Kapitel 16

 

Kapitel 16

 

In der Umgebung von Lady’s Stairs verbreitete sich das Gerücht mit Windeseile. Li Yoseph war zurückgekommen!

 

Jedermann wußte nun, warum die Nachforschungen nach ihm eingestellt worden waren. Wie ähnlich sah es dem alten Li, der Polizei soviel Umstände zu machen und bis zur letzten Minute zu warten, bis er sich wieder zeigte!

 

Niemand hatte ihn bisher gesehen, aber die etwas unordentliche Mrs. Shiffan, die ihm früher den Haushalt besorgt und allerlei Botengänge für ihn gemacht hatte, war mit ihrem Mann nach Lady’s Stairs gekommen und hatte feierlich die Tür geöffnet. Am Abend vorher hatte man ihnen die Schlüssel mit einer schriftlichen Mitteilung zugeschickt, daß sie die Wohnung in Ordnung bringen sollten.

 

Mr. Shiffan, der häufig im Gefängnis gesessen hatte, wurde plötzlich ein Mann von Bedeutung; aber auch er konnte nach seiner Rückkehr von Lady’s Stairs nichts Näheres über Li Yoseph berichten.

 

Ann Perryman war nicht im mindesten über das Auftauchen Li Yosephs bestürzt, im Gegenteil, sie interessierte sich lebhaft für ihn; aber zu ihrem größten Erstaunen hatte sie beobachtet, welch sonderbare Wirkung das Wiedererscheinen dieses Mannes auf Mark McGill und Tiser ausübte. Mark war in düsterer Stimmung, brütete vor sich hin und sprach kaum. Als sie einmal zu ihm hinüberging, sah sie im Kamin einen Aschenhaufen verbrannten Papiers.

 

Tiser war ja schon immer aufgeregt gewesen. Er war niemals ganz nüchtern und niemals richtig betrunken; aber seine Äußerungen waren jetzt zusammenhangloser und verwirrter denn je.

 

Es war eigentlich kein besonderer Grund für Marks schlechte Laune vorhanden, denn die ihm unmittelbar drohende Gefahr war vorübergegangen. Durch einen unverhofften Glückszufall war es ihm gelungen, einen Insassen des Versorgungsheims zu bestimmen, den gefährlichen Transport nach Bristol zu übernehmen. Der Mann fuhr gerade rechtzeitig ab – eine halbe Stunde später kam die Polizei und durchsuchte die Garage bis in den letzten Winkel.

 

Mark rühmte sich, daß er eiserne Nerven besitze; aber Bradleys Hartnäckigkeit hatte seine Kraft doch bis zu einem gewissen Grad erschüttert, und nach Li Yosephs Rückkehr erkannte er, wie ernst seine Lage geworden war. Er hatte ihn seit jenem Abend, an dem er so plötzlich in seiner Wohnung erschienen war, um gleich wieder zu verschwinden, nicht mehr gesehen. Auch in Lady’s Stairs hatte er nur Mr. und Mrs. Shiffan angetroffen, die mit der Reinigung der Wohnung und den Vorbereitungen für den Einzug des alten Mannes beschäftigt waren.

 

»Gebranntes Kind scheut das Feuer, mein guter Mark«, sagte Tiser mit zitternder Stimme. »Du glaubst doch nicht, daß er dir noch einmal Gelegenheit geben wird, ihn umzulegen!«

 

»Li Yoseph steckt mit Bradley unter einer Decke«, erwiderte Mark rauh. »Wenn du das nicht glaubst, wirst du noch sehen, was uns bevorsteht. Er hat Bradley alles erzählt!«

 

»Aber warum läßt Bradley dich nicht wegen versuchten Mordes verhaften?«

 

»Er will mich wegen Ronnie an den Galgen bringen – das ist doch ganz klar. Außerdem genügt das Zeugnis Li Yosephs nicht, um mich zu überführen. Er wartet, bis er noch einen anderen Verräter findet.«

 

Sein scharfer Blick durchbohrte Tiser, und ein sonderbarer Ausdruck erschien auf seinem Gesicht.

 

»Aber du kannst dich beruhigen, sie werden dein Zeugnis nicht annehmen«, sagte er höhnisch. »Den Gedanken kannst du dir aus dem Kopf schlagen.«

 

»Ich schwöre dir …«, begann Tiser.

 

Aber Mark unterbrach ihn sofort.

 

»Das ist die einzige Genugtuung, die ich habe, daß du nichts gegen mich machen kannst. Wenn schon gehenkt werden soll, so werden wir beide zum Galgen gehen – um Mr. Steen zu treffen.«

 

Tiser zitterte.

 

»Ich wünschte nur, du würdest nicht so leichtsinnig reden«, wimmerte er. »Wozu sprichst du immer vom Galgen? – Was sagt eigentlich Ann dazu, daß Li Yoseph wieder da ist?«

 

Mark schwieg. Ann hatte sich kaum darüber geäußert, aber ihre Haltung sagte ihm genug.

 

»Du glaubst doch nicht; daß sie – schwach wird?« fragte Tiser ängstlich. Dann dachte er einen Augenblick nach. »Ich hatte schon die Idee …«

 

»Das erstemal, daß ich einen eigenen Gedanken von dir höre«, erwiderte Mark unfreundlich. »Du denkst natürlich an Ann – und Bradley?«

 

Tiser nickte.

 

»Du nimmst doch nicht etwa an, daß sie in ihn verliebt ist?« brummte Mark.

 

Zu seinem größten Erstaunen bejahte Tiser.

 

»Glaubst du wirklich, daß Ann ihn liebt? Und daß er es weiß?« fragte er bestürzt.

 

Tiser ging zur Tür und schaute hinaus. Als niemand zu sehen war, schlich er auf Zehenspitzen zu Mark zurück, der diese Geheimnistuerei zur Genüge kannte.

 

»Ist es dir schon einmal aufgegangen, daß Ann eventuell für uns von größtem Wert sein kann?«

 

McGill wandte sich plötzlich zu Tiser und sah ihn kalt an.

 

»Natürlich – daran habe ich nie gezweifelt. Vor allem, wenn sie ihren Führerschein wieder hat.«

 

Tiser zog einen Stuhl an den Tisch heran und setzte sich.

 

»Wir wollen einmal scharf nachdenken.«

 

Mit einer Handbewegung forderte er Mark auf, ebenfalls Platz zu nehmen.

 

Seine Geste war im Augenblick so befehlend, daß Mark ihm verwirrt gehorchte. Erst als er in dem Sessel saß, kam ihm zu Bewußtsein, daß er zum erstenmal in seinem Leben unter Tisers Einfluß gehandelt hatte. Er war bestürzt und ärgerlich über sich selbst.

 

»Na, was hast du denn für eine große Idee?« fragte er unfreundlich.

 

Tiser sah an ihm vorbei.

 

»Bradley leistete fast einen Meineid, um Ann zu retten, aber ein schweres Verbrechen könnte er nicht verheimlichen.«

 

Mark betrachtete ihn unter halb gesenkten Augenlidern.

 

»Ich weiß nicht recht, worauf du hinauswillst.«

 

Tiser lächelte bedrückt und unterwürfig.

 

»Wir können doch unserem Freund Bradley eine Beschäftigung geben, die ihn vollständig in Anspruch nimmt, so daß er keine Zeit mehr für uns hat. Ich will nicht im geringsten etwas vorschlagen, was Ann schaden oder sie in irgendeine Gefahr bringen könnte, aber nimm einmal an, – ich meine, du sollst es nur einmal annehmen, mein lieber Mark –, gegen Ann Perryman würde eine andere Anklage erhoben werden … eine sehr ernste, schwere, und er müßte gegen seinen Willen selbst als Zeuge gegen sie auftreten – weil sie im Verdacht steht, einen Mord begangen zu haben.«

 

Mark erhob sich schnell.

 

»Was soll denn das heißen?« fragte er rauh. »Ann Perryman hat doch niemand ermordet …«

 

Aber im selben Augenblick erkannte er, wie unheimlich rasch Tiser manchmal denken konnte.

 

»Ann ist eine Last für uns«, fuhr Tiser fort. »Ich glaube, sie war in der letzten Zeit nicht sehr liebenswürdig zu dir – es wird wohl früher oder später zu einem Bruch mit ihr kommen …«

 

»Woher willst du das wissen?«

 

»Ich sehe manche Dinge, die bestimmt kommen werden. Sie kann auch noch recht gefährlich für uns werden. Wäre es da nicht besser, wenn wir …«, er sprach nicht weiter, machte nur eine vielsagende Geste und zuckte die Schultern.

 

Mark starrte ihn entsetzt an.

 

»Du möchtest also Bradley erledigen – und du erwartest, daß ich Ann zu diesem Zweck opfere?«

 

Tiser nickte.

 

»Überlege dir einmal«, fuhr er langsam fort, »daß sie wegen einer schweren Sache vor Gericht stand. Sie ist seit der Zeit unter Verdacht. Bradley war damals ihr Hauptankläger, und das brach ihm fast das Herz. Ich glaube nicht, daß er diese Tatsache geheimhalten konnte.«

 

Mark wandte keinen Blick von Tiser.

 

»Hast du dir etwa wieder einen so dummen Mordplan zurechtgelegt?« fragte er ironisch. Er dachte schnell nach.

 

»Ich glaube, daß ich dir eine bessere Lösung vorschlagen kann«, sagte er nach einiger Zeit. »Ich weiß einen viel wichtigeren Todeskandidaten.«

 

Die beiden trennten sich mit einem vielsagenden Blick.

 

Mark trat in sein Schlafzimmer und wickelte einen großen Verband um seine rechte Hand. Dann ging er über den Flur und klopfte an Anns Tür. Sie öffnete ihm selbst.

 

»Was haben Sie denn mit Ihrer Hand gemacht?«

 

»Ach, es ist nichts Besonderes. Ich war eben in der Garage und habe mir an der Tür die Hand gequetscht. Aber ich bin natürlich sehr behindert. Würden Sie wohl so liebenswürdig sein, einige Briefe für mich zu schreiben? Ich habe ein oder zwei dringende Sachen zu erledigen.«

 

Sie zögerte einen Augenblick. Ihr natürliches Mitgefühl drängte sie, ihm zu helfen, aber ihr ebenso natürlicher Argwohn hielt sie zurück.

 

»Ich kann leider nicht Schreibmaschine schreiben.«

 

»Das macht nichts. Es sind nur zwei kurze Mitteilungen zu schreiben. Ich bin wirklich in großer Verlegenheit.«

 

»Natürlich werde ich Ihnen helfen, Mark«, sagte sie und folgte ihm in seine Wohnung.

 

Der erste Brief, den er langsam diktierte, war an einen Mann in Paris gerichtet. Mark bat ihn, seinen Besuch zu verschieben.

 

Ann legte den nächsten Bogen auf die Schreibunterlage.

 

»Ich möchte nicht zu Tiser gehen. Telefonieren kann ich auch nicht, weil unser Freund Bradley wahrscheinlich alle meine Gespräche abhören läßt. Also muß ich an ihn schreiben. Überschrift: ›Mein lieber Freund‹ …«

 

Ann schrieb:

 

›Ich habe Ihnen eine sehr wichtige Sache mitzuteilen und möchte Sie heute abend um elf Uhr im Park gegenüber von Queen’s Gate sprechen. Kommen Sie, bitte, allein.‹

 

»Unterschrift brauchen wir nicht, er weiß genau, von wem die Nachricht kommt.«

 

Sie reichte ihm das Schreiben, und er las es durch, ohne auch nur im geringsten das Gefühl der Genugtuung zu verraten, das er empfand. Bradley würde ihre Handschrift sofort erkennen.

 

Kapitel 17

 

Kapitel 17

 

Ann Perryman hatte nicht zum erstenmal Briefe für Mark geschrieben. Er haßte die Arbeit, konnte aber eine Stenotypistin nicht anstellen.

 

Ann hatte sich während ihrer erzwungenen Untätigkeit sogar über diese Beschäftigung gefreut. Mark hatte ihr einen großen Teil der Korrespondenz übergeben, der harmlosere Geschäftsvorgänge betraf. Er hatte seine Laufbahn als Schmuggler zweifelhafter Artikel begonnen und gut daran verdient. Erst in neuerer Zeit hatte sich daraus der Handel mit Rauschgift entwickelt. Aber nun war Mark durch seine Erfolge ein wenig fahrlässig geworden.

 

Er selbst war der erste, der das erkannte. Er gab sich keinen Illusionen hin; er wußte, daß die Polizei ihre Nachforschungen mit unendlicher Geduld fortsetzte und daß buchstäblich das Netz um ihn gewoben wurde. Man war offenbar gar nicht darauf bedacht, ihm eine Falle zu stellen und ihn zu fangen, aber er wußte genau, daß er im Augenblick schon nahezu wie ein Gefangener behandelt wurde. Er hatte seinen Paß zur Erneuerung eingesandt und daraufhin die kurze Mitteilung erhalten, daß ihm das Dokument wegen gewisser Unklarheiten erst mit einiger Verspätung zugesandt werden könne. An und für sich war das für Mark kein großes Unglück, denn er besaß noch mehrere andere Pässe auf verschiedene Namen. Aber dieser Vorfall zeigte ihm, daß ein Versuch von seiner Seite, England zu verlassen, die schwersten Folgen für ihn hätte.

 

Ann Perryman wurde mit der Zeit eine immer größere Gefahr – er mußte sich von ihr befreien.

 

Und doch fühlte Mark keinen Haß gegen die Frau, deren Leben er aufs Spiel setzen wollte. Böswilligkeit gegen Ann hatte ihn nicht zu dem Plan getrieben, den er so kaltblütig überlegte. Sie war für ihn nur eine Schachfigur, die er opferte, um Vorteile zu gewinnen. Die Leidenschaft für Ann, die damals so plötzlich in ihm aufflammte, war längst wieder erloschen.

 

Er faltete den Brief zusammen und steckte ihn in einen Umschlag, den er mit großer Sorgfalt an »Inspektor Bradley, Scotland Yard« adressierte. Dann fuhr er in einem Taxi nach West End und warf den Brief auf dem Postamt von Charing Cross in den Kasten.

 

Es war kaum eine halbe Stunde vergangen, seitdem Ann den Brief geschrieben hatte. Sie wollte sich eben zum Ausgehen umziehen, als plötzlich das Telefon läutete. Sie war sehr verwundert, als sie Tisers Stimme hörte. Er hatte sie früher nur ein einziges Mal angerufen. Wie gewöhnlich sprach er aufgeregt und unverständlich, so daß sie ihn bitten mußte, seine Worte zu wiederholen.

 

»… nach Bristol. Wollen Sie so liebenswürdig sein und Mark sagen, daß ich den ersten Zug versäumt habe, daß ich aber morgen gegen Mittag fahren werde. Ich habe vergeblich versucht, ihn telefonisch zu erreichen. Legen Sie ein gutes Wort für mich ein, Sie wissen doch, daß Mark so schrecklich leicht aufbraust.«

 

»Wußte er denn, daß Sie nach Bristol fahren wollen?«

 

»Aber selbstverständlich – er hat mir doch den Auftrag dazu gegeben«, erwiderte Tiser nervös. »Ich versprach ihm, mit dem ersten Zug zu fahren …«

 

»Kommen Sie heute abend zurück?« unterbrach sie ihn.

 

»Nein, erst morgen abend – ich wollte so gern heute zurückkommen, aber Mark … nun ja, Sie kennen ihn doch. Gibt es irgend etwas Neues? Ich bin so niedergeschlagen, meine Nerven sind am Ende. Könnten Sie nicht einmal mit Mr. Bradley sprechen und ihn davon überzeugen, daß das Versorgungsheim eine ganz harmlose Sache ist? Die Polizei verfolgt diese armen, unglücklichen Leute in der letzten Zeit mit einem Haß, den ich überhaupt nicht mehr verstehen kann. Auch dieser Sedeman macht uns viel zu schaffen. Manchmal kommt mir der Gedanke, daß er tatsächlich ein Polizeispitzel ist. Wollen Sie Mark meine Bestellung ausrichten?«

 

Bevor sie etwas erwidern konnte, hatte er schon eingehängt. Ann setzte sich an ihren Schreibtisch und dachte angestrengt nach. Mark wußte also, daß Tiser verreisen wollte und an diesem Abend nicht in London sein würde. Warum hatte er sie dann diese Mitteilung schreiben lassen – und warum vor allem hatte er diesen unmöglichen Tiser mit »Mein lieber Freund« angeredet? Sie wußte, daß die Beziehungen zwischen den beiden gespannt waren; außerdem machte Mark keine unnötigen Komplimente.

 

Es fiel ihr auch ein, daß Mark noch niemals an Tiser geschrieben hatte. Und wenn er überhaupt schrieb, warum vereinbarte er dann eine Zusammenkunft im Hydepark? Für die Polizei war es doch kein Geheimnis, daß Tiser häufig zu Mark kam und mit ihm in Verbindung stand.

 

Ann grübelte lange Zeit über diesen Fall nach, aber schließlich faßte sie einen Entschluß und ging in die andere Wohnung hinüber. Mark war nicht zu Hause, wie ihr der Diener sagte. Sie trat in das Wohnzimmer ein. Auf dem Schreibtisch lagen Briefpapier und Umschläge; aus dem Papierkorb schaute ein zerrissener Umschlag hervor. Sie zog ihn heraus und las in Marks Handschrift das Wort »Inspektor« darauf. Mark hatte ihn anscheinend nicht benutzt, weil ein Klecks darauf gekommen war.

 

Verwirrt schaute sie auf das Kuvert, und plötzlich fand sie die richtige Lösung. Er hatte den Brief, den sie geschrieben hatte, an Inspektor Bradley geschickt! Sie versuchte verzweifelt, sich jedes Wort ins Gedächtnis zurückzurufen, aber sie hatte der Mitteilung so wenig Beachtung geschenkt, daß sie nur noch den allgemeinen Inhalt wußte. Bradley würde ihre Handschrift wiedererkennen, sie hatte ja schon mehrere Briefe mit ihm gewechselt. Sicher würde er zu der bezeichneten Stelle kommen, da er doch annehmen mußte, daß sie ihm etwas mitzuteilen hatte. Aber warum wollte Mark ihn dorthin bringen? Ein Schauer überlief sie bei diesem Gedanken.

 

Als sie in ihre Wohnung zurückkam, klingelte das Telefon wieder. Tiser meldete sich, und seine Stimme klang schrill vor Angst.

 

»Sind Sie es, meine liebe Miss Perryman? Ich fahre nicht nach Bristol – mein Gedächtnis ist einfach fürchterlich in der letzten Zeit. Ich habe mich eben daran erinnert, daß Mark mir heute einen Brief schicken wollte – und zwar einen sehr wichtigen.«

 

Ein schwaches Lächeln spielte um Anns Lippen.

 

»Wann haben Sie sich denn daran erinnert«, fragte sie. »Er ist doch nicht etwa selbst …«, noch rechtzeitig hielt sie inne.

 

»Erst vor ein paar Minuten. Sie brauchen Mark auch nichts davon zu sagen. Ich werde einen anderen Mann schicken.«

 

Sie lächelte immer noch ein wenig bitter, als sie den Hörer einhing. Mark mußte in der Herberge gewesen sein, um sich zu erkundigen, ob Tiser abgereist war. Er hatte dann von ihm erfahren, daß er mit ihr telefoniert hatte. Auf diese Weise ließ sich Tisers Aufregung erklären.

 

Die Gefahr, in der sie selbst schwebte, kam ihr nicht zum Bewußtsein. Sie dachte überhaupt nicht daran, daß ihr Brief im Besitz des ermordeten oder schwerverletzten Bradley ein erdrückend belastendes Zeugnis gegen sie sein mußte. Sie sah im Augenblick nur die Gefahr, die Bradley drohte, und ließ sich in ihrer großen Sorge mit Scotland Yard verbinden.

 

Aber Bradley war nicht anwesend; sie konnte nur mit seinem Sekretär sprechen.

 

»Wollen Sie ihm bitte bestellen, daß er mich anrufen möchte, sobald er zurückkommt?« Sie gab ihre Adresse und Nummer an.

 

»Es ist gut, Miss Perryman, ich werde Ihren Auftrag ausrichten.«

 

Es war schon Nachmittag, als ihr zum Bewußtsein kam, daß sie seit dem Frühstück noch nichts zu sich genommen hatte, und sie bereitete sich selbst ein einfaches Mittagessen. Sie hatte ihr Dienstmädchen bereits entlassen und versah ihren Haushalt selbst. Die beiden letzten Tage hatte sie nach einer neuen Wohnung gesucht, denn es stand nun bei ihr fest, daß sie mit Mark McGill und seinen Leuten brechen mußte.

 

Sie besaß noch etwas bares Geld. Mark hatte sie gut bezahlt, aber sie hatte keine großen Ersparnisse zurückgelegt. Sie konnte ja ihren früheren Beruf wieder ausüben. An jenem Abend, an dem Li Yoseph in Marks Wohnung aufgetaucht war, hatte sie einen Brief an ihre alte Schule in Auteuil geschrieben und angefragt, ob sie dort wieder eine Stellung haben könne. Man hatte ihr auch geantwortet; aber der Direktor war auf einer Ferienreise nach Südfrankreich, und sie mußte warten, bis er zurückkam und ihr Bescheid gab.

 

Es wurde vier Uhr – Bradley hatte sich noch nicht gemeldet. Um sechs Uhr rief sie Scotland Yard noch einmal an, konnte aber weder Bradley noch seinen Sekretär erreichen. Der Inspektor war anscheinend im Büro gewesen, um seine Briefe zu holen. Sie fragte, wo er jetzt zu treffen sei, aber das konnte oder wollte man ihr nicht mitteilen. Sie erhielt nur zur Antwort, daß Bradley einige Minuten in seinem Zimmer gewesen sei. Ihre Botschaft war ihm wohl nicht übermittelt worden.

 

Die Stunden vergingen, und Ann wurde immer besorgter.

 

Um halb elf zog sie Mantel und Hut an und verließ die Wohnung. Auf der Treppe begegnete sie Mark.

 

»Wo wollen Sie denn hingehen?« fragte er erstaunt.

 

»Ich möchte noch einen kleinen Spaziergang machen.«

 

»Ich werde Sie begleiten«, bot er ihr an.

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Ich möchte gern allein sein, Mark«, antwortete sie.

 

Ihre offensichtlich gute Stimmung täuschte ihn, und die Tatsache, daß sie um diese Zeit ausgegangen war, konnte seinen eigenen Plan nur unterstützen.

 

»Sehen Sie aber zu, daß Ihnen nichts passiert«, sagte er in guter Laune.

 

Viertel vor elf erreichte Ann Queen’s Gate. Als sie an das Parktor kam, hörte sie das Hupen eines Krankenautos, und ihre Unruhe wuchs.

 

Sie sah die Gestalt eines Mannes – es war der Parkwächter. Er kam langsam auf sie zu und betrachtete sie argwöhnisch.

 

»Hat es hier – eben einen Unfall gegeben?« fragte sie leise.

 

»Ja, Miss, in der Nähe des Marble Arch wurde ein Mann niedergeschlagen. Aber ich glaube kaum, daß er schwer verletzt worden ist.«

 

Sie nickte nur dankbar, denn sie war so aufgeregt, daß sie im Augenblick nicht sprechen konnte. Dann überquerte sie die Straße.

 

Es war nur ein Fußgänger zu sehen. Er ging vorüber und sah sie von der Seite an. Wahrscheinlich hätte er sie angesprochen, wenn sie sich nicht hastig abgewandt hätte und weitergegangen wäre.

 

Von welcher Seite mochte Bradley wohl kommen? Und woher drohte das Unheil? Gefahr war im Anzug – davon war sie überzeugt.

 

Ein Polizist kam aus der Dunkelheit auf sie zu. Bei seinem Anblick fühlte sie sich sehr erleichtert und war nicht einmal böse darüber, daß er sie ansprach und ausfragte.

 

»Sie sollten eigentlich nicht um diese Zeit hier allein im Park sein, Miss.«

 

»Ich erwarte – einen Freund«, erwiderte sie heiser.

 

Sie fühlte, daß er sie durchdringend anschaute und konnte vermuten, was er von ihr dachte.

 

Aber plötzlich kam ihr ein guter Gedanke.

 

»Ich warte hier auf Detektivinspektor Bradley von Scotland Yard«, sagte sie etwas atemlos.

 

Ihre Worte machten Eindruck auf den Mann.

 

»Ach so – das ist natürlich etwas anderes.«

 

»Es wäre mir sehr lieb, wenn Sie bei mir blieben, bis er kommt. Ich – ich möchte ihn warnen. Ich fürchte, daß ein Angriff auf ihn geplant ist.«

 

Der Polizist betrachtete sie etwas näher.

