinem Schreibtisch, steckte sich die dreißigste Zigarette an, lehnte sich mit dem Rücken an den Kamin und dachte weiter nach.

 

Als er sich endlich zur Ruhe legte, hatte er das bestimmte Gefühl, daß er der Lösung des Rätsels zumindest nähergekommen war. Alle merkwürdigen Ereignisse der letzten Monate mußten sich aufklären lassen, wenn es ihm nur gelang, noch einige wichtige Umstände zu klären.

 

*

 

Am nächsten Morgen saß Mr. Reeder in seinem Büro und las eifrig in einem Buch. Wenn jemand sich die Lektüre des Detektivs genauer angesehen hätte, wäre er bestimmt erstaunt gewesen. Es war nämlich seine Lieblingsbeschäftigung, sich in Märchenbücher zu vertiefen, doch pflegte er dies vor den Augen anderer ängstlich zu verbergen.

 

Er war fast am Ende des Buches angelangt, als sich draußen jemand räusperte und an die Tür klopfte. Das konnte nur einer der Büroangestellten sein.

 

Mr. Reeder schob das Buch rasch in die Schreibtischschublade, schloß sie ab und rief laut:

 

»Herein!«

 

»Doktor Joseph Clutterpeck möchte Sie sprechen«, meldete der Angestellte.

 

Mr. Reeder lehnte sich in seinem Stuhl zurück.

 

»Lassen Sie ihn hereinkommen.«

 

Mr. Clutterpeck war ein großer, etwas korpulenter Herr von freundlichem Wesen; er sprach mit einem ausländischen Akzent.

 

»Gestatten Sie, daß ich Platz nehme?« fragte er höflich und saß auch schon, bevor der Detektiv noch nicken konnte. »Ich wollte Sie bitten, Mr. Reeder, einen Auftrag für mich zu übernehmen. Allerdings habe ich gehört, daß Sie schon seit längerer Zeit nicht mehr als Privatdetektiv tätig sind, sondern jetzt im Auftrag der Staatsanwaltschaft mit Scotland Yard zusammenarbeiten.«

 

Reeder bejahte. Er hatte die Fingerspitzen seiner Hände gegeneinandergelegt und betrachtete seinen Besucher mit einem etwas zweifelnden Blick.

 

»Ich befinde mich in einer sehr schwierigen Situation«, fuhr Mr. Clutterpeck fort. »Sie müssen wissen, daß ich eine kleine Klinik für Herzleidende und andere Kranke leite – außerdem helfe ich meinen Mitmenschen gern in großzügiger Weise, wenn sie finanziell in Bedrängnis geraten. Ich verleihe zum Beispiel Geld und frage nicht lange nach Sicherheiten. Leider ist meine Gutgläubigkeit schlecht belohnt worden. Ich habe vor kurzem einen großen Verlust erlitten, als ich einem Mann tausend Pfund geliehen habe.« Er beugte sich vertraulich über den Tisch. »Der Mann geriet immer mehr in Schwierigkeiten – sicher haben Sie davon in der Zeitung gelesen –, es handelt sich um Mr. Hallaty.«

 

Er zuckte bedauernd die Schultern.

 

»Ohne ein Wort zu sagen ist er abgereist – und hat mir keinen Schilling zurückbezahlt. Wie um mich zu verhöhnen, schreibt er mir jetzt, daß ich ihm eine Medizin für sein Herzleiden schicken soll!«

 

»Von wo aus hat er denn geschrieben?«

 

»Von Holland. Übrigens ist das meine Heimat.«

 

»Haben Sie den Brief bei sich?«

 

Clutterpeck kramte in seiner Brieftasche und zog ein Blatt Papier heraus. Mr. Reeder erkannte sofort Hallatys Handschrift.

 

Die Nachricht war nur kurz:

 

 

›Lieber Doktor, Sie müssen mir noch einmal ein Rezept für die Herzmedizin ausstellen, die Sie mir seinerzeit verschrieben hatten – ich habe es verloren. Meine Adresse kann ich ihnen vorerst nicht mitteilen, aber bitte rücken Sie eine Annonce in die Times ein.‹

 

 

Unterzeichnet war der Brief mit ›H‹.

 

Mr. Reeders Augen leuchteten auf.

 

»Kann ich den Brief behalten?«

 

Mr. Clutterpeck nickte eifrig mit dem Kopf.

 

»Selbstverständlich. Ich freue mich sogar, wenn Sie sich mit der Angelegenheit befassen. Dieser Mr. Hallaty scheint von der Polizei gesucht zu werden, und ich möchte nichts damit zu tun haben. Mir liegt nur daran, daß ich meine tausend Pfund wiederbekomme. Die Annonce werde ich natürlich in die Times einsetzen. Das tut man ja schließlich schon aus menschlichem Mitgefühl.«

 

Dr. Clutterpeck gab Mr. Reeder seine Adresse und verabschiedete sich dann. Er hatte kaum das Büro verlassen, als Mr. Reeder schon im Telefonbuch nachsah und sich vergewisserte, daß die Angaben des Mannes stimmten. Den Brief brachte er dem Chefinspektor von Scotland Yard.

 

»Riechen Sie einmal daran«, sagte er.

 

Der Beamte folgte der Aufforderung.

 

»Es ist Kampfer – derselbe Geruch, den auch die Kleider des jungen Reigate hatten. Ich habe sie in der chemischen Abteilung untersuchen lassen, und man sagte mir, es wäre ein besonders präparierter Kampfer, ein wirksames Desinfektionsmittel, das bei ansteckenden Krankheiten verwandt wird.«

 

Erstaunt sah er dann, daß Mr. Reeder vergnügt die Hände zusammenschlug.

 

»Das paßt ja alles vorzüglich«, sagte der Detektiv befriedigt und verabschiedete sich ohne nähere Erklärung.

 

Als er in sein Büro zurückkehrte, berichtete ihm ein Angestellter, daß eine Dame ihn zu sprechen wünsche.

 

Mr. Reeder runzelte die Stirn.

 

»Na schön, sie soll hereinkommen.«

 

Er reichte Miss Reigate die Hand und rückte einen bequemen Sessel für sie zurecht.

 

»Mr. Reeder«, begann sie nervös, »ich habe ein kleines Notizbuch meines Bruders gefunden. Darin sind alle Summen notiert, die er unterschlagen hat …«

 

»Die Summen weiß ich bereits – sie sind aber lange nicht so hoch, wie ich erwartet hatte. Auf keinen Fall lohnte es sich, ihn deshalb gegen Bürgschaft aus dem Gefängnis zu holen.«

 

»Ich habe noch mehr gefunden.«

 

Sie legte einen Zeitungsausschnitt auf den Tisch.

 

Mr. Reeder setzte seine Brille auf und las:

 

›Wenn Sie in Not kommen, dann schreiben Sie an die Barmherzigen Brüder, Lincoln Inn Fields Nr. 297. Beamte, die in Geldschwierigkeiten geraten und dringend Hilfe brauchen, werden unterstützt, ohne daß sie hohe Zinsen zahlen müssen. Die Rückzahlung der geliehenen Summen erfolgt in Raten, auch auf lange Sicht hin. Sicherheiten werden nicht verlangt. Wir vertrauen Ihnen.‹

 

Mr. Reeder laß die Zeilen dreimal durch, dann legte er den Ausschnitt vor sich hin.

 

»Das ist mir vollkommen neu«, erklärte er betreten, fast schüchtern, so daß sie lächeln mußte. »Ich werde feststellen lassen, wie oft solche Anzeigen erschienen sind. Können Sie mir noch sagen, ob Ihr Bruder sich dort Geld geliehen hat?«

 

»Nein. Ich kann mich aber ungefähr erinnern, wann er die Anzeige ausschnitt – es war vor einigen Monaten. Und als er eines Abends Besuch von einem Freund bekam, und ich den beiden Kaffee brachte, hörte ich zufällig, daß Mr. Hallaty über die Barmherzigen Brüder sprach.«

 

»Mr. Hallaty?« fragte Reeder erstaunt. »Hat Ihr Bruder denn Hallaty gekannt?«

 

Sie zögerte.

 

»Ja. Ich sagte Ihnen doch schon, daß jemand einen schlechten Einfluß auf John ausgeübt hat.«

 

Er bemerkte, daß sie rot wurde, und es kam ihm jetzt erst zum Bewußtsein, wie hübsch sie war.

 

»Ich wurde ihm bei einem Ball der Bankbeamten vorgestellt, und es war sehr schwer, ihn wieder loszuwerden.«

 

Mr. Reeder nickte.

 

»Haben Sie ihm nicht gesagt, daß er sich zum Teufel scheren sollte? Das klingt zwar etwas unhöflich, ist aber sehr wirksam.«

 

Sie lächelte.

 

»Ja, einmal habe ich ihm deutlich zu verstehen gegeben, daß er mich in Ruhe lassen soll. Er kam in unsere Wohnung, als mein Bruder gerade ausgegangen war, und benahm sich so anmaßend, daß ich ihn gar nicht aufforderte, näher zu treten. Ich weiß nicht, wie er mit meinem Bruder bekannt wurde, aber er besuchte ihn ziemlich häufig. Nachdem ich ihn zurechtgewiesen hatte, machte er übrigens keinen Versuch mehr, mich zu sehen, und schien jedes Interesse an mir verloren zu haben.«

 

»Wissen Sie, daß Hallaty verschwunden ist, nachdem er seine Bank um eine Viertelmillion bestohlen hatte?«

 

Sie nickte.

 

»John hat sich sehr aufgeregt, als er das hörte – ein paar Tage sprach er von nichts anderem. Er machte sich Sorgen, und ich weiß, daß er keine Nacht mehr richtig geschlafen hat; ständig ging er in seinem Zimmer auf und ab. Er kaufte von da ab alle Zeitungen und sammelte jede Nachricht, die etwas mit Hallaty zu tun hatte.«

 

Mr. Reeder überlegte.

 

»Sie haben doch niemand davon erzählt, daß Sie das Notizbuch und den Zeitungsausschnitt gefunden haben?« fragte er schließlich.

 

»Doch, der Hausmeister hat beides gesehen. Er half mir dabei, einen Schrank hinauszutragen, fand das Notizbuch unter einer losen Leiste des Schrankbodens und brachte es mir später. Die Kleider meines Bruders hingen in dem Schrank – vielleicht steckte das Notizbuch in einer Tasche.«

 

Am Nachmittag öffnete Mr. Reeder die Haustür eines großen Gebäudes in Lincoln Inn Fields Nr. 297, stieg die Treppe bis zum vierten Stock hinauf und stand dort vor einem Schild mit der Aufschrift: ›Barmherzige Brüder‹.

 

Ein Klingelknopf war nicht zu finden. Er klopfte, und jemand fragte mit heiserer Stimme, wer draußen wäre.

 

Gleich darauf würde die Tür aufgeschlossen und eine Handbreit geöffnet.

 

Reeder sah einen Mann von ungefähr sechzig Jahren vor sich. Er hatte ein bleiches, aufgedunsenes Gesicht und machte mit seinen struppigen grauen Haaren einen unsauberen Eindruck.

 

»Was wollen Sie?« fragte er mit fremdländischem Akzent.

 

»Ich möchte mich nach den ›Barmherzigen Brüdern‹ erkundigen.«

 

»An diese Adresse können Sie sich nur schriftlich wenden.«

 

Der Mann wollte die Tür zuschlagen, aber Mr. Reeder hatte bereits den Fuß dazwischengestellt. Mit dem freundlichsten Gesicht, das ihm zur Verfügung stand, schob er den Alten beiseite und trat ein. Von einem winzigen Flur führte eine halbgeöffnete Tür in ein unordentliches kleines Büro; ein Gasofen brannte darin, obwohl draußen die Sonne schien und es ziemlich warm war. Die schmutzigen Fenster sahen so aus, als ob sie schon jahrelang nicht mehr geöffnet worden wären.

 

»Na, wo verwahren Sie denn Ihre Reichtümer, mit denen Sie andern Leuten helfen wollen?« erkundigte sich Mr. Reeder sarkastisch.

 

Der Mann warf ihm einen mißtrauischen Blick zu.

 

Mr. Reeder betrachtete ihn jetzt genauer und mußte feststellen, daß der Alte früher wahrscheinlich bessere Tage gesehen hatte.

 

Eine Flasche auf dem Tisch verriet, daß er seinen Kummer in Alkohol ertränkte. Allem Anschein nach schlief er auch in diesem Zimmer, wie ein altes Sofa mit schmutzigem Bettzeug bewies.

 

»Sie müssen einen schriftlichen Antrag stellen, wenn wir Ihnen helfen sollen. Ich selbst bin nur ein Agent – mit der Geschäftsleitung habe ich nichts zu tun.«

 

»Und mit wem habe ich denn das Vergnügen?«

 

Der Alte schaute ihn düster an.

 

»Ich heiße Jones – hoffentlich genügt Ihnen das.«

 

Mr. Reeder sah sich interessiert in dem Zimmer um. Auf einem kleinen Fensterbrett stand ein hölzernes Gestell mit drei Reagenzgläschen, daneben befanden sich ein halbes Dutzend Flaschen von verschiedener Größe.

 

»Sie schreiben wohl viel?« fragte Mr. Reeder und deutete auf den kleinen Schreibtisch, auf dem mehrere Schriftstücke lagen.

 

Der Mann betrachtete die Tintenflecke an seinen Fingern.

 

»Ja, ich schreibe viel«, entgegnete er dann mürrisch. »Meine. Tätigkeit besteht ja hauptsächlich darin, mit den Antragstellern zu korrespondieren. Außerdem muß ich Bericht erstatten – ich sagte Ihnen ja schon, daß ich nur ein Agent bin.«

 

»Und wie heißt die merkwürdige Firma, für die Sie tätig sind?«

 

»Die ›Barmherzigen Brüder‹«, entgegnete Jones. »Das werden Sie doch in einer Zeitungsannonce gelesen haben – sonst wären Sie ja nicht hier. Die Gesellschaft, die unter diesem Namen arbeitet, will nicht, daß ihre Wohltätigkeit allzu bekannt wird. Nur die Bedürftigsten werden unterstützt – mehr kann ich Ihnen nicht sagen.«

 

Als Mr. Reeder die Treppe wieder hinunterging, schüttelte er betrübt den Kopf. Trotz aller geschickt angebrachten Fragen war es ihm nicht gelungen, die Adresse der ›Barmherzigen Brüder‹ herauszubringen, die angeblich in Südfrankreich wohnten und so selbstlos ihren Mitmenschen halfen.

 

Es war schon zu spät am Nachmittag, um Tee zu trinken, aber auch noch zu früh, um nach Hause zu gehen. Mr. Reeder nahm sich also ein Taxi und fuhr zu seinem Büro. Auf dem Trafalgar Square überholte ihn ein Wagen, in dem Dr. Clutterpeck saß. Er sah nach der anderen Seite, und Mr. Reeder beugte sich vor und klopfte dem Taxichauffeur auf die Schulter.

 

»Folgen Sie dem Wagen dort und lassen Sie ihn nicht aus den Augen. Keine Angst vor Strafmandaten – ich bin von der Polizei.«

 

Mr. Clutterpeck fuhr Pall Mall entlang und um das Kriegerdenkmal herum nach Belgravia. Vor einem pompösen Gebäude hielt der Wagen. Langsam fuhr das Taxi vorbei, und Mr. Reeder sah, daß Dr. Clutterpeck ausstieg. Er ließ sein Taxi ein Stück weiter oben halten, bezahlte den Chauffeur und schlenderte langsam zurück.

 

Ein Polizist kam auf ihn zu, der Mr. Reeder erkannte und ihm diensteifrig Auskunft gab.

 

»Was für ein Gebäude das ist, wollen Sie wissen? Das ist der Fremden-Klub. Früher war dort der Banbury-Klub untergebracht – eine Vereinigung von Jagdfreunden –, aber der zog bald wieder aus, und ein Ausländer gründete dann den Fremden-Klub. Ich weiß nicht genau, was sie treiben – wissenschaftliche Vorträge, soviel ich gehört habe, und ab und zu ein Sprachkurs. Die Räume dort sind sehr schön, und das Essen soll ausgezeichnet sein.«

 

Mr. Reeder hatte von diesem neugegründeten Klub noch nichts gehört und interessierte sich daher lebhaft dafür. Er hatte zwar nicht die Absicht, jetzt hineinzugehen, aber er betrachtete genau die Eingangstür mit den großen Spiegelglasscheiben. Ein Portier in vornehmer Livree stand dahinter.

 

Das Gebäude bildete mit den wenigen angrenzenden Häusern einen Block für sich. Es wurde flankiert von hohen Mietskasernen, die nicht besonders einladend aussahen, und wirkte dadurch besonders attraktiv. In dem einen Haus befand sich ein Kleidergeschäft, an dem zweiten war unten ein auffallendes Firmenschild angebracht, das Mr. Reeder angelegentlich studierte. Schließlich hatte er einen Rundgang um den ganzen Häuserblock gemacht und langte wieder an dem Punkt an, an dem er seine Wanderung begonnen hatte.

 

Das Auto Dr. Clutterpecks war inzwischen verschwunden, auch den Portier entdeckte er nicht mehr. Er ging auf die andere Straßenseite und studierte den ganzen Gebäudekomplex von weitem; dann machte er einen zweiten Rundgang um den Häuserblock. Auf der Rückseite blieb er eine Zeitlang vor einer Haustür stehen, an der ein silbrig schimmerndes Namensschild befestigt war. Ein Wagen stand davor, der gerade von einem Chauffeur gewaschen wurde.

 

Mr. Reeder unterhielt sich ein wenig mit dem Mann und brachte einiges in Erfahrung, dann kehrte er in sein Büro zurück. Er war mit dem Ergebnis seiner Nachforschungen nicht ganz zufrieden, aber er hatte jetzt wenigstens das beruhigende Gefühl, daß er auf dem richtigen Weg war und über kurz oder lang eine wichtige Entdeckung machen würde.

 

*

 

Durchaus nicht alle Angestellten der Staatsanwaltschaft hatten Mr. Reeder gern. Er war vor allem deshalb bei manchen unbeliebt, weil er die Bürostunden nicht einhielt und oft noch bis spät abends arbeitete. Dadurch fühlten sich andere Beamte veranlaßt, länger im Dienst zu bleiben, außerdem kam es häufig vor, daß die Putzfrauen sein Büro nicht reinigen konnten, weil er noch vor seinem Schreibtisch saß.

 

Als Mr. Reeder in seinem Büro angelangt war, kamen ihm doch wieder einige Zweifel, ob er nicht einen Fehler gemacht hatte. Doch jetzt mußte er den einmal eingeschlagenen Weg weiterverfolgen, und so sandte er eine Anzahl von Telegrammen nach einer Reihe über die ganze Welt verstreuter Städte.

 

Seufzend lehnte er sich dann in seinen Schreibtischsessel zurück, holte aus dem untersten Fach seines Schreibtisches sein geliebtes Märchenbuch und begann darin zu blättern – in diesem Augenblick klingelte das Telefon, Scotland Yard war am Apparat, und zwar der Chefinspektor höchstpersönlich.

 

»Wir haben Hallaty gefunden – kommen Sie doch bitte herüber.«

 

Drei Minuten später stand Reeder im Büro des Chefinspektors.

 

»Lebendig oder tot?« lautete seine erste Frage.

 

Der Beamte schüttelte bedauernd den Kopf.

 

»Er ist tot.«

 

Mr. Reeder seufzte.

 

»Das habe ich befürchtet. Hallaty war den anderen offensichtlich zu schlau – und zu gefährlich. Er trug doch nicht etwa auch einen Schlafanzug?«

 

Der Chefinspektor schaute ihn erstaunt an.

 

»Merkwürdig, daß Sie danach fragen. Einen Schlafanzug trug er zwar nicht, aber eine Art Uniform – so ähnlich wie sie Fahrstuhlführer haben.«

 

*

 

Am späten Nachmittag fuhr ein Mann auf einem schweren Motorrad die Straße zwischen Colchester und Calcton entlang. Er hielt einige Male an und fragte nach dem Weg nach Harwich; offensichtlich kannte er sich in der Gegend nicht aus. Einige Zeit nach ihm kam ein leichter Lieferwagen, der in der gleichen Richtung fuhr.

