Kapitel 20

 

Kapitel 20

 

Mark hörte Sedeman zu, ohne sich scheinbar im mindesten darüber aufzuregen. Sein gleichgültiges Gesicht hätte niemand verraten können, welchen mörderischen Haß er gegen diesen Mann empfand.

 

»Will er die Regenröhre hinaufklettern, um Sie zu sehen?« fragte er.

 

Mark schloß die Tür.

 

»Setzen Sie sich, Sedeman«, sagte er freundlich. »Ich möchte gern von Ihnen hören, was die ganze Geschichte zu bedeuten hat. Was wollten Sie denn Bradley berichten?«

 

»Daß es mir gutgeht und daß ich wahrscheinlich die Nacht vorzüglich schlafen werde«, entgegnete Sedeman ernst. »Der Mann sorgt sich nämlich um mich – das ist eine ganz neue Erfahrung für mich. Der Gedanke, daß ein Mensch an einen denkt …« Er schüttelte begeistert den Kopf.

 

»Mit anderen Worten: Bradley zahlt Ihnen Geld, damit Sie mich beobachten – das wollten Sie doch wohl sagen? Nun, Sie werden eine leichte Aufgabe haben.« Plötzlich änderte er das Thema. »Haben Sie den alten Li Yoseph gesehen?«

 

»Ich habe allerhand Gerüchte gehört – es ist wirklich eine merkwürdige Sache –, die Toten kehren ins Leben zurück.«

 

»Er war doch niemals tot«, sagte Mark laut. »Er war …«

 

»Mark!«

 

Er schaute sich um. Tiser stand in der Nähe des Fensters. Sein Gesicht war verzerrt vor Furcht.

 

»Was ist denn, du verdammter Narr?« fragte Mark wild.

 

»Höre doch!«

 

Der Klang einer Violine tönte herüber. Mark beugte den Kopf etwas vor.

 

»Hörst du das?«

 

Mark ging an ihm vorüber und riß die Vorhänge auseinander. Aber er konnte nur den schwachen Schimmer einer Straßenlaterne sehen.

 

»Mach das Fenster sofort auf«, sagte er ungeduldig zu Tiser.

 

»Mark, um Gottes willen, das wäre die größte Dummheit … Wir könnten doch jemand schicken, der ihn heraufholen soll.«

 

»Wen haben wir denn? Ich will auf jeden Fall hinaussehen – öffne das Fenster.«

 

Tiser lockerte den Riegel und versuchte ihn mit zitternden Händen zu öffnen, aber es mißlang ihm. Mark stieß ihn unsanft beiseite, riß das Fenster auf und lehnte sich hinaus. Der Klang der Violine war jetzt lauter zu hören. Als er die Straße entlangsah, entdeckte er zwischen zwei Laternen eine Gestalt.

 

In dem Augenblick hörte das Spiel auf, und eine rauhe Stimme ertönte. Ein Polizist trat aus dem Schatten heraus und ging quer über die Straße auf den Musikanten zu.

 

Die beiden auf der Straße waren zu weit entfernt; ihr Gespräch war nicht zu verstehen. Aber jetzt kamen sie langsam auf das Haus zu, und plötzlich hörten sie Li Yosephs Stimme.

 

»Mein lieber Freund, ich mache doch Musik für meine lieben, kleinen Kinder.«

 

»Für Ihre kleinen Kinder?« Der Polizist neigte sich zu dem gebückten Alten hinunter.

 

»Sie sind ein Fremder, nicht wahr? Nachts dürfen Sie doch nicht auf der Straße musizieren – gehen Sie jetzt weiter.«

 

Mark beobachtete die beiden, bis sie in der Dunkelheit verschwanden.

 

»Wenn der Polizist nicht dabeigewesen wäre, hätte ich den alten Esel angesprochen.«

 

»Li Yoseph!« Sedeman war aufs höchste erstaunt.

 

»Sie haben ihn gesehen?« fragte ihn Mark. »Ist er nun lebendig oder tot?«

 

Er füllte ein Glas mit Whisky und goß nur ein wenig Sodawasser hinzu. Es war nicht leicht, Mr. Sedeman in Aufregung zu bringen. Tiser sah betrübt, wie der Whisky verschwand.

 

»Gut, gut!« sagte Sedeman, als er getrunken hatte. »Dieser alte Li Yoseph!«

 

Mark sah ihn scharf an. »Waren Sie wirklich so überrascht?«

 

»Ich habe es Ihnen ja gesagt«, erklärte Sedeman vergnügter denn je.

 

McGill trat nahe an ihn heran und schaute ihn düster und versonnen an.

 

»Sie wußten, daß er lebt. Wo hält er sich denn auf? Seien Sie doch vernünftig, Sedeman«, sagte er dann in freundlicherem Ton. »Es hat doch keinen Zweck, daß wir gegeneinander arbeiten. Was ist los? Bradley hat ihn hierhergeschickt, nicht wahr?«

 

In diesem Augenblick klopfte es an die äußere Tür.

 

»Da kommt er selbst – Sie können ihn ja fragen.«

 

Tiser ging widerstrebend hinaus, um zu öffnen, Bradley kam allein. Er trat in das kleine Zimmer und grüßte Mark mit seinem undurchdringlichen Lächeln.

 

»Sie haben eben ein Ständchen bekommen, wie man mir erzählt? Li Yoseph ist ein äußerst zuvorkommender alter Herr, aber ich wußte nicht, daß seine Freundlichkeit so weit gehen würde, Sie musikalisch zu unterhalten.«

 

Bradley bekümmerte sich nicht um Sedeman, und der Alte machte auch keinen Versuch, ihn auf sich aufmerksam zu machen; er blieb ruhig sitzen. Bradley nahm sich unaufgefordert einen Stuhl und zog ein kleines Etui aus der Tasche, das Mark verstohlen betrachtete. Aber der Polizeiinspektor machte keinen Versuch, den Deckel zu öffnen.

 

»Sie hatten früher immer eine Pistole bei sich, McGill? Sie hatte ein großes Kaliber und war kein Browning?«

 

Mark antwortete nicht, und Bradley wiederholte seine Frage. Mark lächelte.

 

»Was soll denn das heißen? Hat etwa der alte Li gesagt, daß ich nach ihm geschossen habe?«

 

Tiser überlief es kalt bei dieser waghalsigen Frage.

 

»Das hat er nicht direkt gesagt«, erklärte Bradley bedächtig. »Aber nehmen wir einmal an, ich behauptete, daß ich bei der Untersuchung des Fußbodens in Lady’s Stairs – ich meine den Raum, aus dem Li Yoseph verschwand – zwei Geschosse im Holz entdeckte? Ganz kürzlich«, fügte er gleichgültig hinzu.

 

Mark wartete.

 

»Nehmen wir einmal folgende Vermutung an«, fuhr Bradley fort. »Diese beiden Geschosse wurden aus einer Pistole abgefeuert, die damals in Ihrem Besitz war und, soviel ich weiß, auch jetzt noch Ihr Eigentum ist?«

 

»Was wollen Sie damit sagen?« fragte Mark kühl. »Daß ich Schießübungen in Li Yosephs Zimmer abhielt? Man kann dort allerdings seine Pistole ruhig abschießen, ohne viel Schaden anzurichten. Aber ich kann mich nicht besinnen, daß ich jemals in Li Yosephs Zimmer betrunken war – oder daß ich jemals eine Pistole besaß«, fügte er schnell hinzu.

 

Bradley öffnete jetzt das kleine Etui. Mark sah zwei spitz zulaufende Nickelgeschosse auf einem Wattebausch liegen. Die Spitze des einen war so umgebogen, daß es beinahe einem Fragezeichen ähnlich sah.

 

»Haben Sie schon einmal so etwas gesehen?« Bradley nahm sie in die Hand. »Nicht anrühren – nur ansehen.«

 

»Ich wüßte nicht«, sagte Mark ruhig.

 

»Nun, dann nehmen Sie sie einmal in die Hand. Haben sie dasselbe Kaliber wie Ihre Pistole?«

 

McGill machte keinen Versuch, die Geschosse zu berühren.

 

»Ich besitze keine Pistole. Ich trage niemals eine Schußwaffe bei mir – ich denke, das habe ich Ihren Leuten schon oft genug erklärt. Aber Sie sind ja immer skeptisch!«

 

»Das gehört nun einmal zu meinem Beruf – Skeptizismus trägt gewöhnlich ebensoviel zu unserem Erfolg bei wie Geduld«, meinte Bradley lächelnd, als er die beiden Geschosse wieder in das Etui zurücklegte und den Deckel zuschob. »In welcher Tasche tragen Sie gewöhnlich Ihre Pistole? Ach, ich vergaß, Sie haben ja überhaupt keine.«

 

Schnell berührte er Marks Hüfttasche, aber sie war leer.

 

Nicht ein Muskel in Marks Gesicht bewegte sich. Nur ein grausames Lächeln lag auf seinen Zügen.

 

»Nun, sind Sie jetzt zufrieden?«

 

Bradley steckte das Etui in seine Westentasche.

 

»Ja – beinahe.«

 

»Haben Sie die Geschosse aus dem Fußboden herausgeschnitten?« fragte Mark ironisch. »Wirklich, meine Achtung vor der Polizei ist um mehrere Grade gestiegen.«

 

»Wenn ich eben sagte, daß ich beide Geschosse in Lady’s Stairs fand, dann habe ich einen kleinen Fehler gemacht. Ich fand nur eines dort – das andere entfernte ich aus einem Baum im Hydepark. Unsere Schießsachverständigen erklären, daß die beiden Geschosse aus demselben Pistolen-Typ abgeschossen wurden, aber es muß nicht notwendigerweise dieselbe Pistole sein. Das hätte ich den Leuten auch sagen können, denn Ihr Alibi war an jenem Abend unwiderleglich.«

 

Er holte das Etui wieder hervor und nahm das verbogene Geschoß heraus.

 

»Dieses fand ich in Lady’s Stairs – zwölf Monate lang habe ich danach gesucht.«

 

McGills Lippen zuckten.

 

»Hat Li Yoseph Ihnen dabei geholfen?« fragte er leichthin.

 

»Ja, er hat mir geholfen.«

 

Bradley nahm ein Schriftstück aus der Tasche und legte es auf den Tisch.

 

»Ich werde jetzt dieses Haus durchsuchen – hier ist meine Vollmacht«, sagte er in geschäftlichem Ton. »Ich habe nämlich die Idee – es mag sein, daß ich mich irre –, daß ich in diesem Haus irgendwo ein Duplikat der Pistole finden werde. Wenn Sie nichts dagegen haben, werde ich hier beginnen.«

 

Nur einen Augenblick sah McGill finster drein. Bradley fing diesen Blick auf und lachte.

 

»Ich bin nicht allein, McGill. Meine Leute haben das Haus umstellt. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, werde ich ein paar hereinrufen.«

 

Die Durchsuchung wurde ebenso planmäßig und gewissenhaft durchgeführt wie alle früheren. Der entsetzte Tiser saß auf der Ecke eines Stuhles und stöhnte und seufzte, wie es selbst Bradley nicht für möglich gehalten hätte.

 

Ein Zimmer nach dem anderen kam an die Reihe. In einem Geheimfach im Fußboden fand man eine Menge altes Silber. Der Raum gehörte einem der Leute, die nach einem Überfall auf Bradley plötzlich verhaftet worden waren.

 

»Ich kann und will Sie dafür nicht verantwortlich machen«, erklärte der Inspektor, als die Gegenstände gebracht und auf den Tisch gelegt wurden. »Kein Kokain, Simmonds?«

 

»Nein.«

 

»Auch keine Pistolen?« fragte Mark unschuldig.

 

»Dies habe ich oben in dem schallsicheren Raum entdeckt«, erwiderte Simmonds.

 

Mark atmete schwer, als er Anns Handtasche sah.

 

Bradley nahm sie auf und betrachtete sie von allen Seiten.

 

Als Mark nicht antwortete, öffnete er die Tasche.

 

Zuerst fiel ihm eine Visitenkarte in die Hand. Er sah Mark scharf an.

 

»Was hatte Miss Perryman hier zu tun?«

 

»Sie kommt öfters hierher«, sagte Mark gleichgültig. »Wir sind sehr gute Freunde – Sie mögen es glauben oder nicht. Über solche Dinge spricht man gewöhnlich nicht mit anderen, aber Sie sind ja ein Polizeibeamter, und ich pflege der Polizei immer die Wahrheit zu sagen.«

 

»So, Sie sind gute Freunde?« fragte Bradley kühl und gelassen. Er drückte die Handtasche wieder zu. »Wie gute Freunde sind Sie denn?«

 

Mark lächelte geheimnisvoll.

 

»Nun, Sie sind doch ein Mann von Welt …« begann er, aber Bradleys ironisches Lachen unterbrach ihn.

 

»McGill, Sie sind sehr heruntergekommen. Hätten Sie mir das vor einem Jahr gesagt, dann hätte ich es Ihnen vielleicht geglaubt. Sie haben sogar verlernt, geschickt zu lügen. Wenn ich Li Yoseph heute abend sehe, werde ich ihm sagen, daß es sich lohnt, nach Lady’s Stairs zurückzukommen, um das zu hören.«

 

Bradley war schon gegangen, als Mark McGill wieder sprach. Sedeman hatte das Zimmer während der Durchsuchung verlassen, und als Tiser nach oben geschickt wurde, um ihn zu suchen, fand er ihn nicht auf seinem Zimmer.

 

Mark ging wie ein gefangener Löwe auf und ab. Plötzlich hielt er in seiner Wanderung inne und sah auf seine Uhr.

 

»Zieh schnell deinen Mantel an«, sagte er barsch zu Tiser.

 

»Du willst doch nicht, daß ich heute abend noch ausgehe, Mark?« fragte Tiser furchtsam.

 

»Du kommst jetzt mit mir – nach Lady’s Stairs –, ich will mit Li Yoseph sprechen.«

 

Kapitel 21

 

Kapitel 21

 

Ann Perryman konnte mit ihrer letzten Kraft gerade noch das Haus erreichen. Als sie ihre Tür verschlossen und verriegelt hatte, sank sie erschöpft in einen Stuhl.

 

Sie kannte nun Mark McGill und zum erstenmal wurde ihr die Rolle klar, die sie bei seinem nichtswürdigen Treiben gespielt hatte. Ein kalter Schauer überlief sie bei dem entsetzlichen Gedanken, daß sie persönlich für eine Reihe von Verbrechen verantwortlich war, die sie nicht einmal kannte.

 

Sie hörte ein Klopfen und schrak auf. Mark wollte sie nicht hereinlassen, sie konnte sich jetzt keiner Gefahr mehr aussetzen. Am nächsten Morgen wollte sie diese Wohnung verlassen.

 

Sie ging in den Korridor, als sich das Klopfen wiederholte.

 

»Wer ist da?« fragte sie.

 

Zu ihrer größten Beruhigung antwortete ihr die Stimme des Portiers. Sie zog den Riegel zurück und öffnete die Tür.

 

»Ihr Taxi wartet noch unten, Miss. Der Fahrer möchte wissen, ob Sie noch weiterfahren wollen.«

 

In Ihrer Aufregung hatte sie vergessen, den Mann zu bezahlen. Sie ging ins Zimmer zurück, um ihre Handtasche zu holen. Dabei entdeckte sie ihren Verlust. Aber sie bewahrte noch Geld in ihrem Schreibtisch auf, so daß sie die Fahrt begleichen konnte.

 

»Könnte ich Sie einen Augenblick sprechen, Miss?«

 

»Jetzt?« fragte sie überrascht. »Nun gut, kommen Sie zurück, wenn Sie den Chauffeur bezahlt haben.«

 

Sie führte den Portier in ihr Wohnzimmer, als er wieder heraufkam.

 

»Ich habe etwas auf dem Herzen, was ich gern mit Ihnen besprechen möchte«, sagte der Mann. »Ich bin in einer fatalen Lage, die ich Ihnen schwer erklären kann.«

 

Sie lächelte schwach.

 

»Das klingt aber sehr geheimnisvoll, Ritchie.«

 

Sie hatte den Mann ganz gern; er war ein älterer pensionierter Beamter, der das Gebäude schon seit über zwanzig Jahren betreute.

 

»Miss Findon kam gestern aus Schottland zurück«, begann er. »Sie war auf dem Weg nach Paris und kam hierher, um zu sehen, ob alles in Ordnung ist.«

 

»Ist das die Tochter Sir Arthur Findons, die Violine spielt?«

 

»Ja. Sie hat einen etwas heftigen Charakter, und ich kann nicht gerade behaupten, daß ich sie gern sehe. Aber darum handelt es sich jetzt nicht. Sie entdeckte, daß jemand ihren Violinkasten geöffnet und den Bogen herausgenommen hatte – ich glaube, sie hat ihn gar nicht eingeschlossen, und da ich den einzigen Schlüssel zu der Wohnung habe, wird die Sache recht unangenehm werden. Wenn Sir Arthur hier wäre, ließe sich alles ja sehr leicht erklären. Aber wie die Dinge nun einmal liegen, komme ich in große Unannehmlichkeiten, ob ich nun schweige oder rede.«

 

Ann erinnerte sich an das Violinspiel; sie wußte, wer den Bogen genommen und vergessen hatte, ihn zurückzubringen.

 

»Kennen Sie Mr. Li Yoseph?« fragte sie.

 

Er war über die direkte Frage erstaunt.

 

»Nein – aber ich habe einen alten Herrn hereinkommen sehen. Ich dachte, er hätte die Erlaubnis, die Wohnung zu betreten. Ein Polizeibeamter hat mir auch mitgeteilt, daß ich ihn nicht hindern solle …« Er hielt plötzlich inne, als ob ihm klargeworden sei, daß er zuviel gesagt habe.

 

»Welcher Polizeibeamte war das – etwa Mr. Bradley? Kennen Sie ihn?«

 

Er nickte.

 

»Ja, Miss, ich kenne den Polizeiinspektor sehr gut. Ich kannte auch Ihren Bruder sehr gut.«

 

Sie schaute ihn groß an. Bisher hatte sie noch nicht daran gedacht, daß auch ihr Bruder in diesem Haus aus und ein gegangen war.

 

»Wie, Sie kannten Ronnie – meinen Bruder?«

 

»Ja, sehr gut«, erwiderte Ritchie. »Er schlief gewöhnlich hier in der Wohnung Mr. McGills, wenn er zuviel…« Er vollendete den Satz nicht, aber sie wußte, was er sagen wollte.

 

»Was kann ich nun für Sie tun, Ritchie? Soll ich mit Mr. McGill sprechen …?«

 

»Nein, sagen Sie ihm nichts«, unterbrach er sie schnell. »Wenn Sie mir einen Gefallen tun wollen, dann erzählen Sie bitte Mr. Bradley, was geschehen ist. Ich weiß, er ist Ihr Freund. Ich möchte natürlich nicht gern diese gute Stellung verlieren, auf der anderen Seite möchte ich auch nicht sagen, warum ich den alten Mann in Sir Arthurs Wohnung gelassen habe – da käme ich in noch größere Schwierigkeiten.«

 

»Ich werde Mr. Bradley alles erzählen, wenn ich ihn sehe. Es tut mir sehr leid, daß Sie in solche Unannehmlichkeiten gekommen sind. Mr. Bradley kannte doch meinen Bruder gut?«

 

»Ja, Miss. Er und Mr. Perryman waren sehr gute Freunde. Das heißt, Mr. Bradley war immer freundlich und nachsichtig zu ihm. Sie gingen oft abends zusammen aus, und ich weiß, wie nahe es Mr. Bradley ging, als Ihr Bruder starb. Er hat sein Bestes getan, um ihn zu retten.«

 

Ann dachte an Ronnie, als Ritchie gegangen war, und empfand große Genugtuung darüber, daß sich Marks Geschichte, mit der er sie gegen Bradley aufhetzen wollte, als Lüge erwies. Ronnie mußte durch ein Unglück ums Leben gekommen sein – vielleicht war er aus dem Boot gefallen, als er den Polizeibeamten entfliehen wollte.

 

Aber dann erinnerte sie sich an den Wortlaut der gerichtlichen Erklärung: Anklage gegen einen oder mehrere unbekannte Täter wegen vorsätzlichen Mordes. Sie hatte es nicht über sich gebracht, alle Einzelheiten zu lesen; aber der Fall war eingehend untersucht worden, und die Ärzte hatten ihr Urteil abgegeben. Es war zweifellos Mord.

 

Bradley war nicht der Täter, aber sie wußte auch nicht, wen sie sonst mit der Schuld belasten sollte.

 

Mark? Das war undenkbar. Und doch hatte sie genügend Beweise für seine Rücksichtslosigkeit und Verwegenheit. Der alte Li Yoseph mußte es wissen. Sie erinnerte sich jetzt genau an das dunkle Zimmer in Lady’s Stairs – Li hatte damals einen Augenblick gezögert, als Mark darauf bestand, daß er ihr die Geschichte erzählen sollte. Seine Antworten waren kurz und einsilbig gewesen.

 

Plötzlich hörte sie ein leises Klopfen in bestimmtem Rhythmus an ihrer Wohnungstür.

 

Das war Marks Signal. Sie drehte das Licht behutsam aus, schlich geräuschlos in den Flur und schob vorsichtig den Sicherheitsriegel vor. Soviel sie wußte, hatte Mark keinen Schlüssel zu ihrer Wohnung, aber nach all ihren Erlebnissen wollte sie sich keiner weiteren Gefahr aussetzen. Ihre Befürchtungen waren auch gerechtfertigt, denn gleich darauf wurde ein Schlüssel in das Schloß gesteckt und umgedreht. Die Türklinke senkte sich. Aber der Sicherheitsriegel war stark und hielt. Der Schlüssel wurde wieder abgezogen, und Ann hörte, daß sich die Tür zu Marks Wohnung schloß. Sie legte jetzt auch noch die Sicherheitskette vor.

 

Bald darauf ging wieder eine Tür. Anscheinend wollte Mark noch ausgehen. Er klopfte noch einmal bei ihr an, aber sie verhielt sich ganz ruhig.

 

Das Klopfen wiederholte sich nicht. Sie löschte von neuem das Licht und ging ans Fenster, um hinauszusehen. Nach einer Weile trat Mark aus dem Haus, überquerte den Platz, schlug die Richtung nach der Regent Street ein und verschwand.

 

Ann wollte sich nun zu Bett legen und schlafen, aber sie war noch zu erregt. Immer wieder mußte sie darüber nachdenken, wer Ronnies Mörder sein könnte. Es quälte sie das unwiderstehliche Verlangen, die Wahrheit darüber zu erfahren. Und es gab nur einen Menschen, der es ihr sagen konnte – Li Yoseph!

 

Es war nach Mitternacht, als sie plötzlich einen wilden Entschluß faßte. Sie verwarf ihn zuerst wieder, weil es zu absurd war; aber schließlich gewöhnte sie sich immer mehr an den Gedanken, und als sie zu Mantel und Hut griff, erschien ihr der Plan ganz natürlich und vernünftig.

 

Sie verließ das Haus und schlug dieselbe Richtung ein wie Mark. Es war charakteristisch für ihre Gemütsverfassung, daß es ihr ganz gleichgültig gewesen wäre, wenn sie ihn getroffen hätte.

 

Die Regent Street lag verlassen da. Nur ab und zu sah sie ein Auto oder einen verspäteten Fußgänger. Sie mußte eine ziemliche Strecke gehen, bevor sie einen Wagen fand.

 

Als der Fahrer hörte, daß sie nach Lady’s Stairs fahren wollte, machte er ein langes Gesicht.

 

»Das ist aber eine recht verrufene Gegend. Ich würde an Ihrer Stelle nicht allein dorthin gehen, wenn Sie nicht jemand dort besuchen wollen. Ich kenne das Haus – früher lebte ein alter Einsiedler dort.«

 

Der Mann hatte selbst bis vor kurzem in der Nachbarschaft gewohnt.

 

»Aber jetzt steht es leer, Miss. Ich war letzte Woche dort, und da wurde mir erzählt, daß der alte Li Yoseph noch nicht zurückgekommen sei.«

 

Als sie die Regent Street hinunterfuhr, sah sie zwei Herren am Rand des Gehsteigs stehen. Der eine gab dem Auto ein Zeichen zu halten, da er in der Dunkelheit nicht gesehen hatte, daß es besetzt war. Als sie hinausschaute, erkannte sie Mark McGill. Erleichtert atmete sie auf. Mark wollte wahrscheinlich zu einem der Nachtklubs fahren, deren Mitglied er war.

 

Ann war nur von dem einen Wunsch beseelt, Li Yoseph zu sprechen; sie fürchtete sich in keiner Weise, selbst als ihr Wagen durch die engen, schmutzigen Straßen fuhr, die in der Nähe von Lady’s Stairs lagen. Sie ließ das Auto direkt vor dem Haus halten und stieg aus. Kein Licht fiel aus den schmalen, düsteren Fenstern. Die Wellen der steigenden Flut schlugen gegen die Boote, die in der Bucht festgemacht waren. Ann fröstelte leicht.

 

»Ich habe Ihnen doch schon gesagt, daß das Haus leer ist. Sie werden wahrscheinlich niemand hier finden – höchstens einen Polizisten, der Wache hält.«

 

Als sie über das Pflaster ging, kam ihr ein Gedanke, und sie kehrte noch einmal um.

