Kapitel 24

 

Kapitel 24

 

Mark McGill atmete tief. Die Spannung in seinen Zügen ließ nach, aber er war noch nicht fähig zu sprechen. Er lehnte sich an den Tisch und sah Bradley mit unsicheren Blicken an, als ob er seinen Augen nicht trauen könne. Er wußte nicht, ob er träumte oder wachte. Bradley stand in der Mitte des Teppichs, direkt über dem Loch. Welche geheimnisvollen Kräfte trugen ihn? Mark riß sich zusammen.

 

»Wenn sich jemand hier einen Scherz erlaubt, dann sind Sie es. Sie haben Li Yoseph wahrscheinlich noch nicht an die frische Luft gelassen – wie lange soll ich denn hier auf ihn warten?«

 

Bradleys Züge wurden undurchdringlich.

 

»Sind Sie sicher, daß er hierherkommt, wenn er weiß, daß Sie da sind? Wäre es nicht möglich, daß er die – unangenehmen Erfahrungen, die er hier machen mußte, nicht wiederholen will?«

 

Er schob mit dem Fuß den Teppich beiseite und schaute auf den Fußboden. Mark sah, daß die Falltür nicht mehr offenstand. Sie hatte sich lautlos geschlossen, ohne daß er oder Tiser den Hebel berührt hatten.

 

»Haben Sie hier Spuren von Schüssen entdeckt?« fragte Bradley. »Ich vermute, Sie haben sich die Bretter genau angesehen.«

 

Er nahm das kleine Etui wieder aus seiner Westentasche, öffnete es und hielt es Mark hin.

 

»Sehen Sie sich die beiden Geschosse nur gut an, McGill.«

 

»Sie interessieren mich nicht«, erwiderte Mark kühl. »Sagen Sie mir lieber, wo Ihr Freund Li Yoseph ist! Sie denken doch nicht etwa, daß ich mich scheue, ihm gegenüberzutreten, oder daß ich mich vor den Anklagen dieses alten Fuchses fürchte? Es gibt keinen Gerichtshof in der ganzen Welt, der mich auf das Zeugnis eines Mannes hin verurteilt, der Geister und Gespenster sieht. Bringen Sie das doch vors Gericht – Sie werden von allen Seiten ausgelacht werden!«

 

In diesem Augenblick ging die Tür auf, und Mrs. Shiffan kam herein. Sie brachte einen Brief und schien nicht zu wissen, wem sie ihn geben sollte.

 

»Eben kam ein Junge und gab ihn an der hinteren Tür ab. Er sagte, er wäre von Mr. Li Yoseph hierher geschickt worden.«

 

Bradley nahm den Brief aus ihrer Hand, öffnete ihn und las.

 

»Er wird nicht vor elf Uhr nachts kommen«, sagte er dann. »Wahrscheinlich hat er nur diese Zeit gemeint. Eine merkwürdige Stunde.«

 

»Ich wüßte nicht, warum sie so besonders merkwürdig wäre«, entgegnete Mark.

 

Bradley lächelte düster.

 

»Um diese Stunde wurde er doch getötet – und um dieselbe Zeit starb auch Ronnie Perryman.«

 

Mark sah ihn überrascht an.

 

»Was sagen Sie da für einen Unsinn? Li Yoseph soll ermordet worden sein? Sie sind verrückt! Ich habe ihn doch gesehen.«

 

»Vielleicht haben Sie auch Perryman gesehen? Der ist nicht mehr am Leben. Nun gut, um elf Uhr sehen wir uns hier wieder.«

 

Er drehte sich um und ging zur Tür.

 

»Sie sehen ja so entsetzt aus, Tiser?« fragte er belustigt. »Wovor fürchten Sie sich denn? Aber vielleicht erzählen Sie mir das heute abend.«

 

Tiser rührte sich nicht, er war starr vor Schrecken.

 

Die Haustür fiel krachend ins Schloß. Mark gab Mrs. Shiffan ein Zeichen, sich zu entfernen. Als sie gegangen war, wandte er sich an Tiser, der noch immer entgeistert auf die Falltür schaute.

 

»Hast du es gesehen, Mark? Er ist auf den Teppich getreten und nicht hinuntergestürzt!«

 

Mark fuhr ihn wütend an.

 

»Weil die Tür geschlossen war, du Hasenfuß! Wer mag das nur getan haben?«

 

Plötzlich ertönte von irgendwoher, als ob es die Antwort auf Marks Frage wäre, der klagende Klang einer Violine. Jemand spielte Tostis »Chancon d’Adieu«.

 

Kapitel 25

 

Kapitel 25

 

Mark McGill hatte sein Vermögen bei vier Banken deponiert; von dreien hob er nun sein Geld bis auf einen verschwindend kleinen Rest ab. Das vierte Konto, das kleinste von allen, war der Polizei bekannt, und er rührte es deshalb nicht an.

 

Er bestellte für diese Nacht an fünf verschiedenen Stellen in den äußeren Vororten Londons leistungsfähige Autos, die ihn erwarten sollten. Vorsichtshalber beorderte er sie von fünf verschiedenen Garagen unter fünf verschiedenen Namen. Von seinen Agenten in Manchester und Leeds hatte er zwei neue Pässe erhalten. Die Fotos glichen den anderen Bildern nicht; er hatte sie selbst in seiner Wohnung aufgenommen.

 

Nun brauchte er nur noch den Augenblick seiner Flucht zu wählen, und diese Entscheidung hatte er bereits getroffen. Gleich nach der Zusammenkunft heute abend wollte er nach Essex fahren. In Burnham lag ein seetüchtiges Motorboot für ihn bereit, das mit allem nötigen Proviant für eine mehrtägige Reise versehen war. Er wollte von der englischen Küste nach Ostende fahren. Das Motorboot war in Belgien registriert und konnte in dem belebten Hafen einlaufen, ohne die geringste Aufmerksamkeit zu erregen. Mark kannte den Wert der belgischen Trikolore, die er in dem Motorboot aufbewahrte.

 

Er machte keinen Versuch, Ann noch einmal zu sprechen. Sein Diener erzählte ihm, daß sie schon frühmorgens ausgegangen sei. Ann war für ihn bedeutungslos geworden. Er dachte viel mehr an Tiser als an sie. Dieser Mann war bedeutend gefährlicher, obwohl er wußte oder doch wenigstens wissen sollte, daß jeder Versuch, sich durch Verrat Straflosigkeit zu sichern, mit einer Katastrophe für ihn enden mußte.

 

*

 

Gegen Mittag erhielt Ann eine Mitteilung von Bradley. Der kleine Brief begann ohne Anrede:

 

›Ich bitte Sie um einen großen Gefallen – fast möchte ich sagen, um ein Opfer. Würden Sie heute abend um elf Uhr nach Lady’s Stairs kommen? Entscheiden Sie bitte nach Ihrem Gutdünken, ob Sie es tun wollen oder nicht. Ich werde Sie in jedem Fall verstehen. Aber wenn es irgend möglich ist, so kommen Sie bitte. Für den Fall Ihrer Zusage werde ich einen Mann schicken, der Sie in einem Privatauto abholt und dorthin bringt. Vielleicht werden Sie mir das niemals vergeben, was ich im Begriff bin zu tun, aber ich muß es tun. Ich brauche Sie um des psychologischen Eindrucks willen, den Sie auf einen der Anwesenden machen werden.‹

 

Sie las den Brief, faltete ihn und steckte ihn in ihre Handtasche.

 

»Teilen Sie bitte Mr. Bradley mit, daß ich kommen werde«, sagte sie zu dem wartenden Beamten.

 

Mr. Tiser erhielt eine etwas dringendere Aufforderung. Sergeant Simmonds besuchte ihn am Nachmittag. Der Diener sagte zwar, daß Mr. Tiser nicht zu Hause sei, aber der Beamte ließ sich nicht abweisen.

 

»Ich werde warten, bis er zurückkommt«, erwiderte er und ließ sich behaglich im Wohnzimmer nieder.

 

Nach einer Viertelstunde erschien dann auch der nervöse Tiser.

 

»Sie werden heute abend in Lady’s Stairs erwartet«, sagte der Sergeant zu ihm. »Bradley schickt mich und läßt Ihnen dies ausrichten.«

 

»Ich fühle mich aber nicht wohl genug, um heute auszugehen.«

 

»Dann werden wir Sie durch einen Krankenwagen abholen lassen – in diesem Fall können Sie sich dann als verhaftet betrachten.«

 

Tisers Schrecken kannte keine Grenzen.

 

»Tiser, Sie haben jetzt eine Chance – sie ist zwar nicht groß, und wir können Ihnen auch nichts Besonderes versprechen … Warum sagen Sie denn nicht freiwillig alles, was Sie wissen?«

 

Tiser krümmte sich wie ein Wurm.

 

»Ich weiß doch nichts, wirklich nichts – gar nichts! Sie sind vollständig falsch unterrichtet, ebenfalls der gute Mr. Bradley, wenn er glaubt, daß ich ihm etwas über Ronnie sagen kann.«

 

»Ich habe zwar nicht von dem armen Ronnie gesprochen, aber ich habe ihn gemeint«, sagte Simmonds und erhob sich. »Nun gut, Sie werden heute abend kommen. Entfliehen können Sie nicht, denn ich habe mehrere Detektive beauftragt, Sie zu überwachen.«

 

Als Ann und ihr Begleiter am Abend auf Cavendish Square hinaustraten, regnete es heftig. Ein geschlossener Wagen wartete auf sie.

 

»Wer wird noch kommen?« fragte sie, als sie unterwegs waren.

 

»Tiser und McGill. Sie sind vor zehn Minuten weggefahren.«

 

»Wenn ich mich nicht irre, sind Sie doch Mr. Simmonds, der mich damals verhaftete? Habe ich nicht recht?«

 

»Ja, der bin ich«, erwiderte der Beamte in guter Laune.

 

»Dann können Sie mir sicher sagen, was ich so gern wissen möchte. Gehen wir nach Lady’s Stairs – Ronnies wegen?«

 

Aber Mr. Simmonds war verschwiegen.

 

»Mr. Bradley wird Ihnen das alles viel besser erklären können.«

 

Für Mark McGill war die Fahrt nicht angenehm. Tiser quälte ihn dauernd mit ängstlichen Fragen. In einer Anwandlung von Zutrauen hatte er ihm von der Aufforderung der Polizei erzählt, ein Geständnis abzulegen.

 

»Natürlich habe ich es sofort abgelehnt, mein lieber Mark. Was immer auch geschehen mag, ich schweige. Ich werde dich niemals verraten. Allein der Gedanke daran macht mich krank.«

 

»Es ist mir auch nie im Traum eingefallen, daß du das tun würdest. Dein eigenes Leben ist dir doch viel zu schade. Sie haben dir ja auch nicht gesagt, daß du straflos ausgehen würdest, wenn du ihnen alles verrätst, und daß man jede Anklage gegen dich fallenlassen würde. Ich könnte mir das wenigstens nicht denken. Wenn sie dir das schriftlich gegeben hätten, wärst du bestimmt darauf eingegangen.«

 

»Aber wenn Li Yoseph nun etwas erzählt?«

 

»Li Yoseph! Was kann der denn erzählten? Höchstens von Geistern, Gespenstern und kleinen Kindern! Sein Geschwätz kann man doch unmöglich vor einem Richter oder vor Geschworene bringen. Sei doch kein Narr. Höre einmal zu: Das einzige, was wir zu erwarten haben, ist, daß Li Yoseph alles berichten wird, was er weiß. Er wird sowohl von Ronnie als auch von sich sprechen. Du hast nur still dabeizusitzen und dir vorzustellen, daß sein ganzes Gefasel erlogen ist. Diesen einen Gedanken mußt du dir fest einprägen, alles andere ist dann furchtbar leicht. Ich wette, daß Bradley die ganze Geschichte so eingefädelt hat. Es ist wie ein verschärftes Verhör. Wenn er damit keinen Erfolg hat, werde ich ihm schon die Hölle heiß machen.«

 

Aber er spann diesen Gedanken nicht weiter aus; er dachte im Augenblick an das Motorboot, das in Burnham on Crouch auf ihn wartete, und er dachte an den guten Wetterbericht für die Überfahrt: ›Geringe Dünung, leicht dunstig, Sicht schlecht.‹

 

Als sie zu Li Yosephs Haus kamen, fanden sie die Tür noch verschlossen. Mark klopfte, und nach einigen Minuten hörten sie die Schritte Mr. Shiffans, der die Treppe herunterkam und sie einließ.

 

»Ich bin froh, daß jemand gekommen ist«, sagte er mit schriller Stimme. »Es sind furchtbar viele Ratten hier, es ist wirklich unheimlich.«

 

»Ist der Alte schon da?« fragte Mark.

 

»Nein, er ist bis jetzt noch nicht gekommen. Es tut mir schon leid, daß ich zugesagt habe, heute abend hierzubleiben. Wissen Sie, hier spukt es! Die unglaublichsten Geräusche können Sie hören! Wenn ich ein paar Nächte hier schlafen sollte, würde ich selbst verrückt werden.«

 

»Ist heute abend jemand hier gewesen?« fragte Mark.

 

»Der Polizeimensch.«

 

»Bradley!«

 

»Ja, er hat sich ein paar Stunden hier herumgetrieben. Ich fragte ihn, ob er irgend etwas haben wollte, aber er sagte nein. Da konnte ich auch nichts machen. Er geht hier aus und ein, als ob ihm das ganze Haus gehörte.«

 

Um diese Stunde war Li Yosephs Wohnung ein düsterer Ort. Die einzige Lampe, die von der Decke herabhing, war schwach und konnte den Raum kaum erhellen.

 

»Haben Sie das schon gesehen?«

 

Mr. Shiffan zeigte auf ein kleines Paneel an der Tür, auf dem sechs grüne Glühbirnen befestigt waren.

 

»Merkwürdige Idee. Wozu mag das bloß sein?«

 

Mark war in einer sonderbar mitteilsamen Stimmung und erklärte es ihm.

 

»Unter jeder dritten Stufe ist ein Kontakt angebracht, der eins dieser Lichter aufleuchten läßt. Es ist ein Warnungssignal, wenn jemand die Treppe heraufkommt.«

 

»Großer Gott, es ist gut, daß Sie mir das gesagt haben! Ich bin furchtbar erschrocken, als meine Frau heute abend von der Straße heraufkam.«

 

Unten wurde an die Haustür geklopft. Mark ging hinunter, um zu öffnen. Ann stand allein draußen; ihr Begleiter hatte sie mit der Versicherung verlassen, daß sie beobachtet werde und nichts zu fürchten habe.

 

»Treten Sie näher, Ann«, sagte Mark zuvorkommend. »Wie kommen Sie denn hierher? Hat Bradley Sie auch eingeladen? Und Sie kommen ganz allein?«

 

Sie antwortete nicht, sondern ging vor ihm die Treppe hinauf. Ihr Kommen wirkte beruhigend auf Tiser.

 

»Meine liebe Miss Ann, ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie froh ich bin, daß ich Sie sehe.« Er drückte ihr die Hand. »Also hat man Sie auch hierhergebracht …«

 

»Es wäre besser, wenn du deinen Mund hieltest«, fuhr ihn Mark McGill ärgerlich an. Dann wandte er sich wieder an Ann. »Was soll denn diese ganze Geschichte bedeuten?«

 

»Ich weiß es nicht.«

 

»Hat Bradley nach Ihnen geschickt?«

 

Sie nickte.

 

»Ist Mr. Yoseph hier?«

 

Mr. Shiffan schüttelte den Kopf.

 

»Nein, Miss, wir dachten schon, er würde heute nachmittag kommen. Es hatte sich eine große Menschenmenge angesammelt, um ihn zu sehen.«

 

»Wird Mr. Bradley heute abend hier sein?« fragte sie.

 

»Ich glaube nicht. Er gab mir den Auftrag, daß ich sofort nach Scotland Yard telefonieren solle, wenn etwas Besonderes passiert. Er hat mir seine Spezialnummer gegeben.« Er nahm einen Zettel aus seiner Tasche, aber Ann interessierte sich nicht dafür.

 

»Sind Sie sicher, daß Li Yoseph nicht morgens hier im Haus war?« fragte Tiser.

 

»Nein, soweit ich weiß, nicht.«

 

»Ich dachte, ich hörte ihn Violine spielen.«

 

Mr. Shiffan grinste.

 

»Ach, das habe ich schon so häufig gehört, da kümmere ich mich gar nicht mehr darum. Großer Gott, alle die Geräusche, die Sie hier im Haus hören können.«

 

»Sind Sie denn sicher, mein lieber Mr. Shiffan«, fragte Tiser nervös, »daß es nicht noch einen anderen Raum hier gibt, in dem sich der alte Li aufhalten könnte? Denken Sie einmal nach.«

 

»Ja, es sind noch mehrere Zimmer da, aber die sind alle fest verschlossen. Die Polizei hat sie damals geöffnet, als der Alte verschwand, aber sie hat nichts Besonderes gefunden – soweit ich gehört habe, war nur alter Plunder darin.« Er rieb seine kalten Hände. »Wenn Sie sonst nichts brauchen, will ich gehen und in der Küche ein Feuer machen.«

 

Niemand hielt ihn zurück. Als er gegangen war, folgte ein verlegenes Schweigen.

 

»Ich weiß nicht, warum Sie eigentlich gekommen sind, Ann«, bemerkte Mark nach einiger Zeit.

 

»Warum sollte ich denn nicht kommen?« fragte sie herausfordernd.

 

Mark zuckte die Schulten.

 

»Sie waren in letzter Zeit wohl viel mit Bradley zusammen? Er ist ganz verrückt nach Ihnen, er scheint Sie kolossal gern zu haben – es ist wirklich amüsant. Was hat er Ihnen denn erzählt?«

 

»Nicht mehr, als er mir früher auch schon sagte«, erklärte Ann ruhig, aber sie fühlte sich etwas unbehaglich unter seinem durchdringenden Blick.

 

»Sie sind jetzt immer so vergnügt – ich habe Sie neulich sogar morgens singen hören. Kommt das von Ihrer Freundschaft mit Bradley?«

 

Sie lächelte über seine Frage.

 

»Ich habe mich selbst darüber gewundert.«

 

Wieder folgte eine längere Pause. Tiser hatte sich eben aufgerafft, etwas zu sagen, als er von Mark daran gehindert wurde.

 

»Haben Sie noch die Absicht, nach Paris zu gehen, wenn diese ganze Geschichte vorüber ist?« fragte McGill. »Manchmal kommt mir der Gedanke, daß es ein Fehler war, Sie überhaupt hier in London zu behalten; aber ich dachte mir, daß eine Dame als Chauffeur der Aufmerksamkeit der Polizei leichter entgehen werde. Das war jedoch nicht der Fall – im Gegenteil, Sie haben die Aufmerksamkeit dieser Leute zu sehr auf sich gezogen.«

 

Ann schwieg, Tiser war inzwischen zum Fenster gegangen.

 

»Mark, Mark!« rief er plötzlich. »Was haben denn alle diese Boote dort zu bedeuten?«

 

»Was redest du da von Booten?« McGill trat zu ihm und wischte mit seinem Taschentuch eins der Fenster ab, um besser sehen zu können.

 

»Es sieht so aus, als ob es Polizeiboote sind – sie fahren zur Schleuse hinauf. Die Themse-Polizei hat hier immer ein paar Boote in der Nähe.«

 

»Aber sie wenden ja nun«, flüsterte Tiser. »Mark, sie patrouillieren hier vor der Bucht. Was hat das zu bedeuten?« fragte er ängstlich und packte Mark krampfhaft am Arm. »Es ist doch wirklich nicht so wichtig, daß ich dabei bin … muß ich denn hierbleiben? Ich glaube, ich bin nicht notwendig … entschuldigen Sie mich bitte, Miss Perryman.«

 

»Du bleibst hier!« befahl Mark rauh.

 

Mr. Shiffan trat wieder ein, und Mark winkte ihn zu sich.

 

»Haben Sie etwas zu trinken im Hause?«

 

»Ja, ich habe heute morgen eine Flasche Whisky besorgt. Sie steht in der Küche. Es ist ja nicht von meinem Geld.«

 

McGill nahm Tiser am Arm.

 

»Nun sei ruhig. Du mußt einen kleinen Schluck nehmen, dann wird dir wieder besser. Sie haben doch nichts dagegen, daß wir Sie einen Augenblick allein lassen, Ann?«

 

Sie schüttelte den Kopf. Aber sie bereute ihre Zustimmung sofort, als sie sich schließlich allein in dem Raum befand. Selbst die Anwesenheit Marks war noch dieser trostlosen Einsamkeit vorzuziehen. Sie hatte das Gefühl, als ob große Augen aus dem Dunkel auf sie starrten. Von unten hörte sie das Plätschern des Wassers und das Krachen der Pfosten. Der Wind hatte sich erhoben und fuhr ächzend und stöhnend um das Haus. Und plötzlich erlebte sie wieder, was sie schon einmal erlebt hatte – das Licht ging aus. Die Falltür öffnet sich, und Kopf und Schultern Li Yosephs tauchten auf.

 

Ann schrak zurück und lehnte sich an die Wand, als der alte Mann heraufstieg. Diesmal konnte sie sein Gesicht deutlich in dem Licht der Laterne sehen, die er trug. Die Falltür schloß sich wieder, und der Alte verschwand in dem kleinen Schlaf räum. Gleich darauf ging das Licht wieder an. Im selben Augenblick traten auch Mark und Tiser ein.

 

»Es ist kein Korkenzieher in der Küche – ist etwas passiert?« fragte Mark schnell, als er sah, daß Ann zitternd und halb ohnmächtig an der Wand lehnte. Anns Lippen waren trocken.

 

»Li Yoseph ist gekommen«, sagte sie atemlos.

 

Sie zeigte auf die Falltür.

 

»Von dort her?«

 

»Ja – er ist in sein kleines Zimmer gegangen.«

 

Mark wandte sich schnell dorthin.

 

»Haben Sie sich auch nicht getäuscht, liebe Miss?« fragte Tiser bebend vor Angst. »Ist es nicht nur eine Einbildung? Warum sollte er denn gerade von dort unten kommen?«

 

»Hier habe ich eine Tür gefunden«, hörten sie Marks Stimme, »direkt hinter dem Bett. Ich habe sie früher nie gesehen. Ich wundere mich nur, was …«

 

Er wurde durch den Klang einer Violine unterbrochen. Die Töne kamen näher und näher, und plötzlich erschien Li Yoseph. Er ging zum Fenster und setzte sich dort auf seinen alten Platz. Sein Bogen bewegte sich nach dem Takt über die Saiten.

 

»Mein Gott!« Tisers Zähne klapperten. »Er ist es wirklich!«

 

Mark schüttelte ihn von sich ab.

 

»Ruhe«, sagte er.

 

Der Alte legte die Geige aus der Hand.

 

»Li – Mark spricht jetzt mit dir«, sagte Mark freundlich. »Geht es dir gut, Li?«

 

Der alte Mann stand auf, kam langsam näher und sah ihn an, als ob er kurzsichtig wäre.

 

»Es ist doch komisch, daß du mich fragst.« Er kicherte heiser.

 

»Ja, mir geht’s ganz gut – mir geht’s ganz gut. Ja, mein lieber Mark … denkst du noch immer an den armen, alten Li?« Dann drehte er sich um und sprach leise zu den Kindern, die ihn begleiteten. »Nun, Heinrich und Peter, ihr müßt jetzt zu Bett gehen. Um diese Zeit dürfen kleine Kinder nicht mehr auf sein … husch, husch, husch! Also gute Nacht!« Er winkte ihnen zu.

 

»Er hat immer noch die verrückten Manieren«, sagte Mark leise. »Li, Miss Perryman ist auch hier. Li, hörst du? – Ronnies Schwester.«

 

Li nickte.

 

»Ich kann sie ganz gut sehen. Sie fürchtet sich nicht vor mir?«

 

»Ich bin auch da, Li«, sagte Tiser mit schriller Stimme. »Kennst du mich noch – den lieben, guten Tiser?«

 

Aber Li schien sich nicht um ihn zu kümmern, er ging zu dem Schrank an der Wand, nahm eine Flasche und ein Glas heraus und setzte sich behutsam auf eine umgedrehte Kiste.

 

»Warum sollten wir denn heute um elf hier sein?« fragte Mark. »Kommt Bradley auch? Was willst du mit dem Wein?«

 

»Der ist für ihn«, sagte Li und nickte vor sich hin.

 

»Wen meinen Sie denn, Li Yoseph?« fragte Ann, die ihre Stimme kaum in der Gewalt hatte.

 

Der Alte schaute sie seltsam an, und sie glaubte einen traurigen Ausdruck in seinen Augen zu sehen.

 

»Sie werden mir nicht böse sein, wenn ich es Ihnen sage?«

 

»Für Ronnie?« fragte sie.

 

Der Alte nickte.

 

»Was soll denn das heißen, du verrückter Narr?« fuhr Mark auf.

 

»Ja, für ihn«, wiederholte Li Yoseph. »Er kommt jede Nacht.«

 

»Jede Nacht?« Mark lachte laut auf. »Du bist doch ein ganzes Jahr lang nicht mehr hier gewesen.«

 

Mark sah Li zum erstenmal lächeln; es war ein abstoßender Anblick.

 

»Das denkst du, aber ich bin doch hier gewesen.«

 

Je länger die seltsame Unterhaltung dauerte, desto aufgeregter wurde Tiser.

 

»Ich kann das nicht mehr aushalten! Ach Gott, das ist zuviel! Ronnie ist tot, Li – er kann doch nicht herkommen …«

 

»Jede Nacht kommt er«, sagte der Alte feierlich. »Er geht die Treppe herauf und kommt in dieses Zimmer. Dann tritt er an den Tisch und zieht das Glas zu sich, aber er trinkt nicht. An dem Abend wollte er gerade trinken – du erinnerst dich, mein lieber Mark –, als …«

 

»Jetzt sei aber ruhig!« brüllte McGill. »Siehst du denn nicht, daß du die junge Dame erschreckst?«

 

Aber Ann gab ihm ein Zeichen, daß er schweigen solle.

 

»Nein, hören Sie meinetwegen nicht auf. Ob er lebt oder tot ist, ich fürchte mich nicht vor Ronnie!«

 

»Sie werden ihn nicht sehen«, sagte Mark verächtlich. »Diese Dinge existieren doch nur in seinem verrückten Gehirn.«

 

Der alte Li sprach weiter.

 

»Nun, mein lieber Mark, soll ich dir erzählen, was dann geschieht?«

 

»Was geschieht denn dann?« fragte Mark böse, aber seine Stimme zitterte leicht.

 

Li Yoseph wandte sich langsam nach ihm um.

 

»Und dann fällt er, und der Stuhl fällt auch um – und dann ist er wieder tot.«

 

Ann sah Mark entsetzt an. »Was sagt er da?« flüsterte sie. »Ist Ronnie hier – hier in diesem Raum – umgekommen?«

 

Tiser packte plötzlich ihren Arm so heftig, daß sie aufschrie.

 

»Kommen Sie, hören Sie doch nicht auf ihn – wir wollen schnell fortgehen«, stammelte er. »Dieser Platz ist verhext, überall Geister … Sehen Sie ihn nur an!«

 

Mit einem Ruck befreite sie sich von seinem Griff.

 

»Ronnie wurde hier in diesem Zimmer ermordet?« fragte sie scharf.

 

»Sie sind ebenso verrückt wie Li!« sagte Mark.

 

In diesem Augenblick schlug eine Kirchenuhr in der Nähe elf. Alle schwiegen. Eine unheimliche Stille folgte.

 

»Nun?« begann Mark endlich.

 

Plötzlich klopfte es unten an die Tür – die Töne hallten langsam und deutlich herauf. Dann fiel die Tür ins Schloß. Tiser stieß einen Schreckensschrei aus. Die grünen Lichter leuchteten nacheinander auf – es kam jemand die Treppe herauf. Langsam öffnete sich die Tür … Zoll für Zoll … Aber niemand außer Li sah, wer sie geöffnet hatte.

 

Der alte Mann ging vorwärts – der unsichtbare Besucher war für ihn Wirklichkeit.

 

»So, Ronnie, kommst du wieder, um mit dem alten Li zu sprechen … Hier ist der Wein, Ronnie … Setze dich hin … du willst nicht?«

 

Niemand war eingetreten, aber die Tür schloß sich wieder. Li kam näher – er hatte den Arm um die unsichtbare Gestalt gelegt. Ann beobachtete ihn fasziniert, als er seinen Gast jetzt zum Tisch führte.

 

»Es ist ein guter Wein, Ronnie – der beste für dich!«

 

Und dann sah sie zu ihrem größten Schrecken, wie sich das volle Glas auf dem Tisch bewegte … langsam kam es dem Rand, immer näher.

 

»Ronnie, sieh dich vor – Mark!« rief Li plötzlich warnend.

 

In diesem Augenblick fiel der Stuhl am Tisch um. Ein Schreckensschrei gellte durch das Zimmer.

 

»Du hast ihn umgebracht, Mark!« schrie Tiser. Sein Gesicht war verzerrt, er zeigte mit zitternder Hand auf McGill. »Ich sage es der Polizei – du hast ihn umgebracht! Kaltblütig hast du ihn ermordet! Ich kann es nicht mehr aushalten, ich muß es sagen!«

 

Mark packte ihn an der Kehle.

 

»Bist du auch verrückt?«

 

»Er hat die Wahrheit gesagt – Sie Mörder«, rief Ann atemlos.

 

»Ob wahr oder gelogen, das ist mir alles gleich«, sagte Mark drohend. »Sie werden auch nicht aus dem Haus kommen, ehe ich nicht Ihren Mund auf die eine oder andere Weise zum Schweigen gebracht habe.«

 

Aber dann überkam ihn eine fürchterliche Wut, und er wandte sich rasend gegen den alten Mann, der Tiser zum Geständnis gebracht hatte.

 

»Diesmal entkommst du mir nicht, du Schuft!« schrie er. Aber als er seinen Browning zog, packte ihn Li Yoseph mit einem so geschickten Griff, daß Mark hinfiel.

 

Mit einem Wutschrei sprang er wieder auf und stürzte sich auf den Alten. Aber die harten Hände packten ihn wieder und stießen ihn nach hinten in die Arme eines der Detektive, die während der letzten Vorgänge ungesehen und ungehört in den Raum getreten waren.

 

»Wer sind Sie?« fragte Mark atemlos.

 

Seine Frage war überflüssig, denn mit einem kurzen Ruck hatte der Alte die gelbe Maske mit dem großen Kinn und der häßlichen Nase heruntergerissen. Mark stand vor Inspektor Bradley.

 

»Was – Sie?«

 

Bradley nickte.

 

»Wir fanden Li Yoseph vor einiger Zeit hier unten – ich zeigte Ihnen die Kugel, die wir aus seinem Körper entfernten. Es stimmt schon, Sie haben ihn umgebracht. Es hat lange gedauert, bis wir ihn im Schlamm fanden, aber schließlich hatten wir doch Erfolg. Und dann kam mir der Gedanke, daß ich Tiser zu einem Geständnis bringen könnte. Sie wissen ja, ich spiele selbst Violine – und Li hatte etwa meine Gestalt.«

 

Selbst in diesem Augenblick bewahrte McGill seine Selbstbeherrschung.

 

»Sie brauchen aber zwei Zeugen für einen Beweis – so verlangt es das Gesetz. Sie sind voreingenommen – Ihr Zeugnis gilt nicht. Auch Ann Perryman wird man ablehnen. Woher nehmen Sie diesen zweiten Zeugen?«

 

Bradley zeigte auf die Kiste.

 

»Dort ist der andere. Haben Sie nicht gesehen, daß er das Glas bewegte? Er hat eine Stahlplatte am Fuß, und er hat das Glas mit einem Magneten von unten her bewegt.«

 

Er öffnete die Tür der Kiste, und Mr. Sedeman kam heraus.