 

»Ich habe Sie doch schon gesehen – sind Sie nicht die junge Dame, die vor einigen Wochen angeklagt war? Ich war damals zufällig auch in einer anderen Sache als Zeuge vorgeladen. Sind Sie nicht Miss Perryman?«

 

»Ja.«

 

Er sah von ihr zu dem Parktor und schien unentschlossen zu sein.

 

»Weiß Mr. Bradley, daß Sie kommen wollen?«

 

»Ja – ich nehme es an.«

 

In diesem Augenblick trat ein Mensch durch das Tor, und sie eilte ihm entgegen.

 

»Sie wollten mich sprechen«, fragte Bradley schnell. »Was gibt es denn? Ich habe Ihren Brief erst um halb elf bekommen, als ich zurückkam. Ich habe Sie angerufen, aber Sie waren schon fortgegangen.«

 

Er entdeckte den Polizisten.

 

»Was will der Mann?«

 

Sie erklärte ihm ein wenig zusammenhanglos, warum sie gekommen war. »Ich bat ihn, bei mir zu bleiben. Ich dachte, Sie hätten vielleicht Hilfe nötig«, sagte sie schließlich.

 

»Sie haben also den Brief nicht an mich geschickt?«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»War es McGill?«

 

Diese Frage beunruhigte sie. Bis dahin hatte sie nicht daran gedacht, daß sie durch ihre Handlungsweise Mark sehr schaden konnte, was durchaus nicht in ihrer Absicht lag.

 

»Ich weiß nur, daß ich die Mitteilung geschrieben habe. Und dann kam mir plötzlich der Gedanke, Sie könnten annehmen, ich hätte den Brief an Sie gerichtet.«

 

»Das habe ich auch wirklich getan«, sagte er lächelnd.

 

Er sah sich auf der verlassenen Straße nach beiden Seiten um.

 

»Sergeant, gehen Sie dort hinunter und halten Sie sich bereit, mir zu helfen, wenn es nötig ist. Sie wissen, wer ich bin?«

 

»Ja, ich kenne Sie, Inspektor Bradley.«

 

»Gut!« Der Detektiv lächelte. »Ich weiß zwar noch nicht, wie Sie mir helfen könnten … doch, suchen Sie einmal die Gegend hinter meinem Rücken ab, und sehen Sie zu, ob nicht jemand im Grase liegt.«

 

Der Polizist verschwand.

 

»Was soll ich nun mit Ihnen anfangen, Miss Perryman?«

 

»Glauben Sie, daß Gefahr besteht?«

 

»Ja, davon bin ich überzeugt. McGill wußte natürlich, daß ich Ihre Handschrift wiedererkennen würde – und er wußte auch, wie ich zu Ihnen stehe, Ann.«

 

Sie ging nicht auf seine Worte ein.

 

»Soll ich fortgehen?« fragte sie. »Vielleicht kann ich noch einen anderen Polizisten zu Ihrer Unterstützung finden?«

 

In diesem Augenblick schlug eine Kirchenuhr in der Nähe elf.

 

»Ich fürchte, es ist zu spät dazu«, sagte Bradley.

 

Er faßte in seine Hüfttasche und zog eine Pistole heraus. Als er sich nach links umsah, bemerkte er die abgeblendeten Lichter eines Autos, das auf der Mitte der Straße fuhr, in Richtung des Tors, Von dorther mußte die Gefahr kommen. Er rief laut nach dem Polizisten, wandte sich dann zu Ann, ergriff sie am Arm und zog sie halb über das niedrige Gitter, das den Rasen vom Fußpfad trennte.

 

»Legen Sie sich ganz flach auf den Boden!« befahl er.

 

Im nächsten Augenblick lag sie schon auf dem Boden und fühlte den feuchten Tau in ihrem Gesicht. Sie konnte den Wagen sehen. Er fuhr jetzt mit erhöhter Geschwindigkeit und lenkte plötzlich zu der Stelle, wo Bradley stand.

 

Dann fielen kurz hintereinander drei oder vier Schüsse. Ann hörte das Pfeifen und Heulen der Geschosse, die dicht über sie hinwegflogen und sich hinter ihr in die Erde bohrten. Signalpfeifen schrillten, und der Wagen verschwand aus ihrem Gesichtskreis.

 

Jetzt schoß Bradley. Leute eilten herbei.

 

»Stehen Sie auf und gehen Sie nach Haus!« rief Bradley Ann zu.

 

Als sie sich wieder aufgerichtet hatte, war er verschwunden.

 

Überall ertönten Alarmsignale. Als Ann über die Straße eilte, lief sie dem Parkwächter gerade entgegen. Er berichtete über den Vorfall.

 

»Der Wagen fuhr wie der Blitz durch das Tor, beinahe wäre er von einem großen Autobus über den Haufen gerannt worden … Haben Sie gesehen, wie sie geschossen haben?«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Wo ist Mr. Bradley?«

 

»War das der Mann, der hinter den Leuten her war? Er ist in ein Auto gesprungen und verfolgte sie.«

 

In demselben Augenblick kam auch der Polizist, mit dem sie vorher gesprochen hatte, atemlos und aufgeregt an.

 

»Jemand hat vom Wagen aus auf ihn geschossen – wo waren Sie denn, Miss?«

 

Sie sagte ihm, daß sie im Gras gelegen habe.

 

Der Beamte erinnerte sich plötzlich an seine Pflicht.

 

»Es tut mir leid, aber ich muß Ihren Namen und Ihre Adresse notieren.« Er schien sich wohler zu fühlen, nachdem er ihre Angaben in ein großes Notizbuch eingetragen hatte. Aber er wußte nicht genau, ob er sie nun gehen lassen durfte. Schließlich überredete ihn aber Ann, und er ließ sie nach Hause zurückkehren. Fast eine Stunde lang saß sie in einem Sessel und versuchte, das Chaos ihrer Gedanken zu ordnen.

 

Die Glocke an der Haustür schlug an. Ann erschrak. Das mußte Mark sein – sie würde ihm alles sagen müssen …

 

Aber es war Bradley. Bei seinem Anblick fühlte sie so große Erleichterung, daß sie hätte weinen können.

 

»Das war ein alter Trick, den sie schon vorher angewandt haben«, sagte er, als er in ihr Zimmer trat. »Nur hatten sie diesmal das Auto innen gepanzert. Wir fanden den Wagen in Pimlico, dort haben sie ihn stehenlassen. Von den Leuten war natürlich nichts mehr zu sehen. Das ganze Innere war mit Eisenplatten ausgeschlagen. Diese Kerle nahmen kein Risiko auf sich.« Er sah sie einen Augenblick merkwürdig an. »Da ich nicht dabei ums Leben gekommen bin – werden Sie auch nicht verhaftet werden.«

 

Sie starrte ihn fassungslos an.

 

»Verhaftet? Warum wollte man mich denn verhaften?«

 

»Sehen Sie denn nicht ein, daß meine Kollegen im Falle meines Todes oder einer schweren Verletzung zunächst einmal nach einer Erklärung dafür gesucht hätten, daß ich mich zu dieser späten Stunde dort aufgehalten habe? Sie hätten Ihren Brief gefunden und Sie leicht als Schreiberin identifizieren können, da ich dummerweise mit Bleistift das Wort ›Ann‹ als Unterschrift daruntersetzte.«

 

Er las Entsetzen und Schrecken in ihren Augen.

 

»Aber das war doch nicht seine Absicht!« rief sie erregt. »Das hat er sicherlich nicht gewollt – ich meine, Mark wollte mich doch sicherlich nicht in einen solchen Verdacht bringen.«

 

Er antwortete nicht gleich.

 

»Sie glauben doch auch nicht, daß er es wollte?«

 

»Das werde ich noch in Erfahrung bringen. Vermutlich möchten Sie nicht gern in dieser Sache vor Gericht erscheinen? Ich werde Ihren Namen heraushalten, so gut ich kann.«

 

Er ging hinüber und klingelte bei Mark. Ann lauschte mit klopfendem Herzen hinter ihrer geschlossenen Wohnungstür und hörte, daß Marks Diener erklärte, sein Herr sei seit zehn Uhr ausgegangen. Bradley klopfte wieder leise an ihrer Tür, und sie öffnete ihm sofort.

 

»McGill war im Craley-Restaurant. Er kam zurück, um seinem Diener das zu sagen. Er muß kurz nach Ihnen weggegangen sein. Und er ist bestimmt zur Zeit der Schießerei in diesem Lokal gewesen, darauf möchte ich schwören. Er ist ganz groß darin, einwandfreie Alibis für sich zu beschaffen.«

 

»Von den Tätern hat man gar keine Spur?«

 

»Nein, wir wissen nur, daß der Wagen in Highbury gestohlen wurde. Die Eisenplatten im Inneren können die Leute natürlich irgendwo besorgt haben. – Gute Nacht, Ann.«

 

Er nahm ihre Hand in die seine und hielt sie einen Augenblick.

 

»Was soll nun aber mit Ihnen werden?«

 

»Ich hatte die Absicht, nach Paris zurückzugehen, wenn ich kann.« Dann fragte sie ihn plötzlich unvermittelt: »Haben Sie eigentlich Li Yoseph gesehen?«

 

»Ja. Er geht morgen wieder nach Lady’s Stairs. Sie werden einen guten Freund in ihm haben, wenn Sie wieder in Schwierigkeiten kommen sollten.«

 

»Li Yoseph ein guter Freund? Ich dachte, er wäre …«

 

»Er hatte zwölf Monate Zeit, sich von seinen bösen Gewohnheiten zu befreien«, erwiderte er lächelnd. »Ich wollte Ihnen nur sagen, daß Sie ihm auf alle Fälle trauen können. Sie fürchten sich doch nicht vor ihm?«

 

»Das haben Sie mich schon früher gefragt.«

 

Er beugte sich plötzlich zu ihr nieder, als ob es so sein müsse, und sie fühlte seine Lippen einen Augenblick auf ihrer Wange.

 

»Gute Nacht, Ann«, sagte er dann und klopfte ihr freundlich auf den Arm.

 

Sie blieb noch eine Weile stehen, ohne sich zu rühren. Ihr Atem ging etwas schneller, und sie versuchte, sich über ihre Gefühle klarzuwerden. Eines stand jedenfalls fest: Sie war ihm wegen des Kusses nicht böse.

 

Bradley hatte nur zu recht. Als er in das Restaurant kam, in dem sich Mark zur Zeit des Überfalls aufgehalten hatte, erfuhr er, daß McGill erst vor einer Viertelstunde gegangen war. Um elf Uhr hatte er den Besitzer des Lokals darauf aufmerksam gemacht, daß die Uhr im Restaurant fünf Minuten nachginge.

 

Bradley wußte, daß Tiser mit dem Mittagszug nach Bristol gefahren war. Man hatte ihn in London beobachtet, und seine Ankunft in Bristol war von dort gemeldet worden. Wegen der Abwesenheit Tisers wurde die Ausführung von Bradleys Plan verschoben. Er verließ sich ganz besonders auf diesen durch Trunk und Rauschgift heruntergekommenen Menschen, der ihm den Hauptbeweis für Marks Schuld liefern sollte.

 

Die Fliegende Kolonne war in dieser Nacht sehr tätig; in unregelmäßigen Zwischenräumen und von den entferntesten Plätzen kamen ihre Meldungen. Das Haus Mr. Larings war durchsucht worden, und in einem Nebengebäude hatte man genügend Kokain gefunden, um seine Verhaftung zu rechtfertigen.

 

Kapitel 1

 

Kapitel 1

 

Zwischen dem Kanal und dem Fluß dehnte sich ein sumpfiges Feld aus. Lady’s Stairs, ein sonderbares altes Holzhaus, das sich auf Pfählen erhob, schaute dort auf die Wasserfläche hinab. Die Schleuse am Ende des Kanals bildete zugleich den Anfang des morastigen Gewässers. Das Haus machte einen traurigen, verfallenen Eindruck und schien im Lauf der Zeit immer tiefer in den Sumpf einzusinken. Die Fassade war einst mit weißer Ölfarbe gestrichen gewesen, aber der Anstrich war nie wieder erneuert worden, und der Bau hatte allmählich eine dunkelgraue Farbe angenommen. Er hätte sich kaum von seiner Umgebung abgehoben, wenn er nicht zwischen einem hochaufragenden Lagerhaus und dem tonnenförmig gedeckten Gebäude einer Reparaturwerkstatt eingeklemmt gewesen wäre.

 

In Lady’s Stairs wohnte Li Yoseph. Bei Flut stieg das Wasser fast bis zu dem Fußboden seines Wohnzimmers.

 

Die Zeiten, in denen Lady’s Stairs seinen Namen erhalten hatte, gehörten längst der Vergessenheit an. Früher war diese düstere und schmutzige Gegend eine schöne Bucht an der Themse gewesen; grüne Wiesen und Weideplätze hatten sich hier ausgedehnt. Aber nur die Namen erinnerten noch daran. In den angrenzenden Straßen erhoben sich die Häuser armer Leute, die ebenso schmutzig und verkommen aussahen wie Lady’s Stairs. Trotzdem hieß diese Gegend immer noch ›The Meadows‹ – Wiesenland.

 

Li Yoseph pflegte am Fenster seines Zimmers zu sitzen und zu beobachten, wie die Kohlenschiffe während der Flut bei Brands Wharf festmachten, oder wie die Leichter und die Flußkähne langsam nach der Schleuse zu getreidelt wurden. Wenn er sich zum Fenster hinauslehnte, konnte er sogar die großen holländischen Dampfer sehen, die auf der Themse zum Meer hinausfuhren.

 

Die Polizei hatte nicht viel gegen Li Yoseph. Die Beamten wußten wohl, daß er ein Hehler und Schmuggler war, aber man hatte keine klaren Beweise und versprach sich von ferneren Haussuchungen nicht mehr Erfolg als von den früheren. Die Nachbarn hielten Li für einen reichen Mann. Auch stand es bei ihnen fest, daß er verrückt sei.

 

Er besaß die eigentümliche Angewohnheit, lange Gespräche mit unsichtbaren Freunden zu führen. Wenn dieser merkwürdige Alte mit dem großen, gelben, bartlosen Gesicht, das von Falten und Runzeln durchfurcht war, die Straßen mit schlürfendem Gang entlangschritt, sprach er vor sich hin. Er gestikulierte und lachte unheimlich, während er sich mit seinen Gefährten unterhielt, die außer ihm niemand sehen konnte. Meistens sprach er fremde Worte, die allgemein für deutsch gehalten wurden, in Wirklichkeit aber russisch waren. Er gab zu, daß er mit guten und bösen Geistern umging; er konnte Tote sehen und sich mit ihnen unterhalten. Er besaß auch die Gabe des Zweiten Gesichts und hatte schon erstaunliche Dinge vorausgesagt.

 

Li ging in seinem Wohnzimmer auf und ab und murmelte vor sich hin. Drei Kerzen brannten, aber ihr Licht vermochte den ungewöhnlich hohen Raum nicht genügend zu erhellen und betonte eher noch den düsteren Eindruck, da sie gespenstische Schatten warfen. Die früher freundlich gestrichenen Wände hatten ihre Farbe längst verloren, das Dach war undicht, und bei Regenwetter rannen kleine Bäche an den Wänden herunter. Li schlief in einer kleinen Kammer, die nicht viel größer als ein geräumiger Schrank war. Sie besaß nur den einen Vorteil, daß sie als einziger Teil des Hauses trocken war.

 

Der größere Raum diente Li zu gleicher Zeit als Büro, Lagerraum und Wohnzimmer.

 

Holländische, deutsche und französische Matrosen ruderten bei Flut in kleinen Booten hierher und steuerten zwischen den von grünem Moos und Schlamm bedeckten Holzpfählen hindurch, auf denen Li Yosephs Haus stand. Wenn sie dann unten am Fuß der gebrechlichen Leiter festgemacht hatten, stieg der Alte hinunter und feilschte und handelte mit ihnen über allerlei Artikel dunkler Herkunft, die sie ihm brachten.

 

Unter dem Haus war es dunkel, und selbst bei Tag ließen die vielen Pfähle und Balken kein Licht herein. Lis Besucher konnten nur zu gewissen Zeiten kommen, denn während der Ebbe war dort unten weiter nichts als zwei Mannslängen tiefer, morastiger Schlamm zu sehen, aus dem große Blasen aufstiegen und unruhig durcheinander quirlten, wie von einem vorsintflutlichen Drachen.

 

Unten an der Leiter war auch ein kleines Motorboot vertäut, das der alte Li trotz seiner Jahre bedienen und steuern konnte. In unbestimmten Zwischenräumen fuhr er selbst manchmal auf den Strom hinaus. An diesem Abend überlegte er gerade, ob er wieder eine Fahrt unternehmen solle. Zweimal hatte er den abgenutzten Teppich schon aufgrollt und die Falltür geöffnet, die von dem Teppich verdeckt wurde. Stöhnend und mit sich selbst sprechend war er die Sprossen der Leiter hinuntergeklettert und hatte ein Bündel in das Boot gebracht, das sich während der Ebbe im Schlamm auf die Seite gelegt hatte. Schließlich war er mit seinen Vorbereitungen fertig und hatte nun wieder Zeit, sich mit seinen unsichtbaren Besuchern zu unterhalten.

 

Er sprach und scherzte mit ihnen und rieb sich lachend die Hände über ihre erstaunlichen Antworten. Schon den ganzen Tag hatten sie ihm Dinge zugeraunt, die einen gewöhnlichen Menschen vor Furcht hätten erstarren lassen, aber Li schenkte ihren Zuflüsterungen diesmal keinen Glauben.

 

Der schrille Klang einer Glocke ließ ihn aufhorchen. Mit schlürfenden Schritten verließ er den Raum und stieg die steile Treppe hinunter, die zu einer Seitentür führte.

 

»Wer ist dort?« fragte er.

 

Als er die leise Antwort von draußen hörte, drehte er den Schlüssel um und öffnete.

 

»Du bist früh oder spät gekommen – ich weiß nicht, wie ich es nennen soll.« Lis Stimme klang tief und heiser, und er sprach mit kaum merklichem, fremdem Akzent.

 

Nachdem er die Tür wieder geschlossen hatte, folgte er seinem Besucher nach oben.

 

»Ich kenne keine bestimmten Tageszeiten.« Er lachte leise vor sich hin. »Für mich gibt es weder Tag noch Nacht. Es ist Flut, ich meinen Geschäften nachgehen muß, und es ist Ebbe, wenn ich mich ausruhen und mit meinen lieben kleinen Freunden sprechen kann.« Er warf eine Kußhand nach einer dunklen Ecke.

 

Mark McGill wandte sich böse nach ihm um.

 

»Laß das dumme Geschwätz … deine verdammten Geister! – Seine Schwester kommt heute abend noch hierher.«

 

»Seine Schwester?«

 

»Ronnie Perrymans Schwester – sie ist von Paris herübergekommen.«

 

Li Yoseph starrte seinen Besucher erstaunt an, aber er stellte keine weiteren Fragen an ihn.

 

Es lag etwas im Wesen Mark McGills, das jede Vertraulichkeit ausschloß. Er war eine gebieterische Erscheinung, breitschultrig und groß; in seinem wilden, herrischen Gesicht zeigte sich eine gewisse Schönheit. Seine vielen Untergebenen zitterten vor ihm, aber sie fürchteten weniger seine Strenge und Brutalität, als den Blick seiner zwingenden, hellblauen Augen.

 

Er rollte seine halbaufgerauchte Zigarre von einer Ecke des Mundes in die andere, ging quer durch den Raum zu der Schlafkammer, in der Li Yosephs Bett stand, und schaute nachdenklich auf das dunkle Wasser hinaus.

 

»In einer Stunde haben wir Flut«, sagte er halb zu sich selbst.

 

Li Yoseph ließ ihn nicht aus den Augen und sah, wie der große Mann eine Violine von dem Bett aufnahm.

 

»Du hast sicher wieder den ganzen Tag auf der Fiedel herumgekratzt – ist die Polizei hier gewesen?«

 

Li Yoseph schüttelte den Kopf.

 

»Wie, sie haben nicht mehr nach Ronnie gefragt? – Nun gut, aber sie wird alles von dir wissen wollen. Ich habe versucht, sie von hier fernzuhalten, aber ohne Erfolg. Du weißt doch, was du ihr zu sagen hast?«

 

Nach einer kleinen Pause nickte Li Yoseph langsam.

 

»Er ist umgebracht worden – von Polizeibeamten… Sie haben ihn in einem Boot mit Ware erwischt, die er vom Schiff geholt hatte. Da haben sie gefragt: ›Wo hast du das her?‹ Und dann haben sie ihm eins über den Kopf gegeben, daß er in den Fluß fiel und tot war.«

 

»Ja – so machst du deine Sache richtig.« Mark beugte den Kopf vor und lauschte. »Da kommt Tiser mit dem Mädchen – bring sie herauf.«

 

Li stieg geräuschlos die Treppe hinunter. Nach kurzer Zeit kam er wieder; er ging voraus und zeigte den anderen den Weg. Hinter ihm erschien Tiser, ein unruhiger, nervöser Mensch, der beim Lächeln stets seine großen Zähne zeigte. Seine Stirn war immer feucht; sein schwarzer, steifer Hut und seine schwarze Krawatte machten ihn nicht anziehender. Er hatte Ann Perryman vom Bahnhof abgeholt, aber sie hatte sofort eine instinktive Abneigung gegen den Menschen gefaßt.

 

Langsam stieg sie die letzten Stufen empor, trat dann ein und schaute sich ohne wahrnehmbare Erregung in dem schmutzigen Raum um. Einige Sekunden lang betrachtete sie Mark, der sich unter ihrem forschenden Blick sonderbar unbehaglich fühlte.

 

Ann war ein schönes, schlankes Mädchen. Ihr Haar schimmerte je nach der Beleuchtung in tiefgoldenem Blond oder in rötlichem Schein; es war aus der hohen Stirn zurückgebürstet, was ihr in gewisser Weise ein etwas altmodisches Aussehen gab. Sie hielt sich gerade, beinahe steif, als ob sie dadurch ihre Zurückhaltung ausdrücken wollte. Es war nicht leicht, sich ihr zu nähern. Die Männer hielten sie für kalt und abweisend und sagten, daß sie keinen Spaß verstehe, weil sie nicht über ihre Witze lachte. Der Ausdruck ihrer großen, grauen Augen konnte bisweilen sehr hart und streng sein. Ihr Bruder Ronnie allein hatte gewußt, wie sanft und mild sie blicken konnte; aber Ronnie war nun tot, und keinem anderen Mann hatte sie jemals einen liebevollen Blick geschenkt.

 

Ihr klarer Verstand und ihre Charakterstärke machten sie fähig für den Kampf gegen ein hartes Geschick. Sie besaß einen unbeugsamen Willen und ausdauernden Mut.

 

Das also war Ann Perryman! Mark hatte sie vorher noch nie gesehen und war überrascht von ihrer anmutigen Erscheinung.

 

Sie reichte ihm ihre kalte Hand, und er drückte sie. Einen Augenblick hielt er sie fest, dann ließ er sie wieder los. Er wußte kaum, wie er das Gespräch mit Ann beginnen sollte.

 

»Tiser hat Ihnen schon alles erzählt?«

 

Sie nickte ernst.

 

»Vor vierzehn Tagen las ich den Bericht in der Zeitung. Ich bin Lehrerin an einer Schule in Paris, und ich lese dort auch die englischen Blätter. Aber ich wußte nicht« – sie machte eine Pause –, »daß Ronnie hier unter falschem Namen lebte.«

 

»Das hätte ich Ihnen vorher mitteilen können«, sagte Mark, »aber ich hielt es für besser, damit zu warten, bis alles vorüber war.

 

Marks Stimme klang so teilnehmend, daß Mr. Tiser, dessen Blicke unruhig im Raum umherschweiften, seinen Gefährten plötzlich überrascht und erstaunt ansah. Mark spielte seine Rolle wirklich ausgezeichnet!

 

»Ich befand mich in einer sehr schwierigen Lage«, fuhr Mark leise fort. »Sehen Sie, Ronnie hat das Gesetz übertreten, und ich habe es auch getan. Man überlegt es sich natürlich, bevor man sich selbst beschuldigt.«

 

»Ja, ich weiß, Ronnie war nicht …«, sie zögerte. »Er war sein ganzes Leben hindurch vom Unglück verfolgt, der arme Junge! Wo hat man ihn denn gefunden?«

 

Mark zeigte auf die schlammige Bucht hinaus.

 

»Ich will ganz offen mit Ihnen sprechen, Miss Perryman. Ihr armer Bruder und ich waren Schmuggler. Ich weiß, daß das strafbar ist, und ich entschuldige mich nicht. Ihnen will ich auch das Letzte sagen. Die Polizei war darauf aus, uns eine Falle zu stellen. Die Leute glaubten, daß Ronnie nicht dichthalten würde. Zufällig erfuhr ich, daß sie ihm verschiedene Angebote machten – sie hofften, er würde die Organisation verraten. Das klingt zwar etwas pathetisch, aber es ist die Wahrheit.«

 

Ann schaute von Mark auf Tiser. Der alte Li war hinter den Vorhängen seiner Kammer verschwunden.