 

»Wenn ich in das Haus kommen kann, warten Sie bitte in der Nebenstraße auf mich.« Sie gab ihm einen Geldschein.

 

Vor der Haustür suchte sie nach der Klingel. Sie erinnerte sich, daß der Knopf versteckt unter einem Gesims lag. Dabei drückte sie gegen die Tür, die sofort nachgab. Es schien fast so, als ob Li Yoseph sie erwartete. Einen Augenblick lang blieb sie unentschlossen auf der Schwelle stehen, dann betrat sie den kleinen dunklen Gang.

 

Oben sah sie einen schwachen Lichtschimmer, und mit klopfendem Herzen stieg sie die Treppe hinauf. Die Tür zu Li Yosephs Zimmer stand auf – der Lichtschein drang aus diesem Raum. Von Li Yoseph selbst war nichts zu sehen. Auch sonst schien kein lebendes Wesen in der Wohnung zu sein.

 

Sie stand in der Tür und überschaute das Zimmer.

 

»Ist jemand hier?« fragte sie nervös.

 

Aber nur das Echo ihrer Stimme antwortete ihr.

 

Es herrschte einige Unordnung hier, aber im allgemeinen war es bedeutend sauberer, als Ann erwartet hatte. Erst später erfuhr sie, daß Mr. und Mrs. Shiffan hier seit einigen Tagen an der Arbeit waren, den Schmutz zu beseitigen.

 

Drüben stand Lis eiserne Bettstelle. Das Bett war seit langem nicht bezogen worden. Die Fenster nach dem Wasser zu waren geputzt, sie konnte die Lichter der Dampfer auf dem Fluß sehen.

 

»Ist jemand hier?«

 

Diesmal hatte sie lauter gesprochen, aber wieder erhielt sie keine Antwort.

 

Sie wußte nicht, welche Räume hinter den beiden Türen lagen, die von diesem Zimmer aus gingen, und sie mußte allen Mut zusammennehmen, um sich zu einem Erkundungsgang aufzuraffen. Aber kaum hatte sie einen Schritt auf die eine Tür zu gemacht, da verlosch das einzige Licht in dem Raum, und sie befand sich in vollkommener Dunkelheit.

 

Sie erschrak und wandte sich wieder zu dem Eingang zurück. Plötzlich hörte sie ein Geräusch, als ob Holz gegen Holz gestoßen würde, und in der Mitte des Fußbodens erschien plötzlich eine viereckige Öffnung. Im nächsten Augenblick tauchte ein Kopf eines Mannes auf – die Gestalt stieg höher und höher, und Ann erkannte den Fremden in dem Licht der Lampe; die er trug.

 

Es war Li Yoseph!

 

Sollte sie ihn ansprechen? Bevor sie zu einem Entschluß gekommen war, hörte sie das Flüstern einer zweiten Stimme. Die Lampe wurde ausgelöscht. Noch mehr Leute stiegen von unten in den Raum – zwei – drei. Sie hörte ihre Schritte auf dem Boden. Sie unterhielten sich leise. Das viereckige Loch im Boden verschwand, und die Falltür schloß sich.

 

Sie wartete einige Sekunden und versuchte die geflüsterten Worte zu verstehen. Aber die Leute entfernten sich nach der hinteren Seite des Zimmers, eine Tür knarrte laut, und plötzlich flammte das Licht wieder auf. Der Raum war vollständig leer vor ihr.

 

Ann stand reglos in der Tür und wartete. Jetzt hörte sie von unten ein Geräusch, gleich darauf erklangen schwere Schritte auf der Treppe. Sie mußte gesehen worden sein, denn sie wurde angerufen.

 

»Ann! Was machen Sie denn hier?« fragte Mark erstaunt. Er war allein. Er drängte sie behutsam aus dem Zimmer, legte seine Hand auf ihre Schulter und sah sie argwöhnisch an.

 

»Wie sind Sie denn hierhergekommen?«

 

»Ich habe ein Auto genommen«, sagte sie so gleichgültig wie möglich.

 

»Warum sind Sie gekommen? Hat Bradley nach Ihnen geschickt?«

 

Sie sah ihn groß an. »Mr. Bradley? Nein, ich wollte Li Yoseph sprechen.«

 

»Warum denn?« fragte er ärgerlich. »Sie wollen mir doch nicht etwa erzählen, daß Sie aus reiner Neugierde hierhergekommen sind?«

 

»Ich erzähle Ihnen nur das, was mir beliebt, Mark«, sagte sie ruhig. »Ich habe Ihnen keine Rechenschaft abzulegen.«

 

Er dachte einen Augenblick nach, und seine Stirn legte sich in häßliche Falten.

 

»Haben Sie Li Yoseph denn gesehen?«

 

Sie wollte ihm schon erzählen, was sie gesehen hatte, aber eine innere Stimme riet ihr zur Vorsicht.

 

»Nein, ich habe ihn nicht gesehen.«

 

Er wandte sich zu einer der Türen, stieß sie auf und ging hinaus. Fünf Minuten später kam er zurück und staubte seine Hände ab.

 

»Es ist niemand da«, sagte er.

 

Plötzlich hob er den Kopf. »Was ist das?«

 

Auch Ann hörte das leise, unheimliche Kichern und Lachen, das von dem Raum über ihnen zu kommen schien.

 

Ann schaute Mark an, der an ihrer Seite stand.

 

»Wer war denn das?« fragte sie leise.

 

»Es klang so, als ob es Li selbst wäre«, sagte er unsicher. »Er ist ein ganz merkwürdiger Kerl.«

 

Sie warteten, aber sie hörten nichts mehr. »Gehen Sie nicht«, sagte Mark, als sie sich zur Tür wandte. »Ich werde Sie nach Hause bringen.«

 

»Das ist nicht nötig – mein Wagen wartet unten.«

 

»Ach, das war Ihr Wagen? Ich sah ihn in der Seitenstraße stehen und dachte, er gehöre der Polizei.«

 

Er folgte ihr die Treppe hinunter auf die Straße und erstarrte bei dem unerwarteten Anblick, der sich ihm bot. Auf der anderen Seite der Straße standen drei Polizeiautos in einer Reihe. Außer den drei Fahrern, die ruhig am Steuer saßen, war nichts von der Fliegenden Kolonne zu sehen.

 

»Was mögen die hier zu tun haben? Als ich kam, waren sie noch nicht da.« Marks Stimme verriet seine Erregung. »Haben Sie zufällig Ihren Freund Bradley hier gesehen?«

 

Sie antwortete ihm nicht, sondern ging schnell zu der Seitenstraße, in der ihr Auto hielt. Der Fahrer war inzwischen eingeschlafen.

 

Mark gewann allmählich seine Selbstbeherrschung zurück.

 

»Sie würden mich vermutlich nicht gern mitnehmen? Nun, es ist auch nicht notwendig. Aber sagen Sie mir nur, warum Sie hierhergekommen sind, Ann? Hat Bradley Ihnen geraten, den alten Li aufzusuchen?«

 

»Nein«, antwortete Sie kurz, stieg ein und schlug die Tür hinter sich zu.

 

Sie war so müde, daß sie während der Rückfahrt in einen leichten Schlummer fiel. Erschrocken fuhr sie auf, als der Wagen vor ihrer Wohnung hielt. In geringer Entfernung sah sie einen Mann auf dem Gehsteig stehen. Er kam schnell auf sie zu, als sie den Fahrer bezahlt hatte. Es war Tiser.

 

»Haben Sie Mark gesehen, Miss Ann? Ich habe hier auf ihn gewartet.«

 

»Er ist in Lady’s Stairs.«

 

»Er ist in Lady’s Stairs!« wiederholte er entsetzt. »Und Sie sind auch dort gewesen? Aber, Miss Ann, wie leichtsinnig war das von Ihnen!«

 

Sie wollte an ihm vorbeigehen, aber er trat ihr in den Weg.

 

»Warten Sie einen Augenblick, Miss Ann. Ich habe Ihnen etwas zu sagen, etwas Wichtiges – Sie wissen doch, daß wir uns alle in einer sehr gefährlichen Lage befinden …«

 

Sie war erstaunt über seine Aufregung und seine abgerissene Sprache. Zuerst hatte sie gedacht, er habe wieder zuviel getrunken, aber als sie ihn jetzt näher betrachtete, bemerkte sie, daß er vollständig nüchtern war.

 

»Ich möchte lieber morgen früh mit Ihnen sprechen, Mr. Tiser …«, begann sie.

 

Aber plötzlich wandte er sich zu ihrem größten Erstaunen von ihr ab und floh in die Dunkelheit. Im selben Augenblick hörte sie das Knattern eines Motors und sah zwei helle Scheinwerfer. Mit einem Ruck hielt der Wagen an dem Rand des Gehsteigs. Es war einer der Polizeiwagen, die sie vorhin gesehen hatte, und sie erkannte Bradley, als er heraussprang.

 

»Um Himmels willen, warum stehen Sie hier unten auf der Straße? Haben Sie keinen Schlüssel?« fragte er.

 

Seine Gegenwart brachte ihr große Erleichterung, und die Spannung der letzten Stunden lösten sich in einem beinahe hysterischen Lachen.

 

»Ich habe einen Schlüssel – aber Mr. Tiser wollte mich eben noch sprechen.«

 

»Ich dachte, der würde in McGills Wohnung warten. Was hat er Ihnen denn gesagt?«

 

»Nichts Wichtiges.«

 

»Sie waren in Lady’s Stairs?« Dann sagte er lachend: »Ich will nicht zu geheimnisvoll sein, ich weiß, daß Sie dort waren. Ich wünschte mir, daß Sie nicht allein dorthin gingen, Ann, bis ich Sie darum bitte. Dann werde ich auch dasein, damit Ihnen nichts passiert. Kann ich einen Augenblick mit in Ihre Wohnung kommen?«

 

Sie fand seine Bitte ganz natürlich, obwohl es nahezu drei Uhr morgens war.

 

»Worüber sprach Tiser denn?« Bradley schien sich sehr für diesen Mann zu interessieren.

 

Sie konnte es ihm nicht sagen, da sie ja selbst nicht wußte, warum er unten auf sie gewartet hatte.

 

»Es ist doch merkwürdig«, sagte er, als sie ihm alles berichtet hatte, was sie wußte. »Es scheint fast so, als ob …«

 

Er vollendete den Satz nicht, nahm die Schlüssel aus ihrer Hand, öffnete die Haustür und ging die Treppe vor ihr hinauf. Er schloß auch ihre Wohnungstür auf und trat zuerst ein.

 

Nachdem er das Licht im Wohnzimmer eingeschaltet hatte, blieb er einen Augenblick stehen und betrachtete mit Genugtuung Mark McGill, der am Tisch saß und sehr verdutzt dreinschaute. In derselben Weise hatte er Ann überraschen wollen.

 

»Sind Sie ohne Schwierigkeiten hereingekommen?« fragte Bradley höflich.

 

»Ich hatte meinen Schlüssel«, erwiderte McGill kühl.

 

Bradley nickte.

 

»Vermutlich kamen Sie eine Minute vor Miss Perryman hier an. Sie haben dann Tiser auf die Straße geschickt, um eine längere Unterhaltung mit ihr anzufangen und sie so lange aufzuhalten, bis Sie selbst hier oben Ihre Absicht erreicht hatten.«

 

Ann sah Mark McGill verwundert und sprachlos an. Sie erinnerte sich jetzt, daß in der Nähe der Westminster Bridge ein großer Wagen an ihr vorbeigefahren war, der ihr bekannt vorkam.

 

»Ich könnte nun zweierlei tun«, sagte Bradley langsam. »Wenn ich meinen primitiven Trieben folgte, würde ich das Fenster aufmachen und Sie hinauswerfen. Ich könnte Sie jetzt auf Grund einer der kleineren Anklagen, die ich gegen Sie vorbringen kann, verhaften. Aber ich ziehe es vor zu warten, bis ich alle Beweise für Ihr Kapitalverbrechen zusammengebracht habe.«

 

»Welches ist denn mein Kapitalverbrechen?« fragte Mark beinahe liebenswürdig.

 

Bradley lächelte.

 

»Ich glaube nicht, daß ich Ihnen das erklären muß. Sie gingen doch nach Lady’s Stairs, um Li Yoseph aufzusuchen – nun gut. Sie werden ihn an einem der nächsten Abende sehen. Und Sie werden auch die Anklage hören, die er gegen Sie erhebt. Ich gebe sehr viel darauf, daß Sie Li Yosephs Anschuldigungen aufnehmen werden.«

 

Mark war belustigt.

 

»Wollen Sie Li Yoseph als Zeugen gegen mich auftreten lassen? Wollen Sie seinen Geist anrufen, daß er dieses Zeugnis bestätigt? Sie können mich nicht so leicht bluffen. Sie möchten gern wissen, warum ich hier bin? Nun, Miss Perryman weiß, warum ich kam. Sie gab mir ihren Schlüssel.«

 

Ann sah ihn an. »Wie dürfen Sie das sagen …« begann sie, aber Bradley brachte sie durch einen Blick zum Schweigen.

 

»Er will Sie ja gar nicht kränken, sondern mich. Aber ich bin wohl am schwersten von allen Leuten aus der Fassung zu bringen.« Er wies mit dem Kopf nach der Tür. »Machen Sie, daß Sie fortkommen, McGill.«

 

Mark schaute ihn haßerfüllt an, aber dann entfernte er sich achselzuckend. Sie hörten, wie er seine Tür heftig zuschlug.

 

»Haben Sie irgendwelche Verwandten oder auch Freunde in London, Ann?«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Dann müssen Sie in ein Hotel ziehen – heute nacht werden Sie ja wohl hier sicher sein. Aber morgen müssen Sie in aller Frühe diese Wohnung verlassen. Haben Sie genügend Geld?«

 

»Ich habe das zu Unrecht erworbene Geld«, sagte sie niedergeschlagen. »Hoffentlich muß ich nicht viel davon anrühren. Ich möchte morgen nach Paris fahren.«

 

»Ich würde es gern sehen, wenn Sie London vorläufig nicht verlassen«, erwiderte er schnell. »Ich möchte McGill überführen, aber der eigentliche Grund liegt in meiner persönlichen Eitelkeit. Ich möchte Sie überzeugen, daß Ronnie …«

 

Sie unterbrach ihn durch eine Handbewegung.

 

»Wenn Sie wollen, daß ich so lange bleibe, bis Sie sich von diesem ungerechtfertigten Verdacht befreit haben, dann könnte ich schon in dieser Minute abreisen.«

 

»Ist das Ihre wirkliche Überzeugung? Sie haben nicht mehr den geringsten Argwohn gegen mich?«

 

»Nein!«

 

Er schwieg eine Weile.

 

»Erinnern Sie sich noch an unsere erste Begegnung in der Wohnung des alten Li? Damals sagten Sie, Sie würden nicht wieder glücklich werden, bis Sie den Mörder Ihres Bruders aufs Schafott gebracht hätten.«

 

Sie zitterte.

 

»Ich glaube, ich fühle heute nicht mehr so – das war eine leere Phrase. Allmählich verstehe ich, wie schrecklich das alles ist, und ich ahne die Zusammenhänge.«

 

Sie schwiegen beide eine Weile. Er schien sie ungern allein zu lassen, und sie sah ihn ungern fortgehen.

 

»Alles, was mit dem Gesetz zusammenhängt, ist nicht angenehm«, sagte er. »Sie erinnern sich noch daran, wie wir das vor dem Polizeigericht erfuhren? Würde es Ihnen unmöglich sein« – es wurde ihm schwer, die Frage zu vollenden –, »einen Detektiv zu heiraten?« Als sie ihm keine Antwort gab, fuhr er fort: »Was auch immer geschehen mag, ich werde am Ende dieses Jahres aus der Polizeitruppe ausscheiden. Es ist mir die Leitung einer großen Kaffeeplantage in Brasilien angeboten worden. – Sie wissen wahrscheinlich noch nicht, daß ich ein Spezialist für Kaffee bin?«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Das wäre Ihnen doch angenehmer, als die Frau eines Polizeibeamten zu sein?«

 

Ann sah ihn nicht an.

 

»Ja, ich glaube. Denken Sie daran, sich zu verheiraten, Mr. Bradley?«

 

Sie zwang sich dazu, ihn anzusehen.

 

»Ja, ich habe diese Absicht. Es ist nur die Frage, ob das Mädchen, das ich gern zur Frau hätte, mich auch mag.«

 

»Ich glaube, Sie müssen jetzt gehen, Mr. Bradley«, sagte sie und öffnete die Tür. »Halb vier Uhr früh ist nicht gerade die beste Zeit, sich über Heirat und dergleichen zu unterhalten.«

 

Aber er blieb noch einen Augenblick stehen.

 

»Trinken Sie eigentlich Kaffee gern?«

 

Sie antwortete ihm erst, als er außerhalb ihrer Wohnungstür stand.

 

»In Zukunft werde ich nichts anderes trinken«, sagte sie und schloß schnell die Tür.

 

Kapitel 22

 

Kapitel 22

 

Ann war sehr erstaunt, als Mark am nächsten Morgen bei ihr anrief und fragte, ob er zu ihr hinüberkommen dürfe, aber sie blieb merkwürdig unberührt von seinem Ansinnen. Neue Kraft und neuer Lebensmut waren in ihr erwacht. Sie gestattete ihm zu kommen und begrüßte ihn mit einem fast fröhlichen »Guten Morgen«. Als er begann, sich wegen seines gestrigen Verhaltens zu entschuldigen, unterbrach sie ihn.

 

»Das war das Ende unserer Freundschaft, Mark«, sagte sie ruhig. »Sie endete ja eigentlich schon vor langer Zeit – als ich entdeckte, daß Sie meine Unkenntnis mißbrauchten.«

 

Er machte nicht die geringste Anstrengung, dagegen zu protestieren, sondern betonte obendrein noch die Art seiner Geschäfte.

 

»Man kann viel Geld damit verdienen und hat wenig Konkurrenz«, meinte er kühl. »Ich hatte den Handel gerade organisiert, als Bradley das Dezernat für Rauschgifte erhielt. Es wird Jahre dauern, bis ich die Verluste überwunden habe, denn in der Zwischenzeit ist ein neuer Händler aufgetaucht. Ich hätte meine Organisation für hunderttausend Pfund verkaufen können. Ich hoffte auch, jemand zu finden, der mir ein gutes Angebot machte. Aber als ich unter polizeiliche Beobachtung kam, wurden mir alle Agenten von diesem großen Unbekannten abspenstig gemacht – das heißt, daß in kurzer Zeit jemand auf Grund meines Verstandes und meines Fleißes reich werden wird.«

 

Mark kam auf den eigentlichen Zweck seines Besuches zu sprechen.

 

»Ich weiß nicht, wie lange Sie noch hier im Land bleiben, aber es ist ganz sicher, daß diese Gesellschaft Sie um Auskunft bitten wird, ehe Sie abreisen. Es gibt einige Agenten hier im Land, die nur wir beide kennen – ich habe Ihnen vertraut wie sonst keinem Menschen auf der Welt. Wenn irgend jemand Informationen von Ihnen verlangt, teilen Sie mir bitte mit, wer es ist.«

 

»Ich werde nur noch sehr kurze Zeit in England sein.«

 

Er nickte.

 

»Das wissen die anderen ebensogut wie ich. Deshalb bin ich auch heute morgen gekommen und habe riskiert, daß Sie mich abweisen würden. Sie haben doch Bradley nichts von meiner Organisation erzählt?« fragte er schnell.

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Ich habe gewußt, daß Sie das nicht tun würden. Aber es wäre doch möglich, daß Sie zu einem anderen darüber sprechen würden. Es wäre gar nicht so furchtbar, wenn Sie Bradley mitteilten, wer meine Geheimagenten waren. Im schlimmsten Fall werden sie verhaftet und ins Gefängnis gesteckt. Es ist mir gleichgültig, ob sie den Rest ihres Lebens in Dartmoor zubringen, aber ich möchte nicht, daß ein anderer meine Organisation für sich ausnützt.«

 

Plötzlich änderte er das Gesprächsthema und fragte nach ihren Plänen. Mit keiner Silbe erwähnte er die Szene in der Herberge, auch gab er ihr keine Erklärung für seine Anwesenheit in ihrer Wohnung, als sie gestern von Lady’s Stairs zurückkam. Von Li Yoseph sprach er erst, als er sich erhob, um zu gehen.

 

»Ich weiß genau, was ich von dem Alten zu erwarten habe. Er hat sich selbst der Polizei verkauft – schon bevor er verschwand. Er steckt mit diesen Leuten unter einer Decke. Wenn Bradley einen unabhängigen Zeugen finden könnte, würde ich längst hinter Schloß und Riegel sitzen. Aber das kann er nicht.«

 

»Glauben Sie, daß Li Yoseph Sie verraten und angezeigt hat?«

 

»Verraten!« grollte Mark. »Das hat er natürlich nicht getan! Fünfhundert Menschen in diesem Land würden mich anzeigen, aber keiner von ihnen kann einen Beweis erbringen.«

 

Am Nachmittag ging Ann aus und sah unterwegs in einiger Entfernung Sedeman. Er hatte anscheinend wieder zuviel getrunken, denn er schwankte hin und her und sang mit lauter Stimme. Ein Polizist folgte ihm langsam und brachte ihn bis zum nächsten Revier. Ann war nur mit halbem Herzen bei den Einkäufen für ihre Reise nach Paris. Es kam ihr selbst sonderbar vor, daß sie so wenig bei der Sache war. Sie trat in ein Kaufhaus ein und wußte nicht, was sie eigentlich kaufen wollte. Denn wenn ihr Verstand Paris sagte, so sagte ihr Herz Brasilien. Und die Dinge, die sie kaufte, schienen sich merkwürdigerweise auch mehr für Brasilien als für Paris zu eignen.

 

In einem Kaufhaus in der Oxford Street entdeckte sie Tiser unter dem Publikum. Sie glaubte, ihn auch schon vorher einmal gesehen zu haben. Er war stets gut gekleidet, aber heute fiel ihr das besonders auf. Er kam mit einem vielversprechenden Lächeln auf sie zu und rieb sich die Hände, als ob er ein gutes Geschäft gemacht hätte.

 

»Guten Tag, Miss Ann. Hoffentlich störe ich Sie nicht in einem ungelegenen Augenblick … Es wäre eine große Ehre für mich, wenn Sie mit mir Tee trinken würden … Der Erfrischungsraum ist oben im vierten Stock.«

 

Zuerst wollte sie seine Einladung ablehnen, aber sie war gutmütig und wollte ihn nicht verletzen.

 

»Ich werde schon nach oben gehen und einen Tisch reservieren«, sagte er eifrig, als sie ihm zunickte. »Ich bin sicher, daß ich mich auf Sie verlassen kann, Miss Ann. Sie werden mich nicht um das Vergnügen bringen.«

 

Tiser wußte auf geschickte Art zu verschwinden. Seine Bewegungen waren so schnell und gewandt, daß man ihm kaum folgen konnte. Einige Zeit später fuhr sie mit dem Fahrstuhl zu dem Restaurant. Tiser hatte einen Ecktisch in der Nähe eines Fensters belegt, von dem aus man die Oxford Street gut überschauen konnte. Er erhob sich so begeistert, daß er den Tisch fast umgeworfen hätte, und drückte seinen Dank etwas zusammenhanglos aus.

 

»Vor allem muß ich Ihnen sagen, daß ich nicht an dem schuld bin, was sich gestern abend im Versorgungsheim ereignete«, begann er, als sie sich gesetzt hatte. »Ich war ganz außer mir, als Mark …«

 

»Wir wollen nicht weiter darüber sprechen, Mr. Tiser«, sagte Ann mit abwehrender Geste.

 

»Gewiß nicht, wenn Sie es wünschen«, erwiderte er hastig. »Es war nur so schrecklich, ganz und gar nicht ritterlich … Kein Mann durfte das tun. Ich schaudere noch, wenn ich daran denke! Aber Mark ist eben so – in seinem Zorn weiß er nicht, was er tut, Miss Ann. Aber wir wollen von etwas anderem sprechen.« Er zog ein großes Taschentuch heraus und trocknete sein Gesicht ab. »Eines Tages müssen Sie in meinem kleinen Haus mit mir Tee trinken nein, nein, ich meine nicht das Versorgungsheim –, ich habe jetzt ein eigenes Heim in der Bayswater Road.« Plötzlich hielt er inne. »Wie kam ich nur darauf?« fragte er ängstlich. »Sie werden doch Mark nichts davon erzählen, meine liebe Miss Ann? Ich weiß gar nicht, warum ich Ihnen dies eigentlich sage. Das zeigt nur, wie sehr ich Ihnen vertraue. Ich möchte Ihnen gerne meine neue Wohnung zeigen. Ich hab sie sehr schön ausgestattet, die Einrichtung kostete über dreitausend Pfund … ja, ich habe mir im Lauf der Zeit etwas Geld gespart. Aber Sie werden doch nicht zu Mark darüber sprechen?«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Ja, mit Mark ist es zu Ende.« Mr. Tiser schien sich beinahe darüber zu freuen. »Er war lang genug am Ruder, und wenn er jetzt klug ist, macht er sich aus dem Staub und läßt sich nicht wieder sehen. Die Eitelkeit hat ihn zu Fall gebracht. Wie traurig ist es doch, meine liebe Miss Ann, daß so mancher intelligente Mann an diesem Punkt scheitert.« Er schüttelte mutlos den Kopf.