 

Ein Arbeiter, der an einem Waldrand Holz schlug, sah die beiden Fahrzeuge aus der Ferne und hörte gleich darauf eine Reihe von Explosionen. Er kümmerte sich nicht weiter darum, da er annahm, daß es sich um Fehlzündungen handelte. Nur zufällig sah er noch, daß der Lieferwagen angehalten hatte, gleich darauf aber weiterfuhr. Er dachte nicht mehr an den Vorfall, bis er auf dem Heimweg an der Stelle vorüberkam. Zu seinem Entsetzen entdeckte er einen Mann, der halb im Straßengraben, halb auf der Fahrbahn lag. Der Fremde trug eine dunkelblaue Uniform; am Rücken war sie von mehreren Schüssen durchlöchert. Von dem Motorrad war nichts zu sehen. Schleifspuren bewiesen zwar, daß es quer über die Straße geschlittert war, doch fehlte von der Maschine selbst jede Spur.

 

Eine Stunde darauf war die Mordkommission von Colchester an Ort und Stelle und suchte die Umgebung des Tatortes ab. Sie fand Glasscherben, die allem Anschein nach von einem zerbrochenen Scheinwerfer herrührten, und entdeckte auch im Straßengraben eine Aktenmappe, die der Mann auf dem Motorrad wohl bei sich gehabt hatte – leider war sie leer.

 

Der Tote war Mr. Hallaty; er trug kurzgeschnittenes Haar und hatte seinen Schnurrbart abrasiert. Als man seine Kleider genauer untersuchte, fand sich nirgends der Name einer Firma darin – doch unter der Uniform trug er einen seidenen Schlafanzug, der demjenigen von Reigate ähnlich war.

 

Auch Mr. Reeder fand sich an dem Tatort ein. Er untersuchte den Toten und seine Kleidung genau und kehrte gegen Mitternacht nach London zurück.

 

Wieder hielt der Führungsstab von Scotland Yard eine Beratung mit Mr. Reeder ab.

 

»Hallaty war ihnen zu schlau«, erklärte Reeder. »Sie vermuteten – wahrscheinlich hatten sie damit recht –, daß er sie übers Ohr hauen wollte. Schließlich besaß er ein Sportflugzeug, das zu seiner Verfügung stand. Als er damit fliehen wollte, entdeckte er zu seinem Schrecken, daß irgend jemand die Maschine gebrauchsunfähig gemacht hatte. Selbstverständlich waren das nur Vorsichtsmaßnahmen, die von den Führern der Bande getroffen worden waren. Sie zwangen dadurch Hallaty, das zu tun, was sie wollten. Offensichtlich gab er sich aber auch da noch nicht geschlagen und hoffte immer noch, die Bande hinters Licht zu führen und sein eigenes Schäfchen ins trockene zu bringen. Die leere Aktenmappe war vermutlich bis zum Platzen mit Banknoten gefüllt! Von allem Anfang an war mir im übrigen klar, daß er nach Harwich fahren wollte. Dort warteten ein gepackter Reisekoffer und ein Paß auf ihn und dieselbe Vorsichtsmaßregel hatte er in Brighton getroffen. Sie wissen ja, daß man von Brighton mit den Vergnügungsdampfern nach Boulogne hinüberfahren kann.«

 

»Wollen Sie damit sagen, daß Ihnen das tatsächlich schon alles bekannt war?« fragte ihn daraufhin einer der Beamten.

 

Mr. Reeder machte ein etwas schuldbewußtes Gesicht und nickte verlegen.

 

»Na ja, ich hatte eine Ahnung, daß es so kommen würde. Sie wissen ja, daß ich immer versuche, mich an die Stelle des Verbrechers zu versetzen, den ich verfolge – ich tue einfach das, was er auch tun würde. Und meistens geben mir die Ereignisse recht. Meine Beamten haben alle Gepäckaufbewahrungsräume in den Hafenstädten genau kontrolliert, und die Koffer Mr. Hallatys stehen seit vierzehn Tagen in meinem Büro.«

 

*

 

Mr. Reeder fühlte sich an diesem Abend ziemlich müde und freute sich, als ihm der Chefinspektor einen Streifenwagen anbot, der ihn nach Hause bringen sollte. Obwohl er sehr abgespannt war, traf er aber doch noch gewisse Sicherheitsmaßnahmen und suchte mit einem der Polizeibeamten sein Haus vom Keller bis zum Dachboden ab. Er ging auch in den hinten angrenzenden kleinen Garten und vergaß keinen Winkel des Kohlenkellers. Zu gut wußte er, daß er einen Fehler begangen hatte, als er den Agenten der ›Barmherzigen Brüder‹ in Lincoln Inn Fields aufsuchte.

 

Trotzdem schlief er fest bis zum nächsten Morgen. Um sechs Uhr weckte ihn das Klingeln des Telefons, das neben seinem Bett stand. Verschlafen griff er nach dem Hörer und vernahm zu seinem Erstaunen die Stimme Dora Reigates. Sie sprach leise und hastig und schien ziemlich nervös zu sein.

 

»Mr. Reeder, wäre es Ihnen möglich, gleich zu mir zu kommen? Heute Nacht ist etwas Schreckliches passiert! … Nein, am Telefon kann ich es Ihnen nicht sagen – bitte kommen Sie doch …«

 

Mr. Reeder war nun völlig wach. Mit geradezu unglaublicher Geschwindigkeit zog er sich an, nahm Hut und Mantel und schlug gleich darauf die Haustür hinter sich zu.

 

Nach einem Telefongespräch mit dem Chefinspektor hatte er die Erlaubnis erhalten, den Streifenwagen die ganze Nacht vor seinem Haus warten zu lassen – denn gerade jetzt wollte er nicht sterben, wie er scherzhaft bemerkte.

 

Er setzte sich neben den Polizeifahrer – die übrige Mannschaft des Wagens hatte er am gestrigen Abend nach Hause geschickt –, und im schnellsten Tempo fuhren sie zu Reigates Wohnung.

 

Mr. Reeder war ein wenig aufgeregt und versuchte, mit dem Polizeibeamten ein Gespräch anzuknüpfen, aber der war so müde, daß er kaum hinhörte.

 

»Es ist nun mal meine Angewohnheit, die Ergebnisse meiner Nachforschungen bis zum letzten Augenblick geheimzuhalten. Die Wirkung ist dann um so größer«, erklärte er eifrig.

 

»Hm – wirklich ein sonderbarer Fall«, murmelte der Fahrer geistesabwesend.

 

Mr. Reeder merkte, daß der Mann sich überhaupt nicht für das interessierte, was er gesagt hatte, und hüllte sich von da ab beleidigt in Schweigen.

 

Als sie vor dem Gebäude ankamen, in dem Miss Reigate wohnte, schloß der Hausmeister eben die Haustür auf. Er war erstaunt, Mr. Reeder so früh zu sehen.

 

»Ich glaube nicht, daß die junge Dame schon aufgestanden ist«, meinte er kopfschüttelnd.

 

»Sie ist nicht nur aufgestanden – sie erwartet mich sogar«, entgegnete der Detektiv.

 

Als er im Lift mit dem Hausmeister nach oben fuhr, fiel ihm etwas ein.

 

»Sie sind doch der Mann, der das kleine Notizbuch Mr. Reigates gefunden hat?«

 

»Ja. Es lag auch ein Zeitungsausschnitt darin – aber das wissen Sie ja. Ich habe ihn gelesen und mich darüber gewundert. Eine seltsame Firma – die ›Barmherzigen Brüder‹! Verstanden habe ich die Sache nicht.«

 

»Und haben Sie außer Miss Reigate noch jemand davon erzählt, daß Sie das Notizbuch gefunden hatten?«

 

Der Mann überlegte.

 

»Ja«, sagte er schließlich. »Ein Zeitungsberichterstatter suchte mich auf und bat mich, ihm einige Auskünfte für einen Artikel zu geben. Es war ein sehr flotter junger Mann – ein Pfund hat er mir gegeben.«

 

Mr. Reeder schüttelte den Kopf.

 

»Lieber Freund, offensichtlich haben Sie keine Ahnung von Zeitungsleuten, sonst würden Sie wissen, daß Ihnen ein Journalist nur im alleräußersten Notfall Geld anbietet – und auch dann niemals ein Pfund! Na, dem haben Sie also etwas von dem Notizbuch erzählt?«

 

»Ja.«

 

»Auch von dem Zeitungsausschnitt?«

 

Der Hausmeister gab auch das zu.

 

Dora Reigate öffnete Mr. Reeder selbst die Wohnungstür. Sie sah sehr bleich und angegriffen aus und zitterte am ganzen Körper. Am vorigen Abend war sie erst um elf Uhr nach Hause gekommen. Sie hatte ihre Stiefmutter besucht und sich länger dort aufgehalten, als sie eigentlich vorgehabt hatte. Das Licht im Flur funktionierte nicht, und als sie in die Küche gehen wollte, um dort Licht zu machen, kam jemand aus einem Kleiderschrank, der hinter ihr im Flur stand. Sie war einen Augenblick lang starr vor Schrecken gewesen und wollte dann um Hilfe schreien, doch der Fremde legte ihr die Hand auf den Mund und hielt sie fest. Er flüsterte ihr zu, daß sie keinen Laut von sich geben solle, wenn sie sich ruhig verhielte, würde ihr nichts passieren. Sie war einer Ohnmacht nahe und konnte nicht den geringsten Widerstand leisten, als ihr die Augen verbunden wurden. Irgendwoher tauchten noch zwei weitere Männer auf, sie konnte das aber nur aus dem verschiedenen Klang der Stimmen entnehmen, die sie hörte.

 

Zwei Männer führten sie ins Wohnzimmer und setzten sie auf einen Stuhl. Sie hatte sich jetzt etwas beruhigt und konnte unterscheiden, daß einer der Eindringlinge mit einem harten, fremdländischen Akzent sprach. Die zwei, die sie hereingeführt hatten, stritten sich miteinander – aber so leise, daß sie kaum verstand, um was es ging.

 

Ein wenig später packte jemand ihren Arm und schob den Ärmel ihrer Bluse in die Höhe. Gleich darauf zuckte sie unter einem scharfen Stich zusammen.

 

»Keine Angst«, brummte der Mann, der als erster mit ihr gesprochen hatte.

 

»Mach das Licht aus«, befahl darauf der Ausländer.

 

Obwohl ihre Augen verbunden waren, merkte sie, daß es dunkel wurde. Einer der Leute saß neben ihr und hielt ihren Arm.

 

»Bleiben Sie ruhig und regen Sie sich nicht auf – niemand will Ihnen etwas zuleide tun.«

 

Dann wurde es ihr schwindlig, sie verlor das Bewußtsein und konnte sich von da ab auf nichts mehr besinnen. Als sie aufwachte, lag sie vollständig angekleidet auf ihrem Bett und war allein. Die Vorhänge waren aufgezogen, und sie glaubte ein Geräusch zu hören, als ob jemand leise die Wohnungstür zumachte. Es mußte ungefähr fünf Uhr morgens sein, der Helligkeit nach zu schließen, die durchs Fenster hereindrang.

 

Zunächst konnte sie keinen klaren Gedanken fassen, sie hatte aber keine Kopfschmerzen, nur einen merkwürdig trockenen Mund. Als sie aufstehen wollte, taumelte sie und mußte sich eine Zeitlang auf eine Stuhllehne stützen.

 

»Haben Sie die Polizei benachrichtigt?« fragte Mr. Reeder.

 

»Nein«, erklärte sie. »Mein erster Gedanke war, Ihnen Bescheid zu sagen. Was haben die Leute denn mit mir gemacht?«

 

Er untersuchte ihren Oberarm und fand zwei Einstichstellen. Dann sah er sich in dem Schlafzimmer um. Zwei Stühle standen neben dem Bett, und in der Luft lag der unverkennbare Geruch von Zigarren- und Zigarettenrauch. Im Aschenbecher lag ein ganzer Berg von Stummeln, am meisten interessierte Reeder sich aber für einen Füllfederhalter, den die Eindringlinge vergessen hatten – eine Unachtsamkeit, die sich nur dadurch erklären ließ, daß der Füllfederhalter genau die gleiche Farbe wie das Tischtuch hatte. Er berührte ihn nicht mit der bloßen Hand, sondern faßte ihn mit einem Stück Papier an und trug ihn zum Fenster. Auf der glatten Bakelitoberfläche ließen sich deutlich einige Fingerabdrücke erkennen.

 

Mr. Reeder machte ein sehr ernstes Gesicht, als er sich wieder Miss Reigate zuwandte.

 

»Bestimmt hatten die Leute nicht die Absicht, Ihnen etwas anzutun. Ich war es, für den sie sich interessierten.«

 

»Aber warum denn?« fragte sie bestürzt.

 

Mr. Reeder gab ihr keine Antwort. Er ging zum Telefon und rief einen Arzt an, den er kannte.

 

»Ich glaube nicht, daß Sie irgendwelche unangenehmen Folgen spüren werden«, sagte er zu Dora, nachdem er den Hörer wieder aufgelegt hatte.

 

»Was haben sie mir denn gegeben?«

 

»Sie haben Ihnen eine Dosis Skopolamin injiziert – ein Betäubungsmittel, das die Eigenschaft hat, in einen merkwürdigen Dämmerzustand zu versetzen. Es beseitigt gewisse Hemmungen, so daß eine Person, die unter dem Einfluß des Giftes steht, unter Umständen Dinge sagt, die sie bei klarem Bewußtsein verschweigen würde. Ich kann mir denken, daß die Männer eine ganze Reihe von Fragen an Sie gerichtet haben – hauptsächlich Fragen, die mich betreffen. Wahrscheinlich wollten sie vor allem wissen, was Sie mir erzählt hatten und wieviel ich bereits weiß. Und ich fürchte, Sie haben den Leuten – natürlich ohne Ihr Wollen – viel mehr gesagt, als für mich gut ist.«

 

Sie sah ihn erstaunt und ungläubig an.

 

»Aber was waren denn das für Männer, um Himmels willen?«

 

Mr. Reeder lächelte undurchsichtig.

 

»Ich glaube, daß ich zwei von ihnen kenne – der dritte aber ist wahrscheinlich der gefährlichste. Na, wir werden sehen.«

 

Noch am gleichen Morgen hielt die Polizei eine Hausdurchsuchung in Lincoln Inn Fields Nr. 297 ab, aber sie kam zu spät. Die Beamten mußten die Tür aufbrechen, das Zimmer war leer.

 

Ganze Stapel von Akten waren verbrannt worden, denn es lag viel Papierasche im Kamin. Die Reagenzgläschen waren verschwunden, ebenso die Schriftstücke, die Mr. Reeder auf dem Tisch gesehen hatte. Die Leute im Haus wurden vernommen, aber Mr. Reeder, der natürlich auch dabei war, erhielt nur dürftige Informationen. Mr. Jones, der Agent, hatte das Büro vor einigen Monaten gemietet; man hielt ihn für einen Schweden. Er hatte mit niemand im Haus gesprochen, und verhältnismäßig selten hatte man gesehen, daß ihn jemand besuchte. Die Miete sowie die Gas- und Stromrechnungen hatte er stets pünktlich bezahlt. Aufgefallen war höchstens, daß er manchmal lauthals gesungen hatte. Diese Tatsache ließ sich leicht erklären – man fand in einem Kleiderschrank die stattliche Anzahl von zehn leeren Whiskyflaschen.

 

Nach Abschluß der Untersuchung überlegte sich Mr. Reeder seine nächsten Schritte. Er hatte jetzt sehr viel Material gesammelt und alle Einzelheiten über die Bankunterschlagungen, die sich im Laufe der letzten Jahre ereignet hatten, zusammengetragen. Immer wieder ging er Namen für Namen die Liste der Bankangestellten durch, die verschwunden waren, nachdem sie ihre Firma um große Summen betrogen hatten.

 

Er kramte in seinen Taschen und zog nachdenklich die beiden Schlüssel heraus, die er in Reigates Wohnung gefunden hatte. Wenn er nur die Schlösser entdecken könnte, zu denen sie paßten! Wahrscheinlich hätte er dann die Lösung des Rätsels gefunden.

 

Allerdings glaubte er zu wissen, an welcher Tür das eine Schloß angebracht war – an der Tür des Hauses, das auf der Rückseite des Fremden-Klubs lag.

 

Lange kämpfte er mit sich, ob er wie bisher völlig selbständig weiterhandeln sollte, dann siegten aber doch die Vernunft und sein Pflichtbewußtsein. Mr. Reeder kehrte in sein Büro zurück und hatte dort eine Unterredung mit seinem Vorgesetzten, dem er seine Theorien entwickelte.

 

Der Chefinspektor von Scotland Yard lag mit einer leichten Grippe zu Hause im Bett. Während seiner Abwesenheit vertrat ihn sein Assistent, ein im Dienst ergrauter Oberinspektor.

 

Es war sehr bedauerlich, daß Mr. Reeder und dieser Oberinspektor sich gegenseitig durchaus nicht leiden konnten. Stets herrschte zwischen ihnen jenes gespannte Verhältnis, wie es häufig unter Beamten einer Dienststelle vorkommt.

 

Der Oberinspektor hatte die Altersgrenze erreicht und sollte in Kürze pensioniert werden. Mit einer Beförderung für ihn war nicht mehr zu rechnen, und er war deshalb so verbittert, daß sich Vorgesetzte und Untergebene gleichermaßen über ihn beschwerten.

 

Schon äußerlich sah man ihm den Pedanten an. Er war ein kleiner Mann mit scharfem, hagerem Gesicht und einer Glatze. In keiner Weise konnte er großzügig und tolerant denken. Immer rühmte er sich damit, daß er noch zur guten alten Schule gehöre. Diese Schule mußte wirklich schon sehr alt sein, denn die Maßnahmen, die er traf und verteidigte, zeugten von geradezu verstaubter Altmodischkeit.

 

Mr. Reeder blieb nichts anderes übrig, als ihn aufzusuchen und ihm Bericht über den Fortgang seiner Nachforschungen zu erstatten. Als er seinen Vortrag beendet hatte, runzelte der Oberinspektor wie üblich die Stirn.

 

»Mein lieber Mr. Reeder«, begann er in seiner dozierenden Art, »bis zu einem gewissen Grad will ich Ihnen nicht unrecht geben, aber unter keinen Umständen kann ich mich Ihrer Theorie anschließen, daß alle diese Verbrechen von einer Stelle aus organisiert wurden. So etwas gibt es doch gar nicht! Mit solchen romantischen Vermutungen kommen wir keinen Schritt weiter. Zunächst einmal spricht die Tatsache dagegen, daß Verbrecher eine Abneigung haben, sich aufeinander zu verlassen. Außerdem wäre bei einer solch großen Organisation, wie Sie sie sich vorstellen, eine derart straffe Disziplin notwendig, wie sie Verbrecher niemals aufbringen könnten! Wenn tatsächlich ein einzelner Mann hinter all diesen Unterschlagungen stehen sollte, kann er auf keinen Fall hundertprozentig auf seine Untergebenen zählen. In England jedenfalls würde er keine Leute finden, die seine Befehle ausführten, ohne Rücksicht auf ihre eigene Sicherheit zu nehmen. – Was Sie aber über den Fremden-Klub sagen, klingt noch phantastischer. Zufällig kenne ich ihn – es ist ein sehr gut geführtes Unternehmen. Jeden Donnerstagabend werden in dem großen Saal Vorträge veranstaltet, für die erste Wissenschaftler gewonnen wurden. Und Doktor Clutterpeck hat schließlich einen ausgezeichneten Ruf.«

 

Mr. Reeder starrte ihn an, ohne ein Wort zu sagen. Er fühlte, wie die Schadenfreude in ihm hochstieg.

 

»Ich will gar nicht bestreiten, daß Sie in vielen Einzelheiten recht haben«, fuhr der Oberinspektor fort. »Unternehmen kann ich in der Sache aber gar nichts, bevor nicht Ihre Beobachtungen durch sorgfältige Untersuchungen bestätigt sind. Wir müssen dabei mit äußerster Vorsicht vorgehen! Meiner Meinung nach stehen die Verbrechen – das möchte ich noch einmal betonen – in keinem unmittelbaren Zusammenhang miteinander.«

 

»Darf ich Sie auf die beiden Schlafanzüge aufmerksam machen? Sie waren aus dem gleichen Stoff und vom gleichen Schnitt«, entgegnete Mr. Reeder höflich.

 

Der Oberinspektor winkte nur ungeduldig ab. Offensichtlich maß er diesem Umstand keinerlei Bedeutung bei.

