13
»Miß Diana«, sagte Larry freundlich, »Sie müssen jetzt aber wirklich nach Hause gehen und machen, daß Sie ins Bett kommen.«
Diana schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht ein bißchen müde, Mr. Holt. Darf ich nicht mitkommen? Wissen Sie nicht, daß Sie mir versprochen haben, den Fall Stuart mit Ihnen zusammen bearbeiten zu dürfen?«
»Aber ich habe nicht versprochen, Sie die ganze Nacht hindurch aufzuhalten«, meinte er, »und Sie sehen sehr abgespannt aus. Und nun sofort nach Hause. Die Vorsehung schickt uns gerade ein Taxi«, sagte er und winkte.
Sie fühlte sich müde zum Umfallen, versuchte aber trotzdem zu protestieren. Aber Larry war unerbittlich und hielt die Wagentür für sie offen.
»Sergeant Harvey bringt Sie nach Haus«, sagte er und zog den Beamten beiseite. »Sie gehen nach oben in Miß Wards Zimmer, durchsuchen diese sorgfältig und bleiben auf dem unteren Treppenabsatz, bis Sie abgelöst werden.«
»Und nun, Sergeant, wollen wir uns mal Todds Heim ansehen«, wandte er sich dem anderen Beamten zu.
Sechs Uhr schlug es von den Kirchtürmen, als Larrys Taxi vor Todds Heim anhielt. Es war ein trauriges, wenig einladend aussehendes Haus, dessen Fenster mit blauer Farbe bedeckt waren. Auf einer langen, schwarzen Tafel, die über die Breite des Hauses hinweglief, stand in verblichenen goldenen Buchstaben: Todds Heim für bedürftige Blinde.
Kaum hatte er geklopft, als die Tür von einem kleinen Mann geöffnet wurde.
»Das ist nicht Toby oder Harry, auch nicht der alte Joe«, sagte er laut. »Wer ist es denn?«
Larry sah, der Mann war blind.
»Ich möchte den Vorsteher sprechen«, sagte er.
»Ja, Sir«, sagte der Mann respektvoll. »Wollen Sie bitte hier warten?«
Er verschwand in einem langen verzweigten Gang; dann hörten sie ihn in seinen Pantoffeln zurückschlürfen, gefolgt von einem großen, schlanken Mann, der einen weißen Priesterkragen trug. Seine Augen waren hinter dunklen, blauen Gläsern versteckt, und auch er fühlte sich seinen Weg den Gang entlang.
»Wollen Sie nicht bitte näher treten.« Es war die Stimme eines gebildeten Mannes. Er war groß und kräftig gebaut, und sein glattrasiertes Gesicht zeigte eine außergewöhnliche Strenge des Charakters. »Ich bin John Dearborn – Reverend John Dearborn«, stellte er sich beim Voranschreiten vor. »Wir haben leider wenig Besucher hier. Ich fürchte, Todds Heim ist nicht besonders beliebt.«
Er machte keine Anspielung auf die frühe Stunde, die sie für ihren Besuch gewählt hatten.
»Wir müssen den Gang noch etwas weiter entlanggehen, meine Herren«, sagte er. »Ich höre an den Fußtritten, daß Sie zwei Personen sind – Vorsicht – hier ist eine Stufe.«
Er stieß eine Tür auf, und sie traten hinein. Das Zimmer war behaglich möbliert. Das erste, was Larry auffiel, waren die kahlen Wände, bis er sich daran erinnerte, daß Bilder für Blinde keinen Wert haben.
Ein merkwürdiger, kleiner Apparat stand auf der Seite des Tisches, der das Hauptstück der Ausstattung bildete, und ein kleines Rädchen drehte sich, als sie hereinkamen. Der Vorsteher ging geradewegs auf die kleine Maschine zu. Ein leichtes Schnappen eines Knopfes, und das Rad stand still.
»Das ist mein Diktaphon«, erklärte er, als er sich ihnen mit einem Lächeln zuwandte. »Ich bin literarisch tätig und diktiere in den Apparat, von dem dann meine Worte abgehört und mit der Schreibmaschine geschrieben werden.