 

»Inwiefern ist denn seine Eitelkeit daran schuld?« fragte Ann.

 

Tiser zuckte nur die Schultern.

 

»Er ist in vieler Beziehung eitel, zum Beispiel bildet er sich ein, daß nur er ganz allein diese Organisation aufgebaut hat und daß nur er allein sie leiten kann. Es ist ja wahr, daß es eine ganze Anzahl von Agenten gibt, die außer ihm niemand kennt.« Er lächelte verschlagen. »Aber Sie kennen die Leute doch auch, meine liebe Miss Ann? Ich zweifle keinen Augenblick daran. Da ist zum Beispiel dieser Agent in Cardiff – ein geheimnisvoller Mann! Sie haben ihm doch immer den Stoff geliefert, nicht wahr?«

 

Ann antwortete nicht, und Mr. Tiser sah sie schalkhaft an.

 

»Sie sind wirklich sehr diskret, Miss Ann! Ich hörte, Sie wollen nach Paris gehen und wieder ganz von neuem anfangen? Das wird Ihnen aber einigermaßen schwerfallen. Ich bin auch sicher, daß Mark sich Ihnen gegenüber nicht sehr vornehm gezeigt hat. Sie können es mir ruhig sagen, daß er Ihnen nicht genug Geld gegeben hat!«

 

»Ich habe ihm keine Gelegenheit dazu gegeben, sich vornehm zu zeigen.«

 

Mr. Tiser lächelte.

 

»Natürlich! Von dieser Art Menschen kann man keine Geschenke annehmen. Aber ich bin ganz anders. Ich sagte heute morgen zu mir, als ich aufwachte: ›Tiser, du mußt dieser jungen Dame gegenüber anständig handeln. Geh zu deiner Bank und hebe fünfhundert Pfund ab.‹ – Und das habe ich denn auch getan.« Er zeigte auf seine Rocktasche, und sie hörte das Rascheln der Banknoten. »Fünfhundert Pfund!« wiederholte er. »Damit könnten Sie doch wieder von vorne anfangen …«

 

»Wenn ich Sie recht verstehe, möchten Sie den Namen des Agenten in Cardiff erfahren, und das soll der Preis dafür sein?« fragte sie offen.

 

»Stimmt ganz genau – Sie sind wirklich eine geniale Geschäftsfrau!«

 

Ein Lächeln spielte um ihren Mund, und er glaubte, daß ihr seine Schmeichelei gefallen habe.

 

»Sie sind also der große Unbekannte?«

 

»Wie bitte?« fragte Tiser erschrocken.

 

»Sie sind der Mann, über den Mark in der letzten Zeit sprach – Sie haben ihm sein entsetzliches Geschäft gestohlen?«

 

Tisers Gesicht zuckte nervös.

 

»Was hat Mark gesagt?« stotterte er. »… entsetzliches Geschäft – Sacharin?«

 

»Kokain! Mark weiß genau, daß irgend jemand seine Organisation ausnützt …«

 

»Aber das bin doch nicht ich!« protestierte Tiser furchtsam. »Ich bitte, meine liebe, gute Miss Ann, sagen Sie ihm doch, daß ich das nicht bin, wenn er Sie fragen sollte. Ich wollte Sie doch nur auf die Probe stellen. Haha?« Er lachte, aber es klang wenig überzeugend. »Wissen Sie, Miss Ann, die Treue zu Mark ist der Angelpunkt meines ganzen Lebens.«

 

Ann schwieg einen Augenblick, dann fragte sie plötzlich:

 

»Wer hat meinen Bruder ermordet?«

 

Sie sah Tiser scharf an, und er fuhr erschrocken zusammen.

 

»Bradley«, brachte er endlich mit hohler Stimme hervor. »Mark hat Ihnen doch gesagt …«

 

»Wer hat Ronnie getötet? Haben Sie es getan?«

 

Er sprang fast von seinem Stuhl auf.

 

»Ich? Großer Gott! Ich würde selbst gegen meinen schlimmsten Feind die Hand nicht erheben! Ich weiß nicht, wer ihn getötet hat. Vielleicht war es ein Unglücksfall.«

 

»Warum sagen Sie denn dann, daß es Bradley war?« fuhr sie erbarmungslos fort. »War es vielleicht Mark selbst?«

 

Er starrte sie entsetzt an.

 

»Ja, war es Mark?« wiederholte sie.

 

»Meine liebe, gute Miss Bradley – ich meine Miss Ann –, warum stellen Sie denn so fürchterliche Fragen? Die sind doch zu töricht – meinen Sie nicht auch? Ich kann Sie gar nicht verstehen – wirklich nicht –, ich weiß überhaupt nichts von der ganzen Sache.«

 

Ein fürchterlicher Gedanke tauchte plötzlich in ihm auf.

 

»Sie arbeiten im Auftrag von Mr. Bradley – jetzt weiß ich es, Miss Ann! Ich muß immer wieder sagen, wie ich ihn bewundere!«

 

»Ich arbeite für niemand, nicht einmal für Sie, Mr. Tiser. Sie werden die fünfhundert Pfund auf Ihre Bank zurücktragen müssen – oder wenn Sie ein Gewissen haben, verwenden Sie das Geld für die armen Leute, die von Ihnen und Mark ins Elend gestürzt worden sind.«

 

Sie trank ihre Tasse aus und stellte sie auf den Tisch. Dann erhob sie sich, ohne noch ein Wort zu sagen und ging fort. Das war aber eine viel zu vornehme Geste diesem Menschen gegenüber, wie sie später erkannte. Als sie unten im Erdgeschoß noch einen kleinen Einkauf machen wollte, entdeckte sie, daß sie ihre kleine Handtasche im Erfrischungsraum hatte liegenlassen. Ihre Lage war nicht gerade angenehm, aber sie lächelte nur darüber. Im schlimmsten Fall konnte ihr Tiser ja nur ein neues Angebot machen. Sie fuhr wieder nach oben und war erleichtert, als sie ihn eben aus der großen Tür treten sah. Halbwegs kam ihr schon die Kellnerin entgegen und brachte ihr die Tasche.

 

Sie hatte sie nun in der letzten Zeit schon zweimal verloren. Das erstemal hatte Bradley sie ihr wieder zurückgebracht. Sie streifte den Bügel über den Arm und trat auf die Straße hinaus. Mr. Tiser beobachtete, wie sie sich langsam in östlicher Richtung entfernte, und winkte einen Mann zu sich, der ohne Anns Wissen Tiser dauernd gefolgt war.

 

»Siehst du, dort geht die Dame – behalte sie im Auge«, sagte Tiser zu ihm. »Auf der Straße findest du mindestens ein halbes Dutzend Beamte – sage es dem ersten, den du triffst.«

 

Der Mann nickte und ging hinter Ann her. Mr. Tiser wartete noch, bis der andere außer Sicht gekommen war, dann rief er ein Taxi und fuhr nach Hause.

 

Ann ließ sich nicht träumen, daß sie verfolgt wurde. Ab und zu blieb sie stehen, um die Auslagen zu betrachten; besonders ein Schaufenster zog sie an. Es war ein Tropenausrüstungsgeschäft, und sie sah Hüte, Anzüge und Gegenstände, die für das Leben in einem heißen Klima erforderlich sind. Vor einem der Fenster stieß sie mit einem gutgekleideten, militärisch aussehenden Herrn zusammen. Er entschuldigte sich höflich, zog seinen Hut und ging weiter. Ann vergaß den Zwischenfall sofort wieder, aber plötzlich wurde sie angesprochen.

 

»Entschuldigen Sie, Miss.«

 

Die Stimme klang hart und dienstlich, und Ann wußte gefühlsmäßig, daß sie einen Detektiv vor sich hatte.

 

»Haben Sie diesen Herrn schon vorher gesehen?« Er zeigte auf den Mann, der kurz vorher mit Tiser gesprochen hatte. Ann schüttelte erstaunt den Kopf.

 

»Nein, er ist mir völlig unbekannt.«

 

»Haben Sie ihm jemals etwas zum Kauf angeboten oder mit ihm über einen Kauf verhandelt?«

 

»Zum Kauf angeboten?« wiederholte Ann bestürzt. »Wie käme ich denn dazu? Ich habe doch gar nichts zu verkaufen!«

 

»Haben Sie ihm nicht zwei Päckchen Kokain angeboten, die Sie in Ihrer Handtasche haben?«

 

»Aber nein!« sagte Ann entrüstet. »Ich habe nichts in meiner …«

 

Sie schaute nach unten. Ihre Handtasche war weit offen und leer. Glücklicherweise bewahrte sie ihr Geld in einer kleinen, sicheren Nebentasche auf. Jetzt erinnerte sie sich wieder an den militärisch aussehenden Herrn.

 

»Ich bin bestohlen worden. Jemand ist mit mir zusammengestoßen …«

 

Sie erzählte dem Detektiv die Geschichte, und er wußte, daß sie die Wahrheit sprach. Trotzdem bat er sie höflich, mit ihm zur Polizeiwache zu kommen.

 

Der Mann, der sie angezeigt hatte, wollte sich heimlich drücken, aber der Beamte behielt ihn im Auge.

 

»Also, mein Sohn, Sie gehen vor uns her.«

 

Der Mann gehorchte widerwillig.

 

Auf der Polizeiwache hörte Ann die sonderbare Geschichte. Der Mann hatte sich darüber beschwert, daß sie ihm zwei Päckchen Kokain angeboten habe, und schwor, daß er ein Dutzend anderer Päckchen in Anns Handtasche gesehen hatte.

 

Aber er hatte wenig Glück, denn auf der Wache befand sich ein Detektiv, der ihn sofort erkannte und als alten Freund begrüßte.

 

»Es tut mir außerordentlich leid, Miss Perryman«, sagte der Beamte, der sie hergebracht hatte, »aber Sie sehen ja selbst, die Polizei ist offenbar von diesem Mann zum besten gehalten worden. Würden Sie so liebenswürdig sein, mir den Herrn einmal zu beschreiben, der mit Ihnen zusammengestoßen ist?«

 

Als sie ihm alles erzählt hatte, lachte er vergnügt.

 

»Den kenne ich sehr gut.«

 

Ann verließ die Polizeiwache, und auch ihr Ankläger wollte verschwinden. Aber eine schwere Hand legte sich auf seine Schulter.

 

»Sie bleiben hier«, sagte der Beamte mit einem freundlichen Lächeln.

 

»Was haben Sie denn gegen mich?« fragte der Mann aufgebracht.

 

Es wurde ihm auseinandergesetzt, daß er sich am nächsten Morgen wegen Umhertreibens und wegen vorsätzlich falscher Anzeige zu verantworten habe.

 

Der Detektiv, der Ann zur Polizeiwache gebracht hatte, begleitete sie wieder auf die Straße hinunter. Er behandelte sie sehr zuvorkommend. Als er ihr später erzählte, daß er mit Bradley zusammenarbeite, empfand sie ein gewisses Unbehagen darüber, daß sie in Polizeikreisen nicht ganz unbekannt war.

 

»Ich kann nicht verstehen, daß dieser Mann Sie angezeigt hat. Er muß ganz sicher gewesen sein, daß Sie Koks in Ihrer Tasche hatten.«

 

»Aber das ist doch wirklich …«

 

»… nicht so unerklärlich, wie Sie denken, Miss Perryman. Wahrscheinlich hat er Ihnen ein paar Päckchen zugesteckt, um Sie anzeigen zu können. Hatten Sie etwa Ihre Tasche irgendwo liegenlassen?«

 

Ann erinnerte sich plötzlich an ihr Zusammensein mit Tiser im Restaurant.

 

»Ja, ich hatte sie im Erfrischungsraum liegenlassen.«

 

»War jemand bei Ihnen?«

 

Sie zögerte.

 

»Ach, das war ein ganz unwichtiger Bekannter.«

 

Natürlich hatte Tiser ihr das angetan. Es lag etwas Hinterhältiges in dem Charakter dieses Mannes; sicherlich hatte er durch dieses Manöver Bradley schaden wollen.

 

Als sie nach Hause kam, stand Marks Wohnungstür offen. Anscheinend hatte er vom Fenster aus ihr Kommen beobachtet.

 

»Treten Sie bitte einen Augenblick näher, Ann, wenn es Ihnen recht ist«, bat er dringend. »Sie brauchen sich nicht zu fürchten, die Dienstboten sind alle in der Wohnung.«

 

Er schloß die Tür und folgte ihr ins Wohnzimmer.

 

»Warum sind Sie heute angehalten worden?«

 

Sie erzählte ihm ihr Erlebnis.

 

»Sie haben eine Tasse Tee getrunken und Ihre Handtasche liegengelassen? Mit wem waren Sie denn zusammen?«

 

Sollte sie es ihm sagen? Es kam eigentlich wenig darauf an. Trotzdem war sie entschlossen, Tisers Doppelrolle, die er Mark gegenüber spielte, nicht zu verraten.

 

»Mit Mr. Tiser. Aber ich kann mir wirklich nicht denken, daß er so niederträchtig sein könnte.«

 

Mark spitzte die Lippen, als ob er pfeifen wolle.

 

»Tiser? Sehen Sie einmal an! Er dachte wohl, er könnte mich dadurch treffen.«

 

»Das glaube ich nicht …«

 

»Es konnte gar kein anderer sein!« Er kniff die Augenlider zusammen. »Es wäre doch merkwürdig, wenn ich Tisers wegen an den Galgen kommen sollte. Ich muß mich in acht nehmen, sonst bekomme ich durch die Geschichte noch die größten Unannehmlichkeiten.«

 

»Aber warum sollte er denn das tun?«

 

»Weil er ein Schuft ist und weil er wußte, daß man mich bei Ihrer Verhaftung in die Sache hineinziehen würde. Tiser ist nämlich der große Unbekannte – das habe ich heute nachmittag während Ihrer Abwesenheit entdeckt. Wollte er nicht auch die Adresse meines Agenten in Cardiff von Ihnen kaufen?«

 

Ann seufzte.

 

»Ich weiß nicht, was er alles vorhatte. Ich bin so müde von diesem ganzen schrecklichen Treiben – ich werde froh sein, wenn ich außer Landes bin.«

 

»Haben Sie immer noch die Absicht, nach Paris zu gehen?« er sah sie scharf an.

 

»Ja, ich glaube.«

 

»Es ist also doch nicht mehr so sicher? Ihre Stellung in London wird aber nach all diesen Vorkommnissen etwas peinlich sein. Sie stehen doch immerhin schon in einem gewissen Ruf bei der Polizei. Bradley würde wenig Vorteil davon haben – wenn Sie ihn heirateten.«

 

»Ich hätte wohl einen Rauschgifthändler heiraten sollen?« fragte sie langsam.

 

»Das hätten Sie allerdings nicht tun können«, erwiderte er mit größter Kaltblütigkeit. »Ich bin schon verheiratet. Ich weiß zwar nicht, wo sie ist, ich weiß nicht einmal, ob ich mich von ihr scheiden lassen kann. Aber ich glaube kaum, daß ich Gründe dafür hätte. Nun sind Sie doch erstaunt, was?«

 

»Ich bin über nichts mehr erstaunt, was Sie betrifft, Mark.«

 

Er klopfte ihr freundlich auf die Schulter, aber sie zuckte unter seiner Berührung zusammen.

 

»Seien Sie doch nicht so empfindlich – ich will Sie wirklich nicht umbringen. Wenn ich heute abend einem Menschen das Genick umdrehe, dann wird es – nun Sie wissen schon. Das ist alles, was ich mit Ihnen besprechen wollte, Ann.« Er öffnete die Tür für sie.

 

Langsam erhob Ann den Blick und sah ihm in die Augen.

 

»Wen haben Sie getötet, Mark?«

 

Es schien ihr, als ob er zusammenzuckte. Offenbar hatte auch dieser harte Mensch verwundbare Stellen.

 

»Ich habe vier Menschen umgebracht«, sagte er dann langsam. »Leid getan hat es mir nur in einem Fall. Aber nun gehen Sie.« Er schob sie beinahe aus dem Zimmer und begleitete sie, entgegen seiner sonstigen Gewohnheit, nicht bis zur Tür.

 

Tiser hatte einen ungemütlichen Abend hinter sich. Er besaß ein kleines Haus in der Bayswater Road, das er allein bewohnte. Tagsüber beschäftigte er zwei Dienstboten, die um sechs Uhr gingen. Wenn er abends zu Hause essen wollte, so kochte er sich etwas. Auch jetzt war er gerade dabei, sich einige Scheiben Schinken und Speck zu braten, als es läutete. Er machte die Tür auf und sah sich Mark gegenüber. Diesen Mann, der drohend auf der Schwelle stand, hatte er am letzten zu sehen gewünscht.

 

»Komm nur herein, mein lieber Mark«, sagte er schwach. »Ich wollte dir noch heute abend einen Brief schicken und dich bitten, dir einmal meine neue Wohnung anzusehen.«

 

»Dann habe ich dir ja das Porto erspart. Ist noch jemand im Haus?«

 

»Nur ein paar Dienstboten.« Er rief die Treppe hinauf: »Stören Sie mich jetzt nicht – Mr. McGill ist hier.«

 

Als er sich wieder umwandte, lachte Mark laut auf.

 

»Na, mir brauchst du doch keine Komödie vorzuspielen. Auch wenn ich nicht gesehen hätte, daß deine Leute weggegangen sind, wüßte ich, daß du allein bist. Aber du brauchst keine Furcht zu haben, du Angsthase, ich werde dir deinen Schädel nicht einschlagen.«

 

Die folgende Unterredung war nicht so unangenehm, wie Tiser gefürchtet hatte. Die Beleidigungen, die ihm Mark an den Kopf warf, ertrug er mit merkwürdiger Gelassenheit. Er hatte erwartet, daß Mark viel drastischer und handgreiflicher gegen ihn vorgehen würde.

 

McGill erriet seine Gedanken.

 

»Du hast Glück, Tiser! Wenn ich mehr Zeit gehabt hätte und die Sache nicht so dringend wäre, würde ich dich ein wenig später besucht haben, wenn mir kein Polizist auf den Fersen folgte.«

 

»Bist du verfolgt worden?« stammelte Tiser.

 

Mark nickte.

 

»Ich kann dir nur die Versicherung geben, daß du auch am Galgen baumelst, wenn ich gehenkt werde. Du bist zu sehr in diese ganze Sache verstrickt, als daß du dich durch Verrat und durch ein Geständnis retten könntest. Bradley will dich ebenso haben wie mich.«

 

Dann sagte er plötzlich: »Wir werden morgen zusammen zu Li Yoseph gehen. Ich will endlich einmal diese Sache mit ihm ins reine bringen.«

 

Mark nahm ein zerknittertes Papier aus der Tasche und legte es auf den Tisch. Es waren einige Zeilen mit Bleistift draufgeschrieben. ›Komme morgen nach Lady’s Stairs, guter Mark. Ich will dir dort etwas zeigen. Sei bestimmt um elf Uhr dort. Li.‹

 

»Du kommst morgen früh zu mir«, sagte Mark, als er den Zettel wieder zusammenfaltete.

 

»Nein, ich komme nicht mit!« schrie Tiser. »Ich will nicht wieder in das Zimmer gehen, Mark! Das ist ein Trick von Bradley …«

 

»Was redest du da wieder für einen Blödsinn? Ein Trick von Bradley? Glaubst du, ich kenne seine Tricks nicht durch und durch? Du kommst mit, und wenn ich dich dorthin schleifen sollte! Warum fürchtest du dich denn? Du glaubst doch nicht, daß uns irgendein Gerichtshof auf das Zeugnis dieses verrückten, alten Esels hin verurteilen würde? Wenn Li Yosephs Zeugnis genügte, wären wir schon längst verhaftet. Er hat der Polizei alles verraten, aber Bradley ist viel zu schlau, um uns auf Li Yosephs Aussagen hin den Prozeß zu machen. Wir haben nichts zu fürchten.«

 

Er fing einen merkwürdigen Blick Tisers auf und lachte.

 

»Ich weiß, was du denkst. Aber ich glaube nicht, daß Bradley dich schont, wenn du ihm dein Zeugnis gegen mich anbietest. Wenn er das gewollt hätte, würde er dich schon längst darum gefragt haben. Aber du bist ja selbst viel zu sehr durch den Mord an Ronnie Perryman belastet. Du bist Mittäter …«

 

»Ich wollte ihn retten – du weißt genau, daß ich seinen Tod nicht wollte, Mark!« winselte Tiser. »Du bist immer fair zu mir gewesen, Mark, du wirst doch nicht haben wollen, daß ich an den Galgen komme für deine Tat? Was sollte dir denn das nützen? Ich habe Ronnie retten wollen. Ich sagte dir …«

 

»Du hast mir gar nichts gesagt«, fuhr ihn Mark barsch an. »Höchstens, daß es gut wäre, wenn wir ihn aus dem Weg schafften. Er warf dir jedesmal Beleidigungen an den Kopf, wenn er dich sah, und du haßtest ihn wie die Pest. Ich habe ihn niemals gehaßt. Es war notwendig, daß er wegkam, aber in gewisser Weise hat es mir leid getan. Du dagegen hast dich darüber gefreut. Glaubst du, ich habe vergessen, daß du ihn festhieltest, damit ich ihn erschlagen konnte?«

 

Tiser saß zusammengekauert in seinem Stuhl. Seine langen, nervösen Hände bewegten sich unruhig, sein Gesicht zuckte nervös.

 

»Dann will ich dir noch etwas sagen, Tiser. Du kannst das Haus ja überhaupt nicht verlassen. Mir ist ein Detektiv hierher gefolgt, aber als ich kam, sah ich noch einen zweiten, der hier deine Wohnung bewacht. Die Polizei ist im allgemeinen nicht dumm. Die wissen genau, was du getan hast und wie lange du hier wohnst. Sie können dich verhaften, wann sie wollen.«

 

Er nahm ein Paar Handschuhe aus der Tasche, zog sie an und knöpfte sie mit der größten Seelenruhe zu.

 

»Morgen um zehn Uhr wirst du dich in meiner Wohnung melden. Es gibt nur eine Entschuldigung für dein Nichtkommen – daß du tot bist. Und wenn du mir einen dummen Streich spielen willst, dann werde ich diese Entschuldigung wahrmachen!«

 

Kapitel 23

 

Kapitel 23

 

Lady’s Stairs stand plötzlich im Mittelpunkt des Interesses für alle Nachbarn. Der alte Li Yoseph war zurückgekommen. Mrs. Shiffan hatte ihn spät abends gesehen – wie er etwas vornübergeneigt von Zimmer zu Zimmer geschlichen war und zu sich selbst und den unsichtbaren Kindern gesprochen hatte.

 

Merkwürdigerweise erschien Mr. Sedeman auf der Bildfläche. In unregelmäßigen Zwischenräumen tauchte er auf und betrat auch die Wohnung. In diesen Tagen hielt er sich hauptsächlich in der Nachbarschaft auf; er wohnte bei einer noch rüstigen Witwe, aber meistens konnte man ihn am Schanktisch des nahen Wirtshauses treffen. Er stand nicht nur wegen seiner besseren Bildung bei den Leuten im Ansehen, sondern vor allem wegen seiner vielen Vorstrafen. Außerdem besaß er trotz seines hohen Alters eine unheimliche Kraft.

 

Er tat sehr geheimnisvoll und sprach in dunklen Andeutungen von seiner Freundschaft mit Li Yoseph, lehnte es aber ab, etwas Genaueres von dem Aufenthalt des alten Mannes während des letzten Jahres zu sagen. Nach seinen Aussagen hatte er allein ihn gesehen und mit ihm verkehrt.

 

In diesen Tagen galt Sedeman als das Orakel von Lady’s Stairs. Eines Abends wurde er in schwerbetrunkenem Zustand von dem Polizisten des Bezirks aufgegriffen; aber obwohl er den Mann heftig beschimpfte, brachte ihn dieser nach Hause und verhaftete ihn nicht.

 

An dem Morgen, an dem sich Mark McGill entschlossen hatte, Lady’s Stairs zu besuchen, begab sich auch Mr. Sedeman dorthin, und er trat mit einer solchen Wichtigkeit auf, daß die Leute ihm ehrfürchtig und verwundert Platz machten.

 

Mr. Shiffan öffnete Sedeman die Tür. Gleich darauf kamen Mark McGill und Tiser.

 

»Daß Sedeman hier ist, erinnert etwas mehr an die Wirklichkeit, Mark«, sagte Tiser. »Wenn man am hellen, lichten Morgen hier ist, hat man eigentlich keine Ursache, sich zu fürchten. Ich war wirklich sehr dumm – ich hoffe, du nimmst mir das nicht übel.«

 

Mark kümmerte sich nicht um ihn, sondern wandte sich an Sedeman.