 

*

 

Bradley hatte darauf bestanden, daß Ann eine Seereise unternahm.

 

»Es ist besser, daß du dich an das Klima in Brasilien gewöhnst, Ann. Du mußt mir versprechen, daß du keine englischen Zeitungen liest, bis ich nachkomme, mein Liebling. Nein, ich glaube nicht, daß dein Zeugnis irgendwelchen Wert haben könnte, wir kommen auch so aus. Tiser hat jetzt sein Geständnis schriftlich bestätigt.«

 

So kam es, daß Ann auf einem Luxusdampfer nach Brasilien unterwegs war, während sich in London der aufsehenerregende Prozeß abspielte. Sie erfuhr nichts davon, daß der halb wahnsinnige Tiser vor den Schranken des Gerichts Mark an die Gurgel sprang; sie erfuhr auch nichts von der Hinrichtung. An dem Tag, an dem Mark McGill am Galgen endete, trat Bradley aus dem Dienst der Polizei aus, und die Fliegende Kolonne verlor ihren besten Beamten.

 

Kapitel 2

 

Kapitel 2

 

In Lady’s Stairs gab es kein Telefon. Li Yoseph war ein sparsamer Mann, der niemals unnötig Geld ausgab. Lange nachdem seine Besucher das Haus verlassen hatten, saß er zusammengekauert in einem alten, harten Lehnstuhl, den er an den großen, runden Tisch gezogen hatte. Zu seiner Linken brannte eine Lampe, und vor ihm lagen fünf engbeschriebene Bogen eines fast vollendeten Briefes.

 

Es fiel ihm schwer, diesen Brief zu schreiben, aber es mußte geschehen. Sobald er fertig war, wollte er ihn in einen Umschlag stecken, sich nach unten schleichen und den alten Sedeman aufsuchen, der in der Nachbarschaft wohnte und den Brief gegen ein Entgelt zu Inspektor Bradley bringen würde. Li nahm wahllos einen der Bogen auf und las ihn noch einmal durch.

 

»… McGill wußte, daß Ronnie mit Ihnen in Verbindung stand. Wenn Ronnie trank, war wenig Verlaß auf ihn, und er trank in der letzten Zeit heftig. Mit McGill hatte er einen Streit und sprach darüber, daß er ausscheiden wolle. Er erzählte mir die Sache, und ich sagte ihm auch, daß ich gern in meine Heimat zurückkehren wolle. Ich glaube, daß McGill das auf die eine oder andere Weise herausgebracht hat, denn in der fraglichen Nacht kam er hierher, nachdem er Ronnie von London aus gefolgt war. Ronnie hatte wieder getrunken. Um ein Uhr kamen McGill und Tiser. Sie stritten miteinander, und Ronnie sagte, daß er nichts mit Mord oder dergleichen zu tun haben wolle. Er behauptete, McGill sei für den Überfall bei der Northern- and Southern-Bank verantwortlich, bei dem ein Wachmann getötet wurde. Und dann prahlte er, daß er nur einen Finger zu heben brauche, um uns alle ins Gefängnis zu bringen. Wenn er das nicht gesagt hätte, wäre ich jetzt wohl nicht mehr am Leben; aber durch diese Äußerung wurde McGills Verdacht von mir abgelenkt. Ronnie stand mit einem großen Glas Portwein in der Hand am Tisch, als er das sagte, und wollte gerade trinken. Da schlug ihn McGill mit einem Totschläger über den Kopf, so daß er niederstürzte. McGill wickelte Ronnie in ein Bettuch und ließ ihn durch eine Falltür in mein Boot hinunter. Ich weiß nicht, wo er und Tiser ihn ins Wasser geworfen haben, aber nach einer halben Stunde kamen sie zurück und sagten, Ronnie habe sich wieder erholt und sei nach Hause gegangen. Dann drohte McGill, mich zu töten, wenn ich ein Sterbenswörtchen darüber sagen würde. Damals sprach er noch nicht davon, daß ich Ronnies Schwester eine erfundene Geschichte erzählen solle. Erst später, als er sie nach London holte, sagte er mir …«

 

Li ließ den Bogen sinken. Es war nicht mehr viel zu schreiben, auf der nächsten Seite beendete er seinen Bericht, löschte das Papier ab und steckte es in einen Briefumschlag. Während er dies tat, sprach er zu sich selbst.

 

»… Sieh, mein kleines Täubchen, das muß ich tun, sonst kommen sie, nehmen den alten Li und legen einen Strick um seinen Hals. Und dann muß ich sterben, mein Kind.«

 

Er hörte, wie die Tür aufgeschlossen wurde, schaute auf und steckte den Brief schnell in seine Tasche. Draußen auf der Treppe hörte er Marks Schritte – er kannte sie nur zu gut. Tiser begleitete McGill; das wußte Li schon, bevor sie die Tür öffneten und in den Raum traten.

 

Mark ging geradewegs auf den Tisch zu und schaute auf die Feder und das Papier.

 

»Du hast einen Brief geschrieben, wie? Hast du ihn schon abgeschickt?«

 

Der alte Mann schüttelte den Kopf.

 

»Lieber Freund!« Tisers Stimme überschlug sich vor Erregung. »Vielleicht hast du etwas Unrechtes getan, Kamerad. Sage jetzt schnell Mr. McGill, daß sein Verdacht unbegründet ist. Sage ihm …«

 

»Du brauchst ihm nicht zu sagen, was er mir zu antworten hat!« unterbrach ihn Mark eisig. »Gib den Brief her!« wandte er sich an Li Yoseph. »Du hast noch keine Zeit gehabt, ihn abzuschicken – die Tinte steht noch auf dem Tisch.«

 

Bevor Li wußte, was geschah, sprang Mark auf ihn zu, packte ihn und riß seinen Rock auf. Der Brief schaute aus der inneren Tasche hervor, und Mark zog ihn heraus.

 

»Also an Bradley – ich dachte es mir doch!«

 

Mark öffnete den Umschlag und überflog schnell den Inhalt.

 

»Du hast uns verraten wollen, was? Deshalb kam Bradley also hierher und sagte, daß er heute von zehn bis zwei in seinem Büro sei. Na, auf diesen Brief kann er verdammt lange warten!«

 

Li Yoseph bewegte sich nicht. Er stand dicht neben der geschlossenen Falltür, hatte die Hände vor sich auf der Brust gefaltet und schwieg. Er wußte, all dieses war verhängt, dem Geschick konnte er nicht entgehen. Vielleicht hörte er die Stimmen der Geister, die ihn umgaben und ihm Mut zuflüsterten, denn plötzlich lächelte er.

 

»Also nun zu dir, Li«, rief Mark erregt. Ihre Blicke trafen sich, und Li Yoseph sah Mord in Marks Augen.

 

»Mich kannst du nicht umbringen, mein guter Mark«, sagte er. »Ich mag sterben, ja – aber ich werde wiederkommen. Die kleinen Geister …«

 

Plötzlich bückte sich der alte Mann hastig, riß die Falltür auf und eilte auf der Leiter nach unten. Mark zog seine Pistole schnell aus der Tasche; der Schalldämpfer blieb in dem Stoff hängen und riß ein Loch hinein, aber Mark achtete nicht darauf.

 

Zwei Schüsse folgten kurz hintereinander – der zweite klang lauter. Die Geschosse saßen zwischen den Schultern. Sie hörten, wie der Körper Li Yosephs unten ins Wasser fiel.

 

»Mach die Falltür zu!«

 

Tiser ging mit unsicheren Schritten vorwärts und schloß leise die Tür.

 

»Leg jetzt den Teppich darüber.«

 

Mark trat ans Fenster, riß einen Flügel auf und schaute hinaus. Die Nacht war dunkel; ein feiner Sprühregen fiel nieder, die Flut war auf ihrem Höhepunkt.

 

Tiser lehnte sich an einen Stuhl und atmete schwer wie ein Mann, der eine ungeheure Anstrengung hinter sich hat. Die Sprache versagte ihm, und er wagte nicht aufzusehen, bis er hörte, daß Mark McGill das Fenster schloß.

 

»Das ist in Ordnung. Komm jetzt! Vergiß nicht, was du gesehen hast!«

 

Tisers Zähne klapperten, als er seinem finsteren Herrn zur Treppe folgte. Sie standen auf dem Absatz, als unten laut an die Tür geklopft wurde. Tiser unterdrückte einen Schrei. Wieder ertönte das Klopfen.

 

»Offnen Sie die Tür!«

 

McGill taumelte in das Zimmer zurück, löschte schnell das Licht und schaute durch ein kleines Fenster auf die Straße.

 

Zwei Autos hielten unten. Das dritte fuhr gerade vor, aber noch bevor es zum Stehen kam, sprangen sechs Männer heraus und gingen eilig auf das Haus zu.

 

In dem hellen Licht eines der Scheinwerfer an den Wagen sah Mark ein wohlbekanntes, ihm so verhaßtes Gesicht. Nur für einen Augenblick tauchte es auf, dann verschwand es wieder in der Dunkelheit.

 

»Bradley!« zischte er. »Die Fliegende Kolonne – das Haus ist umzingelt!«

 

Kapitel 20

 

Kapitel 20

 

Mark hörte Sedeman zu, ohne sich scheinbar im mindesten darüber aufzuregen. Sein gleichgültiges Gesicht hätte niemand verraten können, welchen mörderischen Haß er gegen diesen Mann empfand.

 

»Will er die Regenröhre hinaufklettern, um Sie zu sehen?« fragte er.

 

Mark schloß die Tür.

 

»Setzen Sie sich, Sedeman«, sagte er freundlich. »Ich möchte gern von Ihnen hören, was die ganze Geschichte zu bedeuten hat. Was wollten Sie denn Bradley berichten?«

 

»Daß es mir gutgeht und daß ich wahrscheinlich die Nacht vorzüglich schlafen werde«, entgegnete Sedeman ernst. »Der Mann sorgt sich nämlich um mich – das ist eine ganz neue Erfahrung für mich. Der Gedanke, daß ein Mensch an einen denkt …« Er schüttelte begeistert den Kopf.

 

»Mit anderen Worten: Bradley zahlt Ihnen Geld, damit Sie mich beobachten – das wollten Sie doch wohl sagen? Nun, Sie werden eine leichte Aufgabe haben.« Plötzlich änderte er das Thema. »Haben Sie den alten Li Yoseph gesehen?«

 

»Ich habe allerhand Gerüchte gehört – es ist wirklich eine merkwürdige Sache –, die Toten kehren ins Leben zurück.«

 

»Er war doch niemals tot«, sagte Mark laut. »Er war …«

 

»Mark!«

 

Er schaute sich um. Tiser stand in der Nähe des Fensters. Sein Gesicht war verzerrt vor Furcht.

 

»Was ist denn, du verdammter Narr?« fragte Mark wild.

 

»Höre doch!«

 

Der Klang einer Violine tönte herüber. Mark beugte den Kopf etwas vor.

 

»Hörst du das?«

 

Mark ging an ihm vorüber und riß die Vorhänge auseinander. Aber er konnte nur den schwachen Schimmer einer Straßenlaterne sehen.

 

»Mach das Fenster sofort auf«, sagte er ungeduldig zu Tiser.

 

»Mark, um Gottes willen, das wäre die größte Dummheit … Wir könnten doch jemand schicken, der ihn heraufholen soll.«

 

»Wen haben wir denn? Ich will auf jeden Fall hinaussehen – öffne das Fenster.«

 

Tiser lockerte den Riegel und versuchte ihn mit zitternden Händen zu öffnen, aber es mißlang ihm. Mark stieß ihn unsanft beiseite, riß das Fenster auf und lehnte sich hinaus. Der Klang der Violine war jetzt lauter zu hören. Als er die Straße entlangsah, entdeckte er zwischen zwei Laternen eine Gestalt.

 

In dem Augenblick hörte das Spiel auf, und eine rauhe Stimme ertönte. Ein Polizist trat aus dem Schatten heraus und ging quer über die Straße auf den Musikanten zu.

 

Die beiden auf der Straße waren zu weit entfernt; ihr Gespräch war nicht zu verstehen. Aber jetzt kamen sie langsam auf das Haus zu, und plötzlich hörten sie Li Yosephs Stimme.

 

»Mein lieber Freund, ich mache doch Musik für meine lieben, kleinen Kinder.«

 

»Für Ihre kleinen Kinder?« Der Polizist neigte sich zu dem gebückten Alten hinunter.

 

»Sie sind ein Fremder, nicht wahr? Nachts dürfen Sie doch nicht auf der Straße musizieren – gehen Sie jetzt weiter.«

 

Mark beobachtete die beiden, bis sie in der Dunkelheit verschwanden.

 

»Wenn der Polizist nicht dabeigewesen wäre, hätte ich den alten Esel angesprochen.«

 

»Li Yoseph!« Sedeman war aufs höchste erstaunt.

 

»Sie haben ihn gesehen?« fragte ihn Mark. »Ist er nun lebendig oder tot?«

 

Er füllte ein Glas mit Whisky und goß nur ein wenig Sodawasser hinzu. Es war nicht leicht, Mr. Sedeman in Aufregung zu bringen. Tiser sah betrübt, wie der Whisky verschwand.

 

»Gut, gut!« sagte Sedeman, als er getrunken hatte. »Dieser alte Li Yoseph!«

 

Mark sah ihn scharf an. »Waren Sie wirklich so überrascht?«

 

»Ich habe es Ihnen ja gesagt«, erklärte Sedeman vergnügter denn je.

 

McGill trat nahe an ihn heran und schaute ihn düster und versonnen an.

 

»Sie wußten, daß er lebt. Wo hält er sich denn auf? Seien Sie doch vernünftig, Sedeman«, sagte er dann in freundlicherem Ton. »Es hat doch keinen Zweck, daß wir gegeneinander arbeiten. Was ist los? Bradley hat ihn hierhergeschickt, nicht wahr?«

 

In diesem Augenblick klopfte es an die äußere Tür.

 

»Da kommt er selbst – Sie können ihn ja fragen.«

 

Tiser ging widerstrebend hinaus, um zu öffnen, Bradley kam allein. Er trat in das kleine Zimmer und grüßte Mark mit seinem undurchdringlichen Lächeln.

 

»Sie haben eben ein Ständchen bekommen, wie man mir erzählt? Li Yoseph ist ein äußerst zuvorkommender alter Herr, aber ich wußte nicht, daß seine Freundlichkeit so weit gehen würde, Sie musikalisch zu unterhalten.«

 

Bradley bekümmerte sich nicht um Sedeman, und der Alte machte auch keinen Versuch, ihn auf sich aufmerksam zu machen; er blieb ruhig sitzen. Bradley nahm sich unaufgefordert einen Stuhl und zog ein kleines Etui aus der Tasche, das Mark verstohlen betrachtete. Aber der Polizeiinspektor machte keinen Versuch, den Deckel zu öffnen.

 

»Sie hatten früher immer eine Pistole bei sich, McGill? Sie hatte ein großes Kaliber und war kein Browning?«

 

Mark antwortete nicht, und Bradley wiederholte seine Frage. Mark lächelte.

 

»Was soll denn das heißen? Hat etwa der alte Li gesagt, daß ich nach ihm geschossen habe?«

 

Tiser überlief es kalt bei dieser waghalsigen Frage.

 

»Das hat er nicht direkt gesagt«, erklärte Bradley bedächtig. »Aber nehmen wir einmal an, ich behauptete, daß ich bei der Untersuchung des Fußbodens in Lady’s Stairs – ich meine den Raum, aus dem Li Yoseph verschwand – zwei Geschosse im Holz entdeckte? Ganz kürzlich«, fügte er gleichgültig hinzu.

 

Mark wartete.

 

»Nehmen wir einmal folgende Vermutung an«, fuhr Bradley fort. »Diese beiden Geschosse wurden aus einer Pistole abgefeuert, die damals in Ihrem Besitz war und, soviel ich weiß, auch jetzt noch Ihr Eigentum ist?«

 

»Was wollen Sie damit sagen?« fragte Mark kühl. »Daß ich Schießübungen in Li Yosephs Zimmer abhielt? Man kann dort allerdings seine Pistole ruhig abschießen, ohne viel Schaden anzurichten. Aber ich kann mich nicht besinnen, daß ich jemals in Li Yosephs Zimmer betrunken war – oder daß ich jemals eine Pistole besaß«, fügte er schnell hinzu.

 

Bradley öffnete jetzt das kleine Etui. Mark sah zwei spitz zulaufende Nickelgeschosse auf einem Wattebausch liegen. Die Spitze des einen war so umgebogen, daß es beinahe einem Fragezeichen ähnlich sah.

 

»Haben Sie schon einmal so etwas gesehen?« Bradley nahm sie in die Hand. »Nicht anrühren – nur ansehen.«

 

»Ich wüßte nicht«, sagte Mark ruhig.

 

»Nun, dann nehmen Sie sie einmal in die Hand. Haben sie dasselbe Kaliber wie Ihre Pistole?«

 

McGill machte keinen Versuch, die Geschosse zu berühren.

 

»Ich besitze keine Pistole. Ich trage niemals eine Schußwaffe bei mir – ich denke, das habe ich Ihren Leuten schon oft genug erklärt. Aber Sie sind ja immer skeptisch!«

 

»Das gehört nun einmal zu meinem Beruf – Skeptizismus trägt gewöhnlich ebensoviel zu unserem Erfolg bei wie Geduld«, meinte Bradley lächelnd, als er die beiden Geschosse wieder in das Etui zurücklegte und den Deckel zuschob. »In welcher Tasche tragen Sie gewöhnlich Ihre Pistole? Ach, ich vergaß, Sie haben ja überhaupt keine.«

 

Schnell berührte er Marks Hüfttasche, aber sie war leer.

 

Nicht ein Muskel in Marks Gesicht bewegte sich. Nur ein grausames Lächeln lag auf seinen Zügen.

 

»Nun, sind Sie jetzt zufrieden?«

 

Bradley steckte das Etui in seine Westentasche.

 

»Ja – beinahe.«

 

»Haben Sie die Geschosse aus dem Fußboden herausgeschnitten?« fragte Mark ironisch. »Wirklich, meine Achtung vor der Polizei ist um mehrere Grade gestiegen.«

 

»Wenn ich eben sagte, daß ich beide Geschosse in Lady’s Stairs fand, dann habe ich einen kleinen Fehler gemacht. Ich fand nur eines dort – das andere entfernte ich aus einem Baum im Hydepark. Unsere Schießsachverständigen erklären, daß die beiden Geschosse aus demselben Pistolen-Typ abgeschossen wurden, aber es muß nicht notwendigerweise dieselbe Pistole sein. Das hätte ich den Leuten auch sagen können, denn Ihr Alibi war an jenem Abend unwiderleglich.«

 

Er holte das Etui wieder hervor und nahm das verbogene Geschoß heraus.

 

»Dieses fand ich in Lady’s Stairs – zwölf Monate lang habe ich danach gesucht.«

 

McGills Lippen zuckten.

 

»Hat Li Yoseph Ihnen dabei geholfen?« fragte er leichthin.

 

»Ja, er hat mir geholfen.«

 

Bradley nahm ein Schriftstück aus der Tasche und legte es auf den Tisch.

 

»Ich werde jetzt dieses Haus durchsuchen – hier ist meine Vollmacht«, sagte er in geschäftlichem Ton. »Ich habe nämlich die Idee – es mag sein, daß ich mich irre –, daß ich in diesem Haus irgendwo ein Duplikat der Pistole finden werde. Wenn Sie nichts dagegen haben, werde ich hier beginnen.«

 

Nur einen Augenblick sah McGill finster drein. Bradley fing diesen Blick auf und lachte.

 

»Ich bin nicht allein, McGill. Meine Leute haben das Haus umstellt. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, werde ich ein paar hereinrufen.«

 

Die Durchsuchung wurde ebenso planmäßig und gewissenhaft durchgeführt wie alle früheren. Der entsetzte Tiser saß auf der Ecke eines Stuhles und stöhnte und seufzte, wie es selbst Bradley nicht für möglich gehalten hätte.

 

Ein Zimmer nach dem anderen kam an die Reihe. In einem Geheimfach im Fußboden fand man eine Menge altes Silber. Der Raum gehörte einem der Leute, die nach einem Überfall auf Bradley plötzlich verhaftet worden waren.

 

»Ich kann und will Sie dafür nicht verantwortlich machen«, erklärte der Inspektor, als die Gegenstände gebracht und auf den Tisch gelegt wurden. »Kein Kokain, Simmonds?«

 

»Nein.«

 

»Auch keine Pistolen?« fragte Mark unschuldig.

 

»Dies habe ich oben in dem schallsicheren Raum entdeckt«, erwiderte Simmonds.

 

Mark atmete schwer, als er Anns Handtasche sah.

 

Bradley nahm sie auf und betrachtete sie von allen Seiten.

 

Als Mark nicht antwortete, öffnete er die Tasche.

 

Zuerst fiel ihm eine Visitenkarte in die Hand. Er sah Mark scharf an.

 

»Was hatte Miss Perryman hier zu tun?«

 

»Sie kommt öfters hierher«, sagte Mark gleichgültig. »Wir sind sehr gute Freunde – Sie mögen es glauben oder nicht. Über solche Dinge spricht man gewöhnlich nicht mit anderen, aber Sie sind ja ein Polizeibeamter, und ich pflege der Polizei immer die Wahrheit zu sagen.«

 

»So, Sie sind gute Freunde?« fragte Bradley kühl und gelassen. Er drückte die Handtasche wieder zu. »Wie gute Freunde sind Sie denn?«

 

Mark lächelte geheimnisvoll.

 

»Nun, Sie sind doch ein Mann von Welt …« begann er, aber Bradleys ironisches Lachen unterbrach ihn.

 

»McGill, Sie sind sehr heruntergekommen. Hätten Sie mir das vor einem Jahr gesagt, dann hätte ich es Ihnen vielleicht geglaubt. Sie haben sogar verlernt, geschickt zu lügen. Wenn ich Li Yoseph heute abend sehe, werde ich ihm sagen, daß es sich lohnt, nach Lady’s Stairs zurückzukommen, um das zu hören.«

 

Bradley war schon gegangen, als Mark McGill wieder sprach. Sedeman hatte das Zimmer während der Durchsuchung verlassen, und als Tiser nach oben geschickt wurde, um ihn zu suchen, fand er ihn nicht auf seinem Zimmer.

 

Mark ging wie ein gefangener Löwe auf und ab. Plötzlich hielt er in seiner Wanderung inne und sah auf seine Uhr.

 

»Zieh schnell deinen Mantel an«, sagte er barsch zu Tiser.

 

»Du willst doch nicht, daß ich heute abend noch ausgehe, Mark?« fragte Tiser furchtsam.

 

»Du kommst jetzt mit mir – nach Lady’s Stairs –, ich will mit Li Yoseph sprechen.«

 

Kapitel 21

 

Kapitel 21

 

Ann Perryman konnte mit ihrer letzten Kraft gerade noch das Haus erreichen. Als sie ihre Tür verschlossen und verriegelt hatte, sank sie erschöpft in einen Stuhl.

 

Sie kannte nun Mark McGill und zum erstenmal wurde ihr die Rolle klar, die sie bei seinem nichtswürdigen Treiben gespielt hatte. Ein kalter Schauer überlief sie bei dem entsetzlichen Gedanken, daß sie persönlich für eine Reihe von Verbrechen verantwortlich war, die sie nicht einmal kannte.

 

Sie hörte ein Klopfen und schrak auf. Mark wollte sie nicht hereinlassen, sie konnte sich jetzt keiner Gefahr mehr aussetzen. Am nächsten Morgen wollte sie diese Wohnung verlassen.

 

Sie ging in den Korridor, als sich das Klopfen wiederholte.

 

»Wer ist da?« fragte sie.

 

Zu ihrer größten Beruhigung antwortete ihr die Stimme des Portiers. Sie zog den Riegel zurück und öffnete die Tür.

 

»Ihr Taxi wartet noch unten, Miss. Der Fahrer möchte wissen, ob Sie noch weiterfahren wollen.«

 

In Ihrer Aufregung hatte sie vergessen, den Mann zu bezahlen. Sie ging ins Zimmer zurück, um ihre Handtasche zu holen. Dabei entdeckte sie ihren Verlust. Aber sie bewahrte noch Geld in ihrem Schreibtisch auf, so daß sie die Fahrt begleichen konnte.

 

»Könnte ich Sie einen Augenblick sprechen, Miss?«

 

»Jetzt?« fragte sie überrascht. »Nun gut, kommen Sie zurück, wenn Sie den Chauffeur bezahlt haben.«

 

Sie führte den Portier in ihr Wohnzimmer, als er wieder heraufkam.

 

»Ich habe etwas auf dem Herzen, was ich gern mit Ihnen besprechen möchte«, sagte der Mann. »Ich bin in einer fatalen Lage, die ich Ihnen schwer erklären kann.«

 

Sie lächelte schwach.

 

»Das klingt aber sehr geheimnisvoll, Ritchie.«

 

Sie hatte den Mann ganz gern; er war ein älterer pensionierter Beamter, der das Gebäude schon seit über zwanzig Jahren betreute.

 

»Miss Findon kam gestern aus Schottland zurück«, begann er. »Sie war auf dem Weg nach Paris und kam hierher, um zu sehen, ob alles in Ordnung ist.«

 

»Ist das die Tochter Sir Arthur Findons, die Violine spielt?«

 

»Ja. Sie hat einen etwas heftigen Charakter, und ich kann nicht gerade behaupten, daß ich sie gern sehe. Aber darum handelt es sich jetzt nicht. Sie entdeckte, daß jemand ihren Violinkasten geöffnet und den Bogen herausgenommen hatte – ich glaube, sie hat ihn gar nicht eingeschlossen, und da ich den einzigen Schlüssel zu der Wohnung habe, wird die Sache recht unangenehm werden. Wenn Sir Arthur hier wäre, ließe sich alles ja sehr leicht erklären. Aber wie die Dinge nun einmal liegen, komme ich in große Unannehmlichkeiten, ob ich nun schweige oder rede.«

 

Ann erinnerte sich an das Violinspiel; sie wußte, wer den Bogen genommen und vergessen hatte, ihn zurückzubringen.

 

»Kennen Sie Mr. Li Yoseph?« fragte sie.

 

Er war über die direkte Frage erstaunt.

 

»Nein – aber ich habe einen alten Herrn hereinkommen sehen. Ich dachte, er hätte die Erlaubnis, die Wohnung zu betreten. Ein Polizeibeamter hat mir auch mitgeteilt, daß ich ihn nicht hindern solle …« Er hielt plötzlich inne, als ob ihm klargeworden sei, daß er zuviel gesagt habe.

 

»Welcher Polizeibeamte war das – etwa Mr. Bradley? Kennen Sie ihn?«

 

Er nickte.

 

»Ja, Miss, ich kenne den Polizeiinspektor sehr gut. Ich kannte auch Ihren Bruder sehr gut.«

 

Sie schaute ihn groß an. Bisher hatte sie noch nicht daran gedacht, daß auch ihr Bruder in diesem Haus aus und ein gegangen war.

 

»Wie, Sie kannten Ronnie – meinen Bruder?«

 

»Ja, sehr gut«, erwiderte Ritchie. »Er schlief gewöhnlich hier in der Wohnung Mr. McGills, wenn er zuviel…« Er vollendete den Satz nicht, aber sie wußte, was er sagen wollte.

 

»Was kann ich nun für Sie tun, Ritchie? Soll ich mit Mr. McGill sprechen …?«

 

»Nein, sagen Sie ihm nichts«, unterbrach er sie schnell. »Wenn Sie mir einen Gefallen tun wollen, dann erzählen Sie bitte Mr. Bradley, was geschehen ist. Ich weiß, er ist Ihr Freund. Ich möchte natürlich nicht gern diese gute Stellung verlieren, auf der anderen Seite möchte ich auch nicht sagen, warum ich den alten Mann in Sir Arthurs Wohnung gelassen habe – da käme ich in noch größere Schwierigkeiten.«

 

»Ich werde Mr. Bradley alles erzählen, wenn ich ihn sehe. Es tut mir sehr leid, daß Sie in solche Unannehmlichkeiten gekommen sind. Mr. Bradley kannte doch meinen Bruder gut?«

 

»Ja, Miss. Er und Mr. Perryman waren sehr gute Freunde. Das heißt, Mr. Bradley war immer freundlich und nachsichtig zu ihm. Sie gingen oft abends zusammen aus, und ich weiß, wie nahe es Mr. Bradley ging, als Ihr Bruder starb. Er hat sein Bestes getan, um ihn zu retten.«

 

Ann dachte an Ronnie, als Ritchie gegangen war, und empfand große Genugtuung darüber, daß sich Marks Geschichte, mit der er sie gegen Bradley aufhetzen wollte, als Lüge erwies. Ronnie mußte durch ein Unglück ums Leben gekommen sein – vielleicht war er aus dem Boot gefallen, als er den Polizeibeamten entfliehen wollte.

 

Aber dann erinnerte sie sich an den Wortlaut der gerichtlichen Erklärung: Anklage gegen einen oder mehrere unbekannte Täter wegen vorsätzlichen Mordes. Sie hatte es nicht über sich gebracht, alle Einzelheiten zu lesen; aber der Fall war eingehend untersucht worden, und die Ärzte hatten ihr Urteil abgegeben. Es war zweifellos Mord.

 

Bradley war nicht der Täter, aber sie wußte auch nicht, wen sie sonst mit der Schuld belasten sollte.

 

Mark? Das war undenkbar. Und doch hatte sie genügend Beweise für seine Rücksichtslosigkeit und Verwegenheit. Der alte Li Yoseph mußte es wissen. Sie erinnerte sich jetzt genau an das dunkle Zimmer in Lady’s Stairs – Li hatte damals einen Augenblick gezögert, als Mark darauf bestand, daß er ihr die Geschichte erzählen sollte. Seine Antworten waren kurz und einsilbig gewesen.

 

Plötzlich hörte sie ein leises Klopfen in bestimmtem Rhythmus an ihrer Wohnungstür.

 

Das war Marks Signal. Sie drehte das Licht behutsam aus, schlich geräuschlos in den Flur und schob vorsichtig den Sicherheitsriegel vor. Soviel sie wußte, hatte Mark keinen Schlüssel zu ihrer Wohnung, aber nach all ihren Erlebnissen wollte sie sich keiner weiteren Gefahr aussetzen. Ihre Befürchtungen waren auch gerechtfertigt, denn gleich darauf wurde ein Schlüssel in das Schloß gesteckt und umgedreht. Die Türklinke senkte sich. Aber der Sicherheitsriegel war stark und hielt. Der Schlüssel wurde wieder abgezogen, und Ann hörte, daß sich die Tür zu Marks Wohnung schloß. Sie legte jetzt auch noch die Sicherheitskette vor.

 

Bald darauf ging wieder eine Tür. Anscheinend wollte Mark noch ausgehen. Er klopfte noch einmal bei ihr an, aber sie verhielt sich ganz ruhig.

 

Das Klopfen wiederholte sich nicht. Sie löschte von neuem das Licht und ging ans Fenster, um hinauszusehen. Nach einer Weile trat Mark aus dem Haus, überquerte den Platz, schlug die Richtung nach der Regent Street ein und verschwand.

 

Ann wollte sich nun zu Bett legen und schlafen, aber sie war noch zu erregt. Immer wieder mußte sie darüber nachdenken, wer Ronnies Mörder sein könnte. Es quälte sie das unwiderstehliche Verlangen, die Wahrheit darüber zu erfahren. Und es gab nur einen Menschen, der es ihr sagen konnte – Li Yoseph!

