Kapitel 11

 

11

 

Es war der dreizehnte Tag nach dem Verschwinden Luke Maddisons und ein bedeutungsvoller für seine Frau, da an diesem Tage die langen und qualvollen Stunden voller Zweifel und Ungewißheit, voller Selbstanklagen, die zuweilen zu Haß gegen sich selbst wurden, ein Ende fanden. Zweimal schon war sie nahe daran gewesen, die Polizei zu benachrichtigen, und zweimal hatte Danty sie daran verhindert.

 

Diese Zeit war auch voller Sorgen für Danty gewesen, aber aus einem ganz anderen Grunde. Daß Mr. Steele, der Prokurist der Maddison-Bank, nicht übermäßig besorgt zu sein schien, hatte Margaret zuerst erstaunt, dann aber in gewisser Weise getröstet. Sie vermutete oder war überzeugt, daß Luke ihm ihre Handlungsweise mitgeteilt hatte, denn als sie dem alten Steele den Scheck aushändigen wollte, wies dieser ihn mit großem Nachdruck zurück. Sie wußte ja nicht, daß in den Tagen, bevor sie die Hauptperson in Luke Maddisons Leben wurde, Luke die Angewohnheit hatte, von Zeit zu Zeit zu verschwinden, ohne jemand zu benachrichtigen. Unweigerlich kam dann eine Postkarte von Spanien, auf der er Steele mitteilte, wo er wäre und wann er zurückkommen würde. Dieses Land hatte einen besonderen Reiz für Luke Maddison. Er beherrschte seine Sprache wie ein Eingeborener. Er war einer der wenigen Engländer, die die Feinheiten des Stiergefechtes verstanden und schätzten, und er liebte nichts mehr, als sich in irgendeine kleine Wohnung in Cordoba oder Ronda zurückzuziehen und von dort aus das Land nach allen Richtungen zu durchstreifen.

 

Steele war unruhig – sicherlich – aber er hatte die Hoffnung, daß in dieser großen Krisis seines Lebens Luke Maddison dorthin geflüchtet war, wo er so viele glückliche Tage verbracht hatte.

 

Während dieser ganzen Wartezeit hatte sich Margaret Maddison zu Haus gehalten. Sie erschien nicht mehr in den Restaurants, in denen sie gewöhnlich zu finden war, und ihre wenigen Freunde zweifelten nicht daran, daß sie sich auf der Hochzeitsreise befand. Danty hatte ihr den Rat gegeben, sich im Auto nach einem der entfernten Dörfchen in Cornwall zu begeben und dort zu bleiben, bis der »Skandal«, wie er es nannte, vergessen wäre; aber sie machte sich zu viele Sorgen um Luke, um seinem Rate Folge leisten zu können.

 

An diesem dreizehnten Morgen war ein Telegramm für sie gekommen, und sie hatte gerade Danton Morell telephonisch gebeten, bei ihr vorzusprechen, als der Diener hereinkam und ihr eine Karte überreichte. Margaret las den Namen und runzelte die Stirn.

 

»Miß Mary Bolford?« Wer war denn das? »Sagen Sie, ich wäre nicht zu Haus.«

 

»Das habe ich bereits gesagt, gnädige Frau«, sagte der Diener, »aber sie nahm das ziemlich kühl auf und sagte, sie wüßte, Sie wären zu Haus, und bestand darauf, Sie zu sprechen.«

 

Margaret blickte von neuem auf die Karte. Auf der linken Seite, wo gewöhnlich die Adresse zu stehen pflegt, befanden sich die Worte »Daily Post Herald«. Sie sah die Nutzlosigkeit ein, das Interview vermeiden zu wollen, und hatte – unbekannt mit der Ethik des Journalismus – die Sorge, daß ihre Weigerung, den interessanten Reporter Miß Mary Bolford zu empfangen, vielleicht peinliche Konsequenzen für sie haben könnte.

 

»Ich lasse Miß Bolford bitten«, sagte sie schließlich.

 

Sie erwartete eigentlich eine Art Mannweib zu sehen oder zum mindesten ein weibliches Wesen, dessen intellektuelle Entwicklung auf Kosten ihrer äußeren Erscheinung stattgefunden hatte. Aber nicht im geringsten war sie auf das hübsche, junge Mädchen in elegantem Kostüm vorbereitet, das ohne jedes Anzeichen von Nervosität ihren Salon betrat.

 

»Sind Sie Miß Bolford?« fragte Margaret überrascht.

 

Das junge Mädchen bejahte lächelnd.

 

»Ich bin Reporter: ich nehme an, Mrs. Maddison, Sie haben das schon aus meiner Karte erraten!«

 

Mrs. Maddison! Es war das erstemal, daß man sie mit diesem Namen anredete, und irgendwie schien ihr dies die Tragödie der letzten vergangenen 12 Tage noch näherzubringen.

 

»Ich hatte dem Diener gesagt, daß ich für niemand zu sprechen wäre. Ich fühle mich nicht besonders wohl und bin in der Stadt geblieben –«

 

»Aus dem Grunde möchte ich ja mit Ihnen sprechen – darf ich mich setzen?«

 

Margaret wies auf einen Stuhl, und der junge, weibliche Reporter machte es sich bequem.

 

»Ich begreife völlig, daß Sie uns für entsetzliche Leute halten, wenn wir versuchen, in Ihre Privatangelegenheiten hineinzublicken, aber das ist nun mal unser Beruf«, begann sie mit beinahe beleidigender Offenheit. »Alle Zeitungsleser sind wild auf Romanzen, gleichgültig, ob es sich um traurige oder fröhliche handelt, und wir haben nun erfahren, daß Ihre Flitterwochen unterbrochen wurden und Ihr Gatte nach dem Ausland gegangen ist – hat er das überhaupt getan? – Mr. Steele, der Prokurist der Bank, ließ dies durchblicken, ohne es jedoch zugeben zu wollen.«

 

Für einen Augenblick antwortete Margaret nicht und sagte dann:

 

»Mein Mann ist im Ausland.«

 

»Wissen Sie, wo er ist?«

 

Margaret war auf einen so direkten Angriff nicht vorbereitet und wußte im Augenblick nicht, was antworten.

 

»Ja«, sagte sie zögernd. »Aber ich bezweifle, daß dies irgendwie Interesse für die Öffentlichkeit haben könnte.«

 

Mary Bolford sah Margaret prüfend mit ihren sprechenden, grauen Augen an.

 

»Entschuldigen Sie, bitte, Mrs. Maddison, aber ich glaube, ich kann Ihnen am besten helfen und mir selbst auch, wenn ich Ihnen gegenüber völlig offen bin. Wir haben gehört, daß Sie an Ihrem Hochzeitstage eine Meinungsverschiedenheit mit Ihrem Manne gehabt hätten und daß er –«

 

»Seiner Wege ging?« schlug Margaret kühl vor.

 

»Nein, nicht ganz so. Die Wahrheit ist, ich habe einen guten Freund in Scotland Yard, der heute bei mir war, um mich zu fragen, ob wir von der Zeitung etwas über Mr. Maddisons Aufenthalt wüßten. Und wir wissen natürlich nichts. Mr. Bird war etwas zurückhaltend –«

 

»Wer ist denn Mr. Bird«, fragte Margaret mechanisch. Sie wollte Zeit gewinnen. Schon allein die Erwähnung von Scotland Yard erschreckte sie.

 

Die junge Reporterin erklärte ihr, wer Mr. Bird war, und von neuem dachte Margaret schnell nach.

 

»Gesetzt den Fall, ich gebe zu, daß wir uns gestritten haben? Glauben Sie, daß dies das Publikum interessieren würde?«

 

Zu ihrer eigenen Überraschung fand sie, daß sie ganz zufällig eine Erklärung für das Verschwinden Lukes gefunden hatte, die man ohne weiteres annehmen konnte.

 

»Selbstverständlich nicht! Sie müssen ja denken, daß es eine große Unverfrorenheit von mir ist, überhaupt hierher zu kommen. Es liegt uns ja gar nichts daran, unsere Nase – wenn ich mich so ausdrücken darf – in rein persönliche Angelegenheiten zu stecken. Wenn eine Meinungsverschiedenheit die Erklärung ist, so kann ich nur um Entschuldigung bitten und versuchen, einen möglichst vorteilhaften Abgang zu finden!«

 

Sie stand rasch auf, aber in ihren lachenden, grauen Augen konnte Margaret Sympathie für sich selbst lesen.

 

»Sehen Sie«, fuhr sie fort, »wenn Mr. Maddison an seinem Hochzeitstage abgerufen worden wäre, um eine große finanzielle Operation durchzuführen, oder aus einem anderen Grunde als den – nun, den Sie mir eben angegeben haben, dann würde es eine wirklich interessante Geschichte gewesen sein. Ich bitte nochmals um Entschuldigung, Mrs. Maddison.« Sie streckte impulsiv ihre Hand aus, und Margaret ergriff sie.

 

»Ich bedauere es, für Sie – aber für mich auch«, sagte sie seufzend. Und dann sah Mary Bolford, wie ihre Züge hart wurden. »Ich habe es gestern bedauert – vielleicht heute nicht mehr. Das klingt ziemlich rätselhaft, und ich hoffe, Sie werden nicht versuchen, das zu ergründen.«

 

Sie begleitete das junge Mädchen bis an die Treppe und wartete, bis sie die Haustür hinter ihr ins Schloß fallen hörte.

 

Danty war in der Zwischenzeit gekommen, und sie hatte gehört, wie der Diener ihn in ein kleines Vorzimmer geführt hatte, das neben ihrem Salon lag. Sie öffnete die Tür.

 

»Kommen Sie, bitte, herein«, sagte sie.

 

»Wer war denn das?« fragte Danton Morell etwas unruhig. »Fenning sagte, es wäre ein Reporter. Was wollte er denn?«

 

Margaret lächelte müde.

 

»Sie versuchte, in meiner Trauung etwas Romantisches zu finden«, antwortete sie. »Ich befürchte, sogar sie wird damit kein Glück haben – lesen Sie das bitte.«

 

Sie öffnete ein Schubfach ihres Schreibtisches und nahm einen zusammengefalteten Bogen Papier heraus: ein Telegramm, gerichtet an Margaret Maddison:

 

»Du kannst kaum erwarten, daß ich zu Dir zurückkehre. In einigen Monaten werde ich Dir genügend Material verschaffen, um eine Scheidungsklage gegen mich einzureichen. Ich bin nicht völlig mittellos, daher auch nicht gänzlich ohne angenehme Tröstung.«

 

Es trug die Unterschrift »Luke« und war am gleichen Morgen um acht Uhr dreißig in Paris aufgegeben worden.

 

»Nun weiß ich ja Bescheid«, sagte sie. Ihr Ton war leicht, aber in ihrem Herzen war ein Aufruhr, den sie nicht für möglich gehalten hätte.

 

Tröstung! Und das war Luke Maddison, der Idealist! – ein ganz gewöhnlicher Schürzenjäger, der zu – Tröstungen geflohen war!

 

»Ich wundere mich eigentlich, daß Sie überhaupt Nachricht erhalten haben«, sagte Danton ernst. »Ich hätte gar nicht angenommen, daß er sich die Mühe geben würde, zu telegraphieren.«

 

Sie zuckte die Schultern.

 

»Steele kennt wahrscheinlich seine Adresse und hat ihm telegraphiert, daß die Polizei Recherchen anstellt –«

 

»Die Polizei?« Dantys Stimme war scharf. »Von wem wissen Sie denn, daß die Polizei sich damit befaßt?«

 

Sie wiederholte ihm, was Mary Bolford ihr erzählt hatte, und sah, wie sein Gesicht unruhig wurde.

 

»Der Spatz – das ist der Beiname, den man Bird gegeben hat. Ist er denn hier gewesen?«

 

Sie schüttelte verneinend den Kopf. Er dachte tief nach, seine Haltung war einige Augenblicke gespannt, seine Augen halb geschlossen, und seine Gedanken waren weit weg.

 

»Was werden Sie nun tun?« fragte er sie endlich.

 

»Jetzt? Ich reise am Sonnabend nach Madeira. Die Seereise wird mir sehr gut tun, und es wird mir erspart bleiben, über – über Paris zu reisen.« Ihre Lippen verzogen sich verächtlich.

 

Sie bemerkte, daß er etwas verstört war, und erfuhr auch sofort den Grund.

 

»Ich glaube nicht, daß ich am Sonnabend reisen kann –« begann er hastig, und sie lächelte.

 

»Es liegt doch auch gar keine Notwendigkeit für Sie vor, zu verreisen. Ich fahre allein. Ich möchte über so vieles nachdenken, und eine Insel ist ein wundervoller, der einzig richtige Platz dafür.«

 

Er war enttäuscht, ließ es aber nicht merken.

 

»Wie lange werden Sie fortbleiben?«

 

»Vielleicht einen Monat«, antwortete sie.

 

»Ich habe die Absicht, einen großen Dienst von Ihnen zu erbitten, und zwar, sich meiner Angelegenheiten anzunehmen – wahrscheinlich werde ich Ihnen eine Generalvollmacht geben; sicherlich werden Sie einen besseren Gebrauch davon machen als ich mit Lukes!«

 

Hätte sie ihn angesehen, wäre ihr sicherlich die Erleichterung in seinen Zügen aufgefallen.

 

»Ich werde alles tun, was in meinen Kräften steht«, war Dantys Antwort.