»Nun, meine Herren«, sagte Ehrw. John Dearborn, als er selbst Platz genommen hatte, »was verschafft mir das Vergnügen Ihres Besuches?«
»Ich bin Beamter von Scotland Yard«, stellte sich Larry vor, »mein Name ist Holt.«
Der andere verbeugte sich leicht.
»Ich hoffe, keiner meiner unglücklichen Schutzbefohlenen ist in Unannehmlichkeiten geraten?«
»Das weiß ich selbst noch nicht genau«, sagte Larry. »Im Augenblick suche ich einen Mann mit Namen Jake der Blinde.«
»Der blinke Jake?« erwiderte der andere langsam. »Ich glaube nicht, daß wir einen solchen Namen in unserem Heim gehabt haben, wenigstens nicht, solange ich die Leitung habe. Und ich bin jetzt vier Jahre hier. Vor meiner Zeit wurde das Heim von einem Mann geleitet, und noch dazu sehr schlecht, der die schlimmste Sorte von Blinden, die es in ganz London gab, hier zusammenbrachte. Sie wissen, Blinde sind in ihrer Art wundervoll, tapfer und geduldig. Leider gibt es aber auch andere, verkommen, vertiert, der Abschaum der Erde. Wahrscheinlich haben Sie von den ›Toten Augen‹ gehört?«
»Heute morgen zum ersten Mal«, antwortete Larry, und der andere nickte.
»Wir sind diese Menschen losgeworden und haben jetzt nur anständige, alte Hausierer hier, wo alles nur mögliche für sie getan wird. Möchten Sie sich vielleicht das Heim ansehen?«
»Sie kennen also den blinden Jake nicht?«
»Ich habe niemals von ihm gehört«, sagte Ehrw. John Dearborn, »aber wenn Sie bitte mitkommen wollen, können wir uns ja erkundigen.«
Das Heim bestand aus vier Schlafräumen und einem gemeinsamen Wohnraum, der Tabaksrauch ausdunstete, und in dem die Insassen sich aufhielten.
»Einen Augenblick bitte«, sagte Dearborn, als er mit den beiden Herren in den Gang getreten war, und ging noch einmal in das Zimmer, kam aber bald wieder kopfschüttelnd zurück.
»Niemand kennt den blinden Jake persönlich, und nur einer hat überhaupt etwas von ihm gehört.«
Sie gingen nach dem ersten Schlafsaal hinauf.
»Ich bezweifle, daß Sie noch mehr zu sehen wünschen«, sagte Dearborn.
Larry hob lauschend den Kopf.
»Es kam mir vor, als ich jemand stöhnen hörte.
»Ganz recht«, entgegnete der Vorsteher. »Das ist ein trauriger Fall. »Oben sind kleine Räume für die Leute, die in der Lage sind, ein wenig mehr als ihre anderen Leidensgenossen zu zahlen. In einem wohnt ein Mann, der, wie ich befürchte, geistig nicht ganz normal ist. Ich habe schon darüber an die zuständigen Behörden berichten müssen.«
»Können wir nach oben gehen?« fragte Larry.
»Aber mit dem größten Vergnügen«, gestand nach kurzem Zaudern Ehrw. Dearborn zu. »Das einzige, was ich befürchte«, fuhr er im Vorausgehen fort, »ist die Ausdrucksweise des Mannes, die Sie sicherlich abstoßen wird.«
In einem kleinen, viereckigen Raum lag ein vertrockneter, alter Mann in den Sechzig, der sich ruhelos in seinem Bett hin- und herwarf, unaufhörlich plapperte – und mit einer unsichtbaren Person zu sprechen schien. Larry hörte seine Worte und wunderte sich.
»Du Biest! Du Feigling!« stammelte der Mann im Bett. »Gehenkt wirst du. Denke an meine Worte! Gehenkt wirst du dafür!«
»Es ist wirklich schrecklich«, sagte Ehrw. John Dearborn und wandte sich mit bedauerndem Kopfschütteln ab. »Bitte hier entlang, meine Herren.«
Aber Larry rührte sich nicht vom Fleck.