 

Es war nach Mitternacht, als sie plötzlich einen wilden Entschluß faßte. Sie verwarf ihn zuerst wieder, weil es zu absurd war; aber schließlich gewöhnte sie sich immer mehr an den Gedanken, und als sie zu Mantel und Hut griff, erschien ihr der Plan ganz natürlich und vernünftig.

 

Sie verließ das Haus und schlug dieselbe Richtung ein wie Mark. Es war charakteristisch für ihre Gemütsverfassung, daß es ihr ganz gleichgültig gewesen wäre, wenn sie ihn getroffen hätte.

 

Die Regent Street lag verlassen da. Nur ab und zu sah sie ein Auto oder einen verspäteten Fußgänger. Sie mußte eine ziemliche Strecke gehen, bevor sie einen Wagen fand.

 

Als der Fahrer hörte, daß sie nach Lady’s Stairs fahren wollte, machte er ein langes Gesicht.

 

»Das ist aber eine recht verrufene Gegend. Ich würde an Ihrer Stelle nicht allein dorthin gehen, wenn Sie nicht jemand dort besuchen wollen. Ich kenne das Haus – früher lebte ein alter Einsiedler dort.«

 

Der Mann hatte selbst bis vor kurzem in der Nachbarschaft gewohnt.

 

»Aber jetzt steht es leer, Miss. Ich war letzte Woche dort, und da wurde mir erzählt, daß der alte Li Yoseph noch nicht zurückgekommen sei.«

 

Als sie die Regent Street hinunterfuhr, sah sie zwei Herren am Rand des Gehsteigs stehen. Der eine gab dem Auto ein Zeichen zu halten, da er in der Dunkelheit nicht gesehen hatte, daß es besetzt war. Als sie hinausschaute, erkannte sie Mark McGill. Erleichtert atmete sie auf. Mark wollte wahrscheinlich zu einem der Nachtklubs fahren, deren Mitglied er war.

 

Ann war nur von dem einen Wunsch beseelt, Li Yoseph zu sprechen; sie fürchtete sich in keiner Weise, selbst als ihr Wagen durch die engen, schmutzigen Straßen fuhr, die in der Nähe von Lady’s Stairs lagen. Sie ließ das Auto direkt vor dem Haus halten und stieg aus. Kein Licht fiel aus den schmalen, düsteren Fenstern. Die Wellen der steigenden Flut schlugen gegen die Boote, die in der Bucht festgemacht waren. Ann fröstelte leicht.

 

»Ich habe Ihnen doch schon gesagt, daß das Haus leer ist. Sie werden wahrscheinlich niemand hier finden – höchstens einen Polizisten, der Wache hält.«

 

Als sie über das Pflaster ging, kam ihr ein Gedanke, und sie kehrte noch einmal um.

 

»Wenn ich in das Haus kommen kann, warten Sie bitte in der Nebenstraße auf mich.« Sie gab ihm einen Geldschein.

 

Vor der Haustür suchte sie nach der Klingel. Sie erinnerte sich, daß der Knopf versteckt unter einem Gesims lag. Dabei drückte sie gegen die Tür, die sofort nachgab. Es schien fast so, als ob Li Yoseph sie erwartete. Einen Augenblick lang blieb sie unentschlossen auf der Schwelle stehen, dann betrat sie den kleinen dunklen Gang.

 

Oben sah sie einen schwachen Lichtschimmer, und mit klopfendem Herzen stieg sie die Treppe hinauf. Die Tür zu Li Yosephs Zimmer stand auf – der Lichtschein drang aus diesem Raum. Von Li Yoseph selbst war nichts zu sehen. Auch sonst schien kein lebendes Wesen in der Wohnung zu sein.

 

Sie stand in der Tür und überschaute das Zimmer.

 

»Ist jemand hier?« fragte sie nervös.

 

Aber nur das Echo ihrer Stimme antwortete ihr.

 

Es herrschte einige Unordnung hier, aber im allgemeinen war es bedeutend sauberer, als Ann erwartet hatte. Erst später erfuhr sie, daß Mr. und Mrs. Shiffan hier seit einigen Tagen an der Arbeit waren, den Schmutz zu beseitigen.

 

Drüben stand Lis eiserne Bettstelle. Das Bett war seit langem nicht bezogen worden. Die Fenster nach dem Wasser zu waren geputzt, sie konnte die Lichter der Dampfer auf dem Fluß sehen.

 

»Ist jemand hier?«

 

Diesmal hatte sie lauter gesprochen, aber wieder erhielt sie keine Antwort.

 

Sie wußte nicht, welche Räume hinter den beiden Türen lagen, die von diesem Zimmer aus gingen, und sie mußte allen Mut zusammennehmen, um sich zu einem Erkundungsgang aufzuraffen. Aber kaum hatte sie einen Schritt auf die eine Tür zu gemacht, da verlosch das einzige Licht in dem Raum, und sie befand sich in vollkommener Dunkelheit.

 

Sie erschrak und wandte sich wieder zu dem Eingang zurück. Plötzlich hörte sie ein Geräusch, als ob Holz gegen Holz gestoßen würde, und in der Mitte des Fußbodens erschien plötzlich eine viereckige Öffnung. Im nächsten Augenblick tauchte ein Kopf eines Mannes auf – die Gestalt stieg höher und höher, und Ann erkannte den Fremden in dem Licht der Lampe; die er trug.

 

Es war Li Yoseph!

 

Sollte sie ihn ansprechen? Bevor sie zu einem Entschluß gekommen war, hörte sie das Flüstern einer zweiten Stimme. Die Lampe wurde ausgelöscht. Noch mehr Leute stiegen von unten in den Raum – zwei – drei. Sie hörte ihre Schritte auf dem Boden. Sie unterhielten sich leise. Das viereckige Loch im Boden verschwand, und die Falltür schloß sich.

 

Sie wartete einige Sekunden und versuchte die geflüsterten Worte zu verstehen. Aber die Leute entfernten sich nach der hinteren Seite des Zimmers, eine Tür knarrte laut, und plötzlich flammte das Licht wieder auf. Der Raum war vollständig leer vor ihr.

 

Ann stand reglos in der Tür und wartete. Jetzt hörte sie von unten ein Geräusch, gleich darauf erklangen schwere Schritte auf der Treppe. Sie mußte gesehen worden sein, denn sie wurde angerufen.

 

»Ann! Was machen Sie denn hier?« fragte Mark erstaunt. Er war allein. Er drängte sie behutsam aus dem Zimmer, legte seine Hand auf ihre Schulter und sah sie argwöhnisch an.

 

»Wie sind Sie denn hierhergekommen?«

 

»Ich habe ein Auto genommen«, sagte sie so gleichgültig wie möglich.

 

»Warum sind Sie gekommen? Hat Bradley nach Ihnen geschickt?«

 

Sie sah ihn groß an. »Mr. Bradley? Nein, ich wollte Li Yoseph sprechen.«

 

»Warum denn?« fragte er ärgerlich. »Sie wollen mir doch nicht etwa erzählen, daß Sie aus reiner Neugierde hierhergekommen sind?«

 

»Ich erzähle Ihnen nur das, was mir beliebt, Mark«, sagte sie ruhig. »Ich habe Ihnen keine Rechenschaft abzulegen.«

 

Er dachte einen Augenblick nach, und seine Stirn legte sich in häßliche Falten.

 

»Haben Sie Li Yoseph denn gesehen?«

 

Sie wollte ihm schon erzählen, was sie gesehen hatte, aber eine innere Stimme riet ihr zur Vorsicht.

 

»Nein, ich habe ihn nicht gesehen.«

 

Er wandte sich zu einer der Türen, stieß sie auf und ging hinaus. Fünf Minuten später kam er zurück und staubte seine Hände ab.

 

»Es ist niemand da«, sagte er.

 

Plötzlich hob er den Kopf. »Was ist das?«

 

Auch Ann hörte das leise, unheimliche Kichern und Lachen, das von dem Raum über ihnen zu kommen schien.

 

Ann schaute Mark an, der an ihrer Seite stand.

 

»Wer war denn das?« fragte sie leise.

 

»Es klang so, als ob es Li selbst wäre«, sagte er unsicher. »Er ist ein ganz merkwürdiger Kerl.«

 

Sie warteten, aber sie hörten nichts mehr. »Gehen Sie nicht«, sagte Mark, als sie sich zur Tür wandte. »Ich werde Sie nach Hause bringen.«

 

»Das ist nicht nötig – mein Wagen wartet unten.«

 

»Ach, das war Ihr Wagen? Ich sah ihn in der Seitenstraße stehen und dachte, er gehöre der Polizei.«

 

Er folgte ihr die Treppe hinunter auf die Straße und erstarrte bei dem unerwarteten Anblick, der sich ihm bot. Auf der anderen Seite der Straße standen drei Polizeiautos in einer Reihe. Außer den drei Fahrern, die ruhig am Steuer saßen, war nichts von der Fliegenden Kolonne zu sehen.

 

»Was mögen die hier zu tun haben? Als ich kam, waren sie noch nicht da.« Marks Stimme verriet seine Erregung. »Haben Sie zufällig Ihren Freund Bradley hier gesehen?«

 

Sie antwortete ihm nicht, sondern ging schnell zu der Seitenstraße, in der ihr Auto hielt. Der Fahrer war inzwischen eingeschlafen.

 

Mark gewann allmählich seine Selbstbeherrschung zurück.

 

»Sie würden mich vermutlich nicht gern mitnehmen? Nun, es ist auch nicht notwendig. Aber sagen Sie mir nur, warum Sie hierhergekommen sind, Ann? Hat Bradley Ihnen geraten, den alten Li aufzusuchen?«

 

»Nein«, antwortete Sie kurz, stieg ein und schlug die Tür hinter sich zu.

 

Sie war so müde, daß sie während der Rückfahrt in einen leichten Schlummer fiel. Erschrocken fuhr sie auf, als der Wagen vor ihrer Wohnung hielt. In geringer Entfernung sah sie einen Mann auf dem Gehsteig stehen. Er kam schnell auf sie zu, als sie den Fahrer bezahlt hatte. Es war Tiser.

 

»Haben Sie Mark gesehen, Miss Ann? Ich habe hier auf ihn gewartet.«

 

»Er ist in Lady’s Stairs.«

 

»Er ist in Lady’s Stairs!« wiederholte er entsetzt. »Und Sie sind auch dort gewesen? Aber, Miss Ann, wie leichtsinnig war das von Ihnen!«

 

Sie wollte an ihm vorbeigehen, aber er trat ihr in den Weg.

 

»Warten Sie einen Augenblick, Miss Ann. Ich habe Ihnen etwas zu sagen, etwas Wichtiges – Sie wissen doch, daß wir uns alle in einer sehr gefährlichen Lage befinden …«

 

Sie war erstaunt über seine Aufregung und seine abgerissene Sprache. Zuerst hatte sie gedacht, er habe wieder zuviel getrunken, aber als sie ihn jetzt näher betrachtete, bemerkte sie, daß er vollständig nüchtern war.

 

»Ich möchte lieber morgen früh mit Ihnen sprechen, Mr. Tiser …«, begann sie.

 

Aber plötzlich wandte er sich zu ihrem größten Erstaunen von ihr ab und floh in die Dunkelheit. Im selben Augenblick hörte sie das Knattern eines Motors und sah zwei helle Scheinwerfer. Mit einem Ruck hielt der Wagen an dem Rand des Gehsteigs. Es war einer der Polizeiwagen, die sie vorhin gesehen hatte, und sie erkannte Bradley, als er heraussprang.

 

»Um Himmels willen, warum stehen Sie hier unten auf der Straße? Haben Sie keinen Schlüssel?« fragte er.

 

Seine Gegenwart brachte ihr große Erleichterung, und die Spannung der letzten Stunden lösten sich in einem beinahe hysterischen Lachen.

 

»Ich habe einen Schlüssel – aber Mr. Tiser wollte mich eben noch sprechen.«

 

»Ich dachte, der würde in McGills Wohnung warten. Was hat er Ihnen denn gesagt?«

 

»Nichts Wichtiges.«

 

»Sie waren in Lady’s Stairs?« Dann sagte er lachend: »Ich will nicht zu geheimnisvoll sein, ich weiß, daß Sie dort waren. Ich wünschte mir, daß Sie nicht allein dorthin gingen, Ann, bis ich Sie darum bitte. Dann werde ich auch dasein, damit Ihnen nichts passiert. Kann ich einen Augenblick mit in Ihre Wohnung kommen?«

 

Sie fand seine Bitte ganz natürlich, obwohl es nahezu drei Uhr morgens war.

 

»Worüber sprach Tiser denn?« Bradley schien sich sehr für diesen Mann zu interessieren.

 

Sie konnte es ihm nicht sagen, da sie ja selbst nicht wußte, warum er unten auf sie gewartet hatte.

 

»Es ist doch merkwürdig«, sagte er, als sie ihm alles berichtet hatte, was sie wußte. »Es scheint fast so, als ob …«

 

Er vollendete den Satz nicht, nahm die Schlüssel aus ihrer Hand, öffnete die Haustür und ging die Treppe vor ihr hinauf. Er schloß auch ihre Wohnungstür auf und trat zuerst ein.

 

Nachdem er das Licht im Wohnzimmer eingeschaltet hatte, blieb er einen Augenblick stehen und betrachtete mit Genugtuung Mark McGill, der am Tisch saß und sehr verdutzt dreinschaute. In derselben Weise hatte er Ann überraschen wollen.

 

»Sind Sie ohne Schwierigkeiten hereingekommen?« fragte Bradley höflich.

 

»Ich hatte meinen Schlüssel«, erwiderte McGill kühl.

 

Bradley nickte.

 

»Vermutlich kamen Sie eine Minute vor Miss Perryman hier an. Sie haben dann Tiser auf die Straße geschickt, um eine längere Unterhaltung mit ihr anzufangen und sie so lange aufzuhalten, bis Sie selbst hier oben Ihre Absicht erreicht hatten.«

 

Ann sah Mark McGill verwundert und sprachlos an. Sie erinnerte sich jetzt, daß in der Nähe der Westminster Bridge ein großer Wagen an ihr vorbeigefahren war, der ihr bekannt vorkam.

 

»Ich könnte nun zweierlei tun«, sagte Bradley langsam. »Wenn ich meinen primitiven Trieben folgte, würde ich das Fenster aufmachen und Sie hinauswerfen. Ich könnte Sie jetzt auf Grund einer der kleineren Anklagen, die ich gegen Sie vorbringen kann, verhaften. Aber ich ziehe es vor zu warten, bis ich alle Beweise für Ihr Kapitalverbrechen zusammengebracht habe.«

 

»Welches ist denn mein Kapitalverbrechen?« fragte Mark beinahe liebenswürdig.

 

Bradley lächelte.

 

»Ich glaube nicht, daß ich Ihnen das erklären muß. Sie gingen doch nach Lady’s Stairs, um Li Yoseph aufzusuchen – nun gut. Sie werden ihn an einem der nächsten Abende sehen. Und Sie werden auch die Anklage hören, die er gegen Sie erhebt. Ich gebe sehr viel darauf, daß Sie Li Yosephs Anschuldigungen aufnehmen werden.«

 

Mark war belustigt.

 

»Wollen Sie Li Yoseph als Zeugen gegen mich auftreten lassen? Wollen Sie seinen Geist anrufen, daß er dieses Zeugnis bestätigt? Sie können mich nicht so leicht bluffen. Sie möchten gern wissen, warum ich hier bin? Nun, Miss Perryman weiß, warum ich kam. Sie gab mir ihren Schlüssel.«

 

Ann sah ihn an. »Wie dürfen Sie das sagen …« begann sie, aber Bradley brachte sie durch einen Blick zum Schweigen.

 

»Er will Sie ja gar nicht kränken, sondern mich. Aber ich bin wohl am schwersten von allen Leuten aus der Fassung zu bringen.« Er wies mit dem Kopf nach der Tür. »Machen Sie, daß Sie fortkommen, McGill.«

 

Mark schaute ihn haßerfüllt an, aber dann entfernte er sich achselzuckend. Sie hörten, wie er seine Tür heftig zuschlug.

 

»Haben Sie irgendwelche Verwandten oder auch Freunde in London, Ann?«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Dann müssen Sie in ein Hotel ziehen – heute nacht werden Sie ja wohl hier sicher sein. Aber morgen müssen Sie in aller Frühe diese Wohnung verlassen. Haben Sie genügend Geld?«

 

»Ich habe das zu Unrecht erworbene Geld«, sagte sie niedergeschlagen. »Hoffentlich muß ich nicht viel davon anrühren. Ich möchte morgen nach Paris fahren.«

 

»Ich würde es gern sehen, wenn Sie London vorläufig nicht verlassen«, erwiderte er schnell. »Ich möchte McGill überführen, aber der eigentliche Grund liegt in meiner persönlichen Eitelkeit. Ich möchte Sie überzeugen, daß Ronnie …«

 

Sie unterbrach ihn durch eine Handbewegung.

 

»Wenn Sie wollen, daß ich so lange bleibe, bis Sie sich von diesem ungerechtfertigten Verdacht befreit haben, dann könnte ich schon in dieser Minute abreisen.«

 

»Ist das Ihre wirkliche Überzeugung? Sie haben nicht mehr den geringsten Argwohn gegen mich?«

 

»Nein!«

 

Er schwieg eine Weile.

 

»Erinnern Sie sich noch an unsere erste Begegnung in der Wohnung des alten Li? Damals sagten Sie, Sie würden nicht wieder glücklich werden, bis Sie den Mörder Ihres Bruders aufs Schafott gebracht hätten.«

 

Sie zitterte.

 

»Ich glaube, ich fühle heute nicht mehr so – das war eine leere Phrase. Allmählich verstehe ich, wie schrecklich das alles ist, und ich ahne die Zusammenhänge.«

 

Sie schwiegen beide eine Weile. Er schien sie ungern allein zu lassen, und sie sah ihn ungern fortgehen.

 

»Alles, was mit dem Gesetz zusammenhängt, ist nicht angenehm«, sagte er. »Sie erinnern sich noch daran, wie wir das vor dem Polizeigericht erfuhren? Würde es Ihnen unmöglich sein« – es wurde ihm schwer, die Frage zu vollenden –, »einen Detektiv zu heiraten?« Als sie ihm keine Antwort gab, fuhr er fort: »Was auch immer geschehen mag, ich werde am Ende dieses Jahres aus der Polizeitruppe ausscheiden. Es ist mir die Leitung einer großen Kaffeeplantage in Brasilien angeboten worden. – Sie wissen wahrscheinlich noch nicht, daß ich ein Spezialist für Kaffee bin?«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Das wäre Ihnen doch angenehmer, als die Frau eines Polizeibeamten zu sein?«

 

Ann sah ihn nicht an.

 

»Ja, ich glaube. Denken Sie daran, sich zu verheiraten, Mr. Bradley?«

 

Sie zwang sich dazu, ihn anzusehen.

 

»Ja, ich habe diese Absicht. Es ist nur die Frage, ob das Mädchen, das ich gern zur Frau hätte, mich auch mag.«

 

»Ich glaube, Sie müssen jetzt gehen, Mr. Bradley«, sagte sie und öffnete die Tür. »Halb vier Uhr früh ist nicht gerade die beste Zeit, sich über Heirat und dergleichen zu unterhalten.«

 

Aber er blieb noch einen Augenblick stehen.

 

»Trinken Sie eigentlich Kaffee gern?«

 

Sie antwortete ihm erst, als er außerhalb ihrer Wohnungstür stand.

 

»In Zukunft werde ich nichts anderes trinken«, sagte sie und schloß schnell die Tür.

 

Kapitel 22

 

Kapitel 22

 

Ann war sehr erstaunt, als Mark am nächsten Morgen bei ihr anrief und fragte, ob er zu ihr hinüberkommen dürfe, aber sie blieb merkwürdig unberührt von seinem Ansinnen. Neue Kraft und neuer Lebensmut waren in ihr erwacht. Sie gestattete ihm zu kommen und begrüßte ihn mit einem fast fröhlichen »Guten Morgen«. Als er begann, sich wegen seines gestrigen Verhaltens zu entschuldigen, unterbrach sie ihn.

 

»Das war das Ende unserer Freundschaft, Mark«, sagte sie ruhig. »Sie endete ja eigentlich schon vor langer Zeit – als ich entdeckte, daß Sie meine Unkenntnis mißbrauchten.«

 

Er machte nicht die geringste Anstrengung, dagegen zu protestieren, sondern betonte obendrein noch die Art seiner Geschäfte.

 

»Man kann viel Geld damit verdienen und hat wenig Konkurrenz«, meinte er kühl. »Ich hatte den Handel gerade organisiert, als Bradley das Dezernat für Rauschgifte erhielt. Es wird Jahre dauern, bis ich die Verluste überwunden habe, denn in der Zwischenzeit ist ein neuer Händler aufgetaucht. Ich hätte meine Organisation für hunderttausend Pfund verkaufen können. Ich hoffte auch, jemand zu finden, der mir ein gutes Angebot machte. Aber als ich unter polizeiliche Beobachtung kam, wurden mir alle Agenten von diesem großen Unbekannten abspenstig gemacht – das heißt, daß in kurzer Zeit jemand auf Grund meines Verstandes und meines Fleißes reich werden wird.«

 

Mark kam auf den eigentlichen Zweck seines Besuches zu sprechen.

 

»Ich weiß nicht, wie lange Sie noch hier im Land bleiben, aber es ist ganz sicher, daß diese Gesellschaft Sie um Auskunft bitten wird, ehe Sie abreisen. Es gibt einige Agenten hier im Land, die nur wir beide kennen – ich habe Ihnen vertraut wie sonst keinem Menschen auf der Welt. Wenn irgend jemand Informationen von Ihnen verlangt, teilen Sie mir bitte mit, wer es ist.«

 

»Ich werde nur noch sehr kurze Zeit in England sein.«

 

Er nickte.

 

»Das wissen die anderen ebensogut wie ich. Deshalb bin ich auch heute morgen gekommen und habe riskiert, daß Sie mich abweisen würden. Sie haben doch Bradley nichts von meiner Organisation erzählt?« fragte er schnell.

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Ich habe gewußt, daß Sie das nicht tun würden. Aber es wäre doch möglich, daß Sie zu einem anderen darüber sprechen würden. Es wäre gar nicht so furchtbar, wenn Sie Bradley mitteilten, wer meine Geheimagenten waren. Im schlimmsten Fall werden sie verhaftet und ins Gefängnis gesteckt. Es ist mir gleichgültig, ob sie den Rest ihres Lebens in Dartmoor zubringen, aber ich möchte nicht, daß ein anderer meine Organisation für sich ausnützt.«

 

Plötzlich änderte er das Gesprächsthema und fragte nach ihren Plänen. Mit keiner Silbe erwähnte er die Szene in der Herberge, auch gab er ihr keine Erklärung für seine Anwesenheit in ihrer Wohnung, als sie gestern von Lady’s Stairs zurückkam. Von Li Yoseph sprach er erst, als er sich erhob, um zu gehen.

 

»Ich weiß genau, was ich von dem Alten zu erwarten habe. Er hat sich selbst der Polizei verkauft – schon bevor er verschwand. Er steckt mit diesen Leuten unter einer Decke. Wenn Bradley einen unabhängigen Zeugen finden könnte, würde ich längst hinter Schloß und Riegel sitzen. Aber das kann er nicht.«

 

»Glauben Sie, daß Li Yoseph Sie verraten und angezeigt hat?«

 

»Verraten!« grollte Mark. »Das hat er natürlich nicht getan! Fünfhundert Menschen in diesem Land würden mich anzeigen, aber keiner von ihnen kann einen Beweis erbringen.«

 

Am Nachmittag ging Ann aus und sah unterwegs in einiger Entfernung Sedeman. Er hatte anscheinend wieder zuviel getrunken, denn er schwankte hin und her und sang mit lauter Stimme. Ein Polizist folgte ihm langsam und brachte ihn bis zum nächsten Revier. Ann war nur mit halbem Herzen bei den Einkäufen für ihre Reise nach Paris. Es kam ihr selbst sonderbar vor, daß sie so wenig bei der Sache war. Sie trat in ein Kaufhaus ein und wußte nicht, was sie eigentlich kaufen wollte. Denn wenn ihr Verstand Paris sagte, so sagte ihr Herz Brasilien. Und die Dinge, die sie kaufte, schienen sich merkwürdigerweise auch mehr für Brasilien als für Paris zu eignen.

 

In einem Kaufhaus in der Oxford Street entdeckte sie Tiser unter dem Publikum. Sie glaubte, ihn auch schon vorher einmal gesehen zu haben. Er war stets gut gekleidet, aber heute fiel ihr das besonders auf. Er kam mit einem vielversprechenden Lächeln auf sie zu und rieb sich die Hände, als ob er ein gutes Geschäft gemacht hätte.

 

»Guten Tag, Miss Ann. Hoffentlich störe ich Sie nicht in einem ungelegenen Augenblick … Es wäre eine große Ehre für mich, wenn Sie mit mir Tee trinken würden … Der Erfrischungsraum ist oben im vierten Stock.«

 

Zuerst wollte sie seine Einladung ablehnen, aber sie war gutmütig und wollte ihn nicht verletzen.

 

»Ich werde schon nach oben gehen und einen Tisch reservieren«, sagte er eifrig, als sie ihm zunickte. »Ich bin sicher, daß ich mich auf Sie verlassen kann, Miss Ann. Sie werden mich nicht um das Vergnügen bringen.«

 

Tiser wußte auf geschickte Art zu verschwinden. Seine Bewegungen waren so schnell und gewandt, daß man ihm kaum folgen konnte. Einige Zeit später fuhr sie mit dem Fahrstuhl zu dem Restaurant. Tiser hatte einen Ecktisch in der Nähe eines Fensters belegt, von dem aus man die Oxford Street gut überschauen konnte. Er erhob sich so begeistert, daß er den Tisch fast umgeworfen hätte, und drückte seinen Dank etwas zusammenhanglos aus.

 

»Vor allem muß ich Ihnen sagen, daß ich nicht an dem schuld bin, was sich gestern abend im Versorgungsheim ereignete«, begann er, als sie sich gesetzt hatte. »Ich war ganz außer mir, als Mark …«

 

»Wir wollen nicht weiter darüber sprechen, Mr. Tiser«, sagte Ann mit abwehrender Geste.

 

»Gewiß nicht, wenn Sie es wünschen«, erwiderte er hastig. »Es war nur so schrecklich, ganz und gar nicht ritterlich … Kein Mann durfte das tun. Ich schaudere noch, wenn ich daran denke! Aber Mark ist eben so – in seinem Zorn weiß er nicht, was er tut, Miss Ann. Aber wir wollen von etwas anderem sprechen.« Er zog ein großes Taschentuch heraus und trocknete sein Gesicht ab. »Eines Tages müssen Sie in meinem kleinen Haus mit mir Tee trinken nein, nein, ich meine nicht das Versorgungsheim –, ich habe jetzt ein eigenes Heim in der Bayswater Road.« Plötzlich hielt er inne. »Wie kam ich nur darauf?« fragte er ängstlich. »Sie werden doch Mark nichts davon erzählen, meine liebe Miss Ann? Ich weiß gar nicht, warum ich Ihnen dies eigentlich sage. Das zeigt nur, wie sehr ich Ihnen vertraue. Ich möchte Ihnen gerne meine neue Wohnung zeigen. Ich hab sie sehr schön ausgestattet, die Einrichtung kostete über dreitausend Pfund … ja, ich habe mir im Lauf der Zeit etwas Geld gespart. Aber Sie werden doch nicht zu Mark darüber sprechen?«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Ja, mit Mark ist es zu Ende.« Mr. Tiser schien sich beinahe darüber zu freuen. »Er war lang genug am Ruder, und wenn er jetzt klug ist, macht er sich aus dem Staub und läßt sich nicht wieder sehen. Die Eitelkeit hat ihn zu Fall gebracht. Wie traurig ist es doch, meine liebe Miss Ann, daß so mancher intelligente Mann an diesem Punkt scheitert.« Er schüttelte mutlos den Kopf.

 

»Inwiefern ist denn seine Eitelkeit daran schuld?« fragte Ann.

 

Tiser zuckte nur die Schultern.

 

»Er ist in vieler Beziehung eitel, zum Beispiel bildet er sich ein, daß nur er ganz allein diese Organisation aufgebaut hat und daß nur er allein sie leiten kann. Es ist ja wahr, daß es eine ganze Anzahl von Agenten gibt, die außer ihm niemand kennt.« Er lächelte verschlagen. »Aber Sie kennen die Leute doch auch, meine liebe Miss Ann? Ich zweifle keinen Augenblick daran. Da ist zum Beispiel dieser Agent in Cardiff – ein geheimnisvoller Mann! Sie haben ihm doch immer den Stoff geliefert, nicht wahr?«

 

Ann antwortete nicht, und Mr. Tiser sah sie schalkhaft an.

 

»Sie sind wirklich sehr diskret, Miss Ann! Ich hörte, Sie wollen nach Paris gehen und wieder ganz von neuem anfangen? Das wird Ihnen aber einigermaßen schwerfallen. Ich bin auch sicher, daß Mark sich Ihnen gegenüber nicht sehr vornehm gezeigt hat. Sie können es mir ruhig sagen, daß er Ihnen nicht genug Geld gegeben hat!«

 

»Ich habe ihm keine Gelegenheit dazu gegeben, sich vornehm zu zeigen.«

 

Mr. Tiser lächelte.

 

»Natürlich! Von dieser Art Menschen kann man keine Geschenke annehmen. Aber ich bin ganz anders. Ich sagte heute morgen zu mir, als ich aufwachte: ›Tiser, du mußt dieser jungen Dame gegenüber anständig handeln. Geh zu deiner Bank und hebe fünfhundert Pfund ab.‹ – Und das habe ich denn auch getan.« Er zeigte auf seine Rocktasche, und sie hörte das Rascheln der Banknoten. »Fünfhundert Pfund!« wiederholte er. »Damit könnten Sie doch wieder von vorne anfangen …«

 

»Wenn ich Sie recht verstehe, möchten Sie den Namen des Agenten in Cardiff erfahren, und das soll der Preis dafür sein?« fragte sie offen.

 

»Stimmt ganz genau – Sie sind wirklich eine geniale Geschäftsfrau!«

 

Ein Lächeln spielte um ihren Mund, und er glaubte, daß ihr seine Schmeichelei gefallen habe.

 

»Sie sind also der große Unbekannte?«

 

»Wie bitte?« fragte Tiser erschrocken.

 

»Sie sind der Mann, über den Mark in der letzten Zeit sprach – Sie haben ihm sein entsetzliches Geschäft gestohlen?«

 

Tisers Gesicht zuckte nervös.

 

»Was hat Mark gesagt?« stotterte er. »… entsetzliches Geschäft – Sacharin?«

 

»Kokain! Mark weiß genau, daß irgend jemand seine Organisation ausnützt …«

 

»Aber das bin doch nicht ich!« protestierte Tiser furchtsam. »Ich bitte, meine liebe, gute Miss Ann, sagen Sie ihm doch, daß ich das nicht bin, wenn er Sie fragen sollte. Ich wollte Sie doch nur auf die Probe stellen. Haha?« Er lachte, aber es klang wenig überzeugend. »Wissen Sie, Miss Ann, die Treue zu Mark ist der Angelpunkt meines ganzen Lebens.«

 

Ann schwieg einen Augenblick, dann fragte sie plötzlich:

 

»Wer hat meinen Bruder ermordet?«

 

Sie sah Tiser scharf an, und er fuhr erschrocken zusammen.

 

»Bradley«, brachte er endlich mit hohler Stimme hervor. »Mark hat Ihnen doch gesagt …«

 

»Wer hat Ronnie getötet? Haben Sie es getan?«

 

Er sprang fast von seinem Stuhl auf.