 

Zwei jüngere Inspektoren, die auch an der Konferenz teilnahmen, sahen sich heimlich an. Innerlich mußten sie Mr. Reeder recht geben.

 

»Übrigens glaube ich«; begann der Oberinspektor, der sich selbst gern reden hörte, von neuem, »daß wir schon jetzt viel zu weit gegangen sind. Ich halte es für möglich, daß wir die größten Schwierigkeiten bekommen, weil wir eine Hausdurchsuchung bei diesem Mr. Jones abgehalten haben. Selbstverständlich habe ich die Sache mit den ›Barmherzigen Brüdern‹ persönlich untersucht, und dabei hat sich herausgestellt, daß diese Institution von verschiedenen karitativen Vereinen aufs wärmste empfohlen wird! Nein, Mr. Reeder, ich glaube nicht, daß ich in Abwesenheit des Chefs irgend etwas unternehmen kann. Ein paar Tage machen ja außerdem keinen großen Unterschied.«

 

»Aber bedenken Sie denn nicht«, fragte Mr. Reeder unverändert liebenswürdig, »daß bereits zwei Leute ermordet wurden und daß durchaus die Möglichkeit noch weiterer Verbrechen besteht?«

 

Der Oberinspektor lächelte nur mitleidig über diese Worte und gab mit einer Handbewegung zu verstehen, daß er die Unterredung für beendet hielt.

 

Draußen auf dem Gang holte einer der beiden jüngeren Inspektoren Mr. Reeder ein.

 

»Ich wollte mich mit dem Alten auf keine Diskussion einlassen – es wäre doch fruchtlos gewesen«, erklärte er. »Natürlich hat er unrecht. Bitte nehmen Sie zur Kenntnis, daß ich die Verantwortung für alles übernehme, was Sie tun.«

 

Mr. Reeder verabredete mit ihm, daß sie sich nach dem Abendessen treffen wollten. Dann ging er wieder zum Fremden-Klub, der ihn offensichtlich magisch anzog, vermied es aber, sich an der Vorderfront des Gebäudes sehen zu lassen.

 

Er schlenderte zur Rückseite des Gebäudekomplexes und paßte eine günstige Gelegenheit ab, bis er sich unbeobachtet an der Tür mit dem silbernen Namensschild zu schaffen machen konnte. Hastig versuchte er erst den einen, dann den anderen Yaleschlüssel; als er den zweiten herumdrehte, öffnete sich die Tür lautlos und gab den Weg in ein dunkles Treppenhaus frei.

 

Mr. Reeder lauschte angespannt, hörte aber nicht das geringste Geräusch. Eigentlich hatte er erwartet, irgendwo eine Klingel schrillen zu hören. Er zog seine Taschenlampe heraus und leuchtete in den dunklen Gang, der viel breiter und größer war, als er vernutet hatte. Soviel er von der Tür aus sehen konnte, endete er an einer Treppe, die nach oben führte. Gleich links von ihm war eine große Tür, und als er die Decke ableuchtete, sah er eine kugelförmige Lampe; den dazugehörigen Schalter fand er allerdings trotz allen Suchens nicht. Wahrscheinlich konnte sie nur von einem der oberen Räume aus angemacht werden. Vorsichtig schloß er die Haustür hinter sich und versuchte, die Tür linker Hand mit dem anderen Schlüssel zu öffnen – diesmal hatte er aber keinen Erfolg.

 

Er überlegte einen Augenblick lang, entschied sich dann aber, keine weiteren Nachforschungen anzustellen und verließ das Haus leise wieder.

 

*

 

Zur verabredeten Zeit traf er Inspektor Dance, der ihm angeboten hatte, die Verantwortung für sein Vorhaben zu übernehmen. Dance war einer der fähigsten Beamten Scotland Yards und besaß trotz seiner Jugend einen verhältnismäßig großen Einfluß. Der Chefinspektor schätzte ihn sehr und hatte ihm mehr Selbständigkeit als üblich eingeräumt. Reeder erzählte ihm, was für eine Entdeckung er gemacht hatte, und eine Stunde lang saßen die beiden dann noch in Reeders Büro zusammen und schmiedeten Pläne.

 

Um neun Uhr verabschiedete sich der Inspektor, und Mr. Reeder öffnete den Safe, der in einer Ecke des Zimmers stand. Er holte ein Lederfutteral heraus, in dem eine großkalibrige Browning-Pistole steckte. Sorgfältig untersuchte er die Waffe, zog das Magazin heraus, zählte die Patronen nach, die darin steckten, und ließ es schließlich wieder in den Griff gleiten. Ein gefülltes Ersatzmagazin steckte er in seine Westentasche, die Waffe ließ er in der Brusttasche seines Jacketts verschwinden.

 

Der Nachtportier sah auf, als Mr. Reeder das Büro verließ. Der Detektiv hatte den Hut aus der Stirn geschoben und machte ein vergnügtes Gesicht – wie immer, wenn er ein gefährliches Abenteuer vor sich hatte. Seine linke Hand steckte in einem etwas zu weiten gelben Handschuh, den zweiten hielt er elegant zwischen den Fingern.

 

Zwanzig Minuten vor zehn Uhr stieg er die Treppe zum Fremden-Klub hinauf, trat durch die große Schwingtür und lächelte den Portier freundlich an.

 

Es war ein großer, breitschultriger Mann mit hartem Gesichtsausdruck.

 

»Sie wünschen?« fragte er kurz.

 

Die Angestellten des Fremden-Klubs schienen nicht gerade sehr höflich zu sein, obwohl Mr. Reeder den Eindruck hatte, daß sie in anderer Hinsicht besonders sorgfältig ausgewählt worden waren.

 

»Ich hätte gerne mit Doktor Clutterpeck gesprochen. Er hat mich bereits einmal in meinem Büro aufgesucht – mein Name ist Reeder.«

 

Für den Bruchteil einer Sekunde leuchteten die Augen des Portiers auf, aber dann hatte sein Gesicht wieder den gleichen undurchsichtigen Ausdruck wie vorher.

 

»Oh, Mr. Reeder …«, entgegnete er. »Der Doktor speist heute abend hier, und er wird sich bestimmt freuen, Sie zu begrüßen.«

 

Er ging zu einem Telefon und nahm den Hörer ab.

 

»Eben ist Mr. Reeder gekommen, Doktor – er möchte Sie sprechen.«

 

Was Dr. Clutterpeck antwortete, konnte Mr. Reeder natürlich nicht hören, aber es dauerte auf jeden Fall sehr lange und erweckte den Eindruck, als ob der Portier eine ganze Reihe von Anweisungen erhielt. Der Detektiv sah, daß der Portier zur Seite trat, so daß er durch die Glastür auf die Straße hinausschauen konnte.

 

»Nein, es ist alles in Ordnung, Doktor. Mr. Reeder ist allein gekommen. – Oder haben Sie vielleicht einen Freund mitgebracht? Sie könnten ihn ruhig hereinrufen, damit er hier inzwischen Platz nehmen kann.«

 

Mr. Reeder schüttelte den Kopf.

 

»Ich habe keinen Freund«, entgegnete er mit betrübtem Gesicht. »So sehr ich mich auch darum bemühe, gelingt es mir doch nie, mit anderen Menschen vertraut zu werden.«

 

Der Portier, der den Hörer wieder aufgelegt hatte, sah ihn neugierig an. Offensichtlich hatte er viel von Mr. Reeder gehört und wußte nicht recht, was er von ihm halten sollte. Mit stillem Vergnügen glaubte der Detektiv zu bemerken, daß der Portier von dem altmodischen, gemütlichen Aussehen des berühmten Verbrecherschrecks fast ein wenig enttäuscht war.

 

Das Telefon schrillte, und der Portier nahm den Hörer wieder ab.

 

»In Ordnung, Doktor. Ich werde ihn hinaufbringen.«

 

Der Portier geleitete Mr. Reeder zu einer Tür am anderen Ende der Halle. Nachdem er sie geöffnet hatte, sah der Detektiv eine kleine, luxuriös ausgestattete Fahrstuhlkabine vor sich. Mr. Reeder ging hinein und drehte sich schnell um. Er hatte erwartet, daß der Portier ihm folgen würde, aber der Mann schloß die Tür und blieb zurück.

 

Gleich darauf setzte sich der Lift in Bewegung. Im zweiten Stockwerk hielt er an. Die Tür glitt automatisch zurück, und vor Mr. Reeder stand Dr. Clutterpeck. In einem tadellos geschneiderten Smoking machte er einen ausgesprochen distinguierten Eindruck. Im übrigen war er die Liebenswürdigkeit selbst und streckte dem Detektiv vergnügt die Hand zur Begrüßung entgegen.

 

»Ich freue mich, daß Sie gekommen sind, Mr. Reeder. Es ist eine große Ehre für mich. Wollen Sie mir bitte in mein Büro folgen?«

 

Er ging durch einen langen, schmalen Flur voraus, wandte sich dann nach rechts und stieg eine Treppe hinunter. Soweit Reeder es beurteilen konnte, befanden sie sich jetzt im ersten Stock. Sonderbar, daß der Fahrstuhl an diesem Stockwerk vorbeigefahren war.

 

Dr. Clutterpeck öffnete eine Tür linker Hand, und sie traten in einen vornehm eingerichteten behaglichen Raum. Ein schwerer Teppich bedeckte den Boden. Mr. Reeder hatte das Gefühl, als ob sich darunter noch eine Gummipolsterung befände.

 

»Dies ist mein Arbeitszimmer«, erklärte Dr. Clutterpeck. »Was darf ich Ihnen anbieten, Mr. Reeder?«

 

Der Detektiv sah sich um.

 

»Kann ich ein Glas Milch bekommen?«

 

Dr. Clutterpeck war durchaus nicht erstaunt.

 

»Natürlich, können Sie haben.«

 

Er drehte sich um und sprach gegen die Wand: »Ein Glas Milch für Mr. Reeder.«

 

Schmunzelnd wandte er sich wieder seinem Besucher zu.

 

»Ich habe hier ein Mikrophon einbauen lassen, um nicht immer klingeln zu müssen. Aber vielleicht ist es Ihnen lieber, wenn ich es abschalte.«

 

Er drehte einen Schalter, der auf der Platte des mächtigen Diplomatenschreibtisches angebracht war.

 

»So, jetzt können wir ganz ungestört reden – niemand kann uns hören. Machen Sie es sich bequem, Mr. Reeder. Wollen Sie nicht Ihren Handschuh ausziehen?«

 

»Danke, sehr freundlich, aber ich will nur ein paar Minuten bleiben. Ich bin vor allem deshalb hergekommen, um einige Fragen an Sie zu richten. – Vor kurzem habe ich gehört, daß dieser Klub mit einer wohltätigen Gesellschaft in Verbindung steht, deren Vertreter ein älterer Herr namens Jones ist.«

 

Clutterpeck lachte.

 

Wenn er überrascht war, so ließ er es sich auf jeden Fall nicht anmerken.

 

»Merkwürdig, daß Sie gerade davon sprechen. Tatsächlich kenne ich den alten Jones sehr gut – ich habe lange Zeit für seinen Unterhalt gesorgt. Und mit der wohltätigen Gesellschaft meinen Sie doch die ›Barmherzigen Brüder?‹ Nun, die gibt es tatsächlich. Manche Leute haben von dieser Institution, die ihren Sitz in Südfrankreich hat, schon viel Geld erhalten.«

 

Mr. Reeder nickte bedächtig.

 

»Ja, das scheint mir auch so. Ich habe mich heute abend mit einem meiner Vorgesetzten darüber unterhalten, und wir erörterten vor allem, ob diese Gesellschaft wohl irgendwelche verbotenen Dinge betreibt. Er hält das für ausgeschlossen. Ich kann mich dieser Meinung zwar nicht ganz anschließen, glaube aber doch, daß die ›Barmherzigen Brüder‹ Leuten, die in Not sind, Geld zu einem sehr niedrigen Zinssatz leihen.«

 

Clutterpeck beobachtete ihn scharf. Was bezweckte Mr. Reeder mit seinen Ausführungen?

 

»Wir beschäftigten uns mit der Sache, weil uns ein Vermerk im Notizbuch des unglücklichen Mr. Reigate darauf brachte«, fuhr Mr. Reeder fort. »Der junge Mann wurde vor meiner Haustür erschossen, und in dem Notizbuch lag ein Zeitungsausschnitt mit einer Annonce der ›Barmherzigen Brüder‹. Dazu kamen noch einige andere, recht seltsame Dinge – ach ja, zwei Yaleschlüssel haben wir auch in seinem Schreibtisch gefunden, die die Angelegenheit noch geheimnisvoller machten.«

 

»Ich weiß zwar nicht, warum Sie mir das alles erzählen«, begann Dr. Clutterpeck, »muß aber doch zugeben, daß mich dieser Fall interessiert. Vielleicht können wir uns bei Gelegenheit noch einmal darüber unterhalten. Etwas ganz anderes – konnten Sie etwas über diesen Hallaty in Erfahrung bringen? Sie erinnern sich doch, der Mann, der mir tausend Pfund schuldete und der sich jetzt in Holland aufhält. Ich habe Sie seinerzeit in dieser Sache aufgesucht.«

 

»Mr. Hallaty ist nach England zurückgekehrt«, entgegnete Mr. Reeder ernst. »Er wurde in Essex erschossen – wahrscheinlich war er über Hoek van Holland nach Harwich gekommen und wollte …«

 

Es klingelte, und Dr. Clutterpeck öffnete eine Tür in der Holztäfelung, die zu einem kleinen Speiseaufzug führte. Freundlich lächelnd servierte er Mr. Reeder ein Glas eisgekühlter Milch.

 

Der Detektiv kostete vorsichtig. Seinem feinen Geschmack konnte er vertrauen; wenn irgendein Betäubungsmittel in das Getränk gemischt worden wäre, hätte er es sofort gemerkt. Zufrieden nahm er einen größeren Schluck und stellte dann das Glas wieder auf das Tablett. Dr. Clutterpeck hatte er unterdessen nicht aus den Augen gelassen; fast hatte er den Eindruck, daß der Doktor erleichtert aufatmete.

 

»Um einen großen Gefallen wollte ich Sie noch bitten, Doktor. Ich habe in der letzten Zeit so viel von Ihrem Klub gehört, daß ich mir Ihre Räume sehr gerne einmal anschauen würde.«

 

Clutterpeck zog die Stirn etwas mißmutig in Falten.

 

»Tut mir leid, Mr. Reeder, aber das kann ich nicht tun. Der Klub gehört übrigens nicht mir, das ist ein Irrtum von Ihnen. Außerdem sind in den Satzungen strenge Anordnungen enthalten, daß die Mitglieder des Klubs in bestimmten Klubräumen nicht gestört werden dürfen.«

 

»Wie viele Mitglieder haben Sie denn?«

 

»Sechshundertunddrei.«

 

Mr. Reeder nickte.

 

»Stimmt. Ich habe das Verzeichnis gesehen. Es sind hauptsächlich Ehrenmitglieder, die an den Vorträgen in dem großen Saal im Erdgeschoß teilnehmen. Zu gerne möchte ich aber eine Liste Ihrer wirklichen Mitglieder sehen.«

 

Clutterpeck schaute ihn sehr nachdenklich an. Dann stand er plötzlich auf.

 

»Na schön, kommen Sie mit – ich werde sie Ihnen zeigen.«

 

Er ging an Mr. Reeder vorbei, öffnete die Tür und trat zur Seite, um ihn durchzulassen.

 

»Oder wünschen Sie vielleicht, daß ich vorausgehe?« fragte er mit einem sonderbaren Lächeln und ließ den Worten die Tat folgen.

 

Mr. Reeder wußte, daß das eine Kriegserklärung war; vorsichtig folgte er ihm die Treppe hinauf. Oben schritten sie wieder durch den langen Flur und machten an der Fahrstuhltür halt. Clutterpeck drückte auf einen Klingelknopf.

 

Als der Fahrstuhl heraufgekommen war und die Tür sich geöffnet hatte, schien die gleiche Kabine vor ihnen zu liegen, die Reeder vorher benützt hatte – jedenfalls hatte sie den gleichen schwarzweißen Bodenbelag und war auch sonst genauso ausgestattet. Und doch hatte er das Gefühl, daß diese Kabine ein wenig neuer und sauberer aussah als die andere. Reeder hob den Fuß und setzte ihn auf den Boden der Kabine – der Boden gab nach, aber Mr. Reeder war darauf gefaßt gewesen. Er warf sich zurück und hörte gleichzeitig, daß etwas an seinem Kopf vorbeisauste. Es war ein Totschläger, der mit lautem Krach gegen die Wand prallte.

 

Mr. Reeder hatte das Gleichgewicht wiedergefunden. Er war etwas in die Knie gegangen, drehte sich jetzt halb um seine eigene Achse, schnellte hoch und landete einen gewaltigen Uppercut auf Dr. Clutterpecks Kinn.

 

Der Doktor stürzte wie vom Schlag getroffen zu Boden. Kein Wunder, denn Mr. Reeder hatte unter seinem schönen gelben Handschuh einen Schlagring versteckt gehalten.

 

Einen Augenblick stand der Detektiv mit dem Browning in der Hand regungslos da und schaute auf den halb bewußtlosen Mann zu seinen Füßen nieder.

 

Clutterpeck blinzelte und versuchte mühsam, sich aufzuraffen.

 

»Los, stehen Sie nur auf«, sagte Reeder, »aber halten Sie die Hände ruhig.«

 

Im gleichen Augenblick gingen alle Lichter aus.

 

Reeder duckte sich blitzschnell und trat einen Schritt zurück, dabei stieß er mit jemand zusammen, der plötzlich hinter ihm stand. Wieder schlug er zu, traf aber diesmal ins Leere. Ein Schuß fiel so dicht neben seinem Ohr, daß ihn der Knall fast betäubte; das Mündungsfeuer versengte ihm die Backe, so nahe war der Lauf seinem Gesicht. Reeder hob den Browning und feuerte zweimal in der Richtung, in der er den anderen vermutete. Dann versank er plötzlich in eine Dunkelheit, die noch schwärzer war als die, die ihn umgab. Ein Schlag auf den Hinterkopf hatte ihn bewußtlos zu Boden geworfen.

 

»Machen Sie Licht, Doktor! Hat er jemand getroffen?«

 

Plötzlich wurde es wieder hell. Der Portier lehnte an der Wand und betrachtete mit zusammengekniffenen Lippen sein Handgelenk und seinen Arm, von dem das Blut zur Erde tropfte.

 

Ein anderer, kleinerer Mann stand über Mr. Reeder gebeugt.

 

»Helfen Sie mir, ihn fortzuschaffen.«

 

Der Doktor untersuchte die Verwundung des Portiers.

 

»Nicht schlimm, nur ein leichter Streifschuß. Binden Sie Ihr Taschentuch darum. Sie haben Glück gehabt, Fred.«

 

Clutterpeck wandte sich nun Mr. Reeder zu. Er schien durchaus nicht besonders wütend auf ihn zu sein – im Gegenteil, er bewunderte ihn.

 

Zusammen mit dem kleineren Mann schleppte er den Detektiv den Gang entlang und brachte ihn in sein Arbeitszimmer zurück. Dort setzten sie den Bewußtlosen in einen Sessel.

 

»Er wird bald wieder zu sich kommen«, sagte Clutterpeck.

 

Der kleine Mann, der zuletzt gekommen war, sah Mr. Reeder neugierig an.

 

»Ist das wirklich der berühmte Detektiv?« fragte er ungläubig.

 

Clutterpeck nickte.

 

»Ja, das ist er«, entgegnete er grimmig. »Da gibt es gar nichts zu lachen, Baldy. Der hat mehr Leute ins Gefängnis gebracht als irgendein anderer.«

 

»Sieht aber ziemlich dürftig aus!« brummte Baldy.

 

»Holen Sie mir mal ein Glas Wasser.«

 

Der Mann brachte das Gewünschte. Clutterpeck nahm das Glas und besprengte das Gesicht des Detektivs.

 

Mr. Reeder öffnete gleich darauf die Augen und sah sich um. Man hatte ihm den Handschuh ausgezogen und den Schlagring abgenommen.

 

»Sie sind ein ganz gerissener Fuchs, Reeder«, sagte Clutterpeck freundlich. »Wenn ich nicht ein solcher Dummkopf gewesen wäre, hätte ich wissen müssen, daß Sie den Schlagring unter dem Handschuh versteckt hatten.«

 

Er fuhr sich mit der Hand über das geschwollene Kinn und grinste.

