Kapitel 3

 

3

 

»Du hast irgend etwas Aufregendes erlebt, mein Kind. Mit dir ist unbedingt etwas los. Noch niemals warst du derartig kurz angebunden zu mir«, beklagte sich Mrs. Stedman.

 

Die alte Dame hatte allerdings gewöhnlich an Personen und Dingen etwas auszusetzen, und Marjorie war an diese Schrullen schon gewöhnt. Sie saß ihrer Mutter beim Frühstück in ihrer kleinen Wohnung in Brixton gegenüber. Mrs. Stedman hatte zwar bei allen möglichen Gelegenheiten schon behauptet, daß sie früh sterben würde, aber sie hatte gerade wieder mit größtem Appetit ein reichliches Frühstück verzehrt. Jetzt lehnte sie sich in ihren Sessel zurück, beobachtete ihre Tochter über die Brille hinweg, runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf.

 

»Du irrst dich, Mutter, ich habe gar nichts«, entgegnete Marjorie ruhig. »Ich gebe allerdings zu, daß ich gestern einen aufregenden Tag im Büro hatte und daß etwas Außergewöhnliches passiert ist.«

 

»Und doch willst du deiner eigenen Mutter nicht einmal erzählen, um was es sich handelt?« fragte Mrs. Stedman schon zum drittenmal. Sie konnte es nicht vertragen, wenn ihre Neugierde nicht befriedigt wurde.

 

»Verstehst du denn nicht, Mutter, daß diese Dinge strengste Geschäftsgeheimnisse sind?« erwiderte Marjorie nachsichtig. »Ich darf doch nicht darüber sprechen.«

 

»Aber bei deiner Mutter könntest du doch wohl eine Ausnahme machen«, erklärte die alte Dame gekränkt und schüttelte wieder den Kopf. »Ich habe dich doch stets ins Vertrauen gezogen, Marjorie. Und ich habe dich auch immer gebeten, mit all deinen Sorgen und Nöten zu mir zu kommen. Eine Mutter ist immer die beste Freundin ihres Kindes.«

 

»Es handelt sich hier doch gar nicht um meine Sorgen«, entgegnete ihre Tochter lächelnd. Es sind die Sorgen anderer Leute, die mich im Grunde genommen ebensowenig etwas angehen wie dich.«

 

Mrs. Stedman seufzte tief und hörbar.

 

»Ich werde erst wieder richtig froh werden, wenn du nicht mehr in dieses schreckliche Büro gehst. Es ist nicht gut für ein junges Mädchen, wenn sie immer mit Verbrechen, Ehescheidungen und all diesen entsetzlichen Dingen zu tun hat, von denen man in der Zeitung liest.«

 

Marjorie legte die Hand auf die Schulter ihrer Mutter, als sie an ihrem Stuhl vorüberging.

 

»Wie oft habe ich dir schon erzählt, daß Mr. Vance nichts mit Verbrechen und Verbrechern zu tun hat. Es ist noch niemals ein Verbrecher in unserem Büro gewesen.«

 

»Sprich doch nicht immer von ›unserem Büro‹, Liebling«, ereiferte sich die alte Dame. »Das klingt so gewöhnlich, und ich möchte dich auch noch um eins bitten. Erwähne doch niemals, daß du einmal für Geld gearbeitet hast, wenn wir jetzt aufs Land ziehen und mit Leuten unseres Standes verkehren. Sollten die Leute erfahren, daß du einmal in Stellung warst –«

 

»Ach, Mutter, das ist doch Unsinn!« Marjorie verlor schließlich die Geduld. »Du glaubst doch nicht etwa, daß wir etwas Besseres geworden sind, nur weil Onkel Alfred uns jetzt so viel Geld schickt, damit wir ohne Sorgen auf dem Lande leben können? Meinst du vielleicht, heutzutage stößt man sich noch daran, daß ein junges Mädchen als Stenotypistin bei einem Rechtsanwalt tätig ist?«

 

»Du bist keine Stenotypistin, du bist eine Privatsekretärin«, verwahrte sich Mrs. Stedman energisch. »Ich bestehe darauf, daß du deine Stellung nicht schlechter machst, als sie in Wirklichkeit ist. Es ist ganz ausgeschlossen, daß du dich eine Stenotypistin nennen kannst, Liebling. Ich habe all meinen Freunden erzählt, daß du die Absicht hast, Jura zu studieren und vorläufig informatorisch bei einem Rechtsanwalt als Volontärin arbeitest.«

 

Marjorie seufzte resigniert.

 

»Um Himmels willen!« sagte sie dann entsetzt.

 

»Du darfst unsere jetzige Lebensweise nicht mit unserer Haushaltung im nächsten Monat vergleichen«, fuhr Mrs. Stedman selbstbewußt und befriedigt fort. »In einem Jahr, wenn dein Onkel noch reicher geworden ist, kaufen wir das schöne Haus zurück, in dem ich geboren bin. Ich habe dir ja schon so viel von unserem Familiensitz erzählt.«

 

Marjorie wußte nur zu gut, daß der Familiensitz aus dreieinhalb Morgen Ackerland und einem Garten bestand. Früher hatte sie eine Reise nach Tynewood gemacht –

 

Tynewood! Das mußte doch derselbe Ort sein, wo das Schloß von Sir James lag! Sie war gespannt, ob ihre Vermutung stimmte, und nahm sich vor, Mr. Vance bei der nächsten Gelegenheit danach zu fragen.

 

Als sie zur Stadt fuhr, dachte sie wieder an die Erlebnisse des vergangenen Abends. Welche Gewalt mochte Pretoria-Smith über Sir James Tynewood haben? Niemals würde sie vergessen, wie totenbleich der Baron wurde, als er den Mann in dem abgetragenen grauen Anzug sah. Wie entgeistert hatte er den anderen betrachtet, und welche Verachtung lag in den Blicken von Pretoria-Smith! Wußte er von einem Vergehen des jungen Mannes, das ihm Macht über diesen gab? Wollte er ihn vielleicht erpressen?

 

Aber das konnte sie sich kaum vorstellen. Der Gesichtsausdruck dieses Fremden war zu offen und aufrichtig. Niemals würde er eine solche Schurkerei begehen. Sie hatte die Gabe, den Charakter der Menschen von ihren Gesichtszügen abzulesen, und wenn sie jemals Ehrlichkeit und Zuverlässigkeit in den Augen eines Mannes gesehen hatte, so hatte sie diese Eigenschaften bei Pretoria-Smith entdeckt.

 

Sie kam eine halbe Stunde früher ins Büro als sonst, denn sie wollte unbedingt zugegen sein, wenn Mr. Vance von außerhalb anrufen würde. Aber sein Anruf kam erst gegen elf.

 

Sie erzählte ihm von dem seltsamen Besuch, den sie am Abend vorher erhalten hatte.

 

»Was, Mr. Smith von Pretoria war da?« fragte er aufgeregt. »Ich hatte ihn erst in einer Woche erwartet. Ich komme sofort in die Stadt.«

 

»Er hat aber keine Adresse hinterlassen.«

 

»Das macht nichts. Ich weiß, wo ich ihn erreichen kann. Hat er etwas gesagt?«

 

»Nein.«

 

Sie berichtete ihm dann noch von dem merkwürdigen Zusammentreffen des Fremden mit Sir James.

 

»Die beiden haben sich in unserem Büro getroffen? Was ist denn passiert?« fragte er ängstlich.

 

»Nichts weiter. Nur sah Sir James sehr niedergeschlagen und verstört aus und ging gleich darauf.«

 

Eine lange Pause folgte, und Marjorie glaubte schon, daß Mr. Vance aufgehängt hatte. Aber plötzlich hörte sie seine Stimme wieder.

 

»Ich komme mit dem Zug elf Uhr fünfundvierzig und bin kurz vor eins im Büro. Sehen Sie zu, daß Sie bald zu Tisch gehen, Miss Stedman. Haben Sie übrigens die Morgenzeitungen schon gelesen?«

 

»Nein«, erwiderte sie etwas überrascht. »Gibt es eine besondere Neuigkeit?«

 

»Sir James Tynewood hat sich mit der bekannten Schauspielerin Alma Trebizond verheiratet«, entgegnete er grimmig. »Das wird noch böse Schwierigkeiten in der Familie geben!«

 

Marjorie war erstaunt, aber sie sollte an diesem Tag noch mehr merkwürdige Dinge erleben.

 

Im Lauf des Morgens kam ein etwas behäbiger und gutmütig aussehender Herr von offenbar mosaischer Konfession ins Büro. Mr. Vance ließ neue Klienten gewöhnlich von seinem Bürovorsteher empfangen. Da sich Mr. Herman aber auch auf einem Erholungsurlaub befand, fiel Marjorie diese Aufgabe zu.

 

»Sind Sie die Privatsekretärin von Mr. Vance?« fragte der Fremde vertraulich. »Können Sie es nicht möglich machen, daß ich Ihren Chef heute noch spreche?«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Mr. Vance kommt allerdings in einer sehr dringenden Angelegenheit in die Stadt, aber ich glaube nicht, daß er die Absicht hat, sich außerdem noch mit geschäftlichen Dingen zu befassen. Kann ich vielleicht etwas für Sie tun?«

 

Er legte seinen Hut sorgfältig auf den Tisch, nahm eine große Brieftasche heraus und zog ein Schriftstück daraus hervor.

 

»Es ist kein Geheimnis. Ich muß Mr. Vance noch irgendwann vor Montag sehen, und wenn das nicht möglich sein sollte, möchte ich Sie bitten, ihm auszurichten, daß Mr. Hawkes von der Finanzfirma Hawkes and Ferguson wegen der Schulden von Sir James Tynewood vorgesprochen hat.«

 

»Kommen Sie, weil der Baron Schulden gemacht hat?« fragte sie erstaunt.

 

Er nickte.

 

»Der junge Herr schuldet mir fünfundzwanzigtausend Pfund. Die hat er sich auf Schuldscheine so allmählich zusammengeborgt. Ich bin jetzt aber ein wenig ängstlich geworden. Wenn Wechsel fällig sind, gibt er mir neue und borgt immer noch mehr dazu. Und ich möchte doch erst einmal mit Mr. Vance sprechen, bevor ich ihm überhaupt noch weitere Gelder vorstrecke.«

 

»Aber Sir James ist sehr reich!«

 

»Gewiß – und ich bin sehr arm«, erklärte Mr. Hawkes mit einem breiten Grinsen. »Vor allem möchte ich etwas von meinem Geld wiedersehen.«

 

»Haben Sie schon mal mit Mr. Vance darüber gesprochen?«

 

Er schüttelte den Kopf.

 

»Nein. Sir James hat mich gebeten, nicht zu seinem Rechtsanwalt zu gehen. Aber ich muß sagen, daß die Affäre jetzt doch etwas zu weit gediehen ist. Ich bin ein Geschäftsmann und habe keinen Respekt vor Titeln. Ganz offen gesagt, ich bin ein Demokrat. Bis jetzt bin ich seinem Wunsch auch nachgekommen, aber nun geht es nicht mehr anders. Ich muß wenigstens einmal eine Abschlagszahlung bekommen. Als Geldverleiher kenne ich natürlich auch meine Kollegen, und von denen habe ich erfahren, daß Sir James nicht nur von mir Geld geliehen hat, sondern auch von Crewe and Jacobsen, von Bedsons Limited und von einem halben Dutzend anderer Firmen. Ich weiß ganz genau, daß er in den Lokalen im Westen dauernd flott und verschwenderisch auftritt, obwohl er bis über die Ohren in Schulden steckt. Der Autofirma in Bond Street schuldet er noch dreitausend Pfund für den Wagen, den er Miss Alma Trebizond geschenkt hat. Als ich heute morgen seine Vermählungsanzeige in der Zeitung las, sagte ich zu mir: ›Jetzt ist es Zeit, dich einmal nach deinem Geld umzusehen.‹ Wenn einer Geld zum Heiraten hat, dann hat er auch Geld, um seine Schulden zu bezahlen.«

 

Er lachte über diesen faden Witz und neigte sich vertraulich zu Marjorie.

 

»Sehen Sie, ich bin ein Kaufmann. Sie stehen ja wohl mit beiden Beinen auf der Erde und werden mich verstehen. Ich sage Ihnen ganz offen, daß ich wegen meines Geldes etwas ängstlich geworden bin. Und wenn Sie es bei Mr. Vance durchdrücken können, daß meine Forderung zuerst berücksichtigt wird, zahle ich Ihnen eine anständige Provision.«

 

»Da täuschen Sie sich in mir. Ich habe nicht die Gewohnheit, auf solche Weise Geld zu verdienen«, entgegnete sie kühl. »Und ich möchte auch nicht mit Ihnen über derartige persönliche Angelegenheiten sprechen. Ich bin zwar die Privatsekretärin von Mr. Vance, aber ich glaube, er würde sehr ärgerlich werden, wenn er erführe, daß Sie mich so weit in Ihr Vertrauen gezogen haben.«

 

Damit endete die Unterredung zwischen Marjorie und dem Inhaber der Firma Hawkes and Ferguson.