 

»Ich? Großer Gott! Ich würde selbst gegen meinen schlimmsten Feind die Hand nicht erheben! Ich weiß nicht, wer ihn getötet hat. Vielleicht war es ein Unglücksfall.«

 

»Warum sagen Sie denn dann, daß es Bradley war?« fuhr sie erbarmungslos fort. »War es vielleicht Mark selbst?«

 

Er starrte sie entsetzt an.

 

»Ja, war es Mark?« wiederholte sie.

 

»Meine liebe, gute Miss Bradley – ich meine Miss Ann –, warum stellen Sie denn so fürchterliche Fragen? Die sind doch zu töricht – meinen Sie nicht auch? Ich kann Sie gar nicht verstehen – wirklich nicht –, ich weiß überhaupt nichts von der ganzen Sache.«

 

Ein fürchterlicher Gedanke tauchte plötzlich in ihm auf.

 

»Sie arbeiten im Auftrag von Mr. Bradley – jetzt weiß ich es, Miss Ann! Ich muß immer wieder sagen, wie ich ihn bewundere!«

 

»Ich arbeite für niemand, nicht einmal für Sie, Mr. Tiser. Sie werden die fünfhundert Pfund auf Ihre Bank zurücktragen müssen – oder wenn Sie ein Gewissen haben, verwenden Sie das Geld für die armen Leute, die von Ihnen und Mark ins Elend gestürzt worden sind.«

 

Sie trank ihre Tasse aus und stellte sie auf den Tisch. Dann erhob sie sich, ohne noch ein Wort zu sagen und ging fort. Das war aber eine viel zu vornehme Geste diesem Menschen gegenüber, wie sie später erkannte. Als sie unten im Erdgeschoß noch einen kleinen Einkauf machen wollte, entdeckte sie, daß sie ihre kleine Handtasche im Erfrischungsraum hatte liegenlassen. Ihre Lage war nicht gerade angenehm, aber sie lächelte nur darüber. Im schlimmsten Fall konnte ihr Tiser ja nur ein neues Angebot machen. Sie fuhr wieder nach oben und war erleichtert, als sie ihn eben aus der großen Tür treten sah. Halbwegs kam ihr schon die Kellnerin entgegen und brachte ihr die Tasche.

 

Sie hatte sie nun in der letzten Zeit schon zweimal verloren. Das erstemal hatte Bradley sie ihr wieder zurückgebracht. Sie streifte den Bügel über den Arm und trat auf die Straße hinaus. Mr. Tiser beobachtete, wie sie sich langsam in östlicher Richtung entfernte, und winkte einen Mann zu sich, der ohne Anns Wissen Tiser dauernd gefolgt war.

 

»Siehst du, dort geht die Dame – behalte sie im Auge«, sagte Tiser zu ihm. »Auf der Straße findest du mindestens ein halbes Dutzend Beamte – sage es dem ersten, den du triffst.«

 

Der Mann nickte und ging hinter Ann her. Mr. Tiser wartete noch, bis der andere außer Sicht gekommen war, dann rief er ein Taxi und fuhr nach Hause.

 

Ann ließ sich nicht träumen, daß sie verfolgt wurde. Ab und zu blieb sie stehen, um die Auslagen zu betrachten; besonders ein Schaufenster zog sie an. Es war ein Tropenausrüstungsgeschäft, und sie sah Hüte, Anzüge und Gegenstände, die für das Leben in einem heißen Klima erforderlich sind. Vor einem der Fenster stieß sie mit einem gutgekleideten, militärisch aussehenden Herrn zusammen. Er entschuldigte sich höflich, zog seinen Hut und ging weiter. Ann vergaß den Zwischenfall sofort wieder, aber plötzlich wurde sie angesprochen.

 

»Entschuldigen Sie, Miss.«

 

Die Stimme klang hart und dienstlich, und Ann wußte gefühlsmäßig, daß sie einen Detektiv vor sich hatte.

 

»Haben Sie diesen Herrn schon vorher gesehen?« Er zeigte auf den Mann, der kurz vorher mit Tiser gesprochen hatte. Ann schüttelte erstaunt den Kopf.

 

»Nein, er ist mir völlig unbekannt.«

 

»Haben Sie ihm jemals etwas zum Kauf angeboten oder mit ihm über einen Kauf verhandelt?«

 

»Zum Kauf angeboten?« wiederholte Ann bestürzt. »Wie käme ich denn dazu? Ich habe doch gar nichts zu verkaufen!«

 

»Haben Sie ihm nicht zwei Päckchen Kokain angeboten, die Sie in Ihrer Handtasche haben?«

 

»Aber nein!« sagte Ann entrüstet. »Ich habe nichts in meiner …«

 

Sie schaute nach unten. Ihre Handtasche war weit offen und leer. Glücklicherweise bewahrte sie ihr Geld in einer kleinen, sicheren Nebentasche auf. Jetzt erinnerte sie sich wieder an den militärisch aussehenden Herrn.

 

»Ich bin bestohlen worden. Jemand ist mit mir zusammengestoßen …«

 

Sie erzählte dem Detektiv die Geschichte, und er wußte, daß sie die Wahrheit sprach. Trotzdem bat er sie höflich, mit ihm zur Polizeiwache zu kommen.

 

Der Mann, der sie angezeigt hatte, wollte sich heimlich drücken, aber der Beamte behielt ihn im Auge.

 

»Also, mein Sohn, Sie gehen vor uns her.«

 

Der Mann gehorchte widerwillig.

 

Auf der Polizeiwache hörte Ann die sonderbare Geschichte. Der Mann hatte sich darüber beschwert, daß sie ihm zwei Päckchen Kokain angeboten habe, und schwor, daß er ein Dutzend anderer Päckchen in Anns Handtasche gesehen hatte.

 

Aber er hatte wenig Glück, denn auf der Wache befand sich ein Detektiv, der ihn sofort erkannte und als alten Freund begrüßte.

 

»Es tut mir außerordentlich leid, Miss Perryman«, sagte der Beamte, der sie hergebracht hatte, »aber Sie sehen ja selbst, die Polizei ist offenbar von diesem Mann zum besten gehalten worden. Würden Sie so liebenswürdig sein, mir den Herrn einmal zu beschreiben, der mit Ihnen zusammengestoßen ist?«

 

Als sie ihm alles erzählt hatte, lachte er vergnügt.

 

»Den kenne ich sehr gut.«

 

Ann verließ die Polizeiwache, und auch ihr Ankläger wollte verschwinden. Aber eine schwere Hand legte sich auf seine Schulter.

 

»Sie bleiben hier«, sagte der Beamte mit einem freundlichen Lächeln.

 

»Was haben Sie denn gegen mich?« fragte der Mann aufgebracht.

 

Es wurde ihm auseinandergesetzt, daß er sich am nächsten Morgen wegen Umhertreibens und wegen vorsätzlich falscher Anzeige zu verantworten habe.

 

Der Detektiv, der Ann zur Polizeiwache gebracht hatte, begleitete sie wieder auf die Straße hinunter. Er behandelte sie sehr zuvorkommend. Als er ihr später erzählte, daß er mit Bradley zusammenarbeite, empfand sie ein gewisses Unbehagen darüber, daß sie in Polizeikreisen nicht ganz unbekannt war.

 

»Ich kann nicht verstehen, daß dieser Mann Sie angezeigt hat. Er muß ganz sicher gewesen sein, daß Sie Koks in Ihrer Tasche hatten.«

 

»Aber das ist doch wirklich …«

 

»… nicht so unerklärlich, wie Sie denken, Miss Perryman. Wahrscheinlich hat er Ihnen ein paar Päckchen zugesteckt, um Sie anzeigen zu können. Hatten Sie etwa Ihre Tasche irgendwo liegenlassen?«

 

Ann erinnerte sich plötzlich an ihr Zusammensein mit Tiser im Restaurant.

 

»Ja, ich hatte sie im Erfrischungsraum liegenlassen.«

 

»War jemand bei Ihnen?«

 

Sie zögerte.

 

»Ach, das war ein ganz unwichtiger Bekannter.«

 

Natürlich hatte Tiser ihr das angetan. Es lag etwas Hinterhältiges in dem Charakter dieses Mannes; sicherlich hatte er durch dieses Manöver Bradley schaden wollen.

 

Als sie nach Hause kam, stand Marks Wohnungstür offen. Anscheinend hatte er vom Fenster aus ihr Kommen beobachtet.

 

»Treten Sie bitte einen Augenblick näher, Ann, wenn es Ihnen recht ist«, bat er dringend. »Sie brauchen sich nicht zu fürchten, die Dienstboten sind alle in der Wohnung.«

 

Er schloß die Tür und folgte ihr ins Wohnzimmer.

 

»Warum sind Sie heute angehalten worden?«

 

Sie erzählte ihm ihr Erlebnis.

 

»Sie haben eine Tasse Tee getrunken und Ihre Handtasche liegengelassen? Mit wem waren Sie denn zusammen?«

 

Sollte sie es ihm sagen? Es kam eigentlich wenig darauf an. Trotzdem war sie entschlossen, Tisers Doppelrolle, die er Mark gegenüber spielte, nicht zu verraten.

 

»Mit Mr. Tiser. Aber ich kann mir wirklich nicht denken, daß er so niederträchtig sein könnte.«

 

Mark spitzte die Lippen, als ob er pfeifen wolle.

 

»Tiser? Sehen Sie einmal an! Er dachte wohl, er könnte mich dadurch treffen.«

 

»Das glaube ich nicht …«

 

»Es konnte gar kein anderer sein!« Er kniff die Augenlider zusammen. »Es wäre doch merkwürdig, wenn ich Tisers wegen an den Galgen kommen sollte. Ich muß mich in acht nehmen, sonst bekomme ich durch die Geschichte noch die größten Unannehmlichkeiten.«

 

»Aber warum sollte er denn das tun?«

 

»Weil er ein Schuft ist und weil er wußte, daß man mich bei Ihrer Verhaftung in die Sache hineinziehen würde. Tiser ist nämlich der große Unbekannte – das habe ich heute nachmittag während Ihrer Abwesenheit entdeckt. Wollte er nicht auch die Adresse meines Agenten in Cardiff von Ihnen kaufen?«

 

Ann seufzte.

 

»Ich weiß nicht, was er alles vorhatte. Ich bin so müde von diesem ganzen schrecklichen Treiben – ich werde froh sein, wenn ich außer Landes bin.«

 

»Haben Sie immer noch die Absicht, nach Paris zu gehen?« er sah sie scharf an.

 

»Ja, ich glaube.«

 

»Es ist also doch nicht mehr so sicher? Ihre Stellung in London wird aber nach all diesen Vorkommnissen etwas peinlich sein. Sie stehen doch immerhin schon in einem gewissen Ruf bei der Polizei. Bradley würde wenig Vorteil davon haben – wenn Sie ihn heirateten.«

 

»Ich hätte wohl einen Rauschgifthändler heiraten sollen?« fragte sie langsam.

 

»Das hätten Sie allerdings nicht tun können«, erwiderte er mit größter Kaltblütigkeit. »Ich bin schon verheiratet. Ich weiß zwar nicht, wo sie ist, ich weiß nicht einmal, ob ich mich von ihr scheiden lassen kann. Aber ich glaube kaum, daß ich Gründe dafür hätte. Nun sind Sie doch erstaunt, was?«

 

»Ich bin über nichts mehr erstaunt, was Sie betrifft, Mark.«

 

Er klopfte ihr freundlich auf die Schulter, aber sie zuckte unter seiner Berührung zusammen.

 

»Seien Sie doch nicht so empfindlich – ich will Sie wirklich nicht umbringen. Wenn ich heute abend einem Menschen das Genick umdrehe, dann wird es – nun Sie wissen schon. Das ist alles, was ich mit Ihnen besprechen wollte, Ann.« Er öffnete die Tür für sie.

 

Langsam erhob Ann den Blick und sah ihm in die Augen.

 

»Wen haben Sie getötet, Mark?«

 

Es schien ihr, als ob er zusammenzuckte. Offenbar hatte auch dieser harte Mensch verwundbare Stellen.

 

»Ich habe vier Menschen umgebracht«, sagte er dann langsam. »Leid getan hat es mir nur in einem Fall. Aber nun gehen Sie.« Er schob sie beinahe aus dem Zimmer und begleitete sie, entgegen seiner sonstigen Gewohnheit, nicht bis zur Tür.

 

Tiser hatte einen ungemütlichen Abend hinter sich. Er besaß ein kleines Haus in der Bayswater Road, das er allein bewohnte. Tagsüber beschäftigte er zwei Dienstboten, die um sechs Uhr gingen. Wenn er abends zu Hause essen wollte, so kochte er sich etwas. Auch jetzt war er gerade dabei, sich einige Scheiben Schinken und Speck zu braten, als es läutete. Er machte die Tür auf und sah sich Mark gegenüber. Diesen Mann, der drohend auf der Schwelle stand, hatte er am letzten zu sehen gewünscht.

 

»Komm nur herein, mein lieber Mark«, sagte er schwach. »Ich wollte dir noch heute abend einen Brief schicken und dich bitten, dir einmal meine neue Wohnung anzusehen.«

 

»Dann habe ich dir ja das Porto erspart. Ist noch jemand im Haus?«

 

»Nur ein paar Dienstboten.« Er rief die Treppe hinauf: »Stören Sie mich jetzt nicht – Mr. McGill ist hier.«

 

Als er sich wieder umwandte, lachte Mark laut auf.

 

»Na, mir brauchst du doch keine Komödie vorzuspielen. Auch wenn ich nicht gesehen hätte, daß deine Leute weggegangen sind, wüßte ich, daß du allein bist. Aber du brauchst keine Furcht zu haben, du Angsthase, ich werde dir deinen Schädel nicht einschlagen.«

 

Die folgende Unterredung war nicht so unangenehm, wie Tiser gefürchtet hatte. Die Beleidigungen, die ihm Mark an den Kopf warf, ertrug er mit merkwürdiger Gelassenheit. Er hatte erwartet, daß Mark viel drastischer und handgreiflicher gegen ihn vorgehen würde.

 

McGill erriet seine Gedanken.

 

»Du hast Glück, Tiser! Wenn ich mehr Zeit gehabt hätte und die Sache nicht so dringend wäre, würde ich dich ein wenig später besucht haben, wenn mir kein Polizist auf den Fersen folgte.«

 

»Bist du verfolgt worden?« stammelte Tiser.

 

Mark nickte.

 

»Ich kann dir nur die Versicherung geben, daß du auch am Galgen baumelst, wenn ich gehenkt werde. Du bist zu sehr in diese ganze Sache verstrickt, als daß du dich durch Verrat und durch ein Geständnis retten könntest. Bradley will dich ebenso haben wie mich.«

 

Dann sagte er plötzlich: »Wir werden morgen zusammen zu Li Yoseph gehen. Ich will endlich einmal diese Sache mit ihm ins reine bringen.«

 

Mark nahm ein zerknittertes Papier aus der Tasche und legte es auf den Tisch. Es waren einige Zeilen mit Bleistift draufgeschrieben. ›Komme morgen nach Lady’s Stairs, guter Mark. Ich will dir dort etwas zeigen. Sei bestimmt um elf Uhr dort. Li.‹

 

»Du kommst morgen früh zu mir«, sagte Mark, als er den Zettel wieder zusammenfaltete.

 

»Nein, ich komme nicht mit!« schrie Tiser. »Ich will nicht wieder in das Zimmer gehen, Mark! Das ist ein Trick von Bradley …«

 

»Was redest du da wieder für einen Blödsinn? Ein Trick von Bradley? Glaubst du, ich kenne seine Tricks nicht durch und durch? Du kommst mit, und wenn ich dich dorthin schleifen sollte! Warum fürchtest du dich denn? Du glaubst doch nicht, daß uns irgendein Gerichtshof auf das Zeugnis dieses verrückten, alten Esels hin verurteilen würde? Wenn Li Yosephs Zeugnis genügte, wären wir schon längst verhaftet. Er hat der Polizei alles verraten, aber Bradley ist viel zu schlau, um uns auf Li Yosephs Aussagen hin den Prozeß zu machen. Wir haben nichts zu fürchten.«

 

Er fing einen merkwürdigen Blick Tisers auf und lachte.

 

»Ich weiß, was du denkst. Aber ich glaube nicht, daß Bradley dich schont, wenn du ihm dein Zeugnis gegen mich anbietest. Wenn er das gewollt hätte, würde er dich schon längst darum gefragt haben. Aber du bist ja selbst viel zu sehr durch den Mord an Ronnie Perryman belastet. Du bist Mittäter …«

 

»Ich wollte ihn retten – du weißt genau, daß ich seinen Tod nicht wollte, Mark!« winselte Tiser. »Du bist immer fair zu mir gewesen, Mark, du wirst doch nicht haben wollen, daß ich an den Galgen komme für deine Tat? Was sollte dir denn das nützen? Ich habe Ronnie retten wollen. Ich sagte dir …«

 

»Du hast mir gar nichts gesagt«, fuhr ihn Mark barsch an. »Höchstens, daß es gut wäre, wenn wir ihn aus dem Weg schafften. Er warf dir jedesmal Beleidigungen an den Kopf, wenn er dich sah, und du haßtest ihn wie die Pest. Ich habe ihn niemals gehaßt. Es war notwendig, daß er wegkam, aber in gewisser Weise hat es mir leid getan. Du dagegen hast dich darüber gefreut. Glaubst du, ich habe vergessen, daß du ihn festhieltest, damit ich ihn erschlagen konnte?«

 

Tiser saß zusammengekauert in seinem Stuhl. Seine langen, nervösen Hände bewegten sich unruhig, sein Gesicht zuckte nervös.

 

»Dann will ich dir noch etwas sagen, Tiser. Du kannst das Haus ja überhaupt nicht verlassen. Mir ist ein Detektiv hierher gefolgt, aber als ich kam, sah ich noch einen zweiten, der hier deine Wohnung bewacht. Die Polizei ist im allgemeinen nicht dumm. Die wissen genau, was du getan hast und wie lange du hier wohnst. Sie können dich verhaften, wann sie wollen.«

 

Er nahm ein Paar Handschuhe aus der Tasche, zog sie an und knöpfte sie mit der größten Seelenruhe zu.

 

»Morgen um zehn Uhr wirst du dich in meiner Wohnung melden. Es gibt nur eine Entschuldigung für dein Nichtkommen – daß du tot bist. Und wenn du mir einen dummen Streich spielen willst, dann werde ich diese Entschuldigung wahrmachen!«

 

Kapitel 14

 

Kapitel 14

 

McGill hatte das Licht in dem Wohnzimmer ausgeschaltet und wollte eben zu Bett gehen, da klingelte plötzlich das Telefon. Als er die zitternde Stimme am Apparat hörte, fluchte er leise.

 

»Was ist denn nun schon wieder los?«

 

»… ich habe ihn gesehen, Mark … direkt vor der Herberge … Er hat mich angesehen … Ich hätte ihn mit der Hand anfassen können.«

 

»Von wem sprichst du denn?« fragte Mark barsch.

 

»Li – Li Yoseph! Nein, ich bin nicht betrunken! Einer von den Leuten hat ihn schon vorher gesehen! Und ein anderer, der nach mir kam, hat beobachtet, wie er um die Ecke ging und in einen Wagen stieg. Er hat zu sich selbst gesprochen, wie es der alte Li immer tat. Mark, es ist fürchterlich! Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll.«

 

»Wer hat ihn denn außer dir gesehen? Rufe den Mann einmal ans Telefon!« befahl McGill.

 

Es dauerte ziemlich lange, bis sich drüben eine rauhe Stimme meldete.

 

»Es ist richtig, McGill, ich habe den alten Kerl gesehen. Er hatte ein gelbes Gesicht und stand unter der Laterne, gerade bevor Mr. Tiser nach Hause kam.«

 

»Kennen Sie Li Yoseph überhaupt?«

 

»Nein, ich habe nur viel von ihm gehört. Aber danach muß er es gewesen sein.«

 

»Sagen Sie Mr. Tiser, daß er wieder an den Apparat kommen soll«, erwiderte Mark.

 

Aber Tiser sprach so zusammenhanglos, daß nichts mit ihm anzufangen war. Ärgerlich legte Mark den Hörer wieder auf.

 

Es mußte doch irgend etwas Wahres an dieser Geschichte sein. Tiser konnte sich doch nicht alles aus den Fingern gesogen haben. Dazu dieses Violinspiel … woher mochten die Töne nur gekommen sein? Aus der Wand? Aber es konnte ja oben im Haus jemand gespielt haben. Allerdings stand die Wohnung über ihm im Augenblick leer, da die Bewohner vor einigen Tagen eine Erholungsreise nach Schottland angetreten und ihre Dienstboten mitgenommen hatten. Der Portier hatte ihm das heute morgen erzählt.

 

Er dachte wieder über Li Yoseph nach. Warum hatte wohl die Polizei plötzlich die Nachforschungen eingestellt? Wußte man in Scotland Yard, daß Li Yoseph nach England zurückgekommen war? Bradley war ein so schlauer Fuchs; der würde diese Tatsache sofort gegen ihn ausgenutzt haben.

 

Aber dann schüttelte Mark energisch den Kopf. Es war unmöglich, daß der alte Mann mit dem Leben davongekommen war. Er hatte ihn doch aus ganz kurzer Entfernung niedergeschossen; die Kugeln mußten ihn getroffen haben.

 

Zusammengekauert saß er in seinem Stuhl am Feuer. Er hatte das Gesicht in die Hände vergraben und dachte über diese Sache nach. Aber plötzlich hörte er wieder ein Geräusch und fuhr auf. Es waren schlürfende Tritte – und sie kamen aus dem Zimmer über ihm.

 

Das Schlürfen hörte sich an, als ob jemand mit Pantoffeln über den Parkettboden ging. Merkwürdigerweise wurde Mark sofort an Li Yosephs Gang erinnert. Nun hörte er auch den Ton der Violine wieder, nur ein wenig leiser und zarter als vorher. Tostis »Chanson d’Adieu«!

 

Mark ging in sein Schlafzimmer, zog seinen Rock an, trat leise auf den Flur und öffnete die Tür. Langsam stieg er die Treppe hinauf, bückte sich vor der oberen Wohnung und legte sein Ohr an die Öffnung des Briefkastens. Aber er konnte nicht das geringste Geräusch hören.

 

Er richtete sich wieder auf und drückte auf die elektrische Klingel. Sie schlug schrill an; aber es ereignete sich weiter nichts. Er klingelte noch einmal, ohne mehr Erfolg zu haben.

 

An der Tür war eine Karte befestigt:

 

›Während der Abwesenheit Sir Arthur Findons sind alle Briefe und Pakete beim Portier abzugeben.‹

 

Mark war beunruhigt. Langsam ging er die Treppe wieder hinunter und trat in sein Wohnzimmer. Das Violinspiel war verstummt. Er setzte sich ans Feuer und wartete, ob er die schlürfenden Schritte noch einmal hören würde. Nach einer Stunde entschloß er sich, zu Bett zu gehen.

 

Er konnte sich nicht darauf besinnen, daß er die Verbindungstür zu seinem Schlafzimmer geschlossen hatte; er dachte auch gar nicht daran, bis er die Klinke niederdrückte und fand, daß die Tür geschlossen war. Schwer atmend trat er einen Schritt zurück. Im nächsten Augenblick hatte er die Pistole aus der Hüfttasche gezogen und das Licht ausgedreht. Vorsichtig zog er die Vorhänge beiseite, öffnete leise die Balkontür und trat hinaus. Die Tür, die von seinem Schlafzimmer auf die Veranda führte, stand offen. Aber er konnte niemanden sehen.

 

Schnell trat er mit erhobener Waffe in sein Schlafzimmer ein. Es mußte jemand hier gewesen sein, denn an dem Kissen war ein abgerissenes Stück Papier festgesteckt, das von unregelmäßigen Schriftzügen bedeckt war. Er las:

 

»Lieber Mark, bald werde ich kommen und dich besuchen. Li Yoseph.«

 

Mark wandte sich um und schloß die Tür nach draußen. Als er am Spiegel vorbeiging; konnte er erkennen, daß sein Gesicht bleich war.

 

Diese Nacht legte er sich nicht zu Bett, sondern setzte sich an das Kaminfeuer, das er neu entzündete. Bei Morgengrauen trat er auf den Balkon hinaus und sah, wie einfach es war, von dem kleinen oberen Balkon in seine Wohnung herunterzusteigen. Sicher war jemand in der oberen Wohnung gewesen; der Portier konnte das Rätsel vielleicht lösen. Als die Dienstboten kamen, ließ er den Mann zu sich holen.

 

»Nein, zur Zeit ist niemand oben«, erwiderte der Portier erstaunt. »Sir Arthur vermietet seine Wohnung niemals. Er ist sehr eigen in dieser Beziehung und wünscht nicht, daß Fremde seine Wohnung betreten.«

 

Mark zwang sich zu einem Lächeln.

 

»Aber vielleicht hat er nichts dagegen, wenn ich mir die Wohnung einmal ansehe. Wissen Sie, wer die Schlüssel hat?«.

 

Der Portier zögerte.

 

»Ich selbst habe den Schlüssel, aber ich würde wahrscheinlich meine Stellung verlieren, wenn Sir Arthur erfährt, daß ich Sie in die Wohnung gelassen habe.«

 

Als Mark ihm aber ein großes Trinkgeld gegeben hatte, entfernte er sich doch, um den Schlüssel zu holen. Mark stieg hinter ihm die Treppe hinauf, und sie traten beide oben ein. Es war eine Flucht luxuriöser Räume; die meisten Polstermöbel waren mit leinenen Schutzhüllen überzogen. Sowohl im Korridor wie in den Zimmern waren die Teppiche aufgerollt. Der Raum, der über seinem eigenen Wohnzimmer lag, interessierte Mark am meisten. Aber es waren keine Anzeichen dafür zu entdecken, daß jemand hier gewesen war. Die weißen Vorhänge an den Fenstern waren zugezogen; die Möbel mit den hellen Bezügen hoben sich gespenstisch von den dunklen Tapeten ab. Als Mark die Fenster untersuchte, fand er, daß sie alle von innen befestigt waren.

 

»Sie müssen sich getäuscht haben. Gestern abend ist niemand in dieser Wohnung gewesen. Außerdem gibt es nur zwei Schlüssel: Einen verwahre ich, und den anderen hat Sir Arthur mitgenommen. Wenn er seinen Schlüssel jemand gegeben hätte, würde ich es sicher wissen.«

 

Mark untersuchte den Raum eingehender. Er war größer als sein Wohnzimmer und reichte auch über das Schlafzimmer von Ann Perryman hinüber. Dann öffnete Mark die Tür und trat auf den kleinen Balkon hinaus. Einem geschickten, gewandten Mann mußte es nicht schwerfallen, von hier aus die untere Veranda zu erreichen. Aber Li Yoseph war nicht behende – wer mochte ihn begleitet haben? Er prüfte das Steingeländer, fand aber keine Spuren einer Leiter oder eines Hakens.

 

Schließlich trat er in das Zimmer zurück und folgte dem Portier wieder in den Gang. Plötzlich sah er etwas auf dem Boden liegen, bückte sich und hob den kleinen, würfelförmigen Gegenstand auf. Er kam ihm bekannt vor, aber er wußte im Augenblick nicht, was es war.

 

»Das ist Kolophonium. Es gehört vermutlich Miss Findon – sie spielt Violine.«

 

»Ist sie auch in Schottland?«

 

»Ja, heute morgen erst habe ich eine Postkarte von ihr bekommen. Sie schrieb mir, daß ich ihr das Paket nachschicken solle, das gestern von Devonshire kam.«

 

Als er in sein Wohnzimmer zurückkehrte, fand er Ann dort. Das war ungewöhnlich, denn er sah sie selten am Vormittag und an manchen Tagen überhaupt nicht.

 

»Ich wollte heute morgen einige Sachen einkaufen, und dazu brauche ich etwas Geld. Ich habe allerdings kaum ein Recht, etwas zu verlangen, solange mir mein Führerschein entzogen ist …«

 

»Reden Sie keinen Unsinn«, erwiderte er lächelnd. »Sie können soviel Geld haben, wie Sie wollen. Fünfzig Pfund – hundert Pfund

 

»Wieviel habe ich denn noch zu bekommen? Wenn ich dazu berechtigt bin …« Dann fragte sie plötzlich: »Sind Sie in der Nacht nicht gestört worden? Die Leute über uns machen doch eigentlich sehr viel Lärm.«

 

»Haben Sie es auch gehört?«

 

»Es ging jemand in der Wohnung herum.«

 

»Haben Sie das Violinspiel gehört?«

 

»Ja. Wer mag nur gespielt haben?«

 

Mark zuckte die Schultern.

 

»Ich kann es Ihnen nicht sagen, aber es scheint mir so, als ob sich jemand einen schlechten Scherz mit uns erlaubt.«

 

»Der alte Li Yoseph ist doch wirklich tot?« fragte sie eindringlich.

 

»Ich weiß nicht, wie es anders sein könnte. Es war Flut, und wenn er hinuntergefallen ist …« Er hielt plötzlich inne, als er den merkwürdigen Ausdruck in ihrem Gesicht sah.

 

»Aber das war doch die Ansicht der Polizei, daß er ins Wasser stürzte?«

 

Er erkannte, welche Dummheit er gemacht hatte, und lächelte.

 

»Ich habe die Sache nun schon so oft gehört, daß ich selbst schon beinahe an die Behauptung der Polizei glaube. Meine eigene Meinung ist nach wie vor, daß er irgendwie Nachricht von der kommenden Razzia erhielt, das Land verließ und sich versteckte. Ich bin ganz fest davon überzeugt, daß er starb.«

 

Er versuchte zuversichtlich zu erscheinen, aber er wußte, daß er damit keinen Erfolg bei ihr hatte.

 

»Sagen Sie, haben Sie mir nicht einmal erzählt, daß Sie Li Yoseph hier vor dem Haus gesehen hätten?«

 

Sie hatte dieses Erlebnis beinahe vergessen.

 

»Ja, aber ich war mir damals meiner Sache nicht ganz sicher – Sie sagten doch, daß ein russischer Fürst in der Nähe wohne und daß es einer seiner Besucher gewesen sein könnte. Wenn es wirklich Mr. Yoseph war, hätte er Sie doch sicher besucht!«

 

Mark antwortete nicht darauf. Sie sah nur, daß er die Stirn runzelte und dann seine Rundgänge im Zimmer wieder aufnahm.

 

»Tiser behauptet auch, daß er ihn gesehen hat – sogar schon zweimal. Ich kann das alles nicht verstehen. Die einzige Erklärung wäre nur, daß Tiser eben betrunken war und in seinem Delirium allerhand Gespenster gesehen hat.«

 

»Würde es für Sie sehr viel bedeuten, wenn Li Yoseph wieder hier auftauchte?«

 

Es war eine unschuldige Frage, die ohne die geringste Nebenabsicht gestellt wurde, aber Mark war jetzt nervös geworden.

 

»Was meinen Sie damit?« fragte er rauh. »Was sollte mir denn das ausmachen, wenn Li Yoseph lebte? Er war ein tüchtiger Mann, aber in der letzten Zeit mußte ich mich vor ihm in acht nehmen. Die Polizei war auf ihn aufmerksam geworden und überwachte ihn. In der Zeit, als er verschwand, war eigentlich kaum mehr etwas mit ihm anzufangen. Auch war er nicht ganz klar im Kopf; seine Geisterseherei war doch schon eine Art Wahnsinn. Ich wußte nie, welchen Unsinn er nächstens sagen würde. Ich habe bis zuletzt freundschaftlich mit ihm verkehrt, denn er war der einzige, der den Mord an Ronnie sah. Und ich wünschte, daß Sie die Wahrheit von einem Augenzeugen hörten.«

 

»Habe ich sie denn wirklich gehört?«

 

Er ging langsam auf sie zu und starrte sie an.