»Gut, Jake, aber du wirst dafür bezahlen, denke an meine Worte. Das wird dir teuer zu stehen kommen! Die sollen ihre dreckige Arbeit allein machen! Ich habe das Papier nicht in seine Tasche gesteckt, das kann ich dir sagen.«
Larry trat in das Zimmer hinein, beugte sich über den Mann und ergriff seinen Arm.
»Lassen Sie meinen Arm los, Sie tun mir weh«, beklagte sich dieser, und Larry ließ ihn los.
»Wachen Sie auf«, sagte er, »ich möchte Sie sprechen.« Aber der Mann schwatzte weiter, und Larry schüttelte ihn von neuem.
»Lassen Sie mich in Ruhe«, brummte der Alte. »Ich will nicht noch mehr Unannehmlichkeiten haben.«
»Er phantasiert«, sagte John Dearborn. »Er bildet sich ein, daß man ihn beschuldigt, einem seiner Freunde unten eine Streich gespielt zu haben.«
»Aber er sprach von ›Jake‹«, warf Larry ein.
»Das ist richtig, wir haben einen Jake unten – Jake Horley. Möchten Sie ihn sprechen? Er ist ein kleiner Kerl und in seiner Art ganz amüsant.«
Larry ging enttäuscht die Treppe hinunter und verabschiedete sich von seinem Führer.
»Ich freue mich sehr, einen Besuch von der Polizei gehabt zu haben«, sagte John Dearborn. »Ich wünschte nur, wir könnten auch andere Leute überreden, sich für uns zu interessieren. Sie haben nun einen kleinen Einblick in unsere Arbeit tun und selbst sehen können, mit welchen Schwierigkeiten wir zu kämpfen haben. Würden Sie aber vielleicht«, fügte er hinzu, »bevor Sie gehen, mir mitteilen, warum Sie Jake den Blinden suchen? – Meine Leute kommen mir ja sonst vor Neugierde über den Grund dieses polizeilichen Besuches um.«
»Wenn es weiter nichts ist«, lächelte Larry. »Es liegt die Anklage einer Frau gegen ihn vor, sie zu einem Verbrechen angestiftet zu haben.«
Der ihn begleitende Polizeibeamte starrte ihn verblüfft an. Es war wider allen Gebrauch bei der Polizei, den Angeber zu verraten.
»Verzeihen Sie bitte eine Frage, Mr. Dearborn, die Ihnen vielleicht peinlich ist«, fragte Larry sanft. »Sind Sie selbst auch …?«
»O ja«, sagte der andere heiter. »Ich bin vollständig blind. Die Gläser trage ich nur aus Eitelkeit. Ich bilde mir ein, daß ich mit der Brille besser aussehe.« Er lachte leise.
»Auf Wiedersehen«, sagte Larry und schüttelte ihm die Hand. Dann stieß er die Tür auf und stand Angesicht zu Angesicht mit Flimmer Fred.
Wie vom Donner gerührt starrte Flimmer Fred ihn an und ging dann – mit einigem Risiko für sich selbst – die wenigen Stufen rückwärts hinunter. Larry, den Kopf auf einer Seite, betrachtete ihn mit dem interessierten Ausdruck eines wißbegierigen Huhnes, das eine ganz neue Art Wurm vor sich sieht.
»Wer von uns beiden läuft eigentlich dem anderen nach? Sie mir oder ich Ihnen?« fragte er freundlich. »Und warum so frühzeitig aus dem Bett, Fred? Haben Ihre – hm – Geschäfte Sie die ganze Nacht hindurch in Anspruch genommen?«
Fred fand keine Worte. Er war den ganzen langen Weg von der Jermyn Street bis Paddington zu Fuß gegangen, hatte alle erdenkbare Vorsicht angewendet, um nicht verfolgt zu werden, und nun … Endlich fand er seine Stimme wieder.