 

Als der Rechtsanwalt ins Büro kam, berichtete sie ihm davon, und er wurde sehr ernst.

 

»Ich habe schon lange vermutet, daß der junge Mann in die Hände von Halsabschneidern gefallen ist. Schicken Sie Mr. Herman ein Telegramm, daß er ins Büro kommen soll. Ich möchte Sie nicht weiter mit der Sache belästigen, aber Mr. Herman muß sofort bei all den Geldverleihern, die Sie mir genannt haben, herumfahren und feststellen, wieviel Schulden dieser leichtsinnige Windhund überall gemacht hat.«

 

»Aber ist Sir James denn nicht sehr reich?«

 

»Ja, sehr«, entgegnete er kurz.

 

Es war Sonnabend nachmittag, aber im Büro von Mr. Vance herrschte Hochbetrieb. Leute kamen und gingen, und Mr. Herman fuhr in einem Taxi bei den Finanzleuten herum, denen Sir James möglicherweise etwas schulden konnte. Er traf am Wochenende allerdings nicht alle in ihren Wohnungen an.

 

Kapitel 21

 

21

 

Es ist alles so verworren und seltsam – einfach entsetzlich, dachte Marjorie, als sie in der kleinen, alten Normannenkapelle des Schlosses Tynewood saß. Sie wartete auf die Ankunft ihres zukünftigen Mannes. Ihre Gedanken beschäftigten sich mit Alma, mit Sir James Tynewood und hauptsächlich mit Pretoria-Smith.

 

Der Geistliche war schon gekommen und saß mit Lord Wadham in der kleinen Sakristei.

 

Pretoria-Smith erschien Marjorie nach ihren gestrigen Erlebnissen nicht mehr so abstoßend wie früher. Nach dem Zwischenfall mit Lance Kelman hatte er sie zu ihrer Wohnung begleitet, und seitdem hatte sie ihn nicht mehr gesehen.

 

Und heute war nun also ihr Hochzeitstag. Sie konnte es selbst kaum glauben. Es erschien ihr alles unwirklich und grotesk. Sie hätte eigentlich lachen können, wenn es nicht so furchtbar gewesen wäre. Ihre Mutter hatte sie begleiten wollen, aber die Gegenwart dieser Frau hätte sie um den letzten Rest ihrer Fassung gebracht. Glücklicherweise war es ihr gelungen, Mrs. Stedman zu Hause zu halten.

 

Der Pförtner führte sie in der Kapelle umher. Die Wände waren mit Grabsteinen bedeckt, und in den sechs Nischen unter den schönen Fenstern lagen die Tynewoods begraben. Die kleine Kirche machte großen Eindruck auf Marjorie, obwohl es ihr sonderbar genug vorkam, daß sie an ihrem Hochzeitstag Grabsteine betrachten sollte.

 

Plötzlich blieb sie stehen und wäre beinahe umgesunken, als sie einen Namen las.

 

Norman Garrick

 

stand auf der schlichten Platte. Kein Datum, keine weiteren Einzelheiten.

 

Norman Garrick! Mr. Vance hatte ihr gesagt, daß das der eigentliche Name von Pretoria-Smith sein sollte. Schon damals ahnte sie, daß der Rechtsanwalt sie belog, aber jetzt erst hatte sie den vollen Beweis dafür. Warum hatte Mr. Vance sie getäuscht? Er war doch sonst so freundlich und aufrichtig zu ihr gewesen.

 

Ihr Führer schien ihre Aufregung nicht zu bemerken, und sie machte wieder ein interessiertes Gesicht, als ob sie seinen Worten lauschte. Er zeigte ihr das Familienwappen, das in einen Pfeiler eingraviert war. Ein Tynewood hatte es in den Tagen König Karls eingekratzt, als er in dieser Kapelle gefangensaß.

 

Lord Wadham kam aus der Sakristei, und der Geistliche folgte ihm in seiner Amtstracht. Marjorie war froh, als sie den Lord sah, denn er gehörte der Wirklichkeit an.

 

»Jetzt müßte er doch eigentlich kommen«, sagte er und sah auf seine Uhr. »Sie haben einen unpünktlichen Bräutigam, mein liebes Kind. Es ist schon zehn Minuten nach elf.«

 

Fünfzehn – zwanzig – dreißig Minuten vergingen, und noch immer erschien Pretoria-Smith nicht. Lord Wadham war schon reichlich ungeduldig geworden, als sie schließlich unsichere Schritte in der Vorhalle hörten. Pretoria-Smith wankte herein, blieb einen Augenblick stehen und hielt sich an einem Pfeiler fest. Er war nicht rasiert, und die Haare hingen ihm wirr ins Gesicht. Seine Augen brannten, und Marjorie sah, daß er sich nur mit Mühe aufrecht halten konnte. Langsam kam er das Hauptschiff entlang und trat neben sie. Vor Entsetzen wagte sie kaum zu atmen.

 

»Der ist schon wieder betrunken«, sagte Lord Wadham und warf dem Geistlichen einen Blick zu. Aber der Pfarrer sah und hörte nur sehr wenig. Er hatte sein Buch aufgeschlagen, und die Trauung begann.

 

Smith wankte dauernd von einer Seite zur anderen, und Marjorie erschien diese kirchliche Feier wie ein böser Traum. Endlich war die Zeremonie vorüber, und Marjorie wußte, daß sie nun Mrs. Pretoria-Smith war, die Frau eines Mannes, der sich den Namen eines Toten zugelegt hatte. Mit Grauen dachte sie daran, daß die Gebeine Norman Garricks unter ihren Füßen moderten.

 

Nachdem der Pfarrer den Segen gesprochen hatte, berührte. Wadham Pretoria-Smith an der Schulter.

 

»Stehen Sie auf«, sagte er.

 

Aber Pretoria-Smith war auf die Seite gefallen, und als sich der Lord über ihn neigte, war er eingeschlafen.

 

Ein langes, peinliches Schweigen folgte. Schließlich fand Wadham seine Fassung wieder.

 

»Ich werde das Auto holen«, sagte er so leise wie möglich zu Marjorie.

 

Sie sah, wie traurig er war, und drückte ihm die Hand.

 

»Es wartet schon draußen. Vielleicht hilft die Fahrt an der frischen Luft –« Sie unterdrückte ein Schluchzen.

 

»Wohin fahren Sie?«

 

»Nach Brightsea, zu einem Landhaus, das ziemlich weit von der Stadt entfernt liegt. Ich bin froh, daß uns dort niemand beobachten kann. Glauben Sie, daß wir ihn in den Wagen schaffen können?«

 

Mit Hilfe des Chauffeurs und des Pförtners gelang es dem Lord, Pretoria-Smith in die Limousine zu schaffen.

 

Marjorie sah elend und unglücklich aus, als sie Wadham zum Abschied die Hand reichte.

 

»Leben Sie wohl, und viel Glück! Es tut mir leid, daß Sie so abfahren müssen – aber ich kann Sie ja nicht aufhalten.«

 

Sie sagte nichts, als sie in den Wagen stieg, und der Chauffeur schlug die Tür zu.

 

So fuhr Marjorie Smith in ihre Flitterwochen.

 

Kapitel 22

 

22

 

Lord Wadham sah dem Auto betrübt nach. Dann gab er dem Pförtner ein reichliches Trinkgeld und ging langsam den Fahrweg hinunter, bis er zu den großen Toren kam. Der Pförtner war ihm gefolgt, und da Wadham das Bedürfnis hatte, mit einem Menschen zu reden, drehte er sich noch einmal um.

 

»Haben Sie eigentlich etwas Neues von Ihrem Herrn gehört, Hill?«

 

»Nein, Mylord. Aber eines Tages wird er zurückkommen.«

 

»Es ist alles so traurig, Hill«, sagte der Lord laut.

 

»Ja, Mylord, es war eine schreckliche Sache. Und nur die Leute, die die Wahrheit wirklich wissen, können beurteilen, wie traurig es ist.«

 

»Sind Sie denn eingeweiht, Hill?«

 

»Nein, Mylord«, erwiderte der Mann und starrte ins Leere.

 

»Ich glaube, Sie sind ein verdammter Lügner«, entgegnete der Lord gutmütig. »Aber wenn Sie die Geheimnisse Ihres Herrn hüten, wird es Ihnen gut gehen. Ich wünschte nur, ich hätte solche Leute wie Sie. Was ist eigentlich aus dem Bruder von Sir James geworden?«

 

»Sie meinen den Halbbruder, Mylord?«

 

»Ja, ja, natürlich, den meine ich. Er war doch auch ein hübscher Junge.«

 

»Er ist vor einigen Jahren an Typhus gestorben.«

 

»Wie lange ist das denn her?«

 

»Ich weiß es nicht genau. Es muß aber um die Zeit gewesen sein, als sich Sir James in London verheiratete. Ob es vorher oder nachher war, weiß ich wirklich nicht mehr genau. Doktor Fordham hat ihn gepflegt. Das war ein guter Freund von Sir James, der ihn gewöhnlich auf seinen Auslandsreisen begleitete.«

 

»Fordham?« Der Lord runzelte die Stirne. »Ich kann mich gar nicht auf ihn besinnen.«

 

»Er stammt nicht aus der Gegend hier. Ich glaube, er war aus Irland. Und soviel ich gehört habe, ist er auch schon tot.«

 

Lord Wadham schaute vor sich hin.

 

»Kommt Lady Tynewood oft hierher?«

 

Hill unterdrückte ein Lachen.

 

»Ja, Mylady kommt manchmal hierher, aber ich lasse sie nicht in den Park.«

 

»Den Auftrag haben Sie also immer noch?«

 

»Sehen Sie, Mylady ist dort drüben.« Der Pförtner deutete mit dem Kopf nach der anderen Seite der Straße. »Sie wartet schon, seitdem die Hochzeit in Gang ist.«

 

Aus einer Seitenstraße schaute tatsächlich ein Teil ihre eleganten, schwarzen Autos hervor.

 

Alma war eine kluge Frau, die manche Dinge intuitiv vorausahnte. Lord Wadham glaubte, daß sie nur als neugierige Zuschauerin erschienen sei, aber er täuschte sich. Er selbst stand im Mittelpunkt ihres Interesses, da sie seine ungewöhnlich laute und weittragende Stimme kannte. Ebenso wußte sie, daß er sich gern mit dem alten Pförtner unterhielt. Sollte er also mit dem Mann sprechen, so konnte sie von ihrem Wagen aus die Unterhaltung belauschen. Und sie machte an diesem Tag eine sehr wichtige Entdeckung, wichtiger, als sich Lord Wadham jemals träumen ließ. Zum erstenmal hörte sie davon, daß Sir James einen Bruder gehabt hatte, der gestorben war. Der Name Dr. Fordham gab ihr einen anderen Anhaltspunkt. Er war ein Freund von Sir James, also wahrscheinlich auch der ganzen Familie.

 

Lord Wadham mußte noch ein Stück gehen, bis er zu seinem eigenen Auto kam, das etwas weiter unten auf der Straße hielt. Er war ängstlich bemüht, eine Begegnung mit Lady Tynewood zu vermeiden, aber sie war anderer Ansicht und stellte sich ihm direkt in den Weg.

 

»Guten Morgen, Lord Wadham«, sagte sie liebenswürdig, als er den Hut abnahm.

 

»Guten Morgen. Waren Sie auch bei der Trauung?« fragte er nicht ohne Schadenfreude.

 

Sie lächelte.

 

»Leider läßt man mich nicht in mein eigenes Haus ein. Aber ich habe die Hochzeitsgesellschaft gesehen. Mr. Pretoria-Smith schien nicht – ganz wohl gewesen zu sein. Hatten Sie nicht auch den Eindruck?«

 

»Ja, er ist wirklich sehr krank. Aber sonst ist mir nichts Besonderes an ihm aufgefallen.«

 

Ihr zynisches Lächeln ärgerte ihn, und er wandte sich zum Gehen. Aber sie hielt ihn zurück.

 

»Sind Sie ein Freund von Miss Stedman?«

 

»Gewiß, ich bin ein Freund von Mrs. Smith«, erwiderte er mit Nachdruck.

 

»Nennen Sie sie, wie Sie wollen. Ich kann mich noch ganz gut auf sie besinnen, wie sie noch ein Botenmädchen bei einem Rechtsanwalt in London war. Aber da Sie ihr Freund sind, werden Sie ja froh sein, wenn sie sich möglichst bald wieder von diesem schrecklichen Menschen scheiden läßt. Wenn sich der Dienstbotenklatsch bewahrheiten sollte –«

 

Er schaute sie an und lächelte sonderbar.

 

»Ehen lassen sich nicht so leicht scheiden, wie Sie vielleicht auch schon erfahren haben, Lady Tynewood.«

 

Sie sah ihm verblüfft nach und ging schließlich zu ihrem Wagen zurück. Mr. Javot saß gelangweilt am Steuer.

 

»Ich möchte nur wissen, was er damit sagen wollte.«

 

»Zerbrich dir doch nicht den Kopf darüber. Das ist doch alles so gleichgültig«, entgegnete Javot ärgerlich. »Willst du mich vielleicht den ganzen Tag hier auf der Straße warten lassen?«

 

»Ehen lassen sich nicht so leicht scheiden«, wiederholte sie nachdenklich.