 

»Was meinen Sie nun schon wieder?«

 

»Habe ich wirklich die Wahrheit erfahren? Sie sagten doch eben selbst, daß er ein wenig verrückt war. Warum sollte er mir dann die Wahrheit gesagt haben? Konnte das nicht auch eine seiner Illusionen gewesen sein?«

 

Auf diese Frage gab es keine Antwort, und Mark war noch mehr beunruhigt als früher.

 

»Ich verstehe Sie in diesen Tagen kaum mehr, Ann. Sie sagen die merkwürdigsten Dinge und stellen die seltsamsten Fragen. Sie wissen doch genau, wie es mit Li Yoseph stand. In mancher Beziehung, zum Beispiel mit seinen Geistern und den kleinen Kindern, war er nicht normal, aber sonst war er doch so vernünftig wie wir beide.« Er dachte einen Augenblick nach. »Natürlich kann er auch unbewußt gelogen haben. Ich kann es nicht beurteilen. Ich habe die Geschichte von ihm gehört und muß mich damit zufriedengeben, ebenso wie Sie. Und als er sie mir das erstemal erzählte, war ich vollkommen davon überzeugt, und ich halte sie auch jetzt noch für wahr. Wer sollte Ihren Bruder denn getötet haben, wenn Bradley es nicht war?«

 

Sie schüttelte nur den Kopf und seufzte.

 

*

 

In den folgenden Wochen wurde Marks Verhältnis zu Ann wieder besser. Die Depression, die sie bedrückte, wich teilweise von ihr; sie war liebenswürdig und lachte sogar über seine kleinen Späße. Sie war für ihn in doppelter Weise wertvoll. Einmal war sie eine geschickte, mutige Autofahrerin, da sie aber nach der Gerichtsverhandlung zu unfreiwilliger Ruhe verurteilt worden war, lernte er sie in anderer Weise um so mehr schätzen.

 

In gewisser Weise war er in sie verliebt. Er bewunderte sie, aber als er ihr einmal engere Freundschaft anbot, wies sie ihn freundlich, aber bestimmt zurück. Ihr Verhältnis zueinander war seit der Verhandlung vor dem Polizeigericht in ein neues Stadium getreten, und er versuchte vergeblich, die richtige Einstellung zu Ann zu finden.

 

In letzter Zeit war Mark viel beschäftigt, denn seine geschäftlichen Unternehmungen waren nicht immer erfolgreich. Vor kurzem hatte er bei einer Polizeirazzia zwei Agenten zugleich verloren. Auch das Versorgungsheim belastete ihn stark. Tiser kümmerte sich nicht mehr genügend um die Insassen der Herberge. Mark hatte fast zwei Jahre auf einen guten Agenten gewartet, der eine Gefängnisstrafe in Dartmoor absaß. Als er dann durch einen Glückszufall im Versorgungsheim auftauchte, ließ ihn Tiser wieder gehen, ohne ihn Mark zu bringen. McGill war wütend, als er das hörte, und schickte nach seinem unglücklichen Assistenten.

 

»Was soll denn das bedeuten? Haben wir vielleicht unser Geschäft zugemacht? Wovon willst du denn leben? Oder willst du überhaupt mit dem Leben Schluß machen?«

 

»Ich tu doch mein Bestes, Mark«, winselte Tiser.

 

»Du tust dein Bestes? Du hast auch dein Bestes getan, Bradley aus dem Weg zu schaffen, und hast dadurch die Aufmerksamkeit der Polizei auf mich und dich gelenkt! Du greifst dir drei unbeholfene Kerle heraus, die wohl Frauen verprügeln können, aber weiter nichts – die werden natürlich geschnappt! Du läßt dir direkt unter deine Nase ein Mikrophon in der Herberge aufstellen, und dabei willst du sorgfältig alles verbergen, was dort vorgeht. Es war doch nur ein glücklicher Zufall, daß ich in jener Zeit nicht dort anrief.«

 

»Aber Mark, ich schwöre dir, daß ich die drei nicht ausgeschickt habe …«

 

Mark brachte ihn zum Schweigen.

 

*

 

Nachdem ein paar Wochen vergangen waren, wurde Tiser wieder mutiger. Der Spuk, der ihn so erschreckt hatte, war nicht wiedergekommen. Wenn er sich selbst um Marks Geschäft gekümmert hätte, wie es seine Aufgabe war, hätte er wohl keine Zeit gehabt, an Li Yoseph zu denken. Aber er ließ das Geschäft gehen, wie es wollte, und gab sich ganz seinen Einbildungen und Träumen hin. Die Verwaltung des Versorgungsheimes lag in den Händen eines Stewards, eines früheren Sträflings. Tausend andere Dinge hielten Tiser in Atem, und statt tatkräftig zu arbeiten, grübelte er stundenlang darüber nach, was geschehen könne, wenn Li Yoseph plötzlich zurückkehrte.

 

Viele Leute, die ihn besuchten, kamen nicht durch den Haupteingang, sondern durch eine Nebentür. Sie hatten nur kurze Unterredungen mit Tiser und verschwanden ebenso geheimnisvoll, wie sie gekommen waren.

 

Einer von diesen war ein gewisser Mr. Laring, der früher Offizier gewesen war. Er hatte eine gesunde Gesichtsfarbe, eine kräftige Nase, blaugraue Augen, und er sprach mit dem vornehmen Akzent eines Gentleman. Man hielt ihn für wohlhabend; er wohnte in einem hübschen Haus in einer der südlichen Vorstädte Londons, besaß zwei Autos und ging stets tadellos gekleidet. Er hatte immer einen guten Vorwand, das Versorgungsheim zu besuchen, denn er brachte jedesmal ein großes Paket illustrierter Zeitschriften und Bücher als Lektüre für die Insassen des Heims mit. Was er dagegen mitnahm, wußten nur Tiser und er.

 

Eines Abends erschien er wieder mit einem großen Paket Zeitungen bei Tiser, der eine Flasche Whisky und einen Syphon mit Sodawasser brachte und sie auf den Tisch setzte. Laring hatte viel zu sagen.

 

»Das ganze Geschäft geht in die Binsen, Tiser. Wenn Mark sich nicht vorsieht, werden ihn diese Amerikaner noch ganz verdrängen. Natürlich sind sie auch an mich herangetreten, weil ich eine der besten und größten Verteilerorganisationen im ganzen Lande habe. Und Sie haben mir jetzt seit zwei Monaten keine größere Lieferung zukommen lassen! Das geht unter keinen Umständen so weiter, Tiser!«

 

Mr. Larings »Organisation« war selbst amerikanisch aufgezogen. Er war einer der größten Exporteure, und seine Agenten saßen in allen größeren Städten von New Orleans bis nach Seattle. Aber in anderer Beziehung war er wieder von Mark abhängig.

 

»Der ganze Fehler liegt darin, daß Sie kalte Füße bekommen haben. Ja, ja, ich weiß alles über den Fall beim Polizeigericht, ich habe die Berichte mit dem größten Interesse gelesen. Aber Geschäft ist nun einmal Geschäft, mein lieber Tiser. Die kleinen geschäftlichen Verbindungen, die ich hier in der Gegend habe, machen mir keine Sorgen. Die will ich sowieso aufgeben.«

 

In diesem Augenblick schlug eine kleine Glocke an. Sie gab das Zeichen, daß ein anderer Besucher gekommen war. Tiser, der von McGill zu regerer Tätigkeit angetrieben worden war, ging aufgeregt hin, um zu öffnen. Als er die Tür aufmachte, stand Ann vor ihm. Er war so erstaunt, daß er zunächst nichts sagen konnte.

 

»Miss Perryman! Was, in aller Welt, tun Sie denn hier – sind Sie ohne Begleitung gekommen?« Er schüttelte mißbilligend den Kopf.

 

»Das ist aber sehr gefährlich. Daß Mark das zugegeben hat!«

 

»Er weiß nichts davon«, sagte sie und wartete auf eine Einladung, näher zu treten. »Haben Sie Besuch?«

 

»Nur mein guter Freund, Mr. Laring, ist da. Er interessiert sich sehr für das Heim und bringt uns immer etwas zum Lesen mit. Würden Sie mich einen Augenblick entschuldigen?«

 

Er eilte in sein Zimmer zurück und erklärte, wer gekommen war. Mr. Laring war ein höflicher Mann und begrüßte Ann mit einer kleinen Verbeugung. Aber auch er war erstaunt. Weder er noch die anderen Agenten Marks wußten, ob das junge Mädchen ahnte, welche Tätigkeit es eigentlich ausübte. Von Anfang an war zwar allen aufs strengste untersagt worden, in seiner Gegenwart Näheres über die Art des Geschäftes zu erwähnen; aber man nahm diese Komödie nicht ernst und glaubte nur, daß es ein Vorwand war, um es zu schützen, falls die Polizei es tatsächlich einmal fassen sollte.

 

Ann folgte einem plötzlichen Impuls, als sie ihre Wohnung verließ und zu dem Heim ging. Sie wußte selbst nicht, warum sie hierhergekommen war. Es schwebte ihr nur dunkel vor, daß sie ihren eigenen Grübeleien aus dem Wege gehen und hier eine Lösung ihrer Zweifel suchen wollte.

 

»Nein, Mark McGill weiß nicht, daß ich hierhergekommen bin. Ich langweilte mich zu Hause und dachte, ich könnte hier vielleicht Li Yoseph treffen.«

 

Sie sah, daß Tiser zusammenzuckte, und bereute den kleinen Scherz.

 

»Li Yoseph?« Laring runzelte die Stirn. »Ich dachte, unser alter Freund wäre …«

 

»Über See gereist, über See –«, ergänzte Tiser schnell. »Kann ich irgend etwas für Sie tun, Miss Perryman – ich meine, wünschen Sie etwas Bestimmtes von mir? Es ist wirklich schon sehr spät …«

 

Es war nach zehn, und um diese Zeit war selten eine Dame im Heim zu sehen.

 

»Ach nein, ich wollte nichts Besonderes – ich wollte eigentlich nur einmal an die frische Luft gehen.« Es kam ihr zum Bewußtsein, daß sie den Mann belog, denn sie war eben am Ende der Straße aus einem Taxi gestiegen.

 

Über Mr. Larings Gegenwart freute sie sich – er machte das Zusammensein mit Tiser erträglicher. Sie hatte den unklaren Plan gehabt, mit Tiser einmal über das Schmuggelgeschäft zu sprechen und von ihm die Wahrheit zu erfahren. Natürlich war es Sacharin, das sie transportiert hatte … Und das Schmuggeln war ja so allgemein; erst in der letzten Woche hatte sie in der Zeitung gelesen, daß der Obersteward eines Schiffes mit hundert Pfund bestraft worden war. Der Staatsanwalt hatte in seiner Rede ausführlich darauf hingewiesen, wieviel eingeschmuggelt wurde und wie häufig derartige Verstöße waren.

 

Ann sagte sich immer wieder, daß Bradley sie nur hatte erschrecken wollen. Das war ein alter Trick der Polizeibeamten. Er wollte durch diese Redereien die einzelnen Mitglieder der Organisation miteinander verfeinden. Aber ihre Zweifel ließen sich nicht unterdrücken. Wenn es nun doch kein Sacharin war? Diese Ungewißheit quälte sie entsetzlich. Und hier saß sie nun Mr. Laring gegenüber, einem der größten Abnehmer der geschmuggelten Waren. Mr. Laring würde ihr sicher die Wahrheit sagen, vor der Tiser feige zurückschreckte. Natürlich würde er hier nicht darüber sprechen. Die Unterhaltung drehte sich um allgemeine Dinge, um das Wetter, um Anns unangenehmes Erlebnis vor dem Polizeigericht, um die vortrefflichen Charaktereigenschaften Marks. Tiser lobte ihn ganz besonders. Nach einer Viertelstunde erhob sich Mr. Laring, um sich zu verabschieden, und Ann nahm die Gelegenheit wahr.

 

»Ich möchte Sie gern begleiten, wenn es Ihnen recht ist«, sagte sie.

 

Sie sah, daß Tiser erschrak, und wurde dadurch nur noch mehr in ihrem Vorhaben bestärkt.

 

Mr. Larings Wagen stand an der Straßenecke. Es war dem Agenten ein Vergnügen, Ann nach Hause zu fahren, denn er liebte die Gesellschaft hübscher Frauen. Der Aufbruch erfolgte so schnell, daß Tiser keine Gelegenheit hatte, ihn zu warnen.

 

»Dieser Tiser ist doch ein merkwürdiger Mensch. Ich fürchte nur, daß er zuviel trinkt«, sagte Mr. Laring, als der Wagen durch Hammersmith Broadway fuhr.

 

»Der arme Kerl hat die Nerven vollständig verloren«, fuhr er fort und schüttelte traurig den Kopf. »Er wird Mark wohl nicht mehr viel helfen können, es ist sehr schade. Soviel ich weiß, dürfen Sie augenblicklich auch nicht mehr fahren, Miss Perryman? Man wird Sie sehr vermissen.«

 

»Mark wird die Verteilung wohl geregelt haben.«

 

Er seufzte.

 

»Er ist nicht so hinter dem Geschäft her, wie man eigentlich erwarten dürfte. Ich fürchte, er hat die Nerven auch verloren. Es wäre ja auch verständlich. Wir haben alle einen großen Schrecken bekommen, als Sie damals gefaßt wurden. Wir dachten bestimmt, daß es nicht ohne Gefängnis abgehen würde. Die ganze Sache war ein schurkischer Plan von diesem Bradley. Er brachte zuerst den Fall Smith vor den Gerichtshof, um dem Richter die Schwere Ihres Vergehens vor Augen zu führen.«

 

Plötzlich erinnerte er sich an sein Versprechen.

 

»Nicht, daß Sacharinschmuggel ein besonders schweres Vergehen wäre«, fügte er hastig hinzu.

 

»Sacharin?« erwiderte Ann lachend. »Reden Sie doch keinen Unsinn!«

 

Mr. Laring seufzte schwer.

 

»Ich weiß selbst nicht, ob das recht ist, was ich tue. Manchmal kommen mir böse Gedanken, ob ich nicht zum Unheil der Menschheit arbeite.« In Wirklichkeit hatte er noch nie Gewissensbisse gehabt oder sich Vorwürfe gemacht. »Aber was soll man machen? Hat denn irgendeine Person oder Gesellschaft oder ein Land das Recht, Ihnen oder mir vorzuschreiben, wo und wie wir unseren Vergnügungen nachgehen können? Hat jemand das Recht, mir zu verbieten, Whisky zu trinken, soviel mir beliebt? Sollten Sie kein Parfüm gebrauchen dürfen, wenn Ihnen der Duft besondere Freude macht?«

 

»Oder sollte ich zum Beispiel kein Kokain nehmen dürfen?« ergänzte sie ein wenig atemlos.

 

»Da haben Sie vollkommen recht.« Er machte eine kleine Pause. »Für mich persönlich hat es niemals eine Anziehung gehabt, aber ich kann mir wohl vorstellen, daß es Leute gibt, die sich ein intensives Vergnügen dadurch verschaffen können – ja, wenn ich so sagen darf, vielleicht das einzige Vergnügen, das ihnen das Leben noch bieten kann. Ich glaube nicht, daß ich eine strafbare Handlung begehe, wenn ich ihnen zu diesem Vergnügen verhelfe. Natürlich gibt es auch arme, schwache Menschen, die sich durch übermäßigen Genuß ruinieren. Aber es gibt ja auch Leute, die übermäßig rauchen oder übermäßig essen …«

 

Ann hörte ihm niedergeschlagen zu. Wenn sie ihn jetzt klar und offen fragte, ob er mit Kokain und Morphium handelte, würde er das entrüstet leugnen – und doch hatte er ihr alles gesagt, was sie wissen wollte, ja noch viel mehr als das.

 

Am Marble Arch wurden sie durch den Verkehr einen Augenblick aufgehalten; von da ab fuhr der Wagen langsamer und hielt schließlich am Cavendish Square. Mr. Laring wollte Ann höflich beim Aussteigen behilflich sein, aber sie duldete es nicht. Schnell stieg sie aus und schloß die Tür wieder.

 

Sie blieb noch auf dem Gehsteig stehen und sah dem fortfahrenden Wagen nach. Aber plötzlich bemerkte sie, daß ein Herr in ihrer Nähe stand, kaum drei Schritte von ihr entfernt. Sie bemerkte seine glimmende Zigarette und wollte schnell ins Haus eilen. Aber er sprach sie an.

 

»Ein schöner Abend für eine Spazierfahrt, Miss Perryman.«

 

Es war Bradley.

 

»Ja, sehr schön«, erwiderte sie verlegen.

 

Sie hätte nun an ihm vorbeigehen können, aber sie folgte einem unbestimmten Gefühl und blieb stehen.

 

»Hat es Ihnen im Versorgungsheim gut gefallen? Man sollte annehmen, daß durch Ihre schöne Erscheinung und Ihr liebenswürdiges Wesen alle bekehrt werden, daß sie sich bei Ihrem Anblick haltlos in Sie verlieben, wie Sie es damals von mir behauptet haben.«

 

Ein schmerzlicher Zug zeigte sich auf ihrem Gesicht, als sie an die Szene erinnert wurde, die sie so sehr bereute.

 

»In den Büchern kann man lesen, wie diese Leute Tränen der Reue vergießen, ihre Untaten bereuen und dann für ein paar Groschen die Stunde Holz hacken, um ihren Lebensunterhalt auf ehrliche Weise zu erwerben. Aber die Wirklichkeit sieht ganz anders aus, nicht wahr?«

 

Er war liebenswürdig und freundlich zu ihr, als ob nichts zwischen ihnen vorgefallen wäre.

 

»Ich wollte Sie eigentlich sprechen«, fuhr er fort. »Wie ich höre, spukt hier ein geigenspielender Geist herum?«

 

»Warum verhaften Sie ihn denn nicht?« fragte sie. Nach der Befangenheit über dieses unerwartete Wiedersehen erlangte sie allmählich ihre Selbstbeherrschung wieder.

 

»Das Verhaften von Geistern ist gegen die Dienstvorschrift. Sie haben den alten Li Yoseph wohl nicht zu Gesicht bekommen?«

 

Das Gespräch kam ins Stocken, aber sie zögerte immer noch.

 

»Woher wissen Sie denn, daß ich im Versorgungsheim war?«

 

»Ich bin ihnen dorthin gefolgt«, gab er offen zu. »Auch auf Ihrem Heimweg habe ich Sie begleitet. Sie wundern sich, daß ich vor Ihnen hier ankam? Sie sind am Marble Arch aufgehalten worden, während ich mit meinen Polizeiwagen durchfahren konnte.«

 

Sie lächelte schwach.

 

»Was haben Sie eigentlich gemacht – seitdem ich Sie zuletzt gesehen habe?«

 

»Ich habe inzwischen Einbrecher gefangen.«

 

»Sicherlich sind Sie auch ihnen gegenüber sehr milde und nachsichtig gewesen«, sagte: sie ironisch.

 

»Gutmütigkeit ist meine Hauptschwäche«, entgegnete er ebenso. »Es gibt für mich kein größeres Glück, als einen Schwerverbrecher zu fangen, ihn in eine schöne, luftige, geräumige Zelle zu transportieren, ihn gut zu versorgen, zu Bett zu bringen und seine Hände zu streicheln, bis er sanft eingeschlafen ist.«

 

»Und dann gehen Sie hin und beseitigen alle Beweise gegen ihn, schaffen seine Diebeswerkzeuge weg und behaupten, daß Sie überhaupt nichts gefunden haben.«

 

Er lachte wieder.

 

»Ja, es ist merkwürdig. Ich habe nun einmal einen solchen Charakter. Wenn ich einen Verbrecher vor Gericht zur Verurteilung gebracht habe und er zwanzig Jahre bekommt, dann bin ich selbst so erschüttert, daß ich mich in den Schlaf weinen muß.«

 

Er schaute an ihr vorbei. Gleich darauf tauchten die Scheinwerfer eines großen Autos auf, das sich schnell auf sie zubewegte und dann dicht vor ihnen hielt.

 

»Gute Nacht, Miss Perryman. Ich muß noch einen Auftrag erfüllen.«

 

Gleich darauf stieg er in den Wagen, und Ann trat in das Haus. Sie fühlte sich merkwürdig leicht und froh.

 

Kapitel 15

 

Kapitel 15

 

Mark McGill verfügte über noch mächtigere Hilfsmittel als über Tiser und seine Herberge. Der plumpe Überfall auf Bradley war noch die geringste Folge von Marks Feindschaft; gefährlicher war schon ein Unfall, der hervorgerufen winde durch die heimliche Entfernung einer Radschraube an dem Wagen des Polizeiinspektors. Als er mit einer Geschwindigkeit von etwa siebzig Kilometern auf der Great West Road entlangfuhr, löste sich eines der Vorderräder – und nur durch ein Wunder wurde die Besatzung vor schwerem Unheil bewahrt. Es war kein zufälliger Unglücksfall, das zeigte schon eine oberflächliche Prüfung der gelösten Schraube.

 

Scotland Yard war stark beunruhigt durch das Überhandnehmen von Gewalttätigkeiten im ganzen Land. Ein bewaffneter Einbrecher ist eine seltene Erscheinung in England; gewöhnlich ist er ein ungeschickter Laie. Aber nun tauchten fast überall bewaffnete Verbrecher auf.

 

Bradley kannte die Verbrecher so gut wie sich selbst. Er kannte sie in all ihrer Häßlichkeit und fand nichts Gutes an ihnen. Er machte sich über den Charakter dieser Leute keine Illusionen mehr, denn seine Erfahrungen hatten ihn gelehrt, was er von ihnen zu halten hatte. Er verachtete sie weder, noch haßte er sie; aber er hatte es sich zur Lebensaufgabe gemacht, diese Schädlinge aus der menschlichen Gesellschaft auszumerzen.

 

Bradley nahm eines Tages an einer Konferenz teil, die im Polizeipräsidium abgehalten wurde.

 

»McGill hat augenblicklich in seiner Tätigkeit stark nachgelassen – zur Zeit macht er keine Geschäfte. Die Verhandlung gegen Miss Perryman wird ihn wohl abgeschreckt haben«, sagte er.

 

»Es ist wirklich schade, daß Sie nicht einen seiner Helfershelfer dazu bringen können, ihn zu verraten«, meinte sein Vorgesetzter.

 

Aber der Polizeiinspektor schüttelte den Kopf.

 

»Sie haben alle so große Furcht vor ihm, daß sich niemand finden wird, der gegen ihn aussagt. Und selbst dann hat er so viele Vorsichtsmaßregeln getroffen, daß man ihn nicht so leicht überführen kann.«

 

»Können Sie denn nicht vorwärtskommen, wenn Sie sich mit Miss Perryman gut stellen?« fragte ein anderer höherer Beamter.

 

Bradley richtete sich steif auf.

 

»Wie denken Sie sich denn das?« fragte er kühl.

 

»Nun ja, Sie sind doch ein ganz hübscher Kerl –«

 

»Wir wollen hier keine Komplimente austauschen, sondern uns an Tatsachen halten«, sagte Bradley kurz. »Ich werde Mark McGill schon fassen, aber ich habe schwerere Anklage gegen ihn zu erheben als den Handel mit Rauschgiften.«

 

Kurze Zeit nach dieser Konferenz erhielt Mark von seinen Agenten die Nachricht, daß die Polizei die Nachforschungen gegen ihn und seine Organisation eingestellt habe und daß man ihnen jetzt nicht mehr nachspüre. Die Sperren, mit denen man alle größeren Städte umgeben hatte, wurden aufgehoben; Autos konnten wieder frei verkehren, ohne angehalten und durchsucht zu werden. Die zahlreichen Detektive, die alle Eisenbahnstationen bewacht hatten, wurden zurückgezogen und nur einige auf den Posten belassen.

 

Mark nahm wieder Fühlung mit seinen Lieferanten in Belgien und Frankreich auf. Besonders von Belgien wurde viel Rauschgift nach England geliefert; aber er mußte jetzt neue Methoden und Wege ausfindig machen, um die Zollbeamten zu täuschen. Seitdem Ann der Führerschein entzogen worden war und außerdem eine Kontrolle der Wassergrenzen durch Flugzeuge ausgeübt wurde, schienen die Schwierigkeiten fast unüberwindlich zu werden. Li Yoseph war eine großartige Stütze seiner Organisation gewesen; er wußte alle Mittel und Schleichwege und kannte Hunderte von Seeleuten. Sein Haus lag so günstig, daß bei ihm leicht Schmuggelware gelandet werden konnte. Es gab allerdings unzählige Diebe auf dem Fluß, aber man konnte ihnen in keiner Weise trauen, wenn man nicht einen zuverlässigen Hehler hatte, und ein solcher Mann war schwer zu finden.

 

Als Mark eines Tages mit Ann zu Mittag aß, machte er ihr einen Vorschlag.

 

»Es wäre vielleicht ganz gut, wenn ich ein Haus am Fluß kaufen würde«, sagte er leichthin. »Irgendwo zwischen Teddington und Kingston, mit einem hübschen Rasen zum Ufer hin. Wie denken Sie darüber?«

 

»Das klingt ja sehr verheißungsvoll«, erwiderte sie.

 

»Das Geschäft ist fast vollständig zum Stillstand gekommen, und ich verliere Geld. Sie können keine Fahrten mehr unternehmen. Ich glaube, das Haus am Fluß ist ein sehr guter Gedanke – aber es muß unterhalb der Schleusen liegen.«

 

Jetzt schaute sie ihm voll ins Gesicht.

 

»Versuchen Sie einen weiblichen Li Yoseph zu finden?«

 

»Ich weiß nicht …«

 

»Was erwarten Sie denn von mir … was soll ich denn in diesem Haus tun – mit einem Rasen, der sich zum Ufer hinzieht? Läge das Haus nicht besser an einer Bucht, die man nicht übersehen kann?«

 

»Ich weiß nicht, was ich von Ihnen halten soll, Ann. Sie wollen doch nicht behaupten, daß ich …«

 

Ann lächelte.

 

»Ich dachte, Sie brauchen einen Ersatz für Lady’s Stairs; einen Ort, wo Ihre Leute unbeobachtet – die Ware abliefern können. Ich muß wirklich sagen, daß ich diesen Plan sehr schätze. Ich fürchte, ich bin ein schlechter Schmuggler.«

 

»Es handelt sich ja gar nicht um Schmuggel«, sagte er düster. »Sie sind wirklich merkwürdig! Wenn ich irgend etwas für Sie tun will, suchen Sie stets eine böse Nebenabsicht hinter meinem …«

 

»Wohlwollen«, ergänzte sie. »Nein, Mark, ich glaube nicht, daß mir das zusagen würde. Ich bin der Polizei zu gut bekannt – ich stand vor Gericht, und ich habe Bradley beleidigt. Sie können sicher sein, daß jeder meiner Schritte überwacht wird. Und ich möchte nicht noch einmal etwas Ähnliches erleben wie damals.«

 

Er sprach nicht weiter über die Sache, aber er war bitter enttäuscht. Wäre sie auf seinen Plan eingegangen, dann wären all seine Schwierigkeiten auf leichte Weise gelöst gewesen.

 

In seiner ärgerlichen Stimmung machte er eine boshafte Bemerkung.

 

»Bradley ist wohl bis über die Ohren in Sie verliebt?«

 

Zu seiner Genugtuung errötete sie tief, aber dann wurde sie bleich.

 

»Reden Sie doch nicht so törichtes Zeug«, sagte sie, ohne ihn anzusehen.

 

»Sie haben das doch vor Gericht selbst gesagt«, fuhr er rücksichtslos fort. »Es ist allerdings merkwürdig, daß ein solcher Mann sich überhaupt verlieben kann! Ich vermute ja, daß er jetzt davon geheilt ist. Immerhin könnte er Sie beschwatzt haben. Diese Menschen gehen sogar mit Schwerverbrecherinnen aus, um wichtige Angaben aus ihnen herauszulocken. Ich glaube, im Grunde seines Herzens haßt er Sie.«

 

Beinahe hätte sie ihm widersprochen.

 

»Wollten Sie etwas sagen?«

 

»Nein«, erwiderte sie kurz. Gleich darauf stand sie auf und verließ das Zimmer.

 

Sie sah den Tatsachen jetzt mutig ins Gesicht. Als sie in ihrem Zimmer angekommen war, nahm sie kurz entschlossen das Bild des Detektivs aus dem Doppelrahmen heraus und zerriß es in kleine Stücke. Sie konnte ihn nicht länger hassen. Auch glaubte sie nicht mehr, daß er ihren Bruder getötet hatte. Sie glaubte vielmehr, daß …

 

Aber sie wollte noch keine weiteren Schlußfolgerungen ziehen. Bradley hatte sie geliebt, dessen war sie sicher. Er wollte sie nicht beschwatzen, wie Mark behauptete. Er hatte sie geliebt, aber konnte seine Liebe jene Demütigung überleben, die sie ihm angetan hatte?

 

Mark war klug und deutete die Symptome ihrer Gemütsverfassung richtig, welche die kleine Unterhaltung an den Tag gebracht hatte. Als sie ihn verlassen hatte, blieb er noch lange sitzen und dachte über die verwirrte Lage nach.

 

Sie hatte Bradley gern; sie liebte ihn natürlich noch nicht – aber wohin sollte das führen? Ihr Zutrauen zu ihm war erschüttert, und jeder Versuch, es wiederherzustellen, war vergeblich. Ein Bündnis zwischen Bradley und Ann würde die schlimmsten Konsequenzen für ihn haben. Er glaubte zwar nicht, daß sie vor Gericht als Zeugin gegen ihn auftreten würde; aber er wußte sehr wohl, daß die gefährlichsten Aussagen nicht in der Öffentlichkeit gemacht wurden, sondern in einem kleinen Zimmer in Scotland Yard.

 

Ann wußte mehr von der Art seines »Geschäftes«, als sie selbst ahnte. Sie mochte vielleicht nicht wissen, was sie nachts im Auto transportiert hatte, aber sie kannte die Leute, zu denen sie die Waren brachte. Alle Fäden seiner Organisation waren in ihrer Hand. Früher hatte er niemals an eine Heirat gedacht, aber jetzt wurde dieser Gedanke ein Teil seines Plans. Wenn Bradley sie liebte, erreichte Mark durch eine Heirat mit Ann einen doppelten Zweck – einmal beseitigte er eine sehr gefährliche Zeugin gegen sich, und außerdem kränkte er den verhaßten Mann aufs tiefste.

 

Er hatte von verschiedenen Ereignissen erfahren, die ihm schwere Sorgen bereiteten. Die Tätigkeit der Polizei mochte auf dem Land und in der Provinz nachgelassen haben, aber in der Hauptstadt selbst wurden die Nachforschungen um so systematischer und rücksichtsloser durchgeführt. Zunächst wurden die Autodiebe und Hehler von diesen scharfen Maßnahmen getroffen. Eines Abends kam Mark auf eine dringende telefonische Einladung hin mit einem guten Bekannten zusammen, der gestohlene Autos weiterverschob und der ihm früher sehr nützliche Dienste geleistet hatte.

 

»Die Polizei durchstöbert jetzt die ganze Gegend am Fluß unten bei den Docks«, erklärte dieser Mann. »Das große Lagerhaus von Bergson ist durchsucht worden, und dabei haben sie drei gestohlene Wagen gefunden, die nächste Woche mit einem Frachtdampfer nach Indien abgehen sollten. Der alte Bergson und sein Sohn sind verhaftet, und ich weiß aus sicherer Quelle, daß man den beiden versprochen hat, ihnen die Sache leichtzumachen oder sogar die Strafe ganz zu erlassen, wenn sie nähere Angaben über Ihren Rauschgifthandel machen.«

 

»Ist denn mein Name erwähnt worden?« fragte Mark schnell.