 

»Wollen Sie etwas trinken?«

 

Er öffnete eine kleine Bar, in der sich eine Anzahl von Flaschen und Gläsern befand.

 

»Ein Kognak wird Ihnen sicher guttun.«

 

Er goß ein Glas voll und reichte es dem Detektiv.

 

Mr. Reeder trank es langsam aus. Dann tastete er mit der Hand nach dem Kopf und befühlte eine riesige Beule. Aber sonst schien er nicht verletzt zu sein.

 

»Es ist gut, Baldy, Sie können gehen. Wenn ich Sie brauche, klingle ich«, sagte Clutterpeck. Als der Mann gegangen war, fuhr er fort: »Nun wollen wir zur Sache kommen – wissen Sie eigentlich, wer ich bin?«

 

»Ihr Name ist Redsack«, erwiderte der Detektiv ohne zu zögern, »und Sie werden schon lange von der Polizei gesucht.«

 

Clutterpeck nickte liebenswürdig.

 

»Stimmt genau. Wie haben Sie das nur herausgebracht? Ich muß Ihnen gestehen, daß ich Ihren Scharfsinn bewundere! Wir wollen uns einmal ganz ausgiebig unterhalten, und ich werde offen mit Ihnen sprechen. Sie wollten ein bestimmtes Ziel erreichen – das ist Ihnen mißglückt. Sie wissen natürlich, welche Folgen Ihr Pech für Sie hat, Reeder, und Sie werden verstehen, daß ich Sie aus dem Weg schaffen muß. Aber trinken Sie doch noch ein Glas Kognak!«

 

»Danke, ich habe genug.«

 

»Vielleicht möchten Sie lieber eine Tasse Tee?«

 

Clutterpecks Liebenswürdigkeit war nicht gespielt. Er sprach zwar kaltblütig das Todesurteil über Reeder, der ihm ja auch nach dem Leben trachtete, aber persönlich hatte er eigentlich gar nichts gegen ihn einzuwenden. Alle, die sich auf dies gefährliche Spiel einließen, mußten mit dem Tod rechnen, wenn etwas schiefging.

 

»Ja, ich würde ganz gern eine Tasse Tee trinken.«

 

Clutterpeck schaltete das Mikrophon ein und gab die Bestellung weiter, dann drehte er es wieder ab.

 

»Sie können übrigens nicht behaupten, daß Sie den wirklichen Doktor Clutterpeck nicht kennen«, meinte er und grinste.

 

Mr. Reeder nickte, hielt stöhnend den Kopf aber gleich wieder still.

 

»Ich weiß, ich weiß – in Lincoln Inn Fields habe ich mit ihm gesprochen. Er nennt sich jetzt Jones, nicht wahr? Ein ziemlich unangenehmer Kerl.«

 

»Damit können Sie ihn nicht abtun – ich halte ihn für einen schlauen alten Fuchs«, unterbrach ihn Redsack. »Auf seine Weise ist er fast so schlau wie Sie. Ich habe ihn zufällig auf der Straße aufgelesen, als ich seinerzeit nach England kam. Sein ganzes Geld gab er für Whisky aus und schlief auf den Bänken am Themseufer. Holland hatte er schon vor zehn Jahren verlassen, und in England kannte er keinen Menschen. Das brachte mich auf den Gedanken, selbst den Namen Clutterpeck anzunehmen. Ihm war es gleichgültig! Was soll ich noch sagen, Reeder – das ganze Unternehmen hat sich gelohnt, es war ein glänzendes Geschäft. Wenn ich heute abend endgültig mit der Sache Schluß mache, brauche ich mir wegen Geld keine Sorgen mehr zu machen.

 

Mit zehntausend Dollar in der Tasche kam ich nach England. Sie können sich ja denken, wie ich mir dieses kleine Grundkapital angeeignet habe. Es gefiel mir in England, und ich staunte, wie leicht man hierzulande ein Vermögen machen kann. Ihre Landsleute sind alle so verdammt ehrlich!«

 

Er lehnte sich behaglich in seinen Stuhl zurück, stand dann aber gleich auf, öffnete die kleine Tür des Speiseaufzugs und nahm eine Tasse Tee heraus.

 

»Sie können ihn ruhig trinken«, sagte er. »Wenn Sie Wert darauf legen, nehme ich zuerst einen Schluck davon. Mit Giftmischen habe ich mich noch niemals befaßt, und ich kann die feigen Burschen, die andere mit Hilfe von Gift um die Ecke bringen, auf den Tod nicht leiden. Wissen Sie, warum ich in Sing-Sing so schwer bestraft wurde? Als sich einmal eine Gelegenheit bot, habe ich einen Kerl verhauen, der seine Frau und seine Schwiegermutter vergiftet hatte. Nicht ausstehen konnte ich den Lumpen! Natürlich hat er den Wärtern erzählt, ich hätte einen Fluchtversuch vorbereiten wollen und ihn zu überreden versucht, mit mir auszubrechen. Na ja, das ist alles schon so lange her, daß es kaum mehr wahr ist. Trinken Sie nur Ihren Tee, Mr. Reeder, er wird Sie munter machen.«

 

Der Detektiv kam der Aufforderung nach und stellte die Tasse vor sich hin, nachdem er sie ausgetrunken hatte.

 

»Ja, und jetzt wollen Sie wohl wissen, wie es weiterging. Ich war noch keinen Monat in England, als ich einen jungen Bankangestellten kennenlernte, der durch Rennwetten viel Geld verloren hatte. Er half sich durch eine geschickte kleine Unterschlagung. Das erzählte er mir, als er sich die Nase eines Abends gründlich begossen hatte. Bei mir fiel der Groschen, und ich sah plötzlich die Möglichkeit vor mir, nach der ich schon lange gesucht hatte. Ich wurde mit ihm einig, organisierte die Sache, und er konnte nach einer neuen, noch gründlicheren Unterschlagung mit hunderttausend Dollar ins Ausland gehen.«

 

Redsack lehnte sich vor und klopfte energisch mit dem Fingerknöchel auf die Tischplatte.

 

»Sagen Sie nun nicht, daß ich ihm gegenüber mein Versprechen nicht gehalten hätte. Wir haben ehrlich Halbe-Halbe gemacht. Am schwierigsten war es, ihn einen Monat lang hier in London zu verstecken und dann unerkannt außer Landes zu bringen. Zum erstenmal ist mir dabei klargeworden, daß England auf allen Seiten vom Meer umgeben ist! Um die auftretenden Schwierigkeiten zu überwinden, bediente ich mich Doktor Clutterpecks. Ich mietete einige Räume in der Harley Street für ihn, und dort markierte er den großen Spezialarzt. Aber ich hatte ständig Ärger mit ihm, weil er immer betrunken war. Zweimal wäre die Sache beinahe schiefgegangen, als er schwerkranke Patienten über den Kanal brachte.«

 

Er lachte. Die Erinnerung schien ihm das größte Vergnügen zu bereiten.

 

»Sie wissen ja, Reeder, wie es ist, wenn man sich auf zweitklassige Leute verlassen muß, weil man nicht alles selbst tun kann. Solche verdammten Kerle können einem alles verderben.«

 

»Wann haben Sie denn die Klinik für ansteckende Krankheiten eröffnet?«

 

Clutterpeck lachte schallend und schlug sich mit der Hand auf das Knie.

 

»Das ist ja ein Hauptspaß! Ich wußte gar nicht, daß Sie auch das herausbekommen haben. Sie sind wirklich großartig. Nun, die Klinik richtete ich ein, nachdem zwei der Leute versucht hatten, uns zu betrügen. Wir setzten die Annonce von den ›Barmherzigen Brüdern‹ einmal wöchentlich in eine Anzahl von Zeitungen. Natürlich bekamen wir daraufhin Tausende von Anfragen, aber wir warteten immer, bis wir einen Bankbeamten in passender Stellung fanden, der uns Geld beschaffen konnte. Sie haben ja keine Ahnung, wie leicht diese Menschen auf die schiefe Bahn geraten! Sobald wir die Betreffenden ausgesucht hatten, schickten wir ihnen eine Mitteilung, daß sie auf Empfehlung irgendeiner angesehenen Persönlichkeit als Mitglieder in den Fremden-Klub aufgenommen worden wären.

 

Wir hatten eine ganze Menge Privaträume, denn die Mitglieder durften sich auf keinen Fall untereinander kennenlernen. Sie bekamen gutes Essen und öfters Freikarten fürs Theater, so daß sie sich bei uns recht wohl fühlten. Wie sie allerdings annehmen konnten, daß sich das alles für zwanzig Dollar im Jahr machen ließ, ist mir rätselhaft!

 

Wenn wir sie erst einmal im Fremden-Klub hatten, wurden sie von den ›Barmherzigen Brüdern‹ betreut. Ich mußte mich natürlich erst vergewissern, ob man den Kunden trauen konnte. Mit Einzelheiten will ich Sie nicht langweilen, aber es war meist sehr leicht, sie für unseren Plan zu gewinnen. Ich möchte behaupten, daß in den meisten Menschen ein Dieb steckt – aus Angst vor Strafe und weil sie nicht wissen, wie man ihr entgehen kann, bleiben sie jedoch auf dem geraden Weg. Die schwierigste Frage für sie war immer, wie sie unauffällig aus dem Land verschwinden konnten. Alle diese Sorgen nahmen wir nun den Leuten ab. Wir verschafften ihnen Pässe und brachten sie sicher ins Ausland, wo sie nicht so leicht entdeckt werden konnten. Der Mann zum Beispiel, der die Bank von Liverpool um eine halbe Million erleichterte, wurde von uns auf einem Schleppdampfer von England nach Belgien expediert. Selbstverständlich fuhr er nicht von Dover ab, sondern wir brachten ihn von London auf dem Wasserweg hinüber. Auf einer Tragbahre kam er an Bord, auf dieselbe Weise drüben wieder an Land. Er war so verbunden, daß die Leute mitleidig der Bahre nachschauten. Heute lebt er als reicher Mann in Südamerika.

 

Wir halfen den Leuten in jeder Beziehung, Reeder.

 

Bedenken Sie, daß mein oberster Grundsatz lautete: Dienst am Kunden.

 

Übrigens waren Sie natürlich auf der richtigen Spur, als Sie die Tür auf der Hinterseite des Gebäudes öffneten. Damals hielten Sie es für besser, nicht weiter in das Haus einzudringen – hätten Sie es getan, hätten Sie die ›Krankenstation‹ gefunden, in der wir unsere Kunden ein oder zwei Monate lang in Schutz nahmen. Dort sind sie so sicher wie in Abrahams Schoß, dort passiert ihnen nichts! Dann bringen wir sie vertragsgemäß an einen Ort, wo sie ungestört die Früchte ihrer Taten genießen können. Wie gesagt – das ist wahrer Dienst am Kunden!«

 

Redsack schien auf seine Erfolge sehr stolz zu sein.

 

»Keinen einzigen Mißerfolg hatten wir anfangs zu verzeichnen. Natürlich verlangten wir dafür auch genaueste Erfüllung der Abmachungen. Hallaty zum Beispiel versuchte, uns übers Ohr zu hauen. Zunächst gab er nicht alles Geld her, um das er die Bank betrogen hatte, sondern versteckte die Hälfte in einem kleinen Wirtshaus an der Landstraße nach Essex. Außerdem versuchte er, auf eigene Faust seine Flucht zu bewerkstelligen. So etwas konnten wir natürlich nicht dulden!

 

Auch mit diesem Reigate hatten wir Pech. Man sollte es nicht glauben, aber er bekam tatsächlich Gewissensbisse. Und dabei hatten wir alles aufs beste für ihn geordnet! Auf dem Weg nach Gravesend sprang er aus dem Krankenwagen, und es blieb uns nur ein Ausweg: Baldy, der den Transport auf dem Motorrad begleitete, mußte ihn auf offener Straße niederschießen. Sie werden verstehen, daß wir keinesfalls das Risiko eingehen konnten, ihn etwas ausplaudern zu lassen.

 

Nur gut – das fällt mir gerade wieder ein –, daß Sie damals nicht weiter in das Haus eindrangen. Glauben Sie ja nicht, daß wir sonst heute so vergnügt miteinander plaudern könnten. Die ganze Zeit über, als Sie am Hauseingang herumstöberten, war ein Maschinengewehr auf Sie gerichtet – und Baldy hatte den Finger am Abzug. Aber offensichtlich haben Sie Lunte gerochen – oder Detektiven Ihrer Sorte steht ein besonderer Schutzengel zur Verfügung. Na, offen gestanden bin ich glücklich, daß wir Sie damals nicht umlegen mußten. Sie sind wirklich ein so kluger Mann, daß ich es tief bedauert hätte, Sie nicht persönlich näher kennengelernt zu haben.«

 

Redsack sagte das in vollem Ernst. Mit dem Ausdruck ehrlicher Betrübnis schüttelte er den Kopf.

 

»Ich wünschte nur, ich könnte die Sache anders für Sie arrangieren – aber Sie haben nun einmal Ihre bestimmten Aufgaben zu erfüllen, genauso konsequent wie ich die meinen.«

 

Mr. Reeder lächelte sein eigenartiges Lächeln.

 

»Es tut mir ja auch leid, Redsack – aber was soll man tun? Auf jeden Fall bin ich Ihnen zu Dank verpflichtet, daß Sie mich noch so gründlich informiert haben. Darf ich so unbescheiden sein, noch eine kleine Bitte zu äußern? Wenn ich schon einmal – hm – sterben soll, dann möchte ich wenigstens vorher wissen, was Sie sich in der Beziehung ausgedacht haben.« Mr. Reeder machte eine Pause. »Soll ich in diesem interessanten Gebäude, das mehr einem Fuchsbau als einem Haus gleicht, das Zeitliche segnen? Oder haben Sie sich irgendeine besondere Methode zugelegt?«

 

Redsack schaute ihn bewundernd an.

 

»Sie können reden wie ein Buch, Mr. Reeder! Stundenlang könnte ich Ihnen zuhören – obwohl ich von Rechts wegen eigentlich wütend auf Sie sein sollte. Der Kinnhaken, den Sie mir versetzt haben, war wirklich nicht von Pappe. So überrascht war ich in meinem ganzen Leben noch nicht.«

 

Er strich sich vorsichtig mit der Hand über die geschwollene Kinnpartie.

 

»Wie ich Ihnen bereits versichert habe, bin ich Ihnen deshalb aber nicht im mindesten böse. Was die Art betrifft, wie ich Sie ins Jenseits befördern muß – ich betone muß –, so denke ich, daß der einfachste Weg der beste ist. Machen wir es doch So, wie es in den USA Sitte ist – eine kleine Spazierfahrt im Auto, und dann …, nun ja. Wenn Sie irgendeine besondere Gegend wünschen, will ich Ihnen gerne entgegenkommen, Mr. Reeder. Eine Bedingung muß ich allerdings stellen: Es darf nicht zu weit entfernt sein, damit ich vor Tagesanbruch wieder hier sein kann.«

 

Mr. Reeder dachte einen Augenblick nach.

 

»Am liebsten wäre mir natürlich Brockley, Mr. Redsack; schließlich bin ich dort zu Hause. Auf der anderen Seite sehe ich ein, daß diese dicht besiedelte Gegend für Ihre Zwecke nicht gerade günstig ist. Was halten Sie denn von einer der Hauptstraßen, die aus London hinausführen?«

 

Redsack nickte, schaltete das Mikrophon ein und gab einen Befehl.

 

Dann zog er aus einem Schulterhalfter, das er unter der Jacke trug, einen kurzläufigen Revolver hervor und prüfte ihn sorgfältig.

 

»Einverstanden. Am besten, wir brechen gleich auf.«

 

Er ging voraus, öffnete die Tür und machte eine einladende Handbewegung.

 

Mr. Reeder trat auf den Gang hinaus.

 

»So – jetzt rechts um die Ecke!«

 

Mr. Reeder folgte der Aufforderung gehorsam und stand gleich darauf vor einer Wand, die den Gang abschloß.

 

»Hier befindet sich eine Tür – sie wird sich sofort öffnen«, erklärte Redsack freundlich.

 

Die beiden warteten einige Sekunden, aber es ereignete sich nichts.

 

Kopfschüttelnd ging Redsack an Reeder vorbei und hantierte an einer Bodenleiste. Darauf zeigte sich in einer Ecke ein schmaler Spalt, der langsam größer und größer wurde, bis eine Öffnung in Türbreite entstanden war.

 

»Was ist denn los?« rief Redsack wütend, doch dann warf er sich plötzlich zur Seite, riß seinen Revolver heraus und feuerte zweimal.

 

Inspektor Dance, der in der Öffnung aufgetaucht war, hatte Glück – das erste Geschoß riß ihm nur den Hut vom Kopf, das zweite ging zwischen Arm und Jackett durch.

 

Er erwiderte das Feuer mit einer knatternden Serie von Schüssen aus seiner Dienstpistole, aber Redsack hatte sich mit raubtierhafter Gewandtheit bereits geduckt; mit einem mächtigen Satz warf er sich zurück und verschwand gleich darauf um die Ecke des Gangs.

 

Einige Schüsse aus seinem Revolver, die den Verputz von der Wand schlugen, zwangen seine Verfolger zur Vorsicht, und als Inspektor Dance wenige Sekunden darauf unter dem Feuerschutz einer Maschinenpistole den Gang entlangstürmte, kam er bereits zu spät. Er hörte nur noch das Geräusch des Fahrstuhls.

 

Dann erloschen mit einem Schlag alle Lichter, und sie sahen sich im Schein ihrer Taschenlampe einen Augenblick lang verwirrt an.

 

»Wir müssen zurück!« rief Dance ärgerlich.

 

Sie rannten den Gang entlang und durch die Tür, die zu einer steilen Treppe führte. Als sie unten ankamen, sah Mr. Reeder, daß sie den hinteren Ausgang des Hauses erreicht hatten.

 

Im nächsten Augenblick standen sie im Freien – aber sie waren nicht schnell genug gewesen. Der Motor eines schweren Sportwagens, der an der Ecke stand, heulte auf, der Wagen machte einen förmlichen Satz nach vorne und war gleich darauf um die Ecke verschwunden.

 

Die Beamten, die Dance begleitet hatten, eilten zu ihrem eigenen Wagen, aber Reeder winkte nur enttäuscht ab.

 

»Die beiden Schlüssel haben gut gepaßt«, erklärte ihm Dance hastig. »Ich hatte das Gefühl, daß Sie in eine gefährliche Lage geraten waren, deshalb erschien ich fünf Minuten vor der festgesetzten Zeit.«

 

Er sah, daß sich Mr. Reeder den Kopf hielt.

 

»Sind Sie verletzt?« fragte er besorgt.

 

»Nein, nur wütend.«

 

Schnell durchsuchten sie die in der Nähe liegende Garage und fanden darin das beschädigte Motorrad, auf dem Hallaty seinen Fluchtversuch gemacht hatte. Auch das Krankenauto stand hier, mit dessen Hilfe Redsack seinen Schützlingen zur Flucht verholfen hatte.

 

»Wenn es mir der Oberinspektor nur erlaubt hätte, mehr Leute mitzunehmen! So konnte ich nicht einmal das Gebäude umstellen«, sagte Dance ärgerlich. »Wie kommen wir denn nun in die ›Krankenstation?‹«

 

Es dauerte lange Zeit, bis sie endlich den Geheimgang fanden und die entsetzten ›Patienten‹ verhaften konnten, die darauf warteten, außer Landes gebracht zu werden.

 

Als sie nach Scotland Yard zurückkamen, fanden sie dort einen zerknirschten Oberinspektor vor, der eifrig bemüht war, seinen Irrtum wiedergutzumachen.

 

Er tat alles, was in seinen Kräften stand, um Reeder zu helfen. Inzwischen hatte er ein Telefongespräch mit dem Chefinspektor geführt, und was dieser ihm gesagt hatte, war ausreichend gewesen, um den Oberinspektor für den Rest seiner Dienstjahre zu blamieren.

 

Noch in der gleichen Nacht wurde das ganze Gebäude sorgfältig durchsucht. Mr. Reeder entdeckte dabei einen kleinen gepanzerten Raum, der offensichtlich als Safe gedient hatte. Er war leer. Redsack und seine Komplicen hatten ihre Beute nicht im Stich gelassen.

 

Eine Nachricht an alle Polizeistationen war sofort durchgegeben worden. Jedes Auto, das London verlassen wollte, wurde angehalten, in allen Häfen machte man auf den auslaufenden Schiffen Kontrollen.