 

»Bist du etwa anderer Meinung?« fragte Javot und lachte laut.

 

Kapitel 23

 

23

 

Marjorie sank in eine Ecke des Wagens und wagte nicht, den Mann anzusehen, den sie unter so merkwürdigen Umständen geheiratet hatte. Erst als sie die Parktore passiert hatten und ins freie Land kamen, sah sie sich um. Pretoria-Smith schlief und atmete schwer. Seine Hände, die in seinem Schoß lagen, zuckten nervös.

 

»Womöglich erstickt er noch«, dachte sie und löste den weichen Kragen seines Oberhemdes, den er nicht wie gewöhnlich offen, sondern geschlossen trug. Dabei streifte sein Atem ihre Wange, und sie schaute Smith erstaunt an. Auf jener fürchterlichen Gesellschaft bei Lady Tynewood war sie von einem betrunkenen Mann geküßt worden, und der entsetzliche Alkoholgeruch war ihr noch verhaßt. Aber sie konnte ihn hier nicht feststellen. Sie überlegte, was sie tun konnte. Vielleicht hatte er irgendein Mittel bei sich, das ihn wieder nüchtern machte. Sie hatte schon von solchen Dingen gehört. Zuerst zögerte sie, aber dann faßte sie Mut und durchsuchte seine Westentaschen. Sie fand eine Taschenuhr, die anscheinend in der vergangenen Nacht stehengeblieben war, und ein flaches, schwarzes Kästchen. Sie nahm es heraus und öffnete den Deckel. Aber sie erschrak heftig, als sie eine Spritze darin liegen sah, wie sie Morphiumsüchtige gebrauchen. Das war also die Ursache! Sie betrachtete das Instrument genauer. Es war vollständig neu, und zu ihrem größten Erstaunen entdeckte Marjorie den Namen des Apothekers aus Tynewood darauf.

 

Eine Anzahl Tabletten in einer kleinen Glasröhre waren beigefügt.

 

»Chinin«, las sie und schüttelte den Kopf. Man verwendete doch Chinin weder als Beruhigungs- noch als Betäubungsmittel.

 

Sie steckte die Schachtel in ihre Handtasche und betrachtete ihn einige Zeit. Schließlich war es ja gleichgültig, ob sie mit einem Trinker oder mit einem Morphiumsüchtigen verheiratet war. Verzweifelt dachte sie an die Zukunft.

 

Der Wagen fuhr mit großer Geschwindigkeit. Die Fahrt ging über Hügel und durch Täler, an Waldungen vorbei und durch landwirtschaftliche Gegenden, aber Marjorie hatte keinen Sinn für die Schönheit der Natur. Der Sonnenschein lockte sie nicht, und sie schaute nicht zum blauen Himmel empor. Nur der Wind streifte ihre heißen Wangen durch die offenen Fenster.

 

Endlich hielt der Chauffeur am Rand einer großen Wiese und stieg aus.

 

»Haben Sie etwas zu essen mitgenommen, Madam?« fragte er. »Oder soll ich bei einem Gasthaus halten? Wir kommen gleich durch eine Stadt.« Bei diesen Worten warf er einen vielsagenden Blick auf den schlafenden Mann.

 

»Danke, wir wollen nicht bei einem Gasthaus halten. Aber vielleicht nehmen Sie den Proviantkoffer herunter. Er ist hinten festgeschnallt.«

 

»Entschuldigen Sie noch eine Frage. Hat der Herr nicht seine Kleider vergessen? Ich habe keinen Koffer von ihm bekommen.« Sie sah sich bestürzt um. Pretoria-Smith hatte tatsächlich kein Gepäck bei sich.

 

»Die Koffer kommen mit dem Zug nach«, erwiderte sie schnell. Sie hatte sich jetzt schon daran gewöhnt, für ihn zu lügen und zu schwindeln. »Ach, öffnen Sie doch die Tasche und reichen Sie mir ein paar belegte Brötchen – auch die Thermosflasche mit Kaffee.« Sie schaute wieder zweifelnd zu ihrem Mann hinüber. »Glauben Sie, daß ich ihn aufwecken könnte?«

 

»Ich werde es versuchen, wenn es Ihnen recht ist«, sagte er und rüttelte Pretoria-Smith wach.

 

Smith sah zuerst auf den Chauffeur, dann auf Marjorie und faßte mechanisch nach seiner Westentasche.

 

»Hallo, was ist denn geschehen?« fragte er.

 

Er betrachtete Marjorie lange Zeit, und plötzlich schien er sich seiner Lage bewußt zu werden.

 

»Ach so, wir haben uns trauen lassen! Es fällt mit wieder ein. Wo sind wir denn jetzt?«

 

»Möchtest du Kaffee haben?« fragte sie. »Ich glaube, du fühlst dich – nicht ganz wohl.«

 

»Kaffee? Das ist ausgezeichnet. Ich fürchte, du hast mich heute morgen wieder für einen unausstehlichen Menschen gehalten, aber –«, er tastete wieder mit der Hand nach seiner Tasche – »ich konnte mein Mittel nicht nehmen, und da ist mir schwach geworden.«

 

Er trank den Kaffee begierig und schien sich zu erholen. Dann fuhr er mit der Hand über sein unrasiertes Gesicht.

 

»Ich möchte ein wenig auf und ab gehen, ich bin ganz steif geworden durch das lange Sitzen im Wagen.«

 

Er ging die Straße entlang, und als er zurückkam, machte er einen fast normalen Eindruck.

 

»Ich weiß kaum, was ich sagen soll, damit du mir verzeihst«, begann er. »Aber gestern abend –«

 

»Bitte sprich nicht darüber«, unterbrach sie ihn. »Es ist wirklich nicht nötig, daß ich es erfahre.«

 

Er sah sie merkwürdig an und lachte.

 

»Nun gut, dann wollen wir die Sache vorläufig auf sich beruhen lassen.«

 

Er gefiel ihr eigentlich, wenn er lachte. Seine Züge veränderten sich dann und wurden ihr sympathisch. Sie reichte ihm einige Brote, aber er dankte.

 

»Ich kann nicht essen«, sagte er und schauderte zusammen. »Vielleicht später. Wann kommen wir in Brightsea an? Wir sind doch auf dem Weg dorthin?«

 

»Wir haben noch etwas über eine Stunde Fahrt«, sagte der Chauffeur.

 

Smith sah auf die Uhr.

 

»Sie ist stehengeblieben«, meinte er, als er sie ans Ohr hielt. »Wie spät ist es jetzt?«

 

»Zwei«, erwiderte der Mann, und Pretoria-Smith schien zufrieden zu sein.

 

Bald darauf setzte sich der Wagen wieder in Bewegung, und nun unterhielt sich Smith mit Marjorie, obwohl er immer wieder wegen seines ungepflegten Aussehens in Verlegenheit kam.

 

»Wenn wir in das Haus kommen, sind wahrscheinlich auch meine Anzüge da. Ich habe der Schneiderfirma in London geschrieben, daß meine Sachen direkt nach Brightsea geschickt werden sollen. Du hast doch nichts dagegen?«

 

»Durchaus nicht. Wir sind doch jetzt verheiratet, und du hast ein Recht, deine Kleider in mein Haus zu schicken«, versuchte sie zu scherzen.

 

»Wir sind also richtig verheiratet?«

 

»Aber selbstverständlich.«

 

Er hörte den bitteren Unterton in ihrer Stimme. Eine Viertelstunde lang schaute er schweigend in die Landschaft hinaus.

 

»Mir; gefällt die Gegend hier sehr gut«, sagte er dann. »Manchmal fällt es mir schwer, daran zu denken, daß ich wieder nach Südafrika gehe.«

 

»Fährst du dahin zurück?« fragte sie ein wenig enttäuscht. »Ich meine – fahren wir dorthin?«

 

»Ich gehe nach einer angemessenen Zeit zurück«, sagte er freundlich und doch nachdenklich, als ob er überlegte, wie lange eine angemessene Zeit wohl dauern könnte.

 

»Liebst du eigentlich Südafrika?«

 

»In gewisser Weise – ja.«

 

»Wann – wann kommst du denn von dieser Reise wieder zurück?«

 

Er lächelte. »Ach, das kann Jahre dauern.«

 

»Ist das dein Ernst?«

 

»Natürlich. Südafrika gefällt mir, und ich habe deinen Onkel gern. Er bildet sich natürlich ein, daß er nur noch kurze Zeit zu leben hat, aber das ist Unsinn. Er sieht so gesund und frisch aus wie nur irgend jemand. Übrigens«, sagte er plötzlich, »läßt er dich nicht warten, bis er stirbt. Du hast sofort Anspruch auf Geld, wenn du geheiratet hast.«

 

»Wie soll ich das verstehen?« fragte sie überrascht.

 

»Seine Rechtsanwälte in London haben den Auftrag, zweihunderttausend Pfund auf dein Konto einzuzahlen, und zwar an deinem Hochzeitstag. Und ich habe heute morgen in aller Frühe jemanden beauftragt, deinem Onkel ein Telegramm zu schicken, sobald die Trauung vorüber ist.«

 

»Zweihunderttausend Pfund hat er für mich bestimmt?« fragte sie atemlos.

 

Er nickte.

 

»Du hast doch ein Konto bei der Bankfiliale in Tynewood? Dort wird das Geld eingezahlt.«

 

Marjorie atmete erleichtert auf. Nun konnte ihre Mutter wenigstens die Schulden an Lady Tynewood bezahlen. Sie erzählte ihm jetzt von der Torheit ihrer Mutter.

 

»Du bist ja nun mit mir verheiratet und mußt schließlich auch diese Dinge wissen. Meine Mutter hat leider viele Schulden, aber erst in der letzten Zeit hat sie gespielt. Es tut mir so leid, denn sie hat wirklich noch nicht viel von ihrem Leben gehabt.«

 

»Mit wem spielt sie denn? Doch nicht etwa mit Lady Tynewood?«

 

Sie nickte.

 

»So?« Er lächelte grimmig.

 

»Du scheinst Lady Tynewood zu hassen? Du kannst es mir ruhig sagen, denn mir ist sie auch unausstehlich.«

 

»Was hat sie dir denn getan? In meinem Leben hat sie schon viel Unheil angerichtet, ja sie hat sogar –« Er brach ab, sprach aber nach einer kurzen Pause weiter. »Wenn du mir vertraust, muß ich auch dir vertrauen. Sie hat einen guten Freund von mir ruiniert.«

 

Sie sah schnell zu ihm auf.

 

»War sie mit ihm verheiratet?«

 

»Ja, er war ihr Mann. Kennst du die Geschichte von Sir James Tynewood?«

 

»Sie ist doch sehr traurig?«

 

»Ich weiß nicht, ob man sie traurig oder wahnsinnig nennen soll. Ich kenne alle Einzelheiten, und an einem der nächsten Tage will ich sie dir erzählen. Lady Tynewood wird ihre Handlungsweise noch einmal sehr bereuen.«

 

Sein Ton klang so drohend, daß Marjorie ihn befremdet betrachtete.

 

Kapitel 24

 

24

 

Das kleine Haus lag am Abhang eines Hügels, und der Garten war von einem neuen, hübschen Zaun eingefaßt. Überall blühten die Kletterrosen.

 

Als die beiden ankamen, fanden sie den Teetisch gedeckt. Die alte Haushälterin bediente sie.

 

Der Nachmittag verging erträglich. Marjorie hatte viel Zeit nachzudenken, denn Pretoria-Smith sprach nur wenig und schien in Gedanken versunken zu sein. Eine Weile wanderte er ruhelos im Garten umher. Man hatte von dort aus einen schönen Blick auf das Meer. Später aßen sie zusammen Abendbrot, aber er blieb immer noch einsilbig. Marjorie wurde die Situation mit der Zeit unangenehm, und als die alte Haushälterin fragte, ob sie fortgehen dürfte, löhnte sie entsetzt ab. Die Frau wollte den Abend zu Hause mit ihrem Sohn verbringen, der bei der Marine diente und auf Urlaub war.

 

»Nein, nein, Sie können nicht gehen, Mrs. Parr. Sie müssen hier bleiben«, sagte sie verstört.

 

Pretoria-Smith sah erstaunt auf.

 

»Aber Marjorie, warum soll sie denn nicht gehen? Wenn ihr Sohn auf Urlaub ist, möchte sie doch gern mit ihm zusammen sein. Die Leute bekommen wenig Urlaub in letzter Zeit.«

 

»Aber ich kann doch nicht allein hier im Haus bleiben«, erwiderte die junge Frau, die dem Weinen nahe war. »Ich kann kein Feuer anmachen und weiß auch sonst nicht Bescheid.«

 

»Du brauchst doch auch kein Feuer anzumachen, höchstens in der Küche. Und wenn du es nicht kannst, koche ich morgen früh selbst den Tee.«

 

»Nein, Sie können nicht gehen, Mrs. Parr. Ich brauche Sie. Ich fühle mich nicht recht wohl, und mein Mann war heute auch krank.«

 

Die Frau sah ratlos und enttäuscht von einem zum andern. Als sie wieder in die Küche ging, folgte ihr Pretoria-Smith.