 

»Sie sind wohl hier, um auf billige Weise zu einem guten Trunk zu kommen?«

 

»Ich dachte, bei dem Empfang des nach langer Zeit Heimgekehrten würde man etwas abbekommen.«

 

Mark lächelte unfreundlich.

 

»Sie wissen doch, daß Sie jetzt Ihre Pension verloren haben? Ich habe Ihnen schon sehr viel Geld gegeben, seitdem Li Yoseph verschwand. Jetzt werden Sie arbeiten müssen, um Ihren Lebensunterhalt zu verdienen.«

 

»Reden Sie doch keinen Unsinn!« rief Sedeman.

 

McGill ging zu dem Fenster und schaute auf die Schiffe, die in der Bucht lagen.

 

»Haben Sie Li schon gesehen?« fragte er über die Schulter.

 

»Ja, aber ich habe noch nicht mit ihm gesprochen«, entgegnete Sedeman ernst.

 

»Warum treiben Sie sich eigentlich in der letzten Zeit soviel hier herum? Ich habe sogar gehört, daß Sie seit einiger Zeit in der Nähe wohnen sollen.«

 

Sedeman antwortete ihm nicht, sondern sah nach seiner Armbanduhr.

 

»Sie werden mich entschuldigen. Drüben im Wirtshaus wird gerade aufgemacht. Ich bin dort, wenn Sie mich brauchen.«

 

»Mark, erinnerst du dich noch?« fragte Tiser ängstlich. »Li sah so merkwürdig aus, als er an jenem Abend in Cavendish Square war. Er hat aber nichts von Ronnie gesagt.«

 

»Nein, er hat nichts gegen uns gesagt.«

 

»Er hat sich nicht beschwert – er hat nichts Böses gesagt –, meinst du, daß er sich jetzt an uns rächen will? Ich hatte den Eindruck, daß er sich auf nichts mehr besinnen konnte – ich meine, was ihn selbst betraf.«

 

Mark schüttelte den Kopf. »Es war ein Wunder, daß er überhaupt davongekommen ist. Aber wenn ich ihn nicht verletzt habe, müßte ich doch den Fußboden getroffen haben.«

 

Er schob den Teppich zurück, der die Falltür bedeckte, und nahm eine genaue Untersuchung vor.

 

»Ich sehe aber keine Kugelspuren hier, selbst keine alten. Ich habe von hier aus geschossen, und ich kann ihn unmöglich verfehlt haben.«

 

»Ist Ann wieder vernünftig?« fragte Tiser ängstlich. »Glaubst du, daß sie einen Verdacht hat – wegen Ronnie meine ich? Das wäre schrecklich, Mark! Natürlich kann man sie nie wieder brauchen. Je eher sie aus dem Lande kommt, desto besser.«

 

Mark hörte ihm nicht zu. Er berührte den Geheimhebel an der Wand hinter dem Schrank. Die Falltür öffnete sich ebenso leicht wie früher, und die quadratische Öffnung erschien im Fußboden. Unten spülte das Wasser um die moosgrünen Pfähle, die das Haus trugen.

 

Er ließ sich auf ein Knie nieder, stützte sich mit den Händen auf den Rand und sah nachdenklich hinunter.

 

»Kannst du dich noch darauf besinnen, daß einmal eine goldene Uhr durch das Loch in den Schlamm fiel? Damals haben wir einen Arbeiter von der Kanalreinigung kommen lassen, der sie suchen sollte. Aber er hat sie nicht gefunden. Ein gewöhnlicher Mann, der dort hinunterfiele, würde nicht mit dem Leben davonkommen selbst wenn er schwimmen könnte.«

 

Er drehte sich langsam zu Tiser um.

 

»Aber wahrscheinlich würde er sich den Schädel schon vorher an der Leiter einschlagen.«

 

Tiser schrak zurück.

 

»Sieh mich nicht so an, Mark«, winselte er. »Was hast du vor?«

 

»Bradley wird in kurzer Zeit hiersein – ich habe es heute erfahren.«

 

»Was willst du damit sagen?« fragte Tiser kläglich und zog sich möglichst weit von der Öffnung zurück.

 

Mark schaute wieder nach unten in den Schlamm.

 

»Wenn nun Bradley hier ein Unfall passiert?« sagte er halb zu sich selbst.

 

Tiser wußte, welcher Entschluß in Mark auftauchte, und schrie vor Schrecken laut auf. »Ich will nichts damit zu tun haben, Mark– das kannst du doch nicht mit Bradley machen, du bist verrückt!«

 

McGill schaute nicht auf.

 

»Vor Zeugen habe ich nichts mit der Sache zu tun«, sagte er langsam. »Auch du hast nichts damit zu tun. Warum hast du denn eine solche Heidenangst? Das ist wirklich eine ganz wunderbare Falle.«

 

»Sprich doch nicht so«, bat Tiser leise. Er war kreidebleich geworden. »Schließ die Tür, Mark! Ich werde ganz krank, wenn ich das Loch sehe.«

 

McGill erhob sich und nahm den viereckigen Teppich auf, der steif vor Schmutz und Alter war. Sorgsam legte er ihn wieder über die gähnende Öffnung.

 

»Ich muß mir die Sache noch überlegen, laß mich etwas nachdenken.«

 

Langsam ging er um die Falltür herum und betrachtete den Teppich.

 

»Schon seit langem habe ich das geträumt. Nimm einmal an, er käme herein – ginge über den Teppich …«

 

»Du hast ja recht, Mark, es ist eine wunderbare Idee, aber …«

 

»Der Gedanke hat mich schon immer fasziniert …«

 

Auf der Treppe klangen Schritte. Tiser vermutete, wer kam.

 

»Schließ die Falltür, schnell – schließe sie!« drängte er Mark. Als sich dieser nicht rührte, lief er zu dem Hebel. Aber bevor er ihn erreichen konnte, hatte Mark ihn gepackt und zurückgeschleudert. In diesem Augenblick trat Bradley ein.

 

Er war bester Stimmung und lächelte freundlich.

 

»Guten Morgen, McGill.« Er blieb in einiger Entfernung von dem Teppich stehen.

 

Tiser war nicht fähig, sich zu bewegen oder zu sprechen. Er starrte nur unentwegt auf die todbringende Falle.

 

»Sind Sie gekommen, um Li Yoseph zu begrüßen?« fragte Bradley. »Ich möchte mich gern einmal mit Ihnen allen zusammen unterhalten.«

 

»Es genügt auch, wenn Sie mit uns beiden sprechen«, erwiderte Mark kühl. »Li ist noch nicht gekommen – dieser alte, schlaue Fuchs! Ich vermute, daß er sich versteckt hält und Angst hat zu erscheinen. Ich möchte wetten, daß Sie wußten, wo er sich die ganze Zeit herumgetrieben hat. Offen gesagt, Bradley, Sie sind ein kluger Kopf. Ich wäre nicht erstaunt, wenn Sie befördert würden.«

 

Der Detektiv kam der gefährlichen Stelle immer näher.

 

Direkt am Rand blieb er stehen. Mark lachte, und Tiser mußte sich Gewalt antun, um einen Schrei zu unterdrücken.

 

»Sie sind hier nicht vor dem Polizeigericht, Bradley.«

 

»Ich werde auf meine eigene Weise mit Ihnen sprechen.« Bradley wandte sich wieder um und ging auf die Tür zu.

 

»Das heißt, wenn Sie zwanzig Polizisten zum Schutz um sich versammelt haben?«

 

Der Detektiv drehte sich blitzschnell um und kam wieder auf ihn zu. Mark hatte sich absichtlich so hingestellt, daß Bradley über den Teppich gehen mußte, wenn er ihn erreichen wollte.

 

»Glauben Sie, ich brauche Schutz vor einem solchen Kerl, wie Sie es sind?« fragte Bradley ironisch.

 

»Sie fürchten, daß ich Ihnen das Gesicht zerschlage, und Ihre liebe Ann würde Sie nicht gern so sehen …«

 

»Erwähnen Sie ihren Namen nicht«, rief Bradley erregt.

 

»Verflucht, das mache ich ganz so, wie es mir gefällt!«

 

Bradley ging zwei Schritte vorwärts. Tiser sprang auf und preßte die Hände auf den Mund. Und dann ereignete sich das Wunder: Der Detektiv setzte einen Fuß auf den Teppich, aber der Boden hielt unter seinen Füßen. Selbst Mark verriet sich durch seinen entsetzten Gesichtsausdruck. Tiser schrie laut auf.

 

»Nun, was ist denn mit Ihnen los?« fragte Bradley und sah die beiden abwechselnd an. »Ist Ihnen ein Geist erschienen – oder hatten Sie einen kleinen Scherz vor?«

 

Kapitel 24

 

Kapitel 24

 

Mark McGill atmete tief. Die Spannung in seinen Zügen ließ nach, aber er war noch nicht fähig zu sprechen. Er lehnte sich an den Tisch und sah Bradley mit unsicheren Blicken an, als ob er seinen Augen nicht trauen könne. Er wußte nicht, ob er träumte oder wachte. Bradley stand in der Mitte des Teppichs, direkt über dem Loch. Welche geheimnisvollen Kräfte trugen ihn? Mark riß sich zusammen.

 

»Wenn sich jemand hier einen Scherz erlaubt, dann sind Sie es. Sie haben Li Yoseph wahrscheinlich noch nicht an die frische Luft gelassen – wie lange soll ich denn hier auf ihn warten?«

 

Bradleys Züge wurden undurchdringlich.

 

»Sind Sie sicher, daß er hierherkommt, wenn er weiß, daß Sie da sind? Wäre es nicht möglich, daß er die – unangenehmen Erfahrungen, die er hier machen mußte, nicht wiederholen will?«

 

Er schob mit dem Fuß den Teppich beiseite und schaute auf den Fußboden. Mark sah, daß die Falltür nicht mehr offenstand. Sie hatte sich lautlos geschlossen, ohne daß er oder Tiser den Hebel berührt hatten.

 

»Haben Sie hier Spuren von Schüssen entdeckt?« fragte Bradley. »Ich vermute, Sie haben sich die Bretter genau angesehen.«

 

Er nahm das kleine Etui wieder aus seiner Westentasche, öffnete es und hielt es Mark hin.

 

»Sehen Sie sich die beiden Geschosse nur gut an, McGill.«

 

»Sie interessieren mich nicht«, erwiderte Mark kühl. »Sagen Sie mir lieber, wo Ihr Freund Li Yoseph ist! Sie denken doch nicht etwa, daß ich mich scheue, ihm gegenüberzutreten, oder daß ich mich vor den Anklagen dieses alten Fuchses fürchte? Es gibt keinen Gerichtshof in der ganzen Welt, der mich auf das Zeugnis eines Mannes hin verurteilt, der Geister und Gespenster sieht. Bringen Sie das doch vors Gericht – Sie werden von allen Seiten ausgelacht werden!«

 

In diesem Augenblick ging die Tür auf, und Mrs. Shiffan kam herein. Sie brachte einen Brief und schien nicht zu wissen, wem sie ihn geben sollte.

 

»Eben kam ein Junge und gab ihn an der hinteren Tür ab. Er sagte, er wäre von Mr. Li Yoseph hierher geschickt worden.«

 

Bradley nahm den Brief aus ihrer Hand, öffnete ihn und las.

 

»Er wird nicht vor elf Uhr nachts kommen«, sagte er dann. »Wahrscheinlich hat er nur diese Zeit gemeint. Eine merkwürdige Stunde.«

 

»Ich wüßte nicht, warum sie so besonders merkwürdig wäre«, entgegnete Mark.

 

Bradley lächelte düster.

 

»Um diese Stunde wurde er doch getötet – und um dieselbe Zeit starb auch Ronnie Perryman.«

 

Mark sah ihn überrascht an.

 

»Was sagen Sie da für einen Unsinn? Li Yoseph soll ermordet worden sein? Sie sind verrückt! Ich habe ihn doch gesehen.«

 

»Vielleicht haben Sie auch Perryman gesehen? Der ist nicht mehr am Leben. Nun gut, um elf Uhr sehen wir uns hier wieder.«

 

Er drehte sich um und ging zur Tür.

 

»Sie sehen ja so entsetzt aus, Tiser?« fragte er belustigt. »Wovor fürchten Sie sich denn? Aber vielleicht erzählen Sie mir das heute abend.«

 

Tiser rührte sich nicht, er war starr vor Schrecken.

 

Die Haustür fiel krachend ins Schloß. Mark gab Mrs. Shiffan ein Zeichen, sich zu entfernen. Als sie gegangen war, wandte er sich an Tiser, der noch immer entgeistert auf die Falltür schaute.

 

»Hast du es gesehen, Mark? Er ist auf den Teppich getreten und nicht hinuntergestürzt!«

 

Mark fuhr ihn wütend an.

 

»Weil die Tür geschlossen war, du Hasenfuß! Wer mag das nur getan haben?«

 

Plötzlich ertönte von irgendwoher, als ob es die Antwort auf Marks Frage wäre, der klagende Klang einer Violine. Jemand spielte Tostis »Chancon d’Adieu«.

 

Kapitel 25

 

Kapitel 25

 

Mark McGill hatte sein Vermögen bei vier Banken deponiert; von dreien hob er nun sein Geld bis auf einen verschwindend kleinen Rest ab. Das vierte Konto, das kleinste von allen, war der Polizei bekannt, und er rührte es deshalb nicht an.

 

Er bestellte für diese Nacht an fünf verschiedenen Stellen in den äußeren Vororten Londons leistungsfähige Autos, die ihn erwarten sollten. Vorsichtshalber beorderte er sie von fünf verschiedenen Garagen unter fünf verschiedenen Namen. Von seinen Agenten in Manchester und Leeds hatte er zwei neue Pässe erhalten. Die Fotos glichen den anderen Bildern nicht; er hatte sie selbst in seiner Wohnung aufgenommen.

 

Nun brauchte er nur noch den Augenblick seiner Flucht zu wählen, und diese Entscheidung hatte er bereits getroffen. Gleich nach der Zusammenkunft heute abend wollte er nach Essex fahren. In Burnham lag ein seetüchtiges Motorboot für ihn bereit, das mit allem nötigen Proviant für eine mehrtägige Reise versehen war. Er wollte von der englischen Küste nach Ostende fahren. Das Motorboot war in Belgien registriert und konnte in dem belebten Hafen einlaufen, ohne die geringste Aufmerksamkeit zu erregen. Mark kannte den Wert der belgischen Trikolore, die er in dem Motorboot aufbewahrte.

 

Er machte keinen Versuch, Ann noch einmal zu sprechen. Sein Diener erzählte ihm, daß sie schon frühmorgens ausgegangen sei. Ann war für ihn bedeutungslos geworden. Er dachte viel mehr an Tiser als an sie. Dieser Mann war bedeutend gefährlicher, obwohl er wußte oder doch wenigstens wissen sollte, daß jeder Versuch, sich durch Verrat Straflosigkeit zu sichern, mit einer Katastrophe für ihn enden mußte.

 

*

 

Gegen Mittag erhielt Ann eine Mitteilung von Bradley. Der kleine Brief begann ohne Anrede:

 

›Ich bitte Sie um einen großen Gefallen – fast möchte ich sagen, um ein Opfer. Würden Sie heute abend um elf Uhr nach Lady’s Stairs kommen? Entscheiden Sie bitte nach Ihrem Gutdünken, ob Sie es tun wollen oder nicht. Ich werde Sie in jedem Fall verstehen. Aber wenn es irgend möglich ist, so kommen Sie bitte. Für den Fall Ihrer Zusage werde ich einen Mann schicken, der Sie in einem Privatauto abholt und dorthin bringt. Vielleicht werden Sie mir das niemals vergeben, was ich im Begriff bin zu tun, aber ich muß es tun. Ich brauche Sie um des psychologischen Eindrucks willen, den Sie auf einen der Anwesenden machen werden.‹

 

Sie las den Brief, faltete ihn und steckte ihn in ihre Handtasche.

 

»Teilen Sie bitte Mr. Bradley mit, daß ich kommen werde«, sagte sie zu dem wartenden Beamten.

 

Mr. Tiser erhielt eine etwas dringendere Aufforderung. Sergeant Simmonds besuchte ihn am Nachmittag. Der Diener sagte zwar, daß Mr. Tiser nicht zu Hause sei, aber der Beamte ließ sich nicht abweisen.

 

»Ich werde warten, bis er zurückkommt«, erwiderte er und ließ sich behaglich im Wohnzimmer nieder.

 

Nach einer Viertelstunde erschien dann auch der nervöse Tiser.

 

»Sie werden heute abend in Lady’s Stairs erwartet«, sagte der Sergeant zu ihm. »Bradley schickt mich und läßt Ihnen dies ausrichten.«

 

»Ich fühle mich aber nicht wohl genug, um heute auszugehen.«

 

»Dann werden wir Sie durch einen Krankenwagen abholen lassen – in diesem Fall können Sie sich dann als verhaftet betrachten.«

 

Tisers Schrecken kannte keine Grenzen.

 

»Tiser, Sie haben jetzt eine Chance – sie ist zwar nicht groß, und wir können Ihnen auch nichts Besonderes versprechen … Warum sagen Sie denn nicht freiwillig alles, was Sie wissen?«

 

Tiser krümmte sich wie ein Wurm.

 

»Ich weiß doch nichts, wirklich nichts – gar nichts! Sie sind vollständig falsch unterrichtet, ebenfalls der gute Mr. Bradley, wenn er glaubt, daß ich ihm etwas über Ronnie sagen kann.«

 

»Ich habe zwar nicht von dem armen Ronnie gesprochen, aber ich habe ihn gemeint«, sagte Simmonds und erhob sich. »Nun gut, Sie werden heute abend kommen. Entfliehen können Sie nicht, denn ich habe mehrere Detektive beauftragt, Sie zu überwachen.«

 

Als Ann und ihr Begleiter am Abend auf Cavendish Square hinaustraten, regnete es heftig. Ein geschlossener Wagen wartete auf sie.

 

»Wer wird noch kommen?« fragte sie, als sie unterwegs waren.

 

»Tiser und McGill. Sie sind vor zehn Minuten weggefahren.«

 

»Wenn ich mich nicht irre, sind Sie doch Mr. Simmonds, der mich damals verhaftete? Habe ich nicht recht?«

 

»Ja, der bin ich«, erwiderte der Beamte in guter Laune.

 

»Dann können Sie mir sicher sagen, was ich so gern wissen möchte. Gehen wir nach Lady’s Stairs – Ronnies wegen?«

 

Aber Mr. Simmonds war verschwiegen.

 

»Mr. Bradley wird Ihnen das alles viel besser erklären können.«

 

Für Mark McGill war die Fahrt nicht angenehm. Tiser quälte ihn dauernd mit ängstlichen Fragen. In einer Anwandlung von Zutrauen hatte er ihm von der Aufforderung der Polizei erzählt, ein Geständnis abzulegen.

 

»Natürlich habe ich es sofort abgelehnt, mein lieber Mark. Was immer auch geschehen mag, ich schweige. Ich werde dich niemals verraten. Allein der Gedanke daran macht mich krank.«

 

»Es ist mir auch nie im Traum eingefallen, daß du das tun würdest. Dein eigenes Leben ist dir doch viel zu schade. Sie haben dir ja auch nicht gesagt, daß du straflos ausgehen würdest, wenn du ihnen alles verrätst, und daß man jede Anklage gegen dich fallenlassen würde. Ich könnte mir das wenigstens nicht denken. Wenn sie dir das schriftlich gegeben hätten, wärst du bestimmt darauf eingegangen.«

 

»Aber wenn Li Yoseph nun etwas erzählt?«

 

»Li Yoseph! Was kann der denn erzählten? Höchstens von Geistern, Gespenstern und kleinen Kindern! Sein Geschwätz kann man doch unmöglich vor einem Richter oder vor Geschworene bringen. Sei doch kein Narr. Höre einmal zu: Das einzige, was wir zu erwarten haben, ist, daß Li Yoseph alles berichten wird, was er weiß. Er wird sowohl von Ronnie als auch von sich sprechen. Du hast nur still dabeizusitzen und dir vorzustellen, daß sein ganzes Gefasel erlogen ist. Diesen einen Gedanken mußt du dir fest einprägen, alles andere ist dann furchtbar leicht. Ich wette, daß Bradley die ganze Geschichte so eingefädelt hat. Es ist wie ein verschärftes Verhör. Wenn er damit keinen Erfolg hat, werde ich ihm schon die Hölle heiß machen.«

 

Aber er spann diesen Gedanken nicht weiter aus; er dachte im Augenblick an das Motorboot, das in Burnham on Crouch auf ihn wartete, und er dachte an den guten Wetterbericht für die Überfahrt: ›Geringe Dünung, leicht dunstig, Sicht schlecht.‹

 

Als sie zu Li Yosephs Haus kamen, fanden sie die Tür noch verschlossen. Mark klopfte, und nach einigen Minuten hörten sie die Schritte Mr. Shiffans, der die Treppe herunterkam und sie einließ.

 

»Ich bin froh, daß jemand gekommen ist«, sagte er mit schriller Stimme. »Es sind furchtbar viele Ratten hier, es ist wirklich unheimlich.«

 

»Ist der Alte schon da?« fragte Mark.

 

»Nein, er ist bis jetzt noch nicht gekommen. Es tut mir schon leid, daß ich zugesagt habe, heute abend hierzubleiben. Wissen Sie, hier spukt es! Die unglaublichsten Geräusche können Sie hören! Wenn ich ein paar Nächte hier schlafen sollte, würde ich selbst verrückt werden.«

 

»Ist heute abend jemand hier gewesen?« fragte Mark.

 

»Der Polizeimensch.«

 

»Bradley!«

 

»Ja, er hat sich ein paar Stunden hier herumgetrieben. Ich fragte ihn, ob er irgend etwas haben wollte, aber er sagte nein. Da konnte ich auch nichts machen. Er geht hier aus und ein, als ob ihm das ganze Haus gehörte.«

 

Um diese Stunde war Li Yosephs Wohnung ein düsterer Ort. Die einzige Lampe, die von der Decke herabhing, war schwach und konnte den Raum kaum erhellen.

 

»Haben Sie das schon gesehen?«

 

Mr. Shiffan zeigte auf ein kleines Paneel an der Tür, auf dem sechs grüne Glühbirnen befestigt waren.

 

»Merkwürdige Idee. Wozu mag das bloß sein?«

 

Mark war in einer sonderbar mitteilsamen Stimmung und erklärte es ihm.

 

»Unter jeder dritten Stufe ist ein Kontakt angebracht, der eins dieser Lichter aufleuchten läßt. Es ist ein Warnungssignal, wenn jemand die Treppe heraufkommt.«

 

»Großer Gott, es ist gut, daß Sie mir das gesagt haben! Ich bin furchtbar erschrocken, als meine Frau heute abend von der Straße heraufkam.«

 

Unten wurde an die Haustür geklopft. Mark ging hinunter, um zu öffnen. Ann stand allein draußen; ihr Begleiter hatte sie mit der Versicherung verlassen, daß sie beobachtet werde und nichts zu fürchten habe.

 

»Treten Sie näher, Ann«, sagte Mark zuvorkommend. »Wie kommen Sie denn hierher? Hat Bradley Sie auch eingeladen? Und Sie kommen ganz allein?«

 

Sie antwortete nicht, sondern ging vor ihm die Treppe hinauf. Ihr Kommen wirkte beruhigend auf Tiser.

 

»Meine liebe Miss Ann, ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie froh ich bin, daß ich Sie sehe.« Er drückte ihr die Hand. »Also hat man Sie auch hierhergebracht …«

 

»Es wäre besser, wenn du deinen Mund hieltest«, fuhr ihn Mark McGill ärgerlich an. Dann wandte er sich wieder an Ann. »Was soll denn diese ganze Geschichte bedeuten?«

 

»Ich weiß es nicht.«

 

»Hat Bradley nach Ihnen geschickt?«

 

Sie nickte.

 

»Ist Mr. Yoseph hier?«

 

Mr. Shiffan schüttelte den Kopf.

 

»Nein, Miss, wir dachten schon, er würde heute nachmittag kommen. Es hatte sich eine große Menschenmenge angesammelt, um ihn zu sehen.«

 

»Wird Mr. Bradley heute abend hier sein?« fragte sie.

 

»Ich glaube nicht. Er gab mir den Auftrag, daß ich sofort nach Scotland Yard telefonieren solle, wenn etwas Besonderes passiert. Er hat mir seine Spezialnummer gegeben.« Er nahm einen Zettel aus seiner Tasche, aber Ann interessierte sich nicht dafür.

 

»Sind Sie sicher, daß Li Yoseph nicht morgens hier im Haus war?« fragte Tiser.

 

»Nein, soweit ich weiß, nicht.«

 

»Ich dachte, ich hörte ihn Violine spielen.«

 

Mr. Shiffan grinste.

 

»Ach, das habe ich schon so häufig gehört, da kümmere ich mich gar nicht mehr darum. Großer Gott, alle die Geräusche, die Sie hier im Haus hören können.«

 

»Sind Sie denn sicher, mein lieber Mr. Shiffan«, fragte Tiser nervös, »daß es nicht noch einen anderen Raum hier gibt, in dem sich der alte Li aufhalten könnte? Denken Sie einmal nach.«

 

»Ja, es sind noch mehrere Zimmer da, aber die sind alle fest verschlossen. Die Polizei hat sie damals geöffnet, als der Alte verschwand, aber sie hat nichts Besonderes gefunden – soweit ich gehört habe, war nur alter Plunder darin.« Er rieb seine kalten Hände. »Wenn Sie sonst nichts brauchen, will ich gehen und in der Küche ein Feuer machen.«

 

Niemand hielt ihn zurück. Als er gegangen war, folgte ein verlegenes Schweigen.