 

Der Rest ihrer Unterhaltung bewegte sich in allgemeinen Bahnen, und kurz darauf verließ er sie.

 

Als er gegangen war, blickte sie in die Morgenzeitung und hatte mehr Interesse für Wetterberichte als für alles andere. Auf einer der Hauptseiten des Post Herald sah sie die Photographie eines hageren, unrasierten Mannes. Die Aufnahme hatte augenscheinlich im Hospital stattgefunden. Seine Augen waren geschlossen, und unterhalb des Kinnes sah man noch einen Teil der Bettdecke.

 

»KENNEN SIE DIESEN MANN?«

 

war die Unterschrift des Bildes.

 

Sie durchflog den dazugehörigen Artikel und fand, daß es sich um einen Mord handelte, der im südlichen London begangen war, daß der Mann auf der Photographie dabei beteiligt gewesen und dem Tode nur wie durch ein Wunder entgangen war. Nicht einmal sein nächster Freund würde Luke Maddison erkannt haben, denn die Aufnahme war erst am elften Tage seines Aufenthaltes im Hospital und noch dazu bei sehr trübem Licht gemacht worden.

 

Kapitel 12

 

12

 

Mr. Bird besprach in oberflächlicher Weise den Mord in Süd-London, der Scotland Yard verhältnismäßig wenig erregt hatte.

 

»Ich habe die Photo von dem anderen Galgenvogel heute morgen in der Zeitung gesehen«, begann er. »Sieht beinahe aus wie der Star in ›Aus Seenot gerettet‹ – das ist ein ganz hervorragender Film, Sir. Sie müßten sich den mal ansehen. Mir kamen beinahe die Tränen in die Augen, und ich heule wirklich nicht leicht.« Er zog die Augenbrauen zusammen. »Vielleicht hatte der Film auch überhaupt nichts damit zu tun. – Haben Sie den Mörder gefaßt?«

 

Oberinspektor Kelley schüttelte den Kopf.

 

»Nein, und werden ihn wohl auch kaum fassen. Wenn wir Lewing von den Toten erwecken könnten, würde er einen Schwur ablegen, daß er den Mann, der ihn angriff, nicht erkannt hatte. Und mit dem anderen Kerl wird es genau so sein.«

 

Der Spatz spitzte die Lippen.

 

»Ich möchte eigentlich mal nach dem Hospital gehen und mir den Menschen ansehen – wird er sterben?«

 

Kelley machte eine Bewegung mit seinen Händen, die seine völlige Gleichgültigkeit ausdrückte.

 

»Keine Ahnung! Aber ich würde Ihnen nicht raten, in Gennets ›Gebiet‹ einzubrechen – er ist in dem Punkt außerordentlich empfindlich, und der Fall wird von ihm bearbeitet.«

 

Professionelle Etikette hielt daher Mr. Bird von der Unfallstation des St.-Thomas-Hospitals fern. Er fand jedoch eine Abschrift der Aussage, die der sterbende Mann gemacht hatte; sie war kurz und nichtssagend:

 

»Ich weiß nicht, wer Lewing gemordet hat. Ich war mit ihm zusammen, als er angefallen wurde, kannte ihn aber nur oberflächlich. Ich würde keinen der Angreifer wiedererkennen; sie waren mir völlig unbekannt, und ich konnte ihre Gesichtszüge nicht sehen.«

 

Darunter stand in Anführungsstrichen:

 

»Dieser Mann weigert sich, seinen Namen zu nennen.«

 

Der Spatz las diese kurzen Zeilen halb belustigt durch. Er konnte den Inspektor, der diesen Fall behandelte, nicht leiden.

 

»Gennet wird ja noch viel Glück damit haben – ich wünsche ihm alles Gute!«

 

Später, am Nachmittag, hatte er sich mit Miß Mary Bolford zum Tee verabredet. Der Spatz war schon in einem Alter, wo er sich unbesorgt mit dem hübschesten und jüngsten Mädchen treffen konnte, ohne sich anderen Nachreden auszusetzen als denen, die er selbst über sich gebrauchte.

 

»Wir passen wirklich großartig zueinander, Miß Bolford. Haben Sie etwas erreicht?«

 

»Bei Mrs. Maddison?« Mary schüttelte seufzend den Kopf. »Wissen Sie … ich fühlte mich höchst unbehaglich. Sie haben sich am Hochzeitstage gezankt. Warum – weiß ich selbstverständlich nicht.«

 

»Vielleicht des Bruders wegen«, sagte der Inspektor. »Sie wissen ja, wenn es sich um Angehörige handelt –«

 

»Aber er ist doch tot.«

 

Der Spatz nickte gedankenvoll.

 

Sie saßen in einem der belebtesten Teerestaurants in der Nähe von Charing Croß, und unaufhörlich kamen und gingen Gäste. Mr. Bird hatte einen kleinen Tisch in einer Nische gefunden, von wo aus er den Eingang des Restaurants überblicken konnte. Es lag kein besonderer Grund hierfür vor, denn er erwartete weder Freund noch Feind. Aber er hatte ein tiefes Interesse an seinen Mitmenschen und vor allen Dingen den stillen Wunsch, daß eines Tages ein Mann, den die Polizei aller Welten suchte, vergeblich suchte, in seinem Gesichtskreis auftauchen würde. Er war ein wenig Optimist.

 

»Gezankt, sagen Sie? Das wird hoffentlich eine Warnung für Sie sein, mein liebes Kind. – Heiraten Sie niemals. Erst heute habe ich gesagt –«

 

Sie sah, wie Mund und Augen ihres Begleiters sich vor Erstaunen öffneten. Er starrte nach der Tür. Sie blickte sich um und sah einen Mann das Café betreten, seinen weichen Hut auf dem Hinterkopf, die Hände in den Taschen. Er sah ernst und finster aus, und doch hatte sein Gesicht eine eigenartige Anziehungskraft.

 

»Da hört doch alles auf!« murmelte Mr. Bird.

 

»Wer ist es denn?« flüsterte sie.

 

»Ein dunkler Charakter«, erwiderte der Spatz bedeutungsvoll. »Wollen Sie ihn kennenlernen?«

 

Sie nickte, und im gleichen Augenblick begegneten sich die Augen des Fremden mit denen des Detektivs. Ein halbes Lächeln huschte über sein finsteres Gesicht, er folgte der Einladung von Mr. Birds winkendem Finger und kam langsam auf ihn zu. Als er das junge Mädchen erblickte, nahm er den Hut ab und setzte sich nach einem Augenblick kurzen Zögerns an den Tisch.

 

»Nun, Gunner«, sagte der Spatz mit leichtem Vorwurf. »Freigekommen?«

 

»Selbstverständlich«, lächelte Gunner Haynes und bestellte sich Kaffee.

 

»Eine Bekannte von mir – an der Zeitung«, stellte der Spatz vor. »Da sie selbst ein Mitglied dieser gesetzlosen Klasse ist, kann sie, ohne zu erröten, den hervorragendsten Juwelendieb Englands kennenlernen.«

 

Sie sah in Gunners Augen ein belustigtes Lächeln aufblitzen und lächelte zurück.

 

»Nun wissen Sie ja, wer ich bin«, sagte Haynes ironisch.

 

»Man hat also die Anklage niedergeschlagen?« Und als der Gunner nickte, stieß Mr. Bird einen langen, murrenden Seufzer aus. »Ich habe mein Vertrauen zu der Gerechtigkeit verloren«, sagte er verzweifelt. »Ich weiß ganz genau, warum Sie in dem Hotel waren, wessen glitzernde Steinchen Sie suchten – nein, Gunner, es gibt wirklich keine Gerechtigkeit mehr in der Welt.«

 

Der Gunner rührte in dem Kaffee, den die Kellnerin vor ihn hingestellt hatte, und lachte. Ein sanftes, musikalisches Lachen, das gar nicht zu dem Mann paßte, der da vor ihr saß.

 

»Ihre Sache stand schlecht, Mr. Bird, und Sie werden der erste sein, der mir das zugibt. Ich würde gern mal den Mann wiedersehen; der versucht hat, mich zu – mir zu helfen.«

 

»Sie wollten sagen, ›mich zu warnen‹.« Der Spatz blickte ihn durchdringend an. »Leider können Sie ihn nicht sehen. Er ist nämlich auf der Hochzeitsreise.«

 

»Maddison? – Hieß er nicht so. Ich erinnere mich jetzt an den Namen. Handelt es sich um den Bankier? Sie können mir ruhig antworten, Mr. Bird. Ich will nichts von ihm haben. Er ist in meinem Buch mit einem Stern angemerkt.«

 

»Das wird ihn sicher mal in den Himmel bringen«, spöttelte Bird und wurde dann wieder der kühle Polizeibeamte.

 

»Was führen Sie nun im Schilde, Gunner? Sind Sie jetzt reif für die Besserungsanstalt? Wenn das der Fall ist, können Sie von mir eine Empfehlung für das Heim für ehemalige Gefangene erhalten.«

 

Aber Gunner Haynes hörte gar nicht zu.

 

»Wen hat er geheiratet? – das hübsche, junge Mädchen, das an jenem Abend am oberen Ende der Tafel saß? Bei Gott! Sie war wunderhübsch! Erinnerte mich an –«

 

Er hielt plötzlich inne, und Mary Bolford sah, wie es in seinem Gesicht zuckte.

 

»– an jemand, den ich früher mal kannte. Ich wünsche ihnen alles Glück!«

 

»Dann müssen Sie jedem einzeln Glück wünschen«, sagte Mary Bolford; »an ihrem Hochzeitstage haben sie sich getrennt.«

 

Er blickte schnell zu ihr hinüber.

 

»Was hat sie ihm angetan?« fragte er, und Mary Bolford mußte, wenn auch widerwillig, lachen.

 

»Sie nehmen vieles für sicher an! Der Gedanke, daß er vielleicht der schuldige Teil sein konnte, scheint Ihnen wohl unmöglich?«

 

Er schüttelte den Kopf.

 

»Diese Art Mann kann nichts Schlechtes begehen, das kann ich Ihnen sagen, Miß! Ich kenne die Männer; ich verstehe das Gute in ihnen und das Schlechte. – Mein ganzes Leben lang habe ich von Männern gelebt: meine Kenntnis ihrer Schwächen und ihrer Stärke war mein einziger Trumpf. Frauen verstehe ich nicht. Und auch Sie haben unrecht, Mr. Bird – ich sage Ihnen dies hier offen und ehrlich – ich war nicht hinter den Juwelen von der Frau her, obgleich ich zugeben muß, ich hätte sie gern mal gesehen. Nein, hinter einem Diamantarmband, so groß wie eine Fußschelle! Im Hotel war ein alter Narr, der hatte es für eine Schauspielerin gekauft – sie nannte sich wenigstens Schauspielerin, aber ich habe sie gesehen! – Er muß mindestens hundert Jahre alt gewesen sein – vielleicht sogar hundertzwanzig. Ekelhaft! … nein, ich habe genügend Geld, um leben zu können.«

 

Er blinzelte dem Spatz zu. »Geld genug, um mir ein Maschinengewehr zu kaufen, damit ich wenigstens meinen Titel mit Recht trage. Wo steckt denn eigentlich Maddison?«

 

Er wandte sich an Mary Bolford.

 

»Fragen Sie mich!« fuhr der Spatz dazwischen, seine kalten Augen in denen des Hochstaplers. »Ich bin hier das zuständige Auskunftsbüro! Wenn Sie Ihre Lebensgeschichte erzählen wollen, wird Miß Bolford, glaube ich, einen ganz interessanten Artikel schreiben können, aber ich habe Sie nicht hierhergerufen, um angenehme Konversation zu machen, verstanden, Gunner!«

 

Haynes glaubte, in den Augen des jungen Mädchens einen feinen Schmerz zu sehen und lachte.

 

»Er hat recht – er hat selbstverständlich recht –« sagte er. »Lassen Sie mich Ihnen einen guten Rat geben, Miß Bolford.« Seine Stimme war eigenartig sanft, und selbst der Spatz blickte ihn erstaunt an. »Befürchten Sie niemals, daß Sie die Gefühle eines Hochstaplers verletzen könnten – das ist nämlich unmöglich. Ein Mann, der nach seiner Verhaftung eine Unterredung von nur zehn Minuten mit der Polizei gehabt hat – wenn sie nicht genau weiß, wo die Beute versteckt ist –, ist von Fachleuten … beleidigt worden.«

 

Der Spatz nickte ernsthaft.

 

»Bevor Sie beginnen, Sympathie für einen Exsträfling zu empfinden«, fuhr der Gunner fort, »rate ich Ihnen, ausfindig zu machen, warum er gesessen hat – und, was noch viel wichtiger ist, wie oft. Es kommt gar nicht darauf an, welches Verbrechen er begangen hat; ist er zweimal im Gefängnis gewesen, so brauchen Sie keinerlei Mitleid mehr an ihn zu verschwenden … Ich habe dreimal gesessen.«

 

Seine Augen lächelten, aber die scharfen Falten um seinen Mund hatten sich vertieft. Die ganze Zeit hindurch blickte er das junge Mädchen unverwandt an, trank ihre unberührte, frische Schönheit in sich hinein. Mit einem plötzlichen Ruck drehte er sich um, winkte der Kellnerin und bezahlte. Dann stand er auf und reichte Mr. Bird die Hand.