 

Fünf Minuten später kam er wieder, und gleich darauf brachte Mrs. Parr den Kaffee, servierte ihn und verschwand.

 

Sie sprachen noch über gleichgültige Dinge, dann horte Marjorie plötzlich, daß die Hintertür zugemacht wurde.

 

»Was hat denn das zu bedeuten?«

 

»Mrs. Parr ist nach Hause gegangen, um ihren Sohn zu sehen«, entgegnete er kühl. »Es ist doch kindisch, daß du dich so fürchtest, Marjorie. Die arme Frau hat wirklich Sehnsucht nach ihrem Jungen.«

 

Sie wußte nicht, was sie darauf antworten sollte.

 

»Schon gut«, sagte sie endlich und versuchte, ihre Angst zu meistern. Sie hatte sowieso noch etwas mit ihm zu besprechen, und plötzlich fühlte sie sich sicherer.

 

»Ich hörte, daß du Mrs. Parr heute nachmittag den Auftrag gabst, eine Flasche Whisky in dein Zimmer zu stellen.«

 

Er nickte und sah sie ernst an.

 

»Ich wünschte aber – ich möchte, daß du das nicht tust«, entgegnete sie ebenso ernst.

 

Er runzelte die Stirn.

 

»Es tut mir sehr leid, daß du das nicht haben willst. Und wenn es dir lieber ist, kannst du die Flasche ruhig in dein Zimmer mitnehmen.«

 

»Ich wäre dann viel ruhiger. Du hältst mich wohl für pedantisch?«

 

Er lachte.

 

Zwei Stunden blieben sie noch zusammen, und sie versuchte krampfhaft, sich mit ihm zu unterhalten. Sie sprach über alle möglichen Dinge, um nicht an die eine große Tatsache denken zu müssen, die alles andere in den Schatten stellte. Seit zehn Stunden war sie nun mit diesem Mann verheiratet!

 

Um halb elf erhob sie sich.

 

»Ich gehe jetzt zu Bett«, sagte sie, wandte sich ohne ein weiteres Wort um und verließ den Raum.

 

Als sie in ihrem Schlafzimmer war, machte sie die Tür zu und fühlte nach dem Schlüssel, aber es war keiner vorhanden. Dann erinnerte sie sich, daß ihre Mutter aus Angst vor Feuersgefahr niemals einen Schlüssel in einer Tür duldete. Sie suchte erregt in ihrem Gepäck nach ihrem Schlüsselring, aber keiner paßte. Verzweifelt sank sie auf das Bett und starrte vor sich hin.

 

Sie war sehr müde. Die Ereignisse des Tages hatten sie doch mehr angegriffen, als sie gedacht hatte. Aber sie konnte nicht schlafen. Sie lag auf der Seite und lauschte angestrengt. Plötzlich hörte sie Schritte auf der Treppe und hielt den Atem an. Pretoria-Smith ging vorüber und schloß seine Tür leise.

 

Sie wartete eine halbe Stunde, eine ganze Stunde, aber sie hörte keinen Laut mehr. Als die Uhr auf dem Kirchturm in Brightsea eins schlug, schlief Marjorie endlich ein.

 

Aber plötzlich fuhr sie entsetzt auf, strich sich das Haar aus Stirn und Gesicht und richtete sich auf. Sie hatte ein Geräusch gehört und wußte nicht, was es zu bedeuten hatte. Ihr Herz klopfte zum Zerspringen. Jetzt vernahm sie es ganz deutlich auf dem Gang draußen krachte eine Diele. Sie konnte hören, wie schwer Pretoria-Smith atmete, und verstört beobachtete sie, wie sich die Klinke langsam nach unten senkte. Das Licht in ihrem Zimmer brannte noch. Die Tür öffnete sich leise und vorsichtig, als ob der Eindringling fürchtete, sie aufzuwecken. Pretoria-Smith kam herein. Er trug einen Schlafanzug und schwankte von einer Seite auf die andere.

 

Er sah zu dem Bett hinüber und hob den Blick langsam, bis er in Marjories bleiches Gesicht schaute.

 

»Was willst du denn?« brachte sie mühsam hervor.

 

»Ich möchte den Whisky haben«, erwiderte er mit belegter Stimme.

 

»Nein, nein, das gibt es nicht«, sagte sie und versuchte, einen scherzenden Ton anzuschlagen. »Du darfst nicht mehr trinken, wirklich, das mußt du nicht tun. Du hast gestern schon soviel getrunken, und wir haben doch abgemacht, daß die Flasche in meinem Zimmer bleiben soll.«

 

»Aber ich muß den Whisky haben«, entgegnete er müde. »Die Flasche ist hier – ich habe sie selbst hergebracht.«

 

Sie sah nach dem Waschtisch hinüber und entdeckte tatsächlich die Flasche.

 

»Es ist das einzige Mittel, das mir helfen kann«, sagte er halblaut.

 

Er schwankte und wäre gefallen, wenn er sich nicht an der Ecke des Bettes festgehalten hätte. Im gleichen Augenblick schlüpfte sie auf der anderen Seite hinaus und warf ihren Morgenrock um.

 

»Ich will dir die Flasche bringen. Aber bitte geh jetzt, ich komme dann in dein Zimmer.«

 

»Es ist das einzige, was mir hilft«, wiederholte er leise und zog sich höher, bis er ausgestreckt auf dem Bett lag. »Ach, mein Kopf – diese entsetzlichen Schmerzen!«

 

Sie sah ihn bestürzt an.

 

»Bist du krank?« fragte sie besorgt.

 

Er nickte.

 

»Mutter hat hier in der Hausapotheke verschiedene Medikamente.«

 

Sie ging rasch durchs Zimmer zu dem kleinen Wandschrank und öffnete ihn mit zitternden Fingern.

 

»Trinken darfst du nichts mehr. Was willst du denn haben?«

 

»Hast du etwas Chinin?« fragte er schwach.

 

Sie nahm ein Glas mit weißlichen Tabletten heraus und brachte sie ihm.

 

»Hier, bitte.«

 

»Gott sei Dank«, sagte er und griff hastig danach.

 

»Aber du darfst nicht trinken«, erklärte sie wieder.

 

»Trinken?« fragte er müde. »Ich habe seit acht Jahren nichts getrunken.«

 

Sie konnte ihren Ohren kaum trauen.

 

»Aber du warst doch betrunken, als du damals in den Saal kamst.«

 

»Betrunken?« wiederholte er und lächelte leicht. Dann schüttete er drei Tabletten in die Hand, legte den Kopf zurück und schluckte sie hinunter. »Bringe mir doch bitte etwas Wasser.«

 

Sie reichte ihm das Glas vom Nachttisch. Er trank begierig.

 

»Glaube mir, ich habe seit acht Jahren nichts getrunken. Denkst du wirklich, daß ich an dem Abend betrunken war, Marjorie? Frage doch den Prinzen selbst. Hast du nicht gehört, wie wir beide uns in Suaheli unterhielten? Wir sind alte Kameraden von den Jagdzügen in Südafrika her. Deshalb war er auch so nett zu mir. Ich hatte einen schweren Anfall von Malaria damals. Ich bin fieberkrank, seitdem ich nach England zurückkehrte. Zu dieser Jahreszeit leide ich immer darunter.«

 

»Malaria!« flüsterte sie, als sie den Zusammenhang plötzlich verstand. »Dann warst du auch während der Trauung nicht betrunken?«

 

Er lächelte wieder.

 

»Das hat mir gutgetan.« Er fuhr mit der Hand über die Stirne. »Die Kopfschmerzen sind schon fast weg. Du glaubst, ich wäre an unserem Hochzeitstag betrunken gewesen? Mein Gott, ich habe eine gefährliche Dosis Chinin genommen, um überhaupt für die Feier auf die Beine zu kommen. Fühle doch einmal meine Hand.«

 

Sie nahm sie in die ihre und hätte beinahe aufgeschrien, denn sie brannte wie Feuer.

 

»Ich habe beinahe vierzig Grad Fieber. Wenn du es messen willst, kannst du dich davon überzeugen«, sagte er schwach. »Könntest du mir nicht etwas heißen Kaffee geben?«

 

Sie eilte die Treppe hinunter und hatte im Nu ein Feuer in der Küche angemacht. Mit keinem Gedanken dachte sie daran, daß sie am vergangenen Abend erklärt hatte, nichts davon zu verstehen. Gleich darauf brachte sie ihm eine Tasse Kaffee. Er lag noch auf dem Bett, und sie deckte ihn zu.

 

»Du bleibst hier bis morgen früh«, erklärte sie entschieden. »Das Fieber steckt hoffentlich nicht an?«

 

»Ebensowenig wie das Trinken.«

 

Er lächelte sie noch einmal an und schlief dann ein.

 

Marjorie setzte sich neben das Bett und beobachtete ihn. Allmählich dämmerte der Morgen im Osten. All ihre Zweifel waren nun beseitigt, und ihr letzter Argwohn war verschwunden. In ihrem Innersten hatte sie bisher fest geglaubt, daß Pretoria-Smith der Mörder von Sir James Tynewood war, der unter anderem Namen in der Schloßkapelle begraben lag.

 

Kapitel 19

 

19

 

Lady Tynewood schrak vor dem wütenden Blick des Mannes zurück. Er wandte sich um, nahm seinen Hut vom Stuhl auf und verließ schnell das Zimmer.

 

Alma faßte sich zuerst wieder, während Marjorie noch bleich und mit weitaufgerissenen Augen zur Tür starrte, durch die Pretoria-Smith eben verschwunden war.

 

»Das ist also der junge Mann, den Sie heiraten wollen?« fragte sie verächtlich. »Ein feiner Gentleman, das muß man wohl sagen. Da kann man Ihnen ja gratulieren.«

 

Marjorie schwieg.

 

Mrs. Stedman war inzwischen auch hereingekommen. Sie hatte die Szene von weitem beobachtet und war in hellster Aufregung.

 

»Er war aber wirklich unhöflich und roh«, sagte sie atemlos.

 

»Sie haben ihn wahrscheinlich dazu aufgestachelt« wandte sich Lady Tynewood heftig an Marjorie. »Oder gehört es bei den Leuten aus den Kolonien zum guten Ton, sich derartig aufzuführen?«

 

Marjorie machte in dieser schwierigen Lage eine merkwürdige Erfahrung. Sie mußte nun obendrein noch den Mann verteidigen, gegen den sie die größte Abneigung fühlte.

 

»Mr. Smith wird wahrscheinlich aus guten Gründen so gehandelt haben«, erwiderte sie langsam. »Ich dachte schon im ersten Augenblick, Ihr lange vermißter Gatte wäre zurückgekehrt, Lady Tynewood.«

 

Sie war gehässig, niederträchtig, grausam. Aber es war ihr im Augenblick alles gleichgültig. Sie konnte sogar wegwerfend von dem Mann sprechen, der nicht mehr am Leben war.

 

»Was schwätzen Sie da?« ereiferte sich Alma. »Sir James war ein Gentleman vom Scheitel bis zur Sohle – vielmehr er ist ein Gentleman«, verbesserte sie sich schnell. »Wenn so ein junges, unerfahrenes Ding wie Sie über solche Sachen reden will, kommt natürlich nichts Gutes dabei heraus. – Aber er kam mir doch so bekannt vor – ich möchte nur wissen, ob ich ihn früher schon getroffen habe.«

 

Sie sah Marjorie von der Seite an.

 

»Sie werden ja nicht viel Freude in Ihrer Ehe haben«, sagte sie noch verächtlich und verließ dann das Zimmer.

 

Marjorie hatte es kaum gehört. Sie wartete nicht auf das Mittagessen, sondern, ließ sofort ihr Pferd satteln und ritt zu Lord Wadham. Sie wußte, daß der Prinz schon am Morgen abgereist war, so daß sie dort ohne weiteres Besuch machen konnte. Sie fand den alten Herrn bei einem Spaziergang im Park.

 

»Hallo!« rief er laut. »Zum Kuckuck, was machen Sie denn schon am frühen Morgen hier?«

 

»Ich möchte mich trauen lassen«, sagte sie, »mit – mit einem entsetzlichen Menschen.«

 

»Teufel noch mal«, erwiderte er verhältnismäßig leise und schlug dann plötzlich mit der flachen Hand auf den Oberschenkel. »Jetzt weiß ich, wer es ist. Der betrunkene Mann, der gestern ins Hotel kam!«

 

Sie wurde rot.

 

»Ja, er ist mein Verlobter.«

 

»Ach, irgend so ein Johannesburg-Jones oder ein Maritzburg-Mike?«

 

»Pretoria-Smith.«

 

»Donnerwetter – aber das ist doch nicht Ihr Ernst. Wie kommen Sie bloß auf die verrückte Idee, einen Menschen von solchem Kaliber heiraten zu wollen? Ich habe ihn mir ja nicht genauer angesehen, aber ich wette, daß er einen schlechten Charakter hat. Ein Mann, der einen fertigen Anzug kauft, ist zu allem fähig, auch zu einem Mord.«

 

Sie lachte.