 

»Ich weiß nicht, warum Sie eigentlich gekommen sind, Ann«, bemerkte Mark nach einiger Zeit.

 

»Warum sollte ich denn nicht kommen?« fragte sie herausfordernd.

 

Mark zuckte die Schulten.

 

»Sie waren in letzter Zeit wohl viel mit Bradley zusammen? Er ist ganz verrückt nach Ihnen, er scheint Sie kolossal gern zu haben – es ist wirklich amüsant. Was hat er Ihnen denn erzählt?«

 

»Nicht mehr, als er mir früher auch schon sagte«, erklärte Ann ruhig, aber sie fühlte sich etwas unbehaglich unter seinem durchdringenden Blick.

 

»Sie sind jetzt immer so vergnügt – ich habe Sie neulich sogar morgens singen hören. Kommt das von Ihrer Freundschaft mit Bradley?«

 

Sie lächelte über seine Frage.

 

»Ich habe mich selbst darüber gewundert.«

 

Wieder folgte eine längere Pause. Tiser hatte sich eben aufgerafft, etwas zu sagen, als er von Mark daran gehindert wurde.

 

»Haben Sie noch die Absicht, nach Paris zu gehen, wenn diese ganze Geschichte vorüber ist?« fragte McGill. »Manchmal kommt mir der Gedanke, daß es ein Fehler war, Sie überhaupt hier in London zu behalten; aber ich dachte mir, daß eine Dame als Chauffeur der Aufmerksamkeit der Polizei leichter entgehen werde. Das war jedoch nicht der Fall – im Gegenteil, Sie haben die Aufmerksamkeit dieser Leute zu sehr auf sich gezogen.«

 

Ann schwieg, Tiser war inzwischen zum Fenster gegangen.

 

»Mark, Mark!« rief er plötzlich. »Was haben denn alle diese Boote dort zu bedeuten?«

 

»Was redest du da von Booten?« McGill trat zu ihm und wischte mit seinem Taschentuch eins der Fenster ab, um besser sehen zu können.

 

»Es sieht so aus, als ob es Polizeiboote sind – sie fahren zur Schleuse hinauf. Die Themse-Polizei hat hier immer ein paar Boote in der Nähe.«

 

»Aber sie wenden ja nun«, flüsterte Tiser. »Mark, sie patrouillieren hier vor der Bucht. Was hat das zu bedeuten?« fragte er ängstlich und packte Mark krampfhaft am Arm. »Es ist doch wirklich nicht so wichtig, daß ich dabei bin … muß ich denn hierbleiben? Ich glaube, ich bin nicht notwendig … entschuldigen Sie mich bitte, Miss Perryman.«

 

»Du bleibst hier!« befahl Mark rauh.

 

Mr. Shiffan trat wieder ein, und Mark winkte ihn zu sich.

 

»Haben Sie etwas zu trinken im Hause?«

 

»Ja, ich habe heute morgen eine Flasche Whisky besorgt. Sie steht in der Küche. Es ist ja nicht von meinem Geld.«

 

McGill nahm Tiser am Arm.

 

»Nun sei ruhig. Du mußt einen kleinen Schluck nehmen, dann wird dir wieder besser. Sie haben doch nichts dagegen, daß wir Sie einen Augenblick allein lassen, Ann?«

 

Sie schüttelte den Kopf. Aber sie bereute ihre Zustimmung sofort, als sie sich schließlich allein in dem Raum befand. Selbst die Anwesenheit Marks war noch dieser trostlosen Einsamkeit vorzuziehen. Sie hatte das Gefühl, als ob große Augen aus dem Dunkel auf sie starrten. Von unten hörte sie das Plätschern des Wassers und das Krachen der Pfosten. Der Wind hatte sich erhoben und fuhr ächzend und stöhnend um das Haus. Und plötzlich erlebte sie wieder, was sie schon einmal erlebt hatte – das Licht ging aus. Die Falltür öffnet sich, und Kopf und Schultern Li Yosephs tauchten auf.

 

Ann schrak zurück und lehnte sich an die Wand, als der alte Mann heraufstieg. Diesmal konnte sie sein Gesicht deutlich in dem Licht der Laterne sehen, die er trug. Die Falltür schloß sich wieder, und der Alte verschwand in dem kleinen Schlaf räum. Gleich darauf ging das Licht wieder an. Im selben Augenblick traten auch Mark und Tiser ein.

 

»Es ist kein Korkenzieher in der Küche – ist etwas passiert?« fragte Mark schnell, als er sah, daß Ann zitternd und halb ohnmächtig an der Wand lehnte. Anns Lippen waren trocken.

 

»Li Yoseph ist gekommen«, sagte sie atemlos.

 

Sie zeigte auf die Falltür.

 

»Von dort her?«

 

»Ja – er ist in sein kleines Zimmer gegangen.«

 

Mark wandte sich schnell dorthin.

 

»Haben Sie sich auch nicht getäuscht, liebe Miss?« fragte Tiser bebend vor Angst. »Ist es nicht nur eine Einbildung? Warum sollte er denn gerade von dort unten kommen?«

 

»Hier habe ich eine Tür gefunden«, hörten sie Marks Stimme, »direkt hinter dem Bett. Ich habe sie früher nie gesehen. Ich wundere mich nur, was …«

 

Er wurde durch den Klang einer Violine unterbrochen. Die Töne kamen näher und näher, und plötzlich erschien Li Yoseph. Er ging zum Fenster und setzte sich dort auf seinen alten Platz. Sein Bogen bewegte sich nach dem Takt über die Saiten.

 

»Mein Gott!« Tisers Zähne klapperten. »Er ist es wirklich!«

 

Mark schüttelte ihn von sich ab.

 

»Ruhe«, sagte er.

 

Der Alte legte die Geige aus der Hand.

 

»Li – Mark spricht jetzt mit dir«, sagte Mark freundlich. »Geht es dir gut, Li?«

 

Der alte Mann stand auf, kam langsam näher und sah ihn an, als ob er kurzsichtig wäre.

 

»Es ist doch komisch, daß du mich fragst.« Er kicherte heiser.

 

»Ja, mir geht’s ganz gut – mir geht’s ganz gut. Ja, mein lieber Mark … denkst du noch immer an den armen, alten Li?« Dann drehte er sich um und sprach leise zu den Kindern, die ihn begleiteten. »Nun, Heinrich und Peter, ihr müßt jetzt zu Bett gehen. Um diese Zeit dürfen kleine Kinder nicht mehr auf sein … husch, husch, husch! Also gute Nacht!« Er winkte ihnen zu.

 

»Er hat immer noch die verrückten Manieren«, sagte Mark leise. »Li, Miss Perryman ist auch hier. Li, hörst du? – Ronnies Schwester.«

 

Li nickte.

 

»Ich kann sie ganz gut sehen. Sie fürchtet sich nicht vor mir?«

 

»Ich bin auch da, Li«, sagte Tiser mit schriller Stimme. »Kennst du mich noch – den lieben, guten Tiser?«

 

Aber Li schien sich nicht um ihn zu kümmern, er ging zu dem Schrank an der Wand, nahm eine Flasche und ein Glas heraus und setzte sich behutsam auf eine umgedrehte Kiste.

 

»Warum sollten wir denn heute um elf hier sein?« fragte Mark. »Kommt Bradley auch? Was willst du mit dem Wein?«

 

»Der ist für ihn«, sagte Li und nickte vor sich hin.

 

»Wen meinen Sie denn, Li Yoseph?« fragte Ann, die ihre Stimme kaum in der Gewalt hatte.

 

Der Alte schaute sie seltsam an, und sie glaubte einen traurigen Ausdruck in seinen Augen zu sehen.

 

»Sie werden mir nicht böse sein, wenn ich es Ihnen sage?«

 

»Für Ronnie?« fragte sie.

 

Der Alte nickte.

 

»Was soll denn das heißen, du verrückter Narr?« fuhr Mark auf.

 

»Ja, für ihn«, wiederholte Li Yoseph. »Er kommt jede Nacht.«

 

»Jede Nacht?« Mark lachte laut auf. »Du bist doch ein ganzes Jahr lang nicht mehr hier gewesen.«

 

Mark sah Li zum erstenmal lächeln; es war ein abstoßender Anblick.

 

»Das denkst du, aber ich bin doch hier gewesen.«

 

Je länger die seltsame Unterhaltung dauerte, desto aufgeregter wurde Tiser.

 

»Ich kann das nicht mehr aushalten! Ach Gott, das ist zuviel! Ronnie ist tot, Li – er kann doch nicht herkommen …«

 

»Jede Nacht kommt er«, sagte der Alte feierlich. »Er geht die Treppe herauf und kommt in dieses Zimmer. Dann tritt er an den Tisch und zieht das Glas zu sich, aber er trinkt nicht. An dem Abend wollte er gerade trinken – du erinnerst dich, mein lieber Mark –, als …«

 

»Jetzt sei aber ruhig!« brüllte McGill. »Siehst du denn nicht, daß du die junge Dame erschreckst?«

 

Aber Ann gab ihm ein Zeichen, daß er schweigen solle.

 

»Nein, hören Sie meinetwegen nicht auf. Ob er lebt oder tot ist, ich fürchte mich nicht vor Ronnie!«

 

»Sie werden ihn nicht sehen«, sagte Mark verächtlich. »Diese Dinge existieren doch nur in seinem verrückten Gehirn.«

 

Der alte Li sprach weiter.

 

»Nun, mein lieber Mark, soll ich dir erzählen, was dann geschieht?«

 

»Was geschieht denn dann?« fragte Mark böse, aber seine Stimme zitterte leicht.

 

Li Yoseph wandte sich langsam nach ihm um.

 

»Und dann fällt er, und der Stuhl fällt auch um – und dann ist er wieder tot.«

 

Ann sah Mark entsetzt an. »Was sagt er da?« flüsterte sie. »Ist Ronnie hier – hier in diesem Raum – umgekommen?«

 

Tiser packte plötzlich ihren Arm so heftig, daß sie aufschrie.

 

»Kommen Sie, hören Sie doch nicht auf ihn – wir wollen schnell fortgehen«, stammelte er. »Dieser Platz ist verhext, überall Geister … Sehen Sie ihn nur an!«

 

Mit einem Ruck befreite sie sich von seinem Griff.

 

»Ronnie wurde hier in diesem Zimmer ermordet?« fragte sie scharf.

 

»Sie sind ebenso verrückt wie Li!« sagte Mark.

 

In diesem Augenblick schlug eine Kirchenuhr in der Nähe elf. Alle schwiegen. Eine unheimliche Stille folgte.

 

»Nun?« begann Mark endlich.

 

Plötzlich klopfte es unten an die Tür – die Töne hallten langsam und deutlich herauf. Dann fiel die Tür ins Schloß. Tiser stieß einen Schreckensschrei aus. Die grünen Lichter leuchteten nacheinander auf – es kam jemand die Treppe herauf. Langsam öffnete sich die Tür … Zoll für Zoll … Aber niemand außer Li sah, wer sie geöffnet hatte.

 

Der alte Mann ging vorwärts – der unsichtbare Besucher war für ihn Wirklichkeit.

 

»So, Ronnie, kommst du wieder, um mit dem alten Li zu sprechen … Hier ist der Wein, Ronnie … Setze dich hin … du willst nicht?«

 

Niemand war eingetreten, aber die Tür schloß sich wieder. Li kam näher – er hatte den Arm um die unsichtbare Gestalt gelegt. Ann beobachtete ihn fasziniert, als er seinen Gast jetzt zum Tisch führte.

 

»Es ist ein guter Wein, Ronnie – der beste für dich!«

 

Und dann sah sie zu ihrem größten Schrecken, wie sich das volle Glas auf dem Tisch bewegte … langsam kam es dem Rand, immer näher.

 

»Ronnie, sieh dich vor – Mark!« rief Li plötzlich warnend.

 

In diesem Augenblick fiel der Stuhl am Tisch um. Ein Schreckensschrei gellte durch das Zimmer.

 

»Du hast ihn umgebracht, Mark!« schrie Tiser. Sein Gesicht war verzerrt, er zeigte mit zitternder Hand auf McGill. »Ich sage es der Polizei – du hast ihn umgebracht! Kaltblütig hast du ihn ermordet! Ich kann es nicht mehr aushalten, ich muß es sagen!«

 

Mark packte ihn an der Kehle.

 

»Bist du auch verrückt?«

 

»Er hat die Wahrheit gesagt – Sie Mörder«, rief Ann atemlos.

 

»Ob wahr oder gelogen, das ist mir alles gleich«, sagte Mark drohend. »Sie werden auch nicht aus dem Haus kommen, ehe ich nicht Ihren Mund auf die eine oder andere Weise zum Schweigen gebracht habe.«

 

Aber dann überkam ihn eine fürchterliche Wut, und er wandte sich rasend gegen den alten Mann, der Tiser zum Geständnis gebracht hatte.

 

»Diesmal entkommst du mir nicht, du Schuft!« schrie er. Aber als er seinen Browning zog, packte ihn Li Yoseph mit einem so geschickten Griff, daß Mark hinfiel.

 

Mit einem Wutschrei sprang er wieder auf und stürzte sich auf den Alten. Aber die harten Hände packten ihn wieder und stießen ihn nach hinten in die Arme eines der Detektive, die während der letzten Vorgänge ungesehen und ungehört in den Raum getreten waren.

 

»Wer sind Sie?« fragte Mark atemlos.

 

Seine Frage war überflüssig, denn mit einem kurzen Ruck hatte der Alte die gelbe Maske mit dem großen Kinn und der häßlichen Nase heruntergerissen. Mark stand vor Inspektor Bradley.

 

»Was – Sie?«

 

Bradley nickte.

 

»Wir fanden Li Yoseph vor einiger Zeit hier unten – ich zeigte Ihnen die Kugel, die wir aus seinem Körper entfernten. Es stimmt schon, Sie haben ihn umgebracht. Es hat lange gedauert, bis wir ihn im Schlamm fanden, aber schließlich hatten wir doch Erfolg. Und dann kam mir der Gedanke, daß ich Tiser zu einem Geständnis bringen könnte. Sie wissen ja, ich spiele selbst Violine – und Li hatte etwa meine Gestalt.«

 

Selbst in diesem Augenblick bewahrte McGill seine Selbstbeherrschung.

 

»Sie brauchen aber zwei Zeugen für einen Beweis – so verlangt es das Gesetz. Sie sind voreingenommen – Ihr Zeugnis gilt nicht. Auch Ann Perryman wird man ablehnen. Woher nehmen Sie diesen zweiten Zeugen?«

 

Bradley zeigte auf die Kiste.

 

»Dort ist der andere. Haben Sie nicht gesehen, daß er das Glas bewegte? Er hat eine Stahlplatte am Fuß, und er hat das Glas mit einem Magneten von unten her bewegt.«

 

Er öffnete die Tür der Kiste, und Mr. Sedeman kam heraus.

 

*

 

Bradley hatte darauf bestanden, daß Ann eine Seereise unternahm.

 

»Es ist besser, daß du dich an das Klima in Brasilien gewöhnst, Ann. Du mußt mir versprechen, daß du keine englischen Zeitungen liest, bis ich nachkomme, mein Liebling. Nein, ich glaube nicht, daß dein Zeugnis irgendwelchen Wert haben könnte, wir kommen auch so aus. Tiser hat jetzt sein Geständnis schriftlich bestätigt.«

 

So kam es, daß Ann auf einem Luxusdampfer nach Brasilien unterwegs war, während sich in London der aufsehenerregende Prozeß abspielte. Sie erfuhr nichts davon, daß der halb wahnsinnige Tiser vor den Schranken des Gerichts Mark an die Gurgel sprang; sie erfuhr auch nichts von der Hinrichtung. An dem Tag, an dem Mark McGill am Galgen endete, trat Bradley aus dem Dienst der Polizei aus, und die Fliegende Kolonne verlor ihren besten Beamten.

 

Kapitel 16

 

Kapitel 16

 

In der Umgebung von Lady’s Stairs verbreitete sich das Gerücht mit Windeseile. Li Yoseph war zurückgekommen!

 

Jedermann wußte nun, warum die Nachforschungen nach ihm eingestellt worden waren. Wie ähnlich sah es dem alten Li, der Polizei soviel Umstände zu machen und bis zur letzten Minute zu warten, bis er sich wieder zeigte!

 

Niemand hatte ihn bisher gesehen, aber die etwas unordentliche Mrs. Shiffan, die ihm früher den Haushalt besorgt und allerlei Botengänge für ihn gemacht hatte, war mit ihrem Mann nach Lady’s Stairs gekommen und hatte feierlich die Tür geöffnet. Am Abend vorher hatte man ihnen die Schlüssel mit einer schriftlichen Mitteilung zugeschickt, daß sie die Wohnung in Ordnung bringen sollten.

 

Mr. Shiffan, der häufig im Gefängnis gesessen hatte, wurde plötzlich ein Mann von Bedeutung; aber auch er konnte nach seiner Rückkehr von Lady’s Stairs nichts Näheres über Li Yoseph berichten.

 

Ann Perryman war nicht im mindesten über das Auftauchen Li Yosephs bestürzt, im Gegenteil, sie interessierte sich lebhaft für ihn; aber zu ihrem größten Erstaunen hatte sie beobachtet, welch sonderbare Wirkung das Wiedererscheinen dieses Mannes auf Mark McGill und Tiser ausübte. Mark war in düsterer Stimmung, brütete vor sich hin und sprach kaum. Als sie einmal zu ihm hinüberging, sah sie im Kamin einen Aschenhaufen verbrannten Papiers.

 

Tiser war ja schon immer aufgeregt gewesen. Er war niemals ganz nüchtern und niemals richtig betrunken; aber seine Äußerungen waren jetzt zusammenhangloser und verwirrter denn je.

 

Es war eigentlich kein besonderer Grund für Marks schlechte Laune vorhanden, denn die ihm unmittelbar drohende Gefahr war vorübergegangen. Durch einen unverhofften Glückszufall war es ihm gelungen, einen Insassen des Versorgungsheims zu bestimmen, den gefährlichen Transport nach Bristol zu übernehmen. Der Mann fuhr gerade rechtzeitig ab – eine halbe Stunde später kam die Polizei und durchsuchte die Garage bis in den letzten Winkel.

 

Mark rühmte sich, daß er eiserne Nerven besitze; aber Bradleys Hartnäckigkeit hatte seine Kraft doch bis zu einem gewissen Grad erschüttert, und nach Li Yosephs Rückkehr erkannte er, wie ernst seine Lage geworden war. Er hatte ihn seit jenem Abend, an dem er so plötzlich in seiner Wohnung erschienen war, um gleich wieder zu verschwinden, nicht mehr gesehen. Auch in Lady’s Stairs hatte er nur Mr. und Mrs. Shiffan angetroffen, die mit der Reinigung der Wohnung und den Vorbereitungen für den Einzug des alten Mannes beschäftigt waren.

 

»Gebranntes Kind scheut das Feuer, mein guter Mark«, sagte Tiser mit zitternder Stimme. »Du glaubst doch nicht, daß er dir noch einmal Gelegenheit geben wird, ihn umzulegen!«

 

»Li Yoseph steckt mit Bradley unter einer Decke«, erwiderte Mark rauh. »Wenn du das nicht glaubst, wirst du noch sehen, was uns bevorsteht. Er hat Bradley alles erzählt!«

 

»Aber warum läßt Bradley dich nicht wegen versuchten Mordes verhaften?«

 

»Er will mich wegen Ronnie an den Galgen bringen – das ist doch ganz klar. Außerdem genügt das Zeugnis Li Yosephs nicht, um mich zu überführen. Er wartet, bis er noch einen anderen Verräter findet.«

 

Sein scharfer Blick durchbohrte Tiser, und ein sonderbarer Ausdruck erschien auf seinem Gesicht.

 

»Aber du kannst dich beruhigen, sie werden dein Zeugnis nicht annehmen«, sagte er höhnisch. »Den Gedanken kannst du dir aus dem Kopf schlagen.«

 

»Ich schwöre dir …«, begann Tiser.

 

Aber Mark unterbrach ihn sofort.

 

»Das ist die einzige Genugtuung, die ich habe, daß du nichts gegen mich machen kannst. Wenn schon gehenkt werden soll, so werden wir beide zum Galgen gehen – um Mr. Steen zu treffen.«

 

Tiser zitterte.

 

»Ich wünschte nur, du würdest nicht so leichtsinnig reden«, wimmerte er. »Wozu sprichst du immer vom Galgen? – Was sagt eigentlich Ann dazu, daß Li Yoseph wieder da ist?«

 

Mark schwieg. Ann hatte sich kaum darüber geäußert, aber ihre Haltung sagte ihm genug.

 

»Du glaubst doch nicht; daß sie – schwach wird?« fragte Tiser ängstlich. Dann dachte er einen Augenblick nach. »Ich hatte schon die Idee …«

 

»Das erstemal, daß ich einen eigenen Gedanken von dir höre«, erwiderte Mark unfreundlich. »Du denkst natürlich an Ann – und Bradley?«

 

Tiser nickte.

 

»Du nimmst doch nicht etwa an, daß sie in ihn verliebt ist?« brummte Mark.

 

Zu seinem größten Erstaunen bejahte Tiser.

 

»Glaubst du wirklich, daß Ann ihn liebt? Und daß er es weiß?« fragte er bestürzt.

 

Tiser ging zur Tür und schaute hinaus. Als niemand zu sehen war, schlich er auf Zehenspitzen zu Mark zurück, der diese Geheimnistuerei zur Genüge kannte.

 

»Ist es dir schon einmal aufgegangen, daß Ann eventuell für uns von größtem Wert sein kann?«

 

McGill wandte sich plötzlich zu Tiser und sah ihn kalt an.

 

»Natürlich – daran habe ich nie gezweifelt. Vor allem, wenn sie ihren Führerschein wieder hat.«

 

Tiser zog einen Stuhl an den Tisch heran und setzte sich.

 

»Wir wollen einmal scharf nachdenken.«

 

Mit einer Handbewegung forderte er Mark auf, ebenfalls Platz zu nehmen.

 

Seine Geste war im Augenblick so befehlend, daß Mark ihm verwirrt gehorchte. Erst als er in dem Sessel saß, kam ihm zu Bewußtsein, daß er zum erstenmal in seinem Leben unter Tisers Einfluß gehandelt hatte. Er war bestürzt und ärgerlich über sich selbst.

 

»Na, was hast du denn für eine große Idee?« fragte er unfreundlich.

 

Tiser sah an ihm vorbei.

 

»Bradley leistete fast einen Meineid, um Ann zu retten, aber ein schweres Verbrechen könnte er nicht verheimlichen.«

 

Mark betrachtete ihn unter halb gesenkten Augenlidern.

 

»Ich weiß nicht recht, worauf du hinauswillst.«

 

Tiser lächelte bedrückt und unterwürfig.

 

»Wir können doch unserem Freund Bradley eine Beschäftigung geben, die ihn vollständig in Anspruch nimmt, so daß er keine Zeit mehr für uns hat. Ich will nicht im geringsten etwas vorschlagen, was Ann schaden oder sie in irgendeine Gefahr bringen könnte, aber nimm einmal an, – ich meine, du sollst es nur einmal annehmen, mein lieber Mark –, gegen Ann Perryman würde eine andere Anklage erhoben werden … eine sehr ernste, schwere, und er müßte gegen seinen Willen selbst als Zeuge gegen sie auftreten – weil sie im Verdacht steht, einen Mord begangen zu haben.«

 

Mark erhob sich schnell.

 

»Was soll denn das heißen?« fragte er rauh. »Ann Perryman hat doch niemand ermordet …«

 

Aber im selben Augenblick erkannte er, wie unheimlich rasch Tiser manchmal denken konnte.

 

»Ann ist eine Last für uns«, fuhr Tiser fort. »Ich glaube, sie war in der letzten Zeit nicht sehr liebenswürdig zu dir – es wird wohl früher oder später zu einem Bruch mit ihr kommen …«

 

»Woher willst du das wissen?«

 

»Ich sehe manche Dinge, die bestimmt kommen werden. Sie kann auch noch recht gefährlich für uns werden. Wäre es da nicht besser, wenn wir …«, er sprach nicht weiter, machte nur eine vielsagende Geste und zuckte die Schultern.

 

Mark starrte ihn entsetzt an.

 

»Du möchtest also Bradley erledigen – und du erwartest, daß ich Ann zu diesem Zweck opfere?«

 

Tiser nickte.

 

»Überlege dir einmal«, fuhr er langsam fort, »daß sie wegen einer schweren Sache vor Gericht stand. Sie ist seit der Zeit unter Verdacht. Bradley war damals ihr Hauptankläger, und das brach ihm fast das Herz. Ich glaube nicht, daß er diese Tatsache geheimhalten konnte.«

 

Mark wandte keinen Blick von Tiser.