 

»Bird und ich kämpfen einen gleichen Kampf.« Seine Worte richteten sich wieder an das junge Mädchen. »Nur stehen wir beide auf verschiedenen Seiten. Meine Seite verliert immer, hat aber den meisten Spaß dabei.«

 

Er drehte sich um, ging langsam auf die Tür zu und verschwand.

 

Kapitel 13

 

13

 

Man hatte Luke Maddison in ein Einzelzimmer gelegt, und eines Morgens las er auf der Fieberkarte über seinem Bett, daß sein Name Smith war.

 

»Wie lange heiße ich schon Smith?« Seine Stimme klang außerordentlich kräftig, wenn man daran dachte, daß er nur wenige Tage vorher kaum imstande war, zu flüstern.

 

Die gutmütige Krankenpflegerin lächelte ermutigend.

 

»Wenn wir den Namen der Leute nicht kennen, nennen wir sie Smith – mit Vorliebe, Bill«, sagte sie. »Aber Sie werden nett und vernünftig sein und uns Ihren richtigen Namen nennen?«

 

Er schüttelte den Kopf.

 

»Nein, ich glaube nicht. Smith ist doch ein sehr schöner Name, der von so viel netten Leuten getragen wird. Wenn mein Name in Wirklichkeit Smith wäre, würde ich vielleicht ein besserer Mensch sein«, fügte er halb spöttisch hinzu.

 

Seit sie ihn in das Einzelzimmer gelegt hatten, war der große, dicke Schutzmann, der so oft in seinen Fieberträumen eine Rolle gespielt hatte, verschwunden. An dem Tage, an dem man glaubte, er würde sterben, war ein Beamter geholt worden, um seine Aussagen aufzunehmen; aber er hatte nichts erzählt, was auch nur den geringsten Wert gehabt hätte. Außerdem hatte er einen der Detektive sagen hören, daß er als Zeuge von gar keiner Bedeutung für die Staatsanwaltschaft wäre. So konnte er sich gönnen, still zu liegen, die Stunden vorbeistreichen zu lassen, zu sehen, wie das blasse Sonnenlicht an der grünen Wand entlangstrich, wie die Nacht kam und dann wieder der Tag. Von seinem Zimmer aus konnte er das entfernte Geräusch der Straßenbahnen hören; lernte ihre Klingelzeichen, ihr Kommen und Gehen unterscheiden. Seine Gedanken beschäftigten sich nur wenige Augenblicke mit Margaret, und mit aller Kraft versuchte er, diese Gedanken zu vertreiben. Einmal hatte er die Absicht, Steele holen zu lassen, aber das Erscheinen des Prokuristen an seinem Bett würde seine Identität verraten haben, und er war doch bemüht, den Namen der Bank um jeden Preis reinzuhalten – oder war es Margarets Name? Wieder und wieder sagte er sich, daß er nicht einen Finger aufheben würde, um Margaret zu retten – aber er wußte, er log. Um Margarets willen war er zufrieden, Bill Smith zu bleiben.

 

Man gab ihm Zeitungen, aber er weigerte sich, sie zu lesen. Es gab noch einen Grund, warum »Bill Smith« ein so angenehmer Ausweg war. Hatte Maddisons Bank wirklich die Zahlungen eingestellt, dann war dies ein weiterer Grund, warum er nie wieder Luke Maddison sein durfte. Er war eigenartig apathisch, es war ihm gleichgültig, was mit der Bank vorgegangen war. Hatte an nichts und niemand Interesse. Es hatte eine Zeit gegeben, wo er glaubte und hoffte, er würde sterben und so die vollständige Vergessenheit finden, nach der sein Herz schrie. Aber sein Herz schmerzte ihn beinah nicht mehr. Bald würde die Zeit kommen, wo er das Hospital verlassen konnte, und dann? Er war gleichgültig, auch der Zukunft gegenüber. Was kam es auch darauf an? Vielleicht würde er Blumen verkaufen wie das hübsche, junge Mädchen, das er eines Nachmittags in St. James Street im Schneetreiben gesehen hatte. Vielleicht könnte er Soldat werden; er war ja noch nicht zu alt. Vielleicht in ferne Gegenden gehen; er lächelte schwach. »Und Löwen schießen?« fragte in seinem Innern eine sarkastische Stimme.

 

Er machte sich keinerlei Gedanken über das, was kommen würde. Es war am sechzehnten oder siebzehnten Tage seines Krankenlagers – er wußte die Zahl selbst nicht einmal genau –, als die Schwester das Zimmer betrat.

 

»Ein Freund von Ihnen möchte Sie sprechen. Er sagt, er kennt Sie.«

 

»Ein Freund?« wiederholte Luke stirnrunzelnd. »Er muß mich sicherlich mit einem anderen verwechseln.«

 

»Nein, er fragte direkt nach Ihnen. Er wollte den Mann sprechen, der bei der Messerstecherei verletzt worden war; ich habe ihm natürlich nicht gesagt, daß Sie Smith heißen, denn das stimmt ja nicht.«

 

»O doch, Schwester, das stimmt schon – ich bin aber neugierig, wer das wohl sein könnte. Lassen Sie ihn, bitte, hereinkommen.«

 

Wer konnte das sein? Im ersten Augenblick – es war ja Wahnwitz – hatte er an Margaret, Margaret um Verzeihung flehend, gedacht. Er würde selbst über diesen törichten Gedanken gelacht haben, wenn Lachen ihm nicht so unsägliche Schmerzen in der Brust bereitete.

 

Er hatte den Mann, der hereinkam, niemals gesehen. Sein schäbiges Äußeres wurde durch einen Kragen von so blendender Weiße hervorgehoben, daß Luke – und nicht mit Unrecht – annahm, man hatte ihn ebenso wie die schreiende Krawatte erst zu diesem Zweck gekauft. Ein Mann mit einem sehr schmalen, scharfgezeichneten Gesicht; seine Augen durchsuchten unter den schweren Augenlidern hervor das ganze Zimmer, bevor er leise an das Bett heranschlich.

 

»Danke bestens, Schwester.« Seine Stimme klang heiser und erinnerte Luke an Lewing. Er fragte sich, ob dieser Mann vielleicht ein Verwandter von jenem wäre.

 

»Ist das Ihr Freund?« fragte die Krankenschwester.

 

»Das ist er, es stimmt schon, Miß«, sagte der Mann kopfnickend.

 

Die Schwester verschwand, und der Besucher beugte sich über Luke. Seine Kleider rochen muffig, als ob sie an einem feuchten Platze aufbewahrt worden wärm.

 

»Joe läßt sagen, daß er dir weiterhelfen will, weil du ihn nicht verpfiffen hast.«

 

»Was habe ich nicht?« fragte Luke.

 

»Verpfiffen. Frag doch nicht so dämlich! Wenn du ‚rauskommst, geh mal zu ihm.« Er steckte ein schmutziges Stück Papier unter das Kopfkissen, und Luke erkannte ein ihm gut vertrautes Knistern. »Fünf Pfund für dich. Joe läßt sagen, er wird für dich sorgen.«

 

»Gott segne ihn!« sagte Luke nachdrücklich, »wenn es jemals einen Mann gab, für den gesorgt werden müßte, so bin ich es.«

 

Kapitel 14

 

14

 

Am Tage seiner Entlassung aus dem Hospital wurde Luke Maddison gefragt, ob er einen Friseur haben wollte. Er fuhr sich über sein stachliges Gesicht, und sein Lächeln war beinahe voller Humor.

 

»Nein, ich finde mich gerade so nett«, sagte er. »Darf ich aber eitel genug sein und um einen Spiegel bitten?« Die Schwester gab ihm einen kleinen Handspiegel, und aus dem klaren Glase blickte ihm ein fremder, ungepflegt aussehender Mann mit langem Haar und Stoppelbart entgegen. Das Gesicht war blaß, die Nase spitz geworden, aber die Augen blickten so klar wie immer.

 

»Großer Gott!« murmelte er und pfiff vor sich hin.

 

»Sie sehen nicht besonders hübsch aus«, sagte die gutmütige Schwester.

 

»Bin ich niemals gewesen«, war Lukes beinahe vergnügte Antwort. Dann kam ihm ein Gedanke, und er runzelte die Stirn. »Kommt dieser verwünschte Schutzmann noch mal zurück?«

 

»Nein«, sagte sie kopfschüttelnd, »er hat eingesehen, daß nichts mit Ihnen anzufangen ist. Das Urteil der Leichenschaukommission ist in der vergangenen Woche gefällt worden. Hatten Sie das nicht in der Zeitung gelesen?«

 

»Ich kann nicht lesen«, war Lukes Antwort. Aber die Schwester lachte nur.

 

Die Leichenschau war also vorüber, und höchstwahrscheinlich hatte sich der Vorsitzende mit seiner Aussage zufrieden gegeben, daß er Lewing zufällig getroffen hatte und bei ihm war, als sie angefallen wurden. Lange Zeit darnach las er einen Zeitungsbericht und fand sich selbst beschrieben als »William Smith ohne festes Domizil«.

 

»Der Mann (so sagte die Zeitung) befindet sich immer noch in einem sehr kritischen Zustand, und der Zeuge (der Arzt des Hospitals) erklärte, daß der Verwundete seiner Meinung nach kaum vor Ablauf eines Monats eine Aussage machen könnte, die den Mord aufklären würde.«

 

Luke verbrachte den Nachmittag in einem Armstuhl am Fenster und blickte auf den Fluß hinaus. Gegenüber lag das Parlamentsgebäude. Es erschien ihm merkwürdig, daß er wenigstens fünfzig der Männer persönlich kannte, deren Anwesenheit in diesem Gebäude durch die Flagge auf dem Glockenturm bekanntgegeben war – fünfzig Männer, von denen ein jeder bereitwilligst über die Westminsterbrücke eilen würde, um ihm zu helfen. Aber er wollte keine Hilfe. Er überdachte seine Lage mit einer solchen Ruhe, als ob es sich um einen anderen Menschen handelte. All das, was bisher Wert in seinem Leben gehabt hatte, war zertrümmert. Er war heimatlos im wahrsten Sinne des Wortes, denn es gab keinen Fleck auf der Erde oder kein Wesen, die für ihn Behaglichkeit und Glück bedeuteten. Er war der Mittelpunkt eines unendlichen Horizonts, in dem kein tröstendes Licht ihm zuwinkte. Die grausame Erfahrung, die er durchgemacht hatte, hatte allen Ehrgeiz in ihm getötet; der Wille zum Leben war geschwunden. Freudig und dankbar würde er gestorben sein.

 

Merkwürdig war es, daß er selten über Lewings Tod oder über den Messerstich nachdachte, der ihn tödlich verletzt in das Operationszimmer des Hospitals gebracht hatte. Er hatte keinen Haß gegen den Mann, der ihn so schwer verletzt hatte, war beinahe belustigt, daß er so völlig unbewußt das Opfer einer Vendetta geworden war, mit der er gar nichts zu tun hatte. Er las noch einmal die Worte auf dem Stück Papier, das der geheimnisvolle Freund ihm gebracht hatte:

 

»Geh nach der Ginnett-Street 339 in Lambeth zu Mrs. Fraser. Sie wird für dich sorgen.«

 

Er kicherte leise vor sich hin. Es gab also wirklich jemand in der Welt, der für ihn sorgen wollte; das kam ihm eigentlich komisch vor. Als er diese kurze Mitteilung zum erstenmal gelesen hatte, hätte er sie beinahe zerrissen und weggeworfen; bis zu seinem letzten Tage im Hospital hatte er nicht die geringste Absicht, die betreffende »Dame« aufzusuchen – erst als er alle möglichen Pläne gemacht und wieder verworfen hatte, dachte er an diese Aufforderung. Nach dem Büro zurückzugehen, war unmöglich, irgendwo auf dem Lande besaß er eine kleine Villa, aber er erinnerte sich undeutlich, daß auch diese Margaret verschrieben worden war.

 

Er könnte England verlassen, natürlich, aber das würde Geld kosten. Die Absicht, irgendeinen der Fäden zu berühren, die ihn in sein altes Leben zurückführen könnten, lag ihm gänzlich fern. Diese Episode seines Lebens war beendet. Es gab noch Abenteuer und andere Interessen in der Welt – wer weiß, ob er diese nicht in dem schäbigen Viertel von Ginnett-Street finden würde?

 

An einem sonnigen Nachmittag verließ er das Hospital und konnte ohne jede Hilfe seines Weges gehen. Er war durch keinerlei Gepäck beschwert. Die täglichen Übungen auf der Terrasse des Hospitals hatten ihm seine Kräfte wieder zurückgegeben … er konnte allein laufen. Aber er hatte an Gewicht verloren, und seine Kleider schlotterten ihm am Körper.

 

Ginnett Street war nicht ohne Schwierigkeit zu finden, aber schließlich gelangte er doch an sein Ziel: eine schmutzige, enge Straße in Borough. Nummer 339 war ein Gemüseladen an der Ecke einer noch schmaleren Straße, in der sich ein Holzzaun befand, durch den eine schmale Tür zu einem kleinen Hofe an der Rückseite des Hauses führte. Das Geschäft sah nicht besonders einladend aus; verblaßte Plakate an den Fensterscheiben teilten mit, daß man die beste Hauskohle und Feuerholz hier kaufen könnte. Das Innere war eng und schmutzig. Hinter dem Ladentisch ein Regal, in dessen Fächern schwindsüchtige Kartoffeln und einige welke Blumenkohlköpfe lagen. In der einen Ecke des Ladens ein Haufen Kohlen, daneben eine Waage. Die Bewohner der Ginnett-Street kauften augenscheinlich ihre Kohlen pfundweise ein.