 

Aber es war zu spät.

 

Um fünf Uhr morgens lichtete ein Schlepper, der im Hafen von Greenwich gelegen hatte, die Anker und dampfte langsam den Strom hinunter. Er signalisierte mit Gravesend und fuhr dann hinaus aufs offene Meer.

 

Trotzdem sollte Mr. Redsack nicht ungestraft entkommen. Nach einigen Stunden zeigte sich eine dunkle Rauchwolke am Horizont, und bald darauf tauchte ein graues Schiff auf, das mit höchster Fahrt auf den Schlepper zubrauste. Es war ein kleiner, flinker Torpedobootzerstörer. Als er nahe genug herangekommen war, erschien auf dem Mast ein Flaggensignal.

 

Der Kapitän des Schleppers stürzte aufgeregt in den Speisesalon und machte seinem Passagier, der den Dampfer gechartert hatte, Mitteilung davon.

 

»Es ist ein Zerstörer der englischen Marine – er hat signalisiert: ›Drehen Sie bei. Wollen Schiff durchsuchen.‹«

 

Redsack überlegte.

 

»Und wenn wir das nicht tun?«

 

»Dann versenkt er uns«, entgegnete der Kapitän bestürzt. »Es bleibt uns gar nichts anderes übrig, als sie an Bord kommen zu lassen.«

 

»Na schön, meinetwegen«, entgegnete Redsack gleichmütig.

 

Er wandte sich an Fred, den früheren Portier, der neben ihm stand und leichenblaß war.

 

»Wenn ich sicher wüßte, daß sie mich nach Sing-Sing zurückbrächten, wäre es mir gleich. Sing-Sing ist ein Gefängnis, in dem ich mich wie zu Hause fühle. Aber hier in England würde man mich wahrscheinlich nach Dartmoor bringen. Soviel ich weiß, wird doch in Dartmoor gehenkt, nicht wahr?«

 

Er überlegte, während der Schlepper seine Maschinen stoppte und ein Kutter des Zerstörers näher und näher kam. Dann ging er in die kleine Kabine und schrieb eine kurze Nachricht auf ein Blatt Papier, das er aus seinem Notizbuch gerissen hatte:

 

Mein lieber Mr. Reeder, gestern abend sagte ich Ihnen bei unserer Unterhaltung – an die ich gerne zurückdenke –, daß einer von uns beiden dran glauben müßte. Es sieht so aus, als ob ich derjenige bin.‹

 

Mit fester Hand setzte er seinen Namen darunter und steckte sich dann eine Zigarre an.

 

Als er hörte, daß der Marinekutter gegen den Schiffsrumpf polterte und nach einigen kurzen Kommandos Schritte über das Deck trappelten, warf er die Zigarre in den kleinen Ofen und erschoß sich.

 

Kapitel 8

 

8

 

›Ich bin ein alter Mann geworden und habe ein hartes Leben voller Mühsal hinter mir. Es ist möglich, daß ich bald sterbe, und ich kann nicht zugeben, daß mein schwer erworbenes Vermögen von irgendeinem leichtsinnigen jungen Mann durchgebracht wird, in den Du Dich verliebst. Deshalb ist es mein Wunsch und Wille, daß Du heiratest, und zwar möglichst bald. Als Mann habe ich meinen Partner Pretoria-Smith für Dich ausgesucht. Vielleicht wirst Du ihn etwas ungeschliffen finden, aber unter der rauhen Schale verbirgt sich ein guter, ehrlicher Charakter. Es hat lange gedauert, bis ich ihn dazu überredet habe, aber schließlich hat er zugestimmt, weil er seinen alten Partner gern hat. Wenn Du diesen Brief erhältst, ist er schon unterwegs nach England.

 

Solltest Du wider Erwarten ablehnen, Marjorie, so muß ich natürlich die jährliche Rente, die ich Deiner Mutter zahle, sofort zurückziehen, und dann will ich auch weiter nichts mehr mit Euch zu tun haben. Ich wasche meine Hände in diesem Fall in Unschuld.

 

Dein Dich stets liebender Onkel

Alfred Stedman.‹

 

*

 

Marjorie legte den Brief beiseite, nachdem sie ihn zum viertenmal durchgelesen hatte, denn die Buchstaben tanzten vor ihren Augen.

 

Ihr schönes Gesicht hatte sich vor Erregung gerötet, und ihre großen, grauen Augen blitzten ärgerlich auf. Sie erhob sich und ging unruhig im Zimmer auf und ab.

 

Marjorie Stedman hatte eine schlanke, grazile Gestalt, goldblonde Locken und ein feines, zartes Gesicht, das von frischen, roten Lippen belebt wurde.

 

»Wie kann er nur derartig schreiben!« sagte sie laut und zornig. »Es ist doch vollständig ausgeschlossen, daß ich mir in dieser Beziehung etwas diktieren lasse!«

 

Sie hatte also einen Heiratsbefehl bekommen! Und dabei hatte sie bisher überhaupt noch nie ernstlich daran gedacht, sich zu binden. Bisher hatte sie nur ungewisse, vage Vorstellungen von einem Mann, den sie lieben könnte. Sie träumte von einem gottähnlichen Wesen, das in höheren Regionen schwebte, und eine Heirat war für sie noch ein Idealzustand, der nichts mit der rauhen Wirklichkeit zu tun hatte. Und nun hatte Onkel Alfred, den sie sonst so sehr schätzte, ihr den kategorischen Befehl gegeben, zu heiraten! Einen Menschen, der Pretoria-Smith hieß!

 

Sie sprach den Namen verächtlich aus, aber im gleichen Augenblick kam er ihr bekannt vor. Irgendwo mußte sie ihn schon gehört haben. Pretoria-Smith! Seit dreieinhalb Jahren hatte sie durch größte Willensanstrengung jene schreckliche Nacht auf Schloß Tynewood aus ihrer Erinnerung verbannt, obwohl sie selbst nicht weit entfernt von diesem alten Familiensitz wohnte, und obwohl Alma Tynewood durch eine merkwürdige Verkettung des Schicksals fast täglich ins Haus kam. Auch Pretoria-Smith hatte sie vollkommen vergessen. War es derselbe, den sie damals kennengelernt hatte? Aber schließlich gab es doch viele Leute dieses Namens in Pretoria. Vielleicht war er irgendein unkultivierter Mensch mit häßlichen Manieren, den ihr alter Onkel irgendwo in einer wilden Gegend Afrikas aufgetrieben hatte. Sie wußte, daß Mr. Stedman ein bewegtes Leben hinter sich hatte. In seinen früheren Tagen soll er unter Eingeborenen gelebt haben, und sie hatte auch einmal gehört, daß er wegen eines Verbrechens mehrere Jahre im Gefängnis gesessen hatte. Gesehen hatte sie ihn. noch nicht, denn er hatte sich dauernd im Ausland, in Amerika, Australien, Südafrika, aufgehalten. Aber er war immer sehr gut zu ihr gewesen.

 

Auch als er vor vier Jahren zu Geld kam, hatte er zuerst in großzügiger Weise für das Kind seines verstorbenen Bruders gesorgt. Seine reichen Zuwendungen hatten es Marjorie ermöglicht, ihre Stellung als Stenotypistin aufzugeben und ein freies, sorgenloses Leben zu führen. Ihre Mutter brauchte nicht mehr in einer kleinen, engen Vorstadtwohnung zu hausen, da Mr. Stedman das alte Stammhaus der Familie zurückgekauft hatte. Wie glücklich hatte sie doch in den letzten Jahren gelebt! Beinahe hatte sie die traurigen Erinnerungen von damals vergessen… Sie hatte viele Bekannte und Freunde in der Gegend und hatte ihre Zeit wohltätiger Arbeit gewidmet. Und morgen war der Tag, an dem man ihr auch offiziell dafür danken wollte.

 

Diesen günstigen Umschwung in ihrem Schicksal hatte nur das Eingreifen Onkel Alfreds gebracht. Als ihr das wieder klar zum Bewußtsein kam, wurde ihre Stimmung ihm gegenüber wieder ruhiger und versöhnlicher.

 

Sie setzte sich einen Augenblick und schaute wieder auf den Brief.

 

»Es hat lange gedauert, bis ich ihn dazu überredet habe«, las sie. Tränen traten in ihre Augen, denn diese Worte bedeuteten eine furchtbare Demütigung für sie.

 

Onkel Alfred schien überhaupt nicht mehr zu wissen, daß es ein Europa gab, in dem die Menschen über sich selbst bestimmten und keine Sklaven waren. Sie war für ihn nur ein Stück Ware, das verkauft werden sollte. Er kaufte sie mit seinem Geld, um sie dann wieder an seinen Partner zu verkaufen. Und dabei mußte dieser Partner noch ›überredet‹ werden, damit das Geschäft überhaupt zustande kam!

 

Wieder sprang sie erregt auf. Aber nachdem sie einige Male auf und ab gegangen war, ließ sie sich aufs neue in den großen Sessel fallen, bedeckte das Gesicht mit den Händen und weinte still in ihr Taschentuch.

 

Alle Träume von einer herrlichen Zukunft fielen nun in nichts zusammen. Es blieb ihr kein anderer Ausweg, als wieder eine Stellung anzunehmen und für kümmerlichen Wochenlohn zu arbeiten. Sie mußte wieder zurück zu den überfüllten Untergrundbahnen und Autobussen, mußte wieder früh aufstehen und im Nebel durch die häßlichen Straßen der Großstadt eilen, um zur rechten Zeit an ihrer Arbeitsstelle zu sein. Das alte, traurige Dasein würde wieder beginnen, und nach aufreibender Tätigkeit würde sie sich dann höchstens im Jahr vierzehn Tage Urlaub in einer großen Pension eines Badeortes gönnen können.

 

Ich bin nur neugierig, was Mutter dazu sagen wird, dachte sie, als sie ihre Augen wieder trocknete.

 

Müde schaute sie auf den gutgepflegten Rasen hinaus, der vor dem alten, grauen Steinhaus mit den schönen Giebeln und den efeubewachsenen Mauern lag. Sie sah auf die Blumenbeete, die jetzt in voller Farbenpracht standen, und auf den Teich, in dem die Enten schwammen. Die armen Tiere wußten noch nichts davon, daß sich nun bald niemand mehr um sie kümmern würde. Wie oft hatte sie dort auf dem bemoosten Stein an der Uferbefestigung gesessen und ihr Spiegelbild im Wasser betrachtet.

 

Mit einem Seufzer erhob sie sich. Klagen und Jammern half auch nichts. Die Laune dieses reichen, alten Mannes hatte sie plötzlich über Nacht in ein Paradies versetzt, und eine andere Laune vertrieb sie nun eben wieder daraus. Das schwerste war, ihrer Mutter diese Nachricht mitzuteilen. Sie kannte ja den Charakter und die Schwächen der alten Frau, aber sie hatte sie trotzdem gern.

 

Plötzlich kam wieder eine zuversichtliche Stimmung über sie. Dreieinhalb Jahre lang hatten sie doch zweitausend Pfund erhalten, und sie hatten hier ein verhältnismäßig einfaches Leben geführt. Sicher war ein großer Teil des Geldes gespart worden, und wenn sie diese Summe jetzt nur vernünftig einteilten, brauchten sie doch nicht mehr in ganz so traurige Verhältnisse wie früher zurückzukehren.

 

»Diesen Pretoria-Smith heirate ich auf keinen Fall!« sagte sie entschlossen vor sich hin, als sie die Wohnzimmertür öffnete.

 

Sie hatte so laut gesprochen, daß die beiden Damen ihre Worte gehört hatten und sie erstaunt ansahen.

 

Es war allerdings noch keine Besuchszeit, und als Marjorie entdeckte, wer bei ihrer Mutter saß, hätte sie sich am liebsten gleich wieder zurückgezogen. Aber dazu war es jetzt zu spät. Sie zwang sich also zu einem Lächeln und ging auf die hübsche junge Dame zu.

 

»Guten Morgen, Lady Tynewood«, sagte sie höflich.

 

Alma Tynewood hatte ihre Abneigung gegen Marjorie nie ganz verbergen können, aber heute morgen hatte sie besonderen Grund, gegen dieses Mädchen Widerwillen zu empfinden. Ein verächtliches Lächeln spielte um ihre hochrot gefärbten Lippen.

 

Mrs. Stedman war für ihr Alter noch eine ansehnliche Frau, aber ihr schwächlicher Charakter drückte sich in ihren weichen Zügen aus. Bei dem unerwarteten Eintreten ihrer Tochter kam sie in große Verlegenheit.

 

»Ach, ich dachte, du wärst ausgeritten; Liebling.«

 

»Ich reite erst am Nachmittag.«

 

»Lance sagte mir aber doch, du hättest dich für Vormittag mit ihm verabredet?«

 

»Ich war heute morgen zu sehr beschäftigt«, entgegnete Marjorie geduldig. »Wenn er am Nachmittag keine Zeit haben sollte, reite ich eben allein.« Mrs. Stedman seufzte unzufrieden und sagte nichts mehr dazu.

 

»Ich kann mir auch schlecht vorstellen, daß Sie jetzt viel Zeit zum Reiten haben sollten«, sagte Lady Tynewood mit einem boshaften Lächeln. »Sie sitzen doch sicher seit Tagen an der Ausarbeitung der Tischrede, die Sie morgen halten werden.«

 

»Da täuschen Sie sich. Ich halte keine Rede«, erwiderte Marjorie kurz. »Ich bin auch sicher, daß mich niemand hören will. Das Komitee macht viel Lärm um nichts und übertreibt meine Arbeit, die ich in den Dienst des Provinzialhospitals gestellt habe. Es ist wohl wahr, daß ich als Sekretärin des Hilfskomitees fünfzigtausend Pfund gesammelt habe, aber andere Leute hätten in meiner Stellung genau dasselbe tun können.«

 

»Aber niemand hat ein so faszinierendes Äußeres wie Sie«, entgegnete Lady Tynewood spitz. »Wenn ich ein Mann wäre, und ein hübsches Mädchen wie Sie käme in mein Büro und bäte mich um eine Zeichnung für einen wohltätigen Zweck, so würde ich sofort mein Scheckbuch aufschlagen und um Angabe der Summe bitten, die ich Ihrer Meinung nach zeichnen sollte. Außerdem haben Sie ja wohl auch Küsse im Dienst der guten Sache verkauft, wie mir erzählt wurde.«

 

»Das ist eine infame Lüge!«

 

»Marjorie!« protestierte ihre Mutter leise.

 

»Aber meine Liebe, jeder Mensch hier weiß es doch und spricht darüber –«

 

»Sie selbst haben diese böswillige Verleumdung unter die Leute gebracht, Lady Tynewood, ich kenne Sie und Ihre Vergangenheit. Wahrscheinlich war es in Ihren früheren Kreisen üblich, Küsse zu verkaufen und weiter keinen Anstoß daran zu nehmen.«

 

Alma wurde dunkelrot vor Zorn, und ihre Augen funkelten böse. Aber sie beherrschte sich.

 

»Die Kreise, in denen ich mich bewegt habe, waren Ihnen natürlich nicht zugänglich«, sagte sie hochmütig. »Morgen werden Sie ja allerdings in allerhöchster Gesellschaft speisen.«

 

Marjorie biß sich auf die Lippen, um eine heftige Antwort zu unterdrücken. Sie machte sich mit den Papieren zu schaffen, die auf dem Tisch lagen, und ordnete sie, während Mrs. Stedman verzweifelt auf das Tischtuch starrte.

 

»War es eigentlich Ihre Idee, daß morgen abend an besonders kleinen Tischen gespeist werden soll?« fragte Lady Tynewood mit schlecht verhohlenem Ärger. »Warum wurde ich denn nicht auch an die Ehrentafel gesetzt, wo Seine Königliche Hoheit den Vorsitz führt? Sie thronen ja vermutlich an seiner rechten Seite!«

 

»Das ist möglich«, erwiderte Marjorie kühl. »Aber ich kann Ihnen die tröstliche Versicherung geben, daß nicht ich diesen Vorschlag machte, sondern Lord Wadham. Ich hatte mit der Platzverteilung nichts zu tun, und es geht mich nichts an, ob Sie an der Ehrentafel sitzen oder nicht.«

 

»Das sagen Sie jetzt«, entgegnete Lady Tynewood pikiert.

 

»Ich nehme nicht an, daß Sie sich von mir überzeugen lassen, aber ich pflege die Wahrheit zu sagen und lüge nicht. Eine einflußreichere Persönlichkeit als ich hat die Plätze verteilt, wie ich Ihnen schon erklärte, und wenn Sie von der Ehrentafel ausgeschlossen sind, kann ich nichts dafür.«

 

»Und wohin hat man mich denn gesetzt?« fragte Alma erregt. »Natürlich zwischen kleine Landbarone, Ärzte und so weiter!«

 

Marjorie zuckte die Schultern.

 

»Aber Liebling, du kennst doch verschiedene Mitglieder des Komitees so gut. Kannst du nicht mit ihnen sprechen, daß Lady Tynewood doch noch einen Platz an der Ehrentafel erhält? Bedenke doch, die Tynewoods sind die älteste und angesehenste Familie in Droitshire.«

 

Marjorie schwieg.

 

»Nun, wollen Sie Ihrer Mutter nicht eine Antwort geben?« fragte Alma scharf.

 

»Das werde ich tun, wenn ich mit ihr allein bin. Dann soll sie auch erfahren, aus welchen guten Gründen Sie unter die Landjunker gesetzt werden.«

 

Lady Tynewood preßte die Lippen aufeinander.

 

»Ich verstehe schon. Die ganze Geschichte ist eine gemeine Intrige gegen mich – weiter nichts!« »Davon ist mir nicht das geringste bekannt«, erwiderte Marjorie zornig, die allmählich die Ruhe verlor. Ihr Gesicht hatte sich gerötet, und ihre Augen blitzten gefährlich. »Ich kann Ihnen nur das eine sagen, Lady Tynewood: Wenn man Sie an die Ehrentafel gesetzt hätte, dann wäre ich an dem Abend nicht erschienen und hätte überhaupt auf die Teilnahme verzichtet.«

 

Alma atmete hörbar. Sie nickte Mrs. Stedman kurz zu und ging kerzengerade zur Tür.

 

»Das soll Ihnen eines Tages noch leid tun. Dafür werde ich sorgen!« zischte sie zwischen den Zähnen und schlug die Tür heftig hinter sich zu.

 

Kapitel 9

 

9

 

Mrs. Stedman sah nervös zu ihrer Tochter hinüber.

 

»Aber Marjorie, du hast dir Lady Tynewood zur Feindin gemacht!« sagte sie vorwurfsvoll.

 

Die alte Frau besaß keinen starken Willen und war eigentlich nicht befähigt, ein Kind zu erziehen und ihre Mutterpflichten zu erfüllen. Aber es gibt viele Frauen, die ihrer Aufgabe in dieser Beziehung nicht gewachsen sind, ihre Kinder nicht verstehen und nur neben ihnen herleben.

 

»Das ist doch sehr gleichgültig«, erwiderte Marjorie hoffnungslos. »Die Feindschaft von Lady Tynewood ist die geringste meiner Sorgen.

 

»Sie war aber gut mit uns befreundet, und ich bin sicher, daß Onkel Alfred es nicht gern sehen würde, daß du eine Dame von Adel derartig beleidigst.«

 

»Ach, Mutter, ich kümmere mich nicht um solche Damen von Adel.« Marjorie war den Tränen nahe. »Sie hat ihren Titel doch nur durch Heirat erhalten, und ihr Mann hat ihn auch nur geerbt, weil sich seine Vorfahren Verdienste erworben haben. Adel hat doch nur dann Wert, wenn er durch persönliche Tüchtigkeit erlangt wird.«

 

»Das klingt ja wie Hochverrat«, erklärte Mrs. Stedman streng. »Ich wünschte nur, du würdest nicht derartig sozialistische Ideen äußern.«

 

Marjorie mußte trotz ihrer unglücklichen Stimmung lachen.

 

»Wir wollen uns nicht über Adelstitel streiten, Mutter. Ich habe so viele andere Dinge mit dir zu besprechen, die weit wichtiger sind.« Sie wußte nicht, wie sie am besten beginnen sollte. »Wohnst du eigentlich gern in diesem Haus?« fragte sie schließlich nach einer Pause.