 

»Mr. Tiser sagte mir, daß Ronnie von Polizeibeamten ermordet wurde – es ist kaum zu glauben!«

 

Mark zuckte die Schultern.

 

»Es gibt nichts Unglaubliches, was die Londoner Polizei nicht fertigbrächte«, erwiderte er trocken. »Ich will ja nicht behaupten, daß sie die Absicht hatten, ihn zu töten, aber es ist nun einmal Tatsache, daß sie ihn niederschlugen. Sie müssen ihn gefaßt haben, als er in einem Boot von einem der Schiffe zurückkam, die uns Schmuggelware liefern. Entweder hat er einen Schlag bekommen, daß er ins Wasser stürzte, oder sie haben ihn nachher ins Wasser geworfen, als sie sahen, wie schwer, vielleicht sogar lebensgefährlich, sie ihn getroffen hatten.«

 

»Inspektor Bradley war es?«

 

»Ja, so heißt der Beamte. Er hat Ronnie immer gehaßt. Bradley ist einer dieser geschickten Leute von Scotland Yard, die nur geringe Bildung besitzen und von Minderwertigkeitsgefühlen beherrscht werden.«

 

Hinter dem Vorhang ertönte plötzlich der weiche, klagende Klang einer Violine. Mark fuhr herum, aber Ann legte ihre Hand auf seinen Arm und gab ihm ein Zeichen, ruhig zu sein.

 

Die süße, melancholische Melodie von Tostis »Chanson d‘ Adieu« erfüllte den Raum.

 

»Wer spielt da?« fragte sie leise.

 

Mark zuckte ungeduldig die Schultern. »Ach, das ist der Alte – Li Yoseph. Ich möchte doch, daß Sie mit ihm sprechen.«

 

»Li Yospeh – er hat gesehen, wer Ronnie umbrachte?«

 

Mr. Tiser mischte sich plötzlich in die Unterhaltung.

 

»Aus ziemlicher Entfernung«, sagte er nervös. »Genau natürlich nicht. Ich habe Ihnen das doch schon alles erklärt.«

 

Marks kalter Blick brachte ihn zum Schweigen.

 

»Es ist schon gut, Tiser. Sage Li Yoseph, daß er herauskommen soll.«

 

Das Violinspiel hörte auf, und Li Yoseph trat mit hochgezogenen Schultern näher. Er sah Ann unter seinen buschigen Augenbrauen hervor an und rieb dabei seine langen Hände, als ob er sie mit unsichtbarer Seife wüsche. Er sah beinahe geisterhaft aus, und Ann schrak ein wenig zurück.

 

»Dies ist Miss Perryman, Ronnies Schwester.«

 

Das Gesicht des Alten verzog sich zu einem Lächeln.

 

»Ich habe gerade mit ihm gesprochen.«

 

Ann schaute ihn entsetzt an.

 

»Wie, Sie haben mit ihm gesprochen?«

 

»Sie müssen sich nicht um sein Gerede kümmern.« Marks Worte klangen scharf, fast befehlend. »Er ist ein wenig …« Er zeigte bedeutungsvoll auf die Stirn. »Er sieht Geister und dergleichen Dinge –«

 

»Ja, viele Dinge«, wiederholte Li Yoseph. Seine Augen wurden größer und größer. »Seltsame Dinge – Dinge, die niemand sieht außer mir – Li Yoseph!«

 

»Nun sei aber still, Yoseph«, sagte Mark rauh. »Du erschreckst die junge Dame durch dein albernes Geschwätz.«

 

»Ach nein, ich fürchte mich nicht«, erwiderte Ann standhaft.

 

Li Yoseph ging in den kleinen Nebenraum zurück und lachte merkwürdig vor sich hin.

 

»Ist er öfters so wie jetzt?«

 

»Immer«, entgegnete Mark, aber er fügte schnell hinzu: »Abgesehen davon ist er aber vollkommen klar. – Yoseph, bleibe hier. Ich sagte dir doch, daß du Miss Perryman alles erzählen sollst, was du gesehen hast.«

 

Li Yoseph kam langsam zurück und blieb ein paar Schritte vor Ann stehen. Seine Hände waren auf der Brust gefaltet, als ob er betete.

 

»Ich will Ihnen sagen, was ich sah.« Seine Stimme klang plötzlich mechanisch. »Erst kommt Ronnie in einem Boot vom Schiff. Er rudert und rudert, dann kommt das Polizeimotorboot und holt ihn ein. Dann sehe ich, wie sie kämpfen und kämpfen, und ich höre einen Fall ins Wasser, und plötzlich höre ich Mr. Bradleys Stimme: ›Der ist erledigt – niemand darf etwas darüber sagen.‹«

 

Während er sprach, schaute er sie an, und sie glaubte, in seinem Blick einen gewissen Trotz zu lesen, als ob er schon darauf vorbereitet wäre, daß sie seiner Geschichte keinen Glauben schenken würde.

 

»Haben Sie das wirklich gesehen?«

 

Er neigte den Kopf.

 

Ann wandte sich an Mark.

 

»Warum wurden denn diese Leute nicht angeklagt? Warum hat man nur Klage gegen ›einen oder mehrere unbekannte Täter‹ erhoben? Ist denn die Polizei in diesem Land unantastbar? Können ihre Beamten straflos jedes Verbrechen begehen – sogar Mord?«

 

Zum erstenmal zeigte sich ihre starke, innere Erregung. Ihre Stimme zitterte, als sie sprach.

 

»Bradley – Sie sagten doch, daß Bradley ihn ermordete? Ich werde den Namen nie vergessen.« Ihr Blick traf wieder den alten Mann. Er stand mit geschlossenen Augen und gefalteten Händen da und schwankte leicht hin und her. »Hat Mr. Yoseph denn keine Klage gegen die Polizei erhoben?«

 

Mark lächelte.

 

»Wozu? Sie müssen verstehen, Miss Perryman, daß die Polizei ihre eigenen Gesetze hat, nicht nur bei uns, sondern auch in allen anderen Ländern. Ich könnte Ihnen Romane darüber erzählen, was in New York passiert ist …«

 

»Ich will nicht wissen, was dort geschieht«, unterbrach sie ihn schnell. »Aber sagen Sie mir, ob man diesem alten Mann glauben kann!« Sie sah auf Li Yoseph.

 

»Durchaus«, sagte Mark nachdrücklich.

 

»Sie können ihm vollständig vertrauen«, mischte sich Mr. Tiser wieder in die Unterhaltung, nachdem er lange hatte schweigen müssen. »Ich kann Ihnen nur die Versicherung geben, daß er ein absolut ehrenwerter Charakter ist.«

 

Er begegnete Marks Blick, begann zu stammeln und schwieg dann wieder.

 

Anne hatte den Kopf gesenkt und einen Finger an die Lippen gelegt; ihre Stirn lag in nachdenklichen Falten. Mark hatte ihr einen Stuhl angeboten, aber sie hatte es nicht beachtet. Auch er schwieg und wartete darauf, daß sie sprechen würde.

 

»Was hat Ronnie für Sie getan?« fragte sie schließlich. »Sie können mir alles sagen, Mr. McGill. Er hat mir oft von Ihnen erzählt, und ich habe schon vermutet, daß Sie irgendein … strafbares Geschäft betreiben. Wahrscheinlich sind meine moralischen Anschauungen recht sonderbar, aber es kommt mir jetzt nicht mehr so schrecklich vor wie früher. War mein Bruder sehr wertvoll für Sie? Ist der Verlust, den Sie durch seinen Tod erlitten haben, sehr groß?«

 

McGill antwortete nicht sofort. Er dachte darüber nach, was sie wohl mit ihrer Frage meinen könnte.

 

»Ja, er war beinahe unersetzlich für uns«, erwiderte er endlich. »Ronnie war ein Mann, der überall hingehen konnte, ohne den geringsten Verdacht zu erregen. Er fuhr seinen Wagen ausgezeichnet; das kam uns sehr zugute, denn die Polizei hat jetzt eine Fliegende Kolonne eingerichtet. Bradley führt die Abteilung. Vor diesen Leuten müssen wir ganz besonders auf der Hut sein. Ronnie hat gewöhnlich die geschmuggelten Waren herangeholt, manchmal hat er sie auch verteilt … Ich habe mich in jeder Weise auf ihn verlassen. Aber warum fragen Sie?«

 

»Ich hätte es gern gewußt. Was ist dieser Bradley eigentlich für ein Mann?«

 

Bevor Mark antworten konnte, hörte sie ein leises Lachen und wandte sich schnell um.

 

In Türnähe stand ein Fremder. Ann wußte nicht, wie lange er schon dort war, aber er mußte schon einige Zeit anwesend sein, denn er lehnte lässig am Türpfosten. Er trug keinen Mantel, obgleich der Abend kalt war; sein Filzhut war verwegen über ein Auge gezogen. Der große, schlanke Mann hatte ein gutgeschnittenes Gesicht und freundliche Augen. Sein Blick ruhte interessiert auf Ann.

 

»Ich würde nicht erstaunt sein, Miss Perryman vor mir zu haben«, sagte er, richtete sich auf und lüftete seinen Hut. »Wollen Sie mich nicht vorstellen, Mark?«

 

»Mein Name ist McGill«, erwiderte Mark scharf.

 

»Welch eine Neuigkeit! Als ob Sie nicht schon Ihr ganzes Leben lang diesen Namen geführt hätten!«

 

Aber dann legte sich ein Schatten über seine Züge, und er sah fast traurig aus, als er langsam auf Ann zuging. Instinktiv wußte sie, wer er war; sie sah ihn mit einem stahlharten, kalten Blick an.

 

»Es tut mir sehr leid, Miss Perryman, daß Sie all diesen Kummer erleben mußten. Ich wünschte, ich wüßte, wer Ihren Bruder ermordet hat.«

 

Er biß sich auf die Unterlippe und sah nachdenklich zu Mark hinüber.

 

»Ich habe mein Bestes getan, um Ronnie vor schlechter Gesellschaft fernzuhalten.«

 

Er machte eine Pause, als ob er auf Antwort wartete. Als Ann aber nichts erwiderte, sah er sich in dem Raum um.

 

»Wo ist denn unser musikalischer Geisterseher?« fragte er. »Hallo, Li Yoseph! Sie haben ja Besuch hier.«

 

Der Alte kam unterwürfig näher. Seine Gesichtszüge verrieten eine sonderbare Gespanntheit. Mark bemerkte, daß Li Yoseph dem Detektiv einen schnellen Blick zuwarf, und beobachtete Bradley; aber in dem Gesicht des Polizeibeamten rührte sich kein Muskel.

 

»Ich wundere mich nur, daß man Sie hierhergebracht hat.« Bradley sprach zu Ann, aber er schaute den verlegenen, nervösen Tiser an, der nicht wußte, wohin er sehen sollte.

 

»Sie haben Ihnen doch nicht etwa die dumme Geschichte erzählt, daß die Polizei an dem Tod Ihres Bruders schuldig sei? Aber Sie sind sicher zu intelligent, um derartige Märchen zu glauben. Ihr Bruder wurde an Land getötet und später in den Strom geworfen.«

 

Ann preßte die Lippen zusammen, und Bradley sah, daß er sie nicht überzeugt hatte.

 

»Wünschen Sie etwas?« fragte Mark heftig.

 

Inspektor Bradley zog die Augenbrauen hoch.

 

»Entschuldigen Sie«, sagte er mit ironischer Höflichkeit. »Ich wußte nicht, daß Sie Li Yosephs Wohnung übernommen haben und hier Hausherr sind. Ich werde heute nacht zwischen zehn und zwei Uhr in Scotland Yard sein.«

 

Ein Schauer überlief Mark McGill. An wen waren diese Worte gerichtet? Für ihn waren sie nicht bestimmt, ebensowenig für Ann Perryman oder Mr. Tiser. Warum war Bradley gekommen? Mark wußte gut genug, daß dieser Mann nicht in Lady’s Stairs erschienen wäre, wenn ihm Ann Perrymans Anwesenheit bekannt gewesen wäre. Sein Besuch galt Li Yoseph! Die Bemerkung, daß er diese Nacht bis zwei Uhr in Scotland Yard sein würde, sollte also zu Lis Orientierung dienen.

 

Bradley wandte sich um und ging zur Tür. Dort drehte er sich noch einmal um und grüßte zum Abschied.

 

»Ich würde gern einmal mit Ihnen sprechen, Miss Perryman vielleicht darf ich Sie morgen in Ihrem Hotel besuchen?«

 

Sie antwortete ihm nicht, aber in ihrem Blick lag Haß und Abscheu. Inspektor Bradley sah es zu deutlich, um sich darüber zu täuschen.

 

Seine Schritte verklangen auf der Treppe, dann wurde die Haustür zugeschlagen.

 

»Das war Bradley?« fragte Ann leise.

 

»Ja, das war er«, erwiderte Mark grimmig. »Einer der durchtriebendsten und schlauesten Spürhunde von Scotland Yard! Was halten Sie von ihm?«

 

Sie senkte den Blick zu Boden und überlegte seine Frage.

 

»Wer wird Ronnies Stelle in Ihrer – Organisation einnehmen?«

 

Mark zuckte die Schultern.

 

»Ja, wer könnte seine Stelle einnehmen? Solch einen Mann kann man nicht so leicht wieder finden.«

 

»Ich könnte es.«

 

Er sah sie überrascht an.

 

»Sie?« fragte er ungläubig.

 

Tausend Möglichkeiten tauchten plötzlich vor Mark auf.

 

»Wie, Sie wollen zu uns kommen?« Er streckte begeistert die Hand aus. »Mein liebes Kind, Sie sind der Partner, nach dem ich gesucht habe.«

 

Sie sah ihn entschlossen an.

 

»Ich heiße Ann – nennen Sie mich so. Unsere Beziehungen werden rein geschäftlich sein.«

 

Kapitel 10

 

Kapitel 10

 

Bradley ging zur Garage zurück, in der Ann Perrymans Wagen untergestellt war. Er entließ seine Leute, nachdem das Auto in den Hof gebracht worden war, und begann allein das Innere mit Hilfe seiner Taschenlampe sorgfältig abzusuchen.

 

Es war nicht schwer, das Geheimfach unter dem Führersitz zu finden und zu entdecken, wie man den Inhalt von unten herausnehmen konnte. Das Fach war leer, ebenso der Gerätekasten.

 

Er hatte seine Untersuchung beinahe beendet, als ihm plötzlich auffiel, daß das Lederpolster an den Seiten des Wagens und an den Ecken kräftiger war, als man es gewöhnlich in solchen Wagen fand. Er prüfte die Polsterung Zoll für Zoll. Auf beiden Seiten befanden sich an den Türen große Taschen. Aber er hatte bereits festgestellt, daß sie nichts enthielten. Nun fühlte er wieder hinein und erkannte, daß die Türen eine stärkere Konstruktion zeigten, als notwendig erschien.

 

Er hob die eine lose hängende Tasche in die Höhe, leuchtete das Leder genau ab und fand eine viereckige Stelle, die sich etwas abhob. Als er unter die Tasche auf der anderen Seite schaute, stellte er dasselbe Viereck fest. Sofort vermutete er, daß sich eine Öffnung in der Tür befand. Mit seinem Taschenmesser untersuchte er die Wand genauer und stieß auf Stahl.

 

Während er noch damit beschäftigt war, fand er durch Zufall das Geheimfach. Als er die Tasche in die Höhe hob, mußte er einen etwas stärkeren Zug ausgeübt haben, denn plötzlich knackte es, und das Lederviereck öffnete sich wie eine Falltür. Innen entdeckte er ein Dutzend flacher Päckchen, die eng zusammengepreßt waren. Er nahm sie sorgfältig heraus.

 

Bradley prüfte auch noch die andere Tür, konnte jedoch nichts Besonderes daran entdecken. Sorgsam steckte er die gefundenen Päckchen in die Tasche, schloß die Geheimfächer wieder und brachte den Wagen in die Garage.

 

Es überkam ihn ein seltsames Gefühl der Erleichterung, das er sich selbst kaum erklären konnte. Warum sollte er sich über diese Entdeckung freuen? Die Frau, die seine Gedanken Tag und Nacht beschäftigte, wurde doch hoffnungslos dadurch belastet. Aber daran dachte er jetzt nicht. Er war dankbar, daß er so geistesgegenwärtig gewesen war, seine Leute fortzuschicken und die Durchsuchung ohne Zeugen vorzunehmen. Bestürzt erkannte er seine sonderbare Lage.

 

Er ging nicht nach Scotland Yard zurück, sondern eilte in seine Wohnung, dort drehte er das Licht im Wohnzimmer an und verschloß die Tür, ehe der die kleinen Pakete aus der Tasche nahm. Eins öffnete er – es konnte keinen Zweifel an der Beschaffenheit dieses kristallinischen Pulvers geben. Er feuchtete seinen Finger an und versuchte es. Kokain!

 

Lange Zeit starrte er auf das verheerende Rauschgift. Plötzlich klingelte das Telefon.

 

Er erkannte die Stimme seines Vorgesetzten.

 

»Bradley? Es ist uns gerade eine Anzeige von einem dieser Kokainhändler zugegangen. Er sagte, daß wir wahrscheinlich ein Paket mit Rauschgiften im Auto Miss Perrymans finden werden. Es sollen Geheimfächer in die Türen eingebaut sein. Ich werde Simmonds hinschicken –«

 

»Nein, das ist nicht nötig, ich werde selbst gehen«, erwiderte Bradley schnell.

 

Er legte den Hörer auf, ging zum Tisch zurück und betrachtete die Päckchen wieder. Es handelte sich jetzt um eine schnelle Entscheidung.

 

Kurz entschlossen trat er in die kleine Küche und schaute sich dort um. Seine Haushälterin kam täglich; sie war sparsam und kaufte ihre Vorräte immer im großen ein. Der Mehlkasten war halb voll – dort hätte er zur Not das Kokain verstecken können. Aber dann lachte er über den törichten Einfall. Er kehrte ins Wohnzimmer zurück, holte die Päckchen, trug sie in die Küche und schüttete sie in den Ausguß.

 

Zehn Minuten lang beobachtete er, wie das niederrieselnde Wasser das weiße Pulver auflöste. Als jede Spur entfernt war, verbrannte er noch das Papier, nahm dann Mantel und Hut und ging zu der Garage von Scotland Yard, um etwas zu suchen, das nicht mehr vorhanden war.

 

John Bradley stand der Tatsache fassungslos gegenüber, daß er seine Pflichten in so gröblicher Weise verletzt hatte. Wenn jemand ihm an diesem Abend gesagt hätte, daß er in einem sehr ernsten Fall, aus Liebe zu einer Gefangenen, absichtlich Beweise vernichten würde, hätte er laut gelacht. Trotzdem hatte er schon immer das Gefühl gehabt, daß Ann Perryman früher oder später doch mit dem Gesetz in Konflikt kommen würde. Sie haßte ihn, daran zweifelte er nicht im mindesten; aber noch weniger zweifelte er daran, daß Mark McGill ihr den tiefen Haß gegen ihn eingeflößt hatte.

 

Sie strengte sich zwar an, ihm gegenüber liebenswürdig zu erscheinen, aber sie war eine schlechte Schauspielerin. Bei jeder Begegnung mit ihm versuchte sie vergeblich, ihre wahre Gesinnung zu verbergen, und wenn er sich von ihr verabschiedete, las er in ihren Zügen stets Erleichterung.

 

Er ging in sein Büro nach Scotland Yard, setzte sich in einen Stuhl und fiel in einen leichten Schlummer, bis ihm eine Ordonnanz eine Tasse heißen Kaffee brachte. Dann kam ihm plötzlich zum Bewußtsein, daß er in einigen Stunden vor Gericht stehen würde, um die Frau anzuklagen, die er liebte.

 

Um acht morgens wurde Ann zum Polizeigericht von Süd-London gebracht. Ausnahmsweise durfte sie in einem Taxi fahren; eine Wärterin in Zivil und ein Detektiv begleiteten sie. Hätte sie Erfahrung in diesen Dingen gehabt, so hätte sie gewußt, daß die Polizei ihren Fall als äußerst ernst und schwerwiegend betrachtete.

 

Als sie in die Zelle geführt worden war, die neben dem Gerichtssaal lag, kam die Wärterin zu ihr herein.

 

»Mr. Durther, Ihr Rechtsanwalt, ist eben gekommen. Es ist besser, wenn Sie in meinem Zimmer mit ihm sprechen.«

 

Obgleich die alte Frau zugegen war, wurde die Unterhaltung doch als mehr oder weniger privat angesehen. Der unruhige kleine Mann führte Ann in eine Ecke des Raums.

 

Er schaute sich nach der Wärterin um.

 

»Ich bringe Ihnen Botschaft von Mark«, sagte er dann leise. »Es ist möglich, daß noch viel mehr – Sacharin in dem Wagen war.«

 

»In dem Wagen?« fragte sie überrascht.

 

Er nickte schnell.

 

»Es sind noch ein paar Fächer da … wenn Sie danach gefragt werden … Sie wissen nichts. Verstanden?«

 

»Was wird denn passieren?«

 

Er zuckte die Schultern, um auszudrücken, daß er das nicht voraussagen könne.

 

»Ich weiß es nicht. Ich kann heute noch keinen Verteidiger für Sie engagieren – das kann ich erst tun, wenn Sie in Untersuchungshaft kommen.«

 

Sie starrte ihn an.

 

»Wollen Sie damit sagen, daß ich noch eine ganze Woche im Gefängnis festgehalten werde?«

 

Durther vermied ihren Blick.

 

»Alles möglich. Wir wollen versuchen, Bürgschaft für Sie zu stellen … Es wird alles getan, was nur getan werden kann … die Polizei muß auf alle Fälle den Antrag stellen, Sie in Untersuchungshaft zurückzubehalten, besonders, wenn die Ware gefunden worden ist. Gefängnis ist gar nicht so schlimm … daran haben Sie sich bald gewöhnt.«

 

Ann Perryman fühlte, wie ihr Mut sank. An das Gefängnis würde sie sich nie gewöhnen können. Bei dieser Aussicht dachte sie an Bradley und haßte ihn mehr als je.

 

»Wie war denn das – Sacharin verpackt?«

 

Er beschrieb es ihr.

 

»Und wieviel Päckchen waren denn dort?«

 

»Zwölf – sie lagen in einem Geheimfach hinter einer der Türen. Mr. McGill sagt, Sie müßten vor allem abstreiten, daß Sie irgend etwas darüber wüßten.«

 

Ein langes Schweigen folgte.

 

»Was enthielten die Päckchen?«

 

»Sacharin, meine liebe Miss Perryman – nichts anderes als Sacharin«, beteuerte Mr. Durther.

 

»Was kann mir denn im schlimmsten Fall zustoßen? Ich meine, wenn man das Sacharin gefunden hat?«

 

Der Rechtsanwalt zuckte wieder die Schultern. Es war nicht leicht, auf diese Frage eine Antwort zu finden. Er wußte allerdings sehr gut, welche Strafe sie bekommen würde!

 

»Kommt man wegen Schmuggelns ins Gefängnis?«

 

»Nicht, wenn man das erste Mal gefaßt wird. Wahrscheinlich bekommen Sie eine Strafe von etwa hundert Pfund, die Mark McGill natürlich sehr gerne für Sie bezahlen wird.«

 

Er fühlte sich erleichtert, daß sie diese harmlosen Fragen stellte, und sie wunderte sich, daß er plötzlich so gesprächig wurde. Sie konnte ja nicht vermuten, daß Mr. Durther nicht an die Folgen denken wollte, die der Fund des Kokains nach sich ziehen mußte.

 

Alle Leute von Lady’s Stairs schienen heute hier zu sein. Ann sah die große, majestätische Gestalt eines Mannes, der eben in eine Zelle gebracht wurde. Offenbar war Mr. Sedeman auch mit der Polizei in Konflikt geraten. Ann mußte erst über ihre Entdeckung lächeln, aber als sich die Zellentür wieder hinter ihr geschlossen hatte, wurde sie ernst.

 

Sie fühlte keine Furcht, aber nun kam ihr die ganze Schwere ihrer Situation zum Bewußtsein. Die Zelle mit den kahlen Wänden und die häßliche Bank weckten quälende Vorstellungen in ihr. Auch Ronnie hatte in einer solchen Zelle gesessen, und das grauenhafte Leben im Gefängnis war ihm vertraut gewesen.

 

Die alte Wärterin brachte ihr etwas Kaffee und zwei dicke Butterbrotschnitten. Ann war sehr froh darüber; erst jetzt kam ihr zum Bewußtsein, wie ausgehungert sie war. Als sie ihr Frühstück beendet hatte, öffnete sich die Tür wieder, und die alte Frau forderte sie auf, ihr zu folgen.