 

Er stieß die Tür auf: eine gesprungene Glocke ertönte, und nach einigen Augenblicken tauchte aus dem Hintergrunde eine Frau mit raubvogelähnlichem Gesicht und unordentlichem Haar auf, die ihn mit jener Unfreundlichkeit begrüßte, die das normale Verhalten – er entdeckte dies später – des kleinen Geschäftsmannes in diesem Viertel war.

 

»Nun«, fragte sie schroff.

 

»Ich sollte zu Ihnen kommen und –« begann er, aber sie unterbrach ihn schnell.

 

»Sind Sie der Mann aus dem Hospital? – Smith?«

 

Luke nickte lächelnd. Sie hob einen Teil der Ladentafel auf und ließ ihn durchgehen.

 

»Wollen Sie, bitte, ‚reinkommen?« Ihr Ton war respektvoll, beinah unterwürfig. »Ich dachte, Sie kämen erst morgen ‚raus.«

 

Sie ging ihm voran in ein kleines, frostiges Wohnzimmer und machte die Tür nach dem Laden sorgfältig hinter ihm zu.

 

»Ich bin froh, daß ich das Zimmer für Sie schon heute in Ordnung gebracht habe«, sagte sie, »darin bin ich groß, bei mir ist alles rechtzeitig fertig. Wollen Sie mit nach oben kommen, Mr. Wie-heißen-Sie-doch-gleich?«

 

Neugierde veranlaßte ihn, ihr zu folgen. Beim ersten Anblick dieses schmutzigen Ladens war er versucht gewesen, seiner Wege zu gehen, um einen anderen Platz zu finden, wo er sein neues Leben beginnen könnte; aber jetzt ging er beinahe vergnügt hinter der Frau her. Eine der größten Schwächen Luke Maddisons war eine unausrottbare Neugier: eine Neugier, die ihn ständig fragen ließ: Was geschieht nun?

 

Man mußte vor nicht zu langer Zeit einen kleinen Anbau an das Haus gemacht haben; der Fußboden war fester, die Türen schienen solider zu sein. Sie öffnete eine und führte ihn in ein Zimmer, dessen Behaglichkeit ihn direkt überraschte. Erwartete er doch, etwas ganz besonders Abstoßendes zu finden. Möglicherweise hätte er in einem solchen Falle das Haus verlassen und wäre seiner Wege gegangen. Aber das Bett war gut, die Laken fleckenlos, die Ausstattung einfach aber bequem, und in dem Kamin brannte ein kleines Feuer.

 

»Um die feuchte Luft zu vertreiben«, erklärte sie beinahe entschuldigend und machte ihm auf diese Weise begreiflich, daß dieser Luxus nur Ausnahme wäre.

 

Auf dem Tisch lagen einige Bogen Briefpapier, daneben Tinte und Federhalter. Sie merkte, daß er sich darüber zu wundern schien, und erklärte:

 

»Ein gewisser Jemand dachte, Sie möchten vielleicht an Ihre Freunde schreiben, vor allen Dingen deswegen, weil Sie ja keinen Brief aus dem Hospital weggeschickt haben.«

 

»Woher, zum Teufel, weiß er denn das?« fragte er verwundert.

 

Mrs. Fraser lächelte geheimnisvoll.

 

»Er weiß alles«, war ihre Antwort.

 

Augenscheinlich war er eine Person von großer Bedeutung.

 

»Sie wollen doch sicher nichts mehr mit der Bande von Lewing zu tun haben?« sagte sie, und die ganze Zeit hindurch lagen ihre blassen Augen suchend auf seinem Gesicht. »Die Polizei hat die Bande in der letzten Woche zerstreut, und das war gut. Dieser Lewing würde seine eigene Mutter um ihre letzten Ersparnisse betrogen haben!«

 

»Ein ganz gemeiner Kerl also?«

 

»Wenn Sie mit ihm etwas zusammen unternommen hätten, würde er Sie totsicher ‚reingelegt haben – besonders, da Sie ja eigentlich ein feiner Herr sind.«

 

»Eines möchte ich erst mal richtigstellen, Mrs. Fraser«, sagte Luke. »Ich bin kein Mitglied von Mr. Lewings oder irgendeiner anderen Bande gewesen und –«

 

»Weiß schon … Er wußte das auch. Aber Lewing tat sich immer groß mit den Leuten, die ihm unter die Finger kamen, und er hat Wunderdinge von Ihnen erzählt, und wie großartig Sie fahren können. Sie sind Autofahrer?«

 

»Autofahrer? O ja, ich glaube sogar ein ganz guter«, lächelte Luke.

 

»Auch Rennen gewonnen, nicht wahr?« fragte sie in ihrer monotonen Weise.

 

Und es war wirklich der Fall, daß Luke in einem Herrenfahrerrennen in Brookland gewonnen hatte, obgleich er sich keineswegs als Rennfahrer ausgeben konnte.

 

»Das dachte ich mir«, nickte sie. »Renommieren! das hat Lewing den Hals gebrochen…«

 

Luke erinnerte sich an eine Unterhaltung, die er mit dem Toten gehabt hatte.

 

»War er nicht ein Freund von Gunner Haynes?«

 

Als sie diesen Namen hörte, änderte sich der Gesichtsausdruck der Frau in ganz unvermuteter Weise. Sie verzog das Gesicht und blinzelte, als ob sie plötzlich geblendet würde.

 

»Ich weiß nichts, gar nichts von Mr. Haynes«, sagte sie zurückhaltend. »Je weniger man sagt, desto besser. Wir haben niemals Ärger mit Mr. Haynes gehabt und wollen auch keinen haben.«

 

In ihrem Tone lag etwas, das ihm ohne jeden Zweifel mitteilte, daß Furcht die Grundlage ihres Respekts für den Gunner war. Er war »Mr.« Haynes für sie, und sie war außerordentlich besorgt, nichts zu sagen, das man respektlos nennen könnte.

 

Sie machte sich geschäftig daran, ihm eine Tasse Tee zu bereiten, und er setzte sich an den Tisch. Das Briefpapier war eine große Versuchung für ihn; aber an wen hätte er schreiben sollen? An Margaret? – daran dachte er nicht einmal.

 

Wenn eine Maus in einen Bienenkorb eindringt und von den empörten Bewohnern getötet wird, dann finden diese, daß der Eindringling zu schwer ist, um herausgebracht werden zu können. Sie überziehen ihn mit Wachs, und so wird er ein Teil ihres Hauses: ein Klumpen, der einstmals lebte, aber nun keine Bedeutung mehr hat. In gleicher Weise hatte er Margaret einbalsamiert und verdeckt. Sie war für ihn eine Art Hindernis geworden, an dessen Vorhandensein er sich gewöhnen mußte.

 

Aber Steele? Was dachte wohl Steele? Und jetzt kam ihm zum erstenmal ein entsetzlicher Gedanke. Wenn Steele nun annahm, er hätte Selbstmord begangen? Wenn nun alle Zeitungen Artikel brächten über einen »Millionär« – alle Menschen in seiner Lage waren für die Zeitungen nur Millionäre – wenn nun die Flüsse durchsucht würden und eine Beschreibung von ihm veröffentlicht war? Bei dem Gedanken überlief es ihn kalt.

 

Mrs. Fraser brachte ihm ein Tasse Tee, der sich als trinkbar erwies. Er machte eine verzweifelte Anstrengung, um Auskünfte von ihr zu erhalten, die er leichter bekommen haben würde, wenn er die Zeitungen der letzten Woche durchgelesen hätte. Sie hörte geduldig seine Fragen an und schüttelte den Kopf.

 

»Nein, nichts Besonderes. Ein Mord in Finsbury, und dann hat man den Kerl gehenkt, der die alte Frau erschlagen hat.«

 

»Ich glaube mich zu erinnern, wie die Schwestern im Hospital von einem reichen Mann sprachen, der verschwunden war – seine Bank ging pleite oder so was Ähnliches… man sprach auch von Selbstmord …«

 

Sie verzog die Lippen und sagte kopfschüttelnd:

 

»Davon habe ich nichts gelesen, und das wäre mir sicher aufgefallen, denn meine Mutter hat schon all ihr Geld verloren, als die Webbick-Bank pleite ging …«

 

Als sie gegangen war, atmete er befreit auf. Möglicherweise hatte Steele der Polizei noch keinerlei Mitteilungen gemacht…

 

Er nahm einen Briefbogen und tauchte den Federhalter in die Tinte.

 

Kapitel 9

 

9

 

Super zog seinen Kopf langsam aus der Öffnung zurück.

 

»Es ist besser, daß alle hier in dem Raum bleiben. Sergeant, holen Sie einen Arzt. Mr. Ferraby, Sie können den Beamten hinfahren…, aber nein, es ist besser, daß Sie hier bleiben – es ist möglich, daß Sie vielleicht später mit dem Fall zu tun bekommen.«

 

Lattimer bot sich an, den Wagen zum Dorf zu fahren, und nachdem er sich leise mit Super verständigt hatte, fuhren sie schnell ab.

 

»Nicht, daß ein Arzt noch irgendwelchen Zweck hätte.«

 

»Was ist geschehen?« fragte Cardew zitternd. »Mein Gott – es ist doch nicht etwa Hanna?«

 

Super nickte.

 

»Ich fürchte, daß sie es ist, Mr. Cardew«, sagte er.

 

»Verletzt – oder tot?«

 

Wieder bejahte Super.

 

»Ja, Sie bleiben am besten hier im Raum. Folgen Sie mir, Mr. Ferraby. Nehmen Sie einen Stuhl und treten sie darauf.«

 

Mit unglaublicher Behendigkeit schlüpfte er durch die Öffnung in der Wand, und Jim folgte ihm.

 

»Machen Sie den Rolladen wieder zu. Ich werde die Lampe anstecken.«

 

Super hob den Glaszylinder einer kleinen Petroleumlampe ab, die auf dem Küchentisch stand, und steckte sie vorsichtig an. Er legte das Streichholz auf die Tischplatte.

 

Jim Ferraby schaute entsetzt auf die leblose Gestalt, die an der Tür lehnte.

 

»Ist es Selbstmord?« fragte er mit gedämpfter Stimme.

 

»Wenn es das ist, werden wir ja die Waffe finden«, erwiderte Super. »Sie ist tot, das ist eine Tatsache. Es tut mir leid, daß ich so kühl mit ihr umgegangen bin. Sie war in ihrer Art keine schlechte Frau.«

 

Er beugte sich nieder und schaute in das bleiche Gesicht.

 

»Es ist kein Selbstmord«, sagte er dann überzeugt. »Ich habe das auch nicht angenommen. Es ist ein Mord – aber wie? Die Tür ist auf der Innenseite geschlossen – sehen Sie den Schlüssel? Und der Rolladen zum Speisezimmer war auch geschlossen, der Schlüssel befindet sich an der Innenseite. Beachten Sie das.« Er sah nach dem schweren Rolladen, der das Fenster nach draußen schützte. Die starken Riegel waren von innen vorgeschoben.

 

Auf dem Tisch lag eine Damenhandtasche, die offensichtlich ausgeleert worden war; denn eine Menge von Kleinigkeiten, die eine Frau bei sich trägt, und ein Haufen Papiergeld waren auf dem Tisch verstreut.

 

»Fünfundzwanzig Pfund in englischem Geld und zweitausend Dollar«, sagte Super, nachdem er das Geld gezählt hatte. »Was bedeutet denn eigentlich der Ziegel?«

 

Ein roter, gebrannter Stein, der auf der Oberfläche sehr abgenützt war, lag auf dem Boden. Ein Gummisauger mit einer Schnur befand sich daran.

 

»Der ganze Fußboden ist mit roten Ziegeln belegt«, sagte Jim.

 

»Ja, das habe ich auch gemerkt.«

 

Super nahm die Lampe, beugte sich nieder und suchte den Fußboden ab. Unmittelbar unter der Mitte des Tisches war ein längliches Loch, in das der Ziegel genau hineinpaßte.

 

»Der Gummisauger hat dazu gedient, den Stein in die Höhe zu heben. Das haben wir, als Jungen auch schon gemacht«, sagte Super in Gedanken. »Heutzutage nennt man so etwas einen Vakuumheber. Auf diese Weise hat er oder sie den Stein gehoben.«

 

Er kniete nieder, stellte die Lampe neben sich auf den Fußboden und untersuchte die Öffnung genau.

 

»Hier muß etwas verborgen gewesen sein, und sie ist hergekommen, um es zu holen. Ich wunderte mich vorher, warum sie nur so kurz hier blieb.«

 

»Aber wie ist sie denn nachher wieder zurückgekommen? Die Eingangstür haben wir doch von draußen verschlossen gefunden.«

 

Super schüttelte den Kopf.

 

»Ich muß jetzt über eine Menge Dinge nachdenken. Jedenfalls steht das fest: sie kam aus einem bestimmten Grund hierher!«

 

Er kniete wieder vor der stillen Gestalt nieder. Er hatte seine kalte Pfeife zwischen den Zähnen, und seine Stirn lag in noch tieferen Falten als gewöhnlich.