 

»Selbstverständlich!« Mrs. Stedman hielt diese Frage für einen ungeschickten Versuch Marjories, das Thema zu wechseln. »Aber ich sage dir, daß Lady Tynewood –«

 

»Wir wollen vorläufig einmal nicht über diese Dame reden«, entgegnete Marjorie geduldig. »Aber gibt es nicht wertvollere Dinge, die du mehr liebst als das Leben in diesem Hause, wo du von allem Komfort umgeben bist?«

 

»Ich glaube schon«, erwiderte die alte Frau unsicher. »Wenn man zum Beispiel daran denkt, daß man in nicht allzu langer Zeit sterben wird –«

 

»Nein, das meinte ich nicht«, sagte Marjorie ernst. »Ich wollte über sehr reale, lebenswichtige Dinge mit dir sprechen über das Glück und die Ehre deiner Tochter.«

 

Mrs. Stedman sah plötzlich auf, und ihre Mundwinkel senkten sich.

 

»Was meinst du damit – die Ehre deiner Tochter?« fragte sie bestürzt. »Du hast doch nicht am Ende etwas von dem Geld für dich gebraucht, das du für das Hospital gesammelt hast?«

 

Marjorie erhob sich und trat zum Fenster.

 

»Ich weiß wirklich nicht mehr, ob ich lachen oder weinen soll.«

 

»Dann lache, bitte.« Mrs. Stedman rückte ihre Brille zurecht und griff nach einer illustrierten Zeitung. »Meine Stimmung ist schon trüb genug.«

 

»Mutter, nehmen wir einmal an, daß wir von hier fortziehen müßten.« Marjorie wandte sich wieder um. »Und daß wir vielleicht wieder so leben müßten wie früher.«

 

»Wie kommst du nur auf so absurde Ideen!« Mrs. Stedman schauderte zusammen. »Das würde ich keine Woche überleben! Die Großzügigkeit und Güte deines lieben Onkels Alfred hat uns doch glücklicherweise diese Sorge abgenommen.«

 

»Aber nimm doch einmal an, daß wir trotzdem dazu gezwungen würden«, erwiderte Marjorie verzweifelt.

 

»Nicht einmal im Traum würde ich das annehmen«, entgegnete ihre Mutter ärgerlich. »Du regst mich in der letzten Zeit wirklich furchtbar auf, Kind. Mit keinem Gedanken denkst du daran, daß du eine herzleidende Frau vor dir hast. Willst du mich denn durchaus krank machen und mich unter die Erde bringen? Ich hoffte schon, daß du heute wenigstens etwas teilnehmend und rücksichtsvoll zu mir wärst. Ich muß dir nämlich etwas mitteilen.«

 

»Du mußt mir etwas mitteilen?« wiederholte Marjorie langsam. Eine ungewisse Furcht befiel sie. »Aber es ist vielleicht besser, daß ich zuerst erzähle, was ich dir zu sagen habe. Wieviel Geld haben wir eigentlich in den letzten Jahren gespart, Mutter?«

 

»Gespart?« rief Mrs. Stedman mit schriller Stimme. »Wovon hätten wir denn sparen sollen? Du bist wohl ganz von Sinnen?«

 

Marjorie sah sie verstört an.

 

»Was, du hast gar nichts gespart? Aber wir haben doch jährlich zweitausend Pfund von Onkel Alfred bekommen – das sind vierzigtausend Shilling! Und brauchten keine Miete zu zählen und hatten Gemüse und Obst aus dem Garten! Es blieben doch nur die Löhne für die Dienstboten und die Rechnungen für den Haushalt übrig – da mußt du doch gespart haben!«

 

Mrs. Stedman schüttelte den Kopf, und zwei Tränen liefen über ihre Wagen.

 

»Nein, ich habe kein Geld sparen können«, entgegnete sie weinerlich. »Ich habe mein Konto auf der Bank sogar schon um fünfhundert Pfund überzogen – und – und –« Sie schluchzte heftig auf.

 

»Und?« fragte Marjorie mit schwerem Herzen. Sie war blaß geworden und strich mit zitternden Händen über ihr Haar. »Sage mir die volle Wahrheit, Mutter.«

 

»Ich habe auch noch über tausend Pfund Schulden«, stieß Mrs. Stedman hervor. Marjorie sank in den nächsten Stuhl.

 

»Sieh mich doch nicht so schrecklich an! Ach, ich wünschte manchmal, ich hätte überhaupt kein Kind. Du hast mich niemals richtig getröstet, wenn ich es am meisten nötig hatte!«

 

Marjorie faßte sich nur mühsam, und es gelang ihr kaum, ein Wort über die Lippen zu bringen.

 

»Wem schuldest du denn das Geld?«

 

»Lady Tynewood«, erwiderte ihre Mutter jetzt gereizt und beleidigt. »Ich weiß gar nicht, was dir eigentlich einfällt, mich derartig auszufragen. Ich bin deine Mutter, und du solltest Achtung vor mir haben. Aber die modernen jungen Mädchen denken ja immer nur an sich selbst und niemals an ihre Eltern!«

 

Marjorie sah zum Fenster hinaus. Nun wurde ihr plötzlich klar, was die stundenlangen Besuche ihrer Mutter in der Villa der Lady Tynewood bedeuteten. Sie wunderte sich jetzt auch nicht mehr darüber, daß Alma Mrs. Stedman stets im Auto abholen ließ.

 

»Du hast das Geld wohl beim Bridgespiel verloren?« fragte sie leise. »Mr. Javot hat sicher auch mitgespielt?«

 

»Ja.« Mrs. Stedman war wieder kleinlaut geworden und schluchzte. »Marjorie, ich hatte in der ersten Zeit so fabelhaftes Glück! Ungefähr tausend Pfund habe ich gewonnen. Später habe ich dann dauernd verloren. Aber Alma war sehr liebenswürdig und nett zu mir. Du mußt sie nicht falsch beurteilen. Sie hat sich wirklich wie eine Freundin mir gegenüber benommen und niemals ihr Geld verlangt, obwohl ich weiß, daß ihr eigenes Einkommen ziemlich klein ist.«

 

Marjorie ging auf ihre Mutter zu und legte freundlich den Arm um ihre Schulter.

 

»Gib mir das Versprechen, daß du nie wieder spielst. Wir können uns das nicht leisten.«

 

»Nein, so darfst du nicht sprechen. In den nächsten Tagen werde ich alles wieder zurückgewinnen – und noch mehr dazu«, erklärte Mrs. Stedman eifrig. »Du hast keine Ahnung, was für entsetzliche Karten ich bekommen habe.«

 

»Das kann ich mir schon vorstellen, wenn du gegen Alma Tynewood gespielt hast«, sagte Marjorie mit einem bitteren Auflachen.

 

Konnte sie ihrer Mutter unter diesen Umständen überhaupt von dem Brief erzählen, den sie erhalten hatte? Es hatte ja gar keinen Zweck, die Sache mit ihr zu besprechen. Welche Hilfe oder welchen Trost sollte sie in ihrer schweren Lage von dieser Frau erwarten, die jede Hilfe und jeden Trost für sich selbst in Anspruch nahm wie trockener Sand, der das Wasser aufsaugt und nicht zurückgibt? Ihre Mutter hatte mehr als tausend Pfund Schulden gemacht, und in der nächsten Woche hörten ihre Einnahmen auf. Dieser Schlag mußte die alte, selbstsüchtige Frau zu schwer treffen. Marjorie biß sich auf die Lippen und schaute auf ihre Mutter nieder, die gekrümmt in dem großen Sessel saß und hemmungslos weinte.

 

»Gräme dich nicht so sehr«, sagte sie tröstend. »Wir werden schon fertig werden und durchkommen. Das Haus ist ja schließlich auch noch etwas wert.«

 

»Was redest du da? Das Haus ist auch noch etwas wert?« fuhr Mrs. Stedman plötzlich auf. In ihrer Entrüstung vergaß sie, die Rolle der bekümmerten, alten Frau weiterzuspielen. »Du glaubst doch nicht etwa, daß wir das Haus verkaufen oder eine Hypothek aufnehmen sollten? – Außerdem habe ich bereits mehrere Hypotheken darauf genommen«, fügte sie halb trotzig hinzu.

 

Marjorie hatte geglaubt, daß sie nichts mehr aus der Fassung bringen könnte, aber bei dieser Mitteilung brach sie doch beinahe zusammen.

 

»Du hast Hypotheken auf das Haus eintragen lassen?« fragte sie mit schwacher Stimme. »Aber Mutter, es gehört dir doch gar nicht! Du kannst doch nicht ohne Einwilligung von Onkel Alfred Hypotheken aufnehmen! Darüber hat doch nur er zu bestimmen!«

 

»Er hat uns das Haus doch geschenkt«, erwiderte Mrs. Stedman gekränkt. »Er hat es mir direkt übergeben, und ich kann damit machen, was ich will. Marjorie, du regst mich ganz entsetzlich auf! Und gerade jetzt dachte ich, daß du an Onkel Alfred schreiben würdest. Er hat dich so gern, und du könntest ihn doch tatsächlich bitten, daß er uns mit Geld aushilft. Schreibe ihm, daß du heiraten möchtest, oder so etwas Ähnliches …«

 

»Daß ich heiraten möchte!« wiederholte Marjorie und lachte hysterisch auf.

 

Dann eilte sie plötzlich ohne ein weiteres Wort aus dem Zimmer.

 

Mrs. Stedman sah ihr verblüfft nach und hörte noch, daß ihre Tochter die Treppe hinaufstürmte, die Tür ihres Schlafzimmers hinter sich zuschlug und den Schlüssel umdrehte.

 

Kapitel 4

 

4

 

Auf die Bitte des Rechtsanwalts blieb Marjorie bis zum Spätnachmittag im Büro. Schreibarbeiten hatte sie nicht zu erledigen, aber sie vermutete, daß ihre Dienste früher oder später benötigt würden, und diese Vermutung stimmte auch.

 

Um fünf Uhr klingelte Mr. Vance, der gerade im Begriff war, einen großen Briefumschlag zu versiegeln. Allem Anschein nach hatte er das umfangreiche Schreiben am Nachmittag selbst verfaßt. Erst als er mit dem Siegeln fertig war, schrieb er die Adresse auf das Kuvert. Aber plötzlich hielt er unentschlossen inne.

 

»Hm, das ist allerdings unangenehm«, meinte er und schrieb erst nach einem kurzen Zögern weiter.

 

»Sir James Tynewood, Baron«, las sie über seine Schulter und war enttäuscht. Sie nahm an, daß sie diesen Brief wieder selbst überbringen sollte, und nach den Erfahrungen des vergangenen Abends war ihr ein solcher Auftrag wenig willkommen.

 

Zu ihrem größten Erstaunen nahm er einen noch größeren Umschlag aus der Schublade und steckte den ersten Brief hinein. Die neue Adresse lautete auf einen Namen, der ihr fremd war: »Dr. Fordham, Schloß Tynewood, Tynewood.«

 

Einen Augenblick saß Mr. Vance noch in Gedanken versunken, dann schaute er sie durch seine großen Brillengläser an und lächelte.

 

»Miss Stedman, ich möchte Sie bitten, in meinem Auftrag eine kleine Tour aufs Land zu machen. Kennen Sie Tynewood?«

 

Sie nickte.

 

»Es liegt in Droitshire«, erklärte er. »Sie haben einen Zug um fünf Uhr vom Bahnhof Paddington aus, mit dem sind Sie noch vor acht dort. Die nächste Station liegt allerdings fünf Kilometer von Schloß Tynewood entfernt, aber ich werde dem Gasthaus zum Roten Löwen in Tynewood telegrafieren, daß man Ihnen ein Auto an die Bahn schickt. Die Leute sind dort ziemlich modern eingerichtet. Auf keinen Fall werden Sie Schwierigkeiten haben, nach dem Schloß zu kommen. Gegen elf Uhr heute abend sind Sie wieder hier. Sie haben einen guten, schnellen Zug, der um neun dort abfährt. Diesen Brief müssen Sie Doktor Fordham persönlich übergeben.«

 

Sie nickte.

 

»Ich muß Ihnen aber noch etwas sagen, Miss Stedman«, fuhr er ein wenig verlegen fort. »Seit Sie meine Privatsekretärin sind, haben Sie eine ganze Reihe zum Teil recht unangenehmer Dinge erfahren, und ich weiß, daß Sie stets alles für sich behalten haben. Aber das Geheimnis um Sir James Tynewood ist unangenehmer als alles andere. Ich kann nur hoffen, daß Sie nichts Neues darüber hören. Sollte das trotzdem der Fall sein, so muß ich Sie dringend bitten, als unverbrüchliches Geheimnis zu betrachten, was Sie heute abend erfahren und was Sie gestern erlebt haben.«

 

»Das ist selbstverständlich, Mr. Vance. Aber –«

 

Sie zögerte.

 

»Was wollten Sie denn sagen?«

 

»Ach, es hat mit der Sache selbst nichts zu tun. Ich möchte nur meiner Mutter noch mitteilen, daß ich erst spät nach Hause komme. Sie erwartete mich heute nachmittag schon um zwei.

 

»Ich werde einen Boten hinschicken – oder besser ein Telegramm.«

 

Marjorie lachte.

 

»Ein Telegramm bringt meine Mutter immer in Aufregung.« Sie erklärte ihm nicht näher, daß Mrs. Stedman sich durch ihr optimistisches Temperament verleiten ließ, bei jedem Klingeln der Hausglocke ein Wunder zu erwarten. Natürlich war die alte Dame dann jedesmal sehr enttäuscht, wenn nicht irgendeine angenehme Nachricht kam.

 

Die Fahrt wollte für Marjorie kein Ende nehmen, obgleich sie sich ein Buch und Zeitschriften gekauft hatte. Erleichtert atmete sie auf, als sie endlich an ihrem Ziel ankam und auf den nassen Bahnsteig treten konnte. Mr. Vances Telegramm hatte tatsächlich den gewünschten Erfolg gehabt, denn ein altes, etwas geräuschvolles Auto wartete am Stationsausgang auf sie.

 

Glücklicherweise war es ein geschlossener Wagen, denn es regnete in Strömen. Während er mit großem Lärm über die dunkle Landstraße fuhr, dachte sie daran, daß sie in kurzer Zeit auch hier in der Nähe wohnen würde. Das Auto kroch nur langsam die Anhöhe hinauf und rollte mit unglaublicher Geschwindigkeit bergab. Trotzdem kam es im allgemeinen gut vorwärts und fuhr bald darauf durch die Hauptstraße eines Dorfes. Marjorie schaute durch die triefenden Fensterscheiben und sah einige hellerleuchtete Läden. Sie vermutete, daß dies das Dorf Tynewood war, und sie hatte recht.

 

Einige Minuten später hielt der Wagen, und als sie das Fenster herunterließ, erkannte sie die großen, eisernen Tore des Schloßparks. Der Chauffeur hupte mehrere Male laut, und nach einiger Zeit zeigte sich eine dunkle Gestalt in einem Regenmantel.

 

»Wer ist da? Ich kann Sie nicht hereinlassen.«

 

Marjorie lehnte sich aus dem Fenster.

 

»Ich komme von Rechtsanwalt Vance und soll Doktor Fordham einen wichtigen Brief übergeben.«

 

Ohne weitere Widerrede wurde nun das Tor geöffnet, und das Auto rollte die lange, gewundene Zufahrtsstraße entlang, die auf beiden Seiten von hohen Bäumen flankiert war. Dann hielt der Wagen aufs neue.

 

Nur das halbkreisförmige Fenster über der Haustür war erleuchtet, sonst lag das große Haus vollkommen im Dunkeln.

 

Marjorie stieg aus und bat den Chauffeur zu warten. Erst nach einigem Suchen entdeckte sie den altmodischen Klingelzug. Das Läuten tönte schwach nach außen, aber es dauerte geraume Zeit, bis jemand zur Tür kam. Dann hörte sie plötzlich schnelle Schritte und Kettenrasseln. Die Tür wurde aufgeschlossen, und der eine Flügel öffnete sich eine Handbreit.

 

Der Herr, der den Kopf durch den Türspalt steckte, war ihr unbekannt.

 

»Wer ist da?« fragte er barsch.

 

»Ich komme von Rechtsanwalt Vance und bringe einen wichtigen Brief für Doktor Fordham«, wiederholte Marjorie.

 

»Das bin ich selbst. Treten Sie bitte näher.«

 

Er schloß die Tür auf und nahm ihr den Brief ab.

 

»Nehmen Sie Platz.«

 

Sie ging zu einem der großen Eichensessel hinüber und setzte sich.

 

»Er ist aber doch für Sir James bestimmt«, sagte er, als er den einen Umschlag geöffnet hatte. »Warten Sie bitte einen Moment.«

 

Er hatte den Weg zur nächsten Tür halb zurückgelegt, als er sich noch einmal nach ihr umsah.

 

»Es ist zwar nicht angenehm hier, aber ich kann Sie im Augenblick in kein anderes Zimmer führen. Hoffentlich haben Sie schon zu Abend gegessen, denn ich kann Ihnen leider nichts anbieten. Es ist niemand von der Dienerschaft im Schloß.«

 

Marjorie hatte noch nichts gegessen, und es wäre ihr sehr lieb gewesen, wenn sie sich hätte stärken können. Aber sie lächelte und schüttelte den Kopf.

 

»Ach, das macht nichts. Ich bin nicht hungrig«, log sie.

 

»Bleiben Sie bitte hier in der Halle und gehen Sie nicht weiter.«

 

»Selbstverständlich spioniere ich hier nicht herum«, erwiderte sie etwas verletzt. »Ich kann auch jetzt schon zum Bahnhof zurückfahren, mein Wagen wartet draußen.«

 

»Nein, bitte bleiben Sie«, entgegnete Doktor Fordham und verschwand durch die Tür.

 

Aber in der Eile machte er sie nicht ordentlich zu, so daß das Schloß nicht faßte. Sie öffnete sich von selbst langsam immer weiter, und Marjorie konnte deutlich hören, was im Nebenzimmer gesprochen wurde.

 

»Ich bin auf jeden Fall ruiniert«, sagte Sir James Tynewood. »Wie furchtbar töricht bin ich doch gewesen!«

 

»Du hast nun aber eine Gelegenheit, ein neues Leben zu beginnen«, antwortete eine Stimme, die Marjorie bekannt vorkam. »Ich gebe dir die Möglichkeit dazu, und es wäre wirklich sehr unklug von dir, mein Anerbieten abzulehnen.«

 

»Aber wie soll ich denn das machen?« rief Sir James erregt. »Das ist doch ganz ausgeschlossen! Glaubst du denn, ich könnte nach London zurückgehen, wo all die anderen sind? Meinst du, ich könnte ihnen ruhig entgegentreten und ihnen sagen –«

 

Ein anderer mischte sich ein, offenbar Doktor Fordham. Ein Briefumschlag wurde aufgerissen – wahrscheinlich war es das Kuvert, das sie selbst gebracht hatte. Papier raschelte, dann folgte tiefes Schweigen, das nur ab und zu durch das Umblättern der Bogen unterbrochen wurde.

 

»Du bist ja wahnsinnig gewesen!« sagte dann jemand.

 

»Was meinst du denn?« fragte Sir James nach einer kurzen Pause leise.

 

Wieder Schweigen. Der Brief war inzwischen wohl weitergegeben worden. Mehrere Minuten lang wurde kein Wort gesprochen.

 

»Gut, ich will meine Rechnung mit dir begleichen«, sagte Sir James dann plötzlich.

 

Ein Schuß krachte.

 

Marjorie sprang totenbleich auf. Wieder folgte eine tödliche Stille, dann hörte das junge Mädchen die verzweifelten Worte: »Mein Gott, ich habe ihn getötet!«

 

Sie eilte zur Tür und stieß sie ganz auf. Sir James Tynewood lag auf dem Boden, und aus einer häßlichen Wunde in seiner linken Schläfe sickerte das Blut. Ein Mann beugte sich über ihn, und ein Revolver blitzte in seiner Hand. Als sich die Tür öffnete, erhob er sich langsam.

 

Es war Pretoria-Smith!

 

Kapitel 5

 

5

 

Im nächsten Augenblick hatte Doktor Fordham Marjorie aus dem Zimmer gedrängt. Er faßte sie am Arm und zog sie zur Tür.

 

»Sie haben doch einen Wagen hier?«

 

»Was – was ist – denn geschehen?« fragte sie fassungslos.