 

»Hast du dir etwa wieder einen so dummen Mordplan zurechtgelegt?« fragte er ironisch. Er dachte schnell nach.

 

»Ich glaube, daß ich dir eine bessere Lösung vorschlagen kann«, sagte er nach einiger Zeit. »Ich weiß einen viel wichtigeren Todeskandidaten.«

 

Die beiden trennten sich mit einem vielsagenden Blick.

 

Mark trat in sein Schlafzimmer und wickelte einen großen Verband um seine rechte Hand. Dann ging er über den Flur und klopfte an Anns Tür. Sie öffnete ihm selbst.

 

»Was haben Sie denn mit Ihrer Hand gemacht?«

 

»Ach, es ist nichts Besonderes. Ich war eben in der Garage und habe mir an der Tür die Hand gequetscht. Aber ich bin natürlich sehr behindert. Würden Sie wohl so liebenswürdig sein, einige Briefe für mich zu schreiben? Ich habe ein oder zwei dringende Sachen zu erledigen.«

 

Sie zögerte einen Augenblick. Ihr natürliches Mitgefühl drängte sie, ihm zu helfen, aber ihr ebenso natürlicher Argwohn hielt sie zurück.

 

»Ich kann leider nicht Schreibmaschine schreiben.«

 

»Das macht nichts. Es sind nur zwei kurze Mitteilungen zu schreiben. Ich bin wirklich in großer Verlegenheit.«

 

»Natürlich werde ich Ihnen helfen, Mark«, sagte sie und folgte ihm in seine Wohnung.

 

Der erste Brief, den er langsam diktierte, war an einen Mann in Paris gerichtet. Mark bat ihn, seinen Besuch zu verschieben.

 

Ann legte den nächsten Bogen auf die Schreibunterlage.

 

»Ich möchte nicht zu Tiser gehen. Telefonieren kann ich auch nicht, weil unser Freund Bradley wahrscheinlich alle meine Gespräche abhören läßt. Also muß ich an ihn schreiben. Überschrift: ›Mein lieber Freund‹ …«

 

Ann schrieb:

 

›Ich habe Ihnen eine sehr wichtige Sache mitzuteilen und möchte Sie heute abend um elf Uhr im Park gegenüber von Queen’s Gate sprechen. Kommen Sie, bitte, allein.‹

 

»Unterschrift brauchen wir nicht, er weiß genau, von wem die Nachricht kommt.«

 

Sie reichte ihm das Schreiben, und er las es durch, ohne auch nur im geringsten das Gefühl der Genugtuung zu verraten, das er empfand. Bradley würde ihre Handschrift sofort erkennen.

 

Kapitel 17

 

Kapitel 17

 

Ann Perryman hatte nicht zum erstenmal Briefe für Mark geschrieben. Er haßte die Arbeit, konnte aber eine Stenotypistin nicht anstellen.

 

Ann hatte sich während ihrer erzwungenen Untätigkeit sogar über diese Beschäftigung gefreut. Mark hatte ihr einen großen Teil der Korrespondenz übergeben, der harmlosere Geschäftsvorgänge betraf. Er hatte seine Laufbahn als Schmuggler zweifelhafter Artikel begonnen und gut daran verdient. Erst in neuerer Zeit hatte sich daraus der Handel mit Rauschgift entwickelt. Aber nun war Mark durch seine Erfolge ein wenig fahrlässig geworden.

 

Er selbst war der erste, der das erkannte. Er gab sich keinen Illusionen hin; er wußte, daß die Polizei ihre Nachforschungen mit unendlicher Geduld fortsetzte und daß buchstäblich das Netz um ihn gewoben wurde. Man war offenbar gar nicht darauf bedacht, ihm eine Falle zu stellen und ihn zu fangen, aber er wußte genau, daß er im Augenblick schon nahezu wie ein Gefangener behandelt wurde. Er hatte seinen Paß zur Erneuerung eingesandt und daraufhin die kurze Mitteilung erhalten, daß ihm das Dokument wegen gewisser Unklarheiten erst mit einiger Verspätung zugesandt werden könne. An und für sich war das für Mark kein großes Unglück, denn er besaß noch mehrere andere Pässe auf verschiedene Namen. Aber dieser Vorfall zeigte ihm, daß ein Versuch von seiner Seite, England zu verlassen, die schwersten Folgen für ihn hätte.

 

Ann Perryman wurde mit der Zeit eine immer größere Gefahr – er mußte sich von ihr befreien.

 

Und doch fühlte Mark keinen Haß gegen die Frau, deren Leben er aufs Spiel setzen wollte. Böswilligkeit gegen Ann hatte ihn nicht zu dem Plan getrieben, den er so kaltblütig überlegte. Sie war für ihn nur eine Schachfigur, die er opferte, um Vorteile zu gewinnen. Die Leidenschaft für Ann, die damals so plötzlich in ihm aufflammte, war längst wieder erloschen.

 

Er faltete den Brief zusammen und steckte ihn in einen Umschlag, den er mit großer Sorgfalt an »Inspektor Bradley, Scotland Yard« adressierte. Dann fuhr er in einem Taxi nach West End und warf den Brief auf dem Postamt von Charing Cross in den Kasten.

 

Es war kaum eine halbe Stunde vergangen, seitdem Ann den Brief geschrieben hatte. Sie wollte sich eben zum Ausgehen umziehen, als plötzlich das Telefon läutete. Sie war sehr verwundert, als sie Tisers Stimme hörte. Er hatte sie früher nur ein einziges Mal angerufen. Wie gewöhnlich sprach er aufgeregt und unverständlich, so daß sie ihn bitten mußte, seine Worte zu wiederholen.

 

»… nach Bristol. Wollen Sie so liebenswürdig sein und Mark sagen, daß ich den ersten Zug versäumt habe, daß ich aber morgen gegen Mittag fahren werde. Ich habe vergeblich versucht, ihn telefonisch zu erreichen. Legen Sie ein gutes Wort für mich ein, Sie wissen doch, daß Mark so schrecklich leicht aufbraust.«

 

»Wußte er denn, daß Sie nach Bristol fahren wollen?«

 

»Aber selbstverständlich – er hat mir doch den Auftrag dazu gegeben«, erwiderte Tiser nervös. »Ich versprach ihm, mit dem ersten Zug zu fahren …«

 

»Kommen Sie heute abend zurück?« unterbrach sie ihn.

 

»Nein, erst morgen abend – ich wollte so gern heute zurückkommen, aber Mark … nun ja, Sie kennen ihn doch. Gibt es irgend etwas Neues? Ich bin so niedergeschlagen, meine Nerven sind am Ende. Könnten Sie nicht einmal mit Mr. Bradley sprechen und ihn davon überzeugen, daß das Versorgungsheim eine ganz harmlose Sache ist? Die Polizei verfolgt diese armen, unglücklichen Leute in der letzten Zeit mit einem Haß, den ich überhaupt nicht mehr verstehen kann. Auch dieser Sedeman macht uns viel zu schaffen. Manchmal kommt mir der Gedanke, daß er tatsächlich ein Polizeispitzel ist. Wollen Sie Mark meine Bestellung ausrichten?«

 

Bevor sie etwas erwidern konnte, hatte er schon eingehängt. Ann setzte sich an ihren Schreibtisch und dachte angestrengt nach. Mark wußte also, daß Tiser verreisen wollte und an diesem Abend nicht in London sein würde. Warum hatte er sie dann diese Mitteilung schreiben lassen – und warum vor allem hatte er diesen unmöglichen Tiser mit »Mein lieber Freund« angeredet? Sie wußte, daß die Beziehungen zwischen den beiden gespannt waren; außerdem machte Mark keine unnötigen Komplimente.

 

Es fiel ihr auch ein, daß Mark noch niemals an Tiser geschrieben hatte. Und wenn er überhaupt schrieb, warum vereinbarte er dann eine Zusammenkunft im Hydepark? Für die Polizei war es doch kein Geheimnis, daß Tiser häufig zu Mark kam und mit ihm in Verbindung stand.

 

Ann grübelte lange Zeit über diesen Fall nach, aber schließlich faßte sie einen Entschluß und ging in die andere Wohnung hinüber. Mark war nicht zu Hause, wie ihr der Diener sagte. Sie trat in das Wohnzimmer ein. Auf dem Schreibtisch lagen Briefpapier und Umschläge; aus dem Papierkorb schaute ein zerrissener Umschlag hervor. Sie zog ihn heraus und las in Marks Handschrift das Wort »Inspektor« darauf. Mark hatte ihn anscheinend nicht benutzt, weil ein Klecks darauf gekommen war.

 

Verwirrt schaute sie auf das Kuvert, und plötzlich fand sie die richtige Lösung. Er hatte den Brief, den sie geschrieben hatte, an Inspektor Bradley geschickt! Sie versuchte verzweifelt, sich jedes Wort ins Gedächtnis zurückzurufen, aber sie hatte der Mitteilung so wenig Beachtung geschenkt, daß sie nur noch den allgemeinen Inhalt wußte. Bradley würde ihre Handschrift wiedererkennen, sie hatte ja schon mehrere Briefe mit ihm gewechselt. Sicher würde er zu der bezeichneten Stelle kommen, da er doch annehmen mußte, daß sie ihm etwas mitzuteilen hatte. Aber warum wollte Mark ihn dorthin bringen? Ein Schauer überlief sie bei diesem Gedanken.

 

Als sie in ihre Wohnung zurückkam, klingelte das Telefon wieder. Tiser meldete sich, und seine Stimme klang schrill vor Angst.

 

»Sind Sie es, meine liebe Miss Perryman? Ich fahre nicht nach Bristol – mein Gedächtnis ist einfach fürchterlich in der letzten Zeit. Ich habe mich eben daran erinnert, daß Mark mir heute einen Brief schicken wollte – und zwar einen sehr wichtigen.«

 

Ein schwaches Lächeln spielte um Anns Lippen.

 

»Wann haben Sie sich denn daran erinnert«, fragte sie. »Er ist doch nicht etwa selbst …«, noch rechtzeitig hielt sie inne.

 

»Erst vor ein paar Minuten. Sie brauchen Mark auch nichts davon zu sagen. Ich werde einen anderen Mann schicken.«

 

Sie lächelte immer noch ein wenig bitter, als sie den Hörer einhing. Mark mußte in der Herberge gewesen sein, um sich zu erkundigen, ob Tiser abgereist war. Er hatte dann von ihm erfahren, daß er mit ihr telefoniert hatte. Auf diese Weise ließ sich Tisers Aufregung erklären.

 

Die Gefahr, in der sie selbst schwebte, kam ihr nicht zum Bewußtsein. Sie dachte überhaupt nicht daran, daß ihr Brief im Besitz des ermordeten oder schwerverletzten Bradley ein erdrückend belastendes Zeugnis gegen sie sein mußte. Sie sah im Augenblick nur die Gefahr, die Bradley drohte, und ließ sich in ihrer großen Sorge mit Scotland Yard verbinden.

 

Aber Bradley war nicht anwesend; sie konnte nur mit seinem Sekretär sprechen.

 

»Wollen Sie ihm bitte bestellen, daß er mich anrufen möchte, sobald er zurückkommt?« Sie gab ihre Adresse und Nummer an.

 

»Es ist gut, Miss Perryman, ich werde Ihren Auftrag ausrichten.«

 

Es war schon Nachmittag, als ihr zum Bewußtsein kam, daß sie seit dem Frühstück noch nichts zu sich genommen hatte, und sie bereitete sich selbst ein einfaches Mittagessen. Sie hatte ihr Dienstmädchen bereits entlassen und versah ihren Haushalt selbst. Die beiden letzten Tage hatte sie nach einer neuen Wohnung gesucht, denn es stand nun bei ihr fest, daß sie mit Mark McGill und seinen Leuten brechen mußte.

 

Sie besaß noch etwas bares Geld. Mark hatte sie gut bezahlt, aber sie hatte keine großen Ersparnisse zurückgelegt. Sie konnte ja ihren früheren Beruf wieder ausüben. An jenem Abend, an dem Li Yoseph in Marks Wohnung aufgetaucht war, hatte sie einen Brief an ihre alte Schule in Auteuil geschrieben und angefragt, ob sie dort wieder eine Stellung haben könne. Man hatte ihr auch geantwortet; aber der Direktor war auf einer Ferienreise nach Südfrankreich, und sie mußte warten, bis er zurückkam und ihr Bescheid gab.

 

Es wurde vier Uhr – Bradley hatte sich noch nicht gemeldet. Um sechs Uhr rief sie Scotland Yard noch einmal an, konnte aber weder Bradley noch seinen Sekretär erreichen. Der Inspektor war anscheinend im Büro gewesen, um seine Briefe zu holen. Sie fragte, wo er jetzt zu treffen sei, aber das konnte oder wollte man ihr nicht mitteilen. Sie erhielt nur zur Antwort, daß Bradley einige Minuten in seinem Zimmer gewesen sei. Ihre Botschaft war ihm wohl nicht übermittelt worden.

 

Die Stunden vergingen, und Ann wurde immer besorgter.

 

Um halb elf zog sie Mantel und Hut an und verließ die Wohnung. Auf der Treppe begegnete sie Mark.

 

»Wo wollen Sie denn hingehen?« fragte er erstaunt.

 

»Ich möchte noch einen kleinen Spaziergang machen.«

 

»Ich werde Sie begleiten«, bot er ihr an.

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Ich möchte gern allein sein, Mark«, antwortete sie.

 

Ihre offensichtlich gute Stimmung täuschte ihn, und die Tatsache, daß sie um diese Zeit ausgegangen war, konnte seinen eigenen Plan nur unterstützen.

 

»Sehen Sie aber zu, daß Ihnen nichts passiert«, sagte er in guter Laune.

 

Viertel vor elf erreichte Ann Queen’s Gate. Als sie an das Parktor kam, hörte sie das Hupen eines Krankenautos, und ihre Unruhe wuchs.

 

Sie sah die Gestalt eines Mannes – es war der Parkwächter. Er kam langsam auf sie zu und betrachtete sie argwöhnisch.

 

»Hat es hier – eben einen Unfall gegeben?« fragte sie leise.

 

»Ja, Miss, in der Nähe des Marble Arch wurde ein Mann niedergeschlagen. Aber ich glaube kaum, daß er schwer verletzt worden ist.«

 

Sie nickte nur dankbar, denn sie war so aufgeregt, daß sie im Augenblick nicht sprechen konnte. Dann überquerte sie die Straße.

 

Es war nur ein Fußgänger zu sehen. Er ging vorüber und sah sie von der Seite an. Wahrscheinlich hätte er sie angesprochen, wenn sie sich nicht hastig abgewandt hätte und weitergegangen wäre.

 

Von welcher Seite mochte Bradley wohl kommen? Und woher drohte das Unheil? Gefahr war im Anzug – davon war sie überzeugt.

 

Ein Polizist kam aus der Dunkelheit auf sie zu. Bei seinem Anblick fühlte sie sich sehr erleichtert und war nicht einmal böse darüber, daß er sie ansprach und ausfragte.

 

»Sie sollten eigentlich nicht um diese Zeit hier allein im Park sein, Miss.«

 

»Ich erwarte – einen Freund«, erwiderte sie heiser.

 

Sie fühlte, daß er sie durchdringend anschaute und konnte vermuten, was er von ihr dachte.

 

Aber plötzlich kam ihr ein guter Gedanke.

 

»Ich warte hier auf Detektivinspektor Bradley von Scotland Yard«, sagte sie etwas atemlos.

 

Ihre Worte machten Eindruck auf den Mann.

 

»Ach so – das ist natürlich etwas anderes.«

 

»Es wäre mir sehr lieb, wenn Sie bei mir blieben, bis er kommt. Ich – ich möchte ihn warnen. Ich fürchte, daß ein Angriff auf ihn geplant ist.«

 

Der Polizist betrachtete sie etwas näher.

 

»Ich habe Sie doch schon gesehen – sind Sie nicht die junge Dame, die vor einigen Wochen angeklagt war? Ich war damals zufällig auch in einer anderen Sache als Zeuge vorgeladen. Sind Sie nicht Miss Perryman?«

 

»Ja.«

 

Er sah von ihr zu dem Parktor und schien unentschlossen zu sein.

 

»Weiß Mr. Bradley, daß Sie kommen wollen?«

 

»Ja – ich nehme es an.«

 

In diesem Augenblick trat ein Mensch durch das Tor, und sie eilte ihm entgegen.

 

»Sie wollten mich sprechen«, fragte Bradley schnell. »Was gibt es denn? Ich habe Ihren Brief erst um halb elf bekommen, als ich zurückkam. Ich habe Sie angerufen, aber Sie waren schon fortgegangen.«

 

Er entdeckte den Polizisten.

 

»Was will der Mann?«

 

Sie erklärte ihm ein wenig zusammenhanglos, warum sie gekommen war. »Ich bat ihn, bei mir zu bleiben. Ich dachte, Sie hätten vielleicht Hilfe nötig«, sagte sie schließlich.

 

»Sie haben also den Brief nicht an mich geschickt?«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»War es McGill?«

 

Diese Frage beunruhigte sie. Bis dahin hatte sie nicht daran gedacht, daß sie durch ihre Handlungsweise Mark sehr schaden konnte, was durchaus nicht in ihrer Absicht lag.

 

»Ich weiß nur, daß ich die Mitteilung geschrieben habe. Und dann kam mir plötzlich der Gedanke, Sie könnten annehmen, ich hätte den Brief an Sie gerichtet.«

 

»Das habe ich auch wirklich getan«, sagte er lächelnd.

 

Er sah sich auf der verlassenen Straße nach beiden Seiten um.

 

»Sergeant, gehen Sie dort hinunter und halten Sie sich bereit, mir zu helfen, wenn es nötig ist. Sie wissen, wer ich bin?«

 

»Ja, ich kenne Sie, Inspektor Bradley.«

 

»Gut!« Der Detektiv lächelte. »Ich weiß zwar noch nicht, wie Sie mir helfen könnten … doch, suchen Sie einmal die Gegend hinter meinem Rücken ab, und sehen Sie zu, ob nicht jemand im Grase liegt.«

 

Der Polizist verschwand.

 

»Was soll ich nun mit Ihnen anfangen, Miss Perryman?«

 

»Glauben Sie, daß Gefahr besteht?«

 

»Ja, davon bin ich überzeugt. McGill wußte natürlich, daß ich Ihre Handschrift wiedererkennen würde – und er wußte auch, wie ich zu Ihnen stehe, Ann.«

 

Sie ging nicht auf seine Worte ein.

 

»Soll ich fortgehen?« fragte sie. »Vielleicht kann ich noch einen anderen Polizisten zu Ihrer Unterstützung finden?«

 

In diesem Augenblick schlug eine Kirchenuhr in der Nähe elf.

 

»Ich fürchte, es ist zu spät dazu«, sagte Bradley.

 

Er faßte in seine Hüfttasche und zog eine Pistole heraus. Als er sich nach links umsah, bemerkte er die abgeblendeten Lichter eines Autos, das auf der Mitte der Straße fuhr, in Richtung des Tors, Von dorther mußte die Gefahr kommen. Er rief laut nach dem Polizisten, wandte sich dann zu Ann, ergriff sie am Arm und zog sie halb über das niedrige Gitter, das den Rasen vom Fußpfad trennte.

 

»Legen Sie sich ganz flach auf den Boden!« befahl er.

 

Im nächsten Augenblick lag sie schon auf dem Boden und fühlte den feuchten Tau in ihrem Gesicht. Sie konnte den Wagen sehen. Er fuhr jetzt mit erhöhter Geschwindigkeit und lenkte plötzlich zu der Stelle, wo Bradley stand.

 

Dann fielen kurz hintereinander drei oder vier Schüsse. Ann hörte das Pfeifen und Heulen der Geschosse, die dicht über sie hinwegflogen und sich hinter ihr in die Erde bohrten. Signalpfeifen schrillten, und der Wagen verschwand aus ihrem Gesichtskreis.

 

Jetzt schoß Bradley. Leute eilten herbei.

 

»Stehen Sie auf und gehen Sie nach Haus!« rief Bradley Ann zu.

 

Als sie sich wieder aufgerichtet hatte, war er verschwunden.

 

Überall ertönten Alarmsignale. Als Ann über die Straße eilte, lief sie dem Parkwächter gerade entgegen. Er berichtete über den Vorfall.

 

»Der Wagen fuhr wie der Blitz durch das Tor, beinahe wäre er von einem großen Autobus über den Haufen gerannt worden … Haben Sie gesehen, wie sie geschossen haben?«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Wo ist Mr. Bradley?«

 

»War das der Mann, der hinter den Leuten her war? Er ist in ein Auto gesprungen und verfolgte sie.«

 

In demselben Augenblick kam auch der Polizist, mit dem sie vorher gesprochen hatte, atemlos und aufgeregt an.

 

»Jemand hat vom Wagen aus auf ihn geschossen – wo waren Sie denn, Miss?«

 

Sie sagte ihm, daß sie im Gras gelegen habe.

 

Der Beamte erinnerte sich plötzlich an seine Pflicht.

 

»Es tut mir leid, aber ich muß Ihren Namen und Ihre Adresse notieren.« Er schien sich wohler zu fühlen, nachdem er ihre Angaben in ein großes Notizbuch eingetragen hatte. Aber er wußte nicht genau, ob er sie nun gehen lassen durfte. Schließlich überredete ihn aber Ann, und er ließ sie nach Hause zurückkehren. Fast eine Stunde lang saß sie in einem Sessel und versuchte, das Chaos ihrer Gedanken zu ordnen.

 

Die Glocke an der Haustür schlug an. Ann erschrak. Das mußte Mark sein – sie würde ihm alles sagen müssen …

 

Aber es war Bradley. Bei seinem Anblick fühlte sie so große Erleichterung, daß sie hätte weinen können.

 

»Das war ein alter Trick, den sie schon vorher angewandt haben«, sagte er, als er in ihr Zimmer trat. »Nur hatten sie diesmal das Auto innen gepanzert. Wir fanden den Wagen in Pimlico, dort haben sie ihn stehenlassen. Von den Leuten war natürlich nichts mehr zu sehen. Das ganze Innere war mit Eisenplatten ausgeschlagen. Diese Kerle nahmen kein Risiko auf sich.« Er sah sie einen Augenblick merkwürdig an. »Da ich nicht dabei ums Leben gekommen bin – werden Sie auch nicht verhaftet werden.«

 

Sie starrte ihn fassungslos an.

 

»Verhaftet? Warum wollte man mich denn verhaften?«

 

»Sehen Sie denn nicht ein, daß meine Kollegen im Falle meines Todes oder einer schweren Verletzung zunächst einmal nach einer Erklärung dafür gesucht hätten, daß ich mich zu dieser späten Stunde dort aufgehalten habe? Sie hätten Ihren Brief gefunden und Sie leicht als Schreiberin identifizieren können, da ich dummerweise mit Bleistift das Wort ›Ann‹ als Unterschrift daruntersetzte.«

 

Er las Entsetzen und Schrecken in ihren Augen.

 

»Aber das war doch nicht seine Absicht!« rief sie erregt. »Das hat er sicherlich nicht gewollt – ich meine, Mark wollte mich doch sicherlich nicht in einen solchen Verdacht bringen.«

 

Er antwortete nicht gleich.

 

»Sie glauben doch auch nicht, daß er es wollte?«

 

»Das werde ich noch in Erfahrung bringen. Vermutlich möchten Sie nicht gern in dieser Sache vor Gericht erscheinen? Ich werde Ihren Namen heraushalten, so gut ich kann.«

 

Er ging hinüber und klingelte bei Mark. Ann lauschte mit klopfendem Herzen hinter ihrer geschlossenen Wohnungstür und hörte, daß Marks Diener erklärte, sein Herr sei seit zehn Uhr ausgegangen. Bradley klopfte wieder leise an ihrer Tür, und sie öffnete ihm sofort.

 

»McGill war im Craley-Restaurant. Er kam zurück, um seinem Diener das zu sagen. Er muß kurz nach Ihnen weggegangen sein. Und er ist bestimmt zur Zeit der Schießerei in diesem Lokal gewesen, darauf möchte ich schwören. Er ist ganz groß darin, einwandfreie Alibis für sich zu beschaffen.«

 

»Von den Tätern hat man gar keine Spur?«

 

»Nein, wir wissen nur, daß der Wagen in Highbury gestohlen wurde. Die Eisenplatten im Inneren können die Leute natürlich irgendwo besorgt haben. – Gute Nacht, Ann.«

 

Er nahm ihre Hand in die seine und hielt sie einen Augenblick.

 

»Was soll nun aber mit Ihnen werden?«

 

»Ich hatte die Absicht, nach Paris zurückzugehen, wenn ich kann.« Dann fragte sie ihn plötzlich unvermittelt: »Haben Sie eigentlich Li Yoseph gesehen?«

 

»Ja. Er geht morgen wieder nach Lady’s Stairs. Sie werden einen guten Freund in ihm haben, wenn Sie wieder in Schwierigkeiten kommen sollten.«

 

»Li Yoseph ein guter Freund? Ich dachte, er wäre …«

 

»Er hatte zwölf Monate Zeit, sich von seinen bösen Gewohnheiten zu befreien«, erwiderte er lächelnd. »Ich wollte Ihnen nur sagen, daß Sie ihm auf alle Fälle trauen können. Sie fürchten sich doch nicht vor ihm?«

 

»Das haben Sie mich schon früher gefragt.«

 

Er beugte sich plötzlich zu ihr nieder, als ob es so sein müsse, und sie fühlte seine Lippen einen Augenblick auf ihrer Wange.