 

Ein Mann stand am Fenster des kleinen Raums, in den sie gebracht wurde. Er drehte ihr den Rücken zu und starrte auf den Hof hinaus. Als sich die Tür aber weiter öffnete, wandte er sich um, und sie sah sich Bradley gegenüber. Ihr erster Gedanke war, das Zimmer sofort wieder zu verlassen, aber die Wärterin stand mitten in der Tür und machte dieses Vorhaben unmöglich.

 

Er sah müde, übernächtig und hager aus und hatte etwas von seinem vorteilhaften Aussehen verloren.

 

»Guten Morgen«, begann er. Seine Stimme klang hart und entschlossen. Er trat ihr jetzt als Polizeibeamter und nicht als Freund gegenüber.

 

Sie antwortete ihm nicht, sondern stand steif vor ihm, die Hände hatte sie auf den Rücken gelegt.

 

Er schaute an ihr vorbei.

 

»Sie können gehen«, sagte er zu der Wärterin. »Warten Sie draußen – ich habe etwas mit Miss Perryman zu besprechen.«

 

Die alte Frau entfernte sich.

 

»Meine junge Freundin, Sie befinden sich in einer sehr ernsten Lage. Zu Ihren Gunsten nehme ich an, daß Sie nicht wußten, was Sie taten.«

 

Er sprach nicht mehr in dem alten, leichten Unterhaltungston mit ihr, seine Stimme war ernst, aber nicht unfreundlich. Das wurde ihr sogar klar, obgleich ihre Empörung gegen ihn mehr und mehr wuchs. Sie konnte allerdings kaum verstehen, warum sie zornig wurde, denn er hatte doch offenbar die Absicht, ihr zu helfen.

 

»Ich weiß genau, was ich getan habe.« Sie versuchte, ruhig zu sprechen. »Ich habe nachts ein Auto gefahren, und ich habe mir irgendwie Ihren Haß zugezogen. Sie sind nun darauf aus, mir dasselbe anzutun, was Sie Ronnie angetan haben.«

 

»Sie wollen doch nicht etwa behaupten, daß Sie unschuldig sind?« fragte er geradeheraus. »Oder daß Sie das Opfer polizeilicher Nachstellungen sind? Wollen Sie sagen, daß Sie das Gesetz nicht übertreten haben?«

 

Er wartete gespannt auf ihre Antwort. Als sie aber schwieg, wurde er mutlos.

 

»Sind Sie sich bewußt, daß Sie das Gesetz übertreten haben?« fragte er noch einmal.

 

»Auf diese Frage werde ich dem Richter Antwort geben«, erwiderte sie kühl.

 

»Wissen Sie, daß Sie Rauschgifte unter die Leute brachten?«

 

Ihre Lippen zuckten verächtlich.

 

»Mr. Bradley, Sie wiederholen sich wirklich zu oft! Dieselbe Geschichte haben Sie mir schon damals erzählt – auch Ronnie soll mit Rauschgiften gehandelt haben. Wollen Sie behaupten, daß ich dasselbe getan habe?«

 

Er sah sie durchdringend an.

 

»Haben Sie es getan?«

 

Sie wurde blaß vor Ärger und Zorn, wandte sich zur Tür und riß sie auf. Die Wärterin stand draußen und hatte den Kopf an den Türpfosten gelehnt. Sie interessierte sich wahrscheinlich für die Unterhaltung der beiden.

 

»Bringen Sie mich in meine Zelle zurück«, sagte Ann in entschiedenem Ton.

 

»Ist Mr. Bradley schon mit Ihnen fertig?«

 

»Ich bin mit ihm fertig«, sagte Ann.

 

Die Einsamkeit der Zelle tat ihr wohl. Sie zitterte vor Entrüstung. Wenn sie jetzt hätte sprechen müssen, hätte sie nur unartikulierte Laute hervorbringen können. Wie durfte er es wagen, sie so zu behandeln!

 

Bradley hatte das Wartezimmer auch verlassen. Niemand, der seine undurchdringlichen Züge sah, konnte ahnen, wie trostlos und verzweifelt er sich fühlte.

 

Als er eben in den Gerichtssaal gehen wollte, nahm ihn Sergeant Simmonds beiseite.

 

»Der Doktor sagt, daß Smith ein Beruhigungsmittel haben muß, bevor er zur Verhandlung kommt.«

 

»Smith?« Bradley erschrak plötzlich, als er sich daran erinnerte, daß er noch einen anderen Fall zu erledigen hatte, der viel ernster war als der von Ann Perryman.

 

Vor einer Woche war bei der Beraubung eines Juwelierladens ein Angestellter ermordet worden. Der Mörder war zuerst entkommen, später aber doch verhaftet worden, Bradley wußte, daß der Mann ein Morphinist war, ein vollständig zerrütteter Mensch, der seinen Ruin der Tätigkeit Mark McGills zu verdanken hatte.

 

»Sie haben doch nicht etwa Smith vergessen?« fragte Simmonds lächelnd.

 

»Nein, natürlich nicht«, erwiderte Bradley langsam. »Braucht er wirklich ein Beruhigungsmittel? Wie lange kann er denn ohne eine Dosis aushalten?«

 

»Nicht länger als eine Stunde.«

 

Bradley nickte.

 

»Ich will dafür sorgen, daß sein Fall zuerst erledigt wird.«

 

Er wollte gerade fortfahren, als ihn Simmonds noch einmal zurückrief.

 

»Steen möchte Sie auch gerne sprechen. Er ist im Yard, aber sie haben ihn zu Ihnen geschickt.«

 

Bradley starrte seinen Untergebenen erstaunt an.

 

»Steen?« fragte er ungläubig. »Was ist denn da passiert?«

 

»Ich glaube, es ist gut, wenn Sie ihn sprechen. Er hat einen Brief vom Innenministerium.«

 

Bradley eilte zu dem kleinen Zimmer zurück, in dem er vorhin mit Ann gesprochen hatte. Dort wartete ein Mann auf ihn; er saß auf einem Stuhl und hatte seine unförmigen Hände auf die Knie gelegt. Er war schlank, eckig, sah etwas verlegen aus und trug einen schwarzen Anzug, der ihm zu groß war. Um den Hals hatte er ein Taschentuch geknotet. Als der Detektiv eintrat, erhob sich der Fremde und berührte die Stirn mit der Hand.

 

»Guten Morgen, Mr. Bradley. Man sagte mir, daß ich Sie hier finden würde.«

 

»Nun, was haben Sie denn für Sorgen, Steen?«

 

Der Mann machte eine geringschätzige Bewegung mit dem Kopf.

 

»Ich brauche polizeilichen Schutz. Sie wissen, daß ich vom Innenministerium komme. Es ist wegen dieses Libbitt … Man sagt, daß seine Freunde mich beiseite schaffen wollen – aber ich glaube, ich werde sie zuerst kriegen.«

 

Er kicherte über diesen etwas sonderbaren Scherz.

 

»Gehen Sie nur einstweilen in das Zimmer des Gefängnisaufsehers«, erwiderte Bradley. »Ich werde nachher mit Ihnen sprechen, wenn meine beiden Fälle erledigt sind.«

 

»Nur zwei heute morgen?« fragte Mr. Steen erstaunt.

 

»Ja, aber sehr wichtige.«

 

Er war schon im Gerichtssaal, als Sedeman hereingeführt wurde, der wie immer heiter und guter Dinge war und nichts von seiner großartigen Haltung eingebüßt hatte. Sedeman begrüßte den Richter wie einen alten Freund und stritt durchaus nicht ab, daß er sich in der vergangenen Nacht verschiedenes hatte zuschulden kommen lassen. Dann erwartete er mit aller Seelenruhe sein Urteil. Und selbst die drei Wochen, die er aufgebrummt bekam, machten ihm nichts aus.

 

Der Gerichtsschreiber und ein Rechtsanwalt unterhielten sich leise miteinander. Bradley erkannte in dem Juristen einen Freund und Bekannten McGills, und als das Wort »Smith« fiel, wurde er neugierig, was McGill mit der Sache zu tun hätte. Er hätte sich nicht träumen lassen, daß sich Mark in diesen Fall einmischen würde. Aber er erhielt bald Aufklärung. Gleich, nachdem Mr. Sedeman den Saal verlassen hatte, ging Mr. Durther zu seinem Tisch.

 

»Bevor Euer Ehrwürden den nächsten Fall behandeln«, redete er den Richter kühn an, »hoffe ich, daß mir ein Antrag gestattet wird. Er steht in einer gewissen Beziehung zu einem Fall, der später erledigt werden soll. Euer Ehrwürden werden sich daran erinnern, daß ich vor Jahresfrist den Antrag auf Herausgabe gewisser Schriftstücke stellte, die das Eigentum meines Klienten Mr. McGill sind. Die Schriftstücke befanden sich damals im Besitz des verstorbenen Elijah Yoseph, der in Lady’s Stairs wohnte.«

 

Was mochte Mark hiermit bezwecken? Warum wählte er gerade diesen Augenblick, um an das Verschwinden Li Yosephs zu erinnern?

 

Der Richter nickte.

 

»Ich kann mich darauf besinnen«, sagte er kurz.

 

»Die Polizei legte damals Beschlag auf das Haus, und ich glaube, sie will es noch bis zur offiziellen Todeserklärung von Elijah Yoseph beschlagnahmt halten. Wir haben damals ein Zeugnis beigebracht, und zwar von demselben Mr. Sedeman, der durch einen merkwürdigen Zufall gerade heute hier erschien.«

 

»Ich kann mich auch darauf besinnen. Der Zeuge sagte unter Eid aus, daß die Schriftstücke irrtümlicherweise in dem Hause Li Yosephs zurückgelassen wurden.«

 

»Sie waren ohne jede Bedeutung«, begann der Rechtsanwalt wieder, aber der Richter schüttelte den Kopf.

 

»Das stimmt wohl kaum. Die Dokumente erwiesen sich als Listen von Chemikalienhändlern auf dem Kontinent, und man vermutet, daß diese Leute Li Yoseph oder seine Vorgesetzten mit Rauschgiften belieferten. So war es doch, Mr. Bradley?«

 

»Ja, Euer Ehrwürden.«

 

»Wir können den Beweis erbringen, daß diese Listen sich auf ein vollständig gesetzmäßiges Geschäft mit Chemikalien bezogen«, warf der Rechtsanwalt ein.

 

Nun wußte Bradley Bescheid. Mark hatte irgendwie erfahren, daß die Polizei das Geheimfach in der Tür des Autos entdeckt hatte, und bereitete nun schon im voraus eine Verteidigung vor. Diese Schriftstücke, die er damals in der Mordnacht beschlagnahmt hatte, konnten natürlich die Behauptung des Rechtsanwaltes stützen.

 

»Das ist eine Sache, die nur die Polizei angeht«, entgegnete der Richter. »Wenn diese der Meinung ist, daß die Dokumente wichtig sind, werde ich nichts weiter unternehmen.«

 

Er sah Bradley an, der sich sofort von seinem Sitz erhob.

 

»Wir haben bis jetzt die Beweise noch nicht beibringen können, die wir brauchen«, sagte er schnell, »aber ich halte diese Papiere für äußerst wichtig und muß daher dem Antrag des Anwalts widersprechen.«

 

Der Richter nickte zustimmend.

 

»Gut, dann ist der Antrag abgelehnt.«

 

Mr. Durther war anscheinend auf einen solchen Entscheid gefaßt. Bradley erhob sich aufs neue.

 

»Ich möchte Euer Ehrwürden bitten, jetzt den Fall William Charles Smith zu verhandeln. Ich hatte früher gebeten, die Verhandlung erst für den Nachmittag anzusetzen, aber aus einem besonderen Grund möchte ich ihn jetzt erledigt wissen. Er wird nur einige Minuten in Anspruch nehmen.«

 

Der Richter stimmte zu, und aus der Gefängniszelle wurde ein bleicher, schmächtiger Mann hereingeführt. Zu seinen beiden Seiten hingen Detektive; seine Handgelenke waren mit Handschellen gefesselt. Der Polizeirichter sah das sofort.

 

»Ist es notwendig, daß dieser Mann gefesselt ist?« fragte er.

 

»Ja, Euer Ehrwürden«, erwiderte Bradley. »Er hatte uns sehr viel zu schaffen gemacht.«

 

Der Mann starrte ihn an und grinste höhnisch.

 

Die Anklage wurde verlesen. Sie lautete auf vorsätzlichen Mord: Smith hatte Harry Bendon mit einem Revolver in der Nacht vom dreizehnten zum vierzehnten April niedergeschossen.

 

»Hat der Angeklagte den vorgeschriebenen Verteidiger?« fragte der Richter.

 

Bradley schüttelte den Kopf.

 

»Nein, Euer Ehrwürden. Ich stelle heute nur den Antrag, den Haftbefehl auszusprechen, und bitte, Smith bis nächsten Freitag in Untersuchungshaft zu nehmen.«

 

Der Mann auf der Anklagebank lehnte sich weit nach vorn über das Geländer.

 

»Wenn ich Sie jemals in die Finger bekomme, Bradley, werde ich Ihnen das Genick umdrehen und das Herz ausreißen!« brüllte er.

 

Dann wurden seine Worte undeutlicher, und niemand konnte verstehen, was er noch sagte.

 

Die Verhandlung dauerte nicht lange, der Haftbefehl wurde ausgesprochen, und der Gefangene wieder aus dem Gerichtssaal geführt.

 

»Ist dieser Mann vom Gerichtsarzt untersucht worden? Sein Benehmen war sehr merkwürdig.«

 

»Soviel ich weiß, steht er unter ärztlicher Beobachtung«, sagte Bradley. »Er ist rauschgiftsüchtig. Daher kommen auch die Unannehmlichkeiten, die wir mit ihm hatten.«

 

Der Richter schüttelte traurig den Kopf.

 

»In letzter Zeit nimmt die Anzahl der verhafteten Verbrecher, die Morphinisten und Kokainisten sind, erschreckend zu. Woher bekommen die Leute nur die Rauschgifte? Früher blieb dieses Laster auf eine gewisse Klasse von Frauen und Männern beschränkt. Man hörte niemals, daß Leute von der sozialen Stellung Smiths unter dem Einfluß solcher Drogen standen.«

 

»Die Ware wird jetzt systematisch über das ganze Land verteilt«, erwiderte Bradley.

 

Sofort erhob sich Durther.

 

»Ich hoffe, daß dieser schreckliche Fall nicht dazu benutzt wird, um Euer Ehrwürden voreinzunehmen gegen den Fall Ann Perryman, der jetzt verhandelt werden soll.«

 

»Ich hatte nicht im mindesten die Absicht!« Bradley stieß diese Worte in fast feindlichem Ton hervor, aber der Rechtsanwalt ließ sich dadurch nicht aus der Fassung bringen.

 

»Die vorherige Erledigung des Falles Smith und die Erwähnung von Rauschgiften müssen eine ungünstige Atmosphäre schaffen. Ich weiß ja nicht, welche Anklage die Polizei gegen Miss Perryman erheben will …«

 

Jemand berührte ihn am Ellbogen, Mark McGill war in den Gerichtssaal gekommen und hatte sich an seiner Seite niedergelassen. Bradley hatte es auch bemerkt.

 

»Lassen Sie die Sache vorläufig auf sich beruhen«, flüsterte Mark Durther zu. Als sich dann der Richter und der Gerichtsschreiber und Bradley leise miteinander berieten, fragte er: »Was beabsichtigt Bradley?«

 

»Wenn Sie wirklich Kokain in dem Auto gefunden haben, dann wird er sicher eine Anklage wegen ungesetzmäßigen Besitzes gefährlicher Drogen gegen sie erheben.«

 

»Haben sie es denn gefunden?«

 

»Ich weiß bis jetzt nur, daß Bradley die Geheimfächer in den Autotüren durchsucht hat.«

 

Mark machte ein langes Gesicht.

 

»Welche Strafe wird sie denn bekommen?«

 

»Drei Monate – vielleicht auch sechs. Es war natürlich Kokain?«

 

Mark nickte. »Sie wußte es aber nicht.«

 

Durther lächelte ungläubig.

 

»Wollen Sie mir vielleicht erzählen, daß sie nicht wußte, was sie beförderte?«

 

»Sie ahnte nicht, daß sich etwas in dem Wagen befand.«

 

In diesem Augenblick brach der Richter seine Besprechung ab, und der Gerichtsschreiber rief: »Ann Mary Perryman!«

 

Ann trat in den Saal, grüßte Mark durch ein Kopfnicken und ließ sich lächelnd auf der Anklagebank nieder. Bradley hatte dieses Lächeln schon früher an Ronnie bemerkt. Mit demselben hochmütigen Gesichtsausdruck hatte sich Anns Bruder auf die Anklagebank gesetzt.

 

»Nun, Mr. Bradley?«

 

Ann Perryman hatte sich an ihn gewandt. Er wollte seinen Ohren kaum trauen.

 

»Sie haben mich ja nun dort, wo Sie mich haben wollten. Dies muß wirklich ein äußerst glücklicher Tag für Sie sein.«

 

»Sie haben nur mit mir zu sprechen«, wies sie der Richter zurecht.

 

Sie lachte verächtlich.

 

»Guten Morgen, Euer Ehrwürden. Ich glaube, ich darf hier wohl auch etwas sagen.«

 

Der Gerichtsschreiber schaute auf das Schriftstück, das vor ihm lag.

 

»Sie sind angeklagt, ein Auto in solchem Tempo gefahren zu haben, daß die öffentliche Sicherheit gefährdet wurde. Bekennen Sie sich schuldig oder nicht?«

 

Der Richter unterbrach ihn.

 

»Es war doch heute morgen die Rede davon, daß noch eine weitergehende Klage vorgebracht werden sollte? Warum wird sie nicht verlesen?«

 

Zu McGills größtem Erstaunen schüttelte Bradley den Kopf.

 

»Es wird keine weitere Klage erhoben, Euer Ehrwürden. Es ist nichts entdeckt worden, was sie rechtfertigen könnte.«

 

Ann war die erste, die sich von dieser Überraschung erholte.

 

»Sie wollen doch nicht etwa mir gegenüber gnädig sein? Das hasse ich!« rief sie laut.

 

Der Richter versuchte, sie zum Schweigen zu bringen, aber sie ließ sich nicht beruhigen. Sie war in einer merkwürdig gehobenen Stimmung und fühlte sich als Herrin der Lage. Sie wußte, daß Bradley nicht die Wahrheit sagte! Er log um ihretwillen, und seine falsche Aussage brachte ihn in ihre Macht – dieser Gedanke war beseligend. Sie hatte nur den einen brennenden Wunsch, ihn tödlich zu treffen, ihn zu ruinieren, wie er Ronnie ruiniert hatte.

 

Ann verlor jedes Bewußtsein für die Gefahr, in der sie selbst schwebte – sie vergaß Mark und die gefährliche Situation, in der er sich befand. Sie dachte nur noch daran, daß sich ihr Feind selbst in ihre Hände gegeben hatte.

 

»Mein guter Freund, Inspektor Bradley, ist jetzt plötzlich ängstlich darauf bedacht, mir zu helfen! Und dabei war er es doch, der mich in eine Gefängniszelle gebracht hat!«

 

Durther starrte sie erschrocken an und versuchte, sie zum Schweigen zu bringen.

 

»Miss Perryman, vielleicht dürfte es besser sein, wenn Sie …«

 

Aber sie brachte ihn durch eine Handbewegung zum Schweigen.

 

»Inspektor Bradley war stets sehr liebenswürdig zu mir!« In ihrer Erregung sprach sie immer lauter. »Ich weiß nicht, wie oft er mich schon bessern wollte. Wir haben uns ja häufig genug in Restaurants zum Essen getroffen. Ich habe sogar mit Ihnen getanzt, Inspektor – das stimmt doch? Er ist in mich vernarrt – er sagt, er würde alles für mich tun, was in seinen Kräften stände!«

 

Bradley stand bewegungslos; sein Gesicht glich einer Maske.

 

»Schweigen Sie jetzt!« rief der Richter. Aber auch er warnte sie vergeblich.

 

»Ich werde nicht schweigen!« brauste sie auf. »Wenn ein Mann mir nachläuft, mich an der Hand hält wie ein verliebter Narr und dann die erste Gelegenheit ergreift, um mich in eine unsaubere Zelle zu stecken, so darf ich mich doch dazu äußern – und das tue ich jetzt. Bradley hat mein Auto in der letzten Nacht durchsucht – er behauptet, er habe nichts gefunden! Aber da lügt er! Er hat zwölf Päckchen Sacharin gefunden …«

 

»Seien Sie doch ruhig!« jammerte Durther.

 

»Es war Sacharin, und ich habe es geschmuggelt! Er weiß auch, daß ich das tat. Aber trotzdem tritt er hier vor Gericht auf und lügt – dieser arme, haltlose Mensch! Er denkt wohl, ich falle ihm aus Dankbarkeit um den Hals, aber ich will seinen Vorgesetzten zeigen, was für ein Mensch er ist – ein Detektiv, der Schuldbeweise vernichtet, weil er in eine Frau verschossen ist!«

 

Ihre Stimme überschlug sich; sie stand atemlos da und war plötzlich verwirrt über die Wut, in die sie sich hineingeredet hatte.

 

»Wollen Sie jetzt endlich ruhig sein!« sagte der Richter zornig.

 

»Ich habe alles gesagt, was ich sagen wollte.«

 

Durther erhob sich und sah sie an.

 

»Sind Sie denn vollständig verrückt geworden?« fragte er. »Sehen Sie nicht, was Sie angerichtet haben?«

 

Der Richter legte sich nun ins Mittel.

 

»Ich weiß nicht, was all dieses Geschwätz zu bedeuten hat, und ich gebe nichts darauf. Es ist keine weitere Anklage gegen Sie erhoben. Erklären Sie sich für schuldig, daß Sie durch schnelles Fahren die öffentliche Sicherheit gefährdet haben?«

 

»Wir erklären uns für schuldig, Euer Ehrwürden«, erwiderte Durther, der sich schnell zu dem Richter gewandt hatte.

 

»Nun gut, Sie werden mit zwanzig Pfund bestraft und haben außerdem die Verhandlungskosten zu tragen. Ihr Führerschein wird für zwölf Monate eingezogen.«

 

Mark McGill atmete erleichtert auf; er hatte niemals geglaubt, daß die Verhandlung einen so glimpflichen Ausgang nehmen würde.

 

Ann hielt sich an dem Geländer der Anklagebank fest.

 

»Kann ich jetzt gehen und meinen Mantel holen?« fragte sie leise.

 

Die alte Wärterin winkte ihr. Ann reichte Mark die Hand, bevor sie in den Gang trat, der zu den Gefängniszellen führte.

 

»Warum, zum Teufel, hat sie das getan? Sie muß ihn fürchterlich hassen«, sagte Mark leise zu dem Rechtsanwalt, aber Mr. Durther war nicht in der Stimmung, die Sache weiterzudiskutieren.

 

»Kommen Sie mit und bezahlen Sie die Strafe«, erwiderte er nur.

 

Diese Verhandlung gegen Ann war der letzte Fall gewesen, der auf der Liste stand. Es war nahe an Mittag, und der Gerichtssaal leerte sich schnell. Nur der Richter ordnete noch seine Papiere auf dem Tisch. Er winkte Bradley zu sich heran.

 

»Das war ja ein ganz ungewöhnlicher Ausbruch!«

 

»Ja«, erwiderte der Detektiv teilnahmslos. Er war im Augenblick unfähig zu jedem Gedanken.

 

»Das war das erstemal in meiner langen Praxis, daß eine Gefangene den Detektiv anklagte, er wäre in sie verliebt.« Dem Richter schien die Sache Spaß zu machen. »Sie ist wirklich sehr hübsch«, meinte er mitfühlend. »Es war natürlich sehr unvernünftig und unklug von ihr, derartig gegen Sie aufzutreten – wirklich sonderbar!«

 

Bradley befand sich nun allein in dem verlassenen Saal. Er versuchte, seine Gedanken zu ordnen und sich zu fassen. Als sich die Tür öffnete und Ann zurückkam, stand er noch dort.

 

Sie erblickte ihn, blieb stehen und sah sich nach einem anderen Weg um. Aber sie mußte an ihm vorbeigehen.

 

»Ist dies der Ausgang?« fragte sie und vermied es, ihn anzuschauen.

 

»Ja, es ist einer der Ausgänge.«

 

Er lehnte mit dem Rücken an der Tür, die sie passieren mußte.

 

»Würden Sie mich bitte vorbeilassen?«

 

Sein vorwurfsvoller Blick traf sie.

 

»Ich hätte niemals gedacht, daß Sie so unglaublich gemein sein könnten«, sagte er ruhig.

 

»Kann ich jetzt gehen?«

 

»Bitte.« Er öffnete die Tür für sie. »Ich hoffe, Sie wissen, wohin dieser Weg führt!«

 

Ihr Widerwillen gegen ihn erwachte aufs neue.