 

Er antwortete nicht, sondern schob sie in die stürmische Nacht hinaus. Nachdem die große, schwere Eichentür hinter ihm zugefallen war, gab er dem Chauffeur eine Weisung, die sie nicht verstehen konnte.

 

»Steigen Sie doch ein«, sagte er dann ungeduldig zu ihr.

 

»Was ist passiert?« fragte sie wieder. »Gehen Sie zur Polizei?«

 

Er gab ihr auch diesmal keine Auskunft und stieg hinter ihr in den Wagen.

 

Schweigend fuhren sie durch das Dorf, und erst als sie am äußersten Ende hielten, begann er zu sprechen.

 

»Sie müssen jetzt zu Mr. Vance zurückkehren. Bis dahin dürfen Sie keinem Menschen erzählen, was Sie hier erlebt haben. Verstehen Sie mich?«

 

Sie sah ihn entsetzt an. Ihre Lippen zitterten, und sie war den Tränen nahe.

 

»Nein, ich werde niemandem etwas sagen«, erwiderte sie leise.

 

»Ich rufe Mr. Vance an. Er wartet in seinem Büro auf Sie, das hat er auch schon in seinem Brief erwähnt.«

 

»Ist Sir James tot?«

 

»Hoffentlich nicht«, entgegnete Doktor Fordham kurz.

 

Nach diesen Worten stieg er aus, schlug die Tür zu, und der Chauffeur fuhr weiter.

 

Als Marjorie in Paddington ankam, war sie erstaunt, Mr. Vance auf dem Bahnsteig zu finden. Die Rückreise war ihr schneller vergangen als die Hinfahrt. Ihre Gedanken hatten sich unausgesetzt mit den schrecklichen Ereignissen in Schloß Tynewood beschäftigt, und erst bei ihrer Ankunft in London kam ihr wieder zum Bewußtsein, wie hungrig sie war.

 

»Doktor Fordham hat mir am Telefon gesagt, daß er Ihnen leider nichts anbieten konnte. Sie müssen jetzt sofort etwas essen, und dann habe ich noch mit Ihnen zu sprechen.«

 

»Haben Sie schon alles erfahren?«

 

Er nickte.

 

»Ist – ist – Sir James –«

 

»Wir wollen nicht über die Sache sprechen, bis Sie gegessen haben«, sagte Mr. Vance liebenswürdig und anscheinend gut gelaunt, obwohl er in Wirklichkeit sehr verstört war. »Sie kommen jetzt mit mir in meine Wohnung.«

 

Erst als sie sich gestärkt und ein Glas Portwein getrunken hatte, erwähnte er Sir James Tynewood und die Tragödie wieder, die sich auf dem Schloß abgespielt hatte.

 

»Zunächst muß ich Ihnen eines ausdrücklich sagen«, begann er. »Sir James Tynewood ist nicht tot.«

 

»Gott sei Dank!« Sie atmete erleichtert auf. »Ich bin so entsetzlich erschrocken, als ich das Blut sah …«

 

»Es war nur eine Fleischwunde, und er hat sich wieder erholt. Sein Zustand hat sich sogar so weit gebessert«, sagte er mit großem Nachdruck, »daß er morgen England mit einem Schiff verlassen wird.«

 

Sie starrte ihn verständnislos an.

 

»Will Sir James ins Ausland gehen?«

 

Er nickte.

 

»Begleitet ihn Lady Tynewood?«

 

»Nein, sie bleibt hier.«

 

»Aber – ich verstehe das alles nicht.«

 

»Sie werden die Sache auch niemals ganz verstehen können. Aber glauben Sie mir nur. Der Baron fährt morgen nachmittag mit dem Schiff ›Carisbrooke Castle‹ nach Kapstadt.«

 

Sie schüttelte ratlos den Kopf.

 

»Ich kann diese Rätsel nicht lösen. Was macht denn Mr. Smith von Pretoria? Fährt er auch nach Afrika?«

 

Er nahm die Zigarre aus dem Mund und betrachtete sie kritisch.

 

»Er begleitet Sir James«, erklärte er dann langsam. »Aber jetzt werde ich Sie in meinem Auto nach Hause schicken.«

 

*

 

Wenn Marjorie schon am Morgen nicht sehr mitteilsam gewesen war, so glich sie einer Sphinx, als sie spät abends nach Hause kam. Mrs. Stedman wollte natürlich zu gerne wissen, warum ihre Tochter so lange ausgeblieben war und was sie so ungewöhnlich erregt hatte. Aber nach einiger Zeit gab sie ihr Fragen verzweifelt auf.

 

Die geheimnisvollen Vorgänge auf Schloß Tynewood wurden noch rätselhafter für Marjorie, als sie am Montagmorgen wie gewöhnlich im Büro erschien und Mr. Vance traf. Er sah so aus, als ob er von all den Dingen, die am Sonnabend passiert waren, nichts wüßte. Nach ihren Erlebnissen in Tynewood erschien ihr die alltägliche Arbeit langweilig und uninteressant. Von ihrem Chef sah sie an diesem Tag wenig. Im allgemeinen klingelte er ihr, wenn er sie brauchte, da er nicht gern gestört wurde. Hatte sie eine Frage oder brauchte sie eine Auskunft von ihm, so mußte sie sich von ihrem Zimmer aus telefonisch mit ihm in Verbindung setzen.

 

Aber der Rechtsanwalt hatte die Angewohnheit, ab und zu mit der elektrischen Klingel zu spielen, wenn er in Gedanken war, und es kam fast jeden Tag vor, daß sie auf sein Zeichen hin in seinem Büro erschien, ohne daß er die Absicht gehabt hatte, sie zu rufen.

 

Spät am Montagnachmittag, als sie sich gerade zum Fortgehen fertigmachte, klingelte es in ihrem Zimmer. Sie legte den Mantel wieder ab, nahm Stenoblock und Bleistift und öffnete die Tür zu dem Arbeitszimmer ihres Chefs.

 

Dr. Fordham saß Mr. Vance am Schreibtisch gegenüber. Erschrocken blieb Marjorie stehen, denn sie erkannte sofort, daß der Rechtsanwalt sie nicht brauchte und wieder in einem Augenblick der Zerstreutheit auf den Knopf gedrückt hatte.

 

Die beiden Herren unterhielten sich lebhaft und kümmerten sich nicht um sie. Keiner sah sich nach der Tür um.

 

»Dann ist er also tatsächlich tot. Es tut mir wirklich leid um den armen Jungen!« sagte Mr. Vance gerade, als sich Marjorie lautlos entfernte.

 

»Ja, es ist sehr traurig«, entgegnete Fordham. »Aber ich dachte, ich hätte Ihnen am Telefon schon gesagt, daß nicht die geringste Hoffnung bestand, ihn zu retten.«

 

Schnell trat Marjorie in ihr Zimmer zurück und schloß die Tür leise hinter sich. Noch eine geraume Weile hielt sie die Klinke in der Hand, ohne sich dessen bewußt zu werden.

 

Sir James war also doch tot! Warum hatte Mr. Vance sie nur belogen? Und weshalb war dieser Mann wohl ermordet worden?

 

Kapitel 6

 

6

 

Bei einem Wasserloch am Rande der Wüste Kalahari saßen ein Fingomann und Jan, ein Halbblut. Sie sprachen eifrig miteinander über Alfred Stedman, der einige Schritte von ihnen entfernt im heißen Sonnenbrand lag. Seine Lippen waren blau, sein Atem ging schwer, und von Zeit zu Zeit röchelte er unheimlich. Er konnte das Wasserloch sehen, das ihn gerettet hätte, aber er besaß nicht mehr die Kraft, sich dorthin zu schleppen.

 

Seine beiden Diener unterhielten sich in Afrikaans, einer Abart des Holländischen, das in Südafrika von allen Leuten gesprochen und verstanden wird.

 

»Wenn die Sonne untergeht, wird der Baas wohl sterben«, meinte der Fingomann zufrieden. »Dann bringen wir seine merkwürdigen Instrumente zum Regierungsbeamten in Vrykloof, und das Geld behalten wir für uns. Die kleine Goldmine, die er gefunden hat, nehmen wir auch, und dann werden wir reiche Leute. Wenn ich genug Geld habe, gehe ich nach T’simo zurück und kaufe mir Rinder und Weiber.«

 

»Du bist verrückt«, entgegnete Jan. »Eingeborene dürfen doch in diesem Lande keine Goldminen besitzen. Aber wir wollen ihn ruhig liegen lassen, bis er stirbt, und dann nehmen wir sein Geld.«

 

Der alte Stedman konnte alles hören und verstehen. Wütend schaute er auf seine treulosen Diener.

 

»Ich bin durchaus nicht verrückt«, brauste der Fingomann auf. »Was bildest du dir denn eigentlich ein? Ich bin ein Christ und kann meinen Namen schreiben! Auch kenne ich einen armen weißen Mann in Mafeking, der die Konzession für mich erwerben kann. Er lebt mit einer Matabele-Frau zusammen, die ich sehr gut kannte.«

 

Ihre Unterhaltung wurde plötzlich unterbrochen, denn Pretoria-Smith erschien auf der Bildfläche. Auch sein Ziel war das Wasserloch, dessen Lage er genau kannte, da er schon früher durch dieses Gebiet gekommen war. Er war dunkelbraun gebrannt von der Tropensonne und hatte sich mindestens eine Woche lang nicht rasiert. Aber seine äußere Erscheinung war ihm gleichgültig, seitdem er vor sechs Monaten lebensmüde nach Südafrika zurückgekehrt war. Der Marsch über die einsamen Sanddünen hatte ihn müde gemacht, und er war sehr durstig geworden. Er warf das schwere Bündel ab, das er auf dem Rücken trug, aber die schwere Last, die er mit sich herumschleppte, wurde nicht leichter. In den Nächten konnte er nicht schlafen, denn böse Träume verscheuchten seine Ruhe. Immer sah er einen Toten vor sich auf dem Boden liegen, und er konnte die furchtbare Szene in Schloß Tynewood nicht vergessen.

 

In seinem breiten Ledergurt hingen zwei gefährliche Schnellfeuerpistolen. Die dunklen Metallteile glänzten in der Sonne.

 

Einen Augenblick betrachtete er die beiden Leute, die im Schatten eines Strauches saßen, und dann entdeckte er auch den sterbenden Weißen.

 

»Was fällt euch Halunken ein, daß ihr den Baas dort liegen laßt?« fragte er wild. »Ihr seht doch, daß er verdurstet!«

 

Seine Stimme klang heiser, denn er war zwanzig Kilometer weit durch den salzigen Sand gewandert, dessen Eintönigkeit nur ab und zu durch einen Busch unterbrochen wurde.

 

Jan war ein Halbblut und feige. Der Fingomann zeigte sich dem Weißen gegenüber unterwürfig und kriechend. Die beiden erkannten, daß es ihnen schlecht gehen würde, und gaben sich alle Mühe, das Schlimmste abzuwenden.

 

»Baas«, sagte der Eingeborene, »dieser Mann hat eine Mine gefunden, die so offen zutage liegt, daß man das Golderz mit einem Messer aus dem Geröll kratzen kann.«

 

Im nächsten Augenblick hob er entsetzt die Hände in die Höhe, denn Pretoria-Smith hielt ihm einen Revolver unter die Nase. Mit einem furchtbaren Aufschrei sprangen die beiden auf, trugen Mr. Stedman zum Wasser und legten ihn so ans Ufer, daß seine trockenen Lippen das ersehnte Naß erreichen konnten.

 

Es dauerte aber noch zwei Stunden, bevor sich Alfred Stedman wieder so weit erholt hatte, daß er sprechen konnte. Dann schimpfte er zehn Minuten lang über alle Buschleute, Kaffern, Neger und Halbblute, die sich in Südafrika herumtrieben.

 

Pretoria-Smith hatte inzwischen ein Feuer angezündet und schnitt mit einem Messer kleine Würfel getrockneten Büffelfleisches in seinen Kochtopf. Er lächelte stillvergnügt, als er den kräftigen Wutausbruch hörte.

 

Nach und nach beruhigte sich Mr. Stedman, kam zu Pretoria-Smith, setzte sich ans Feuer und legte die Hand auf das Knie des Mannes.

 

»Wenn Sie nicht gekommen wären, mein Junge, wäre ich jetzt tot, und ein anderer Prospektor hätte später die Goldmine gefunden. Sie sind doch nicht etwa auch auf der Suche nach Gold?« fragte er plötzlich argwöhnisch.

 

»Hierzulande tun wir das ja alle mehr oder weniger. Aber von Beruf aus bin ich kein Goldsucher. Darüber können Sie beruhigt sein.«

 

»Nein, Sie sind kein Goldsucher. Sie sind ein Gentleman. Aber trotzdem müssen Sie schon viele Jahre lang in dieser Gegend leben. Darauf gehe ich die größte Wette mit Ihnen ein.«

 

»Na, so ganz stimmt das nun doch nicht.« Pretoria-Smith öffnete eine Konservenbüchse mit Gemüse und schüttete den Inhalt ebenfalls in einen Kochtopf.

 

»Ich bin nur seit meinem achtzehnten Jahr häufig zur Jagd hierher gekommen.«

 

Pretoria-Smith war sonst nicht so mitteilsam, aber Alfred Stedman verstand es in seiner rauhen, aber herzlichen Art, ihn zum Sprechen zu bringen.

 

»Während des Krieges war ich in Deutsch-Südwest- und Deutsch-Ostafrika«, fuhr Smith fort. »Seit meiner Jugend bin ich nie länger als sechs Monate von hier fort gewesen.«

 

»Wohin wollen Sie denn jetzt gehen?« fragte Stedman und betrachtete ihn neugierig.

 

Smith zuckte die Schultern.

 

»Irgendwohin, um eine Abwechslung zu haben«, entgegnete er ausweichend.

 

Während der folgenden Mahlzeit schwieg der alte Mann nachdenklich. Er saß am Feuer, rauchte seine Pfeife und schaute in die tanzenden Flammen. Nach einiger Zeit klopfte er die Asche aus dem Pfeifenkopf und wandte sich an seinen Gefährten.

 

»Wollen Sie Ihr Glück machen?«

 

Pretoria-Smith schrak aus seinen düsteren Gedanken auf und sah Mr. Stedman scharf an.

 

»Wie meinen Sie denn das?«

 

»Nun, ich habe die Kalahari-Goldmine gefunden!«

 

»Donnerwetter!« sagte Pretoria-Smith jetzt interessiert. »Ich dachte immer, die gäbe es nur in den afrikanischen Legenden. Die Leute haben allerdings, solange ich denken kann, von einer reichen Goldmine in der Wüste Kalahari gefaselt. Aber bis jetzt hatte sie noch niemand entdeckt.«

 

»Mir ist es aber geglückt«, entgegnete Stedman triumphierend. »Was sagen Sie nun?«

 

»Wozu?«

 

»Ich mache Ihnen den Vorschlag, sich bei mir zu beteiligen. Ich brauche einen starken, jüngeren Mann, und ich bin Ihnen großen Dank schuldig.«

 

»Aber übertreiben Sie doch nicht! Es ist selbstverständlich, daß man einem Mann Wasser gibt, wenn er am Verdursten ist. Nein, ich will keinen Dank dafür, und nach einem großen Vermögen sehne ich mich auch nicht. Ich habe schon genug, um davon leben zu können.«

 

»Sie sind der erste Mensch, der mir erzählt, daß er kein Geld braucht!« Er lachte laut. »Nun, so leicht ist es bei mir auch nicht zu verdienen, sonst würde ich Ihnen nicht ohne weiteres einen Anteil anbieten. Ich kenne zwar die Lage der Mine, aber sie muß erst noch genau untersucht werden. Und das bedeutet mindestens ein Jahr harte Arbeit. Nachher muß ich das Kapital aufbringen, um sie in Gang zu setzen, und das ist auch nicht so einfach.«

 

Pretoria-Smith fuhr mit der Hand über seine Bartstoppeln.

 

»Die Arbeit interessiert mich allerdings mehr als der Reichtum und das Gold«, sagte er lächelnd.

 

Alfred Stedman betrachtete diese Worte als eine Annahme seines Angebots.

 

Er sprach dann noch über sein eigenes Leben und erzählte von den vielen Kämpfen und Widerwärtigkeiten, die er in Afrika hatte durchmachen müssen. Pretoria-Smith hörte ihm zu, aber er schwieg nun über sich selbst.

 

»Eins möchte ich Ihnen noch sagen«, erklärte Stedman. »Selbst wenn ich durch diese Mine reich werde, habe ich doch keine näheren Verwandten, denen ich mein Vermögen hinterlassen könnte. Da ist allerdings so ein junges Mädchen in England, die Tochter meines Bruders. Sie ist die einzige Verwandte, die ich auf der Welt habe. Sie heißt Minnie oder so ähnlich – nein, Margaret – warten Sie, das stimmt auch nicht.« Er suchte in seiner Brieftasche und nahm schließlich ein Blatt heraus. »Sehen Sie, Marjorie heißt sie«, sagte er, nachdem er eine etwas verbogene Brille aufgesetzt hatte. »Sie muß ein ganz liebes Mädchen sein. Schon als sie noch ein kleines Kind war, hat sie mir geschrieben.«

 

Pretoria-Smith hörte höflich zu und nickte. Er interessierte sich nicht besonders für die Verwandten Mr. Alfred Stedmans, aber zu dem alten, zähen Mann selbst fühlte er sich hingezogen.

 

»Sie hat eine gute Erziehung gehabt. Mein Bruder war früher auch auf der Universität, aber er hat später nicht viel mit seinem Wissen anfangen können und war immer in Schwierigkeiten. Er gab stets zehn Prozent mehr aus, als er verdiente. Haben Sie in England nicht schon einmal von den Stedmans gehört?«

 

»Nein, ich kann mich nicht entsinnen«, erwiderte Smith und lächelte wieder. »Aber es gibt natürlich viele Leute dort, die ich nicht kenne, und ich bin auch nur mit wenigen Menschen zusammengekommen.«

 

»Die Witwe meines Bruders unterhalte ich nun schon seit vielen Jahren«, erklärte Mr. Stedman selbstzufrieden. »Sogar als es mir schlecht ging, habe ich ihr jeden Monat ein paar Pfund geschickt, um sie über Wasser zu halten. In letzter Zeit war ich allerdings in der Lage, ihr mehr zu geben, und wenn wir erst die Mine in Gang haben, mein Junge –« Er richtete sich auf, und seine Augen glänzten, als er an den kommenden Erfolg dachte.

 

*

 

Mr. Stedman hatte die Schwierigkeiten und die harte Arbeit nicht übertrieben, die die Durchführung des Unternehmens erforderte. Sechs Monate lang arbeiteten die beiden angestrengt in der glühenden Sonne, gruben tiefe Einschnitte in den sandigen Boden und sammelten Erdproben, die sie dann über dreißig Kilometer weit zum nächsten Wasserloch bringen mußten, um dort das Gold auszuwaschen.

 

Pretoria-Smith erholte sich bei dieser Beschäftigung, denn die traurige Vergangenheit verblaßte allmählich.

 

Die Arbeiten gingen schließlich nach Wunsch; Lage und Ausdehnung der Mine wurden festgestellt, und Stedman erhielt die Konzession. Spezialingenieure und Experten kamen von Johannesburg, später auch Beamte des Bergbauamtes aus Kapstadt. Stedman zahlte die bedeutenden Stempelkosten und Konzessionsgelder, und zwölf Monate nach seiner ersten Begegnung mit Smith wurde unter schwierigen Umständen der erste Viertaktmotor in Gang gesetzt, und zwar an derselben Stelle, an der Pretoria-Smith ihn gerettet hatte.

 

Mit der Zeit hatte sich eine enge Freundschaft zwischen den beiden Männern entwickelt. Stedman hatte nichts über die Vergangenheit seines Partners erfahren, aber gerade die Schweigsamkeit und Zurückhaltung von Pretoria-Smith trugen viel dazu bei, die zwei noch fester miteinander zu verbinden.

 

Monate vergingen; die Anzahl der Maschinen wuchs, und bei der Mine entstand die kleine Ortschaft Stedmansville. Nach und nach wurde eine große Pumpstation errichtet, um das Wasser direkt zur Mine zu schaffen, und später überwachte Pretoria-Smith den Bau einer elektrischen Kraftstation. Der Erfolg nach der schweren Arbeit machte auch ihn stolz und glücklich.

 

*

 

Zwei Jahre waren ins Land gegangen, als Stedman seinem Teilhaber eines Tages eine Neuigkeit erzählte.