 

»Nein, Ihr Name ist nicht gefallen, aber es ging aus allem hervor, daß man Sie meinte. Haben Sie denn jemals die Hilfe der Bergsons bei der Verteilung Ihrer Ware in Anspruch genommen?«

 

Mark dachte nach.

 

»Nein, bis jetzt noch nicht.«

 

»Es handelt sich nämlich um folgendes. Die Leute glauben, daß Ihr Handel mit Koks Scotland Yard so wild gemacht hat, und sie sind natürlich verärgert darüber. Ich habe alle meine Autos nach Birmingham gebracht – wie steht es denn bei Ihnen?«

 

»Ich habe tatsächlich keine Wagen hier – höchstens zwei, und die laufen unter anderen Namen.«

 

Obwohl er es nicht sagte, war sicher der eine dieser Namen Ann Perryman.

 

»Ich kann Ihnen nur raten, sich in acht zu nehmen« warnte sein Freund. »Noch eins: Hat Sedeman etwas gegen Sie? Er ist heute aus dem Gefängnis gekommen, und er schwingt große Reden. Der Alte war ein Freund von Li Yoseph. Wenn er sich nicht in Ihrem Versorgungsheim einnistete, schlüpfte er bei dem alten Li unter. Was weiß der eigentlich?«

 

»Gar nichts«, erwiderte Mark ärgerlich.

 

Die beiden hatte sich am Kensington Square getroffen und trennten sich jetzt, als von weitem ein anderer Fußgänger näher kam.

 

Mark ging nachdenklich nach Hause. Lange Zeit saß er vor dem Kaminfeuer und rauchte. Plötzlich erinnerte er sich an ein kleines Lederetui, das am Nachmittag angekommen war; er nahm es aus dem Safe heraus, öffnete es und betrachtete die funkelnden Steine auf dem blausamtenen Grund. Dann klingelte er, und Ledson trat ein, der zugleich das Amt eines Hausmeisters und eines Dieners versah.

 

»Gehen sie hinüber zu Miss Perryman und fragen Sie, ob sie so liebenswürdig sein möchte, eine Minute zu mir zu kommen.«

 

Als Ledson die Tür öffnete, stand Tiser auf der Schwelle. Der nervöse Mann trocknete seine Stirn ab, als ob er in großer Eile angekommen wäre, aber das hatte bei ihm nicht viel zu sagen.

 

»Ist Mr. McGill zu Hause?« flüsterte er. »Sagen Sie mir, mein lieber Ledson, ist er in guter Stimmung?«

 

»Das weiß ich nicht. Soll ich Sie anmelden?«

 

»Nein, ich gehe schon allein hinein.«

 

Er schlich so leise in das Wohnzimmer, daß Mark ihn zunächst nicht bemerkte.

 

»Was, zum Teufel, willst du denn schon wieder?« fragte er barsch, als er ihn sah.

 

Tiser war aufgeregt wie immer. Er ging durch das Zimmer zu Mark hin und rieb die Hände aneinander.

 

»Mein lieber Freund«, sagte er leise und vertraulich. »Was glaubst du wohl, was die Polizei heute abend unternommen hat? Sie haben die Herberge durchsucht.«

 

Mark runzelte die Stirn.

 

»Bradley?«

 

»Ach, dieser Schuft!« sagte Tiser kläglich. »Nein, der war es nicht. Einer seiner Untergebenen. Sie haben Benny und Walky, den kleinen Lew Marks und noch ein paar andere mitgenommen – im ganze sechs der besten Leute. Und dabei haben sie doch wirklich nichts getan! Ich schwöre dir, das ist der gemeinste Fall von ungerechter Verfolgung, den ich jemals erlebt habe. Die armen Kerle saßen gerade zusammen und tranken Bier …«

 

»Hat die Polizei Koks oder anderen Stoff bei dir gefunden?« fragte Mark schnell. »Ich habe dir doch ausdrücklich gesagt, daß nicht eine Prise dort aufbewahrt werden darf.«

 

Tiser war bedrückt.

 

»Aber mein lieber Mark, du weißt doch ganz genau, daß ich mich an deine Vorschriften halte und niemals Ware in der Herberge unterbringe. Mark, du traust mir nicht mehr. Ich schufte und quäle mich ab, ich denke von morgens bis abends daran, wie ich das Geschäft heben kann. Mein ganzes Leben besteht nur noch aus elender Sklavenarbeit – meine beste Kraft verpuffe ich für dich …«

 

»Halt den Mund!« brummte Mark. »Warum hat die Polizei denn die Bude durchsucht?«

 

Die Ankunft Anns enthob Tiser einer Antwort.

 

»Guten Abend, Ann!« sagte Mark so heiter und liebenswürdig wie möglich. »Hier ist wieder unser Angsthase, aber seien Sie deshalb nicht böse. Er fürchtet sich und muß mir seine Sorgen mitteilen.«

 

»Wollten Sie mich sprechen? Soll ich später wiederkommen?«

 

»Nein, nein. Tiser bleibt nicht hier. Er wollte mir nur sagen, daß die Polizei heute abend die Herberge durchsucht und einige Leute verhaftet hat.«

 

Sie sah ihn nur durchdringend an. Es wäre ihm lieber gewesen, wenn sie Aufregung oder Bestürzung gezeigt hätte.

 

»Warum hat die Polizei das getan?« fragte sie.

 

Mr. Tiser mischte sich ins Gespräch.

 

»Wegen einer Sache, die vor etwa einer Woche passierte. Irgendeine Bande hat Bradley überfallen – das war natürlich sehr schlecht von den Leuten …«

 

»Überfallen?« fragte sie erschrocken. Beinahe hätte sie hinzugefügt: »Davon hat er mir ja gar nichts gesagt.«

 

»Ja, das gibt die Polizei an. Aber den Menschen kann man doch nicht trauen.« Tiser schüttelte traurig den Kopf. »Das scheint schon der zweite Angriff gewesen zu sein – jemand hat ihn mit einem Rasiermesser angefallen.«

 

»Wie niederträchtig und gemein!« rief Ann empört.

 

Mr. Tiser war erstaunt.

 

»Ja, unglücklicherweise – ich wollte sagen, glücklicherweise ging der Schlag fehl. Die Sache war ganz schrecklich …«

 

»Hast du denn etwas davon gewußt?« Marks Gesicht war weiß vor Ärger.

 

»Nein, Mark, ich schwöre dir, daß ich nichts davon geahnt habe! Einer von den Kerlen war wütend, daß ihn Bradley neun Monate ins Gefängnis gebracht hatte.«

 

»Also hast du doch etwas davon gewußt, du alter Schleicher! War das wieder einer deiner verheißungsvollen Pläne, du Idiot?«

 

Ein Blick Anns ließ ihn verstummen.

 

»Sie wissen, wer es getan hat?« fragte sie Tiser.

 

Er lächelte schwach und sagte etwas von »allgemeinem Gerede«.

 

»Ist er verletzt worden?«

 

»Kommt es denn darauf überhaupt an?« unterbrach sie Mark ungeduldig. »Ich wünschte nur, sie hätten diesem verdammten Kerl die Kehle durchschnitten! Dann wäre der Überfall wenigstens gerechtfertigt. Tausend Pläne machen, alles Mögliche versuchen und nachher ihn nicht einmal erwischen …«

 

In seiner Erregung vergaß er jede Vorsicht.

 

»Du bist der dümmste Idiot, Tiser, der mir jemals begegnet ist. Du kannst nur mit der einen Hälfte deines Gehirns denken, und damit nicht einmal richtig. Wenn du ihnen wenigstens etwas gegeben hättest, um sie anzufeuern, und ihnen dann eine Pistole in die Hand gedrückt hättest, brauchten wir uns jetzt nicht mehr über einen Mr. Bradley zu ärgern.«

 

»Etwas geben, um sie anzufeuern?« wiederholte Ann langsam.

 

Mark sah, daß er zu weit gegangen war, und lachte verlegen.

 

»Um Gottes willen, Ann, nehmen Sie doch nicht gleich jeden Scherz tragisch!«

 

»Was sollte er ihnen denn geben, um sie anzufeuern?«

 

»Natürlich etwas zum Trinken, Tiser, nimm dir einen Whisky, du sollst hier nicht vor Durst umkommen!«

 

Tiser ließ sich nicht zweimal auffordern, ging zu dem Schrank, schenkte sich ein Glas ein und kam dann wieder zurück.

 

»Ich wundere mich nur, daß dieser Mann nicht damals aus der Polizeitruppe entlassen wurde, als er sich so lächerlich machte.« Plötzlich nahm er seine Brieftasche heraus und öffnete sie. Bevor er aber Ann ein dickes Paket Zeitungsausschnitte zeigte, trank er erst sein Glas aus. »Die habe ich immer bei mir getragen – eines Tages werde ich sie noch rahmen lassen.«

 

Er fischte einen heraus und lachte.

 

»›Eine unerhörte Szene im Gerichtssaal! Ein bekannter Detektiv und seine Gefangene!‹« las er vor. »›Liebe im Gefängnis! Eine Frau erhebt ungeheuerliche Anklagen gegen einen höheren Polizeibeamten …‹«

 

Ann riß ihm das Papier aus der Hand. Sie war bleich, und ihre Augen blitzten vor Erregung.

 

»Wenn Sie Unterhaltung brauchen, dann müssen Sie sich etwas anderes suchen!« rief sie heftig.

 

Selbst Mark war über sie erstaunt.

 

»Was ist denn mit Ihnen los, Ann?« fragte er.

 

Es dauerte einige Sekunden, bevor sie sich wieder gefaßt hatte.

 

»Glauben Sie denn, daß ich mich ebenso verhöhnen lasse wie Bradley? Denken Sie, ich will, daß dieser« – sie suchte nach einer Bezeichnung für Tiser – »Mensch die Zeitungsausschnitte mit sich herumträgt, sie seinen blöden Freunden zeigt und dann mit den Kerlen über mich lacht?«

 

»Vor einer Woche hätten Sie noch gar nichts dazu gesagt«, erwiderte Mark vorwurfsvoll. »Ich weiß wirklich nicht, was in Sie gefahren ist. Sie springen anderen Leuten bei dem geringsten Anlaß an die Kehle.«

 

Mr. Tiser konnte sich nicht genug entschuldigen.

 

»Aber Miss Perryman, Sie sind doch die letzte, die ich irgendwie beleidigen würde. Ich habe die Zeitungsausschnitte doch nur zur Erinnerung aufgehoben.«

 

Ann beruhigte sich wieder. »Wer wurde denn verhaftet?« fragte sie, um das Gespräch in andere Bahnen zu lenken.

 

»Nur unbedeutende Leute«, versicherte Tiser schnell. »Bradley sagte zwar, er hätte sie wiedererkannt, aber das ist eine Lüge. Denn erstens hatten sie die Kragen hochgeschlagen, als sie ihn überfielen …«

 

»Wenn man dich sprechen hört, sollte man meinen, du wärst dabeigewesen.« Mark warf ihm einen wütenden Blick zu, dann wandte er sich an Ann. »Wir wollen von etwas Freundlicherem sprechen. Ich habe ein kleines Geschenk für Sie.« Er ging zum Kamin und griff nach dem Lederetui. »Wir haben in den letzten Tagen ziemlich gut verdient.«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Ich wünschte, Sie würden mir nichts schenken.«

 

»Aber warum denn nicht?«

 

Es dauerte einige Zeit, bevor sie ihre Gedanken in Worte fassen konnte, ohne ihn dadurch zu verletzen.

 

»Ich werde es Ihnen sagen, Mark. Die Gegenwart Mr. Tisers stört mich nicht, denn er weiß ebensoviel von Ihren Geschäften wie Sie selbst. Ich war über ein Jahr für Sie tätig. In dem Monat vor meiner Verhaftung habe ich zwanzig längere Fahrten gemacht und habe bei keiner Fahrt mehr als zwei Pfund von dem Stoff mitgenommen.«

 

»Nun, was wollen Sie damit sagen?« fragte Mark, als sie eine Pause machte.

 

»Das sind also im Monat vierzig Pfund. Sechshundertvierzig Unzen. Sie sagten mir früher einmal, daß wir an einer Unze Sacharin drei Schilling verdienten – das ist weniger als ein Pfund Verdienst im Monat. Dabei sind die Unkosten nicht berücksichtigt, die ich und das Auto verursachen – und das sind ungefähr auch hundert Pfund im Monat.«

 

»Aber das ist doch kein schlechter Verdienst, liebe Miss Perryman«, versicherte Tiser schnell. »Viele Firmen würden mit einem Verdienst von hundert Pfund monatlich sehr zufrieden sein.«

 

»Bedenken Sie doch, daß Sie nicht die ganze Ware verteilen, die hereinkommt«, sagte Mark mit überlegenem Lächeln. »Sie sind doch nur einer der vielen Agenten.«

 

Er überreichte ihr das Lederetui.

 

Sie schlug den Deckel zurück und war überrascht.

 

»Wie prachtvoll! Achteckig geschliffene Diamanten!«

 

»Diese Form ist nicht ungewöhnlich«, erklärte Mark. »Ein Juwelier hat dieses Stück für mich gearbeitet.«

 

Auch Tiser bewunderte den Schmuck begeistert.

 

»Achteckige Diamanten!« wiederholte Ann langsam. »Ist nicht in der Bond Street vor ungefähr zwei Monaten ein großer Einbruch verübt worden? Richtig, damals wurden doch auch achteckige Diamanten gestohlen. Ein gewisser Smith hat dabei einen Angestellten der Firma erschossen.

 

Sie sah, daß sich Mark verfärbte.

 

»Nun seien Sie doch nicht komisch! Es gibt Tausende von achteckigen Diamanten, Sie glauben doch nicht, daß ich Ihnen gestohlene Edelsteine schenken würde …?«

 

Sie drückte ihm das Etui hastig wieder in die Hand. In ihren Zügen zeigte sich Entsetzen.

 

»Als wir damals im Gang vor den Zellen warteten, brachten sie den Mörder Smith«, sagte sie leise. »Wir wurden in unsere Zellen zurückgeführt und eingeschlossen, damit wir nicht das Gesicht dieses schrecklichen Menschen sehen sollten. Es war fürchterlich!«

 

»Sie sehen Gespenster!« rief Mark böse und klappte das Etui heftig zu. »Was ist nur mit Ihnen los?« Er wandte sich plötzlich an Tiser und wies in nicht mißzuverstehender Weise mit dem Kopf nach der Tür. »Ich werde später mit dir sprechen.«

 

Tiser schüttelte Ann die Hand. Der Druck seiner feuchten Finger war ihr unangenehm.

 

»Ich habe viel zu tun. Zunächst muß ich zur Polizeistation gehen und nach diesen armen Kerlen sehen, die sie gefangengesetzt haben. Die Polizei würde sie einfach verhungern lassen, wenn sie könnte. Gute Nacht, Miss Perryman!«

 

Mark wartete, bis sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte.

 

»Nun setzen Sie sich, Ann, und seien Sie wieder gut und vernünftig. Irgend etwas stimmt mit Ihnen nicht – sprechen Sie sich doch aus.«

 

Sie legte ihre Handtasche auf den Tisch und ging zum Kamin.

 

»Was Sie vorhin über unseren Verdienst sagten, ist richtig«, begann Mark leichthin. »Der Gewinn war in der letzten Zeit nicht so gut, wie er eigentlich sein sollte. Ich habe mir tatsächlich schon überlegt, wie wir die Unkosten verringern könnten.«

 

»Ich werde wahrscheinlich einer der größten Posten auf dem Ausgabenkonto sein«, erwiderte sie, ohne den Kopf zu wenden.

 

»Ja, das stimmt.« Er lächelte. »Wenn ich es überschlage, wird Ihre Wohnung drüben etwa zweihundert Pfund im Jahr kosten.«

 

Jetzt wandte sie sich ihm zu.

 

Ich habe ja schon immer billiger wohnen wollen, Mark.«

 

Aber er lachte nur laut.

 

»Ich will Sie doch nicht auf die Straße setzen, meine Liebe! Das ist keineswegs meine Absicht …«

 

Er vermied es aber, ihr in die Augen zu sehen, und betrachtete das Teppichmuster.

 

»Ich habe hier zwei Zimmer, die ich überhaupt nicht benutze …«

 

»Sie meinen in dieser Wohnung?« fragte sie schnell. »Sie denken doch nicht etwa daran, daß ich in diese beiden Zimmer ziehen soll?«

 

»Es wäre doch nichts Schlimmes dabei«, meinte er, aber sie schüttelte lächelnd den Kopf.

 

»Das würde auch nicht viel billiger sein – für mich.«

 

»Aber jetzt ist die Sache doch eigentlich recht unpraktisch eingerichtet. Überlegen Sie doch einmal«, sagte Mark freundlich. »Sie sitzen drüben allein in der großen Wohnung, und ich sitze hier allein. Keiner von uns kann den Platz gebrauchen, der ihm zur Verfügung steht!«

 

Aber offenbar war sie anderer Meinung.

 

»Fürchten Sie, daß Sie ins Gerede kommen?« neckte er sie.

 

»Ach, nein, das kümmert mich nicht. Tiser hat uns ja eben selbst daran erinnert, daß man über mich in der Herberge und in den Gefängnissen spricht.«

 

Er trat an ihre Seite und klopfte ihr auf die Schulter.

 

»Sie denken, die Leute glauben, wir leben zusammen – wie Bradley es auch annimmt.«

 

Sie sah schnell auf. »Nimmt er das an?«

 

»Natürlich! Er hat es Ihnen doch im Gerichtssaal ins Gesicht gesagt!«

 

Sie lächelte ungläubig.

 

»Nein. Er sagte nur: ›Wenn Sie den Weg noch nicht gegangen sind.‹ Aber er war damals wütend auf mich – er hätte in seiner Erregung wohl noch ganz andere Dinge gesagt.«

 

Er faßte sie vorsichtig am Arm, aber zu seinem Verdruß machte sie sich sofort wieder frei.

 

»Es würde keinen größeren Triumph für Sie geben. Sie wollten doch diesen Schuft tödlich treffen, und das war auch meine Absicht. Sie können ihn nicht tiefer und schwerer verletzen, als wenn Sie –« er machte eine bedeutsame Pause – »Ihre Wohnung ändern.«

 

»Vielleicht würde das mich am meisten treffen« erwiderte sie ruhig.

 

Er hielt es für ratsam, ihr im Augenblick nicht zu widersprechen.

 

»Dieser Bradley ist ein merkwürdiger Kerl. Ronnie sprach oft stundenlang mit ihm, man könnte fast sagen, daß sie Freunde waren …«

 

Er brach plötzlich ab und fluchte innerlich über sich selbst. Wie kam es nur, daß er sich in letzter Zeit so entsetzlich gehenließ? An ihrem Erstaunen erkannte er, daß sie schon aufmerksam geworden war:

 

»Nun ja, sie waren nicht direkt Freunde …«

 

»Aber Sie haben mir doch früher ausdrücklich gesagt, daß die beiden die größten Feinde waren …«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Das stimmt auch«, sagte er laut, aber sie schien nicht überzeugt zu sein.

 

»Ich kann kaum mehr glauben, daß Bradley meinen Bruder getötet hat – es wird mir von Tag zu Tag schwerer. Ich weiß nicht, woher das kommt, aber es ist nun einmal so. Bradley hat doch auch gesagt, daß er Ronnies Freund war – und nun haben Sie es bestätigt«, fügte sie leise hinzu.

 

Mark McGill fühlte sich unbehaglich.

 

»Es bestand also doch eine Art Freundschaft zwischen ihnen? Wissen Sie, Mark, Sie haben mich wirklich beunruhigt!«

 

»Es liegt gar kein Grund zur Beunruhigung vor«, sagte er etwas erregt.

 

Er hatte sich in einer Sackgasse gefangen, aus der es kein Entrinnen gab, wenn er nicht den Rückweg antrat.

 

Ann stand am Kamin und starrte in das Feuer.

 

»Ist es nicht möglich, daß Bradleys Angaben richtig sind? Ich meine nicht über Ronnie, ich denke jetzt an die Ware, die ich im Auto transportierte – waren es Rauschgifte?«

 

Er lachte gezwungen auf.

 

»Großer Gott, Sie glauben doch nicht, was Bradley Ihnen sagt? Der Mann hat immer gelogen. Der durchschnittliche Polizeibeamte lügt mehr als der durchschnittliche Verbrecher. Rauschgifte! Was für eine schreckliche Anklage erheben Sie da gegen mich!«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Ich habe es niemals glauben wollen – ich habe Ihnen blind vertraut –, der Gedanke, daß ich Ronnies Werk fortsetzte, erfüllte mich mit Genugtuung, so daß ich nicht weiter darüber nachdachte. Aber ich bin davon überzeugt, daß ich töricht gehandelt habe.«

 

»Steter Tropfen höhlt den Stein. Heißt es nicht so im Sprichwort? Bradley hat durch seine dauernden Reden tatsächlich Ihr Zutrauen zu mir und uns allen untergraben. Ann, Sie fangen an, ihm zu glauben!«

 

»Ich kann diesen Smith nicht vergessen. Zufällig war das Guckloch in meiner Zelle offen, und ich sah ihn, als er vorbeigeführt wurde – er war wie ein wildes Tier.«

 

»Gestern ist er zum Tode verurteilt worden«, sagte Mark rücksichtslos. Ann stieß einen Schreckensruf aus. »Nun, das ist doch ganz klar: Wenn jemand so etwas tut, dann muß er eben auch die Folgen dafür tragen. Er wird mit Mr. Steen, dem Henker, zusammenkommen.«

 

»Aber Mark!« rief sie entsetzt.

 

Er grinste.

 

»Ich bin nur froh, daß Tiser damals Mr. Steen nicht gesehen hat. Er hätte tausend Anfälle und Krämpfe bekommen. Ich möchte wetten, daß er tot umgefallen wäre!«

 

»Sie müssen eiserne Nerven haben!«

 

»Ich habe überhaupt keine«, erwiderte Mark liebenswürdig. »Nun wollen wir aber wieder einmal über das Zusammenlegen der Wohnung sprechen. Meiner Meinung nach werden Sie sich hier sehr wohl fühlen. Von mir sehen Sie nicht mehr, als Sie wünschen. Und um Ihnen die Sache leichter zu machen, werde ich neue Dienstboten engagieren.«

 

»Warum denn?« fragte sie schnell.

 

»Nun, es wäre dann weniger peinlich.«

 

Mark geriet in Verlegenheit, als er ihr ruhiges Lächeln sah.

 

»Ach so«, sagte sie dann.

 

Plötzlich packte ihn ein wildes, heißes Verlangen nach ihr, das ihm alle Besinnung raubte. Sie stand dicht vor ihm – er brauchte nur seine Hand auszustrecken, um sie zu berühren. Im nächsten Augenblick riß er sie an sich und küßte ihre bleichen Lippen. Sie wehrte sich nicht, aber sie blieb starr aufgerichtet stehen. Ihre kalte Unnahbarkeit flößte ihm Furcht ein, und er gab sie wieder frei.

 

Ruhig trat sie an den Tisch, auf dem ihre Handtasche lag, öffnete sie und nahm etwas heraus.

 

»Sehen Sie dies, Mark?«

 

Er erkannte einen kleinen Browning.

 

»Aber warum tragen Sie denn eine Schußwaffe bei sich?« fragte er atemlos.

 

Sie antwortete ihm nicht.

 

»Wenn Sie mir das nächstemal zu nahe kommen, schieße ich Sie nieder!«

 

Ihre Stimme klang stahlhart, und Mark erschrak.

 

»Sie machen eine Szene wegen nichts«, sagte er schließlich.

 

In diesem Augenblick klopfte es an die Tür.

 

»Für mich ist es bedeutungsvoll genug«, erwiderte sie und verließ das Zimmer.

 

Im Flur traf sie Mr. Sedeman, den großen, alten Mann mit der patriarchalischen Gestalt. Als sie ihn sah, vergaß sie für einen Augenblick ihren Ärger.

 

»Guten Abend, meine liebe Miss Perryman«, sagte er in seiner vornehmen Weise. »Sehen Sie, nun bin ich wieder aus dem Gefängnis heraus. Sie hatten tatsächlich damals Glück.«

 

Sie lachte.

 

»Wenn ich Sie höre, fühle ich mich als Ihre Leidensgenossin, Mr. Sedeman. Es tat mir so leid, daß man Sie verurteilt hatte.«

 

»Sie kennen ja die Polizei auch, meine Liebe. Die Leute machen vor nichts halt, und es ist ihnen ganz gleich, ob sie die Existenz eines braven, ehrenwerten Menschen vernichten. Ich werde noch einmal ein Buch darüber schreiben«, fügte er ernst hinzu.

 

Mark kam auch auf den Gang heraus. Obwohl im Mr. Sedeman nicht willkommen war, freute er sich im Augenblick doch über seinen Besuch, da Ann dadurch in andere Stimmung gebracht wurde. Sie hatte etwas für diesen alten Sünder übrig und trat wieder mit ihm in das Wohnzimmer ein, ohne daß Mark sie besonders dazu auffordern mußte. Sie sah Marks Erleichterung und lächelte.

 

»Haben Sie Ihren Hausmeister fortgeschickt?« fragte Sedeman harmlos. »Er war ein netter Kerl – er bot mir früher immer etwas an.«

 

Mark zeigte auf den Schrank.

 

»Dort finden Sie etwas zu trinken. Wo wohnen Sie jetzt?«

 

»Ich habe es aufgegeben, in der Herberge zu logieren, und habe ein anderes Quartier. Der Mann meiner Wirtin ist allerdings schon wieder recht beleidigend zu mir gewesen. Ich mag sie ganz gern, aber Sie müssen nicht denken, daß etwas Unrechtes passiert ist.«

 

Offensichtlich wollte er McGill allein sprechen. Als Ann eine Bemerkung darüber machte, gab Sedeman dies auch ohne weiteres zu. Wenn es sich um geschäftliche Dinge handelte, machte er wenig Umstände. In der Tür drehte sie sich noch einmal um.

 

»Haben Sie gehört, Mark, was Mr. Sedeman über das Zusammenleben mit einer hübschen Frau in derselben Wohnung sagte?«

 

Sie wartete nicht auf die Antwort, sondern schloß die Tür hinter sich.

 

»Was wünschen Sie?« fragte Mark in seinem unfreundlichsten Ton, als sie allein waren.

 

»Ich möchte ein wenig pekuniäre Unterstützung haben. Am Montag muß ich eine große Rechnung zahlen – es ist für meinen Arzt …«

 

Mark kniff die Augen zusammen.

 

»Wie lange soll das noch so weitergehen?«

 

»Ich hoffe, daß es so schnell kein Ende nimmt«, entgegnete Mr. Sedeman fromm.

 

Mark sah ihn wütend an, aber sein Besucher schien das nicht zu bemerken.

 

»Denken Sie denn, ich gehöre zu den Leuten, die sich dauernd erpressen lassen? Ich glaube überhaupt nicht, daß Sie damals in Lady’s Stairs etwas gesehen haben.«

 

»Habe ich auch nicht behauptet, aber ich war zu der Zeit im Haus. Sie wußten es nicht, bis ich es Ihnen später erzählte. Ich habe für den lieben alten Li immer die Botengänge gemacht. Soviel ich weiß, wollte er an jenem Abend noch einen höchst wichtigen und interessanten Brief nach Scotland Yard schicken. Geradeheraus gesagt, es war eine Anzeige. Ich wartete unten …«

 

»Li Yoseph ging aus«, sagte Mark langsam.

 

»Ich habe ihn gehört«, erwiderte Sedeman ruhig. »Er hat das Haus mit großem Spektakel verlassen!«

 

McGill ging zu der Tür und vergewisserte sich, daß Ann sie fest geschlossen hatte.

 

»Ist Ihnen noch nie der Gedanke gekommen, daß ich mit Ihnen auch einmal sehr schnell zu einem Ende kommen kann, wenn ich mit Li Yoseph fertig geworden bin?«

 

Mr. Sedeman murmelte etwas von ›Respekt vor dem Alter‹.

 

»Ich weiß, daß Sie nur alles vermuten. Aber nehmen wir einmal an, Ihre Vermutung wäre richtig, und Tiser würde alles anzeigen. Ist es Ihnen klar, daß Sie dann selbst bis über die Ohren in der Geschichte stecken?«

 

Mr. Sedeman sah sich unbehaglich in dem Zimmer um.

 

»Mr. Tiser wird niemals eine solche Schurkerei begehen. Ich kann mir wenigstens nicht vorstellen, daß er gegen den Mann, dem er alles verdankt, etwas unternimmt.«

 

Mark lächelte.

 

»Nun erscheint Ihnen die Sache doch in einem anderen Licht, was?«

 

Mr. Sedeman antwortete erst, nachdem er sich ein neues Glas Whisky eingeschenkt hatte.

 

»Wirklich gesehen habe ich nichts – ich habe alles nur vermutet. Ich habe Ihnen nur eine interessante Theorie erzählt, und Sie waren so liebenswürdig, mich zu unterstützen. Ich kann doch nichts dagegen tun, wenn die Leute gut und freundlich zu mir sind.«

 

Mark nahm eine Banknote aus seiner Tasche, prüfte sorgfältig, ob es auch nur ein Schein war, und schob sie ihm über den Tisch zu.

 

»Hier haben Sie zehn Pfund. Ich wünsche aber, daß Sie nicht soviel saufen und sich sobald nicht wieder hier sehen lassen.« Er zog ein flaches, goldenes Etui aus der Tasche, öffnete es und bot es ihm an. »Wenn Sie einmal eine Prise nehmen wollen – Sie werden über die großartige Wirkung erstaunt sein. Haben Sie diesen Stoff schon einmal probiert?«

 

Mr. Sedeman beugte sich herunter, um den kristallinischen Inhalt genauer zu betrachten.

 

»Sie wollen mich wohl auf Abwege bringen?« fragte er vorwurfsvoll.

 

»Sie werden von einer solchen Prise mehr Anregung und Vergnügen haben als von der größten Flasche Whisky«, sagte Mark ermunternd.

 

Plötzlich nahm ihm Sedeman das Etui aus der Hand, ging zum Kamin und schüttete den Inhalt ins Feuer, bevor Mark erkannte, was geschah.

 

»Sie verdammter, alter Esel – geben Sie mir sofort das Etui zurück!« rief Mark wild und packte Sedeman am Arm. Aber der Alte stieß ihn mit Leichtigkeit von sich, so daß Mark gegen den Tisch taumelte.

 

»Ich werde Ihnen das Genick umdrehen«, schrie er atemlos und bestürzt über die Stärke des Alten.

 

»Der Mann, der mir das Genick umdreht, muß erst noch geboren werden!«

 

Mark erinnerte sich etwas zu spät daran, daß Sedeman trotz seines Alters seit vierzig Jahren wegen seiner Körperkraft gefürchtet war.

 

»Versuchen Sie es nur, mir nahe zu kommen, mein Junge«, sagte er drohend zu Mark. »Dann gebe ich Ihnen einen Kinnhaken, daß Sie denken, Sie haben einen Puff von einer Dampfwalze gekriegt! Ich mag alt sein, aber ich habe noch Kraft!«

 

»Ja, Sie haben noch gute Muskeln – Sie Methusalem!«

 

»Das ist ein Kompliment für mich. Ich weiß, daß ich Ihnen da für fünf Pfund Koks ins Feuer geschüttet habe, aber das ist ein gemeines Zeug, mein Junge. Die Leute, die das nehmen, töten sich und andere oder enden im Irrenhaus. Wenn Sie mich schon in Versuchung bringen wollen, dann bieten Sie mir lieber einen recht guten, alten schottischen Whisky an – dafür bin ich zu haben.«

 

Plötzlich hörten sie eilige Schritte, und gleich darauf trat Tiser atemlos ein. Er war bleich und aufgeregt und konnte zuerst kein Wort hervorbringen. Mark wandte sich an Sedeman.