 

»Ich darf sie nicht bewegen, bevor der Arzt kommt«, sagte er und erhob sich wieder. »Sie ist aus kurzer Entfernung erschossen worden – er muß etwa hier gestanden haben – auf dieser Seite des Tisches … Ungefähr hier …« Er zeigte die Stelle. »Wahrscheinlich war es eine automatische Pistole, obgleich ich die Patronenhülse nirgends sehen kann. Sie stand rechts von der Tür. Sehen Sie die Spuren, die die Kugel in der Wand hinterlassen hat? Dann machte sie noch einen Schritt vorwärts und sank an der Tür nieder. Die Kugel ging mitten durch ihr Herz. Es kommt ja öfters vor, daß tote Leute noch einen oder zwei Schritte vorwärts gehen. Den linken Handschuh hat sie noch an, der rechte ist abgelegt. Sie beabsichtigte nicht zu bleiben. Bemerken Sie irgend etwas, Mr. Ferraby – irgend etwas Besonderes?«

 

Jim schüttelte hilflos den Kopf.

 

»Es sind so viele Dinge bemerkenswert, daß ich nichts unterscheiden kann«, sagte er.

 

Super rümpfte die Nase.

 

»Cardew würde es vor mir gesehen haben«, sagte er dann. »Sie hat keinen Hut auf und keinen Mantel an.«

 

Hanna Shaw war tatsächlich ohne Hut und Mantel.

 

»Betrachten Sie den Kleiderhaken an der Wand … bemerken Sie etwas auf dem Boden?«

 

»Wasser«, sagte Jim.

 

»Das ist von ihrem Regenmantel heruntergelaufen. Sie hängte ihn jedenfalls auf, als sie zuerst hierherkam. Wo hat sie ihren Mantel und ihren Hut gelassen?«

 

»Wahrscheinlich in einem der anderen Zimmer.«

 

»Sie sind nicht im Haus. Ich habe nicht alles genau durchsuchen können, aber dafür habe ich einen guten Blick. Solche Kleidungsstücke sind nicht im Haus.«

 

Super sprach in aufgeregtem Ton, und es war, als ob er einen persönlichen Triumph feiere.

 

»Hier ist der Arzt«, sagte er. »Er wird durch das Loch in der Wand klettern müssen – und wenn er korpulent ist, wird es ihm ungemütlich dabei werden.«

 

Der Arzt war aber ein junger Mann, für den es eine Kleinigkeit war, auf diesem Weg in die Küche zu gelangen.

 

Es bestand kein Zweifel, wie sein Urteil lauten würde.

 

»Nein, ich kann nicht genau sagen, wie lange sie tot ist. Aber sicher über eine Stunde. Ich habe nach einem Krankenwagen telefoniert. Sergeant Lattimer erzählte mir, was vorgefallen ist.«

 

Super sah auf seine Uhr, es war halb vier.

 

»Ich will warten, bis sie weggebracht worden ist, bevor ich etwas unternehme.«

 

Als einige Minuten später das Krankenauto ankam und die bedauernswerte Frau fortgeschafft wurde, zog Super die Riegel von den Läden zurück und öffnete das Fenster. Nur Jim und er blieben zurück. Mr. Cardew war in völlig erschöpftem Zustand mitgenommen worden, und auch Lattimer war mit dem Krankenwagen gefahren, um einen Bericht zu machen.

 

»Es ist noch hübsch dunkel, obwohl es gleich vier ist«, sagte Super und schaute aus dem Fenster. »Aber es regnet noch. Schönes englisches Sommerwetter. Sehen Sie sich einmal das an.«

 

Er legte ein längliches, gelbes Kuvert auf den Tisch. »Das habe ich unter ihr gefunden, als sie aufgehoben wurde.«

 

Jim prüfte den Umschlag.

 

»Leer«, sagte er und las dann die maschinengeschriebene Adresse. Der Atem verging ihm fast.

 

DR. JOHN W. MILLS

Laichenbeschauer von West-Sussex,

Hailsham, Sussex.

 

»Dann war es – Selbstmord?«

 

Super faltete das Kuvert, bevor er antwortete.

 

»Doktor Mills ist seit fünf Jahren nicht mehr im Amt. So lange ist er nämlich tot – ich erinnere mich deutlich an sein Begräbnis.«

 

»Aber wer schrieb denn das?«

 

»Sie wußten es sicher nicht«, sagte Super mit einem Anflug seiner alten Geheimnistuerei.

 

Jim beobachtete ihn, wie er die Küche durchsuchte, in Öfen spähte, Schränke öffnete, Schubladen aufzog, und die Tragödie begann ihm klarzuwerden. Es war alles so plötzlich und unerwartet gekommen, daß er die wahre Bedeutung nicht gleich erfassen konnte. Und sonderbar genug, sein erster Gedanke war, welche Wirkung wohl dieses gräßliche Ereignis auf Elfa Leigh haben mochte. Sie würde sicher ungeheuer erschrecken.

 

»Es ist wirklich ein wundervoller Mord«, sagte Super mit einem ekstatischen Seufzer, als er seine Pfeife anzündete. »Ich bin froh, daß ich den Kommissar gefragt habe. Er ist ein guter Kerl, und vielleicht überläßt er mir den Fall. Der Mann weiß, wann ein Ding in guten Händen ist. Er ist intelligent. Ich wundere mich, daß sie ihn in Scotland Yard behalten. Wenn er einen anderen mit der Sache betraute, würde er nicht für seine Aufgabe passen. Wenige sind tüchtig. Sie werden beauftragt, weil ihre Frauen Beziehungen zum Staatssekretär haben …«

 

Und er fuhr fort, anzügliche Reden zu führen.

 

»Aber es ist keine Waffe hier«, sagte er später. »Ich habe auch keine Patronenhülse auf dem Boden gefunden, und wir haben nur ein leeres Kuvert an den Leichenbeschauer in Händen … Hat Miss Shaw eine Schreibmaschine benutzt? Wissen Sie das vielleicht, Mr. Ferraby?«

 

»Ich glaube, ja. Cardew erzählte mir, daß sie eine alte Maschine besäße.«

 

»Die Adresse ist von jemand geschrieben, der wenig Übung im Tippen hat«, sagte Super und zog das Kuvert aus seiner Tasche. »Das Wort Leichenbeschauer ist falsch geschrieben. Ich muß diesen Umschlag nach Fingerabdrücken untersuchen lassen.« Er hatte das Geschoß, einen verbogenen Stahlzylinder, aus der Wand gezogen und legte es auf den Tisch. »Die Waffe war eine Schnellfeuerpistole mit zweiundvierziger Kaliber«, sagte er. »Dasselbe Kaliber wie jenes in dem Patronenrahmen, den wir auf dem Rasen fanden. Man kann keine Schlußfolgerungen daraus ziehen. Diese automatischen Pistolen werden jetzt nur noch in zwei Größen hergestellt, und es ist nicht wahrscheinlich, daß Miss Shaw eine besaß. Frauen fürchten sich gewöhnlich vor Schußwaffen ganz abgesehen davon hätte es Cardew gewußt.«

 

»Wo ist er hingegangen?« fragte Jim.

 

»Ins Grand Hotel nach Pawsey.« Super lachte in sich hinein. »Wenn dieser Theorienmensch Tatsachen gegenübersteht, ist er sofort erledigt. Und hier haben wir eine starke Tatsache – gewaltsamen Tod. In einem bequemen Lehnsessel zu sitzen und sich die Zeit mit dem Ausdenken von Theorien zu vertreiben, ist ja ganz schön; aber mit den gemeinen Widerwärtigkeiten des Lebens zusammenzustoßen und blutige Vorfälle aus nächster Nähe zu beobachten, dazu gehört doch noch etwas anderes …« Er hielt inne und beugte den Kopf lauschend vor. Durch das offene Fenster hörte man das ununterbrochene Rauschen der Brandung.

 

»Es macht sich jemand an der Tür zu scharfen«, sagte er. Er nahm die Lampe und ging leise auf den Gang.

 

Jim vernahm das Geräusch auch, und es wurde ihm unheimlich zumute. Er hörte, wie jemand mit den Händen an der Holztäfelung entlangtastete, und dann sah er, wie die Türklinke heruntergedrückt wurde.

 

Super schaute ihn an und winkte ihm. Jim Ferraby bewegte sich leise zur Tür, drehte den Schlüssel blitzschnell herum und öffnete mit einem Ruck.

 

Auf den Treppenstufen stand eine schlanke Gestalt, von Regen durchnäßt und gänzlich erschöpft. Sie schaute dem jungen Mann verständnislos ins Gesicht.

 

»Helfen Sie mir«, sagte sie leise, als sie vorwärtstaumelte und in seine Arme sank.

 

Es war Elfa Leigh.

 

»Bewegen Sie sich nicht – horchen Sie!«

 

Super stieß diese Worte leise hervor, und Jim stand regungslos da und hielt das bewußtlose Mädchen im Arm. Aus der Dunkelheit kam ganz fern der traurige Gesang:

 

»Zum Donnerwetter!« sagte Super, als er die Lampe niedersetzte und im Dunkeln verschwand.

 

Kapitel 7

 

7

 

Die Straßenlaternen brannten, und der letzte Schimmer des Tageslichts verschwand im Westen, als Ferrabys großer Wagen in schnellem Tempo die Hauptstraße einer Vorstadt entlangfuhr und vor der ländlichsten aller Polizeistationen Londons anhielt. Super saß in seinem kleinen Büro, war gerade dabei, eine große, schwerverdauliche Pastete zu verzehren und hatte eine dampfende Tasse Kakao vor sich stehen. Er schaute auf und deutete auf einen Stuhl.

 

»Nehmen Sie bitte Platz«, sagte er undeutlich. Dann goß er mit einem einzigen Zug den brühheißen Inhalt seiner Tasse hinunter und trocknete sich die Lippen mit einem Taschentuch ab, das schon bessere Tage gesehen hatte. Er nahm eine Zigarrenkiste aus der Schublade seines Schreibtisches und bot sie Jim an.

 

»Nein, ich danke, Mr. Minter«, sagte Ferraby schnell.

 

»Was ist denn mit Ihnen los?« fragte Super verletzt. »Ich wüßte niemand, der diese Zigarren nicht gern möchte.«

 

»Seien Sie mir nicht böse«, sagte Jim.

 

»Die Sitten des Landes geraten immer mehr in Verfall«, sagte Super traurig, als er mit einem Streichholz einen giftig aussehenden Glimmstengel anzündete. »Ich muß allerdings zugeben, daß diese Zigarren schon mehr Leute umgeworfen haben, als ich zählen kann.«

 

Er blies übelriechende Rauchwolken in die Luft, und die Zigarre schien ihm sehr gut zu schmecken.

 

»In Amerika können Sie diese Zigarre nicht unter zehn Cent das Stück kaufen – dort ist sie auch gewachsen.«

 

»Ich muß sehr um Entschuldigung bitten, wenn ich das nicht glaube.«

 

»Sie ist auch nur aus heimischem Tabak gemacht«, gestand Super. »Es ist eine Art vaterländischer Versuch, und wenn Sie erst einmal daran gewöhnt sind, finden Sie sie gar nicht so schlecht. Unser Abteilungsarzt bei der Polizei hat sogar gesagt, daß sie gesund sei. Nach seiner Meinung kann selbst kein Ziegenbock im Umkreis von einer Meile am Leben bleiben, wenn eine solche Zigarre geraucht wird. Auch behauptet er, daß er lebhaft an den Krieg erinnert wird, wenn er hierherkommt. Er hat nämlich eine Gasvergiftung in Frankreich hinter sich.«

 

Super hustete und schüttelte sich: Dann schaute er verzweifelt auf seine Zigarre und warf sie in den Kamin.

 

»Eine ist nicht so gut wie die andere«, sagte er und stopfte seine Pfeife. »Wir werden bald aufbrechen.« Er sah nach seiner Uhr. »Ich habe Lattimer schon vorausgesandt. Er ist ein ganz brauchbarer Mann. Aber wenn etwas herauskommen sollte, so war er nicht dabei.«

 

»Sie meinen, wenn es irgendwelche Unannehmlichkeiten gibt, weil Sie außerhalb Ihres Bezirks arbeiten?«

 

»Ich habe Lattimer gerne, obgleich ich es ihn niemals merken lasse«, sagte er. »Ein junger Mann wird gleich übermütig, wenn man ihn gut behandelt. Und er ist temperamentvoll, geradeso wie ich. Und dann ist er auch ein wenig faul.«

 

Als Super aufstand, um Hut und Mantel zu holen, glaubte Jim eine passende Gelegenheit gefunden zu haben, ihm die Geschichte von den Banknoten in Form eines großen lateinischen ›B‹ zu erzählen, die er heute von Elfa erfahren hatte. Super hörte gespannt zu.

 

»Elson war die Nacht dort?« fragte er. »Das ist doch ein prachtvolles Zusammentreffen, denn diese Frau hat Elson gern, wenn meine Beobachtungen und Schlußfolgerungen stimmen. Und obendrein scheint sie ihn in der Hand zu haben. Mir dämmert schon ein wenig davon, wie sehr wir auf dem Posten sein müssen, um alles zu verstehen, was wir heute nacht zu sehen bekommen werden – ich wünschte nur, Mr. Cardew wäre auch da.«

 

Als Jim eine Frage stellte, schüttelte er den Kopf.