 

»Erinnerst du dich noch an meine Schwägerin?« Mr. Stedman hatte das Alter erreicht, in dem sich die Leute in ihren Gesprächen gern wiederholen, und Pretoria-Smith hatte daher keine Gelegenheit gehabt, Mrs. Stedman und ihre Tochter Marjorie zu vergessen. Sein Partner sprach von ihr immer als von »der Frau, die nicht wirtschaften konnte und zu nichts taugte«.

 

»Also, denke dir, sie hat einen Neffen, und den hat sie uns hierhergeschickt.«

 

»Großartig!« erwiderte Smith. »Woher kommt er denn?«

 

»Direkt aus England. Nächste Woche ist er schon hier. Meine Schwägerin hat geschrieben, daß er sich mit dem Mädchen verloben will, mit dieser Lily – Margaret –«

 

»Sie heißt Marjorie«, sagte Smith grinsend. »Du hast aber auch wirklich ein zu schlechtes Gedächtnis. Wie kommt das?«

 

»Meinst du? Na, ich wollte nur erzählen, daß meine Nichte und dieser junge Mann kolossal ineinander verschossen sind.«

 

»Stedman, Stedman, auf deine alten Tage wirst du noch vulgär. Warum sollen sich denn die beiden jungen Leute nicht gern haben? Das ist doch nun einmal das Vorrecht der Jugend. Wir beide sind schon viel zu bejahrt, um so etwas zu verstehen.«

 

»Hör mal, du bist doch nicht alt«, erwiderte Stedman vorwurfsvoll. »Du bist doch selbst erst noch ein junger Mann. Also, ich wollte nur sagen – der Junge heißt –«, er holte den Brief heraus und suchte darin nach dem Namen – »Lance Kelman«.

 

»Der Name klingt ja ganz gut«, meinte Smith und schlug seinem Partner leicht auf die Schulter. »Soll ich den jungen Herrn in unserem Familienford hierherbringen, oder kommt er zu Fuß?«

 

Stedman war eigentlich der Ansicht, daß man nach Kimberley fahren sollte, um den Besuch dort abzuholen. Aber dagegen verwahrte sich Pretoria-Smith entschieden, und er freute sich über seine Weigerung, als er Kelman zum erstenmal sah. Der junge Mann reiste mit sechs großen Koffern und sah sich verzweifelt auf dem einsamen Bahnhof um. Seine Kleider waren allerdings nach dem neuesten und besten Schnitt gefertigt, und er hatte sich für diese Afrikafahrt auch besonders ausgerüstet. Die bauschigen Breeches saßen vorzüglich, sein Seidenhemd war blendend weiß und sein Rock auf Taille gearbeitet.

 

Der einzige Zuschauer bei dieser glorreichen Ankunft war Pretoria-Smith, der auf dem langen Bahnhof stand und mit Staunen und Ehrfurcht beobachtete, wie sich Koffer auf Koffer türmte.

 

Lance Kelman bemerkte den großen Mann und winkte ihn zu sich.

 

»Sagen Sie mal, wie komme ich von hier aus zur Mine von Mr. Stedman? Ich bin nämlich sein Neffe.«

 

»Sie können mit einem einfachen, aber brauchbaren Auto hinkommen. Später schicke ich dann einen Ochsenwagen, der Ihr Gepäck holt.«

 

»Ach, Sie sollen mich wohl abholen?« erwiderte Mr. Lance Kelman gnädig und herablassend. »Dann sagen Sie doch den Kerlen auf dem Bahnhof hier, daß sie meine Koffer solange in Verwahrung nehmen sollen, bis Ihr Wagen kommt. Meine Handtasche muß ich allerdings mitnehmen.«

 

»Na, soviel Platz haben wir ja auch noch im Wagen«, entgegnete Smith belustigt, griff nach dem kleinen Koffer und führte Mr. Kelman zum Auto. »Das andere Zeug haben Sie wahrscheinlich am Abend auch schon.«

 

Mr. Kelman sah ihn von der Seite an, um zu erforschen, ob sich dieser große, breitschultrige Mann über ihn lustig machte.

 

»Ich bin der Neffe von Mr. Stedman«, erklärte er dann noch einmal nachdrücklich.

 

»Das haben Sie mir schon erzählt«, erwiderte Smith kühl. »Wollen Sie damit sagen, daß Sie lieber auf den Ochsenwagen warten wollen? Ich kann ja auch allein mit dem Auto vorausfahren.«

 

»Werden Sie nur nicht unverschämt, mein Freund«, rief Kelman aufgeregt.

 

Smith lachte.

 

Auf der Fahrt zur Mine schwieg Lance beleidigt. Er hielt es für unter seiner Würde, mit seinem Begleiter zu sprechen, und selbst als er später Pretoria-Smith in aller Form von Mr. Stedman vorgestellt wurde und bei der Gelegenheit erfuhr, daß er den Partner des alten Herrn vor sich habe, änderte er seine ablehnende Haltung nicht.

 

»Nun, was denkst du von dem jungen Mann, der sich mein Neffe nennt?« fragte Stedman, als Mr. Kelman in das kleine Wellblechhaus gebracht worden war, das ihm während seines Aufenthalts als Wohnung dienen sollte.

 

»Er sieht sehr gut aus«, sagte Pretoria-Smith vorsichtig. »Und er ist also mit deiner Nichte verlobt?«

 

»Na, verlobt sind sie ja gerade noch nicht«, entgegnete Stedman zögernd. »Magst du ihn eigentlich?«

 

»Ich kenne keinen Menschen, der mir unsympathischer wäre als dieser Geck!«

 

Kapitel 7

 

7

 

Von Mr. Kelmans dreimonatigem Aufenthalt auf der Mine ist nicht viel Rühmliches zu erzählen. Er sprach dauernd und manchmal etwas überflüssigerweise von der alten Heimat, von dem guten Leben dort, von den Vorteilen der Zivilisation und von dem geringen Komfort in dieser Wüstenei.

 

Die beiden hörten ihm meistens schweigend zu.

 

»Ich muß nächstens doch einmal nach England fahren«, meinte Smith eines Tages, als sie bei Tisch saßen. »Es scheint ein unheimlich interessantes Land zu sein. Habe schon viel davon gehört.«

 

»Sie würden sich dort allerdings wohl kaum zurechtfinden«, entgegnete Mr. Kelman gönnerhaft. »Aber wenn Sie mich vorher benachrichtigen, führe ich Sie herum und zeige Ihnen die wichtigsten Dinge.«

 

»Ach, kennen Sie England auch?« fragte Smith ironisch.

 

Mr. Lance Kelman wußte begreiflicherweise nicht, was er darauf antworten sollte.

 

Auch von Marjorie sprach er in einer etwas anmaßenden Art, so daß Pretoria-Smith ihn manchmal am liebsten beim Kragen gepackt und verprügelt hätte. Er nannte sie nur »Marje« oder »mein nettes, kleines Mädchen«.

 

Wenn Marjorie Stedman ihn gehört hätte, hätten ihr die Haare zu Berge gestanden.

 

Einen Monat nach seiner Ankunft machte er Andeutungen über den eigentlichen Zweck seiner Reise. Da er seiner Meinung nach mit Stedman eng verwandt war, glaubte er, Anspruch auf einen Teil seines Vermögens zu haben. Aber seine dahinzielenden Bemerkungen wurden von dem alten Herrn mit eisigem Schweigen aufgenommen. Mr. Kelman erklärte dann, daß er sogar damit zufrieden wäre, wenn man ihm eine gutbezahlte Anstellung bei der Company gäbe. Aber auch davon wollte Mr. Stedman nichts wissen.

 

Schließlich wurde Lance obendrein noch krank und behauptete, nur durch Genuß von Treibhausfrüchten wieder gesund werden zu können. Pretoria-Smith ging wenigstens hierauf ein und sorgte dafür, daß er genügend Bananen erhielt.

 

*

 

»Gott, sei Dank, daß er wieder abgedampft ist«, sagte der alte Stedman.

 

Pretoria-Smith kam eben mit dem Ford von dem Bahnhof zurück, wohin er Kelman mit seinen sechs Koffern gebracht hatte.

 

Er lachte laut und unbekümmert, aber Stedman fand nichts Vergnügliches an der Angelegenheit. Kelmans Besuch hatte ihm viel zu denken gegeben, und während der nächsten Monate blieb er schweigsam und in sich gekehrt.

 

An einem bitterkalten Tag im Mai – zu der Zeit ist es in jener Gegend Südafrikas Winter – saß Mr. Stedman in seinem einfachen Büro. Viele Pläne und Blaupausen hingen an den Wanden, andere lagen auf den Tischen umher oder waren in großen Mappen verwahrt. Er hatte die buschigen Augenbrauen zusammengezogen und strich dauernd mit seiner fleischigen Hand über das Kinn. Die äußere Veranlassung seiner offensichtlichen Verwirrung war der Brief, den er las.

 

Schließlich legte er ihn auf den Tisch und kratzte sich den Kopf.

 

Gerade in diesem Augenblick kam Pretoria-Smith herein. Er hatte eine schön polierte Buchsbaumpfeife im Mund und rauchte. Nur die Goldnadel in seinem Schlips verriet, daß es ihm gut ging.

 

»Hallo, Smith, komm herein!«

 

»Bin ja schon hier«, entgegnete der andere lakonisch.

 

Der alte Mann brummte.

 

»Setz dich mal zu mir an den Tisch. Ich habe einen Brief von meiner Nichte bekommen.«

 

»Ich glaube kaum, daß du anständige Verwandte hast, nachdem ich diesen Mr. Kelman genossen habe!«

 

»Sie ist die Tochter meines jüngeren Bruders«, erklärte Stedman zum soundsovielten Male, ohne sich um die Bemerkung zu kümmern. »Mein Bruder ist nun schon viele Jahre tot, und das ist wohl auch gut für ihn. Und Margaret – Marjorie hat mir schön als kleines Mädchen geschrieben. Marjorie ist eben Marjorie.«

 

»Das gebe ich allerdings zu«, sagte Pretoria-Smith geduldig. »Wolltest du sonst noch etwas erzählen?«

 

»Also, sieh mal, Smith, sie ist doch nun die einzige Verwandte, die ich auf der Welt habe.«

 

Stedman machte eine Pause und rieb sein Kinn.

 

»Du entsinnst dich doch noch an den Bengel, der voriges Jahr hierherkam?«

 

Smith nickte. Er war auf Lance Kelman noch immer schlecht zu sprechen, da ihn dessen anmaßendes Wesen besonders geärgert hatte.

 

»Na, was soll ich denn von dem eleganten Lance hören? Du bist wieder einmal sehr gesprächig – komm doch endlich zur Sache.«

 

»Ja, also das war Lance Kelman.«

 

Pretoria-Smith lachte resigniert, während er die Asche aus seiner Pfeife klopfte.

 

»Also, das war Lance Kelman«, wiederholte er. »Was ist denn nun mit ihm los?«

 

»Du weißt doch, daß sie ihn gern hat. Das habe ich allerdings nicht aus ihren Briefen erfahren – ihre verrückte Mutter hat mir das geschrieben. Und dabei gebe ich ihr doch jährlich zweitausend Pfund. Sie schreibt also etwas von einem tapferen Jungen … Lebensgefahr … grauenvolle Wanderung durch die Wüste … na, und noch mehr solchen Blödsinn.«

 

»So? Der Mensch kam doch im Bulawayo-Luxuszug! Er hat auf der Fahrt Stachelbeermarmelade zum Frühstück bekommen und wer weiß, was sonst noch. Dann habe ich ihn persönlich in unserem neuen Wagen von der Station abgeholt! Zu Bett habe ich ihn nicht gebracht, das muß ich zugeben. Aber es kommt ja auch nicht darauf an, er ist ja wieder glücklich zu Hause angekommen.«

 

Mr. Stedman hatte eine glänzende Idee. Pretoria-Smith erkannte das bereits an den äußeren Symptomen.

 

»Smith«, sagte der alte Mann plötzlich, »sieh mal, wir beide sind doch eigentlich recht gute Kameraden und Freunde. Ich hab‘ dir immer noch nicht vergessen, daß du mich damals an dem Wasserloch gerettet hast.«

 

»Ach, rede doch nicht immer wieder davon. Ich wäre doch einfach ein Mörder gewesen, wenn ich das nicht getan hätte.«

 

»Nun schimpfe einmal nicht, Smith. Wir sind auf jeden Fall gute Freunde geworden«, wiederholte Stedman.

 

Sein Partner nahm diese fundamentale Tatsache als schweigende Voraussetzung für das Kommende.

 

»Du bist reich, und ich bin reich. Ich habe noch einen Winter hier zu leben, vielleicht auch noch zwei, wenn mich der Doktor in Kimberley nicht angelogen hat. Und das hatte der Mann ja schließlich nicht nötig, nachdem ich ihn so glänzend für seine Reise hierher bezahlt habe. Du kannst dir wohl denken, daß ich mir nun den Kopf zerbreche, was aus der Mine und meinem Vermögen werden soll, wenn ich einmal sterbe.«

 

»Du bist ein verrückter, alter Teufel«, erklärte Smith und klopfte ihm vertraulich auf die Schulter. »Erst solltest du dich doch mal darum kümmern, was aus dir selbst wird, ehe du stirbst. Außerdem stirbt es sich überhaupt nicht so schnell. Wir wollen uns in zehn Jahren einmal wieder über den Fall unterhalten.«

 

»Na, darüber brauchen wir uns ja nicht zu streiten. Irgendwie, irgendwo, irgendwann werde ich schon abkratzen. Nein, es ist mein Vermögen, das mir Sorge macht. Ich könnte es ja einfach dir überlassen oder dem Hospital in Kimberley. Aber das möchte ich nicht. Du hast selbst über sechshunderttausend Pfund. Nun komme ich auf einen wichtigen Punkt zu sprechen. Bist du eigentlich verheiratet?«

 

Eine solche Frage hatte er früher noch nie an Pretoria-Smith gerichtet, und er machte ein ängstliches Gesicht, als er sah, daß sein Partner die Stirn runzelte.

 

»Nein. Frauen interessieren mich nicht, und ich habe sie auch schon früher nicht leiden können. Ich wollte dir eigentlich auch schon lange sagen, daß ich nicht Smith heiße.«

 

»Der Name ist allerdings so außergewöhnlich, daß ich mir das selbst an meinen zehn Fingern abzählen konnte. Du hast dich wohl einmal eine Zeitlang in Pretoria aufgehalten?«

 

Smith nickte.

 

»Was wolltest du mir denn nun vorschlagen?«

 

Mr. Stedman steckte umständlich ein Stück Kaugummi in den Mund und starrte dann wie versteinert zum Fenster hinaus.

 

»Geh nach England und heirate Marjorie!« sagte er schließlich.

 

Eine Weile herrschte Totenstille in dem Raum.

 

»Was denkst du dir denn eigentlich, du alte Strandhaubitze?« erwiderte Smith dann verblüfft. »Willst du ein Heiratsbüro aufmachen? Und was soll denn aus unserem guten Lance Kelman werden? Soll ich den etwa als Nebenbuhler vergiften oder im Zweikampf erdolchen?«

 

»Ach, von dem Bengel brauchen wir doch überhaupt keinen Ton mehr zu reden«, rief der alte Stedman ärgerlich.

 

Smith lachte.

 

»Und dann müßte doch vor allem noch etwas anderes überlegt werden.« Pretoria-Smith war merkwürdigerweise nicht abgeneigt, die Sache zu besprechen, da dieses Thema den Reiz der Neuheit für ihn bot. »Glaubst du denn, daß deine Nichte Marjorie so ohne weiteres einverstanden ist, wenn ich nach England komme und ihr sage: ›Onkel Alfred hat befohlen, daß wir beide heiraten sollen‹?«

 

Mr. Stedman schenkte sich erst einen Brandy ein, bevor er antwortete.

 

»Ach, Marjorie wird schon vernünftig sein. Um die brauchen wir uns weiter nicht zu sorgen. Die tut alles, wenn sie weiß, daß sie mir damit eine Freude macht. Ich werde ihr heute noch einen langen Brief schreiben.«

 

Pretoria-Smith hatte sich auf den hohen Drehstuhl gesetzt, auf dem sonst der technische Zeichner saß, und schaute düster auf den alten Mann hinunter.

 

»Ich fürchtete schon, sie würde mich wegen meines hübschen Aussehens, meiner blendenden Jugend und anderer angenehmer Eigenschaften wählen.«

 

»Du siehst doch wirklich ganz gut aus«, protestierte Stedman.

 

»Ich bin aber entschieden zu alt, um dich Onkel nennen zu können«, erklärte Smith entschieden.

 

»Du bist doch noch nicht über dreißig – wenigstens nicht viel. Mach du mir doch keine Schwierigkeiten, Smith. Ich dachte immer, mit dir könnte man ein vernünftiges Wort reden. Auf jeden Fall wollte ich dir sagen, daß es mein Wunsch ist. Das ist alles. Ich habe das Gefühl, daß ich dafür mein ganzes Leben lang gearbeitet habe. Und es gibt einem doch schließlich eine kolossale Genugtuung, wenn man weiß, daß die Lebensarbeit auch einen Zweck gehabt hat. Wenn ich so sterben müßte, wie ich jetzt bin, käme ich mir vor wie ein Halbkreis, dessen eines Ende nicht wieder zum Anfang zurückgefunden hat.«

 

»Aber nun einmal allen Scherz beiseite. Jetzt ist es genug mit den dummen Witzen. Es ist doch nicht tatsächlich dein Ernst? Das Mädchen lacht mich doch aus, wenn ich ihr einen solchen Unsinn erzähle. Und mir ist es wirklich ziemlich egal, ob ich mich verheirate oder nicht. Ich würde ihr die Verwaltung der Farm und der Felder überlassen und sie weiter nicht stören.«

 

»So war die Sache allerdings nicht gemeint, mein Junge.« Mr. Stedman zog die buschigen Augenbrauen in die Höhe und sah Pretoria-Smith durchdringend an. »Damit ist es nicht getan, daß du dich mit Marjorie trauen läßt. Du sollst meine Familie weiterführen. Marjorie muß Kinder haben.«

 

»Mein lieber Stedman, du bist mir denn doch zu gründlich und energisch. Wir wollen jetzt einmal über Schacht Nummer drei sprechen. Da haben wir einen Erdrutsch gehabt, und ich wollte dir eigentlich vorschlagen –«

 

»Ach, laß doch den verdammten Schacht Nummer drei! Und ebenso Nummer eins, zwei, vier und fünf. Du hast mir noch nicht auf meine Frage geantwortet. Willst du nach England fahren, Marjorie aufsuchen und sie fragen, ob sie deine Frau werden will? Wenn sie nein sagt, dann ist es ja gut, dann hast du wenigstens getan, was du tun konntest. Aber ich kann es wirklich nicht mitansehen, daß sie so einen geschniegelten Modeaffen wie diesen Kelman heiratet!«

 

Smith stopfte seine Pfeife und steckte sie umständlich in Brand.

 

»Schön, ich werde deinen Wunsch erfüllen«, erklärte er resigniert. »Aber mir wäre es lieber gewesen, wenn du dein Geld einem Waisenhaus überlassen hättest.«

 

»Bedenke doch, daß du sie vor diesem Lance Kelman rettest. Das ist wirklich eine gute Tat.«

 

»Das ist allerdings beinahe die Reise wert. Außerdem könnte es ja auch sein, daß ich Lance Kelman vor ihr rette.«

 

»Aber erlaube mal, Marjorie ist meine Nichte!« rief Stedman aufgebracht.

 

»Gerade deshalb kam ich ja auf den Gedanken.«

 

Pretoria-Smith erhob sich und ging zur Tür.

 

»Aber sag mal, wo wohnt denn eigentlich deine unvergleichbare Nichte?«

 

»In Tynewood.«

 

»Um Himmels willen!« Pretoria-Smith nahm die Pfeife aus dem Mund und setzte sich in den nächsten Stuhl. Sein Gesicht wurde fahl.

 

Stedman sah ihn betroffen an, denn er wußte nicht, wie er sich das veränderte Verhalten seines Partners erklären sollte.

 

»Das nützt dir jetzt alles nichts mehr – und wenn du ohnmächtig hinfällst! Du hast dein Wort gegeben.«

 

Smith nickte langsam.

 

Schließlich kannte man ihn ja in Tynewood nicht als Pretoria-Smith. Dieser Gedanke beruhigte ihn ein wenig.