 

»Gute Nacht, Ann«, sagte er dann und klopfte ihr freundlich auf den Arm.

 

Sie blieb noch eine Weile stehen, ohne sich zu rühren. Ihr Atem ging etwas schneller, und sie versuchte, sich über ihre Gefühle klarzuwerden. Eines stand jedenfalls fest: Sie war ihm wegen des Kusses nicht böse.

 

Bradley hatte nur zu recht. Als er in das Restaurant kam, in dem sich Mark zur Zeit des Überfalls aufgehalten hatte, erfuhr er, daß McGill erst vor einer Viertelstunde gegangen war. Um elf Uhr hatte er den Besitzer des Lokals darauf aufmerksam gemacht, daß die Uhr im Restaurant fünf Minuten nachginge.

 

Bradley wußte, daß Tiser mit dem Mittagszug nach Bristol gefahren war. Man hatte ihn in London beobachtet, und seine Ankunft in Bristol war von dort gemeldet worden. Wegen der Abwesenheit Tisers wurde die Ausführung von Bradleys Plan verschoben. Er verließ sich ganz besonders auf diesen durch Trunk und Rauschgift heruntergekommenen Menschen, der ihm den Hauptbeweis für Marks Schuld liefern sollte.

 

Die Fliegende Kolonne war in dieser Nacht sehr tätig; in unregelmäßigen Zwischenräumen und von den entferntesten Plätzen kamen ihre Meldungen. Das Haus Mr. Larings war durchsucht worden, und in einem Nebengebäude hatte man genügend Kokain gefunden, um seine Verhaftung zu rechtfertigen.

 

Kapitel 18

 

Kapitel 18

 

Am nächsten Morgen klingelte Anns Telefon.

 

»Kommen Sie doch bitte zu mir herüber.« Mark war am Apparat.

 

Sie legte den Hörer auf und kleidete sich erst in Ruhe an. Die Morgenpost hatte ihr einen Brief aus Paris gebracht, in dem ihr mitgeteilt wurde, daß sie ihre alte Stellung wieder einnehmen könne. Ihre Freude darüber war jedoch nicht ganz ungeteilt. Dies sollte also das Ende ihres großen Werkes für Ronnie sein! Sie kehrte zu den traurigen Schulräumen zurück! Ein seltsamer Schmerz quälte sie, aber es war ein anderes Gefühl als jenes, das sie über Ronnies Tod empfunden hatte.

 

Es war ihr nun gleichgültig, ob Mark McGill mit ihr zufrieden war oder nicht. Sie war Herr ihrer selbst wie noch nie, als sie bei ihm eintrat.

 

»Sie haben sich Zeit gelassen, meine Liebe«, sagte er etwas unfreundlich. »Nach den Morgenzeitungen zu urteilen, scheint es Bradley gestern abend nicht gutgegangen zu sein. Im Hydepark hat jemand auf ihn geschossen. Aber das überrascht Sie wohl gar nicht?« fügte er scharf hinzu.

 

Ann lächelte.

 

»Ich habe die Zeitungen auch gelesen.«

 

Mark rieb sich sein eckiges, unrasiertes Kinn.

 

»Bradley denkt natürlich, daß ich dahinterstecke. Das ist bei ihm schon zur fixen Idee geworden.«

 

»Hat man denn die Leute gefaßt, die geschossen haben?« fragte sie.

 

Mark lächelte niederträchtig.

 

»Ich glaube überhaupt nicht, daß die Geschichte wahr ist. Bradley sieht sich gern in der Zeitung, das ist seine Schwäche – wenigstens eine. Seine Zuneigung zu Ihnen ist eine andere.«

 

Sie hörte diese herausfordernden Worte an, ohne mit der Wimper zu zucken.

 

»Haben Sie ihn kürzlich gesehen?«

 

»Ja, gestern – spät in der Nacht.«

 

Sie wußte, daß ihm das bekannt war. Wahrscheinlich hatte ihm der Portier davon erzählt.

 

»Was wollte er denn? Fürchtete er nicht, daß Sie seinen späten Besuch abweisen würden?«

 

»Warum sollte er denn das fürchten?«

 

Mark zuckte die Achseln.

 

»Sie haben mir nicht freiwillig gesagt, daß Sie ihn gesehen haben. Sie haben mir erzählt, Sie hätten es in der Zeitung gelesen. Ann, Sie werden sich doch nicht gegen Ihren alten Freund wenden?«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Wenn Sie damit meinen, daß ich Sie anzeigen und verraten würde – nein. Konnte ich mehr tun, als jene Geschichte vor dem Polizeigericht erzählen? Er weiß, daß ich – Sacharin schmuggle.«

 

Er sah sie forschend an.

 

»Warum machten Sie eben eine Pause vor Sacharin? Sie glauben doch nicht etwa jetzt an das Märchen von Kokain?«

 

Sie antwortete ihm nicht.

 

Mark lachte und klopfte ihr freundlich auf den Arm.

 

»Wie skeptisch Sie geworden sind, Ann! Sie denken wohl, ich bin Ihnen böse wegen Ihrer Freundschaft mit Bradley?«

 

»Man kann es kaum eine Freundschaft nennen.«

 

»Was es auch immer sein mag«, sagte er achselzuckend, »ich kümmere mich nicht darum. Wenn Sie ihn nur davon überzeugen können, daß ich mein Geschäft für immer aufgegeben habe – ich meine den Schmuggel mit Sacharin, oder was es sonst sein mag und daß ich nicht dieser Verbrecherkönig bin, von dem man immer in den Kriminalromanen liest. Sie würden mir einen großen Gefallen tun, wenn Ihnen das gelänge, Ann. Das Geschäft ist mir jetzt so über, ich habe genug Geld, um davon leben zu können, und ich will mein Geschäft für immer liquidieren. Es würde eine gute Belohnung für Sie dabei abfallen.«

 

»Ich brauche keine Belohnung«, erwiderte sie ruhig. »Ich gehe nach Paris zurück.«

 

»An Ihre alte Schule?« Er war sichtlich überrascht.

 

Sie nickte.

 

Mark atmete erleichtert auf.

 

»Nun, das ist vielleicht ganz klug von Ihnen. Wir wollen später einmal über die Geldfrage sprechen.«

 

»Hat Mr. Tiser seinen Brief bekommen?«

 

Ihre plötzliche Frage brachte ihn in Verwirrung.

 

»Ich – ich glaube, ja. Aber warum fragen Sie?«

 

Er versuchte, ihren Blick auszuhalten, aber es gelang ihm nicht.

 

»Ich habe ihn heute morgen in der Herberge angerufen, und es wurde mir gesagt, daß er gestern mittag nach Bristol gefahren sei. Da haben Sie gestern abend im Hydepark lange warten müssen.«

 

Seine Züge verfinsterten sich.

 

»Ich verstehe nicht ganz …«

 

»Ich meine im Park, gegenüber von Queen’s Gate, um elf Uhr abends«, sagte sie langsam. »Dort wollten Sie doch Mr. Tiser treffen, nicht wahr?«

 

Er schwieg.

 

»Und an derselben Stelle und zur selben Zeit wurde Mr. Bradley überfallen. Man könnte fast annehmen, daß er durch irgendein Mißverständnis den Brief erhielt, den ich geschrieben habe, und dorthin ging, um mich zu treffen.«

 

Mark zwang sich zu einem Lächeln.

 

»Dann wäre er wohl sehr enttäuscht gewesen?«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Sie waren dort?« fragte er ungläubig.

 

»Ja. Was wäre geschehen, wenn er getötet worden wäre und man meinen Brief in seiner Tasche gefunden hätte?«

 

Mark lachte laut auf, aber es klang gequält. Er pflegte immer so zu lachen, wenn er Zeit gewinnen wollte, um nachzudenken.

 

»Was für verrückte Ideen haben Sie denn im Kopf? Tiser hat Ihren Brief bekommen. Er rief mich gestern abend noch an und sagte mir, daß er nicht kommen könne.«

 

»Hat er von Bristol aus angerufen?«

 

»Nein! Sie bilden sich doch nicht ein, daß Tiser seinen Leuten im Heim immer genau sagt, was er tut? Er hat London gar nicht verlassen. Ich habe ihn gestern beim Abendessen ein paar Minuten gesehen.« Er betrachtete Ann nachdenklich. Seine kalten Blicke hatten etwas Unheimliches.

 

»Sie sind also hingegangen und haben Mr. Bradley gewarnt? Das sieht allerdings verflucht nach Verrat aus, meine Liebe! Sind Sie denn so heillos in ihn verschossen?«

 

Er sprach mehr ironisch als vorwurfsvoll, und die Sache schien ihn in gewisser Weise zu belustigen. Mark besaß die besondere Gabe, sich von den Dingen loslösen zu können. Er konnte sich gewissermaßen von sich selbst trennen und leidenschaftslos die übrige Welt und sich selbst betrachten.

 

»Sie wollen mir keine Antwort geben? Aber täuschen Sie sich nicht, Ann! Dieser Mensch spielt nur mit Ihnen. Er würde sich ebenso mit einem Dienstmädchen einlassen, um etwas über ihren Liebsten zu erfahren. Trauen Sie ihm nicht. Erinnern Sie sich daran, was Sie von ihm vor dem Polizeigericht gesagt haben? Er lebt von ruinierten Existenzen und gebrochenen Herzen! Ich möchte nicht erleben, daß Sie eines Tages auch noch zu seinen Opfern gehören das wäre zu schade!« Plötzlich änderte er das Thema.

 

»Sie haben doch auf Ihren Spaziergängen nichts von Li Yoseph gesehen? War er zufällig im Hydepark?«

 

»Ich habe ihn nicht mehr gesehen, seit er hier in der Wohnung war.«

 

»Auch niemand anders hat ihn entdeckt. Der Alte ist längst tot. Von seinem Violinspiel habe ich nichts mehr gehört.«

 

Als sie gehen wollte, rief er sie noch einmal zurück.

 

»Sie haben doch Ronnie noch nicht vergessen, Ann? Es kommt nicht darauf an, was ich bin oder was ich getan habe, ob ich mit Rauschgiften oder mit Saicharin handle – das ändert nichts an der Tatsache, daß Bradley Ihren Bruder ermordet hat.«

 

»Nun sagen Sie mir einmal die Wahrheit: Womit haben Sie Handel getrieben?«

 

Er lächelte geheimnisvoll.

 

»Mit Sacharin«, sagte er dann ruhig. »Aber würde das den geringsten Unterschied machen, soweit es Ronnies Tod angeht?«

 

Es machte sehr viel aus, das war ihr vorher noch nie klargeworden. Wenn Bradley Leute im Schmuggeln unschuldiger Gebrauchsmittel hinderte, mußte man das anders beurteilen, als wenn er den gemeinen Handel mit Rauschgift bekämpfte.

 

»Ich weiß es nicht.« Es fiel ihr schwer zu sprechen und sie erschrak fast vor dem Urteil, das sie gab. »Wenn ich ein Polizeibeamter wäre und die Leute kennen würde, die dieses schreckliche Zeug unter die Menschen bringen, würde ich mich wahrscheinlich keinen Augenblick besinnen, diese Leute – zu töten. Es ist schrecklich, das zu sagen, Mark, aber so fühle ich.«

 

Mark sah sie erstaunt an.

 

»Würden Sie das auch sagen, wenn es sich um Ronnie handelte?«

 

»Von jedem Menschen – ohne Ausnahme«, erwiderte sie ruhig.

 

Er lachte wieder.

 

»Sie sollten sich eigentlich mit Tiser zusammentun und bei einer seiner Versammlungen unter freiem Himmel eine Rede halten. Ann, Sie sind einfach prachtvoll! Ich hätte mir nicht im Traum einfallen lassen, daß Sie jemals einen solchen moralischen Standpunkt einnehmen würden! Herein!«

 

Die Tür öffnete sich, und der Diener überreichte Mark ein Telegramm. Er riß es auf, während er zu ihr sprach.

 

»Würden Sie sehr erstaunt sein, wenn Sie hörten, daß Ronnie dieselben Gewissensbisse hatte? Aber bei ihm dauerten sie wenigstens nicht sehr lange – er war zu geldgierig. Er schuldete mir fast tausend Pfund, als er starb. Ich habe Ihnen das noch nie gesagt, es ist auch unwesentlich; er hat überall viel Geld geborgt.«

 

Mark schaute auf das Telegramm und runzelte die Stirn.

 

»Das ist allerdings unangenehm«, sagte er.

 

Ann unterdrückte ihre Empörung; es hatte keinen Zweck, sich mit Mark zu streiten.

 

Er zeigte mit den Fingern auf das Formular.

 

»Vor einem Monat wäre das noch eine gute Nachricht für mich gewesen, aber da Sie nun keinen Führerschein mehr haben, so argwöhnisch geworden sind und mit der Fliegenden Kolonne auf so gutem Fuß stehen, bedeutet das eine große Gefahr für mich.«

 

Sein Ton klang gleichgültig, aber sie sah, daß er bestürzt war.

 

»Ist wieder – Sacharin angekommen?« fragte sie mit einem schwachen Lächeln.

 

Er nickte und reichte ihr das Telegramm. Es kam aus Birmingham und lautete:

 

›L.75.K.K. gesichtet.‹

 

Eine Unterschrift fehlte. Sie konnte die Bedeutung dieser Nachricht nur vermuten.

 

Mark grübelte finster vor sich hin. »Ich habe den dummen Kerlen doch gesagt, daß sie nichts mehr schicken sollen. Das muß die Sendung von Luteur aus Brüssel sein.«

 

Er schaute sie an und lachte grimmig.

 

»Wenn ich Sie darum bitten würde, die Sendung abzuholen, würden Sie vermutlich sofort Bradley benachrichtigen und mich hinter Schloß und Riegel bringen?«

 

»Ist es denn Sacharin?«

 

»Ich schwöre es Ihnen.«

 

Er sprach so ernst, daß sie sich täuschen ließ. Einen Augenblick zögerte sie allerdings noch.

 

»Ich kann es doch aber nicht holen – selbst wenn ich wollte.«

 

»Sie sollen die Ware keineswegs hierherbringen. Aber es ist unter allen Umständen notwendig, daß jemand das Paket sucht und es in das nächste Wasser wirft. Wenn das Flugzeug gesehen wurde, wird das ganze Gelände abgesucht. Und haben sie erst das Paket gefunden, dann werden sie auch den Flugzeugführer feststellen – und sie haben mich.«

 

»Wo ist es denn abgeworfen worden?«

 

»L. bedeutet Ashdown Forest, soviel ich weiß.«

 

Er ging zu seinem Schreibtisch und nahm ein flaches Paket heraus, das wie eine Schreibunterlage aussah. Obenauf war auch wirklich Löschpapier befestigt, aber darunter befand sich eine Tasche, aus der er ein Dutzend dünner Pauspapierbogen nahm. Sie waren mit einer Quadratur überzogen, deren einzelne Felder mit Buchstaben und Nummern bezeichnet waren. Aus einem Bücherregal holte er einen großen Atlas, der aufgeschlagen fast die ganze Schreibtischplatte bedeckte. Er blätterte die einzelnen Karten um, bis er die richtige gefunden hatte.

 

»Ja, es ist Ashdown Forest.«

 

Sorgfältig legte er zwei Pauspapierbogen über die Karte.

 

»Sehen Sie, hier ist die Stelle, wo das Paket abgeworfen worden ist.« Er zeigte auf ein Quadrat. »Natürlich kann der Flugzeugführer nur ungefähre Angaben machen, wenn er nicht sehr niedrig geflogen ist. Jedenfalls finden wir die Sendung in einem Umkreis von etwa fünfzig Metern. Die Stelle liegt nicht weit von der Straße entfernt und muß leicht zu finden sein – sie liegt auf der Südseite eines Teiches. Die Piloten nehmen gern ein offenes Gewässer als Richtungsanzeiger an.« Er deutete auf einen kleinen Kreis.

 

»Der Teich kommt uns gerade gelegen, dort kann die Ware gleich verschwinden. Was sagen Sie dazu, Ann?«

 

Sie antwortete nicht gleich.

 

Mark McGill konnte allerdings ahnen, welche Gedanken sie bewegten. Er hatte den Eindruck, daß sie sich fürchtete, und konnte nicht glauben, daß sie überlegte, ob sie ihn Bradley ausliefern sollte. Soweit er Ann kannte, war das unmöglich.

 

Aber Ann dachte an etwas ganz anderes. Hier hatte sie einmal die Möglichkeit, ihre Zweifel ein für allemal zu beseitigen. Seitdem sie Mark nicht mehr vertraute, hatte sich noch keine Gelegenheit geboten, seine Behauptungen nachzuprüfen.

 

»Aber wie soll ich das machen? Wenn ich selbst fahre, wird man mich erkennen und wahrscheinlich verhaften.«

 

Mark war überrascht über ihre Bereitwilligkeit, den Auftrag auszuführen.

 

»Das läßt sich schon einrichten«, sagte er. »Ich werde an eine Mietautofirma telefonieren, daß man Sie irgendwo abholt. Sie können ja Miss Smith, Jones oder Robinson sein. Sagen Sie dem Fahrer nur, daß er Sie nach Ashdown Forest bringen soll. Dann steigen Sie aus, um einen kleinen Spaziergang zu machen – oder, noch besser, geben Sie an, daß er Sie nach einer Stunde wieder abholen soll. Sie brauchen das Paket ja nicht zurückzubringen, also ist auch keine Gefahr damit verbunden.«

 

Sie nickte.

 

Ann ging in ihre Wohnung und zog sich für die Fahrt um. Als sie zu Mark zurückkam, hatte er den Wagen bereits bestellt. In einer halben Stunde sollte er am Landbroke Grove, an dem Ende nach Kensington zu, auf sie warten.

 

»Sie können ja in einem Taxi dorthin fahren. Geben Sie dem Fahrer ein gutes Trinkgeld, bevor Sie abfahren, und sagen Sie ihm, er soll Sie nach East Grinstead bringen.« Er sah sie nachdenklich an. »Ich brauche Sie wohl nicht darum zu bitten, diese kleine Fahrt als eine Geheimmission zu betrachten, denn ich vertraue Ihnen, Ann. Ich weiß, daß Sie mich nicht absichtlich in Gefahr bringen werden, wie Sie auch immer zu Bradley stehen mögen.«

 

»Es ist bestimmt Sacharin?«

 

»Ich schwöre es Ihnen – ich gebe Ihnen mein Ehrenwort.«

 

Sie hatte das Gefühl, daß Bradley das Haus beobachten ließ, aber als sie zur Bond Street ging, konnte sie keinen Detektiv entdecken, der ihr folgte. Hier nahm sie ein Auto und war zehn Minuten später schon an dem bezeichneten Treffpunkt. Aber der bestellte Wagen ließ noch weitere zehn Minuten auf sich warten. Es war eine große, schöne Limousine. Nachdem sie den Mann bezahlt und ihm die nötigen Instruktionen gegeben hatte, machte sie es sich in dem geräumigen Wagen bequem.

 

Als sie aus Grinstead hinauskamen, betrachtete sie die Kartenskizze, die ihr Mark mitgegeben hatte und die selbst ein Kind hätte verstehen können. Sie konnte danach dem Fahrer alle nötigen Angaben machen und erreichte ohne Zwischenfall die Stelle, wo sie mit ihren Nachforschungen beginnen wollte.

 

»Kommen Sie in einer halben Stunde zurück und holen Sie mich hier wieder ab. Meine Freundin hat hier kürzlich etwas verloren, und ich möchte es suchen.«

 

»Kann ich Ihnen nicht dabei behilflich sein?« fragte der Chauffeur diensteifrig und erhob sich schon halb von seinem Sitz.

 

»Nein, nein«, erwiderte sie hastig. »Ich möchte lieber allein danach suchen.«

 

Er zögerte, sie in dieser verlassenen Gegend allein zu lassen. Schließlich einigten sie sich, daß er in einer Entfernung von fünfhundert Metern auf sie warten sollte.

 

Zunächst ging sie zu dem Teich. Sie war vorher daran vorbeigefahren, ging nun zurück und suchte das Ufer ab. Sie bog jeden Busch mit ihrem Spazierstock auseinander, den sie mitgenommen hatte. Eine halbe Stunde verging, ohne daß sie etwas entdeckte, und sie fürchtete, daß der Fahrer zurückkehren würde, um ihr zu helfen. Vielleicht hatte die Polizei den Platz auch schon abgesucht und das Paket gefunden. Plötzlich kam ihr der Gedanke, daß sie vielleicht selbst beobachtet und mit dem Paket in Verbindung gebracht würde, und sie erschrak.

 

Sie wollte ihre Nachforschungen gerade einstellen, als sie einen abgebrochenen Zweig bemerkte. Er mußte erst vor kurzem von einem kleinen Baum abgeschlagen worden sein. Sie suchte das Unterholz sorgfältig ab. Dann fand sie das Paket. Die braune Papierhülle war durchnäßt, und der Bindfaden war an einer Stelle gerissen. Schnell entfernte sie mit einem Taschenmesser die Verpackung und fand innen einen viereckigen Zinnkasten, dessen Deckel verklebt war. Sie riß die Klebstreifen ab, hob den Deckel auf und nahm eine große Anzahl der ihr bekannten, kleinen Päckchen heraus.

 

Sie öffnete eins und sah das weiße, kristallinische Pulver. Rasch schüttete sie einen Teelöffel davon in eine kleine Büchse, die sie zu diesem Zweck mitgebracht hatte. Die anderen Päckchen tat sie wieder zurück, ging an das Ufer des Teiches und warf den Kasten, so weit sie konnte, ins Wasser. Er schwamm noch auf der Oberfläche, als sie die Stimme des Fahrers hörte. Glücklicherweise konnte er sie nicht sehen. Sie eilte auf die Straße zurück.

 

»Ich war schon sehr in Sorge um Sie, Miss. Gerade habe ich einen alten Landstreicher gesehen, der Sie beobachtete.«

 

»Wo ist er denn?« fragte sie schnell.

 

Sie sah sich um, aber sie konnte kein menschliches Wesen in der Nähe entdecken. Ihr Herz schlug rascher, als sie zum Wagen zurückkehrte. Die kleine Büchse mit dem »Sacharin« hielt sie krampfhaft in der Hand.

 

»Haben Sie gefunden, was Sie suchten?«

 

»Ja«, erwiderte sie atemlos.

 

Bevor sie in den Wagen stieg, hörte sie einen Ausruf des Fahrers und schaute zurück. Es mochte ein Landstreicher oder ein Arbeiter sein, den sie langsam fortschlendern sah.

 

»Ich habe den Autofahrer nicht gesehen – haben Sie ihn bemerkt?«

 

»Autofahrer?«

 

»Ich hörte einen Wagen, aber ich konnte ihn nicht sehen. Es muß ein Ford gewesen sein.«

 

Schnell überschaute sie die Straße, aber sie konnte nichts entdecken. Der Landstreicher war bereits verschwunden.

 

»Fahren wir nach Hause«, sagte sie. »Bringen Sie mich an den Cavendish Square.«

 

Während der Fahrt sah sie sich häufig um und erwartete, daß der geheimnisvolle Wagen hinter ihr herfahren würde, aber dies war nicht der Fall.

 

Als Ann wieder zu Hause war, verbarg sie zunächst die kleine Büchse. Dann ging sie zu Mark hinüber. Er lag ausgestreckt auf einer Couch und las in einem Magazin, stand aber schnell auf, als er sie sah.

 

»Haben Sie es gefunden?«

 

Sie nickte.

 

»Und in den Teich geworfen? Großartig!«

 

Er trug einen alten Sportanzug aus Homespun. Das war ungewöhnlich, denn Mark kleidete sich gewöhnlich sehr elegant, aber nicht auffällig.

 

»Sie kommen auf dem längsten Weg zurück«, sagte er dann kühl und nahm seine bequeme Stellung wieder ein. »Es hat verflucht lange gedauert, bis Sie das Paket fanden. Ich fürchtete schon, Sie würden es überhaupt nicht sehen.«

 

»Woher wissen Sie denn das?« fragte sie erstaunt.

 

»Ich habe Sie beobachtet. Ich habe zwar nicht direkt gesehen, wie Sie es fanden, aber ich wußte, daß Sie es hatten.«

 

»Sie sind mir also gefolgt?« fragte sie halb entrüstet und halb belustigt.