 

»Nein, wir haben keinen Landstreicher aufgegriffen. Das ist gar nicht so merkwürdig, wie Sie vielleicht denken. Die Gegend ist unübersichtlich, ab und zu mit Bäumen bestanden, und was noch mehr ins Gewicht fällt, Cardews Grundstück liegt nur in kurzem Abstand von der südlichen Hauptstraße. Leere Marktwagen verkehren dort den ganzen Tag über, und es ist sehr leicht, auf einen solchen Wagen zu klettern und sich unter der regendichten Decke zu verbergen. Und da wir gerade über wasserdichte Decken sprechen …«

 

Er ging zum Fenster und schaute zum Himmel auf, kam wieder zurück und klopfte an ein Barometer, das auf seinem Tisch stand.

 

»Vermutlich wird es regnen – haben Sie einen Gummimantel bei sich?«

 

»Ja, er liegt im Wagen.«

 

»Sie werden ihn nötig haben«, meinte Super lakonisch.

 

Der Mond schien schwach durch dichtes Gewölk, als sie die Horseham Road entlangfuhren. Sie waren kaum zwölf Meilen unterwegs, als es am südlichen Horizont wetterleuchtete und kleine Staubwirbel sich im Lichtkegel der Autoscheinwerfer zeigten. Super saß zusammengekauert an Jims Seite und sprach lange Zeit kein Wort. Als sie an der äußeren Grenze von Horseham waren, begann es zu regnen. Jim hielt an, um das Verdeck hochzumachen. Man konnte das Rollen des Donners hören.

 

»Ein schönes Gewitter«, sagte Super. »Da ist nichts Spitzfindiges dabei – Gewitter sind Tatsachen, und die braucht man nicht psychologisch zu ergründen. Es ist gerade so, als ob man einen Mann auf frischer Tat ertappt.«

 

Der Wagen hatte Horseham hinter sich, und sie fuhren die Worthing Road entlang.

 

»Wenn eine Frau sich in den Kopf gesetzt hat, zu heiraten, dann ist sie gerade so vernünftig wie ein hungriger Wolf im Fleischerladen. Ich möchte nur wissen, was das ›B‹ zu bedeuten hatte.«

 

»Ich vermute, daß es mit Großfuß zusammenhängt«, meinte Jim.

 

Die Wolken vor ihnen wurden durch hellerleuchtete Blitze zerrissen, und Super wartete mit seiner Antwort, bis das Krachen und Rollen des Donners vorüber war.

 

»Mit Großfuß? Ja, das ist möglich. Warum glauben Sie eigentlich, daß ich mein Leben in dieser stürmischen Nacht riskiere, mitten in der Wut der Elemente? Meinen Sie etwa, ich will meine Neugierde wegen Hanna Shaw befriedigen? Nein, das ist es nicht, ich will« – er sprach langsam und betonte jedes Wort – »ein Geheimnis enthüllen, das ist der richtige Ausdruck.«

 

»Und was ist das für ein Geheimnis, wenn es nicht das merkwürdige Betragen Hanna Shaws ist?« fragte Jim etwas belustigt.

 

»Ich bin einem Geheimnis auf der Spur«, sagte Super und nickte feierlich. »Seit sechseinhalb Jahren. Es ist das Geheimnis einer Verabredung, die niemals eingehalten wird.«

 

Jim schaute ihn verwundert an.

 

»Das ist aber sehr sonderbar, Super.«

 

»Es ist nichts Sonderbares dabei«, sagte Minter selbstgefällig. »Das ist eine nackte Tatsache. Genau wie die Blitze dort und die Himmelsartillerie, wenn ich diesen schönen Ausdruck gebrauchen darf, den ich neulich in einem Buch gelesen habe. Sechseinhalb Jahre – das ist eine lange Zeit. Aber für einen alten Mann bedeutet es nur eine kurze Spanne. Wenn es auch lange dauert, schlägt es doch endlich ein. – Er bat mich, daß ich in sein Haus in Chellamore kommen möchte. Sein Name war Sir Joseph Brixton. Er war sogar ein Stadtrat der City. Jetzt ist er tot, und man nimmt allgemein an, daß er im Himmel ist. Aber damals bat er mich, zu ihm zu kommen, und als ich hinkam, war er nicht zu Hause. Wenigstens ließ er bestellen, daß er nicht zu Hause sei. Sein Diener brachte mir einen Brief, in dem er mir für die Mühe dankte, die ich mir gegeben hätte. Es lagen zwei Zehnpfundnoten bei, die ich zu wohltätigen Zwecken benutzte.« Super machte eine Pause. »Und diese Wohltätigkeit beginnt in meinem eigenen Haushalt.«

 

»Was in aller Welt hat denn das mit unserem wilden Abenteuer in der Nacht zu tun?« fragte Jim.

 

»Sehr viel – jetzt erst fange ich an, mich über unsere Fahrt heute abend zu freuen. – Ich hoffe, daß Lattimer einen Regenmantel hat.«

 

»Wissen Sie, warum Brixton nach Ihnen geschickt hatte?«

 

Super nickte im Dunkeln.

 

»Das weiß ich. Und ich weiß auch, warum er seine Verabredung nicht einhielt.«

 

»Aber Sie sagten doch …«, begann Jim.

 

»Ich weiß das Warum, aber das Wie ist mir ein Rätsel.«

 

Der Regen strömte nieder, und die Blitze zuckten unaufhörlich. Jim bog von der Poststraße in eine Nebenstraße ein, die nach dem Ort Groß-Pawsey führte.

 

Das alte Dörfchen lag in vollständiger Dunkelheit da, nur aus den Fenstern des Gasthauses drang Licht. Das Auto fuhr jetzt an breiten, grünen Rasenflächen und Gebüschen vorüber und wandte sich dann zu dem tieferliegenden Küstenweg.

 

Groß-Pawsey lag von Klein-Pawsey ungefähr zehn Kilometer entfernt – Klein-Pawsey wurde es noch auf den Karten des 19. Jahrhunderts genannt; aber es hat längst seine Vorsilbe verloren. Das kleine Fischerdorf hatte sich in ein elegantes Bad verwandelt. Der Name Pawsey war in riesengroßen Buchstaben aus elektrischen Lampen an den Klippen nach der See angebracht. Es besaß einen großen Wintergarten, eine Promenade und einen modernen Anlegeplatz für Dampfer. Kapellen spielten in seinen herrlich angelegten Gärten, bedeutende Schauspieler traten auf den Bühnen seiner Theater auf, und es gab Hotels von solcher Größe und Bedeutung dort, daß allein schon ihre Portiers große Herren waren.

 

Zwei Wege verbanden Pawsey mit dem kleinen Dorf gleichen Namens. Der eine führte parallel zu den Klippen durch die Dünen, der andere unten an der Küste entlang. Der erste war vollständig mit einer Schotterschicht überzogen und großartig beleuchtet, der zweite war verfallen und kaum noch ein Fahrweg zu nennen. Auf die Herstellung und Unterhaltung des höheren Weges hatten die Gemeinde und der Stadtrat Von Pawsey alles Geld ihrer Steuerzahler verschwendet, auf den anderen Weg dagegen nichts. Seit langer Zeit war diese Straße ein Streitobjekt zwischen dem Kriegsministerium, das dort ein großes Stück Küstenland besaß, und den Stadtvätern. Und so war sie in dem Zustand geblieben, in dem sie sich schon zu der Zeit unserer Vorväter befand. Hier und da brachten die Zeitungen einen heftigen Artikel mit einer Überschrift von riesengroßen Buchstaben: »Der Zustand der Küstenstraße ist ein Skandal.« Ausfallende Bemerkungen und Feststellungen wurden in großen Versammlungen gemacht, die das Kriegsministerium beschuldigten, daß es sich nicht an den Kosten der Straßenreparatur beteiligen wolle. Aber das Resultat all dieser Reden und der vielen Artikel war schließlich nur, daß alles beim alten blieb.

 

»Es ist wirklich eine verteufelt schlechte Straße«, sagte Super, als der Wagen mit vielen Stößen über den holprigen Weg fuhr. »Wir wollen in dem alten Steinbruch halten, wenn Sie nichts dagegen haben.«

 

»Kennen Sie den Platz?« fragte Jim überrascht.

 

»Amtliche Karte«, war die Erklärung. »Habe sie den ganzen Morgen studiert. Das Haus liegt fünfhundertfünfzig Meter vom Fuße des Hügels und vier Kilometer von Pawsey entfernt. Wir müßten eigentlich Lattimer an dieser Stelle finden. – Blenden Sie die Lichter ab, Ferraby.«

 

Lattimer stand im Schutz einer überhängenden Felsenpartie und war in einen vollständig nassen und glänzenden Regenmantel gehüllt. Sie wären an ihm vorbeigefahren, ohne ihn zu sehen, wenn er nicht aus seinem Versteck herausgetreten wäre.

 

»Es ist bisher niemand zu dem Haus gekommen«, berichtete er, als sie aus dem Wagen stiegen.

 

»Das ist aber sonderbar – Miss Shaw ist doch schon heute morgen hierhergefahren«, sagte Jim.

 

»Ich hätte mich sehr gewundert, wenn sie gekommen wäre«, warf Super ein. »Ich wußte, daß sie nicht hierherfuhr.«

 

Ferraby wurde stutzig.

 

»Das ist meine Schlußfolgerung«, sagte Super selbstzufrieden. »Logische Schlußfolgerung, auch möglich, daß etwas Psychologie dabei ist.«

 

»Aber woher wissen Sie denn, daß sie heute morgen nicht hierherkam?« fragte Jim hartnäckig.

 

»Weil Lattimer es mir vor einer Stunde durch das Telefon gesagt hat. Das ist ganz einfache Polizeilogik – man stellt eine Schildwache auf den Platz und läßt sie durch die Strippe reden. Und außerdem ist es auch ein logischer Schluß – ich schließe nämlich aus seiner Beamtenstellung, daß er mir die Wahrheit sagen wird. Wir wollen den Wagen hier rechts seitlich unterstellen, damit ihn niemand sehen kann, Mr. Ferraby. – Leuchten Sie einmal mit Ihrer Taschenlampe, Sergeant … Nun aber, bitte, alle Lichter aus.«

 

Unbarmherzig strömte der Regen nieder, obgleich das Gewitter vorübergezogen war. Bei dem Wetterleuchten draußen auf der See sahen sie den Weg, als sie die Straße entlanggingen. Manchmal half auch der Sergeant mit seiner Lampe.

 

Beach Cottage, das Haus Mr. Cardews, erhob sich zwischen der Straße und dem Meeresufer. Es war ein niedriges, viereckiges Steingebäude, von einer brusthohen Ziegelmauer umgeben. Auf jeder Seite des Hauses war für Durchfahrten eine Öffnung in der Umfassungsmauer.

 

»Sind Sie sicher, daß niemand im Hause ist?«

 

»Ich bin meiner Sache ganz sicher. Die Tür ist von außen mit einem Vorhängeschloß geschlossen.«

 

»Was ist das hinten für ein Gebäude – eine Garage?«

 

Jim konnte kein anderes Gebäude sehen, aber Super hatte Augen wie eine Katze.

 

»Nein, das ist ein Bootshaus. Es ist leer. Als Mr. Cardew das Haus bewohnte, hatte er dort ein langes Ruderboot, wie mir ein Bootsmann erzählte. Aber er hat es später verkauft.«

 

Super untersuchte die Tür und die Fenster, ohne etwas zu finden.

 

»Sicher konnte sie nicht hineinkommen«, sagte Jim. »Wahrscheinlich hat sie das Unwetter abgehalten.«

 

Super brummte etwas, als ob das Unwetter Hanna Shaws Plänen sehr zustatten käme.

 

»Ich behaupte nicht, daß sie bestimmt kommen wird. Es ist möglich, daß ich da nur eine Theorie aufgestellt habe. Es ist ja immer schlimm, wenn ich zuviel denke.«

 

Jim hatte noch nie ein so verlassenes Haus gesehen. Auf der einen Seite dehnte sich die Küste, auf der anderen, jenseits der Straße, stiegen die steilen Klippen empor, die man aber in der stockdunklen Nacht nur ahnen konnte.

 

»Die Gegend ist sehr reich an Höhlen«, sagte Lattimer. »Die meisten sind aber nicht zugänglich.«

 

Sie gingen langsam wieder zu der Stelle zurück, wo sie den Wagen versteckt hatten.

 

»Ich wundere mich, daß eine so lebhafte Nachfrage nach Cardews Sommerhaus besteht«, sagte Jim.

 

»Was meinen Sie damit?« fragte Super. »Das ist gerade ein Platz, an den ich mich gerne zurückziehen möchte, wenn ich einmal in Pension gehe. Ich wette, daß es bei Sonnenschein ein wunderbares Plätzchen ist. Und nachts braucht man doch nur zu schlafen.«

 

Er hüllte sich fröstelnd in seinen Mantel, und Jim bemerkte, wie er auf das Leuchtzifferblatt seiner Armbanduhr sah.

 

»Es ist fast elf Uhr – wir wollen ihr bis zwölf Uhr Zeit geben. Wenn dann nichts passiert ist, muß ich Sie um Verzeihung bitten.«

 

»Was vermuten Sie hier zu finden?« fragte Jim. Er drückte jetzt in Worten aus, woran er schon den ganzen Abend gedacht hatte.

 

»Das ist sehr schwer zu sagen«, entgegnete Super. »Sehen Sie, wenn eine alte Jungfer in die Jahre kommt und mannstoll wird, und wenn sie schon damit droht, daß was passiert, wenn sie sich nicht verheiratet, dann habe ich alle Veranlassung, mich um die Sache zu kümmern. Es ist möglich, daß ich mehr erwartet habe, als wir hier finden, möglich –«

 

Plötzlich ergriff er Jims Arm und zog ihn zur Seite.