 

»Nach unten – es ist der Weg, von dem Sie mich und auch Ronnie retten wollten«, erwiderte sie bitter.

 

Er nickte.

 

»Ronnies letzte Worte, die er zu mir sprach, waren: ›Gott sei Dank kennt meine Schwester diesen Mark McGill nicht!‹«

 

»Das ist wohl wieder eine neue Erfindung – etwa, wie die leeren Geheimfächer in meinem Wagen? Sie sollten eigentlich Romane schreiben!«

 

»Das war allerdings erfunden – ich habe die Päckchen beseitigt.«

 

»Sie edler Mensch!« erwiderte sie höhnisch. »Ich hoffe nur, daß Sie jetzt Ihre Stelle verlieren!«

 

»Das glaube ich kaum«, sagte er mit einem Lächeln. »Selbst wenn meine Vorgesetzten wüßten, daß ich Kokain in dem Wagen fand …«

 

»Das ist eine unverschämte Lüge – es war kein Kokain!«

 

»Sie haben sich in einen nichtswürdigen Handel eingelassen.«

 

Bradleys Stimme klang ernst und streng. »Heute wurde ein Mann in diesen Gerichtssaal gebracht, der unter der Anklage des Mordes stand. Er ist Morphinist – eins der Opfer von McGill! Wahrscheinlich haben Sie dafür gesorgt, daß er das Rauschgift bekam.«

 

»Sie sind ein niederträchtiger Lügner!« rief sie erregt. »Ich habe niemandem Rauschgifte gebracht! Ich tue dasselbe, was Ronnie tat!«

 

»Ja, da haben Sie recht – auch er verteilte Rauschgifte, die Li Yoseph und McGill an Land schmuggelten.«

 

»Sie machen nicht einmal vor den Toten halt mit Ihren Verleumdungen«, sagte sie schroff. »Nicht einmal vor dem Mann, den Sie ermordet haben.«

 

»Wie töricht Sie doch sind«, entgegnete er traurig. »Sie haben heute versucht, mich zu ruinieren – die Zeitungen werden voll sein von Ihren Anklagen. ›Ein Detektiv, der seine Gefangene liebt‹ – das ist die Sensation, die Sie sich gewünscht haben!«

 

Sie sah ihn mit flammenden Blicken an.

 

»Ich habe nicht gesagt, daß Sie mich lieben. Ich habe gesagt, daß Sie in mich vernarrt sind, und diesen Zustand verwechselt man in Ihren Kreisen wohl mit Liebe. Ich hasse Sie, und ich hasse Ihren Beruf. Sie leben von dem Elend und dem Kummer armer Männer und Frauen. Sie steigen dadurch zu Rang und Ehren auf, daß Sie Herzen brechen und das Leben Ihrer Mitmenschen ruinieren!«

 

Sie sah, daß Bradley lächelte, und wurde noch gereizter.

 

»Sie können noch darüber lachen?!«

 

»Verlassen Sie jetzt den Gerichtssaal«, sagte er. »Draußen steht ein Polizist, der auch für Sie den Verkehr regelt, damit Sie wohlbehalten über die Straße gehen können. Detektive wachen darüber, daß Ihre Handtasche nicht gestohlen wird. Und wenn nicht Leute meines Berufes da wären, so würden bald andere Männer kommen und Sie wegen einer Zehnpfundnote umbringen.«

 

»Wie großartig!«

 

Er kümmerte sich nicht um ihre höhnische Bemerkung.

 

»Gehen Sie nun hin und üben Sie Ihren Beruf aus! Sie ziehen dadurch Männer und Frauen in Schmutz und Elend hinunter. Sie bringen sie vor die Schranken des Gerichts – und an den Galgen. Ein gemeiner Beruf, ob Sie ihn kennen oder nicht. Ich liebe Sie, wie nur ein Mann eine Frau lieben kann, aber ich habe Ihnen eine letzte Chance gegeben.«

 

In diesem Augenblick trat McGill ein.

 

»Ronnie ging seinen Weg und starb«, fuhr Bradley fort. »Sie werden einen noch schlimmeren gehen – wenn Sie ihn nicht schon gegangen sind!«

 

Das wollte er eigentlich nicht sagen, aber die Worte waren ihm entschlüpft, bevor er an sich halten konnte.

 

In der nächsten Sekunde schlug ihm Ann ins Gesicht, dann starrte sie ihn an, entsetzt über ihre Tat.

 

»Es tut mir leid, das hätte ich nicht sagen sollen.«

 

McGill machte jetzt einen groben Fehler.

 

»Sie verfluchter Kerl! Was sollte denn das heißen, Bradley?«

 

Der Inspektor sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an.

 

»Sie haben gesehen, daß sie mich geschlagen hat«, erwiderte er langsam. »Ich gebe den Schlag jetzt weiter!«

 

Seine Faust fuhr dem anderen blitzschnell ins Gesicht. Im nächsten Augenblick lag Mark auf dem Boden.

 

Mit Mühe erhob er sich wieder, sein Gesicht war wutverzerrt.

 

»Bei Gott, dafür sollen Sie Ihre Uniform verlieren!« stieß er atemlos hervor. Einen Moment dachte er, der Detektiv würde sich wieder auf ihn stürzen, aber Bradley rührte sich nicht.

 

»Das ist nichts im Vergleich zu dem, was Ihnen noch bevorsteht. Ich werde Sie schon fassen, McGill – bevor Sie Miss Perryman auf Abwege gebracht haben!«

 

»Mich fassen? Sie glauben wohl, Sie können mich einschüchtern? Ich fürchte mich weder vor Ihnen noch vor Scotland Yard noch vor dem besten Richter, der jemals eine Gerichtssitzung leitete.«

 

Bradley sah, daß Steen eintrat und zeigte auf die Gestalt in dem schwarzen Anzug.

 

»Dort steht noch jemand, den Sie nicht erwähnt haben, er hat heute um polizeilichen Schutz gebeten, weil er ein unbeliebtes Gewerbe ausübt – es ist Steen!«

 

In Marks Zügen spiegelten sich Schrecken und Furcht wider.

 

»Steen!«

 

»Ja, Steen – der Henker!« sagte Bradley. »Begrüßen Sie ihn nur, Sie werden ihm wieder begegnen!«

 

Kapitel 11

 

Kapitel 11

 

McGill und Ann Perryman fuhren schweigend nach Hause. Ann sah bleich aus und sprach während der Fahrt kein Wort, obgleich Mark verschiedene Versuche machte, ein Gespräch mit ihr zu beginnen. Aber er war klug genug, sie in Ruhe zu lassen, als er sah, daß sie nicht über die Ereignisse des Morgens mit ihm sprechen wollte.

 

»Kommen Sie zu mir herein und frühstücken Sie etwas«, schlug er vor. »Sie sind doch sicher sehr hungrig.«

 

Er erwartete eine Absage, denn Ann hatte schon vorher die Absicht geäußert, in ihre Wohnung zu gehen. Aber zu seinem größten Erstaunen nahm sie die Einladung an. Sie war jetzt ganz teilnahmslos und apathisch; all die feurige Erregung, die sie vor Gericht gezeigt hatte, das Selbstbewußtsein, das er ebenso bewunderte wie fürchtete, schienen einer anderen Frau zu gehören.

 

Er wollte klingeln, aber sie hielt ihn davon ab.

 

»Bestellen Sie kein Frühstück für mich, Mark. Ich will nur eine Tasse Tee trinken, das genügt vollkommen. Dann werde ich mich ausschlafen.«

 

»Arme, tapfere Ann! Dieser Bradley ist aber auch ein niederträchtiger Kerl!«

 

Sie zuckte die Schultern und seufzte.

 

»Ein niederträchtiger Kerl!« wiederholte sie gleichgültig.

 

»Aber Sie haben ihn so gut getroffen, wie niemand ihn treffen konnte«, sagte Mark mit Genugtuung. »Ganz London wird sich über ihn lustig machen und ihn auslachen – es ist nur schade, daß keine Zeitungsreporter zugegen waren, die Sie gesehen haben …«

 

»Sagen Sie das bitte nicht.« Ihre Stimme klang rauh und heiser. »Ich bin nicht sehr stolz auf mich selbst.«

 

»Sie sollten es aber sein«, erwiderte er mit erheuchelter Herzlichkeit. »Wenn jemals ein Mann es verdiente …«

 

»Er hat es nicht verdient. Er hat seine Pflicht getan. Es macht mich ganz krank, wenn ich daran denke.«

 

»Das ist nur die Reaktion«, entgegnete Mark freundlich. »Sie mußte ja kommen. Aber Bradley hat seinen Teil.«

 

Sie hatte sich in eine Ecke des Sofas gesetzt und schaute ihn nachdenklich an.

 

»Und das war der Henker – dieser schreckliche Mann in Schwarz?«

 

Er zuckte bei dieser Frage zusammen.

 

»Ja, das war Steen. Er sieht ganz so aus, wie man ihn sich vorstellt. Ich hatte ihn natürlich noch nie gesehen. Man geht doch solchen Unglücksraben gern aus dem Weg.«

 

»Er hat großen Eindruck auf mich gemacht. Es lag etwas Trauriges in seinem Gesicht und etwas merkwürdig Ehrenhaftes.«

 

Mark sah sie groß an.

 

»Ach, ich möchte nichts mehr sagen – ich wünschte nur, ich hätte es nicht getan – wirklich, ich wünschte es!«

 

Er klopfte ihr begütigend auf die Schulter.

 

»Meine liebe Ann, Sie sind sehr tapfer gewesen. Die Abendzeitungen werden eingehend darüber berichten. ›Aufsehenerregende Szene vor Gericht‹ – ich bin schon gespannt, alle die Artikel zu lesen. Ich werde Ihnen die Zeitungen in Ihre Wohnung schicken, wenn sie kommen.«

 

Sie stand plötzlich auf.

 

»Nein, ich will sie nicht sehen – ich will überhaupt nicht an diese Geschichte erinnert werden! Er wollte mir doch helfen.«

 

Sie sah Mark lang und ernst an.

 

»Warum bestand er nur dauernd darauf, daß es Kokain und nicht Sacharin war?«

 

»Weil er ein geborener Lügner ist«, erwiderte Mark schnell. »Er möchte vorgeben, daß er Ihnen einen noch größeren Dienst geleistet hat, als es in Wirklichkeit der Fall war. Sehen Sie denn das nicht ein?«

 

Ann antwortete nicht.

 

»Es war prachtvoll, wie Sie ihm vor Gericht seine Schwäche vorhielten. Sie haben mir früher nie etwas davon erzählt, daß Sie ihn ganz in der Hand hatten. Ich wußte nur, daß Sie öfters mit ihm zusammentrafen, daß er Sie ab und zu zum Essen einlud und daß Sie ein- oder zweimal mit ihm getanzt haben. Aber ich hatte nicht die geringste Ahnung, daß er wirklich in Sie verliebt war. Wenn ich das gewußt hätte …«

 

»Wenn Sie es gewußt hätten?«

 

Mark lächelte.

 

»Nun, dann hätte ich ihm meine Meinung gesagt.«

 

»Warum denn?«

 

Die Frage kam ihm überraschend.

 

»Warum?« fragte er etwas verlegen. »Ich würde natürlich nicht erlauben …«

 

»Haben Sie plötzlich elterliche Gewalt über mich? Fühlen Sie sich für mein Tun und Lassen oder gar für meine Moral verantwortlich?«

 

McGill sah ein, daß es gefährlich war, dieses Gespräch weiterzuführen.

 

»Wir versteigen uns zu sehr in unfruchtbare Erörterungen – auf jeden Fall ist Bradley vollkommen erledigt.«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Ich weiß zwar nicht viel über die Verhältnisse bei der Polizei, aber ich bin sicher, daß sich seine Vorgesetzten nicht um meine Reden kümmern werden. Es gibt doch kaum eine Verhandlung vor Gericht, bei der ein Angeklagter nicht wenigstens den Versuch macht, den Detektiv irgendwie anzugreifen, der ihn überführt hat. Im allgemeinen hört man nicht darauf, und auch meine Angriffe gegen Bradley werden so beurteilt werden – wenigstens hoffe ich das.«

 

»Wie – Sie hoffen das sogar noch?« fragte er atemlos.

 

»Ja, ich hoffe es. Ich war ja so gemein und niederträchtig gegen ihn – ich wünschte, ich könnte es ungeschehen machen.«

 

Mark lachte vor sich hin.

 

»Ann, Sie haben sich doch nicht etwa selbst in ihn verliebt?«

 

In diesem Augenblick wurde der Tee hereingebracht, und Ann war einer Antwort enthoben. Als sie eine Tasse getrunken hatte, nahm sie ihre Tasche und ihren Mantel.

 

»Ich werde jetzt hinübergehen.« In der Tür drehte sie sich noch einmal um und blieb nachdenklich stehen. »Warum hat er nur so hartnäckig behauptet, daß es Kokain war – sowohl bei mir als auch bei Ronnie? Es wäre entsetzlich, wenn das wahr wäre.«

 

Mark hielt es für gut, den Entrüsteten zu spielen.

 

»Glauben Sie wirklich, daß ich etwas so Schreckliches tun würde? Es war bestimmt kein Kokain! Sie haben den Stoff doch selbst gesehen – Sie haben ihn geschmeckt! Guter Gott, was ist denn nur in Sie gefahren? Wenn das so weitergeht, werden Sie mir nächstens nicht mehr trauen.«

 

Das war eine ungeschickte Herausforderung, denn als sich ihre Blicke jetzt trafen, wurde es ihm zur Gewißheit, daß sie bereits an ihm zweifelte.

 

Kapitel 12

 

Kapitel 12

 

Manchmal lud Mr. Tiser einige bevorzugte Bewohner des Versorgungsheims in sein Privatzimmer ein, das ihm zu gleicher Zeit auch als Schlafzimmer diente. Der Raum lag im Erdgeschoß und war nach dem Flur zu durch eine Doppeltür abgeschlossen. Tiser erzählte allen, daß er diese gepolsterte Tür habe anbringen lassen, um durch den Lärm im Haus nicht gestört zu werden; aber diese Erklärung wirkte etwas sonderbar, da das einzige große Fenster des Zimmers auf eine verkehrsreiche, geräuschvolle Straße führte. In Wirklichkeit war die Polstertür nur ein Schutz gegen die Horcher von außen.

 

Von Zeit zu Zeit verhandelte Mr. Tiser wichtige Dinge in seinem Zimmer, die sowohl ihn als auch die Verbrecher angingen, die eine Unterkunft in dem Heim gefunden hatten. An diesem Abend hatte er drei der Polizei wohlbekannte Männer zu sich bestellt.

 

Harry, der Schläger, gehörte zu ihnen. Niemand wußte, woher er diesen Beinamen bekommen hatte. Ein anderer war Lew Patho. Sie saßen mit dem nicht weniger gefährlichen dritten um einen Kartentisch und tranken Whisky, für den sie nicht zu zahlen brauchten.

 

»Es tut mir nur leid für euch«, sagte Tiser gerade. »Ihr armen Kerle, die ihr von der Polizei überall herumgejagt werdet und niemals eine Chance habt hochzukommen, bloß weil ihr nun einmal unglücklicherweise eure Vorstrafen habt! Und dabei wurdet ihr doch auf falsche Zeugenaussagen hin verhaftet und eingesteckt.«

 

Die drei sahen sich zustimmend an.

 

»Ich will ja im allgemeinen nichts gegen die Polizei sagen«, fuhr Tiser fort. »Es sind ganz ehrbare Leute darunter. Ich will auch nichts gegen Mr. Bradley sagen, der ein ganz gutes Herz haben mag. Aber was er sich heute erlaubte, war doch etwas zuviel.«

 

Er machte eine längere Pause, um den Leuten Gelegenheit zu geben, ihn zu fragen. Aber keiner von ihnen sagte ein Wort.

 

»Also, nun hört mal, was er gesagt hat. ›Ich wundere mich nur, Mr. Tiser‹ – er nennt mich nämlich immer Mr., das ist anständig von ihm –, ›warum Sie so schlechte Kerle wie Meuchelmörder‹ denkt euch mal, so ein gemeines Wort hat er gebraucht – ›in Ihrem Heim beherbergen. Zum Beispiel diesen Lew Patho und diesen Harry und den gemeinen Menschen mit dem unverschämten, roten Gesicht, der erst neulich drei Monate gesessen hat, weil er seine Frau so verprügelt hat!‹«

 

Der »Mann mit dem roten Gesicht« rutschte unruhig hin und her.

 

»Wenn der mir etwas sagen will…« begann er heiser.

 

Aber Tiser winkte ihm ab.

 

»Ich kann mir nicht helfen, ich habe immer das Gefühl, ja sogar die Überzeugung, daß dieser Bradley nicht eher ruht, als bis er euch alle wieder hinter Schloß und Riegel hat. Es ist wirklich schlimm, daß sich ein solcher Beamter so gehässig zeigen kann. Ich hielt es für meine Pflicht, euch zu warnen.«

 

Tiser lehnte sich in seinen Stuhl zurück. Harry, der Schläger, runzelte düster die Stirn.

 

»Er wird seine Ladung schon in den nächsten Tagen bekommen.«

 

»Ja, das fürchte ich auch«, meinte Tiser kopfschüttelnd. »Seht mal, ich kenne seine Gewohnheiten ganz genau. Ich weiß, wo er wohnt und wann er nach Hause geht. Schon oft habe ich mir gedacht, wie dumm es von dem Mann ist, der doch so viele Feinde hat, daß er nachts um ein Uhr allein über Bryanston Square geht. Dort ist doch um diese Zeit keine Menschenseele. Ich muß sagen, er fordert sein Schicksal heraus!«

 

Er erhielt keine Antwort: Die drei Männer starrten in ihre Gläser.

 

»Ich will durchaus nicht behaupten, daß es schön wäre, wenn sich jemand an diesem schlauen und rührigen Polizeibeamten vergriffe – aber verstehen könnte ich es schon.«

 

Er erhob sich und brachte eine neue Flasche von der Kredenz.

 

»Nun, meine Jungen, jetzt werde ich euch einmal das Radio anstellen. Ein unbekannter Wohltäter hat dem Versorgungsheim einen Apparat geschenkt. Gestern ist er gebracht worden.«

 

Als sie eine Weile der Musik gelauscht hatten, wandte sich der Mann mit dem roten Gesicht an die anderen. Vielleicht hatte ihn die Musik zu diesem Plan inspiriert.

 

»Wie wäre es, wenn wir heute auf Bradley warteten? Der Kerl wird zu üppig.«

 

»Pst, pst!« Mr. Tiser lächelte und winkte beschwichtigend mit der Hand. Dann hielt er sich die Ohren zu. »So etwas darf ich nicht hören, das wißt ihr doch!«

 

*

 

Inspektor Bradley machte sich um drei Viertel eins in derselben Nacht auf den Heimweg. Der Mann mit dem roten Gesicht folgte ihm in einer gewissen Entfernung. Alles, was Tiser gesagt hatte, schien genau zu stimmen. Der Detektiv nahm kein Taxi, auch stieg er nicht auf einen Nachtautobus, obwohl sich dicht vor dem Haus eine Haltestelle befand. Mit der Zeit wurde der Abstand zwischen den beiden Männern immer geringer, und als Bradley nach Bryanston Square einbog, war ihm sein Verfolger dicht auf den Fersen. Hier tauchten auch dessen beide Freunde aus der Dunkelheit auf und schlossen sich ihm an. Ihre Schritte waren nicht zu hören, denn Mr. Tiser hatte ihnen vorsorglich vor einigen Tagen Gummischuhe geschenkt. Seine Menschenfreundlichkeit war grenzenlos.

 

Als Bradley auf dem verlassenen Gehsteig entlangging, wollten sich die drei Verbrecher auf ihre Beute stürzen. Sie waren nur noch fünf Schritte von dem Detektiv entfernt, als sich dieser plötzlich umwandte.

 

»Hände hoch – schnell!« befahl er kurz. »Fortlaufen hat keinen Zweck! Das ist nur Kraftvergeudung.«

 

Noch während er sprach, erschienen plötzlich zwei Polizeiautos, und zwar von entgegengesetzten Seiten. Sie hielten in einer Entfernung von zwanzig Metern, und mehrere Beamte sprangen ab.

 

Schnell waren die drei durchsucht.

 

Als die Leute in ein Polizeiauto gebracht worden waren, trat Bradley an den Wagen heran.

 

»Wenn ich Tiser wiedersehe, werde ich ihm sagen, daß ihr seinen Vorschlag genau ausgeführt habt. Es wäre besser gewesen, wenn ihr euch das Radioprogramm zu Ende angehört hättet. Nachher gab es nämlich noch einen interessanten Vortrag über Gefängnisse. Allerdings hätte der Redner euch ja nicht viel Neues erzählen können.«

 

Befriedigt von dem Erfolg ging Bradley nach Hause.

 

Mr. Tiser folgte in dieser Nacht einem unwiderstehlichen Drang und untersuchte den kleinen Lautsprecher; ein geschickter Mechaniker, der in dem Heim wohnte, half ihm dabei. Auf diese Weise erfuhr er, daß der Apparat mit einem Draht in Verbindung stand, der nicht zur Antenne, sondern zu dem Telefonmast auf dem Dach führte. Tiser wurde aschgrau im Gesicht, als er an all die gefährlichen Unterhaltungen dachte, die seit der Anbringung des »Radios« in seinem Zimmer geführt worden waren. Schließlich entdeckten sie im Gehäuse ein äußerst empfindliches Mikrophon – alle Gespräche waren abgehört worden!

 

*

 

Eine Woche verging, aber Ann konnte sich zu keiner Tätigkeit aufraffen. Sie saß zu Hause und dachte nach. Aber sie kam zu keiner Klarheit, ihre Gedanken verwirrten sich nur noch mehr.

 

Die Entziehung des Führerscheins beraubte sie ihres größten Vergnügens, denn die Autofahrten hatten ihr viel Zerstreuung geboten. Aber obwohl sie darauf verzichten mußte, lebte ihr Haß gegen Bradley nicht wieder auf.

 

Einmal sah sie ihn, als sie im Park spazierenging. Er fuhr in einem kleinen Auto hinter einem Mannschaftswagen der Polizei her. Was mochte wohl das Ziel dieser Fahrt sein? Wen würde das Geschick ereilen?

 

Auch in der Zeitung las sie ab und zu von ihm; einmal trat er als Zeuge gegen einen Autodieb, ein andermal gegen eine Bande von Taschendieben auf.

 

Mark versuchte, sie zu zerstreuen, und nahm sie eines Abends zu dem Versorgungsheim mit; aber es war kein angenehmes Erlebnis für sie. Mark erzählte ihr von Sedeman und zeigte ihr sein Zimmer.

 

»Wir können den alten Kerl nicht gut vor die Tür setzen, deshalb haben wir sein Zimmer nicht wieder belegt«, erklärte er. »Augenblicklich wohnen verhältnismäßig wenig Leute im Haus.«

 

»Haben Sie denn die anderen alle schon gebessert?«

 

Er glaubte, einen sarkastischen Unterton aus ihrer Frage herauszuhören, und war etwas bestürzt darüber.

 

»Wir machen nicht den Versuch, sie zu bekehren – das hätte wenig Zweck. Wir wollen ihnen nur Arbeit verschaffen und sie zu einem geordneten Leben zurückführen, wenn sie aus dem Gefängnis kommen«, sagte Mark auf der Heimfahrt.

 

»Welche Art von Arbeit verschaffen Sie ihnen denn?«

 

Wieder fühlte er ihr Mißtrauen aus dieser Frage.

 

Über Schmuggel sprachen sie nicht mehr. Mark hatte sich jene böse Erfahrung als Warnung dienen lassen. Weder in seiner Garage noch in seinem Haus bewahrte er irgendwelche Ware auf, die seine gesetzwidrige Tätigkeit hätte verraten können. Selbst Anns Auto hatte er in einer weiter entfernten Garage in der Nähe der Edgware Road untergebracht.

 

Aber drei Wochen nach der gerichtlichen Verhandlung sollte Mark noch einen viel größeren Schrecken bekommen.

 

Kapitel 13

 

Kapitel 13

 

Mark McGill ging in seinem großen Wohnzimmer auf und ab und blieb zuweilen stehen, um auf den düsteren Platz hinunterzuschauen. Auf dem Tisch lagen viele Zeitungsausschnitte verstreut, die ihm eine Nachrichtenagentur gesandt hatte. Sie bezogen sich auf die Gerichtsverhandlung gegen Ann.