 

»Sie müssen ihn nicht so streng beurteilen. Vielleicht klärt sich alles noch ganz harmlos auf.« Eine Weile schwieg sie, dann wandte sie sich plötzlich wieder an ihn. »Lord Wadham«, fragte sie atemlos, »würden Sie mir einen großen Gefallen tun?«

 

»Für Sie tue ich alles, was in meinen Kräften steht, liebes Kind«, sagte er begeistert. »Wenn ich nicht schon eine Frau und vier Kinder hätte, würde ich Sie vom Fleck weg heiraten. Aber meine Frau ist gesund und vergnügt. Sie ist eine Wingley aus Norfolk und wird sicher neunzig Jahre alt«, fügte er schmunzelnd hinzu.

 

»Ich hätte Sie gern wegen der Trauung um Rat gebeten.«

 

»Ach, Sie wollen sich wohl sofort trauen lassen?« fragte er nachdenklich. »Na, das kann ich schon arrangieren. Aber liebes Kind, ich würde mir die Sache an Ihrer Stelle doch noch einmal reiflich überlegen. Selbst wenn Sie es –« Er zögerte. Auch er hatte schon verschiedene Gerüchte über Mrs. Stedman gehört, und er wußte, daß die Frau Spielschulden hatte. »Selbst um meinen nächsten Verwandten zu helfen, würde ich das nicht tun«, fuhr er fort. »Aber ich will Ihnen nicht das Herz schwermachen. Sie sind wahrscheinlich in einer sehr schwierigen, Situation, und ich will alles tun, um Ihnen zu helfen. Welchen Eindruck haben Sie denn von dem Mann? Haben Sie ihn schon einmal bei Tageslicht betrachtet?«

 

Sie lächelte ein wenig verlegen.

 

»Er ist eben – Pretoria-Smith«, sagte sie so gleichgültig wie möglich.

 

Lord Wadham rieb sich das Kinn.

 

»Na schön. Ich werde mich um die Heiratserlaubnis kümmern. Nennen Sie mir doch bitte die Namen.«

 

Sie konnte ihm auf keinen Fall sagen, daß sie den Namen ihres Verlobten nicht kannte.

 

»Ich werde Ihnen das alles schreiben.«

 

»Wenn Sie es heute noch tun, schicke ich Ihnen morgen mit der ersten Post die Lizenz zu«, sagte er freundlich.

 

»Wo können wir denn getraut werden?«

 

»Ach, in jeder Kirche. Mein Hauskaplan wird sich ein Vergnügen daraus machen, Sie zu trauen. Sie kennen doch den alten Stoneham? Ein guter Mensch. Nur schade, daß er halb blind und halb taub ist.«

 

Er lachte, als er an den Pfarrer dachte.

 

»Das ist der rechte Mann, der paßt für Sie. Er kennt Sie später überhaupt nicht wieder. Auch Ihren Mann nicht, und wenn sein Name mit großen Buchstaben auf der Stirn stände. Ja, aber wo könnte denn nun die Trauung stattfinden?« überlegte er. »Halt, das weiß ich jetzt auch«, sagte er nach einiger Zeit und klatschte vergnügt in die Hände. »Ich werde an meinen Freund Vance telegrafieren. Er ist der Rechtanwalt der Familie Tynewood. Den frage ich um Erlaubnis, daß Sie in der Schloßkapelle hier getraut werden dürfen.«

 

»Mr. Vance?« wiederholte sie erstaunt. »Den kenne ich auch sehr gut. Aber glauben Sie denn, daß er die Erlaubnis geben wird? Ich weiß, daß er in solchen Dingen recht eigentümlich ist.«

 

»Überlassen Sie das nur mir, ich bringe die Sache schon in Ordnung«, erklärte Lord Wadham. »Also, ich sorge dafür, daß die Kapelle zur Verfügung steht, und ich beschaffe den Pfarrer. Wie wäre es denn, wenn ich nun auch noch den Brautvater machte und Sie in die Ehe gäbe?«

 

Marjorie traten die Tränen in die Augen.

 

»Sie sind wirklich sehr lieb zu mir«, sagte sie mit bewegter Stimme.

 

Er klopfte ihr freundlich auf die Schulter.

 

»Es macht mir einen unheimlichen Spaß, junge Leute miteinander zu verheiraten, auch wenn ich mit dieser Trauung nicht ganz einverstanden bin. Also, sind Sie damit zufrieden, daß ich die Sache mit der Kirche und dem Pfarrer regele?«.

 

Sie nickte.

 

»Und um wieviel Uhr soll die Trauung stattfinden?«

 

»Darüber muß ich erst noch mit – Mr. Smith sprechen.«

 

Zu Hause setzte sich Marjorie verzweifelt an den Schreibtisch und schrieb kurzerhand: John Smith, Sohn von Henry und Mary Smith. Dem Vater gab sie den Beruf eines Mineningenieurs, und das Alter von Pretoria-Smith setzte sie einfach auf zweiunddreißig Jahre fest.

 

Sie adressierte die Mitteilung an Lord Wadham und schickte dann noch einen Brief. zu dem einzigen Gasthaus des Dorfes. Darin bat sie Smith, zu ihr zu kommen. Aber offenbar erreichte ihn diese Nachricht nicht.

 

Am Spätnachmittag machte sie einen Spaziergang, und bei einer Biegung des Weges sah sie plötzlich einen Mann im Gras sitzen. Er stützte den Kopf in die Hand und hatte sich weit vornüber gebeugt, so daß sein Kinn fast die Knie berührte. Als er ihre Schritte hörte, wandte er sich um. Es war Pretoria-Smith, und er sprang sofort auf.

 

»Es tut mir leid, daß ich mich heute so gehenließ«, sagte er etwas barsch. »Ich hätte dieser Dame gegenüber meine Fassung nicht verlieren dürfen.«

 

»Kennen Sie denn Lady Tynewood?«

 

»Ob ich sie kenne?« wiederholte er bitter. »Ja, die Frau kenne ich!«

 

»Sie ist doch die Gattin von Sir James Tynewood, der hier in der Gegend der größte Landbesitzer ist, obwohl er nie hier gelebt hat.«

 

Sie beobachtete ihn scharf, während sie sprach. Wie würde er sich verhalten, wenn er den Namen des Mannes wieder hörte, der vor Jahren auf so tragische Weise umgekommen war?

 

»Er wohnt nicht hier? Das ist aber seltsam. Ich halte die Gegend hier für eine der schönsten auf der ganzen Erde. Aber vielleicht kommt sie mir auch nur so herrlich vor, weil ich so lange in den traurigen Einöden von Südafrika lebte. Trotzdem ist Sir James töricht, wenn er sich diesen Genuß entgehen läßt.«

 

»Mr. Smith –«, es fiel ihr schwer, weiterzusprechen, »ich wollte Sie noch etwas fragen. Haben Sie etwas dagegen, daß unsere Trauung sehr bald stattfindet?«

 

»Nein, je eher, desto besser«, erwiderte er sofort. Er hatte das Gesicht von ihr abgewandt und schaute über das Tal hin.

 

»Sie müssen verstehen, daß alles so unerwartet für mich kam und daß mir der Gedanke an diese Heirat zuerst entsetzlich erschien.« Sie spielte mit dem Verschluß ihrer Handtasche und schaute ihn nicht an. »Wenn ich sage entsetzlich, so meine ich das natürlich nicht im gewöhnlichen Sinne des Wortes.«

 

»Das. kann ich mir gut vorstellen, und Sie haben auch vollkommen, recht. Mir selbst ging es ja nicht anders. Ich sagte Ihnen schon, daß ich ebensowenig daran dachte, mich zu verheiraten, wie der Mann im Mond. Am liebsten wollte ich ganz allein auf der Mine bleiben und in Ruhe gelassen werden. Ich war zufrieden, wenn ich meine Pfeife hatte und nachdenken konnte. Meine Gedanken waren nicht immer angenehm, aber immerhin war ich damals zufrieden im Vergleich zu jetzt.«

 

Sie warf ihm einen schnellen Blick zu.

 

»Das ist allerdings kein Kompliment für mich«, sagte sie und lachte. »Aber ich erwarte von Ihnen ja auch keine Komplimente. Sie haben also nichts dagegen, daß wir sofort heiraten?«

 

»Sie möchten die Sache möglichst schnell hinter sich haben«, entgegnete er und sah zu einer Kuh hinüber, die auf dem nahen Hügel weidete. »Und ich kann Ihnen wirklich keinen Vorwurf daraus machen. Ich sage Ihnen ja, mir geht es genauso. Meinetwegen kann die Trauung sofort abgehalten werden.«

 

»Lord Wadham hat mir den Vorschlag gemacht, uns von seinem Pfarrer trauen zu lassen. Sind Sie damit einverstanden?«

 

»Ach, meinen Sie den alten Stoneham? Der war ja schon früher hier im Amt – der arme Mann ist aber halb blind.«

 

»Kennen Sie ihn denn?« fragte sie schnell.

 

Er kam in Verlegenheit.

 

»Ich habe gehört, wie sich die Leute im Dorf über ihn unterhielten. Nein, ich kenne Lord Wadham und, seinen Pfarrer nicht. Im Grunde genommen ist ja auch ein Pfarrer ebensogut wie der andere.«

 

»Ich habe Ihren Namen als John Smith angegeben – heißen Sie wirklich John?«

 

»So ähnlich. Darauf kommt es ja nicht an. Sie können mich ruhig John nennen. Dann haben Sie ja auch meine Eltern nennen müssen?«

 

»Ja, das habe ich auch getan. Ich habe geschrieben, daß Ihr Vater Mineningenieur ist.«

 

Er mußte lachen.

 

»Nun, das ist ganz gut. Er hat sich schließlich auch mit dem Erdboden beschäftigt – das heißt, gewöhnlich hat er nur Unkraut aus den Blumenbeeten ausgejätet. In diesem Punkt war er unerbittlich, und die Gärtner hatten große Angst vor ihm.«

 

»Noch eins. Es liegt doch weder Ihnen noch mir an einer großen Teilnahme der Öffentlichkeit, und es wäre besser, wenn die Hochzeit in aller Stille stattfände. Lord Wadham meinte, daß wir uns am besten in der Schloßkapelle von Tynewood trauen ließen.«

 

Er antwortete nicht gleich.

 

»Gibt es denn eine Schloßkapelle hier?« fragte er nach einer Weile.

 

Sie ärgerte sich, daß er sie täuschen wollte.

 

»Ja. Sie ist sehr hübsch. Ich hatte schon die Absicht, sie mir heute einmal anzusehen. Wollen Sie mich begleiten?«

 

Er schüttelte den Kopf.

 

»Nein, das möchte ich eigentlich nicht tun.«

 

Diese Antwort hatte sie auch erwartet.

 

»Dann ist also alles soweit in Ordnung?« fragte sie. »Und an welchem Tag wollen Sie sich trauen lassen?«

 

»Mir ist jede Zeit recht.«

 

»Wollen wir sagen: morgen um elf?«

 

»Ja, das paßt mir.«

 

»Und – und –«, sie konnte kaum weitersprechen, »wohin wollen wir nachher gehen?«

 

Kapitel 2

 

2

 

Marjorie Stedman, die Privatsekretärin des Rechtsanwalts und Notars Vance, atmete erleichtert auf, als sie an diesem herrlichen Frühlingsabend wieder in die frische, kühle Luft hinaustreten konnte.

 

Das war also Sir James Tynewood. Wie oft hatte sie diesen Namen gelesen, der im Büro mit weißen Buchstaben auf einen schwarzen Aktenkasten gemalt war.

 

Und dieser Nachkomme eines alten, angesehenen Geschlechts, das sich in früheren Tagen im Dienste des Vaterlands ausgezeichnet hatte, war ein Trinker, ein Verschwender, der sich in unmöglicher, vulgärer Gesellschaft herumtrieb! Dieses Erlebnis war eine große Enttäuschung für sie, und sie schauderte noch bei der Erinnerung.

 

Als sie zu dem Büro in Bloomsbury zurückkam, waren schon alle Angestellten fortgegangen. Aber der alte Mr. Vance wartete in seinem Privatzimmer auf sie und sah sie neugierig an, als sie eintrat.

 

»Nun, Miss Stedman, haben Sie den Brief abgegeben?«

 

»Ja, Mr. Vance.«

 

»Haben Sie Sir James Tynewood persönlich angetroffen?«

 

Sie nickte.

 

Die Spannung in seinen Zügen steigerte sich.

 

»Was haben Sie denn – Sie sehen ja so blaß aus? Ist Ihnen etwas zugestoßen?«

 

Sie schüttelte den Kopf, erzählte ihm aber dann, was sie auf der ausgelassenen Gesellschaft gesehen und gehört hatte.

 

Mr. Vance biß sich auf die Lippe, er war sehr ärgerlich und erregt.