 

»Wir sind ja fertig miteinander – nehmen Sie Ihr Geld und verduften Sie.«

 

Der Alte steckte zufrieden auch den zweiten Schein ein, der ihm gereicht wurde; Mark hatte durch die Störung vergessen, daß er Sedeman schon eine Zehnpfundnote gegeben hatte. Aber der Alte zögerte noch zu gehen.

 

»Sie brauchen sich vor mir nicht zu genieren – Sie können in meiner Gegenwart ruhig alles sagen.«

 

Mark klingelte. Gleich darauf erschien der Hausmeister.

 

»Bitte, begleiten Sie Mr. Sedeman zur Haustür.«

 

Als sich die Tür geschlossen hatte, wandte sich Mark unwillig an Tiser.

 

»Was gibt es schon wieder?«

 

»Einer dieser Kerle hat der Polizei alles gesteckt«, sagte Tiser, der sich nur mühsam erholte.

 

»Was für ein Kerl?«

 

»Es ist einer von denen, die Bradley beiseite bringen wollten – es ist der Fahrer.«

 

Mark runzelte die Stirn.

 

»Wen meinst du? Was hat denn der verraten können?«

 

Als Tiser den Namen nannte, erinnerte sich Mark. Es war ein kürzlich aus dem Gefängnis entlassener Lastwagenfahrer, der früher in seinen Diensten gestanden hatte.

 

»Die ganzen Autokolonnen der Polizei sind angesetzt, um unsere Depots auszukundschaften«, sagte Tiser zitternd. »Unsere einzige Hoffnung ist, daß dieser Kerl nicht angeben kann, wo der Stoff liegt. Er weiß nur, daß es eine Garage in London ist. Bradleys Leute sind dabei, alle Garagen systematisch zu durchsuchen. Und gestern ist doch die größte Lieferung gekommen, die wir jemals erhalten haben …«

 

Mark brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen.

 

»Sie haben schon die letzte Woche Garagen durchsucht.«

 

Die Situation war gefährlich. Wenn die Polizei wirklich wußte, welche Mengen Rauschgift in der letzten Zeit durch ihn verteilt worden waren, dann drohte ihm der Ruin, Gefängnis, Zuchthaus … Das Unglück konnte sofort hereinbrechen. Wenn ihn jetzt jemand nervös machte, so war es Tiser. Dieser heruntergekommene Mensch war des gemeinsten Verrats fähig.

 

»Ich werde dafür sorgen, daß der Stoff fortgeschafft wird.«

 

»Das wird aber verdammt schwierig sein«, wimmerte Tiser. »Auf allen Straßen, die aus London herausführen, patrouillieren die Autokolonnen des Spezialdienstes. In Savernake und Staines werden die Wagen angehalten und durchsucht – auf diese Weise habe ich ja erst erfahren, daß etwas im Gange ist. Ich habe schon lange vermutet, daß etwas nicht stimmt.«

 

»Alle Kolonnen des Spezialdienstes sind unterwegs?«

 

»Ja, Bradley hat die Oberleitung.«

 

Mark ging in dem großen Zimmer auf und ab.

 

»Der Stoff muß aus London hinaus«, sagte er halb zu sich selbst.

 

Tiser machte eine verzweifelte Geste.

 

»Wer es unternimmt, das Zeug fortzuschaffen, wird geschnappt.«

 

»Ob jemand geschnappt wird oder nicht, die Ware muß fort. Es ist leicht herauszubekommen, daß ich die Garage gemietet habe – außerdem ist noch ein Dutzend Pistolen dort versteckt.«

 

Die beiden sahen sich eine Weile an, ohne zu sprechen, jeder las die Gedanken des andern.

 

»Wir können nicht riskieren, daß Ann die Fahrt macht – oder meinst du doch?«

 

Mark biß sich auf die Lippen.

 

»Warum nicht? Es ist besser, daß die Polizei das Zeug in ihrem Auto als in meiner Garage findet.«

 

Obwohl Tiser ein ganz verkommener Mensch war, empfand er doch die Gemeinheit dieses Plans.

 

»Aber Mark! Das geht doch nicht! Wenn du sie losschickst, wird die Polizei sie bestimmt erwischen. Du weißt doch, wie schlau Bradley ist, und wenn er sie zum zweitenmal faßt … Nein, das kannst du nicht tun!«

 

»Warum denn nicht?« fragte Mark kühl. »Bradley hat sie doch ganz gern, er hat sie ja schon einmal in Schutz genommen und entkommen lassen. Warum sollte er es diesmal nicht wieder tun? Wenn sie den Stoff dort in der Garage finden, bekomme ich eine böse Klage an den Hals. Ich würde unter zehn Jahren Zuchthaus nicht davonkommen. Das Schlimmste, was ihr passieren kann, sind sechs Monate.«

 

»Aber, mein lieber Mark«, sagte Tiser fast weinerlich. »Du kannst doch nicht dulden, daß das nette Mädchen ins Gefängnis gesteckt wird!«

 

Mark sah ihn düster an.

 

»Nun gut, dann wirst du die Sache fortschaffen, du kannst ja auch ein Auto lenken.«

 

Tiser schwieg, und Mark erwartete auch keine Antwort. Er klingelte nach Ledson.

 

»Kann ich einmal nach der Herberge telefonieren?« fragte Tiser. »Ich habe dort einen Mann zurückgelassen, der weitere Informationen sammeln soll. Ich möchte nur wissen, wie weit sie jetzt sind.«

 

Mark schüttelte den Kopf.

 

»Von diesem Telefon aus wird nicht gesprochen«, sagte er kurz. »Unten in der Regent Street ist eine Telefonzelle – geh dorthin, ich werde dich begleiten.«

 

Ledson trat ins Zimmer.

 

»Bringen Sie mir meinen Mantel und meinen Hut. Ich gehe für einige Minuten fort.«

 

»Was bist du doch für ein verdammter Feigling, Tiser«, sagte Mark, als Ledson gegangen war. »Im Schrank steht ein scharfer Whisky.«

 

Aber Tiser hatte schon selbst den Weg zu dem Schrank gefunden. Mark hörte, wie eine Flasche an das Glas schlug, das sich der Mann mit zitternder Hand einschenkte.

 

Ledson kam mit Hut und Mantel zurück.

 

»Bitten Sie Miss Perryman, in einigen Minuten herüberzukommen. Es handelt sich um eine wichtige Sache.«

 

Es kam nun auf jede Minute an. Mark war sich der Gefahr der Lage voll bewußt. Es mochte kommen, wie es wollte, der Stoff mußte aus London fortgeschafft werden. Und es gab nur eine Person, die er mit dieser Aufgabe betrauen konnte – Ann. Es war nicht nötig, daß Ledson zu ihr hinüberging; als Mark die Tür hinter sich schloß, rief sie an, und der Diener konnte ihr seinen Auftrag telefonisch ausrichten.

 

Er räumte gerade das Zimmer auf, als es an die Tür klopfte. Der Mann, den er erwartet hatte, stand vor ihm.

 

»Bitte, treten Sie näher, Mr. Bradley«, sagte Ledson etwas nervös und folgte dem Detektiv in das Wohnzimmer. »Mr. McGill wird bald zurückkommen. Ich dachte, Sie kämen erst später.«

 

»Wo ist er denn hingegangen?«

 

»Er wollte von einer öffentlichen Fernsprechzelle aus telefonieren. Ich glaube, es ist besser, wenn ich fortgehe – ich kann ja nachher sagen, daß Sie mich fortgeschickt haben.«

 

Bradley nickte. Als er allein war, ging er im Zimmer umher. Er machte keinen Versuch, die Papiere und Briefe durchzusehen, die auf Marks Schreibtisch lagen, oder das Zimmer sonst zu durchsuchen.

 

Nach einiger Zeit hörte er, daß die Wohnungstür aufgemacht und wieder geschlossen wurde. Er wandte sich um und erwartete, daß Mark ins Zimmer treten würde; aber es war Ann, die in der Tür stand und ihn bestürzt und überrascht ansah.

 

»Guten Abend«, sagte Bradley ernst.

 

»Ja, aber … guten Abend, Mr. Bradley«, stotterte sie. Ihre Stimme und ihr Benehmen verrieten ihre Verlegenheit.

 

Ledson, der das Haus noch nicht verlassen hatte, trat in diesem Augenblick in das Zimmer.

 

»Es ist schon gut, Ledson, ich habe mir selbst aufgeschlossen«, sagte sie hastig. »Mr. McGill hat mir heute morgen den Schlüssel geliehen.« Sie betonte die letzten Worte besonders und legte den kleinen, flachen Schlüssel ostentativ auf den Tisch. »Erinnern Sie bitte Mr. McGill daran, daß ich ihn hierhergelegt habe.

 

Ich trage gewöhnlich nicht die Schlüssel anderer Leute mit mir herum«, erklärte sie, als der Hausmeister sich entfernt hatte. Es lag ein gewisser Trotz in ihrem Ton, als ob sie Bradley zu einer Entgegnung herausfordern wollte.

 

»Davon bin ich überzeugt«, sagte er lächelnd.

 

Es entstand eine peinliche Pause.

 

»Wollen Sie nicht Platz nehmen?« Er rückte ihr einen Stuhl zurecht.

 

»Ich habe mir schon oft überlegt, was ich Ihnen sagen wollte, wenn ich wieder die Möglichkeit hätte, mit Ihnen zu sprechen. Neulich abends kam ich nicht dazu. Ich muß gestehen, daß ich mich über mein Benehmen Ihnen gegenüber schäme.«

 

Er wußte sofort, worauf sie anspielte.

 

»Ich glaube, Sie waren an jenem Tag sehr aufgeregt und nicht ganz normal.«

 

»Ja, das mag sein … ich bin froh, daß Sie so denken. Es ist sehr großzügig von Ihnen. Vor allem freue ich mich, daß Sie durch mein törichtes Verhalten keine weiteren Unannehmlichkeiten gehabt haben.«

 

Sie nahm den Schlüssel wieder vom Tisch auf und spielte damit. Er merkte, daß sie seine Aufmerksamkeit absichtlich darauf lenken wollte.

 

»Es ist doch sonderbar, daß ich mir heute abend selbst diese Tür aufgeschlossen habe. Mr. McGill lieh mir den Schlüssel, weil ich hereinkommen sollte, als er ausgegangen war. Ich wollte etwas suchen … manchmal bin ich so zerstreut, daß ich Sachen liegenlasse … Ich bin in letzter Zeit so vergeßlich und nachlässig … ich will damit aber nicht sagen, daß ich öfters hierherkomme.«

 

Je mehr sie sich entschuldigen wollte, desto verwirrter wurde sie. Bradley lächelte innerlich darüber.

 

»Ja, es kann manchmal sehr unangenehm sein, wenn man einen Schlüssel hat.«

 

»Aber ich komme wirklich nicht oft hierher – ich glaube, ich habe ihn nur einmal von Mr. McGill geliehen.« Sie lachte nervös. »Ich weiß überhaupt nicht, warum ich Ihnen das alles erzähle. Aber Sie gehören sicher nicht zu den Leuten, die schlecht über andere denken …«

 

Bradley dachte allerdings im allgemeinen nicht gut von den Menschen, aber sie machte eine Ausnahme. Als er ihr das sagte, freute sie sich kindlich darüber.

 

»Ist das auch wirklich Ihr Ernst?«

 

»Ich denke viel besser über Sie, als Sie über mich«, erwiderte er.

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Ich weiß nicht, wie ich es Ihnen sagen soll, aber ich wünschte, ich könnte wieder gutmachen, was ich Ihnen angetan habe. Es war schrecklich, daß ich Sie schlug und daß ich Ihnen diese bösen Dinge an den Kopf warf.«

 

»Ich will Ihnen sagen, wie Sie es wieder gutmachen können. Sie müssen mir das feierliche Versprechen geben, heute nacht unter keinen Umständen Ihre Wohnung zu verlassen.«

 

»Ich habe gar nicht die Absicht auszugehen.«

 

»Es mag sein, daß Sie jetzt noch nicht die Absicht haben«, unterbrach er sie. »Aber Sie müssen mir versprechen, sich durch nichts dazu bestimmen zu lassen – hören Sie, unter gar keinen Umständen!«

 

»Ich will es Ihnen versprechen.«

 

»Ehrenwort?«

 

»Ehrenwort!« erklärte sie feierlich.

 

Sie reichten sich die Hände. Sie sah deutlich, daß er sich erleichtert fühlte, und fragte ihn, warum er ihr das Versprechen abgenommen habe. Aber er sagte nur, daß es eine schreckliche Nacht sei und daß sie deshalb besser zu Hause bliebe. Seine Begründung erschien ihr aber in keiner Weise überzeugend.

 

»Ich meine, es ist besonders gefährlich, in der Dunkelheit ein Auto zu lenken.«

 

Ann sah ihn ruhig an.

 

»Sie glauben, es könnte mir heute nacht etwas zustoßen? Sie sind wirklich mein Schutzengel! Aber das ist doch gar nicht möglich? Sie haben doch vorsichtshalber schon dafür gesorgt, daß mir der Führerschein entzogen wurde.«

 

»Es soll schon vorgekommen sein, daß Leute auch ohne Führerschein ausgefahren sind«, meinte er gutgelaunt.

 

Die Unterhaltung stockte.

 

»Haben Sie sich eigentlich – aber das wollte ich Sie nicht fragen …«, brach sie plötzlich das Schweigen.

 

»Fragen Sie nur«, ermutigte er sie.

 

»Haben Sie sich – um Ronnie auch so gesorgt, wie Sie sich um mich bemühen?«

 

»Ich habe es versucht«, erwiderte Bradley ruhig, »aber Sie glauben mir das ja nicht.«

 

Ann seufzte schwer.

 

»Ich glaube es Ihnen jetzt.«

 

In diesem Augenblick hörten sie, daß die Wohnungstür geöffnet wurde.

 

Gleich darauf trat Mark mit düsterem Gesicht ein.

 

»Nun, Bradley, was wünschen Sie?«

 

Der Detektiv sah an ihm vorbei und bemerkte Tiser, der seinen Hut draußen aufhängte. Er wartete, bis er hereingekommen war.

 

»Ich möchte ein wenig mit Ihnen sprechen.«

 

»Freundschaftlich?« fragte Mark brummig.

 

»Mehr oder weniger, ja«, entgegnete Bradley kühl.

 

Mark schaute auf Ann.

 

»Es ist gut, meine Liebe. Ich werde in fünf Minuten mit Ihnen reden.«

 

Aber Bradley unterbrach ihn.

 

»Miss Perryman kann alles hören, was ich Ihnen zu sagen habe. Es handelt sich um Li Yoseph.«

 

Mark war sichtlich beruhigt.

 

»Ach so. Ich sah einige Autos Ihrer Kolonne unterwegs – sagen Sie mir nur nicht, daß Sie Li Yoseph gefunden haben. Ich bin davon überzeugt, daß er nach Holland gegangen ist – an demselben Abend, an dem er verschwand, fuhr ein großer holländischer Dampfer den Strom hinunter, und Li war mit allen Kapitänen befreundet.«

 

Ein fast unmerkliches Lächeln spielte um Bradleys Mund.

 

»Ja, das ist Ihre Theorie. Nun ja, wir haben schon seit einem Monat die Nachforschungen bei Lady’s Stairs eingestellt.«

 

»Vor einem Monat?« wiederholte Mark mit leichter Ironie. »Ein ganzes Jahr nach seinem Verschwinden? Die Polizei hat wirklich große Geduld und Ausdauer.«

 

»Ja, Geduld ist unsere Haupttugend.«

 

»Die meine besteht darin …« begann Mark.

 

»Andere Leute an den Bettelstab zu bringen«, sagte Bradley schnell. »Sie hatten doch Li Yoseph gern, Miss Perryman?«

 

»Ja, ich habe ihn zwar nur einige Minuten gesehen, aber es war etwas Besonderes an ihm – ich möchte fast sagen, etwas harmlos Liebenswürdiges. Die Kinder, mit denen er immer sprach – ich glaubte fast, sie selbst zu sehen.«

 

»Es war aber doch schrecklich. Auf die Dauer fiel einem das auf die Nerven«, warf Tiser mit seiner unangenehmen Stimme dazwischen. Er duckte sich hinter McGills breiten Rücken, als Bradley zu ihm hinsah.

 

»Hallo, Tiser, Sie sind ja auch hier! Fiel Ihnen Li Yoseph auf die Nerven?«

 

»Was wollen Sie denn über den Alten wissen?« fragte Mark barsch.

 

»Wissen Sie, wo Li Yoseph sich zur Zeit aufhält?« fragte Bradley.

 

»Ich habe Ihnen doch schon gesagt, daß ich das nicht weiß. Sie tun verflucht geheimnisvoll, Inspektor.«

 

»Mehr oder weniger haben wir stets mit ungelösten Geheimnissen zu tun«, sagte Bradley kühl. Er begegnete Anns Blick. »Sie haben sich natürlich nicht vor ihm gefürchtet«, meinte er lächelnd, nahm seinen Hut und ging zur Tür. »Gute Nacht, Miss Perryman – es ist ein scheußliches Wetter draußen.«

 

Sie wußte wohl, was er meinte.

 

»Gute Nacht, McGill – vermutlich werde ich Sie heute nacht nicht auf der Great West Road treffen.«

 

Nachdem er gegangen war, schwiegen alle.

 

»Was wollte er nur?« fragte Mark schließlich.

 

»Dieser Mann ist unmenschlich, Mark«, sagte Tiser nervös. »Da steckt irgend etwas dahinter – scheußliches Wetter – Great West Road –, glaubst du, er weiß Bescheid?«

 

Mark sah, daß sich Ann zur Tür wandte, und hielt sie zurück.

 

»Gehen Sie bitte noch nicht. Hoffentlich sind Sie noch nicht müde?«

 

»Warum?«

 

Mark schaute zu Tiser hinüber.

 

»Ich brauche heute nacht Ihre Hilfe, Ann.«

 

Tiser wäre am liebsten verschwunden.

 

»Kann ich nicht nach Hause gehen, Mark?« bat er. »Ich fühle mich wirklich nicht wohl.«

 

»Du bleibst hier. Du wirst Ann zur Garage begleiten.«

 

Sie schaute bei diesen Worten auf.

 

»Habe ich recht gehört – zur Garage – heute abend noch?«

 

»Ja, zur Edgware Road«, entgegnete Mark leichthin. »Ich habe Ihren Wagen nach jenen Vorkommnissen dort untergebracht. Ich dachte, es wäre besser, falls irgendein Zwischenfall einträte – und das ist heute abend geschehen.«

 

Sie kam wieder ins Zimmer und setzte sich auf einen Stuhl.

 

»Ich weiß, Sie werden mir helfen, Ann. Ich bin wirklich in großer Verlegenheit. Zehn Kilo von dem Stoff sind in der Garage – außerdem ein Dutzend Brownings. Sie finden den Kasten mit den Waffen direkt hinter den Benzinbehältern.«

 

»Brownings?« fragte sie verwirrt.

 

»Ja, ich habe sie aus Belgien zum Verkauf erhalten«, erwiderte Mark nervös. »Man kann sie hier mit großem Verdienst wieder veräußern. Alle Sachen müssen noch in dieser Nacht nach Bristol gebracht werden. Dort habe ich einen Agenten, der sie an einen sicheren Platz schafft.«

 

»Miss Perryman. Sie haben es doch früher auch getan«, flehte Tiser. »Es ist ja nur eine Kleinigkeit …«

 

»Bradley ist auch nicht im Dienst heute nacht«, fuhr Mark fort. »Sie dürfen natürlich nicht die Bath Road nehmen. Fahren Sie über Uxbridge und biegen Sie dann …«

 

»Nein, ich kann nicht fahren« sagte Ann entschieden.

 

Mark kniff die Augenlider zusammen.

 

»Wie, Sie können nicht? Das soll wohl heißen, daß Sie nicht wollen?«

 

»Ich kann dieses Haus heute nacht nicht verlassen. Das muß Ihnen genügen. Abgesehen davon habe ich doch auch keinen Führerschein. Diese Kleinigkeit scheinen Sie ganz zu übersehen.«

 

»Ach, das weiß niemand. Sie würden mir wirklich den größten Gefallen tun!«

 

Ann schüttelte den Kopf.

 

»Ann, was haben Sie denn?«

 

»Ich werde heute nacht nicht aus dem Haus gehen«, wiederholte sie langsam und bestimmt. »Wenn Sie wollen, werde ich morgen fahren, aber heute nicht.«

 

»Morgen ist es zu spät«, erwiderte Mark düster. »Seien Sie doch vernünftig, Ann. Sie wissen genau, daß ich nicht darauf bestehen würde, wenn es nicht ganz dringend wäre. Ebensogut wissen Sie, daß ich Sie nicht schicken würde, wenn eine Gefahr für Sie damit verbunden wäre.«

 

»Ich schrecke nicht vor Gefahren zurück«, sagte Ann ruhig. »Aber ich will heute nacht nicht ausfahren – dabei bleibt es.«

 

Tiser stöhnte, aber Mark brachte ihn mit einem Fluch zum Schweigen.

 

»Laß sie in Ruhe. Es ist gut, Ann. Sie müssen selbst wissen, was Sie tun und lassen. Aber gehen Sie noch nicht.« Er nahm sich eine Zigarre und steckte sie an. »Was hat Ihnen denn Bradley erzählt?«

 

»Ach, nichts Besonderes.«

 

»Ich wundere mich nur, daß Sie mit dem Mann überhaupt noch sprechen können!« Tiser wischte sich den Schweiß von der Stirn.

 

»War Bradley schon hier, als Sie hereinkamen?«

 

Sie nickte.

 

»Ledson sagte Ihnen nichts davon?«

 

»Nein, ich habe mir selbst aufgeschlossen.«

 

»Das war allerdings ein Faustschlag ins Gesicht für ihn.«

 

Sie dachte über seine Worte nach.

 

»Das glaube ich nicht«, sagte sie dann.

 

Sie ließ sich am Klavier nieder und spielte einige Takte.

 

»Er hat dauernd mit schlechten Leuten zu tun, und es fällt ihm sicher schwer, überhaupt noch gut von jemand zu denken«, sagte sie dann plötzlich. »Es war merkwürdig, daß er soviel von Li Yoseph sprach – ich habe heute den ganzen Tag an den alten Mann denken müssen.«

 

Mark lehnte am Kamin und betrachtete sie stirnrunzelnd.

 

»Ann, ich habe Sie noch niemals in einer solchen Stimmung gesehen«, rief er nervös. »Klimpern Sie doch nicht herum, spielen Sie ordentlich. Seit Wochen habe ich keinen Ton von Ihnen gehört.«

 

Sie schaute verlegen auf.

 

»Eigentlich bin ich nicht in der Verfassung, etwas zu spielen – aber gut, ich werde es tun.«

 

Sie drückte das Pedal und begann. Mark winkte Tiser zu sich heran.

 

»Mit Ann stimmt etwas nicht«, flüsterte er ihm zu.

 

»Ich verstehe sie auch nicht«, erwiderte Tiser zitternd. »Ich bin heute abend so furchtbar aufgeregt.«

 

Er kauerte sich ängstlich in seinem Sessel zusammen.

 

»Sie macht mich noch ganz verrückt mit ihren verdammten Nerven.«

 

Aber Mark hörte nicht auf ihn.

 

»Warum interessiert sich Bradley so für Li Yoseph?« fragte er. Tiser sah sich furchtsam um.

 

»Glaubst du, er hat erfahren, daß er noch lebt?«

 

»Daß er noch lebt? Du verrückter Kerl!« sagte Mark verächtlich. »Ich habe ihn auf sechs Schritte niedergeknallt! Ich konnte sehen, wo das Geschoß sein Rückgrat traf – der ist nicht mit dem Leben davongekommen. Das war unmöglich! Er liegt noch in dem tiefen Schlamm unter seinem Haus.«

 

Ann spielte jetzt Tostis »Chanson d’Adieu«. Tiser packte krampfhaft McGills Arm.

 

»Mark, hörst du nicht, was sie spielt! Sag doch, daß sie aufhören soll! Mark, um Gottes willen, ich werde noch verrückt! Das hat doch der alte Kerl immer auf seiner Fiedel gespielt!«

 

»Halt den Mund, du Jammerlappen!« brummte Mark. »Wenn ich bei jeder Melodie gleich in die Luft gehen wollte!«

 

Plötzlich schloß Ann mit einem lauten Akkord und sah zu ihnen hinüber.

 

»Was ist denn das – hören Sie nichts?«

 

»Nein – wahrscheinlich haben Sie Tiser sprechen hören.«

 

Ann schüttelte den Kopf.

 

»Es war der Klang einer Violine.«

 

»Einbildung!«

 

Aber plötzlich hörte auch Mark die leisen Töne. Es war die Melodie, die Li immer gespielt hatte, und sie fuhr an der Stelle fort, an der Ann aufgehört hatte.

 

Die Klänge kamen vom nächsten Raum – von Marks Schlafzimmer.

 

»Jemand hält uns zum besten«, sagte McGill und ging vorwärts. Aber die Tür seines Schlafzimmers öffnete sich langsam, und in den Lichtkreis trat …

 

»Li Yoseph!« rief Mark entsetzt.

 

Der Alte war ein wenig grauer und ging etwas gebückter als früher; seine Haare waren unordentlicher. Die Astrachankappe sah schmutziger und abgetragener aus. Li trug die Geige unter dem Arm und hielt den Bogen in seiner Hand.

 

Ann hatte sich von dem Klaviersessel erhoben und beobachtete ihn. Sie fürchtete sich nicht, aber sie war ganz versunken in seine Erscheinung. Tiser schrie entsetzt auf und fiel zu Boden. Das Gesicht verbarg er in den Armen.

 

»Fort! Fort …! Du bist doch tot … auf sechs Schritte!«

 

»Li Yoseph!« keuchte Mark atemlos.

 

Der alte Mann zeigte seine Zähne in einem merkwürdigen Lachen.

 

»Ach, der gute Mark! Und der gute Tiser! – Kommt nur herein, meine lieben Kleinen!« Er winkte seinen unsichtbaren Begleitern. »Seht, hier sind gute Freunde von Li Yoseph … Siehst du, Henry? Das ist der gute Mark.«

 

»Woher – woher kommst du denn?« fragte Mark heiser.

 

»Von all den bekannten Plätzen.« Der alte Mann lachte unheimlich. »Du kommst doch bald nach Lady’s Stairs, Mark? Und Sie, meine liebe junge Dame, wollten mich doch auch besuchen? Sicher werden Sie bald zu mir kommen.«

 

Weiter sagte er nichts. Mit schlürfenden Schritten ging er quer durch das Zimmer. Mark hatte nicht die Kraft, ihn aufzuhalten; er beobachtete nur starr, wie der Alte den Raum verließ. Bald darauf fiel die Tür ins Schloß.

 

Dieses Geräusch schien Mark aus seinem traurigen Zustand zu wecken. Er eilte zur Tür und lief die Treppe hinunter – aber er konnte nichts mehr von Li Yoseph sehen. Als er ins Wohnzimmer zurückkam, läutete schrill das Telefon. Er ging zum Apparat.

 

»Sind Sie dort, McGill?« hörte er eine bekannte Stimme. »Hier ist Inspektor Bradley. Ich spreche von Scotland Yard aus. Wir haben in Erfahrung gebracht, daß Li Yoseph wieder in London aufgetaucht ist – ich wollte Sie nur warnen.«

 

»Warum wollten Sie mich denn warnen?« fragte Mark erregt.

 

»Wenn Sie das nicht wissen, weiß ich es auch nicht«, war die geheimnisvolle Antwort.

 

Kapitel 16

 

Kapitel 16

 

In der Umgebung von Lady’s Stairs verbreitete sich das Gerücht mit Windeseile. Li Yoseph war zurückgekommen!

 

Jedermann wußte nun, warum die Nachforschungen nach ihm eingestellt worden waren. Wie ähnlich sah es dem alten Li, der Polizei soviel Umstände zu machen und bis zur letzten Minute zu warten, bis er sich wieder zeigte!

 

Niemand hatte ihn bisher gesehen, aber die etwas unordentliche Mrs. Shiffan, die ihm früher den Haushalt besorgt und allerlei Botengänge für ihn gemacht hatte, war mit ihrem Mann nach Lady’s Stairs gekommen und hatte feierlich die Tür geöffnet. Am Abend vorher hatte man ihnen die Schlüssel mit einer schriftlichen Mitteilung zugeschickt, daß sie die Wohnung in Ordnung bringen sollten.

 

Mr. Shiffan, der häufig im Gefängnis gesessen hatte, wurde plötzlich ein Mann von Bedeutung; aber auch er konnte nach seiner Rückkehr von Lady’s Stairs nichts Näheres über Li Yoseph berichten.

 

Ann Perryman war nicht im mindesten über das Auftauchen Li Yosephs bestürzt, im Gegenteil, sie interessierte sich lebhaft für ihn; aber zu ihrem größten Erstaunen hatte sie beobachtet, welch sonderbare Wirkung das Wiedererscheinen dieses Mannes auf Mark McGill und Tiser ausübte. Mark war in düsterer Stimmung, brütete vor sich hin und sprach kaum. Als sie einmal zu ihm hinüberging, sah sie im Kamin einen Aschenhaufen verbrannten Papiers.

 

Tiser war ja schon immer aufgeregt gewesen. Er war niemals ganz nüchtern und niemals richtig betrunken; aber seine Äußerungen waren jetzt zusammenhangloser und verwirrter denn je.

 

Es war eigentlich kein besonderer Grund für Marks schlechte Laune vorhanden, denn die ihm unmittelbar drohende Gefahr war vorübergegangen. Durch einen unverhofften Glückszufall war es ihm gelungen, einen Insassen des Versorgungsheims zu bestimmen, den gefährlichen Transport nach Bristol zu übernehmen. Der Mann fuhr gerade rechtzeitig ab – eine halbe Stunde später kam die Polizei und durchsuchte die Garage bis in den letzten Winkel.

 

Mark rühmte sich, daß er eiserne Nerven besitze; aber Bradleys Hartnäckigkeit hatte seine Kraft doch bis zu einem gewissen Grad erschüttert, und nach Li Yosephs Rückkehr erkannte er, wie ernst seine Lage geworden war. Er hatte ihn seit jenem Abend, an dem er so plötzlich in seiner Wohnung erschienen war, um gleich wieder zu verschwinden, nicht mehr gesehen. Auch in Lady’s Stairs hatte er nur Mr. und Mrs. Shiffan angetroffen, die mit der Reinigung der Wohnung und den Vorbereitungen für den Einzug des alten Mannes beschäftigt waren.

 

»Gebranntes Kind scheut das Feuer, mein guter Mark«, sagte Tiser mit zitternder Stimme. »Du glaubst doch nicht, daß er dir noch einmal Gelegenheit geben wird, ihn umzulegen!«

 

»Li Yoseph steckt mit Bradley unter einer Decke«, erwiderte Mark rauh. »Wenn du das nicht glaubst, wirst du noch sehen, was uns bevorsteht. Er hat Bradley alles erzählt!«

 

»Aber warum läßt Bradley dich nicht wegen versuchten Mordes verhaften?«

 

»Er will mich wegen Ronnie an den Galgen bringen – das ist doch ganz klar. Außerdem genügt das Zeugnis Li Yosephs nicht, um mich zu überführen. Er wartet, bis er noch einen anderen Verräter findet.«

 

Sein scharfer Blick durchbohrte Tiser, und ein sonderbarer Ausdruck erschien auf seinem Gesicht.

 

»Aber du kannst dich beruhigen, sie werden dein Zeugnis nicht annehmen«, sagte er höhnisch. »Den Gedanken kannst du dir aus dem Kopf schlagen.«

 

»Ich schwöre dir …«, begann Tiser.

 

Aber Mark unterbrach ihn sofort.