 

Durch Tisers Ankunft wurde er in seinen Betrachtungen unterbrochen. Im Versorgungsheim ging nicht alles nach Wunsch. In kurzer Zeit hatte die Polizei zweimal das Haus durchsucht; einer der Insassen war verhaftet und zu neun Monaten Gefängnis verurteilt worden. Auch war die Polizei in der Provinz in letzter Zeit sehr tätig gewesen, und Marks Einkommen hatte sich dadurch beträchtlich verringert. Er besaß zwar ein ansehnliches Vermögen, das er durch seinen illegalen Handel zusammengebracht hatte, aber seine Ausgaben und Spesen waren auch sehr groß. Außerdem bereitete ihm die Einziehung von Anns Führerschein Schwierigkeiten, mit denen er nicht gerechnet hatte.

 

Er wandte sich unfreundlich und brummend um, als Tiser ins Zimmer trat, ging dann zur Tür und schloß sie. Tiser sah ihn furchtsam an. Das Zucken seines Gesichtes und die nervösen Bewegungen seiner Hände verrieten Mark, daß etwas Besonderes vorgefallen sein mußte.

 

»Nun, was ist denn mit dir los?« fuhr Mark ihn an. »Laß dich um Gottes willen in diesem Zustand nicht vor Ann Perryman sehen!«

 

»Vor Ann?« Tiser hob seine zitternde Hand. Er versuchte zu lächeln, aber sein Gesicht verzog sich nur zu einer greulichen Grimasse. »Ist dir an Ann nichts aufgefallen in der letzten Zeit? Sie spricht kaum mit mir, und sieht mich überhaupt nicht mehr an. Hat sie etwas gegen mich?«

 

»Sie hat noch nie viel mit dir gesprochen«, brummte Mark. »Ich verstehe nicht, daß ein Mädchen oder eine Frau, die nur ein bißchen Selbstachtung besitzt, mit dir überhaupt reden mag. Aber jetzt will ich wissen, was mit dir los ist!«

 

»Ich mache mir schwere Sorgen um sie, Mark«, sagte Tiser leise. »Sie war so ruhig. Denke doch, als wir gestern zusammensaßen, hat sie nicht ein Wort gesagt.«

 

»Das zeigt nur, daß sie vernünftig ist. Was hätte sie denn auch mit dir reden sollen?« fragte Mark ungeduldig. Er wollte seine eigene Unruhe verbergen, denn auch ihm war der Wandel an Anns Wesen aufgefallen.

 

»Ich habe einen dieser Leute von Lady’s Stairs gesprochen«, sagte Tiser eindringlich. »Der hat mir etwas erzählt, was mich sehr beunruhigt, Mark. Wenn ich es früher gewußt hätte, wäre ich vor Furcht gestorben.«

 

»Was denn? Wenn du dich fürchtest, ist noch lange nicht gesagt, daß man die Sache ernst nehmen muß.«

 

»Sie haben die ganze Zeit nach Li gesucht«, fuhr Tiser in heiserem Flüsterton fort. »Wir dachten damals, sie hätten die Nachforschungen aufgegeben, aber das stimmt nicht. Jeden Tag haben sie sich in der Gegend von Lady’s Stairs zu schaffen gemacht. Der Kerl hat mir gesagt, daß sie vor vierzehn Tagen einen Taucher hinuntergelassen haben. Der sollte unter dem Haus alles absuchen. Niemand hat etwas davon erfahren, sie haben es nachts gemacht. Aber der Mann hat mit eigenen Augen gesehen, wie sie den Taucher hinabgelassen haben.«

 

Mark schwieg. Diese Nachricht hatte ihn doch überrascht.

 

»Sie haben aber wohl nichts gefunden. Mein Mann kam nahe genug an die Beamten heran, daß er ihre Unterhaltung hören konnte. Sie haben die Nachforschungen jetzt endgültig aufgegeben.«

 

Mark strich sich mit der Hand über sein Kinn.

 

»Das hätten sie gleich tun können. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist Li mit der Flut in den Fluß gekommen und ins Meer gespült worden.«

 

Aber Tiser war nicht davon überzeugt.

 

»Das wollen wir hoffen. Es wäre doch zu schrecklich, wenn er mit dem Leben davongekommen wäre und nun aus Rache uns bei der Polizei anzeigte. Erinnerst du dich daran, was er damals sagte?« Tiser schüttelte sich vor Furcht und sah sich ängstlich im Zimmer um. »Kurz bevor du ihn niederknalltest, Mark? Er sagte, er würde wiederkommen, du könntest ihn nicht töten. Ich habe ihn das auch schon früher sagen hören. Und dann denke doch einmal an die Geister, die er immer sah, an die kleinen Kinder … und Ronnie …«

 

McGill schaute ihn unwirsch an.

 

»Was, zum Teufel, ist denn in dich gefahren, Tiser? Bist du nicht mehr ganz richtig im Kopf oder hast du Koks genommen?«

 

»Nein, nein!« Tiser schüttelte energisch den Kopf, aber seine Stimme klang nur noch wie ein Winseln. »Ich möchte nur wissen – ob du glaubst, daß Geister auf die Erde zurückkommen können?«

 

»Du bist betrunken«, sagte Mark schroff.

 

»Nein, das bin ich nicht!« Tiser faßte ihn ängstlich am Arm. »Höre doch, vergangene Nacht, als ich im Bett lag … ich hatte nur ein oder zwei Glas getrunken …«

 

Mark ging zum Schrank, schenkte ein Glas Whisky ein und drückte es Tiser in die Hand.

 

»Trink einmal, damit du dich beruhigst, du feige Memme! Dann erzählst du mir, was du zu sagen hast. Wenn ich soviel Morphium und Koks schnupfte wie du, dann würde ich auch Gespenster sehen!«

 

Tiser goß das scharfe Getränk hinunter. Dann wurde er etwas ruhiger und erzählte seine Geschichte. Am Abend vorher war er früher als gewöhnlich zu Bett gegangen. Er gab wohl zu, daß er etwas getrunken habe, aber er protestierte heftig dagegen, daß es zuviel gewesen sei. Mehrere Male wachte er auf, und beim drittenmal kam ihm plötzlich zum Bewußtsein, daß er nicht allein im Zimmer war. Das Mondlicht fiel hell durch das Fenster.

 

»Er war da, Mark!« Tisers Stimme klang kläglich und weinerlich, seine Zähne klapperten, und er konnte kaum sprechen. »Er saß in einem Stuhl, hatte die Hände auf die Knie gelegt und sah mich an!«

 

»Wer denn, wer?«

 

»Li Yoseph! Er hatte den schmutzigen, alten Kaftan an und trug seine Pelzkappe. Ich sehe noch jetzt sein gelbes Gesicht! Ach Gott, es war zu schrecklich!«

 

Er bedeckte das Gesicht mit den Händen, als ob er dadurch die entsetzliche Erinnerung verscheuchen könnte.

 

»Du lagst doch im Bett, nicht wahr? Und dann bist du aufgestanden und hast gesehen, daß du geträumt hast!« suggerierte ihm Mark.

 

Aber Tiser schüttelte den Kopf.

 

»Nein, ich habe nicht geträumt. Er war wirklich da, er saß auf dem Stuhl und sah mich an. Zuerst hatte er nichts gesagt – aber dann sprach er wieder zu den Geistern und streichelte die kleinen Kinder. Was nachher geschah, weiß ich nicht mehr, ich habe wohl die Besinnung verloren. Als ich wieder zu mir kam, hatte ich ein fürchterliches Gefühl. Es war schon hell, und bald darauf ging die Sonne auf …«

 

»Und er war nicht in deinem Zimmer!« fuhr ihn Mark an. »Ich glaube, du mußt dir eine andere Whisky-Marke aussuchen.«

 

»Ich habe ihn aber ganz bestimmt gesehen«, beharrte Tiser kläglich. »Glaubst du denn, ich könnte mich täuschen?«

 

»Entweder faselst du mir etwas vor, oder du warst besoffen!« erwiderte Mark verächtlich. »Warum sollte denn Li Yoseph ausgerechnet zu dir kommen? Er müßte doch wohl bei mir erscheinen! Das hätte noch eher Sinn und Verstand! Entweder hast du Gespenster gesehen, oder einer dieser Verbrecher aus der Herberge hat deinem Zimmer einen Besuch abgestattet, um zu sehen, ob er dort nicht etwas finden könnte.«

 

»Die Tür war aber verschlossen«, unterbrach ihn Tiser.

 

»Kann man denn nicht durch das Fenster einsteigen? Es ist doch für einen erfahrenen Einbrecher die leichteste Sache von der Welt, in dein Zimmer zu kommen. Nein, durch dein Gefasel lasse ich mich nicht einschüchtern. Li Yoseph ist tot, er kommt nicht wieder. Hörst du, was ich dir sage? Du hast ihn weder gesehen noch gehört. Es war alles nur ein böser Traum …«

 

Plötzlich sprang Tiser auf und starrte Mark entsetzt an.

 

»Hör doch«, flüsterte er atemlos. »Mark! Kannst du es hören?«

 

McGill wollte ihm eben eine grobe Antwort geben, als auch er den Klang vernahm, der von der Straße kommen mußte. Es war der leise, singende Ton einer Violine, auf der jemand die Melodie von Tostis »Chanson d’Adieu« spielte. Mit einem unterdrückten Fluch eilte Mark zur Balkontür, zog die Vorhänge auf und trat hinaus.

 

Aber es war niemand auf dem Gehsteig vor dem Haus zu sehen, auch war nichts zu hören.

 

Er ging ins Zimmer zurück und schloß die Tür. Im selben Augenblick vernahm er auch die Melodie wieder. Jetzt schien sie von der Wand her zu kommen.

 

Dann brach das Spiel plötzlich ab.

 

Es klopfte, und Mark öffnete. Ann Perryman kam herein.

 

»Haben Sie die Violine gehört?« fragte sie.

 

»Ja. Treten Sie bitte näher.«

 

»Ich saß in meinem Schlafzimmer und nähte« – sie zeigte auf die Wand –, »als ich plötzlich das Spiel hörte. War es nicht die Melodie, die Li Yoseph liebte?«

 

Tiser blinzelte und schwätzte wie ein Verrückter.

 

»Sie haben es gehört?« wimmerte er. »Das war Li Yoseph. Niemand spielte die Melodie so wie er … Er hat niemals den richtigen Takt gehalten … Mark, ich will schwören, daß es Li ist! Bestimmt war er in meinem Schlafzimmer!«

 

McGill packte ihn an der Schulter und schleuderte ihn auf das Sofa.

 

»Du bleibst hier sitzen und hältst jetzt den Mund, du Affe!« sagte er rauh. »Achten Sie nicht auf ihn, Ann, er ist schon wieder betrunken.«

 

»Wann hat er denn Li Yoseph gesehen?«

 

»Er hat ihn überhaupt nicht gesehen – er hat doch nur geträumt. Was kann man denn von einem solchen Trunkenbold erwarten, der niemals nüchtern zu Bett geht?«

 

Tiser wollte protestieren, aber Mark achtete nicht auf ihn.

 

»Tiser ist verrückt. Jeder kann ihm doch ansehen, daß er nicht ganz bei Vernunft ist. Das war eben irgendein Straßenmusikant, in einer so stillen Nacht wie heute kann man eine Violine unheimlich weit hören. Wahrscheinlich spielte jemand in der Nähe. Sie wollen schon wieder gehen, Ann?«

 

Sie stand bereits an der Tür.

 

»Ja. Ich war nur neugierig, ob Sie es auch gehört hätten. Das war alles.«

 

Bevor er sie aufhalten konnte, war sie schon gegangen. Er hörte, wie sie die Tür ihrer Wohnung schloß. Mit einem Schritt war er am Sofa, packte Tiser, riß ihn in die Höhe und schüttelte ihn heftig.

 

»Wie oft habe ich dir Esel schon gesagt, daß du das Mädchen nicht durch deine Dummheiten erschrecken sollst! Nimm dich in acht, Tiser! Wenn du mir gefährlich wirst, gehst du denselben Weg wie Li Yoseph. Das kann ich dir ruhig sagen, denn du kannst mich ja nicht anzeigen, ohne selbst an den Galgen zu kommen.«

 

Er stieß Tiser vor sich her, der sich nur mit Mühe aufrecht halten konnte.

 

»Es ist schon gut, Mark«, sagte er unterwürfig. »Es tut mir schrecklich leid, daß ich dich gestört habe. Wahrscheinlich habe ich gestern zuviel getrunken.«

 

Er eilte aus dem Zimmer und rannte die Treppe hinunter. Als er die Oxford Street erreichte, war er außer Atem, aber er fühlte sich etwas erleichtert. Je weiter er ging, desto mehr schwand seine Furcht.

 

Die Herberge lag an einer Straßenecke hinter Hammersmith Broadway. Um diese Zeit lagen beide Straßen vollkommen verlassen da. Als Tiser um die Ecke bog, sah er einen Mann, der mit dem Rücken gegen eine Laterne lehnte. Er glaubte zuerst, der Fremde sei eingenickt, denn sein Kopf war auf die Brust gesunken. Tiser ging schnell, um an ihm vorbeizukommen. Das Licht aus dem Versorgungsheim schimmerte ihm schon einladend durch das große Fenster über der Haustür entgegen und flößte ihm Vertrauen ein. In einer sonderbaren Anwandlung von Mut sagte er »Guten Abend«, als er an dem Mann vorbeikam.

 

Der Fremde schaute auf. Tiser starrte einen Augenblick in das gelbe Gesicht, sah die Astrachanmütze und das wirre, graue Haar, das unter der Kappe hervorquoll; er sah die große, gebogene Nase und das runzlige Kinn …

 

Kapitel 9

 

9

 

Die lange Reihe von Rennpferden wanderte langsam den Abhang hinauf und verschwand über die Höhe. Edna sah, daß Goodie in einiger Entfernung auf einem großen, schwarzen Pferd hinter ihnen herritt. Das Kinn hatte er auf die Brust gesenkt und die Augen halb geschlossen. Edna beobachtete ihn durch ein scharfes Fernglas. Zuerst glaubte sie, daß er schliefe, aber darin täuschte sie sich. Er kam zu der Stelle, wo die Probegaloppe abgehalten wurden, und blieb dort stehen, während der Erste Trainer des Stalls den Leuten Instruktionen gab. Sein Rennstall war wahrscheinlich der einzige in ganz England, in dem nicht englisch gesprochen wurde. Viele der Reitknechte, die die Pferde betreuten, waren Mischlinge. Alle zwei Jahre wechselte Goodie seine Leute und hatte infolgedessen Auseinandersetzungen mit dem Arbeitsministerium, das ihm bei der Anstellung von Ausländern Schwierigkeiten machte.

 

Die Leute hatten einen Klub für sich, und wenn sie nach London gingen, wurden sie stets von Kollegen begleitet, die englisch sprachen.

 

Die Kerle konnten reiten wie der Teufel. Verschiedene von ihnen waren so gute Jockeis, daß sie sich auf jeder englischen Rennbahn ausgezeichnet hätten. Aber Goodie gestattete nicht, daß sie sich bei einem Rennen als Jockeis betätigten. In jedem Fall ließ er seine Pferde durch die besten englischen Jokeis reiten, und die Leute wußten nichts von den Vorzügen der Tiere, bis sie den Sattelplatz verließen. Die Instruktion, die er ihnen gab, lautete stets gleich: »Ich zahle Ihnen fünfhundert Pfund, wenn Sie dieses Rennen gewinnen.«

 

Wenn sie nicht gewannen, wußten sie, daß Goodie es auch gar nicht erwartet hatte.

 

Nun saß er im Sattel und beobachtete mit düsterem Blick, wie die Pferde über das Heideland auf ihn zugaloppierten. Es wurden immer zwei Pferde zu gleicher Zeit vom Start abgelassen. Alle waren an ihm vorübergekommen bis auf eines, und er wurde plötzlich lebhaft, als dieses in Sicht kam. Es war ›Weiße Lilie‹. Das Tier war in glänzender Form und hatte einen außerordentlichen, weiten Schritt, durch den es unheimlich schnell vorwärtskam. Im schnellsten Tempo jagte es an Goodie vorüber. Der Reitknecht, der das Pferd ritt, zog dann die Zügel an und kam in kurzem Bogen zu Goodie heran.

 

»Nun, wie war’s?«

 

Der farbige Stallknecht grinste.

 

»Das Pferd ist schneller als ein Flugzeug. Von Tag zu Tag geht es besser.«

 

Goodie brummte etwas, stieg vom Pferd, ging auf ›Weiße Lilie‹ zu und klopfte ihr den Hals. Dann ging er langsam um das Tier herum und befühlte jede Fessel und jede Muskelpartie.

 

»Decken Sie das Tier mit einer Decke zu und führen Sie es im Schritt zum Stall, Jose«, sagte er auf spanisch. »Für achthundert Peso habe ich den Gaul einmal gekauft – das ist ein Geschäft, was?« »Dios!« sagte der Mann und rollte mit den Augen. »Achthundert Peso!«

 

Es war eine Schwäche Goodies, sich gern seiner Geschäfte zu rühmen, selbst wenn es keine Geschäfte waren.

 

Lange sah er dem Pferd nach, dann stieg er wieder in den Sattel und ritt zu seinem Haus zurück. Edna sah ihn kommen, senkte das Glas und zog sich weiter in das Zimmer zurück, so daß sie ihn beobachten konnte, ohne selbst gesehen zu werden.

 

Mr. Goodie dachte im Augenblick aber weder an Frauen noch an Pferde; er dachte an das Manuskript, das halb fertig in seinem Safe lag und vielleicht niemals das Licht der Öffentlichkeit erblicken würde. Er war nämlich damit beschäftigt, eine Selbstbiographie zu schreiben, und zum Teil auch aus diesem Grund hatte er sein Haus mit einem hohen Drahtgitter umgeben lassen.

 

Er ging in sein Arbeitszimmer hinauf, öffnete den Safe, nahm die letzten Blätter seines Manuskriptes heraus und las sie langsam durch. Dann lächelte er – was er nur selten tat –, denn er mußte an Luke denken. In dem Manuskript hatte er ohne Umschweife und ohne etwas zu beschönigen, die Geschichte aller seiner Taten erzählt, die ihm später unsterblichen Ruhm einbringen sollten.

 

Daß er diese Memoiren überhaupt schrieb, war an und für sich schon Wahnsinn. Seine ungeheure Eitelkeit und das lockende Spiel mit der Gefahr waren verantwortlich dafür.

 

Edna hatte nicht viel Abwechslung auf dem Land und fühlte sich ein wenig gelangweilt durch die Abgeschlossenheit, in der sie lebte. Sie war meistens allein und mußte sich selbst unterhalten. Es war einsam, obgleich sie jeden Tag einen langen Ritt machte und mindestens zweimal in der Woche nach London fuhr.

 

Jedesmal hatte sie dann mit der Versuchung zu kämpfen, noch einen weiteren Tag im Hotel zu bleiben oder noch einmal ins Theater zu gehen.

 

Eines Abends kam sie müde und unruhig von London zurück. Sie hatte gehofft, Mark Luke zu treffen, doch der war nicht in der Stadt.

 

Um neun Uhr legte sie sich zu Bett, aber nach einer Viertelstunde kam sie zu der Überzeugung, daß sie noch nicht schlafen könne. Sie stand wieder auf, schlüpfte in ihren Morgenrock und griff nach einem der spannenden Bücher, die sie aus der Stadt mitgebracht hatte. Aber auch dadurch fand sie keine Ablenkung. Schließlich ging sie zum Fenster und schaute zwischen den Vorhängen hinaus. In dem hellen Mondschein sah sie die zerklüfteten Felsen in der Ferne; sie konnte sogar die kleinen schwarzen Flecke sehen, als die die Eingänge der Perrywig-Höhlen erschienen. Sie machte das Licht aus, zog die Vorhänge zurück und setzte sich auf einen Stuhl ans offene Fenster. Es war eine milde Oktobernacht, zum Träumen wie geschaffen.

 

Plötzlich hörte Edna, daß eine Tür zugeschlagen wurde. Der Schall kam aus der Richtung von Goodies Haus. Kurz darauf sah sie einen Mann, der sich scharf von der weißgetünchten Wand abhob, und als sie genauer hinsah, erkannte sie Mr. Goodie. Er ging langsam und leise auf die große Vertiefung zu, die von den Betonmauern eingefaßt war, machte eine eiserne Tür auf, sprach etwas und pfiff dann leise.

 

Dann verschwand er hinter einer Gruppe von Sträuchern, aber gleich darauf wurde er wieder sichtbar. Er bewegte sich nach der äußeren Ecke des Zaunes und trug etwas in der Hand. Ihm folgten zwei ungeheuer große Hunde mit langen Schwänzen.

 

Im Mondlicht nahm sich das alles phantastisch aus, und Edna war es, als ob die beiden Hunde zu unheimlicher Größe anwüchsen. Sie waren sicher größer als Bluthunde und bedeutend massiger als die größten Neufundländer. Gehorsam gingen sie hinter ihm her und hielten den Kopf zu Boden gesenkt. Dann lief der eine nach links; wahrscheinlich hatte er ein Kaninchen gewittert. Goodie rief ihn scharf zurück, und als das Tier langsam wieder zu ihm kam, knallte er mit der Peitsche, die er in der Hand hielt.

 

Die Gestalten wurden undeutlicher, als sich Goodie mit den beiden Hunden in der Richtung nach dem Eingang der Perrywig-Höhlen entfernte. Edna trat vom Fenster zurück und holte ihren Feldstecher. Ein leiser Dunst lag auf den Feldern, der es unmöglich machte, etwas genau zu erkennen. Eine Stunde verging, bevor sie Goodie und die beiden Tiere wiedersah. Diesmal liefen sie voraus und warteten, daß er das Tor für sie öffnen sollte. Wolken bedeckten den Mond, so daß sie nichts mehr weiter beobachten konnte.

 

Sie zog die Vorhänge wieder zu, legte sich zu Bett und fiel in einen unruhigen Schlaf. Zweimal wachte sie auf und sah nach der Uhr; jedesmal war kaum eine Stunde vergangen. Als sie zum drittenmal erwachte, hatte sie in ihren Träumen einen Schrei gehört. Sie richtete sich im Bett auf, am ganzen Körper zitternd. Wieder und wieder hörte sie diese grauenvollen Laute – es waren hohe, langgezogene Töne. Zuerst kam ihr der Gedanke, daß jemand in einiger Entfernung gefoltert würde – ihr Blut erstarrte, und sie konnte sich nicht rühren. Schließlich zwang sie sich aufzustehen. Sie ging mit unsicheren Schritten zum Fenster und zog die Vorhänge zurück.

 

Das Geräusch war aus der Richtung der Perrywig-Höhlen gekommen, aber sie konnte nicht sagen, aus welcher Entfernung. Während sie noch entsetzt in die Nacht hinausstarrte, hörte sie plötzlich eine Stimme und fuhr zusammen.

 

»Hoffentlich sind Sie nicht zu sehr erschreckt worden, Miss.«

 

Der Mann stand direkt unter ihrem Fenster und war bis zum Kinn in einen grauen Mantel gehüllt. Aber sie erkannte Lanes Stimme und wußte, daß er es war, bevor er seinen Namen nannte. In dem schwachen Mondlicht sah sie den Lauf eines Gewehres.

 

»Was war denn das?« fragte sie leise und erleichtert.

 

»Ich weiß es nicht. Seit vier Uhr bin ich auf.«

 

»Warum haben Sie denn die Waffe bei sich?«

 

»Ich dachte, daß vielleicht Wilddiebe draußen wären.«

 

Er ging bis zur Mauer und kam nach einer Weile zurück.

 

»Ich habe ein neues Schloß an die Tür machen lassen – ein Yale-Schloß. Sie finden den Schlüssel in Ihrer Bibliothek. Aber ich gebe Ihnen den Rat, die Tür nicht zu öffnen, ganz gleich, ob es Tag oder Nacht ist.«

 

»Was sind das für große schwarze Hunde?«

 

»Hunde? Ach, haben Sie die Tiere gesehen? Ist er mit ihnen draußen gewesen? – Ich meine, Goodie? Hat er sie mitgenommen?« »Er ist zu den Perrywig-Höhlen gegangen«, sagte sie..

 

»Das dachte ich mir schon«, entgegnete er zu ihrem größten Erstaunen ruhig. »Eine sonderbare Zeit, und in der Nacht trainiert man doch keine Rennpferde.«

 

»Ich möchte nur wissen, was das für unheimliche Hunde waren!«

 

»Das weiß ich auch nicht. Ich habe schon viel von ihnen gehört, sie aber noch nie gesehen. Er hält sie in einem unterirdischen Käfig gefangen; deshalb ist es auch besser, Sie benutzen diese Tür nicht. Die Tiere sind sehr gefährlich. Er wird natürlich mit ihnen fertig – wozu ist er Tierbändiger.«

 

Sie sprachen sehr leise, trotzdem schien es jemand gehört zu haben, denn gleich darauf wurde eine Tür an der Hinterseite des Hauses geöffnet, und sie vernahmen die Stimme des Butlers.

 

»Sind Sie es, Jimmy?«

 

»Ja, ich bin’s«, erwiderte Lane.