 

»Das tut mir wirklich leid. Ich dachte nicht, daß man es wagen würde, Sie so zu behandeln, sonst wäre ich natürlich selbst hingegangen. Sie verstehen doch, Miss Stedman, daß ich keinen der anderen Angestellten mit diesem Gang beauftragen konnte?«

 

»Natürlich. Ich weiß sehr gut, daß diese Mitteilung vertraulich war.« Sie verschwieg, daß sie sich darüber gewundert hatte. Es war ihr seltsam vorgekommen, daß ausgerechnet sie den Brief Sir James persönlich übergeben mußte.

 

Aber Mr. Vance las ihre Gedanken.

 

»Eines Tages werden Sie noch verstehen, warum ich gerade Ihnen den Auftrag gab, Sir James Tynewood aufzusuchen. Ich bin jedenfalls sehr dankbar, daß Sie die Sache erledigt haben. Hat Ihnen Sir James eigentlich eine Antwort mitgegeben oder etwas gesagt?«

 

Sie zögerte. »Was er sagte, möchte ich nicht gern wiederholen. Es war nämlich nicht sehr schmeichelhaft für Sie, Mr. Vance«, entgegnete sie lächelnd.

 

Der Rechtsanwalt nickte.

 

»Es ist eine recht unangenehme Angelegenheit«, meinte er nach einem kurzen Schweigen. »Hat denn Sir James wirklich nichts gesagt, was für mich von Bedeutung sein könnte?«

 

»Zu mir direkt hat er es nicht gesagt, er hat mehr im allgemeinen gesprochen –« Sie zögerte wieder. »Eine Dame fragte ihn, welche Nachricht der Brief enthalte, und darauf antwortete er, daß der Mann, den er am meisten von allen Menschen hasse, zurückgekommen sei.«

 

»Den er am meisten hasse«, wiederholte er mit einem traurigen Lächeln. Dann erhob er sich und zuckte die Schultern.

 

»Es ist tatsächlich eine sehr unangenehme Geschichte«, sagte er noch einmal und nahm den Mantel vom Haken. Dann wechselte er plötzlich das Thema. »Am Ende der Woche verlieren wir Sie also, Miss Stedman?«

 

»Ja, Mr. Vance. Es fällt mir selbst schwer genug zu gehen, denn ich habe mich in Ihrem Büro sehr wohl gefühlt«, erwiderte sie bedrückt.

 

»Von meinem egoistischen Standpunkt aus tut es mir natürlich auch unendlich leid.« Er schlüpfte in den Mantel. »Aber um Ihretwillen bin ich doch eigentlich recht froh. Hat Ihr Onkel denn nun die Goldmine entdeckt, nach der er so lange gesucht hat?«

 

Sie lächelte. »Nein, das nicht, aber er hat in Südafrika viel Geld verdient. Er war ja schon immer so großzügig zu meiner Mutter und zu mir. Sie müssen Onkel Alfred doch auch noch gekannt haben?«

 

»Ja, vor zwanzig Jahren habe ich ihn einmal gesehen. Ihr Vater brachte ihn eines Tages in mein Büro. Ich, hatte damals, soweit ich mich noch entsinnen kann, den Eindruck, daß er ein charaktervoller Mann war.«

 

Er ging zur Tür und blieb dort stehen, als ob er darauf wartete, daß Marjorie vor ihm hinausging.

 

»Sie haben doch heute nichts mehr zu tun?« fragte er etwas erstaunt, als sie keine Miene machte, ihm zu folgen.

 

»Ich muß noch den Schriftsatz in Sachen James Vesson abschreiben, bevor ich gehe.«

 

Er schüttelte ungeduldig den Kopf.

 

»Ach, das hatte ich ja ganz vergessen! Aber da hätte ich Sie doch gar nicht fortschicken dürfen! Können Sie es denn nicht morgen früh machen, Miss Stedman?«

 

Aber er wußte selbst nur zu gut, daß der Schriftsatz morgen in aller Frühe gebraucht wurde.

 

»Es kommt mir nicht darauf an, wenn ich heute ein wenig später nach Hause komme, Mr. Vance«, sagte sie und lachte. »Ich habe sowieso nichts weiter vor, und in zwei Stunden bin ich ja mit der Arbeit fertig. Es ist viel besser, ich schreibe die Sache heute abend noch, sonst müßte ich morgen schon sehr früh ins Büro kommen.«

 

»Na, dann ist es gut, Miss Stedman. Ich muß mich jetzt beeilen, daß ich meinen Zug nach Brighton noch erreiche. Morgen rufe ich Sie im Laufe des Vormittags an, dann können Sie mir sagen, ob irgend etwas Wichtiges vorgefallen ist. Also, gute Nacht.«

 

Als Marjorie allein war, ging sie in ihr kleines Büro, das an das Arbeitszimmer des Rechtsanwalts stieß, und kurze Zeit später klapperte ihre Schreibmaschine in rasendem Tempo. Sie wußte, daß sich ihre Mutter stets Sorgen machte, wenn sie nicht rechtzeitig nach Hause kam, und sie bemühte sich deshalb, so schnell wie möglich fertig zu werden.

 

Sie hatte gerade die vierte DIN-A-4-Seite des langen, trockenen Schriftsatzes hinter sich, als sie ein Klopfen an der äußeren Bürotür zu hören glaubte. Sie machte eine Pause und lauschte angestrengt.

 

Jetzt vernahm sie es deutlich und erhob sich. Sie war sehr gespannt, wer Mr. Vance zu so später Stunde noch geschäftlich aufsuchen wollte.

 

Als sie die Tür öffnete, erwartete sie eigentlich einen Telegrafenboten, aber zu ihrem Erstaunen sah sie sich einem großen, schlanken Herrn gegenüber.

 

Mit einem Blick umfaßte sie seine äußere Erscheinung und sah, daß er einen alten, grauen Flanellanzug und weder Kragen noch Krawatte trug. Sein weiches Hemd war am Hals offen und der etwas verbeulte, graue, breitkrempige Filzhut in den Nacken geschoben. Die Sonne hatte sein hübsches, hageres Gesicht außergewöhnlich dunkel gebräunt, und seine klugen, tiefblauen Augen standen in reizvollem Gegensatz zu der dunklen Hautfarbe.

 

»Ist Mr. Vance noch im Büro?« erkundigte er sich kurz, nachdem er den Hut abgenommen hatte;

 

»Nein, er ist vor etwa zwanzig Minuten gegangen.«

 

Der Fremde biß sich auf die Lippe.

 

»Wissen Sie vielleicht, wo ich, ihn heute abend noch treffen könnte?«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Für gewöhnlich könnte ich es Ihnen sagen«, entgegnete sie lächelnd, wenn es auch eigentlich nicht gebräuchlich ist, Klienten seine Privatadresse mitzuteilen. »Aber heute abend ist er nach Brighton gefahren, wo er mit einem Freund das Wochenende verbringen will, und er hat keine Adresse hinterlassen.« Sie zögerte einen Augenblick. »Vielleicht nennen Sie mir Ihren Namen?«

 

Er sah sie unschlüssig an. »Setzt er sich morgen irgendwie mit Ihnen in Verbindung?«

 

Sie nickte.

 

»Er telefoniert morgen mit mir, um zu hören, ob etwas Wichtiges vorgefallen ist. Dann könnte ich ihm ja von Ihrem Besuch erzählen und ihm sagen, daß Sie ihn sprechen wollten.«

 

Er stand noch im Gang, und während sie ihn betrachtete, kam ihr plötzlich der Gedanke, daß er trotz seiner gerade nicht sehr vorteilhaften Kleidung vielleicht doch ein wichtiger Kunde sein könnte. Sie öffnete die Tür weiter.

 

»Wollen Sie nicht näher treten und einen Augenblick Platz nehmen? Vielleicht möchten Sie auch eine kurze schriftliche Mitteilung für Mr. Vance zurücklassen?«

 

Langsam ging er in den Büroraum und sah einen Augenblick auf den Stuhl, den sie ihm hinschob.

 

»Nein, schreiben möchte ich nichts«, sagte er nach einer Pause. »Aber wenn Mr. Vance morgen anrufen sollte, dann sagen Sie ihm doch bitte, daß Mr. Smith von Pretoria gekommen ist.«

 

Die letzten Worte hatte er sehr deutlich und mit besonderem Nachdruck gesprochen. »Also, bitte vergessen Sie es nicht – Mr. Smith von Pretoria. Bestellen Sie ihm auch, daß ich so bald wie möglich mit ihm in Verbindung treten möchte.«

 

»Mr. Smith von Pretoria«, wiederholte sie und machte eine Notiz auf ein Blatt Papier. Sie hatte den Eindruck, daß es sich um eine wichtige Sache handeln müßte.

 

Er stand vor ihr und schaute sie an, aber sie hatte das merkwürdige Gefühl, daß er durch sie hindurchsähe. Die Falten auf seiner Stirn ließen erkennen, daß er tief in Gedanken versunken war.

 

Plötzlich schien er sich wieder an die Wirklichkeit zu erinnern und machte eine impulsive Bewegung zum Tisch hin.

 

»Ich habe es mir doch überlegt. Ich werde eine kleine Mitteilung für Mr. Vance zurücklassen. Geben Sie mir bitte Papier und Feder.«

 

»Beides liegt schon vor Ihnen«, erwiderte sie mit einem leichten Lächeln.

 

Er wurde verlegen über seine Unachtsamkeit.

 

»Es tut mir leid«, entschuldigte er sich. »Ich bin heute etwas zerstreut.«

 

»Ja, das habe ich auch schon bemerkt.«

 

Sie ging in den anderen Teil des Zimmers, um nicht den Anschein der Neugierde zu erwecken.

 

Offenbar fiel es ihm schwer, seine Gedanken in Worte zu fassen, denn er saß fünf Minuten vor dem Schreibtisch und grübelte.

 

»Nein, ich werde doch nicht schreiben«, erklärte er dann, legte die Feder auf den Tisch und stand auf. »Es genügt, wenn Sie Ihrem Chef sagen, daß Mr. Smith von Pretoria im Büro vorgesprochen hat. Er weiß, wo er mich finden kann.«

 

Vom Gang her ertönten plötzlich Schritte, und gleich darauf wurde die Türklinke hastig heruntergedrückt. Der Besucher mußte in ungewöhnlicher Aufregung sein, da er zu klopfen vergessen hatte.

 

»Wo ist Rechtsanwalt Vance?« fragte er schnell, als er eintrat.

 

Das Licht fiel voll auf sein Gesicht, und Marjorie erkannte in dem Mann mit dem zerwühlten Haar und dem roten Gesicht Sir James Tynewood wieder.

 

»Mr. Vance ist schon gegangen«, entgegnete sie.

 

Sir James antwortete nicht gleich. Er starrte entsetzt Mr. Smith von Pretoria an.

 

»Mein Gott!« stieß er dann verstört hervor. »Du bist es – Jot!«

 

Die beiden standen einander gegenüber und maßen sich mit den Blicken. Mr. Smiths Züge wurden plötzlich hart und undurchdringlich.

 

Als das Schweigen andauerte, wurde Marjorie die Situation sehr peinlich. Sie ahnte, daß sich eine Tragödie hinter diesen Worten und Blicken verbarg, und rein gefühlsmäßig nahm sie für den Mann aus Südafrika Partei.

 

»Kennen Sie Sir James Tynewood?« fragte sie verlegen.

 

Langsam wandte sich Mr. Smith von Pretoria um und lächelte bitter.

 

»Ja, ich kenne Sir James Tynewood sehr gut.« Er drehte sich wieder dem anderen zu. »Wir werden uns morgen abend in Schloß Tynewood sprechen, Sir James.«

 

Der junge Baron hatte den Kopf gesenkt und zitterte am ganzen Körper. Sein Gesicht war totenbleich.

 

»Ja, ich werde kommen«, erwiderte er heiser und verließ mit unsicheren Schritten das Zimmer.

 

Kapitel 20

 

20

 

»Es tut mir so leid«, sagte er liebenswürdig. »Sie halten mich wahrscheinlich für einen rohen, ungebildeten Menschen, Miss Stedman. Aber ich war in Südafrika so lange allein mit meinen Gedanken, daß ich nicht mehr in die europäische Gesellschaft passe und auch nicht mehr weiß, wie ich mich mit den Leuten unterhalten soll. Es ist sehr gut, daß Sie wegen der Trauung schon alles verabredet haben.«

 

Er sah sie so freundlich an, wie sie es niemals von ihm erwartet hatte.

 

»Ich werde dafür sorgen, daß nach der Trauung ein Auto auf uns wartet.«

 

»Im Augenblick habe ich keinen besseren Anzug als diesen hier. Aber ich habe mir bereits einige in London bestellt. Sie heißen doch Marjorie?«

 

»Ja.«

 

Er wiederholte den Namen leise.

 

»In Zukunft muß ich Sie ja wohl Marjorie nennen. Sie haben doch nichts dagegen?«

 

Sie mußte lachen.

 

»Ich glaube, es ist Brauch, daß sich Eheleute beim Vornamen nennen.«

 

Sie hatte das Gefühl, daß er noch etwas sagen wollte, und zögerte. Aber er schwieg, bis sie ihm die Hand zum Abschied reichte.

 

»Ich werde Sie noch ein wenig begleiten. Gehen Sie nach Hause zurück?«

 

Sie nickte.