 

»Selbstverständlich«, erwiderte er ruhig. »Ich kann kein Risiko auf mich nehmen.«

 

»Warum haben Sie dann nicht selbst nach dem Paket gesucht?«

 

»Ich wiederhole, daß ich kein Risiko auf mich nehmen kann. Es wäre eine große Gefahr für mich gewesen, wenn man mich im Besitz des Paketes gefunden hätte.«

 

»Sie haben also das Risiko lieber auf mich abgewälzt?«

 

»Für Sie war das kein Risiko«, sagte er leichthin. »Sie haben einen Schutzengel in Scotland Yard – aber für mich ist er ein unerbittlicher Racheengel.« Er schaute sie lächelnd an. »Also, ich danke Ihnen, Ann. Bradleys Detektiv hat Sie merkwürdigerweise zwischen Bond Street und Bayswater aus den Augen verloren. Ich sah ihn, wie er in seinem Zweisitzer an der Ecke wartete und ganz verzweifelt dreinschaute. Auf dem Rückweg hat er Sie wieder aufgefunden. Er wird nun zu der Garage gegangen sein, um weitere Nachforschungen anzustellen.«

 

Sie war bestürzt.

 

»Haben Sie ihn denn gesehen?«

 

»Ja, mir sind all diese Leute dem Aussehen nach bekannt. Sie sind gerade nicht besonders schön, aber es ist nützlich, sie zu kennen. Bradley wird in ein paar Minuten bei Ihnen anrufen und Sie fragen, wo Sie gewesen sind. Aber er wird sehr liebenswürdig zu Ihnen sein, weil er Sie gern hat.«

 

Sie war kaum zehn Minuten in ihrer Wohnung, als das Telefon läutete. Es war tatsächlich Bradley.

 

»Waren Sie heute nachmittag fort?«

 

»Ja.« Etwas gekränkt fügte sie hinzu: »Ich fürchte, Ihr Detektiv hat meine Spur verloren.«

 

»Sie haben ihn doch nicht etwa gesehen?«

 

»O doch«, log sie. »Sie brauchen mich nicht erst zu fragen, wo ich war – ich bin nach Ashdown Forest gefahren.«

 

Wieder folgte ein Schweigen auf der anderen Seite.

 

»Ich möchte nur eines wissen, Ann: Haben Sie von Ashdown Forest etwas zurückgebracht?«

 

»Nichts für Mark«, war ihre kurze Antwort.

 

Diesmal schwieg er so lange, daß sie dachte, sie wären unterbrochen worden. Sie rief ihn beim Namen.

 

»Ja, ich bin hier. Sie haben das Paket gefunden? Wir haben schon den ganzen Morgen vergeblich danach gesucht. Hoffentlich haben Sie es ins Wasser geworfen.«

 

Bevor sie ihm darauf antworten konnte, fragte er: »Kann ich Sie heute abend noch sprechen?«

 

Das war eine unerwartete Bitte.

 

»Wo?«

 

»In Ihrer Wohnung. Sind Sie um neun Uhr zu Hause? Es ist Ihnen doch gleichgültig, was McGill darüber denkt? Sie können es ihm ruhig sagen, wenn Sie wollen.«

 

»Ich erwarte Sie um neun«, sagte sie schnell und legte auf.

 

Sie machte sich nun daran, den Inhalt der kleinen Büchse zu prüfen, feuchtete den Finger etwas an und brachte eine Kleinigkeit von dem kristallinischen Pulver auf die Zunge. Es schmeckte nicht süß; außerdem war ihre Zunge an den Stellen gefühl- und geschmacklos geworden, wo das Pulver sie berührt hatte. Es war zweifellos Kokain – sie hatte nun den Beweis, den sie brauchte.

 

Kapitel 19

 

Kapitel 19

 

Das Versorgungsheim oder das ›Heim für verlorene Seelen‹, wie Bradley es ironisch nannte, diente seiner Bestimmung nicht mehr. Als Tiser von Bristol zurückkam, fand er nur noch den Portier, der allein in der Küche vor einem kleinen Gasfeuer saß und vor sich hinbrütete.

 

»Sie sind alle gegangen, Mr. Tiser«, sagte er über die Schulter.

 

»Gegangen? Wer ist gegangen?«

 

Der Portier zeigte mit dem Daumen nach dem gemeinsamen Wohnraum. Langsam kam es Tiser zum Bewußtsein, daß die Insassen der Herberge nicht mehr hier waren.

 

»Was, sie sind alle fort?« fragte er ungläubig. »Es sollten doch noch heute drei neue kommen. Sind sie denn nicht erschienen?«

 

»Nein, ein paar Leute von hier haben sie heute morgen getroffen, als sie herauskamen, und da sind sie gar nicht hergekommen. Wir haben nur noch den alten Sedeman hier.«

 

Tiser machte ein dummes Gesicht.

 

»Wo ist er denn?«

 

»Er ist gerade beim Essen. Ich wollte Geld von ihm haben, aber da schimpfte er und drohte, mir einen gehörigen Kinnhaken zu geben. Und da ich glaubte, ein Spektakel wäre Ihnen nicht angenehm, habe ich ihn in Ruhe gelassen.«

 

Das Heim als solches war nicht mehr zu halten. Mark hatte viel Geld darauf verwandt; da es aber nun keinem ihm nützlichen Zweck mehr diente, hatte er einem Agenten den Auftrag gegeben, es zu verkaufen.

 

Tiser ging in den Gastraum und fand dort Sedeman, der bei den Resten seiner Mahlzeit saß. Der alte Mann warf ihm einen unliebenswürdigen Blick zu.

 

»Wir haben keinen Platz mehr für Sie, Sedeman«, sagte Tiser.

 

»Bilden Sie sich etwa ein, daß es mir Spaß macht, in diesem Haus der Bosheit und der Sünde zu schlafen?« fragte Sedeman böse. »Ich gebe zwar zu, daß es etwas gesünder und ruhiger ist, seit die anderen Kerle verschwunden sind. Aber sogar jetzt dürfte sich ein Mann von meiner sozialen Stellung nicht gestatten, hier zu wohnen, selbst wenn er noch so betrunken wäre – das bin ich aber, Gott sei Dank, nicht!«

 

Er schien jedoch schon etwas zuviel zu sich genommen zu haben, und Tiser war klug genug, ihn zu besänftigen.

 

»Wir freuen uns immer, wenn wir Sie hier haben, mein lieber Freund. Haben Sie etwa Mark gesehen?«

 

»Nein«, erwiderte Sedeman laut und winkte dem Portier, der in der Tür stand. »Geben Sie mir etwas zu trinken, Arthur.«

 

Tiser gab ihm ein Zeichen, daß er es tun solle.

 

Als er später hörte, daß Sedeman gegangen war, sagt er dem Portier, daß er ihn nicht wieder einlassen dürfe.

 

»Sie können ihm ja beibringen, daß das Heim jetzt geschlossen ist.»

 

Tiser setzte sich dann selbst mit einem großen Glas Whisky nieder, um einen Bericht über seine heutige Tätigkeit zu schreiben. Seine Reise nach Bristol war ein voller Erfolg gewesen. Glücklicherweise hatte das Syndikat – so nannte er McGills Organisation eine große Menge Rauschgifte verborgen, bevor die großen Schwierigkeiten mit der Polizei kamen, und obwohl es schwer war, hatte er doch mit Erfolg alles verteilen können. Er war noch mit seinem Bericht beschäftigt, als die Glocke läutete. Kurz darauf trat Mark ins Zimmer und schloß die Tür hinter sich zu.

 

»Ist jemand im Haus?«

 

»Sedeman war hier, aber er ist gegangen.«

 

Mark biß sich auf die Unterlippe.

 

»Der Kerl steckt mit Bradley im Bunde – er darf nicht wieder herein.«

 

Tiser schob ihm seinen Bericht hin, aber Mark warf keinen Blick darauf.

 

»Es ist möglich, daß wir noch vor morgen früh die größten Unannehmlichkeiten bekommen. Ich habe Ann ausgeschickt, um ein Paket Koks zu holen, das in Ashdown Forest abgeworfen wurde.«

 

»Sie hat es doch nicht in deine Wohnung gebracht? fragte Tiser ängstlich.

 

»Unterbrich mich nicht«, fuhr ihn Mark an. »Nein, sie hatte den Auftrag, es ins Wasser zu werfen. Das hat sie auch getan – aber sie hat eine Kleinigkeit in eine Büchse gefüllt und nach Hause mitgenommen. Das hat mich stutzig gemacht. Ich habe sie die ganze Zeit über beobachtet – ich traue ihr nicht mehr. Sie ist zu sehr mit Bradley befreundet. Ich glaube allerdings nicht, daß sie uns verraten wird, aber ich bin beunruhigt. Heute abend machte ich noch eine weitere Entdeckung. Sie hatte eine Verabredung mit Bradley; er hat sie in ihrer Wohnung angerufen.«

 

»Woher weißt du denn das?«

 

»Eine Mitteilung von Bradley. Ich traf den Boten, als er die Treppe heraufkam, und nahm sie ihm ab.«

 

Die Nachricht war nur kurz und formell:

 

›Meine liebe Ann, es tut mir sehr leid, daß ich heute abend nicht kommen kann. Es ist eine sehr wichtige Sache zu erledigen. Darf ich Sie morgen abend sehen?‹

 

»Was soll denn das bedeuten?« stotterte Tiser.

 

Mark sah ihn verächtlich an.

 

»Wirst du gleich wieder Krämpfe bekommen, wenn ich es dir sage? Entweder hat sie das Kokain für Bradley aufbewahrt – das wäre sehr schlimm für uns –, oder sie hat es zurückbehalten, um festzustellen, daß sie wirklich Kokain transportiert hat. Wie es nun auch immer sein mag, sie ist gefährlich geworden. Irgend jemand muß morgen früh nach Paris fahren und von Boulogne aus in Anns Namen ein Abschiedstelegramm an Bradley senden.«

 

Tiser hob den Blick langsam.

 

»Was soll denn mit Ann geschehen?« fragte er erregt.

 

»Das Haus ist doch leer – es ist doch sehr einfach …«

 

Das Telefon klingelte, und Tiser fuhr erschrocken in die Höhe.

 

»Sieh zu, wer anruft!« befahl Mark.

 

»Wer …« begann er, als er schon die andere Stimme hörte:

 

»Ist es der gute Tiser? Ist Mark bei ihm? Ich wollte mit ihm sprechen.«

 

Tiser bedeckte die Sprechöffnung mit seiner zitternden Hand.

 

»Es ist Li«, flüsterte er heiser. »Er will mit dir reden.«

 

McGill riß ihm den Hörer aus der Hand.

 

»Nun, Li, was willst du von mir?« fragte er mit scharfer Stimme. »Von wo aus sprichst du denn?«

 

Er hörte ein leises Lachen.

 

»Nicht von Lady’s Stairs. Dort haben wir noch kein Telefon. Das ist zu modern für das alte Haus. Ich werde dich bald sehen, Mark.«

 

»Wo bist du denn?«

 

»Komme nach Lady’s Stairs, Mark – nicht morgen, aber an einem der nächsten Tage, und bringe die junge Dame mit, Ronnies Schwester. Der arme Junge …«

 

Mark hörte, wie er wieder zu seinen kleinen, unsichtbaren Kindern sprach, und lächelte verächtlich.

 

»Lady’s Stairs – gut, ich werde hinkommen.«

 

»Und den guten Tiser wirst du auch mitbringen? Ich hoffe doch, daß du kommst Mark. Mein Gedächtnis, das mich im Stich gelassen hatte, ist wieder besser geworden.«

 

Mark verstand die versteckte Drohung wohl, die in diesen Worten lag, und konnte nicht gleich antworten.

 

»Also am Freitag – um wieviel Uhr?«

 

Der alte Mann erwiderte nichts darauf, und Mark hörte, wie drüben aufgelegt wurde.

 

»Was wollte er denn eigentlich, Mark? Er wird doch nichts gegen uns unternehmen?«

 

»Er sagt, daß er sich wieder an alles erinnert. Aber wer wird diesem alten, verrückten Teufel ein Wort glauben?«

 

Er nahm den Hörer wieder ab und wählte eine Nummer, die Tiser wohlbekannt war.

 

»Sind Sie dort, Ann? Hier ist Mark. Ich bin in dem Versorgungsheim. Bradley ist auch hier. Er möchte Sie wegen des Stoffes sprechen, den Sie von Ashdown Forest mitgebracht haben.«

 

Ann holte tief Atem. »Welchen Stoff …«

 

»Na, Sie wissen doch, Ann. Er sagte, Sie hätten eine kleine Büchse Koks mitgebracht – ja, Kokain; tun Sie doch nicht so, Sie wissen doch, was Koks ist.«

 

Er sprach absichtlich ungeduldig und erregt, und sein rauher Ton überzeugte sie, daß er die Wahrheit sprach. Sie glaubte, daß Bradley dort war, um eine Untersuchung durchzuführen.

 

»Ich werde sofort kommen.«

 

»Nehmen Sie ein Auto«, sagte Mark und legte auf.

 

Tiser starrte ihn an.

 

»Warum soll sie denn herkommen?« fragte er zitternd, aber Mark gab ihm keine Antwort.

 

Er steckte sich eine Zigarette an und blies den Rauch zur Decke.

 

»Erinnerst du dich noch an den Spektakel, den wir vor etwa vier Jahren im Hause hatten, als ein paar Leute das Delirium bekamen?«

 

Tiser nickte langsam.

 

»Weißt du noch, was wir mit ihnen machten?«

 

Tiser holte tief Atem.

 

»Mein lieber Mark, wir befolgten deinen eigenen Vorschlag. Wir haben sie in Zimmer Nr. 6 gesperrt. Aber seit vielen Jahren ist der Raum nicht mehr gebraucht worden.«

 

Mark nickte.

 

»Wir haben sie in Nr. 6 gesteckt, weil sie da soviel schreien konnten, wie sie wollten, ohne daß sie jemand hörte. Das war doch eine glänzende Idee von mir, was? Ist die Zelle jetzt frei?«

 

»Ja, Mark … aber du willst doch nicht… Das ist doch der erste Raum, den sie nach ihr durchsuchen würden …«

 

»Das glaube ich nicht. Wenn Bradley morgen früh ein Telegramm bekommt, in dem sich Ann von ihm verabschiedet, wird er uns vorläufig nicht belästigen. Ich werde dafür sorgen, daß ihre Koffer aus der Wohnung verschwinden.«

 

Tiser schwankte in seinem Stuhl hin und her und rang die Hände.

 

»Tu das nicht – das darfst du nicht tun. Dieses arme junge Mädchen …«

 

»Du scheinst überhaupt nicht mehr an dich selbst zu denken«, sagte Mark barsch. »Hast du dir schon einmal vorgestellt, wie die letzten vierundzwanzig Stunden in der Zelle eines zum Tode Verurteilten aussehen? Wenn sie den Aussagen des alten Li Glauben schenken und sie voll bewerten, dann kommen wir beide an den Galgen, du und ich, Tiser. Sie könnten uns aber nur einmal henken, selbst wenn wir alle Menschen im Lande umbrächten.«

 

»Du willst sie doch nicht ermorden?« schrie Tiser. »Mark, das lasse ich nicht zu …«

 

McGill schloß ihm mit seiner großen Hand den Mund und drückte ihn wieder in seinen Stuhl.

 

»Bleib ruhig sitzen, oder ich nehme Mr. Steen eine Arbeit ab«, zischte er. »Warum fürchtest du dich denn so, du Feigling?«

 

Es dauerte lange, bis Tiser wieder sprechen konnte. Es klopfte an die Tür. Mark riß sie auf und sah Ann vor sich.

 

»Wie sind Sie denn ins Haus gekommen?« fragte er schnell.

 

»Die Tür stand offen.«

 

Mark eilte an ihr vorbei. Der Portier war gegangen. Er wußte ja, daß man ihn entlassen wollte, und hatte deshalb seine Stellung selbst aufgegeben. Allerhand für ihn wertvolle Sachen hatte er mitgenommen. Mark warf die Haustür krachend zu und kam in das Zimmer zurück.

 

»Wo ist Mr. Bradley?« fragte Ann.

 

»Er ist eben hinausgegangen, in einer Minute wird er zurück sein. Er muß die Tür offengelassen haben. Setzen Sie sich, Ann. Das ist doch ein Märchen, daß Sie Koks nach London mitgebracht haben?«

 

Eine Weile saß sie mit gesenkten Blicken da, aber plötzlich schaute sie ihm voll ins Gesicht.

 

»Nein – ich habe Kokain zurückgebracht. Ich wollte Gewißheit haben. Sie haben mich die ganze Zeit angelogen, Mark. Es war immer Kokain, was ich zu Ihren Leuten brachte. Mr. Bradley hatte vollkommen recht.«

 

»So? Sehen Sie einmal an!« spottete er. »Hat dieser Musterbeamte immer recht? Sie haben mich in eine sehr schlimme Situation gebracht, Ann. Jetzt müssen Sie sehen, daß ich wieder herauskomme. Bradley hat einen Vorrat von dem Stoff hier gefunden und möchte, daß Sie die Ware mit Ihrer Probe identifizieren.«

 

Sie sah ihn groß an.

 

»Wie kann ich das tun? Ich habe Kokain so selten gesehen.«

 

Sie nahm keine Notiz von Tiser, der zusammengekauert in seinem Stuhl saß. Sein Gesicht sah aschfahl aus, und seine großen, langen Finger waren ineinander verkrampft.

 

»Wenn Sie die Ware sehen wollen, so können Sie das jetzt tun«, sagte Mark. »Es sind ungefähr fünfzig kleine Packungen.«

 

Er öffnete die Tür und winkte ihr, ihm zu folgen. Ohne zu zögern, stieg sie hinter ihm die Treppe hinauf. Oben auf dem Absatz stieß er eine schwere, eichene Tür auf. Es war dunkel in dem Raum, aber er drehte außen einen Schalter an. An der Decke flammte ein Licht auf und beleuchtete einen spärlich möblierten Raum. In einer Ecke standen ein unsauberes Bett, ein zerbrochener Wasserkrug und ein Stuhl.

 

»Hier liegt das Zeug«, sagte Mark und zeigte hinter die Tür.

 

Unvorsichtigerweise ging sie hinein.

 

Im Nu schlug er die Tür zu. Eine Sekunde lang starrte Ann ihn verständnislos an, dann eilte sie an ihm vorbei. Aber Mark packte sie und hielt sie fest.

 

»Es ist vollkommen nutzlos, wenn Sie schreien. Dieser Raum ist schallsicher abgedämpft, damit die guten Leute von Hammersmith nicht gestört werden. Wir hatten schon mehrere Fälle von Delirium tremens hier – die Kerle wurden alle in dieses Zimmer gebracht –, es ist eine Art Tobzelle.«

 

Sie sah jetzt, daß die Wände mit Stoff bespannt und gepolstert waren. Es befand sich kein Fenster in dem Raum, an der Decke war nur ein kleiner Ventilator angebracht. Als sie die Gefahr erkannte, wurde sie bleich.

 

»Ihre Freunde von der Polizei werden sich anstrengen müssen, Sie zu finden«, sagte er spöttisch. »Sie haben sich recht nichtsnutzig benommen, Ann.«

 

»Lassen Sie mich bitte sofort hinaus.«

 

»Nein, Sie werden ein oder zwei Tage hierbleiben – bis ich glücklich außer Landes bin. Wenn Sie aber aufsässig werden oder uns Unannehmlichkeiten machen, haben Sie am längsten gelebt und werden von dieser Welt verschwunden sein, bevor ich Southampton erreicht habe.«

 

Ann Perryman war nicht leicht zu erschrecken, aber nun schauderte sie doch. Sie wußte, daß sich Bradley nicht in dem Haus befand und daß er auch nicht hier gewesen war. Die ganze Geschichte war erfunden.

 

»Warum lassen Sie mich denn nicht nach Paris gehen?« Obwohl sie sich zusammennahm, zitterte ihre Stimme. »Dann wäre ich doch aus dem Weg, Mark, und Sie brauchten keine Furcht zu haben, daß ich Mr. Bradley sehen könnte.«

 

»In ein paar Tagen können Sie nach Paris gehen. In der Zwischenzeit müssen Sie aber hier bleiben und dankbar sein, daß Sie heute abend einschlafen und morgen wieder gesund erwachen.«

 

Er wandte ihr einen Augenblick den Rücken zu und öffnete die Tür. Bevor er wußte, was vorging, hatte sie ihn am Arm gepackt und nach hinten gerissen, so daß er das Gleichgewicht verlor. Sie stieß die Tür auf und lief hinaus. Aber ehe sie die erste Stufe erreichen konnte, packte sie ein starker Arm.

 

»Was geht hier vor?«

 

Mark bot sich ein sonderbarer Anblick, als er sich umsah. Die schwache Treppenlampe beleuchtete Sedeman, der nur eine Hose und ein schmutziges Hemd trug. Sein großer, weißer Bart wurde von der Zugluft, die durch ein offenes Fenster kam, nach der Seite geweht. Er sah unheimlich aus; in den Händen hielt er einen schweren Stock aus Eschenholz.

 

»Was soll das heißen, Mark?«

 

McGill sah ihn wütend an und wollte Ann näher zur Tür ziehen. Aber mit einer Gewandtheit, die für seine Jahre erstaunlich war, sprang der Alte vorwärts und versperrte ihm den Weg.

 

»Lassen Sie diese junge Dame sofort los, oder ich schlage Ihnen den Schädel ein!«

 

Mark hatte schon früher eine Probe von Sedemans ungewöhnlicher Stärke erfahren und gab Ann frei. Sie stand gegen die Wand gelehnt, atemlos vor Aufregung und halb ohnmächtig.

 

»Nehmen Sie sofort die Hand von Ihrer Tasche – wollen Sie wohl?« brüllte Sedeman.

 

Aber Mark hatte seinen Browning schon gezogen und hielt seinen Gegner damit in Schach.

 

»Gehen Sie mir aus dem Weg!«

 

Ein breites Grinsen zeigte sich auf dem Gesicht des alten Mannes.

 

»Sie benehmen sich wie der Held einer Indianergeschichte, mein lieber Mark! Ich werde Ihnen nicht aus dem Weg gehen, und Sie werden nicht schießen. Warum? Weil auf der Straße unten, keine hundert Meter von hier entfernt, ein Polizist steht, der den Schuß hören könnte. Stecken Sie Ihr Schießeisen wieder ein.«

 

Er hatte ganz ruhig gesprochen; aber ehe Mark sich versah, fühlte er einen Schlag, der ihm fast das Handgelenk brach. Der Browning fiel klirrend auf die Treppe.

 

»Nun, Miss Perryman, wollen Sie gehen, oder wollen Sie noch einen Augenblick hierbleiben?«

 

»Ich werde gehen«, erwiderte Ann leise. »So dürfen Sie aber nicht auf die Straße«, sagte Mark, der sich mit erstaunlicher Schnelligkeit wieder gefaßt hatte. »Kommen Sie herunter und setzen Sie sich ein wenig in Tisers Zimmer. Ich verspreche Ihnen, daß Sie nichts mehr zu fürchten haben. Sedeman kann mitkommen – ich vermute, daß er etwas trinken will. Es tut mir furchtbar leid, Ann – ich bin ganz verzweifelt, das wissen Sie. Ich hätte das nicht getan, wenn ich nicht so bedrängt wäre und das Schlimmste fürchten müßte. Ich hätte Ihnen nichts getan – das schwöre ich Ihnen.«

 

Die Beine zitterten ihr, als sie die Treppe hinunterging. Sie folgte dem alten Sedeman nach unten. Tiser saß noch immer auf seinem Stuhl und rang die Hände.

 

Sedeman dagegen war in einer fast übermütigen Stimmung.

 

»Die Betten hier in der Herberge sind ganz vorzüglich, mein Junge«, sägte er zu ihm, als er sich ein Glas Whisky einschenkte. »Versuchen Sie einmal ein wenig hiervon«, wandte er sich an Ann. Aber sie wollte nichts nehmen.

 

»Es war doch ein Glück, daß ich hier war – ein wahrer Segen! Der gute Mark hatte ganz den Verstand verloren und handelte gegen seine bessere Natur – wirklich schauderhaft, ganz schauderhaft!« Er schüttelte traurig den Kopf, aber Ann sah, daß er den schweren Eschenstock immer noch fest umspannt hielt.

 

Mark erkannte, daß er keine Gelegenheit mehr hatte, allein mit Ann zu sprechen. Was er sagen wollte, mußte er in Gegenwart des alten Sedeman sagen.

 

»Können Sie mir verzeihen, Ann?«

 

»Ja, ich glaube«, sagte sie mit schwacher Stimme. Sie fühlte sich plötzlich matt und müde; aller Lebensmut war von ihr gewichen. Sie war nicht einmal imstande, Haß oder Furcht zu empfinden. »Ich will jetzt nach Hause gehen.«

 

»Also, dann wollen wir aufbrechen«, meinte Sedeman freundlich. »Ich werde Sie bis zum Ende der Straße bringen, dort stehen viele Taxis.«

 

Er erhob sich und stieß den unterwürfig kriechenden Tiser beiseite, der sie bis zur Hauptstraße begleiten wollte. Mit bloßen Füßen stand er auf dem kalten Pflaster, bis sie verschwunden war. Dann kehrte er zu Mark zurück, der dumpf brütend am Tisch saß. »Ich habe Sie vor einer großen Dummheit und vor vielen Unannehmlichkeiten bewahrt, mein lieber Freund«, sagte er vergnügt. »Glauben Sie nicht, daß ich recht habe? Bradley hat eine Verabredung mit mir um elf Uhr – und zwar hier!«