 

Penton trat vor, so daß sie ihn sehen konnten. Edna bemerkte, daß er etwas in die Tasche steckte, und wunderte sich, was er wohl in der Hand gehabt haben mochte.

 

»Entschuldigen Sie, Miss, aber ich habe einen Schrei gehört.«

 

»Sie müssen auch einen leichten Schlaf haben, Penton«, meinte sie und lehnte sich fröstelnd aus dem Fenster.

 

Die beiden Männer gingen um die Hausecke und sprachen leise miteinander, während Edna ins Zimmer zurücktrat und sich beruhigt zu Bett legte. Dankbar dachte sie an Luke; er hatte ihr diese beiden starken Wächter verschafft, die auf das kleinste Geräusch lauschten. Dann schlief sie ein, und als sie wieder erwachte, war es bereits zehn Uhr morgens, und die Sonne lachte ins Fenster.

 

Kapitel 3

 

3

 

Doncaster wimmelte von Menschen, und am Montag abend herrschte ein so reges Leben in den Straßen der verhältnismäßig kleinen Stadt wie sonst nie im Jahr. Natürlich hatten sich bei dieser Gelegenheit auch viele Budenbesitzer eingefunden, und überall hatten die Buchmacher ihre Stände aufgeschlagen.

 

Die große Rennwoche fand Mitte September statt; das Saint-Leger war das letzte der großen, klassischen Rennen der Saison. Alle großen Sportsleute, alle Rennstallbesitzer aus dem Norden und Süden Englands kamen hier zusammen, und große Menschenmengen sammelten sich in den Hauptstraßen, um Mitglieder des königlichen Hauses zu sehen, wenn diese ihre Wagen verließen.

 

Edna Gray hatte einen solchen Betrieb noch nie gesehen. Sie hatte Glück, daß sie nicht nur ein Zimmer zum Schlafen, sondern ein Appartement in einem großen Hause mieten konnte. Die Zimmer waren von einem Lord bestellt worden, der im letzten Augenblick hatte absagen müssen. Die Besitzerin nahm sie daher mit Freuden auf.

 

Edna sah sich in der Stadt um und ging zur Rennbahn hinaus. Dort war sie in ihrem Element, denn sie liebte Pferde; sie war selbst erstaunt, als sie bei einer Auktion von Einjährigen eifrig mitbot.

 

Vergebens sah sie sich unter all den vielen Leuten um, ob sie vielleicht Mr. Goodie herausfinden könnte. Sie hätte ihn nicht erkannt, wenn sie ihn gesehen hätte, aber vielleicht hätte ihr der Instinkt geholfen, auf den sie sich schon manchmal hatte verlassen können. Sie fiel überall auf, besonders da sie in Turfkreisen noch nicht bekannt war. Trotz ihrer vierundzwanzig Jahre sah sie aus, als ob sie achtzehn wäre.

 

Während sie auf der Rennbahn umherging, dachte sie an Alberto Garcia, der ein so großer Pferdefreund und Kenner war. Wie sehr hätte ihn das alles interessiert! Sie seufzte und fühlte sich unendlich verlassen in dieser großen Menge. In Argentinien war sie sich nie so einsam vorgekommen.

 

Schließlich schlenderte sie zum Marktplatz hinunter und blieb bei einer Menge stehen, die sich um einen kleinen Mann im Jockeianzug versammelt hatte.

 

»Ich verkaufe Ihnen den Gewinner des dritten Rennens auf dem Programm! Dieses Pferd geht ganz bestimmt als erstes durchs Ziel! Wenn Sie den Tip von mir kaufen, können Sie ein Vermögen machen. Zufällig ist mir bekannt, daß dies Mr. Triggers diesmalige Transaktion ist, und wenn ich Ihnen das sage, dann wissen Sie, was es bedeutet. Sie wissen genau, daß Sie für einen Shilling dieselbe Information kaufen können, für die die vornehmen Leute Hunderte von Pfund opfern …«

 

»So ein Lügenfritze!« sagte jemand dicht neben Edna Gray.

 

Sie drehte sich schnell um.

 

Luke stand neben ihr. Er war gut einen Kopf größer als sie und hatte ein schmales, ovales, Gesicht. Sie starrte ihn an und konnte kaum glauben, daß er es wirklich war.

 

»Ja, ich bin es, und ich weiß auch genau, was Sie denken. Sie kommen sich etwas einsam und verlassen vor. Das kann ich Ihnen nachfühlen. Und außerdem gibt es Leute, denen man einfach nicht entgehen kann – dazu gehöre auch ich.«

 

»Aber Mr. Luke, wie kommen denn Sie hierher?« fragte sie schnell und lächelte ihn verwundert an.

 

»Schon an Bord der ›Asturia‹ konnten Sie kaum einen Schritt tun, ohne über meine Füße zu fallen. Ich bin eben der große Weltenbummler …«

 

»Aber was machen Sie hier in Doncaster?«

 

Als sie sich das letztemal an Deck des großen Ozeandampfers gesehen hatten, lehnten sie nebeneinander an der Reling und starrten auf die große Menschenmenge am Kai. Auf der Reise war er einer der interessantesten und nettesten Gesellschafter gewesen, hatte sich immer nützlich gemacht und ihr viel geholfen. Es war allerdings etwas anderes, sich an Bord eines Passagierdampfers mitten auf dem Ozean zu begegnen als hier in dieser unendlich großen Menschenmenge. Es war fast, als ob es das Schicksal so gewollt hätte.

 

Sie fühlte sich ihm gegenüber etwas scheu. Auf dem Schiff war er ihr bedeutend älter erschienen; jetzt sah er noch sehr jung aus.

 

»Leute, die lügen können wie gedruckt, machen mir immer Spaß, das heißt, wenn sie überzeugend lügen. Aber dieser Kerl hier versteht das Lügen nicht, über den amüsiere ich mich nicht.«

 

Er nahm sie am Arm und führte sie aus dem Menschenschwarm hinaus, als ob er das Recht dazu hätte oder ihr Vormund wäre. Von jedem anderen Mann hätte sie das als eine Beleidigung empfunden, aber von ihm ließ sie es sich gefallen.

 

»Verdient der Mann auf diese Weise seinen Lebensunterhalt?«

 

Luke nickte.

 

»Ja, er lebt eben und macht Geschäfte durch die Kraft seiner Erfindungsgabe. Er übt denselben Beruf aus wie Trigger, aber was für ein Unterschied besteht zwischen den beiden!«

 

»Wer ist denn eigentlich Trigger?« fragte sie neugierig.

 

»Der König aller Leute, die Tips verkaufen. Haben Sie nicht gehört, mit welcher Ehrfurcht der Bursche dort den Namen dieses Mannes nannte? Trigger ist eins der größten Phänomene. Er hätte auch in keinem anderen Jahrhundert auftreten können. Das neunte Weltwunder kann man diesen Trigger mit dem ›grünen Band‹ nennen. Seine Reklame hat er großartig aufgezogen.«

 

Er lächelte, als ob ihm ein guter Gedanke gekommen wäre, aber dann wurde er wieder ernst.

 

»Was machen Sie denn eigentlich hier in dieser schönen Gegend? Wollen Sie auch Einjährige kaufen? Ich weiß wohl, daß Sie eine Vorliebe für Pferde haben, aber ich hatte doch nicht erwartet, Sie hier in Doncaster zu finden.«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Ich bin hergekommen, um einen Herrn zu treffen. Kennen Sie vielleicht Mr. Elijah Goodie?«

 

Sein Gesicht versteinerte sich plötzlich.

 

»Goodie?« wiederholte er. »Meinen Sie Li Goodie – den Trainer? – Ist er ein Freund von Ihnen?« fragte er ziemlich brüsk.

 

Aber sie fühlte sich nicht beleidigt dadurch. Sechzehn Tage waren sie auf dem Dampfer zusammengewesen, und sie hatte sich allmählich an sein Wesen gewöhnt, das ihr zuerst allerdings anmaßend – um nicht zu sagen: unverschämt – erschienen war.

 

»Er ist mein Pächter«, entgegnete sie lächelnd.

 

»Ach ja, ich entsinne mich. Ich hätte Ihnen auf dem Dampfer auch schon etwas über ihn sagen können, aber ich habe zuerst über Rustem gesprochen. Goodie gehört auch zu der Bande. – Dort drüben ist er!«

 

Er zeigte unauffällig auf einen Mann, der auf der anderen Seite der Straße ging. Goodie hatte eine gelbliche Gesichtsfarbe und mochte vierzig oder fünfzig Jahre alt sein.

 

Weder sein Anzug noch sein Benehmen verriet, daß er ein Trainer von Rennpferden war. Er trug schwarze Kleidung, und der niedrige weiße Kragen gab ihm fast das Aussehen eines Geistlichen. Seine Bewegungen waren langsam und umständlich.

 

»Das ist Elijah«, sagte Luke. »Ist er nicht hübsch?«

 

Wenn irgendein Wort auf Goodie nicht paßte, dann war es ›hübsch‹. Edna blieb stehen und beobachtete ihn, bis er um die nächste Ecke bog und eine Seitenstraße entlangging. Anscheinend wohnte er in dieser Gegend.

 

»Er scheint Eindruck auf Sie gemacht zu haben. – Wo werden Sie übrigens zu Mittag essen? Wenn Sie mit in die Stadt gehen, arrangiere ich alles für Sie.«

 

Es lag eigentlich gar kein Grund vor, ›alles für sie zu arrangieren‹ oder sie zu begleiten.

 

Sie gingen zusammen zum Rathaus der kleinen Stadt. Er ließ sie in der Eingangshalle zurück und verschwand in einem Büro. Nach kurzer Zeit erschien er wieder und brachte ihr eine Anzahl von Karten und eine blaue Rosette zum Anstecken, so daß sie nun Zutritt zur Tribüne hatte.

 

»Wo haben Sie eigentlich Ihren alten Freund gelassen?«

 

»Sie meinen Mr. Garcia? Ich weiß nicht, wo er geblieben ist. Er ist gestern abend abgereist. Ich hoffte schon, daß er mich hierher begleiten würde.«

 

Er führte sie in ein Restaurant, dessen Räume erstaunlich leer waren.

 

»Ich kenne Doncaster nicht allzugut«, erklärte er. »Nur dieses Lokal ist mir bekannt, denn hier fand ich Mr. Sepfield, von dem Sie wahrscheinlich niemals etwas gehört haben. Er aß gerade hier ein gutes Frühstück – als ob er niemals seine Frau vergiftet und in Beton begraben hätte.«

 

Er sagte das so ruhig und gleichgültig, daß sie ihn fragend ansah.

 

»Was sind Sie denn eigentlich?«

 

»Kriminalbeamter von Scotland Yard. Und nun bekommen Sie nur ja keinen Ohnmachtsanfall.«

 

»Was, Sie sind Kriminalbeamter?« fragte sie atemlos.

 

»Kriminalinspektor; das ist natürlich dasselbe, nur ein etwas höherer Grad. Haben Sie nicht eben, als wir beide die Straße entlanggingen, gesehen, daß alle möglichen Leute vor mir auskniffen und in Seitenstraßen einbogen? Sie müssen nicht glauben, daß die Leute vor Ihnen ausgerissen sind, und das nicht als negatives Kompliment für Ihre schöne Erscheinung auffassen. Ich war derjenige, dem sie nicht ins Auge zu sehen wagten.«

 

Sie sah ihn verdutzt an.

 

»Sie haben mir aber an Bord des Dampfers niemals gesagt, daß Sie Kriminalbeamter sind. Sie scheinen doch –«

 

Sie wußte nicht recht, wie sie fortfahren sollte.

 

»– ein Gentleman zu sein«, vollendete er den Satz prompt, »Dazu habe ich mich allmählich selbst erzogen. An Bord des Schiffes habe ich nicht darüber gesprochen, weil ich es für ganz nebensächlich hielt.«

 

»Sind Sie hier im Dienst?«

 

Er nickte und schaute sie ernst an.

 

»Ich werde Ihnen auch etwas erzählen, was Ihnen sicher Spaß macht. Bisher habe ich noch nie eine Dame ins Vertrauen gezogen, aber mit Ihnen mache ich eine Ausnahme. Warum, weiß ich selbst nicht. Ja, ich bin also hier im Dienst, sehe den Rennen interessiert zu und achte dabei auch noch auf andere Dinge. Haben Sie Trigger gesehen? Sie würden ihn nicht erkennen, aber sicher haben Sie einen großen, gelben Deville-Wagen bemerkt, der so pompös aussieht, als ob er eine Million Dollar kostete?«

 

Der übertrieben luxuriöse Wagen war ihr aufgefallen, weil er das Straßenbild völlig beherrscht hatte.

 

»Der Mann, der darin saß, war Trigger.«

 

»Ist das derselbe, der dem Publikum die guten Tips verkauft?« fragte sie erstaunt.

 

»Ja, er ist ein Prophet, und er gilt etwas in seinem Vaterlande. Ein Mann, durch den zweitausend Familien im Land in Wohlstand, vielleicht sogar in Reichtum leben können. Wenn Sie zu den Leuten gehören, die mit ihm in Geschäftsverbindung stehen, dann ist das ein Empfehlungsbrief, mit dem Sie überall durchkommen. Dazu müssen Sie aber gute Referenzen aufweisen können. Die Kunden von Trigger sind sehr sorgfältig ausgesucht; es sind alles Leute von bestem Ruf.«

 

Zuerst hatte sie geglaubt, daß dieser korpulente Mann, der in dem prachtvollen Wagen vorbeigefahren war, irgendeine lichtscheue Organisation gegründet hätte. Irgendwie hatte sie ein Vorurteil und hielt Leute, die Rennwetten abschlossen, für große Gauner. Als sie eine entsprechende Bemerkung machte, mußte Luke herzlich lachen.

 

»Im Gegenteil, es sind Abkömmlinge altadeliger Familien, Obersten der britischen Armee, die noch im Dienst stehen oder schon ihren Abschied genommen haben, Leute, die schöne Landsitze ihr eigen nennen, bedeutende Bankiers, Leute, die eine hervorragende Stellung in der Gesellschaft einnehmen, und so weiter. Und es gibt nicht einen unter Triggers Kunden, der sich irgend etwas hätte zuschulden kommen lassen.«

 

»Aber das ist doch alles nur Scherz!«

 

»Sie glauben, daß ich Sie aufziehe? Nein, ich habe Ihnen die reine Wahrheit gesagt. Wissen Sie, all die vielen Buchmacher, die heute zum Rennen hergekommen sind, haben nur die eine Furcht, daß unter den hundertundzwanzig Pferden, die heute an den Rennen teilnehmen, eine von Triggers Transaktionen ist. Das werden Sie ebensowenig verstehen wie Griechisch, aber ich will es Ihnen erklären.«

 

Sie lauschte interessiert, während er ihr die Geschäftskniffe der Gesellschaft mit dem ›grünen Band‹ klarmachte.

 

»Der Name, den sich Trigger für seine Firma zugelegt hat, klingt sehr poetisch, aber er ist nicht seine eigene Erfindung. Er wurde einmal von einem Sportjournalisten erfunden, der mit dem ›grünen Band‹ die Rennbahn bezeichnete. Trigger hat nun eine große Anzahl von Kunden. Diese wetten bei einer großen Anzahl von Buchmachern in verschiedenen Teilen des Landes. Die Kunden senden an Trigger ein Telegrammformular, in dem sie eine Wette auf ein Pferd abschließen und darauf fünf bis zehn Pfund setzen. Der Name des Pferdes wird ausgelassen. Trigger setzt ihn in letzter Minute selbst ein. Am Tag des Rennens schickt er selbst eine ganze Anzahl von Beauftragten in die verschiedensten Städte, und die Telegramme werden zu gleicher Zeit aufgegeben. Sie laufen gewöhnlich in den Büros der verschiedenen Buchmacher im letzten Augenblick ein.«

 

»Aber das ist doch glatter Betrug«, unterbrach sie ihn.

 

»Nein, das ist es nicht, das geschieht alle Tage. Beim Rennen selbst wird überhaupt nicht auf den Platz gesetzt, und die Quote, unter der die Buchmacher Rennen abschließen, richtet sich doch nach dem Geld, das auf das Pferd gesetzt wird. Triggers Transaktionen gewinnen daher immer unter sehr günstigen Bedingungen. Er hat jahrelang dazu gebraucht, bis er diese große Organisation aufgezogen und so viele Kunden gefunden hat, die ihn nicht betrügen. Der Haupthaken ist nämlich der, daß sie ihm fünfzig Prozent des Gewinnes einsenden müssen. Die Versuchung, das Geld zu behalten, ist sehr groß, aber er hat mit eiserner Strenge alle schlechten Leute ausgemerzt. Neue Kunden werden nur auf Empfehlung von alten, bewährten Mitgliedern seiner Organisation angenommen. Sie sind nach den strengsten Grundsätzen ausgesucht. Und auch seine Beauftragten sind durchweg zuverlässige Leute. Er zahlt ihnen sechs Pfund wöchentlich und einen ziemlich hohen prozentualen Anteil.«

 

»Aber wenn nicht auf dem Rennplatz auf ein Pferd gesetzt wird, was macht es dann den Buchmachern aus?«

 

Luke erklärte ihr, daß die meisten Buchmacher außer ihrer Tätigkeit auf der Rennbahn selbst auch noch große Wettbüros in London, Manchester, Leeds und anderen großen Städten unterhielten.

 

»Bei der geringsten Andeutung, daß ein Pferd eine Transaktion von Trigger ist, wird sofort die Quote heruntergedrückt. Aber verlassen Sie sich darauf: Heraus kommt niemals etwas. Trigger ist an mindestens einem Dutzend Rennställen beteiligt. Er hat schon früher Tausende von Pfund für ein Pferd bezahlt, hat das Tier ein ganzes Jahr lang irgendwo in einem Rennstall trainieren und dann plötzlich für ein Rennen melden lassen. Es erschien auf dem Rennplatz stark bandagiert und gewann das Rennen als Außenseiter. Natürlich blieb die Quote sehr gering, da kein Mensch auf dem Rennplatz selbst darauf setzte. Die Leute glaubten, daß sich das Tier verschlechtert habe. Trigger meldet niemals unter eigenem Namen; dafür hat er seine Leute. Für ihn ist es immer leicht, solche Menschen zu finden.«

 

»Lohnt es sich denn, eine derartig umständliche Organisation aufzuziehen?«

 

Luke sah sie mit einem sonderbaren Lächeln an.

 

»Ich hoffe, Sie verstehen so viel von Mathematik, daß Sie einem kurzen Rechenexempel folgen können. Nehmen wir einmal an, daß zweitausend Kunden im Durchschnitt je zehn Pfund auf das betreffende Pferd setzen – in Wirklichkeit wird bedeutend mehr gewettet. Und nehmen wir an, daß nachher die Quote von zehn zu eins für den Sieger gezahlt wird. Das macht eine Gewinnsumme von zusammen zweihunderttausend Pfund aus. Davon bekommt Mr. Trigger die Hälfte, also hunderttausend Pfund. Und seine Pferd gewinnen immer. Es wurde einmal ein Rennen in Folkestone abgehalten, bei dem sieben Pferde liefen. Später stellte sich heraus, daß alle sieben Trigger gehörten. Beweisen konnten wir das leider nicht, aber wir sind fest davon überzeugt, daß es sich so verhielt. Er hatte sie in dem Augenblick gekauft, als die Meldungen abgeschlossen wurden. Dann schickte er einen Vertrauten nach Folkestone, der auf drei der Pferde setzte, um die Wetten zu beeinflussen. Es ist ja erstaunlich, wie leicht sich Buchmacher beeinflussen lassen. Die drei Pferde wurden zu ziemlich niedrigen Quoten genannt, aber auf das Pferd, das das Rennen wirklich gewann, hatte niemand gesetzt. Es ging mit drei Längen Vorsprung durchs Ziel. Übrigens war es auch das einzige Pferd, das gut auf das Rennen vorbereitet war; die anderen hatte er einfach in der letzten Woche überhaupt nicht trainieren lassen. Er hat ein halbes Dutzend Trainer, die ihm aufs Wort folgen. Er selbst besitzt keine Pferde unter eigenem Namen. Der ›Jockei Klub‹ gestattet das nicht. Jeder Trainer, der ein Pferd von Trigger annimmt, wird sofort ausgeschlossen, und es wird ihm die Lizenz entzogen. – Wenn Sie fertig sind, wollen wir auf den Rennplatz gehen und einmal sehen, ob eine Transaktion von Trigger heute in Erscheinung tritt.«

 

»Wird es heute sein?« fragte sie interessiert.

 

»Das kann niemand genau sagen, ich vermute es nur.«

 

Er hatte jedoch Nachrichtenquellen, von denen sie nichts ahnen konnte.

 

Bevor sie noch recht wußte, was geschah, hatte er sie in ein großes Auto verstaut, und sie fuhren zusammen zum Rennplatz. Sie hatte sich ganz seiner Führung anvertraut und fühlte sich in seiner Obhut etwas sicherer.

 

»Der Wagen gehört nicht mir«, erklärte er, »sondern der Polizei. Wahrscheinlich ist er einem Gentlemanverbrecher abgenommen worden.«

 

Sie interessierte sich für alles, was sie sah. Eine endlose Prozession von Autos bewegte sich langsam nach dem Rennplatz.

 

»Sehen Sie, dort ist Ihr Freund«, sagte Luke und wies mit dem Kopf hinüber.

 

Sie sah einen offenen Wagen, in dem zwei Herren saßen. In dem einen erkannte sie Goodie.

 

»Der größere ist Doktor Blanter«, sagte er. »Früher hat er Menschen verarztet, jetzt macht er es mit Buchmachern ebenso, indem er ihre Einlagen auf der Bank amputiert und ihnen die Taschen leert.«

 

»Was ist er denn?«

 

»Er ist als gewerbsmäßiger Rennwetter bekannt. Auf jeden Fall macht er daraus kein Geheimnis und erzählt es selbst. Das heißt, er wettet bei Pferderennen und bestreitet damit seinen Lebensunterhalt. Er wäre längst bankrott, wenn Trigger nicht existierte. Der Mann hat einen Defekt – er kann sich nicht so weit beherrschen, daß er das Wetten auf der Rennbahn läßt. Und dabei versteht er nicht einmal etwas von der Sache. Trotzdem ist er jetzt ein reicher Mann.«

 

Triggers merkwürdiges Unternehmen beschäftigte Edna Gray so sehr, daß sie kaum an etwas anderes dachte.

 

»Aber die Buchmacher werden doch so große Summen nicht so ohne weiteres verlieren, ohne sich dagegen zu wehren?«

 

»Wenn das jede Woche passierte, würden sie kaum existieren können. Aber Triggers Klugheit besteht ja gerade darin, daß er niemals mehr als acht bis neun solcher Transaktionen im Jahr vornimmt. Dieses Jahr kommt er bestimmt auf neun, denn die siebente Transaktion ist bereits angekündigt. Gewöhnlich läßt er ein bis anderthalb Monate verstreichen. So ist die Summe, die er aus den Rennen zieht, im Verhältnis zu dem Geld, das auf sämtlichen englischen Rennplätzen im Jahr umgesetzt wird, verhältnismäßig gering. Übrigens sind seine Kunden unverbesserlich, und wahrscheinlich setzen sie auch noch nebenher, so daß sich das für die Buchmacher in gewisser Weise ausgleicht. Für die Buchmacher ist es außerordentlich schwer, herauszufinden, wann der Schlag fallen wird, und noch viel schwerer ist es für sie, von ihren Kunden die betreffenden Wetten nicht anzunehmen. Im allgemeinen kann man es so auffassen, daß der Buchmacher nur ein Vermittler ist, der den Gewinnern das Geld ausbezahlt, das er von den Verlierern eingenommen hat. Je weniger Gewinne er auszuzahlen hat, desto größer ist sein Verdienst.«

 

Luke sah zu Dr. Blanter hinüber, der mit tiefer, weitschallender Stimme zu seinem Begleiter sprach, Mr. Goodie saß mit geschlossenen Augen neben ihm; er mochte schlafen, aber ebensogut auch aufmerksam zuhören.

 

»Dieser Goodie ist doch ein ganz merkwürdiger Mensch. – Übrigens kommt unser Freund Rustem sehr selten auf die Rennbahn.«

 

»Gehört denn Mr. Rustem …?«

 

»Ja, der ist auch einer von der Bande, und zwar ihr juristischer Berater. In der Beziehung ist er sehr tüchtig. Deshalb hat Trigger ja auch noch keine falschen Schritte unternommen. Die Tatsache, daß alle noch auf freiem Fuß sind, beweist das.«

 

Der Wagen kam bei dem ungeheuren Verkehr nur sehr langsam vorwärts, aber schließlich hielt er vor dem Eingang zu den Tribünen. Luke half Edna beim Aussteigen, bahnte sich einen Weg durch die Menge, und nach ein paar Minuten gingen sie über den weiten Sattelplatz, der bereits von Besuchern des Rennens bevölkert war.