»Also ’ne Falle war es?« sagte er bitter. »Das hätte ich mir eigentlich denken können. Aber gegen mich liegt doch nichts vor, Mr. Holt.«
»Doch! Eine ganze Masse«, sagte Larry scherzend, der unbewußt die Tür des Heims hinter sich geschlossen hatte. »Doch, Fred! Ich kann Ihr Gesicht nicht leiden, ich kann Ihre Schmucksachen nicht sehen und Ihr Personalbericht ist mir direkt ekelhaft. – Was steckt dahinter, Fred? Kommen Sie so früh, um persönlich den armen Blinden einen freiwilligen Beitrag zu überbringen? Haben Sie endlich mal Gewissensbisse bekommen?«
»Lassen Sie doch den Unsinn, Mr. Holt«, knurrte Fred und ging zu Larrys Überraschung mit ihm mit.
»Wollten Sie denn nicht nach dem Heim gehen?« fragte er.
»Nee«, sagte Fred bissig.
Schweigend gingen sie ihres Weges. Ein sehr nachdenklicher Fred zwischen den beiden Polizeibeamten. Sie hatten schon die breite Edgware Road erreicht, bevor er seine Gedanken gesammelt hatte.
»Ich habe keine Idee, warum Sie mich mitgenommen haben. Sie können mich doch für ’ne alte Geschichte nicht nochmal fassen?«
»Stimmt. Ich habe tatsächlich keine Ahnung, warum Sie eigentlich mit uns mitlaufen. Aber Sie haben uns ja selbst Ihre liebwerte Begleitung aufgedrängt.«
»Wollen Sie wirklich sagen, daß ich nicht geschnappt bin?« stieß Fred ungläubig hervor und blieb stehen.
»Was mich anbetrifft«, antwortete Larry, »sind Sie nicht geschnappt, falls nicht Sergeant Reed eine private Verabredung mit Ihnen hat.«
»Ich auch nicht, Sir«, lächelte der Sergeant. »Wie kommen Sie denn überhaupt auf den Gedanken, daß Sie verhaftet sind, Fred?«
»Na, da schlag‘ doch einer lang hin«, stotterte Fred verdutzt. »Was soll denn das nun bedeuten?«
»Kennen Sie denn jemand in dem Heim?«
»Ich kenne das Heim ebensowenig wie ’n Kuhstall«, antwortete Fred. »Ich habe einen Milchmann nach dem Wege fragen müssen.«
»Sie hätten sich an einen Schutzmann wenden sollen«, murmelte Larry. »Es gibt ’ne ganze Masse hier.«
»Für meinen Geschmack zu viel«, war Freds bissige Antwort. »Hören Sie mal, Mr. Holt«, sagte er plötzlich ernsthaft, »Sie sind ein anständiger Mensch, und ich bin sicher, Sie werden mich nicht reinlegen…«
»Nun?« fragte Larry. Fred tauchte in eine seiner inneren Taschen und brachte einen Brief hervor.
»Was halten Sie davon, Sir?« fragte er.
Larry öffnete den Brief, der an Fred Grogan adressiert war, und las:
»Man wird Sie morgen verhaften. Larry Holt hat den Haftbefehl. Kommen Sie morgen früh halb sieben nach Todds Heim, Lissom Lane, und fragen Sie nach Lew. Der wird Ihnen Mitteilungen machen, die es Ihnen ermöglichen, zu entwischen. Seien Sie vorsichtig, daß man Ihnen nicht nachfolgt, und erzählen Sie niemand, wohin Sie gehen.«
Der Brief war nicht unterzeichnet. Larry wollte ihn schon an Fred zurückgeben, als er sich eines Besseren besann.
»Haben Sie etwas dagegen, wenn ich den Brief behalte?« fragte er.
»Nein, Sir, behalten Sie ihn ruhig. Aber, Mr. Holt«, fragte er unruhig, »wollen Sie mir nicht sagen, ob da irgend was Wahres dran ist, daß ich gefaßt werden soll?«
Larry schüttelte den Kopf.
»Soweit mir bekannt ist, sind Sie nicht auf der Liste, und ich habe ganz sicher keinen Haftbefehl gegen Sie. Tatsächlich«, fügte er hinzu, »lauten die Auskünfte über Sie jetzt so gut, daß Sie, falls Sie ehrlich bleiben würden, ohne jede Furcht vor der Polizei leben könnten.«
»Klingt verdammt uninteressant für mich«, war Freds Antwort, als er mit gesenktem Kopf in eine Seitenstraße einbog.