 

»Das ist die einzige Genugtuung, die ich habe, daß du nichts gegen mich machen kannst. Wenn schon gehenkt werden soll, so werden wir beide zum Galgen gehen – um Mr. Steen zu treffen.«

 

Tiser zitterte.

 

»Ich wünschte nur, du würdest nicht so leichtsinnig reden«, wimmerte er. »Wozu sprichst du immer vom Galgen? – Was sagt eigentlich Ann dazu, daß Li Yoseph wieder da ist?«

 

Mark schwieg. Ann hatte sich kaum darüber geäußert, aber ihre Haltung sagte ihm genug.

 

»Du glaubst doch nicht; daß sie – schwach wird?« fragte Tiser ängstlich. Dann dachte er einen Augenblick nach. »Ich hatte schon die Idee …«

 

»Das erstemal, daß ich einen eigenen Gedanken von dir höre«, erwiderte Mark unfreundlich. »Du denkst natürlich an Ann – und Bradley?«

 

Tiser nickte.

 

»Du nimmst doch nicht etwa an, daß sie in ihn verliebt ist?« brummte Mark.

 

Zu seinem größten Erstaunen bejahte Tiser.

 

»Glaubst du wirklich, daß Ann ihn liebt? Und daß er es weiß?« fragte er bestürzt.

 

Tiser ging zur Tür und schaute hinaus. Als niemand zu sehen war, schlich er auf Zehenspitzen zu Mark zurück, der diese Geheimnistuerei zur Genüge kannte.

 

»Ist es dir schon einmal aufgegangen, daß Ann eventuell für uns von größtem Wert sein kann?«

 

McGill wandte sich plötzlich zu Tiser und sah ihn kalt an.

 

»Natürlich – daran habe ich nie gezweifelt. Vor allem, wenn sie ihren Führerschein wieder hat.«

 

Tiser zog einen Stuhl an den Tisch heran und setzte sich.

 

»Wir wollen einmal scharf nachdenken.«

 

Mit einer Handbewegung forderte er Mark auf, ebenfalls Platz zu nehmen.

 

Seine Geste war im Augenblick so befehlend, daß Mark ihm verwirrt gehorchte. Erst als er in dem Sessel saß, kam ihm zu Bewußtsein, daß er zum erstenmal in seinem Leben unter Tisers Einfluß gehandelt hatte. Er war bestürzt und ärgerlich über sich selbst.

 

»Na, was hast du denn für eine große Idee?« fragte er unfreundlich.

 

Tiser sah an ihm vorbei.

 

»Bradley leistete fast einen Meineid, um Ann zu retten, aber ein schweres Verbrechen könnte er nicht verheimlichen.«

 

Mark betrachtete ihn unter halb gesenkten Augenlidern.

 

»Ich weiß nicht recht, worauf du hinauswillst.«

 

Tiser lächelte bedrückt und unterwürfig.

 

»Wir können doch unserem Freund Bradley eine Beschäftigung geben, die ihn vollständig in Anspruch nimmt, so daß er keine Zeit mehr für uns hat. Ich will nicht im geringsten etwas vorschlagen, was Ann schaden oder sie in irgendeine Gefahr bringen könnte, aber nimm einmal an, – ich meine, du sollst es nur einmal annehmen, mein lieber Mark –, gegen Ann Perryman würde eine andere Anklage erhoben werden … eine sehr ernste, schwere, und er müßte gegen seinen Willen selbst als Zeuge gegen sie auftreten – weil sie im Verdacht steht, einen Mord begangen zu haben.«

 

Mark erhob sich schnell.

 

»Was soll denn das heißen?« fragte er rauh. »Ann Perryman hat doch niemand ermordet …«

 

Aber im selben Augenblick erkannte er, wie unheimlich rasch Tiser manchmal denken konnte.

 

»Ann ist eine Last für uns«, fuhr Tiser fort. »Ich glaube, sie war in der letzten Zeit nicht sehr liebenswürdig zu dir – es wird wohl früher oder später zu einem Bruch mit ihr kommen …«

 

»Woher willst du das wissen?«

 

»Ich sehe manche Dinge, die bestimmt kommen werden. Sie kann auch noch recht gefährlich für uns werden. Wäre es da nicht besser, wenn wir …«, er sprach nicht weiter, machte nur eine vielsagende Geste und zuckte die Schultern.

 

Mark starrte ihn entsetzt an.

 

»Du möchtest also Bradley erledigen – und du erwartest, daß ich Ann zu diesem Zweck opfere?«

 

Tiser nickte.

 

»Überlege dir einmal«, fuhr er langsam fort, »daß sie wegen einer schweren Sache vor Gericht stand. Sie ist seit der Zeit unter Verdacht. Bradley war damals ihr Hauptankläger, und das brach ihm fast das Herz. Ich glaube nicht, daß er diese Tatsache geheimhalten konnte.«

 

Mark wandte keinen Blick von Tiser.

 

»Hast du dir etwa wieder einen so dummen Mordplan zurechtgelegt?« fragte er ironisch. Er dachte schnell nach.

 

»Ich glaube, daß ich dir eine bessere Lösung vorschlagen kann«, sagte er nach einiger Zeit. »Ich weiß einen viel wichtigeren Todeskandidaten.«

 

Die beiden trennten sich mit einem vielsagenden Blick.

 

Mark trat in sein Schlafzimmer und wickelte einen großen Verband um seine rechte Hand. Dann ging er über den Flur und klopfte an Anns Tür. Sie öffnete ihm selbst.

 

»Was haben Sie denn mit Ihrer Hand gemacht?«

 

»Ach, es ist nichts Besonderes. Ich war eben in der Garage und habe mir an der Tür die Hand gequetscht. Aber ich bin natürlich sehr behindert. Würden Sie wohl so liebenswürdig sein, einige Briefe für mich zu schreiben? Ich habe ein oder zwei dringende Sachen zu erledigen.«

 

Sie zögerte einen Augenblick. Ihr natürliches Mitgefühl drängte sie, ihm zu helfen, aber ihr ebenso natürlicher Argwohn hielt sie zurück.

 

»Ich kann leider nicht Schreibmaschine schreiben.«

 

»Das macht nichts. Es sind nur zwei kurze Mitteilungen zu schreiben. Ich bin wirklich in großer Verlegenheit.«

 

»Natürlich werde ich Ihnen helfen, Mark«, sagte sie und folgte ihm in seine Wohnung.

 

Der erste Brief, den er langsam diktierte, war an einen Mann in Paris gerichtet. Mark bat ihn, seinen Besuch zu verschieben.

 

Ann legte den nächsten Bogen auf die Schreibunterlage.

 

»Ich möchte nicht zu Tiser gehen. Telefonieren kann ich auch nicht, weil unser Freund Bradley wahrscheinlich alle meine Gespräche abhören läßt. Also muß ich an ihn schreiben. Überschrift: ›Mein lieber Freund‹ …«

 

Ann schrieb:

 

›Ich habe Ihnen eine sehr wichtige Sache mitzuteilen und möchte Sie heute abend um elf Uhr im Park gegenüber von Queen’s Gate sprechen. Kommen Sie, bitte, allein.‹

 

»Unterschrift brauchen wir nicht, er weiß genau, von wem die Nachricht kommt.«

 

Sie reichte ihm das Schreiben, und er las es durch, ohne auch nur im geringsten das Gefühl der Genugtuung zu verraten, das er empfand. Bradley würde ihre Handschrift sofort erkennen.

 

Kapitel 17

 

Kapitel 17

 

Ann Perryman hatte nicht zum erstenmal Briefe für Mark geschrieben. Er haßte die Arbeit, konnte aber eine Stenotypistin nicht anstellen.

 

Ann hatte sich während ihrer erzwungenen Untätigkeit sogar über diese Beschäftigung gefreut. Mark hatte ihr einen großen Teil der Korrespondenz übergeben, der harmlosere Geschäftsvorgänge betraf. Er hatte seine Laufbahn als Schmuggler zweifelhafter Artikel begonnen und gut daran verdient. Erst in neuerer Zeit hatte sich daraus der Handel mit Rauschgift entwickelt. Aber nun war Mark durch seine Erfolge ein wenig fahrlässig geworden.

 

Er selbst war der erste, der das erkannte. Er gab sich keinen Illusionen hin; er wußte, daß die Polizei ihre Nachforschungen mit unendlicher Geduld fortsetzte und daß buchstäblich das Netz um ihn gewoben wurde. Man war offenbar gar nicht darauf bedacht, ihm eine Falle zu stellen und ihn zu fangen, aber er wußte genau, daß er im Augenblick schon nahezu wie ein Gefangener behandelt wurde. Er hatte seinen Paß zur Erneuerung eingesandt und daraufhin die kurze Mitteilung erhalten, daß ihm das Dokument wegen gewisser Unklarheiten erst mit einiger Verspätung zugesandt werden könne. An und für sich war das für Mark kein großes Unglück, denn er besaß noch mehrere andere Pässe auf verschiedene Namen. Aber dieser Vorfall zeigte ihm, daß ein Versuch von seiner Seite, England zu verlassen, die schwersten Folgen für ihn hätte.

 

Ann Perryman wurde mit der Zeit eine immer größere Gefahr – er mußte sich von ihr befreien.

 

Und doch fühlte Mark keinen Haß gegen die Frau, deren Leben er aufs Spiel setzen wollte. Böswilligkeit gegen Ann hatte ihn nicht zu dem Plan getrieben, den er so kaltblütig überlegte. Sie war für ihn nur eine Schachfigur, die er opferte, um Vorteile zu gewinnen. Die Leidenschaft für Ann, die damals so plötzlich in ihm aufflammte, war längst wieder erloschen.

 

Er faltete den Brief zusammen und steckte ihn in einen Umschlag, den er mit großer Sorgfalt an »Inspektor Bradley, Scotland Yard« adressierte. Dann fuhr er in einem Taxi nach West End und warf den Brief auf dem Postamt von Charing Cross in den Kasten.

 

Es war kaum eine halbe Stunde vergangen, seitdem Ann den Brief geschrieben hatte. Sie wollte sich eben zum Ausgehen umziehen, als plötzlich das Telefon läutete. Sie war sehr verwundert, als sie Tisers Stimme hörte. Er hatte sie früher nur ein einziges Mal angerufen. Wie gewöhnlich sprach er aufgeregt und unverständlich, so daß sie ihn bitten mußte, seine Worte zu wiederholen.

 

»… nach Bristol. Wollen Sie so liebenswürdig sein und Mark sagen, daß ich den ersten Zug versäumt habe, daß ich aber morgen gegen Mittag fahren werde. Ich habe vergeblich versucht, ihn telefonisch zu erreichen. Legen Sie ein gutes Wort für mich ein, Sie wissen doch, daß Mark so schrecklich leicht aufbraust.«

 

»Wußte er denn, daß Sie nach Bristol fahren wollen?«

 

»Aber selbstverständlich – er hat mir doch den Auftrag dazu gegeben«, erwiderte Tiser nervös. »Ich versprach ihm, mit dem ersten Zug zu fahren …«

 

»Kommen Sie heute abend zurück?« unterbrach sie ihn.

 

»Nein, erst morgen abend – ich wollte so gern heute zurückkommen, aber Mark … nun ja, Sie kennen ihn doch. Gibt es irgend etwas Neues? Ich bin so niedergeschlagen, meine Nerven sind am Ende. Könnten Sie nicht einmal mit Mr. Bradley sprechen und ihn davon überzeugen, daß das Versorgungsheim eine ganz harmlose Sache ist? Die Polizei verfolgt diese armen, unglücklichen Leute in der letzten Zeit mit einem Haß, den ich überhaupt nicht mehr verstehen kann. Auch dieser Sedeman macht uns viel zu schaffen. Manchmal kommt mir der Gedanke, daß er tatsächlich ein Polizeispitzel ist. Wollen Sie Mark meine Bestellung ausrichten?«

 

Bevor sie etwas erwidern konnte, hatte er schon eingehängt. Ann setzte sich an ihren Schreibtisch und dachte angestrengt nach. Mark wußte also, daß Tiser verreisen wollte und an diesem Abend nicht in London sein würde. Warum hatte er sie dann diese Mitteilung schreiben lassen – und warum vor allem hatte er diesen unmöglichen Tiser mit »Mein lieber Freund« angeredet? Sie wußte, daß die Beziehungen zwischen den beiden gespannt waren; außerdem machte Mark keine unnötigen Komplimente.

 

Es fiel ihr auch ein, daß Mark noch niemals an Tiser geschrieben hatte. Und wenn er überhaupt schrieb, warum vereinbarte er dann eine Zusammenkunft im Hydepark? Für die Polizei war es doch kein Geheimnis, daß Tiser häufig zu Mark kam und mit ihm in Verbindung stand.

 

Ann grübelte lange Zeit über diesen Fall nach, aber schließlich faßte sie einen Entschluß und ging in die andere Wohnung hinüber. Mark war nicht zu Hause, wie ihr der Diener sagte. Sie trat in das Wohnzimmer ein. Auf dem Schreibtisch lagen Briefpapier und Umschläge; aus dem Papierkorb schaute ein zerrissener Umschlag hervor. Sie zog ihn heraus und las in Marks Handschrift das Wort »Inspektor« darauf. Mark hatte ihn anscheinend nicht benutzt, weil ein Klecks darauf gekommen war.

 

Verwirrt schaute sie auf das Kuvert, und plötzlich fand sie die richtige Lösung. Er hatte den Brief, den sie geschrieben hatte, an Inspektor Bradley geschickt! Sie versuchte verzweifelt, sich jedes Wort ins Gedächtnis zurückzurufen, aber sie hatte der Mitteilung so wenig Beachtung geschenkt, daß sie nur noch den allgemeinen Inhalt wußte. Bradley würde ihre Handschrift wiedererkennen, sie hatte ja schon mehrere Briefe mit ihm gewechselt. Sicher würde er zu der bezeichneten Stelle kommen, da er doch annehmen mußte, daß sie ihm etwas mitzuteilen hatte. Aber warum wollte Mark ihn dorthin bringen? Ein Schauer überlief sie bei diesem Gedanken.

 

Als sie in ihre Wohnung zurückkam, klingelte das Telefon wieder. Tiser meldete sich, und seine Stimme klang schrill vor Angst.

 

»Sind Sie es, meine liebe Miss Perryman? Ich fahre nicht nach Bristol – mein Gedächtnis ist einfach fürchterlich in der letzten Zeit. Ich habe mich eben daran erinnert, daß Mark mir heute einen Brief schicken wollte – und zwar einen sehr wichtigen.«

 

Ein schwaches Lächeln spielte um Anns Lippen.

 

»Wann haben Sie sich denn daran erinnert«, fragte sie. »Er ist doch nicht etwa selbst …«, noch rechtzeitig hielt sie inne.

 

»Erst vor ein paar Minuten. Sie brauchen Mark auch nichts davon zu sagen. Ich werde einen anderen Mann schicken.«

 

Sie lächelte immer noch ein wenig bitter, als sie den Hörer einhing. Mark mußte in der Herberge gewesen sein, um sich zu erkundigen, ob Tiser abgereist war. Er hatte dann von ihm erfahren, daß er mit ihr telefoniert hatte. Auf diese Weise ließ sich Tisers Aufregung erklären.

 

Die Gefahr, in der sie selbst schwebte, kam ihr nicht zum Bewußtsein. Sie dachte überhaupt nicht daran, daß ihr Brief im Besitz des ermordeten oder schwerverletzten Bradley ein erdrückend belastendes Zeugnis gegen sie sein mußte. Sie sah im Augenblick nur die Gefahr, die Bradley drohte, und ließ sich in ihrer großen Sorge mit Scotland Yard verbinden.

 

Aber Bradley war nicht anwesend; sie konnte nur mit seinem Sekretär sprechen.

 

»Wollen Sie ihm bitte bestellen, daß er mich anrufen möchte, sobald er zurückkommt?« Sie gab ihre Adresse und Nummer an.

 

»Es ist gut, Miss Perryman, ich werde Ihren Auftrag ausrichten.«

 

Es war schon Nachmittag, als ihr zum Bewußtsein kam, daß sie seit dem Frühstück noch nichts zu sich genommen hatte, und sie bereitete sich selbst ein einfaches Mittagessen. Sie hatte ihr Dienstmädchen bereits entlassen und versah ihren Haushalt selbst. Die beiden letzten Tage hatte sie nach einer neuen Wohnung gesucht, denn es stand nun bei ihr fest, daß sie mit Mark McGill und seinen Leuten brechen mußte.

 

Sie besaß noch etwas bares Geld. Mark hatte sie gut bezahlt, aber sie hatte keine großen Ersparnisse zurückgelegt. Sie konnte ja ihren früheren Beruf wieder ausüben. An jenem Abend, an dem Li Yoseph in Marks Wohnung aufgetaucht war, hatte sie einen Brief an ihre alte Schule in Auteuil geschrieben und angefragt, ob sie dort wieder eine Stellung haben könne. Man hatte ihr auch geantwortet; aber der Direktor war auf einer Ferienreise nach Südfrankreich, und sie mußte warten, bis er zurückkam und ihr Bescheid gab.

 

Es wurde vier Uhr – Bradley hatte sich noch nicht gemeldet. Um sechs Uhr rief sie Scotland Yard noch einmal an, konnte aber weder Bradley noch seinen Sekretär erreichen. Der Inspektor war anscheinend im Büro gewesen, um seine Briefe zu holen. Sie fragte, wo er jetzt zu treffen sei, aber das konnte oder wollte man ihr nicht mitteilen. Sie erhielt nur zur Antwort, daß Bradley einige Minuten in seinem Zimmer gewesen sei. Ihre Botschaft war ihm wohl nicht übermittelt worden.

 

Die Stunden vergingen, und Ann wurde immer besorgter.

 

Um halb elf zog sie Mantel und Hut an und verließ die Wohnung. Auf der Treppe begegnete sie Mark.

 

»Wo wollen Sie denn hingehen?« fragte er erstaunt.

 

»Ich möchte noch einen kleinen Spaziergang machen.«

 

»Ich werde Sie begleiten«, bot er ihr an.

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Ich möchte gern allein sein, Mark«, antwortete sie.

 

Ihre offensichtlich gute Stimmung täuschte ihn, und die Tatsache, daß sie um diese Zeit ausgegangen war, konnte seinen eigenen Plan nur unterstützen.

 

»Sehen Sie aber zu, daß Ihnen nichts passiert«, sagte er in guter Laune.

 

Viertel vor elf erreichte Ann Queen’s Gate. Als sie an das Parktor kam, hörte sie das Hupen eines Krankenautos, und ihre Unruhe wuchs.

 

Sie sah die Gestalt eines Mannes – es war der Parkwächter. Er kam langsam auf sie zu und betrachtete sie argwöhnisch.

 

»Hat es hier – eben einen Unfall gegeben?« fragte sie leise.

 

»Ja, Miss, in der Nähe des Marble Arch wurde ein Mann niedergeschlagen. Aber ich glaube kaum, daß er schwer verletzt worden ist.«

 

Sie nickte nur dankbar, denn sie war so aufgeregt, daß sie im Augenblick nicht sprechen konnte. Dann überquerte sie die Straße.

 

Es war nur ein Fußgänger zu sehen. Er ging vorüber und sah sie von der Seite an. Wahrscheinlich hätte er sie angesprochen, wenn sie sich nicht hastig abgewandt hätte und weitergegangen wäre.

 

Von welcher Seite mochte Bradley wohl kommen? Und woher drohte das Unheil? Gefahr war im Anzug – davon war sie überzeugt.

 

Ein Polizist kam aus der Dunkelheit auf sie zu. Bei seinem Anblick fühlte sie sich sehr erleichtert und war nicht einmal böse darüber, daß er sie ansprach und ausfragte.

 

»Sie sollten eigentlich nicht um diese Zeit hier allein im Park sein, Miss.«

 

»Ich erwarte – einen Freund«, erwiderte sie heiser.

 

Sie fühlte, daß er sie durchdringend anschaute und konnte vermuten, was er von ihr dachte.

 

Aber plötzlich kam ihr ein guter Gedanke.

 

»Ich warte hier auf Detektivinspektor Bradley von Scotland Yard«, sagte sie etwas atemlos.

 

Ihre Worte machten Eindruck auf den Mann.

 

»Ach so – das ist natürlich etwas anderes.«

 

»Es wäre mir sehr lieb, wenn Sie bei mir blieben, bis er kommt. Ich – ich möchte ihn warnen. Ich fürchte, daß ein Angriff auf ihn geplant ist.«

 

Der Polizist betrachtete sie etwas näher.

 

»Ich habe Sie doch schon gesehen – sind Sie nicht die junge Dame, die vor einigen Wochen angeklagt war? Ich war damals zufällig auch in einer anderen Sache als Zeuge vorgeladen. Sind Sie nicht Miss Perryman?«

 

»Ja.«

 

Er sah von ihr zu dem Parktor und schien unentschlossen zu sein.

 

»Weiß Mr. Bradley, daß Sie kommen wollen?«

 

»Ja – ich nehme es an.«

 

In diesem Augenblick trat ein Mensch durch das Tor, und sie eilte ihm entgegen.

 

»Sie wollten mich sprechen«, fragte Bradley schnell. »Was gibt es denn? Ich habe Ihren Brief erst um halb elf bekommen, als ich zurückkam. Ich habe Sie angerufen, aber Sie waren schon fortgegangen.«

 

Er entdeckte den Polizisten.

 

»Was will der Mann?«

 

Sie erklärte ihm ein wenig zusammenhanglos, warum sie gekommen war. »Ich bat ihn, bei mir zu bleiben. Ich dachte, Sie hätten vielleicht Hilfe nötig«, sagte sie schließlich.

 

»Sie haben also den Brief nicht an mich geschickt?«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»War es McGill?«

 

Diese Frage beunruhigte sie. Bis dahin hatte sie nicht daran gedacht, daß sie durch ihre Handlungsweise Mark sehr schaden konnte, was durchaus nicht in ihrer Absicht lag.

 

»Ich weiß nur, daß ich die Mitteilung geschrieben habe. Und dann kam mir plötzlich der Gedanke, Sie könnten annehmen, ich hätte den Brief an Sie gerichtet.«

 

»Das habe ich auch wirklich getan«, sagte er lächelnd.

 

Er sah sich auf der verlassenen Straße nach beiden Seiten um.

 

»Sergeant, gehen Sie dort hinunter und halten Sie sich bereit, mir zu helfen, wenn es nötig ist. Sie wissen, wer ich bin?«

 

»Ja, ich kenne Sie, Inspektor Bradley.«

 

»Gut!« Der Detektiv lächelte. »Ich weiß zwar noch nicht, wie Sie mir helfen könnten … doch, suchen Sie einmal die Gegend hinter meinem Rücken ab, und sehen Sie zu, ob nicht jemand im Grase liegt.«

 

Der Polizist verschwand.

 

»Was soll ich nun mit Ihnen anfangen, Miss Perryman?«

 

»Glauben Sie, daß Gefahr besteht?«

 

»Ja, davon bin ich überzeugt. McGill wußte natürlich, daß ich Ihre Handschrift wiedererkennen würde – und er wußte auch, wie ich zu Ihnen stehe, Ann.«

 

Sie ging nicht auf seine Worte ein.

 

»Soll ich fortgehen?« fragte sie. »Vielleicht kann ich noch einen anderen Polizisten zu Ihrer Unterstützung finden?«

 

In diesem Augenblick schlug eine Kirchenuhr in der Nähe elf.

 

»Ich fürchte, es ist zu spät dazu«, sagte Bradley.

 

Er faßte in seine Hüfttasche und zog eine Pistole heraus. Als er sich nach links umsah, bemerkte er die abgeblendeten Lichter eines Autos, das auf der Mitte der Straße fuhr, in Richtung des Tors, Von dorther mußte die Gefahr kommen. Er rief laut nach dem Polizisten, wandte sich dann zu Ann, ergriff sie am Arm und zog sie halb über das niedrige Gitter, das den Rasen vom Fußpfad trennte.

 

»Legen Sie sich ganz flach auf den Boden!« befahl er.

 

Im nächsten Augenblick lag sie schon auf dem Boden und fühlte den feuchten Tau in ihrem Gesicht. Sie konnte den Wagen sehen. Er fuhr jetzt mit erhöhter Geschwindigkeit und lenkte plötzlich zu der Stelle, wo Bradley stand.

 

Dann fielen kurz hintereinander drei oder vier Schüsse. Ann hörte das Pfeifen und Heulen der Geschosse, die dicht über sie hinwegflogen und sich hinter ihr in die Erde bohrten. Signalpfeifen schrillten, und der Wagen verschwand aus ihrem Gesichtskreis.

 

Jetzt schoß Bradley. Leute eilten herbei.

 

»Stehen Sie auf und gehen Sie nach Haus!« rief Bradley Ann zu.

 

Als sie sich wieder aufgerichtet hatte, war er verschwunden.

 

Überall ertönten Alarmsignale. Als Ann über die Straße eilte, lief sie dem Parkwächter gerade entgegen. Er berichtete über den Vorfall.

 

»Der Wagen fuhr wie der Blitz durch das Tor, beinahe wäre er von einem großen Autobus über den Haufen gerannt worden … Haben Sie gesehen, wie sie geschossen haben?«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Wo ist Mr. Bradley?«

 

»War das der Mann, der hinter den Leuten her war? Er ist in ein Auto gesprungen und verfolgte sie.«

 

In demselben Augenblick kam auch der Polizist, mit dem sie vorher gesprochen hatte, atemlos und aufgeregt an.

 

»Jemand hat vom Wagen aus auf ihn geschossen – wo waren Sie denn, Miss?«

 

Sie sagte ihm, daß sie im Gras gelegen habe.

 

Der Beamte erinnerte sich plötzlich an seine Pflicht.

 

»Es tut mir leid, aber ich muß Ihren Namen und Ihre Adresse notieren.« Er schien sich wohler zu fühlen, nachdem er ihre Angaben in ein großes Notizbuch eingetragen hatte. Aber er wußte nicht genau, ob er sie nun gehen lassen durfte. Schließlich überredete ihn aber Ann, und er ließ sie nach Hause zurückkehren. Fast eine Stunde lang saß sie in einem Sessel und versuchte, das Chaos ihrer Gedanken zu ordnen.

 

Die Glocke an der Haustür schlug an. Ann erschrak. Das mußte Mark sein – sie würde ihm alles sagen müssen …

 

Aber es war Bradley. Bei seinem Anblick fühlte sie so große Erleichterung, daß sie hätte weinen können.

 

»Das war ein alter Trick, den sie schon vorher angewandt haben«, sagte er, als er in ihr Zimmer trat. »Nur hatten sie diesmal das Auto innen gepanzert. Wir fanden den Wagen in Pimlico, dort haben sie ihn stehenlassen. Von den Leuten war natürlich nichts mehr zu sehen. Das ganze Innere war mit Eisenplatten ausgeschlagen. Diese Kerle nahmen kein Risiko auf sich.« Er sah sie einen Augenblick merkwürdig an. »Da ich nicht dabei ums Leben gekommen bin – werden Sie auch nicht verhaftet werden.«

 

Sie starrte ihn fassungslos an.

 

»Verhaftet? Warum wollte man mich denn verhaften?«

 

»Sehen Sie denn nicht ein, daß meine Kollegen im Falle meines Todes oder einer schweren Verletzung zunächst einmal nach einer Erklärung dafür gesucht hätten, daß ich mich zu dieser späten Stunde dort aufgehalten habe? Sie hätten Ihren Brief gefunden und Sie leicht als Schreiberin identifizieren können, da ich dummerweise mit Bleistift das Wort ›Ann‹ als Unterschrift daruntersetzte.«

 

Er las Entsetzen und Schrecken in ihren Augen.

 

»Aber das war doch nicht seine Absicht!« rief sie erregt. »Das hat er sicherlich nicht gewollt – ich meine, Mark wollte mich doch sicherlich nicht in einen solchen Verdacht bringen.«

 

Er antwortete nicht gleich.

 

»Sie glauben doch auch nicht, daß er es wollte?«

 

»Das werde ich noch in Erfahrung bringen. Vermutlich möchten Sie nicht gern in dieser Sache vor Gericht erscheinen? Ich werde Ihren Namen heraushalten, so gut ich kann.«

 

Er ging hinüber und klingelte bei Mark. Ann lauschte mit klopfendem Herzen hinter ihrer geschlossenen Wohnungstür und hörte, daß Marks Diener erklärte, sein Herr sei seit zehn Uhr ausgegangen. Bradley klopfte wieder leise an ihrer Tür, und sie öffnete ihm sofort.

 

»McGill war im Craley-Restaurant. Er kam zurück, um seinem Diener das zu sagen. Er muß kurz nach Ihnen weggegangen sein. Und er ist bestimmt zur Zeit der Schießerei in diesem Lokal gewesen, darauf möchte ich schwören. Er ist ganz groß darin, einwandfreie Alibis für sich zu beschaffen.«

 

»Von den Tätern hat man gar keine Spur?«

 

»Nein, wir wissen nur, daß der Wagen in Highbury gestohlen wurde. Die Eisenplatten im Inneren können die Leute natürlich irgendwo besorgt haben. – Gute Nacht, Ann.«

 

Er nahm ihre Hand in die seine und hielt sie einen Augenblick.

 

»Was soll nun aber mit Ihnen werden?«

 

»Ich hatte die Absicht, nach Paris zurückzugehen, wenn ich kann.« Dann fragte sie ihn plötzlich unvermittelt: »Haben Sie eigentlich Li Yoseph gesehen?«

 

»Ja. Er geht morgen wieder nach Lady’s Stairs. Sie werden einen guten Freund in ihm haben, wenn Sie wieder in Schwierigkeiten kommen sollten.«

 

»Li Yoseph ein guter Freund? Ich dachte, er wäre …«

 

»Er hatte zwölf Monate Zeit, sich von seinen bösen Gewohnheiten zu befreien«, erwiderte er lächelnd. »Ich wollte Ihnen nur sagen, daß Sie ihm auf alle Fälle trauen können. Sie fürchten sich doch nicht vor ihm?«

 

»Das haben Sie mich schon früher gefragt.«

 

Er beugte sich plötzlich zu ihr nieder, als ob es so sein müsse, und sie fühlte seine Lippen einen Augenblick auf ihrer Wange.

 

»Gute Nacht, Ann«, sagte er dann und klopfte ihr freundlich auf den Arm.

 

Sie blieb noch eine Weile stehen, ohne sich zu rühren. Ihr Atem ging etwas schneller, und sie versuchte, sich über ihre Gefühle klarzuwerden. Eines stand jedenfalls fest: Sie war ihm wegen des Kusses nicht böse.

 

Bradley hatte nur zu recht. Als er in das Restaurant kam, in dem sich Mark zur Zeit des Überfalls aufgehalten hatte, erfuhr er, daß McGill erst vor einer Viertelstunde gegangen war. Um elf Uhr hatte er den Besitzer des Lokals darauf aufmerksam gemacht, daß die Uhr im Restaurant fünf Minuten nachginge.

 

Bradley wußte, daß Tiser mit dem Mittagszug nach Bristol gefahren war. Man hatte ihn in London beobachtet, und seine Ankunft in Bristol war von dort gemeldet worden. Wegen der Abwesenheit Tisers wurde die Ausführung von Bradleys Plan verschoben. Er verließ sich ganz besonders auf diesen durch Trunk und Rauschgift heruntergekommenen Menschen, der ihm den Hauptbeweis für Marks Schuld liefern sollte.

 

Die Fliegende Kolonne war in dieser Nacht sehr tätig; in unregelmäßigen Zwischenräumen und von den entferntesten Plätzen kamen ihre Meldungen. Das Haus Mr. Larings war durchsucht worden, und in einem Nebengebäude hatte man genügend Kokain gefunden, um seine Verhaftung zu rechtfertigen.