 

Edna war erstaunt über die große Rolle, die Trigger im Turfbetrieb spielte. Sie hatte sich die Rennen immer ganz anders vorgestellt und geglaubt, man würde schöne Pferde sehen und es würde alles fair und freundlich zugehen. Natürlich wußte sie, daß Leute auch über ihre Mittel hinaus Wetten abschlossen, aber jetzt erst konnte sie sich ein Bild von dem wirklichen Rennbetrieb machen. Die Rennwetten waren eine Sache für sich und hatten nichts mit Gestüten und Pferdezucht zu tun. Auch im Haus ihres Onkels war viel über Pferdezucht gesprochen, aber hiervon nichts erwähnt worden. Für die meisten Besucher war das Rennen nur eine Art aufregendes Börsenspiel.

 

Das erste Rennen begann. Edna hörte die vielen Rufe, als die Pferde starteten, und sah dann die bunten Seidenkappen der Jockeis an den Köpfen der großen Menge vorbeisausen. Bald darauf war das Rennen vorüber. Luke entschuldigte sich und verließ sie, kam aber nach einiger Zeit wieder zu ihr.

 

»Ich wollte mich nur nach dem letzten Sieger erkundigen, hören, welche Quote er erzielt hat. Es ist fast gar nicht auf ihn gesetzt worden. Niemand kennt dieses Pferd; es kommt aus einem Stall im Norden. Die Quote ist hundert zu sechs. Wenn das nicht eine Transaktion von Trigger ist, will ich nicht mehr Luke heißen.«

 

Und er hatte recht. Irgendwo in London war der Name des Pferdes bekannt geworden, den der geschäftstüchtige Mr. Trigger an seine zweitausend Kunden geschickt hatte, und es wurde ein verzweifelter Versuch gemacht, diese Nachricht per Telefon zum Rennplatz durchzugeben.

 

Die Verbindungsleute der Buchmacher hatten die Warnung dreißig Sekunden nach dem Start durchgeben können – und das war dreißig Sekunden zu spät.

 

Kapitel 4

 

4

 

»Das hätten wir also herausbekommen«, sagte Luke grimmig. »Das Datum in der Zeitungsanzeige war nicht ganz richtig angegeben, um die Leute irrezuführen. Wir wollen jetzt einmal zur Versteigerung des Siegers gehen.«

 

Es war ein nicht allzu bestechend aussehender Brauner, der einem Rennstallbesitzer im Norden Englands gehörte. Luke sah in seinem Rennbuch nach und stellte fest, daß das Pferd nur ein Rennen mitgemacht hatte, und zwar als Zweijähriger.

 

Die Angebote stiegen bis auf zwölfhundert Pfund, bevor das Pferd von dem früheren Eigentümer wiedererworben wurde.

 

»Das war ja nun auch wieder ein richtiges Theater«, sagte Luke geheimnisvoll. »Der Mann, dem das Tier gehören soll, hat in seinem Leben überhaupt nie zwölfhundert Pfund besessen. Sehen Sie, dort steht der richtige Eigentümer!«

 

Er zeigte auf den korpulenten Mr. Trigger, der selbstzufrieden quer über den Sattelplatz ging, eine dicke Zigarre rauchte und allem Anschein nach mit sich und der Welt zufrieden war. Blanter und Goodie standen in der Nähe der Barriere und sprachen eifrig miteinander. Gleich darauf trat Trigger zu ihnen.

 

»Sie haben diese Transaktion für einen Zeitraum nach dem nächsten Donnerstag angekündigt«, erklärte Luke. »Die Anzeige war vollkommen überflüssig. Trigger will ja auch keine neuen Kunden durch die Zeitung werben; er nimmt sie doch nur auf Empfehlungen hin an. Aber es ist tatsächlich schwer, diesen Kerlen auf die Finger zu sehen. Trigger und seine Partner haben das eine große Geheimnis des Erfolges auf dem Rennplatz erfaßt, und das ist Geduld, Geduld und nochmals Geduld!«

 

Als Edna zu der Gruppe hinübersah, trennten sich die drei voneinander. Trigger und der Doktor gingen langsam nach dem Rennbüro, und Goodie blieb allein. Er sah düster drein, während er sich mit dem Rücken an die Barriere lehnte. Die Daumen hatte er in die Westentaschen gesteckt und den Blick auf den Boden gesenkt.

 

»Ich möchte ihn gern einmal sprechen«, sagte Edna. »Wollen Sie so freundlich sein und mich mit ihm bekannt machen?«

 

Luke zögerte zunächst.

 

»Ja, selbstverständlich«, sagte er dann. »Es fragt sich nur, ob es empfehlenswert ist, daß ich mich in der Rolle Ihres Beschützers und Freundes zeige. Aber die haben uns wahrscheinlich schon gesehen, und wissen können sie auch ruhig, daß Sie mit der Polizei in Verbindung stehen.«

 

Er ging mit ihr auf Goodie zu, der auch dann nicht aufsah, als sie bereits vor ihm standen. Aber Edna wußte instinktiv, daß er sie unter seinen gesenkten Augenlidern hervor den ganzen Weg quer über den Sattelplatz beobachtet hatte.

 

»Guten Tag, Mr. Goodie. Miss Gray möchte Sie kennenlernen.«

 

Goodie schaute langsam auf, zog einen seiner Daumen aus der Westentasche und reichte ihr gleichgültig die Hand. Sein Anblick aus nächster Nähe war noch weniger anziehend, als sie gedacht hatte. Viele Linien und Furchen durchzogen sein gelbes Gesicht, das an einen vertrockneten Apfel erinnerte. Sein Alter konnte man nur schwer schätzen.

 

Zuerst glaubte Edna, der böse Blick des Mannes gelte Mr. Luke, aber später sah sie, daß sich der abstoßende Ausdruck in Goodies Augen kaum änderte.

 

»Wie geht es Ihnen, Miss Gray?«

 

Er sprach langsam und sah sie mit seinen blaßblauen Augen durchdringend an, als ob er ihre Gedanken lesen wollte.

 

»Ich hörte, daß Sie die Absicht haben, in Ihre Heimat zurückzukehren und in Longhall House zu wohnen. Zu dem Zweck wollten Sie doch wohl auch den Schlüssel haben? Ich habe an Mr. Rustem telegrafiert, daß er sie Ihnen schicken soll. Er wohnt diese Woche vorübergehend in meinem Hause. Es tut mir leid, daß Sie sich auf Longhall niederlassen wollen, denn das ganze Haus ist mit Ratten verseucht. Es ist schwer, die Tiere niederzuhalten, wenn die Ställe in der Nähe sind, Miss Gray. Sie werden finden, daß sie eine große Plage für Sie sind.«

 

Er machte eine Pause und feuchtete die blutleeren Lippen mit der Zunge an, behielt Edna aber im Auge.

 

»Hinzu kommt, daß die Sorte, die wir draußen bei uns haben, besonders wild ist. Einer meiner Angestellten wurde neulich sogar von einem ganzen Rudel Ratten angegriffen.«

 

Sie nickte nur.

 

»Ich habe Ratten ganz gern«, entgegnete sie ruhig.

 

Luke, der sich im allgemeinen nicht leicht verblüffen ließ, hielt vor Überraschung den Atem an. Einen Augenblick war auch Goodie erstaunt.

 

»Nun, dann haben Sie ja reichlich Gelegenheit, sie zu beobachten und sich mit ihnen zu beschäftigen.«

 

Die Zigarre, die er im Mund hatte, brannte nicht; er machte sich auch nicht die Mühe, sie herauszunehmen, als er mit ihr sprach.

 

»Mein Angestellter hat mir gesagt, daß Sie mit Ihrem Auto da waren. Es hat mir leid getan, daß ich nicht zu Hause war. Haben Sie auch meine Pferde gesehen?«

 

Es war außergewöhnlich, daß Goodie auf derartige Dinge einging. Luke war nicht wenig verwundert. Aber er kannte den Mann sehr gut und wußte, daß Goodie mit jedem Wort, das er sagte, einen bestimmten Zweck verfolgte.

 

»Wir konnten sie einen Augenblick sehen, als sie vom Trainingsgelände zurückkehrten«, sagte Edna und fügte dann harmlos hinzu: »Ich nahm Mr. Garcia mit nach dort. Er ist auch ein großer Pferdezüchter und freute sich, daß er eine ganze Anzahl englischer Rennpferde zu sehen bekam.«

 

Mr. Goodie nickte langsam.

 

»Mr. Garcia ist Besitzer eines Gestütes? Nun, ich freue mich das zu hören. Ich lasse es bei meinen Pferden an nichts fehlen und sehe vor allem darauf, daß sie reichlich Futter und gesunde Ställe haben. – Ich hoffe, daß Sie Ihre Schlüssel bald bekommen. Wenn ich sonst noch etwas für Sie tun kann, Miss Gray, dann brauchen Sie es mir nur mitzuteilen. Aber – wie gesagt, die Ratten …«

 

»Ich freue mich geradezu auf sie«, erwiderte Edna guten Mutes und verabschiedete sich.

 

*

 

»Sie haben doch nicht etwa wirklich Ratten gern?« fragte Luke, als sie durch die Menge weitergingen.

 

»Ich verabscheue sie«, erklärte sie mit einem schnellen Lächeln, »aber ich wollte mich von ihm nicht einschüchtern lassen. Er möchte doch anscheinend unter allen Umständen verhindern, daß ich nach Longhall ziehe. Ich habe mich aber fest entschlossen, dort zu wohnen.«

 

Er blieb stehen und sah sie groß an.

 

»Was – Sie wollen dort wohnen? In der Nähe von Goodie?«

 

Sie nickte.

 

»Aber doch nicht ganz allein?«

 

»Natürlich stelle ich einige Dienstboten ein.«

 

Zum erstenmal war es ihr unangenehm, daß er sich in ihre Angelegenheiten einmischte; aber ihr Unmut ging sofort vorüber.

 

»Warum sollte ich es denn nicht tun, Mr. Luke?«

 

»Weil es nicht gut ist«, entgegnete er mit Nachdruck. »Ich glaubte, Sie wollten das Haus nur aus Neugierde besuchen und dann verpachten. Es ist mir nicht im Traum eingefallen, daß Sie sich tatsächlich dauernd dort aufhalten wollen. Wissen Sie auch, was Goodie war, bevor er Rennpferde trainierte?«

 

Ehe sie antworten konnte, hörten sie einen Schrei hinter sich und drehten sich sofort um.

 

Auf irgendeine Weise hatte sich ein hagerer, hochbeiniger Wolfshund auf den Rennplatz eingeschlichen.

 

Eins der Pferde wurde von einem Stallknecht hin und her geführt, damit es sich abkühlen sollte, und dieses Tier sprang der Hund plötzlich an. Erschreckt schlug das Pferd aus, und es mußte den Hund an der Schulter gestreift haben, denn der packte es nun wild an der Kehle. Das Tier stieß einen Schreckensschrei aus, richtete sich auf den Hinterbeinen auf und schlug mit den Vorderhufen um sich, ohne den Hund abschütteln zu können.

 

Im selben Augenblick sprang Goodie über die Barriere. Mit ein paar langen Sätzen hatte er die beiden Tiere erreicht, packte den großen, schweren Hund mit einer Hand und den Zügel des Pferdes mit der anderen. Mit einer starken Bewegung seines Armes schleuderte er den Hund in die Mitte des Platzes, wo er bewegungslos liegenblieb. Das Pferd blutete am Hals und wollte erschreckt davonstürmen. Es wieherte wild und schlug aus, aber Goodie hielt es fest am Zügel. Gleich darauf sprang auch der Trainer des Pferdes hinzu. Der Hund rührte sich immer noch nicht.

 

»Der scheint tot zu sein«, sagte Luke. »Goodie hat ihm mit dem einen Griff das Genick gebrochen. Der Mann hat die Stärke eines Büffels.«

 

Edna sah auf Goodie, der jetzt unter der Barriere durchschlüpfte und in der Menge verschwand.

 

»Das war aber erstaunlich mutig«, sagte sie.

 

»Ja, bevor er Pferde trainierte, hat er wilde Tiere dressiert er hat sogar im Löwenkäfig gestanden. Schließlich besaß er selbst eine reisende Menagerie. Das wäre ein weiterer Grund für Sie, nicht in Longhall zu wohnen.«

 

In diesem Augenblick ärgerte sie sich wirklich über ihn.

 

»Sie tun so, als ob Sie einfach über mich zu verfügen hätten«, erwiderte sie kurz und kühl.

 

»Ja, das ist meine spezielle Schwäche. Aber kommen Sie jetzt mit auf die Tribüne.«

 

Sie hatte sich entschlossen, Doncaster am folgenden Morgen zu verlassen. Es hatte deshalb keinen Zweck, sich mit dem Mann zu streiten, der sonst immer so liebenswürdig zu ihr gewesen war und den sie wahrscheinlich doch nicht wiedersehen würde.

 

Schweigend stiegen sie die vielen Treppen hinauf und mischten sich unter die Leute, die in der obersten Reihe standen.

 

Das zweite Rennen wurde angekündigt, und die Pferde kamen mit ihren Reitern zum Start. Edna konnte über die Rückwand hinab auf die Straße sehen, die tief unter ihr lag. Als sie gleichgültig nach links blickte, entdeckte sie einen großen Wagen, der aus der Richtung von London kam und vor dem Eingang zu den Tribünen anhielt. Er war grauweiß von Staub. Die beiden Insassen trugen Ledermäntel und waren nicht zu erkennen. Sie stiegen, etwas steif nach der langen Fahrt, aus dem Wagen. Als der eine den Mantel öffnete und Lederkappe und Schutzbrille abstreifte, bemerkte sie zu ihrem Erstaunen, daß es der tadellos gekleidete Mr. Arthur Rüstern war. Er sah aber nicht so gut aus wie sonst.

 

Sein Begleiter war der etwas aufdringliche junge Mann aus seinem Büro. Der frühere Anwalt wandte sich zum Eingang und verschwand. Sie trat zu Luke zurück und erzählte ihm, was sie gesehen hatte.

 

»Was – Rustem ist hier? Der geht doch für gewöhnlich nicht zum Rennen.«

 

Er hob den Feldstecher an die Augen, suchte unten den Sattelplatz ab und entdeckte in der Menge Mr. Rustem, der noch den Ledermantel trug. Dr. Blanter, Goodie und der kleine Mr. Trigger, die Rustem suchte, hielten sich in der äußeren Ecke des Sattelplatzes auf. Gleich darauf standen sie im Kreis und steckten die Köpfe zusammen. Es mußte eine besonders wichtige Veranlassung vorliegen, daß Rustem zum Rennen kam, um sich mit den anderen in Verbindung zu setzen. Luke konnte durch den Feldstecher auch erkennen, daß Dr. Blanter ein ärgerliches Gesicht machte.

 

Trigger, der allem Anschein nach aufpaßte, daß sie von niemandem belauscht wurden, sah sich häufig um. Als eine Gruppe von Leuten in ihre Nähe kam, gingen sie ein wenig zur Seite. Einmal gewahrte Luke auch, daß Goodie auf die Tribüne zeigte und irgend etwas sagte.

 

»Ich habe das Gefühl, daß sie über uns sprechen«, meinte er. »Können Sie sie sehen?«

 

Edna nickte.

 

»Ich möchte nur wissen, ob er meine Schlüssel mitgebracht hat«, sagte sie dann.

 

»Ihre Schlüssel! Meinen Sie, Rustem wäre aus London nach Yorkshire gekommen, um –«

 

Er brach unvermittelt ab. Drei der Leute gingen plötzlich schnell über den Sattelplatz und kamen außer Sicht. Luke eilte zum höchsten Punkt der Tribüne und schaute über die Mauer nach unten. Der große, staubbedeckte Wagen stand noch vor dem Eingang; Pilcher ging unten auf und ab und rauchte eine Zigarette. Die drei kamen zum Ausgang heraus und hielten noch eine kleine Besprechung auf der Straße ab. Dann langte Pilcher in den Wagen und holte einen kleinen Handkoffer heraus. Im selben Augenblick stiegen zwei der anderen ein, das Auto wendete und fuhr den Weg zurück, den es gekommen war.

 

»Warum die wohl nach London fahren?« meinte Luke nachdenklich. »Und warum haben sie Pilcher hier in Doncaster zurückgelassen?«

 

»Kennen Sie den auch?« fragte sie überrascht.

 

»Ich kenne alle Leute.«

 

Als er wieder über die Mauer spähte, war Pilcher verschwunden.

 

»Wahrscheinlich hat er eine Straßenbahn erwischt und ist in die Stadt gefahren.«

 

Edna zerbrach sich den Kopf, was Luke in Doncaster wohl zu tun hätte. Es war doch sehr unwahrscheinlich, daß Scotland Yard, das immer zuwenig Leute hatte, einen so wichtigen Beamten aussandte, um die Durchführung von einer der Triggerschen Transaktionen zu beobachten.

 

»Es ist möglich, daß sie morgen zurückkommen. Allem Anschein nach ist etwas mit Triggers Transaktionen passiert. Was es auch sein mag – wichtig ist es auf jeden Fall.«

 

Luke fuhr Edna vor dem letzten Rennen nach Hause, und als er ihr anbot, sie abends zum Essen auszuführen und ihr die Stadt zu zeigen, konnte sie im Augenblick keinen triftigen Entschuldigungsgrund finden.

 

Sie trank Tee in ihrem Wohnzimmer, und ihre Wirtin erzählte mit offensichtlichem Stolz, daß sie einen zweiten Mieter bekommen habe, der das untere Schlafzimmer und auch das Wohnzimmer gemietet habe.

 

Edna interessierte sich wenig dafür. Sie hatte Möbelkataloge aus London mitgenommen, ebenso Preislisten von Teppichen, Gardinen und Vorhängen, und sie brachte nun eine Stunde damit zu, Pläne für die Einrichtung und Ausstattung ihres Hauses zu machen.

 

Edna Gray war früher Stenotypistin gewesen. Als sie siebzehn Jahre alt war, starb ihre Mutter, und sie hatte sich mit einem kleinen Gehalt ziemlich mühselig durchschlagen müssen. Sie wußte wohl, daß sie irgendwo in Südamerika einen Onkel hatte, aber er existierte kaum wirklich für sie, bis eines Tages zu ihrem größten Erstaunen ein langer Brief von ihm eintraf. Er bat sie darin, zu ihm zu kommen. Dann hatte sie sechs glückliche Jahre mit ihm verlebt. Jeden Tag hatte sie im Sattel sitzen dürfen und war Herrin eines großen, luxuriös ausgestatteten Hauses gewesen. Als ihr Onkel starb, wurde sie seine Universalerbin und konnte ihr Leben einrichten, wie es ihr paßte.

 

Longhall hatte sie als Kind einmal aufgesucht. Die Erinnerung daran war nicht allzu angenehm. Das Haus war düster, wenn auch sehr repräsentativ und groß – ein schöner, alter Landsitz aus der Zeit der Tudors, zu dem tausend Morgen Land gehörten. Es war der Wunsch ihres alten Onkels Donald gewesen, daß sie nach seinem Tod nach England zurückkehren sollte. In gewisser Weise war dieser Wunsch leicht zu erfüllen, denn sie hatte nur wenige Freunde in Südamerika. Ihr Onkel hatte ziemlich zurückgezogen gelebt, und sie war nur selten nach Buenos Aires gekommen, höchstens, wenn sie sich Kleider anfertigen ließ oder einmal ins Theater ging.

 

Mr. Garcia war nahezu ihr einziger Freund gewesen, und es fiel ihr daher nicht schwer, sich von dem einsamen Leben zu trennen, das sie auf der Estanzia ihres Onkels geführt hatte. In England hatte sie noch verschiedene alte Bekannte, die sie wieder aufsuchen konnte.

 

Als sie am Abend mit Luke zusammen speiste, erzählte sie ihm von ihren Plänen.

 

»Ach, haben Sie wirklich die Absicht, sich auch einen eigenen Rennstall einzurichten?« sagte dieser. »Nun, Sie können schließlich noch schlimmere Dinge tun. Ich habe es mir ja bisher versagt, Sie danach zu fragen, wieviel Geld Sie haben. Außerdem weiß ich zufällig, daß Sie eine Viertelmillion besitzen und dreizehntausend Pfund im Jahr – nach einiger Zeit wahrscheinlich noch bedeutend mehr – verbrauchen können. Aber Sie werden doch nicht im Ernst in Longhall wohnen wollen?«

 

»Warum denn nicht?« fragte sie trotzig.

 

»Weil mir das nicht lieb ist. Das mag ja kein stichhaltiger Grund sein, aber es ist der einzige, den ich dafür anführen kann. Was ich dagegen habe, beruht auf einer Theorie, die bis jetzt noch nicht zu beweisen ist, wenn ich auch von ihrer Richtigkeit überzeugt bin. Sie sind doch schon einmal dort gewesen. Haben Sie nicht die Eisenstangen vor den Fenstern gesehen und die großen Parktore, die mit Maschendraht bespannt sind? Und wissen Sie auch, warum die neuen Ställe, die Goodie errichten ließ, nicht benützt werden? Er hat nämlich andere Ställe ein paar hundert Meter vom Haus entfernt gebaut. Sie liegen direkt auf den Abhängen der Hügelkette. Und waren Sie vor allem schon in den Perrywig-Höhlen? Die liegen auch auf dem Gelände, das er von Ihnen gepachtet hat. Die Haupthöhle hat zwei eiserne Tore, und man nimmt in der Gegend allgemein an, daß da eine Frau umgeht, die vor zwanzig Jahren dort ermordet wurde.«

 

Er sah sie fest und herausfordernd an, zuckte mit keiner Wimper und lächelte auch nicht.

 

»Ich habe das alles im Ernst gesagt. An bestimmten Abenden soll man die unglückliche Frau schreien hören, daß einem die Haare zu Berge stehen.«

 

Er machte eine Pause.

 

»Haben Sie die Schreie dieser unglücklichen Frau etwa auch gehört?« fragte Edna.

 

»Ja. Es war ein sehr unangenehmes Erlebnis.«

 

Sie lachte leise.

 

»Sie werden mir doch keine Gespenstergeschichten erzählen wollen«, sagte sie ärgerlich. »Ich weiß nicht, was Sie eigentlich vorhaben. Goodie erzählt mir von Ratten, und Sie – aber ich möchte nicht unhöflich sein. Ich glaube nicht an die Ratten in Longhall House, und ich glaube auch nicht an Ihren Geist, der so fürchterlich schreit. Wollen Sie mich nur aus diesem Grund nicht nach Longhall lassen?«

 

Luke strich Butter auf ein Stück Toast.

 

»Ja, zum Teil.«

 

»Nun, ich gehe aber trotzdem. Ich glaube nicht an Ratten, Gespenster oder ähnlichen Spuk, und ich werde in Longhall House wohnen, weil mein Großvater und dessen Vater und viele Generationen von Gillywoods dort gelebt und gewohnt haben.«

 

Er sah sie lange an, ohne ein Wort zu sagen.

 

»Wenn Sie sich tatsächlich nicht davon abbringen lassen, dann wäre es besser, wenn ich erst einmal hinführe und das Haus untersuchte, bevor Sie einziehen. Ich bin ein großer Rattenjäger. Und Sie gestatten sicher auch, daß ich Ihnen einen Rat wegen der Dienstboten gebe. Sie brauchen einen Butler und einen Diener, besser sogar zwei Diener, ganz gleich, welches Personal Sie sonst noch engagieren wollen. Es ist ein schrecklich einsamer Ort, und vor allem muß die männliche Dienerschaft sorgfältig ausgewählt werden. Gerade in letzter Zeit ist es vorgekommen, daß sich Verbrecher mit gefälschten Ausweisen in Vertrauensstellungen einschlichen.«

 

Er brachte sie dann nach Hause, und sie kamen zu gleicher Zeit mit einem Telegrafenboten an.

 

»Sind Sie Miss Gray?«

 

Sie merkte, daß Luke zusammenfuhr.

 

»Wer kennt Sie denn hier?« fragte er.

 

»Der Geschäftsführer des Carlton-Hotels. Ich habe ihm ein Telegramm geschickt und ihm mitgeteilt, daß ich morgen zurückkehren werde. Ich habe auch angefragt, ob Mr. Garcia nach London zurückgekommen ist. Aber warum fragen Sie?«

 

»Ich interessiere mich dafür.«

 

Viele seiner Angewohnheiten gefielen ihr nicht, und doch wußte sie nicht, was sie eigentlich daran auszusetzen hatte. Er reichte ihr die Hand und klopfte ihr freundlich auf die Schulter, als er sich von ihr trennte.

 

»Gute Nacht. Ich werde Ihnen morgen den Sieger nennen.«

 

»Es ist möglich, daß ich morgen früh abreise. Wo kann ich Sie finden?»

 

Er logierte im ersten Hotel der Stadt.