 

»Schnell hinter den Felsen«, stieß er hervor.

 

Kapitel 8

 

8

 

Hinten auf der Straße tauchten zwei schwache Lichter auf. Es waren die Scheinwerfer eines heranfahrenden Autos.

 

Jim stolperte, ging dann näher zu den Klippen und fand dort ein Versteck. Super trat dicht an seine Seite. Lattimer lag flach auf dem Boden hinter ihm. Der Wagen kam schnell näher. Jim hatte eine so rasche Fahrt auf dieser schlechten Straße für unmöglich gehalten. Als der kleine, offene Wagen vorbeisauste, sah er undeutlich eine dunkle Silhouette – eine Frau mit einem breitkrempigen Hut, die sich nach vorne neigte, damit ihr der Regen nicht ins Gesicht schlug.

 

Nach ein paar Sekunden fuhr das Auto durch eine der Öffnungen in der Umfassungsmauer und stand vor der Haustür still.

 

»Sie öffnet die Tür«, flüsterte Jim, als das Knarren eines Schlüssels durch den Wind zu ihnen herübergetragen wurde.

 

Super war ganz still. Erst als sie hörten, wie die Tür zugeworfen wurde, erhob sich Super.

 

»Nicht sprechen!« flüsterte er seinen Begleitern warnend zu und ging auf das Gebäude zu.

 

Der Wagen stand direkt vor der Haustür. Super wand sich wie eine Katze, ging vorsichtig heran und fühlte den Kühler an. Er war mit dem Resultat zufrieden. Dann ging er um das Haus herum auf die Rückseite. Kein Laut kam aus dem Innern des Hauses, kein Licht war sichtbar. Als er zur Tür zurückkam, sah er das geöffnete Vorhängeschloß lose herabhängen. Er beugte sich vor und horchte angestrengt. Aber er hörte nichts. Dann kehrte er wieder zu den beiden Männern zurück, die er an der Mauer zurückgelassen hatte.

 

»Es muß noch jemand anders kommen«, sagte er. »Sie bleibt hier nicht über Nacht … Sie hat irgend etwas Besonderes vor.«

 

Sie gingen zu den Felsen zurück, hinter denen sie sich versteckt hatten, und warteten auf das, was sich ereignen sollte. Eine Viertelstunde verging, eine halbe Stunde – dann hörten sie, wie sich die Tür öffnete und wieder schloß und wie das Vorhängeschloß wieder befestigt wurde.

 

»Sie bleibt nicht da.« Super war erstaunt. Man hörte aus dem Ton seiner Stimme, wie enttäuscht er war. »Zum Donnerwetter treten Sie in Deckung! Sie blendet ihre Scheinwerfer ganz hell auf!«

 

An dem kleinen Wagen, der bis dahin unsichtbar war, strahlten plötzlich für eine Sekunde zwei helle, weiße Lichtkegel auf, dann wurden sie sofort wieder abgeblendet. Der Wagen fuhr durch die Öffnung in der Umfassungsmauer heraus und wandte sich auf der Straße wieder ihnen zu. Sie hatten kaum genügend Zeit, sich zu verbergen, als die Scheinwerfer plötzlich wieder hell aufleuchteten. Wieder konnten sie den vorwärtsgebeugten Kopf und den Hut mit dem breiten Rand erkennen. Dann war das Auto an ihnen vorbei, und sie sahen nur noch den schwachen Schimmer des Schlußlichtes.

 

Super trat vor und war sehr mißgestimmt.

 

»Ich muß um Entschuldigung bitten«, sagte er. »Beide – sowohl Schlußfolgerung als auch Psychologie – sind eitle Dirnen, die einen im Stich lassen und verraten. Sie geht ins Haus und kommt wieder heraus, verschwindet – kein Mensch weiß, woher und wohin. Wenn wir ein wenig Glück hätten, wäre es möglich, sie einzuholen und ihrer Spur zu folgen, um festzustellen, wo sie sich wirklich aufhält.«

 

Sie mußten noch eine Strecke gehen, bevor sie Jims Wagen erreichten. Aber inzwischen hatte sich etwas Unangenehmes ereignet – einer der Reifen war undicht geworden, und man mußte das Rad wechseln. Sie beeilten sich, aber als sie fertig waren, konnten sie den Ford nicht mehr einholen.

 

In Groß-Pawsey setzten sie den Schutzmann des Ortes durch ihre Fragen in Erstaunen; aber er konnte ihnen keine Auskunft geben. Er hatte wohl zwei Wagen kommen sehen, aber bis zu diesem Augenblick war noch keiner wieder zurückgefahren.

 

»Ich lasse Sie hier, Lattimer – es ist möglich, daß man Sie hier verhaftet, aber ich brauche jemand auf Wachtposten.«

 

Sie fuhren im Sturm nach Horseham zurück. Die Donner rollten schwer, als Jim todmüde seinen Wagen vor Supers Büro zum Stehen brachte.

 

»Kommen Sie herein und trinken Sie Kaffee mit mir«, sagte Super, der sich während des ganzen Rückweges zur Stadt in Schweigen gehüllt hatte. »Ich glaube, daß ich besser denken kann, wenn ich nicht im Regen bin. Es tut mir sehr leid, daß ich Sie wegen dieser nichtssagenden Angelegenheit mitgenommen habe, Mr. Ferraby. Großfuß – hm – möglicherweise haben wir den Kerl verpaßt.«

 

Super saß durchnäßt in seinem Stuhl, und sein Gesicht nahm einen harten Ausdruck an.

 

»Ich bin wirklich nicht zufrieden. Sie kann nicht nach Pawsey gefahren sein – ich habe auf die Radspuren geachtet, als wir durchfuhren. Sie ist auch nicht durch Groß-Pawsey gefahren der aufmerksame Beamte hat keinen Ford zurückkommen sehen, und ich glaube ihm durchaus. Er ist ein braver Mann; ich hatte ihn bei mir in einem Fall, als ich noch in Scotland Yard beschäftigt war. Sie ist nicht nach Pawsey gekommen, darauf will ich schwören. Wir fuhren doch über das letzte Ende der Straße, als ich Sie halten ließ. Die Straße ist sehr hell erleuchtet, und es waren überhaupt keine Autospuren zu sehen. Es ist möglich, daß Lattimer mir Neuigkeiten berichtet – ich habe ihn gebeten, mich anzurufen.«

 

In diesem Augenblick kam der Sergeant vom Dienst herein.

 

»Es wünscht Sie jemand aus Groß-Pawsey zu sprechen, Herr Oberinspektor.«

 

Super stand von seinem Stuhl auf und begab sich zu dem altmodischen Wandtelefon im anstoßenden Wachraum.

 

»Lattimer ist hier, Super. Ich habe den Fordwagen aufgefunden.«

 

»Wo?«

 

»Oben auf der Höhe der Klippe – er muß von dem Weg, der unten an der Küste entlangführt, abgebogen sein. Der Platz heißt Seahill.«

 

»Waren die Lampen an oder aus?« fragte Super schnell.

 

»Aus – dann war da noch etwas Merkwürdiges – quer über die Rückwand stand mit Kreide das Wort ›Großfuß‹ geschrieben.«

 

»Großfuß? Wie? Sonst noch etwas? War niemand bei dem Wagen?«

 

»Nein!«

 

Supers Gedanken arbeiteten schnell.

 

»Wecken Sie den Sergeanten des Ortes und rufen Sie den Polizeichef in Pawsey an. Sie können auch noch den Höhenrand der Klippen absuchen und die Straße, die unterhalb vorbeiführt, ob Sie jemand finden. Ich werde schnell zurückkommen. Haben Sie das Haus weiter beobachtet? – Gut!«

 

Er hängte den Hörer wieder ein und wiederholte Jim den Hauptinhalt der Nachrichten des Beamten.

 

»Ich muß sofort wieder hin, um nachzusehen; aber ich muß es erst mit Scotland Yard ausmachen. Gehen Sie und sehen Sie zu, ob Sie Cardew finden können, und holen Sie von ihm die Schlüssel des Hauses. Kommen Sie so schnell wie möglich zurück.« Mr. Gardew hatte eine kleine Wohnung in der Nähe von Regent ’s Park, wo er sich aufhalten konnte, wenn er eine Nacht in der Stadt zubrachte.

 

Jim hatte Glück; denn die äußeren Türen solcher Wohnungen sind um Mitternacht verschlossen, und es ist nur möglich, hineinzukommen, wenn man alle zwölf Familien im Hause aufweckt. Aber zufällig kam er gerade in dem Augenblick an, als eine lustige Gesellschaft aus einem Tanzklub zurückkehrte. Er stieg die Treppe zum dritten Stockwerk hinauf, wo Mr. Cardews Wohnung war.

 

Der Anwalt hatte einen leichten Schlaf, und als Jim zum zweitenmal an die Tür klopfte, sah er, wie Licht in dem Gang gemacht wurde und sich die Tür so weit öffnete, wie es die vorgelegte Sicherheitskette gestattete.

 

»Um Himmels willen, Ferraby!« sagte Cardew, als er die Kette löste. »Treten Sie näher. Was in aller Welt bringt Sie um diese Stunde zu mir?«

 

In kurzen Worten erzählte ihm Jim von dem Abenteuer dieser Nacht.

 

»Sicherlich werden Sie mir unter diesen Umständen verzeihen, daß ich Minter von dem Drohbrief erzählte. Ich glaube, er hält die Sache für sehr wichtig.«

 

Mr. Cardew strich sich erregt durch das zerzauste Haar.

 

»Kam sie erst so spät in der Nacht?« fragte er vollständig verwirrt. »Aber sie ist doch aus Barley Stack schon kurz nach elf heute morgen abgefahren! Wo ist sie jetzt?«

 

»Das will Minter ja gerade entdecken«, sagte Jim. »Der Wagen wurde verlassen aufgefunden, und das Wort ›Großfuß‹ war quer auf die Rückwand des Wagens geschrieben. Super denkt, daß es eine Irreführung sein könnte. Die Lokalpolizei sucht in diesem Augenblick die Küste und die Klippen ab, um – geradeheraus gesagt – um ihre Leiche zu finden.«

 

Cardew konnte nur den Kopf schütteln.

 

»Das kann ich nicht glauben, es ist zu – zu entsetzlich. Ich habe Reserveschlüssel zu dem Hause, aber sie befinden sich in meinen Büroräumen im Temple. Warten Sie so lange, bis ich mich angezogen habe – haben Sie Ihren Wagen hier? Wenn nicht, so wäre es besser, wenn Sie eine Taxe besorgten.«

 

Schon nach wenigen Minuten hatte er sich angezogen, und als er wieder zu Jim trat, war er für eine lange Fahrt gerüstet.

 

»Natürlich muß ich mit Ihnen gehen«, sagte er ruhig. »Ich muß wissen, was mit Hanna passiert ist.«

 

Schnell fuhren sie zum Temple. Cardew ging durch das Tor und kam bald mit einem Schlüsselbund zurück.

 

»Sie sind an diesem Ring; ich habe sie nicht erst ausgesucht, das können wir später tun.«

 

Wenn Super erstaunt war, als er den verzweifelten Amateurdetektiv sah, so ließ er es sich doch nicht merken.

 

»Oben auf der Klippe oder unten ist nichts gefunden worden. Geben Sie mir die Schlüssel, Mr. Cardew.«

 

Der Anwalt suchte sie heraus und löste sie vom Ring.

 

»Gibt es noch andere Schlüssel außer diesen – ich meine, gibt es noch mehr Nachschlüssel?«

 

»Nein, es hat immer nur zwei Sätze gegeben. Einen gab ich stets den Leuten, die das Haus mieteten oder benutzen wollten, und der andere Satz wurde in meinem Büro aufbewahrt. Dieser Satz ist niemals benutzt worden.«

 

Kurz bevor sie sich auf den Weg nach Süden machten, nahm Super Jim beiseite.

 

»Ich werde einen Mann nach Hill Brow schicken, um Elson ausfindig zu machen. Er ging letzte Nacht um neun Uhr fort und ist noch nicht zurückgekommen. Er nahm seinen Rolls-Zweisitzer – sein Chauffeur war nicht bei ihm. Ich sage Ihnen das – vielleicht hören Sie mehr davon, wenn der Fall vor den Staatsanwalt kommt. Kennen Sie Cardews Gärtner?«

 

»Sie haben sich gestern nach ihm erkundigt?«

 

»Ja«, sagte Super und sprach nicht weiter davon.

 

Jim ergriff das Steuer, und wieder sauste der lange Wagen die Horseham Road hinunter, aber diesmal mit weniger Vorsicht, denn die Straße war leer. Horseham selbst lag öde und verlassen da. Der Sturm hatte sich endlich gelegt, die Sterne kamen zwischen den zerrissenen Wolken durch, und nach etwa einer Stunde hielt der Wagen vor dem kleinen Gebäude, das dem Dorfsergeanten als Wohnung diente und die wenigen Strolche einschloß, die die Gesetze von Groß-Pawsey überschritten.

 

Der Sergeant und zwei Detektive aus dem bedeutenderen Pawsey erwartete sie.