 

Als sie dann neben ihm herging, kam sie sich selbst sonderbar vor. Er war einen Kopf größer als sie, und große Leute waren ihr immer sympathisch gewesen. Aber sie wollte diese Sympathie nicht auf Pretoria-Smith ausdehnen.

 

»Es klang unhöflich, als ich Ihnen sagte, daß ich eigentlich gegen meinen Willen nach England reiste, um mich mit Ihnen trauen zu lassen«, sagte er plötzlich, »aber es war die reine Wahrheit. Ich verdanke Ihrem Onkel so viel, daß ich seinen Wunsch schließlich erfüllen mußte. Und wenn ich Ihnen jetzt ein Angebot mache und sage, was ich eigentlich denke, betrüge und hintergehe ich ihn.«

 

»Welches Angebot wollen Sie mir denn machen?« fragte sie überrascht.

 

»Ein sehr einfaches«, erklärte er ruhig. »Es ist mir klar, daß Sie mich heiraten, weil Sie die jährliche Unterstützung Ihres Onkels nicht entbehren können. Ich erfuhr von seiner häßlichen Drohung erst in dem Augenblick, als ich von Afrika abreiste. Er hat sich diese Heirat nun einmal in den Kopf gesetzt, weil er fürchtet, sein Geld könnte in die Hände eines Mannes fallen, der Sie nur wegen Ihres Reichtums heiratet. Miss Stedman, ich kann Ihnen versichern, daß Ihr Onkel zuerst nur Ihr Glück im Auge hatte. Er hat mir so oft von Ihnen erzählt, und er freute sich immer so sehr, wenn er Briefe von Ihnen erhielt. Er hat sie noch alle aufbewahrt.«

 

Marjorie war gerührt.

 

»Der arme Onkel«, sagte sie leise. »Ich bin davon überzeugt, daß er seiner Meinung nach das Beste für mich tut.«

 

»Denken Sie immer daran«, fuhr er fort, »dann werden Sie auch verstehen, in welchem Dilemma ich mich befinde. Ich würde Ihnen ja gern eine Viertelmillion Pfund geben, um es Ihnen zu ermöglichen, diese Heirat abzulehnen – mit oder ohne Ihren Dank.« Er lächelte ein wenig und sah plötzlich viel hübscher und jünger aus.

 

Sie war stehengeblieben und schaute ihn erstaunt an.

 

»Nein, das geht nicht, das dürfte ich doch nicht tun. Ich habe meinem Onkel schon mein Wort gegeben. An dem Tag, an dem ich seinen Brief erhielt, ist mein Telegramm an ihn abgegangen.«

 

»Das fürchtete ich«, erwiderte er düster, »aber ich fürchtete auch, daß Sie mein Angebot annehmen würden, und das wäre dem alten Stedman gegenüber sehr unfair gewesen. Er war nicht um das Geld besorgt, sondern er wollte Sie vor gewissenlosen Menschen schützen, die nur Ihrem Vermögen nachjagten. Und wenn ich Sie nun reich machte – ich kann es, denn ich besitze ebensoviel, wenn nicht mehr als Ihr Onkel –, dann wären Sie derselben Gefahr ausgesetzt wie vorher.«

 

Sie ging wieder langsam neben ihm her. Plötzlich hörten sie Pferdegetrappel und traten zur Seite, um die Reiter vorüberzulassen.

 

Es waren Lance Kelman und Lady Tynewood. Kelman wurde dunkelrot vor Zorn, als er Marjorie und Pretoria-Smith zusammen sah. Er hatte sich schon vorher für seine Kusine stark interessiert, aber jetzt glaubte er, daß sie die große Liebe seines Lebens sei. Almas Reden und Bemerkungen hatten ihn aufgestachelt.

 

Er ritt nicht vorbei, sondern hielt mitten im Weg an. Lady Tynewood beobachtete die Szene belustigt.

 

»So, da hast du nun endlich deinen Pretoria-Smith!« schrie Kelman laut. Er hatte bei Alma zu Mittag gegessen und viel Wein getrunken.

 

Marjorie war blaß geworden. Sie sah ihn fest an, aber sie schwieg.

 

»Jetzt muß ich allerdings wirklich annehmen, daß du in diesen Menschen verliebt bist«, führ Lance fort und lachte pöbelhaft. »Er hat ja wohl das nötige Kleingeld, und deine Mutter, kennt sich nicht mehr aus vor Schulden. Da kommt es ja schließlich auch nicht darauf an, daß du einen alten Trinker heiratest. Hast du nicht gesehen, was für ein Kerl das ist, als ich ihn gestern abend in den Saal brachte?«

 

Pretoria-Smith stand plötzlich an seiner Seite. Er hatte die Hand auf das Knie des Reiters gelegt.

 

»Sie haben mich in den Saal gebracht?« fragte er ruhig. »Ich habe heute morgen etwas davon gehört, welche Szene sich dort abgespielt hat. Ich selbst kann mich nicht darauf besinnen. Sie haben mich also hineingeführt?«

 

»Nehmen Sie Ihre Hand weg, Sie Schwein!«

 

Marjorie schrie auf, aber die Peitsche traf nicht. Pretoria-Smith hatte Kelman am Handgelenk gepackt und hielt ihn mit eisernem Griff fest.

 

»Es gibt gewisse Dinge, die Sie nicht tun dürfen«, sagte er ruhig. »Können Sie schwimmen?«

 

»Lassen Sie mich los!« schrie Lance und versuchte, sich freizumachen.

 

»Können Sie schwimmen?« wiederholte Pretoria-Smith. Aber er zog ihn schon vom Pferd, bevor der junge Mann etwas antworten konnte.

 

Einen Augenblick zappelte Lance in der Luft, dann warf ihn Pretoria-Smith wie einen Stein in einen großen, grünen Teich, der dicht neben der Straße lag. Das Wasser spritzte hoch auf, und die beiden Frauen sahen entsetzt hinüber, als ein angstvoller Schrei ertönte. Aber nach wenigen Sekunden tauchte Kelman in etwas sonderbarer Verfassung wieder auf und kam ans Ufer. »Das werde ich Ihnen heimzahlen, Sie verdammter Hund – Sie Negermörder! Erzählen Sie doch Marjorie, wie viele Leute Sie schon zu Tode gepeitscht haben!«

 

Pretoria-Smith war bleich geworden, und seine Stimme zitterte.

 

»Es tut mir leid, daß ich meine Fassung verloren habe«, sagte er leise, als Kelman näher kam. Er sah nicht zu Lady Tynewood auf. »Sie sind in schlechter Gesellschaft, junger Mann.«

 

»Ich glaube allerdings, daß Sie auf der Höhe sind, wenn es gilt, schlechte Gesellschaft zu beurteilen«, mischte sich Alma nun ein.

 

Langsam schaute er zu ihr auf.

 

»Ich freue mich wenigstens, daß ich früher niemals auf Ihren Gesellschaften war, Miss Trebizond«, erwiderte er gelassen.

 

Sie versuchte zu lächeln, aber dann sah sie Marjorie an und schrak zusammen. In diesem Augenblick erst erkannte sie in ihr die Stenotypistin, die an dem Abend ihrer Hochzeit in ihre Wohnung gekommen war.

 

Kapitel 15

 

15

 

Lord Wadham brachte Marjorie spät in der Nacht in seinem Wagen nach Hause. Er war von dem Verlauf des Festes begeistert und daher in der fröhlichsten Stimmung. Dauernd schrie er ihr mit seiner lauten Stimme in die Ohren, so daß sie schon halb taub war.

 

»Das ist ein feiner, großartiger Vertreter, dieser Prinz. Einer von der alten, guten Art. Wenn wir solche Leute an der Spitze des Staates haben, brauchen wir uns nicht um Revolution und Anarchie zu kümmern. Und Sie haben sich auch glänzend gehalten, meine Liebe, wirklich glänzend! Ich habe noch nie eine Dame gesehen, die eine derartig schwierige Situation so fabelhaft gemeistert hätte wie Sie.«

 

Sie lächelte schwach und tastete mit der Hand nach dem Orden an ihrer Brust, denn sie war menschlich genug, sich über diese Auszeichnung und Ehrung zu freuen. Im Augenblick hatte sie vergessen, wie schwer man sie beleidigt hatte, und dachte nur an angenehme Dinge.

 

»Der junge Kelman ist ein alberner, nichtsnutziger Schlingel!« brüllte Lord Wadham. »Aber ich bin davon überzeugt, daß er von anderer Seite aus zu dieser Gemeinheit angestiftet worden ist. Diese Tynewood steckt dahinter! Ich sage Ihnen, das ist eine ganz gefährliche Frau.«

 

Er schimpfte noch eine Weile über Alma, und wenn seine Sprache auch nicht restlos salonfähig war, so nahm ihm Marjorie das im Moment nicht übel. Sie glaubte, daß er recht hatte, und sie war ihm dankbar, daß er sie verteidigte. Der Wagen hielt schließlich vor dem Haus, und Wadham begleitete sie noch bis zur Tür. Marjories gute Stimmung dauerte an, bis sie ins Wohnzimmer kam, aber als sie sich dann ganz allein fühlte, erschien ihr das Schicksal fast unerträglich. Sie sank in einen Sessel und war dem Zusammenbruch nahe.

 

Gerade in diesem Augenblick erschien Mrs. Stedman, die in ausgezeichneter Laune war.

 

»Nun, wie ist alles gegangen?« erkundigte sie sich eifrig. »Sicher hast du großen Erfolg in deinem Kleid gehabt. Ich hätte nur gewünscht, daß dein armer Vater dich noch so hätte sehen können. Persönlich finde ich allerdings die Zusammenstellung von Silber und Weiß nicht schön. Es ist ein wenig zu auffällig. Aber die jungen Mädchen sind ja heutzutage ganz anders als früher. Mein Gott, wenn ich an die Zeiten denke, als ich noch jung war! Ist der Prinz eigentlich nett zu dir gewesen?«

 

Marjorie erhob sich mühsam.

 

»Er hat mir diesen Orden überreicht«, sagte sie und zeigte ihrer Mutter die Dekoration.

 

Auf Mrs. Stedman machte diese Auszeichnung großen Eindruck.

 

»Das ist ja entzückend von dem Prinzen. Ist es Gold oder nur vergoldetes Messing? Dein armer Onkel John, der von dem Autobus überfahren wurde, besaß einen persischen Orden, den ihm der Schah verliehen hatte. Es war aber nur wertloses Zeug, einfach vergoldetes Blech.«

 

»Mutter«, sagte Marjorie und nahm den Orden ab, »ich werde mich verheiraten.«

 

Mrs. Stedman sah sie verblüfft an.

 

»Was sagst du da – du willst dich verheiraten?« erwiderte sie vorwurfsvoll. »Aber Liebling, davon hast du mir ja überhaupt noch nichts erzählt! Das mußt du doch schon gewußt haben! Ich habe dir doch immer gesagt, die beste Freundin eines jungen Mädchens ist seine Mutter, und deiner Mutter solltest du doch so wichtige Dinge zuallererst mitteilen.«

 

»Ich heirate Pretoria-Smith«, erklärte Marjorie rücksichtslos. »Er heißt aber nicht Smith, und ich weiß auch nicht, wer er eigentlich ist. Vielleicht war er früher in Südafrika ein Bankräuber oder ein Dieb oder etwas Ähnliches. Er ist sehr reich, und außerdem trinkt er.«

 

Mrs. Stedman sah ihre Tochter entsetzt an.

 

»Marjorie, du hast doch nicht etwa zuviel Alkohol getrunken? Mein armes Kind, das ist ja furchtbar. Das sollten junge Mädchen niemals tun. Als ich noch jung war, tranken wir zu dreien ein Glas Portwein, und ich muß sagen, das war eigentlich auch schon zuviel für mich, denn mein Kopf war nachher ganz benommen.«

 

Marjorie verließ das Zimmer rasch, kam aber gleich darauf mit dem Brief ihres Onkels zurück.

 

»Bitte, lies das einmal«, forderte sie ihre Mutter auf.

 

Mrs. Stedman sah ihre Tochter argwöhnisch an und nahm die Brille aus der Tasche.

 

»Willst du Lance heiraten?«

 

»Lance!« rief Marjorie so wütend, daß Mrs. Stedman entsetzt zurückfuhr.

 

»Ich begreife dich nicht. Er ist doch ein netter, lieber Junge«, erklärte die alte Frau.

 

»Lies erst den Brief, bevor du wieder sprichst. Ich werde noch verrückt, wenn du immer weiterredest.«

 

Mrs. Stedman hatte inzwischen die Brille aufgesetzt. Als sie zu Ende gelesen hatte, sah sie bleich aus.

 

»Aber natürlich wirst du doch den Wunsch deines Onkels erfüllen, mein Liebling. Du kennst diesen Herrn zwar nicht, aber ich bin fest davon überzeugt, daß dein Onkel nur eine sehr respektable Persönlichkeit für dich aussucht.«

 

»Meinst du?« entgegnete Marjorie bitter. »Diese Persönlichkeit ist so respektabel, daß sie heute abend während des Festessens in vollständig betrunkenem Zustand in den Saal kam und aussah wie ein Strauchdieb!

 

Ich weiß nicht, was der Prinz von allem gedacht haben muß. Denke dir, direkt vor unserem Tisch ist dieser Pretoria-Smith auf den Boden gefallen, Und kein anderer als der gemeine Lance Kelman hat ihn hereingebracht!«

 

»Der arme, gute Junge würde sich niemals derartig, skandalös benehmen, davon bin ich überzeugt. Aber du wirst doch Pretoria-Smith heiraten, nicht wahr?«

 

»Vermutlich.«

 

»Nun, das ist lieb von dir«, sagte Mrs. Stedman befriedigt, nahm ihre Brille ab und steckte sie in die Hülle. »Es mag dein Glück sein. Diese romantischen Eheschließungen geben meistens sehr glücklich aus.«

 

»Romantisch nennst du die Geschichte obendrein noch?« rief Marjorie verzweifelt. »Mutter, siehst du denn nicht, was eine solche Heirat für mich bedeutet? Ahnst du nicht, wie sehr ich darunter leide? Glaubst du vielleicht, ich habe diesen entsetzlichen Vorschlag meines Onkels mit leichtem Herzen angenommen, weil ich ihn für romantisch halte? Mein Leben lang werde ich unglücklich sein!«

 

»Warum tust du es dann?« fragte Mrs. Stedman mit weinerlicher Stimme. »Meinethalben kann man mich ja aus dem Hause weisen«, sagte sie und wischte sich eine Träne ab. »Mir soll es recht sein, wenn ich auf der Landstraße verhungern muß. Tue es nicht, wenn du dich so bitter darüber beschwerst. Ich will später keine Vorwürfe von dir hören, auf mich brauchst du keine Rücksicht zu nehmen! Ich bin ja sowieso in deinen Augen nichts.«

 

Und nun begann sie regelrecht zu schluchzen und preßte das Taschentuch vors Gesicht.

 

Glücklicherweise klopfte es in diesem Augenblick an die Tür. Marjorie hörte es, ebenso Mrs. Stedman, die sofort ihren Kummer vergaß.

 

»Ich möchte nur wissen, wer uns jetzt noch besucht?« fragte sie. »Es ist doch schon entsetzlich spät.«

 

Marjorie fürchtete, daß Pretoria-Smith zur Tür hereintreten würde, und mußte sich zusammennehmen, um nicht umzusinken. Aber als das Dienstmädchen verschlafen hereinkam und meldete, daß Lance Kelman die Damen zu sprechen wünsche, wich der Alpdruck von ihr.

 

Kapitel 16

 

16

 

Lance kam verstört und aufgeregt ins Zimmer.

 

»Marjorie«, begann er, »dieser Herzog hat mich ganz schamlos behandelt. Ich habe zwar nie etwas von königlichen Hoheiten gehalten, aber er –«

 

Sie brachte ihn durch eine energische Handbewegung zum Schweigen.

 

»Lance, du hast dich heute abend abscheulich benommen«, erwiderte sie ruhig. »Was dich dazu gebracht haben könnte, weiß ich nicht. Aber vielleicht war deine Eitelkeit verletzt, als du erfuhrst, daß ich einen anderen Mann heiraten würde. Bitte, unterbrich mich nicht«, fuhr sie mit erhobener Stimme fort, als er etwas sagen wollte. »Du hast mich vor der ganzen Gesellschaft beleidigt und lächerlich gemacht. In deiner kleinlichen, selbstsüchtigen Art hast du dir eingebildet, du könntest Pretoria-Smith in meinen Augen so herabsetzen, daß ich ihn ablehnen und dich heiraten würde. Aber ich sage dir nur das eine, Lance«, ihre Augen blitzten so gefährlich, daß er vor ihr zurückschrak, »ich heirate noch eher Pretoria-Smith oder zwanzig Leute wie ihn als einen Mann wie dich. Es ist ja möglich, daß er keine Erziehung genossen hat und es eben nicht besser versteht. Aber du hast auf der Universität studiert, und man hält dich im allgemeinen für einen Gentleman. Nur um deiner Eitelkeit zu frönen, hast du mich vor der ganzen Versammlung lächerlich gemacht. Du hast jedes Wort redlich verdient, das der Prinz zu dir sagte – und nun mach, daß du hinauskommst!«

 

Sie zeigte auf die Tür.

 

Lance Kelman machte noch den vergeblichen Versuch, etwas zu erwidern, aber dann entfernte er sich, und erst als er zu Hause angekommen war und im Bett lag, fiel ihm ein, was er eigentlich hätte sagen sollen.

 

*

 

Marjorie Stedman brachte eine schlaflose Nacht zu. Ruhelos warf sie sich von einer Seite auf die andere, und beim Morgengrauen saß sie in ihrem Kimono am Fenster, sah zum westlichen Himmel und beobachtete, wie die Sterne allmählich ihren Glanz verloren. Die Luft war wunderbar mild, und schwerer Blütenduft wurde vom Wind zu ihr hereingetragen. Sie fühlte sich nicht im mindesten müde. Die Stille der Morgenstunde stärkte und beruhigte sie, und allmählich zog wieder Friede in ihr zerrissenes Gemüt.

 

Von ihrem Zimmer aus konnte sie die Chaussee übersehen. Das eine Ende des Hauses lag nur zehn Meter von der hohen Hecke entfernt, die das Grundstück ihrer Mutter von der Landstraße trennte. Das Fenster gewährte Ausblick auf einen großen Teil des Weges, der von Tynewood zum Schloß, führte, und plötzlich entdeckte Marjorie einen Wanderer, der mitten auf der Straße näher kam. Sie dachte, es wäre ein Landarbeiter, der frühzeitig aufs Feld ging. Aber an seinen elastischen, schwingenden Schritten und an der Leichtigkeit, mit der er sich bewegte, erkannte sie bald, daß sie sich getäuscht hatte. Sie saß still und beobachtete ihn, bis er ganz nahe herangekommen war. Er trug den Hut in der Hand, und nun wußte sie, daß dort unten Pretoria-Smith ging. Er schien jetzt vollkommen nüchtern zu sein. Vielleicht machte er diesen Spaziergang in der Morgenluft, um seine heiße Stirn zu kühlen.

 

Er sah weder nach rechts noch nach links, und erst als er dicht vor ihrem Hause stand, schaute er auf. Sie hatte vom Fenster zurücktreten wollen, damit er sie nicht sehen sollte, aber seine unerwartete Bewegung überraschte sie. Auch er schrak offenbar zusammen, blieb, dann verlegen stehen und sagte etwas. Sie verstand nur die Worte »sehr leid«, dann sprang sie auf und schlug das Fenster geräuschvoll zu.

 

Pretoria-Smith zuckte die Schultern und ging weiter.

 

Unruhe und Angst hatten Marjorie wieder erfaßt. Sie warf sich aufs Bett und verbarg das Gesicht in den Armen. Aber sie war so traurig, daß sie nicht weinen konnte. Diesen Mann sollte sie doch heiraten! Es war töricht und schlecht von ihr gewesen, ihn so zu behandeln und sich ihm gegenüber so feindselig zu verhalten.

 

Mit diesem Mann sollte sie zusammenleben. Sie fuhr schaudernd zusammen und zog die Daunendecke höher.

 

Schließlich fiel sie doch in Schlaf und wachte an diesem Morgen erst um zehn Uhr auf. Sie badete, zog sich langsam an und ging dann die Treppe hinunter.

 

Mrs. Stedman saß im Wohnzimmer, hatte ein Buch in der Hand und rauchte eine Zigarette. Diese Gewohnheit hatte sie erst angenommen, nachdem sie die Bekanntschaft der Lady Tynewood gemacht hatte, Marjorie fühlte sich nicht wohl, aber sie mußte doch heimlich lächeln. Sie wußte, daß ihre Mutter nur rauchte, wenn sie etwas Unangenehmes erlebt hatte.

 

»Bist du schon auf, mein Liebling?« bemerkte Mrs. Stedman unnötigerweise. »Es sind einige Briefe für dich gekommen.«

 

Marjorie warf einen gleichgültigen Blick auf die Post.

 

»Hast du schon gefrühstückt?«

 

»Ja, ich habe mir Kaffee nach oben bringen lassen«, erwiderte Marjorie kurz und beschloß, der Sache sofort auf den Grund zu gehen. »Was ist denn los, Mutter?«

 

»Ach, es ist entsetzlich«, klagte die alte Frau nervös. »Ich habe einen Brief von Alma bekommen – sie schreibt sehr liebenswürdig – aber – sie – sie –«

 

»Sie will ihr Geld haben – das wolltest du doch sagen?«

 

Es hatte sich aber auch alles gegen sie verschworen – alles.

 

Selbst wenn sie nach dieser fürchterlichen Szene am vergangenen Abend ihre Meinung doch noch hätte ändern wollen, hätte die erneut verschärfte Lage sie gezwungen, davon abzusehen. Sie konnte ihrem grauenvollen Geschick nicht mehr entgehen.

 

»Ja, sie will das Geld haben«, sagte Mrs. Stedman unsicher. »Alma hat natürlich auch viele Ausgaben, und gerade im Augenblick ist ihr etwas Unerwartetes dazwischengekommen. Ich will dir den Brief vorlesen, wenn es dir recht ist.«

 

»Nein, mache dir weiter keine Mühe. Ich weiß doch schon im voraus, was diese Lady Tynewood zu sagen hat. Vergiß nicht, daß ich in der letzten Zeit an Tausende von Leuten um Geld geschrieben habe, als ich für den Unterstützungsfonds sammelte. Ich bin im Bilde darüber, was man in solchen Fällen zu schreiben pflegt.«

 

»Aber Alma hat doch eine große Summe für deinen Fonds gezeichnet«, entgegnete Mrs. Stedman vorwurfsvoll. »Sie war wirklich großzügig.«

 

»Ja, sie hat hundert Pfund gezeichnet und so getan, als ob sie tausend gegeben hätte«, erwiderte Marjorie bitter. »Und sie würde ihre hundert Pfund am liebsten wieder zurücknehmen, wenn sie könnte. Wann sollst du ihr denn das Geld zurückzahlen?«

 

»Nächsten Montag. Es ist ganz furchtbar, daß ich meine eigene Tochter bitten muß, mir in dieser Sache zu helfen«, jammerte Mrs. Stedman wieder unter Tränen. »Ich dachte schon, daß ich die ganze Sache arrangieren könnte, ohne dir etwas davon zu sagen, denn gestern nachmittag hatte ich beim Spiel wirklich Glück.«

 

»Was, gespielt hast du auch wieder? Aber Mutter, wie konntest du das nur tun!«

 

»Warum soll ich denn nicht spielen?« begehrte Mrs. Stedman auf. »Du lieber Himmel, man sollte fast glauben, ich wäre nicht mehr imstande, mich um mich selbst zu kümmern.«

 

Marjorie seufzte, trat ans Fenster und sah in den Garten hinaus, um ruhiger zu werden. Nach einer Weile wandte sie sich wieder um.

 

»Wie schnell kann man heiraten?«

 

»Wie schnell?« wiederholte Mrs. Stedman. »Ich weiß nicht, wie lange es dauert, bis die Schneiderin deine Kleider gemacht hat –«

 

»Ich denke jetzt nicht an die Schneiderin. Ich denke an eine Heirat. Wie lange vorher muß man das Aufgebot bestellen, bis die Zeremonie selbst stattfinden kann?«

 

»Wenn du natürlich eine besondere Erlaubnis bekommst aber ich halte nichts von diesen überstürzten Trauungen –, kann man die Sache beschleunigen. In ein oder zwei Tagen läßt sich alles erledigen.«

 

Marjorie lachte verächtlich.

 

»Es bleibt doch gar nichts anderes übrig, als die Trauung zu beschleunigen. Telefoniere bitte an Rechtsanwalt Curtis, daß er diese Sondererlaubnis beschafft.«

 

Mrs. Stedman schaute ihre Tochter betroffen an.

 

»Du schuldest doch nicht am Ende Mr. Curtis auch Geld?« fragte Marjorie schnell.

 

»Mein Liebling, die letzten Hypothekenzinsen –«, stammelte die alte Frau. »Ich habe dir doch gestern gesagt, daß ich Hypotheken aufgenommen habe.«

 

»Sind vermutlich nicht bezahlt.« Marjorie schüttelte den Kopf.

 

»Aber ich kann die Sache natürlich arrangieren«, erklärte Mrs. Stedman plötzlich mit Würde. »Ich werde mit Mr. Curtis sprechen und ihm meine Wünsche auseinandersetzen.«

 

Sie ging zum Schreibtisch und griff nach einem Blatt Papier.

 

»Marjorie Mary Stedman«, sagte sie laut, während sie schrieb, »Tochter von Maud und John Francis Stedman.« Plötzlich drehte sie sich um. »Wie heißt dein Verlobter?« fragte sie so gleichgültig, als ob eine so phantastische Eheschließung etwas Alltägliches wäre.

 

»Wie mein Verlobter heißt?« wiederholte Marjorie und atmete schwer. »Das weiß ich nicht.«