 

»Wir haben nichts gefunden«, berichtete der Sergeant. »Aber einer der Dorfleute sah eine Frau dem Seeweg zu und den Hügel hinuntergehen.«

 

»Wann war das?«

 

»Ungefähr vor zwei Stunden. Er sagte, daß sie aus der Richtung des Bahnhofs kam – von Pawsey Station, die mitten zwischen hier und der Stadt liegt. Der letzte Zug von London hält dort; aber ich habe den Stationsbeamten nicht finden können.«

 

»Sie ist überhaupt nicht von der Bahn gekommen«, sagte Super. »Das hat sie vielleicht vorgetäuscht. Benutzen Sie immer diese Haltestelle, Mr. Cardew?«

 

»Während des Krieges bin ich einmal dort gewesen. Gewöhnlich fahre ich bis zur Endstation, wenn ich die Bahn benütze, und fahre dann mit dem Omnibus hinaus.«

 

»Hatte Hanna Shaw die Gewohnheit, mit der Bahn zu kommen?«

 

Cardew schüttelte den Kopf.

 

Der herrenlose Wagen war nicht fortgebracht worden, wie ihnen der Sergeant erzählte, und sie fanden ihn in der Verfassung, wie sie der Polizist geschildert hatte. Es war leicht zu verstehen, warum sie ihn auf ihrem Weg nach Pawsey nicht bemerkt hatten. Der Wagen war auf einen kleinen Hügel hinauf und auf der anderen Seite den Abhang hinuntergefahren worden, so daß er von der Straße aus nicht sichtbar war.

 

Mit Hilfe seiner Lampe prüfte Super das Auto sorgfältig. Die mit Kreide auf die Rückseite geschriebene Inschrift schien den alten Polizeibeamten nicht zu interessieren, obwohl sich Mr. Cardew darüber aufregte.

 

»Es ist keine weiße Kreide – sie ist grün!« sagte der Anwalt. »Billardkreide!«

 

»Vielleicht werden wir sie in einem Billardsalon finden«, brummte Super. »Wir wollen das Queue suchen!«

 

Woraufhin Mr. Cardew erhaben schwieg.

 

Supers Hauptaugenmerk wandte sich dem Wageninnern zu. Auf dem Trittbrett stehend, ließ er das Licht seiner Lampe langsam über den Boden und die Sitze gleiten.

 

»Der Sitz ist verkratzt – auch das Leder zeigt neue Kratzer und ist ganz sauber. Kein Schmutz an der Fußbremse oder an der Kupplung. Hieraus kann man nichts schließen.«

 

Sie kamen zu Jims Wagen zurück.

 

»Waren Sie unten beim Haus, Sergeant?« fragte Super, und Lattimer bejahte.

 

»Es ist niemand dort. Der Platz ist bewacht, seit Sie ihn verließen – auch jetzt steht noch ein Mann Wache dort.«

 

Super stieg in den Wagen und ließ sich an Jims Seite nieder. Die Lokalbeamten der Polizei stellten sich auf die Trittbretter. So fuhr der Wagen den Hügel hinunter und bog in die Küstenstraße ein. Diesmal fuhr er direkt zum Haus, und alle stiegen aus.

 

»Wie schrecklich unheimlich!« sagte Cardew schaudernd. »Ich habe niemals bemerkt, wie einsam und verlassen mein Besitztum hier ist.«

 

Der Wagen wurde auf Supers Wink so zum Stehen gebracht, daß die großen Scheinwerfer auf die Tür fielen.

 

»Das Vorhängeschloß ist hier. Hanna ist nicht da.«

 

Auf Super machte diese Entdeckung keinen Eindruck.

 

»Ich habe auch nie erwartet, daß sie hier sei«, sagte er. »Aber sie war vorher hier. Sie kam aus einem ganz bestimmten Grund. Hatte sie noch etwas von ihren Sachen in dem Haus, Mr. Cardew?«

 

Der Anwalt schüttelte den Kopf.

 

»Nichts – es könnte höchstens sein, daß sie heute etwas gekauft und hergebracht hätte.«

 

»Heute hat sie nichts hierhergebracht«, erwiderte Super eindringlich. »Hatte sie irgend etwas in einem Bücherschrank oder in einer Kommode?«

 

»Soviel ich weiß, nicht.«

 

Super steckte den Schlüssel ins Loch und drehte um. Die Tür war außerdem noch einmal verschlossen, und als sie offen war, leuchtete Super mit seiner Taschenlampe in das düstere Innere.

 

Sie kamen in eine kleine Vorhalle. An der anderen Seite war eine zweite Tür, deren obere Hälfte aus Glasscheiben bestand und die sich öffnete, als Super dagegen drückte. Sie führte in einen Gang, der von der Vorder- bis zur Rückseite des Hauses lief.

 

»Bleiben Sie alle stehen«, sagte er warnend. »Ich werde das Haus untersuchen, und ich möchte dabei allein sein.«

 

Die beiden Räume, die zur rechten Hand des Ganges lagen, wurden zuerst durchsucht. Es waren einfach möblierte Schlafzimmer. Die Betten waren nicht überzogen, und er vermutete, daß die Wäsche in den Schränken war, die in den Räumen standen.

 

Er ging zur Eingangstür zurück und untersuchte den ersten Raum links. Es war ein Speisezimmer, und eine schnelle Besichtigung enthüllte keine besonderen Dinge. In einer Wand befand sich eine Öffnung, die von einem Rolladen geschlossen war. Augenscheinlich wurden hier die Speisen von der Küche ins Eßzimmer gereicht. Jetzt blieb nur noch die Küche zu untersuchen. Als er die Tür aufzumachen versuchte, stellte sich heraus, daß sie verschlossen war. Super ging zu seinen wartenden Begleitern zurück.

 

»Haben Sie den Schlüssel, Mr. Cardew?«

 

»Nein, es gibt wohl einen Küchenschlüssel, aber der wurde nie abgezogen. Steckt er nicht im Schloß?«

 

Super versuchte die Türklinke noch einmal; aber sie gab nicht nach, sie war fest verschlossen. Er bemerkte einen eigentümlichen Geruch und rief Jim zu sich.

 

»Riechen Sie etwas? Mir scheint, als ob hier etwas verbrannt worden ist.«

 

Ferraby nahm einen beißenden Geruch wahr, der ihm bekannt vorkam.

 

»Cordit!« sagte er plötzlich. »Hier ist eine Waffe abgeschossen worden – und zwar erst kürzlich.«

 

»Das dachte ich mir«, sagte Super kühl. »Diese Idee hatte ich gleich, als ich den Geruch von heißem Eisen erkannte. Die Tür ist von innen verschlossen.«

 

Er ging zum Speisezimmer zurück. Der Rolladen war befestigt. – Er fand ein kleines Schlüsselloch. Diesmal rief er Cardew zu sich.

 

»Ja«, sagte er, »er ist verschließbar. Aber ich habe keine Ahnung, wo der Schlüssel ist. Er war noch da, als meine Sekretärin Miss Leigh hier zu Besuch war. Und es ist mir niemals etwas davon gesagt worden, daß er verlorengegangen sei. Es ist ein Schnappschloß, und wenn man es zufällig geschlossen hatte, konnte man es nur mit dem Schlüssel öffnen. Ich hatte niemals einen zweiten Schlüssel. Können Sie nicht in die Küche kommen?«

 

»Nein – sie ist von innen verschlossen.«

 

»Dann werden wir wohl den Rolladen aufbrechen müssen«, meinte Cardew.

 

Er ging mit Lattimer zu dem kleinen Schuppen neben dem Haus und brachte ein paar rostige Werkzeuge.

 

Darunter befand sich auch ein kleiner Büchsenöffner, und Super, der den Haken des Instrumentes zwischen Rolladen und Rahmen ansetzte, arbeitete heftig an dem Schloß. Plötzlich sprang es krachend auf, und er schob den Laden nach oben. Jetzt konnte man den Geruch von Cordit deutlich wahrnehmen, selbst Cardew fiel er auf.

 

»Was ist das für ein Geruch?« fragte er, aber Super überhörte ihn, denn er lehnte sich durch die Öffnung und suchte den Raum mit seiner Lampe ab. Der weiße Lichtkreis bewegte sich langsam über den Fußboden zur Tür hin. Dann sah man einen Schuh, dessen Spitze nach der Decke zeigte … der Lichtschein glitt darüber hinweg … dann noch einen Schuh – dann kam der Saum eines schwarzen Kleides in den Lichtkegel. Eine Frau saß mit dem Rücken an die Tür gelehnt, ihr Kopf war auf die Brust gesunken, als ob sie betrunken sei. Super konnte ihr Gesicht nicht sehen, aber er wußte, daß es Hanna Shaw war. Und er brauchte auch nicht die Blutlache auf dem Fußboden zu sehen, um zu wissen, daß sie tot war.

 

Kapitel 24

 

24

 

»Um Gottes willen, wer tat das?« fragte Ferraby entsetzt.

 

Super kniete neben der Gestalt nieder, sah mit einem freundlichen Lächeln zu Jim auf und schien merkwürdig gefühllos zu sein.

 

»Wer das getan hat?« Seine Stimme war ganz leise geworden, so daß Jim scharf hinhören mußte, um ihn zu verstehen. »Es war derselbe Mann, der Cardew chloroformierte, derselbe, der Hanna Shaw erschoß und derselbe, der den vergifteten Kuchen schickte – derselbe Wille, dieselbe Hand, dieselbe Ursache. Er ist furchtbar konsequent, ich kann den Mann nur bewundern, der so handelt. Und er denkt an alles. – Richten Sie sich um Gottes willen nicht auf, Ferraby! Ich knie hier auch nicht, weil ich anbete, sondern um sicher zu sein. Wenigstens einer von uns beiden muß lebendig zurückkommen – im Interesse der Gerechtigkeit.«

 

Ein eiskalter Schrecken fuhr Jim in die Glieder.

 

»Ist er hier – in den Büschen?« flüsterte Jim.

 

Super nickte.

 

»Der Mord wurde vor weniger als zehn Minuten ausgeführt. Können Sie sich auf das ›plok, plok, plok‹ entsinnen, das wir vorhin hörten? Sie dachten, daß jemand Bäume fällte. Aber das waren Schüsse aus einer Pistole mit Schalldämpfer.«

 

Während der ganzen Zeit suchten seine Augen die unmittelbare Nachbarschaft ab. Seine scharfen Ohren versuchten, das Geräusch von raschelnden Blättern oder brechenden Zweigen zu hören.

 

Jim fühlte, wie Super alles absuchte, und sah plötzlich, wie er seinen Blick auf einen Stechginsterbusch konzentrierte – einen goldgelben Farbfleck zur linken Hand. Heimlich wies er nach dem Gesträuch, durch das sie eben gekommen waren.

 

»Springen Sie zur Seite!« sagte er hastig, und als Jim Ferraby eiskalt vor Schrecken vorwärts taumelte und in Deckung sprang, warf sich Super mit dem Gesicht nach unten glatt auf den Boden.

 

Plok, plok, plok!

 

Etwas schwirrte nahe an Jims Kopf vorbei, er hörte das Brechen von Zweigen und das Rascheln von Blättern. Im nächsten Augenblick war Super hinter ihm ins Gebüsch gesprungen.

 

»Laufen Sie, was Sie können und richten Sie sich nicht auf!«

 

Sie flohen den Pfad entlang, wo sie sich mit einem anderen Gebüsch decken konnten, und von da aus weiter zu einem entfernteren Strauch.

 

»Wir können jetzt langsam gehen – er wird nicht hinter uns her kommen«, sagte Super. »Ich habe ihn selbst nicht gesehen und hätte ihn auch nicht bemerkt. Ich habe nur einen Vogel beobachtet, der sich in dem Stechginsterbusch niederlassen wollte und plötzlich wieder davonflog. Ich habe eine große Vorliebe für Vögel und habe sie immer beobachtet. Ich hatte zwanzig junge Küken in der Brutmaschine diesen Morgen – das ist zwar nicht Natur, aber man verdient Geld damit.«

 

Das letzte, was Jim Ferraby jetzt zu besprechen wünschte, war Supers Geflügelfarm..

 

»Wo mag er jetzt sein?« fragte er und schaute zurück.

 

»Der? Oh, der bringt sich in Sicherheit. Er wartete nicht, nachdem er gefeuert hatte. Ich müßte auch eine Pistole bei mir tragen, aber ich bin noch von der alten Schule. Ich werde dafür sorgen, daß Cardew von heute ab polizeilichen Schutz bekommt.«

 

»Glauben Sie, daß ihm Gefahr droht?«

 

»Sicher«, sagte Super kurz. »Ich wußte schon immer, daß er in Gefahr schwebte, seitdem er in der Öffentlichkeit begann, den Mord in Beach Cottage zu diskutieren. Seine Theorie stimmt nicht ganz, aber sie ist doch der Wirklichkeit so nahe, daß sie gefährlich werden kann.«

 

Sie erreichten den Abhang, und Super machte halt, um über die Spitzen der grünen Büsche hinwegzuschauen.

 

»Er ist fortgegangen«, sagte er. Später war er zehn Minuten lang an Elsons Telefon beschäftigt.

 

Als er seine verschiedenen Gespräche beendet hatte, kamen auch schon die einzelnen Polizeimannschaften an, teils zu Rade, teils in Autos. Die meisten kamen mit dem Krankenwagen vom Hospital. Einige von ihnen waren schwer bewaffnet, und mit diesen ging Super in das Gebüsch zurück an die Stelle, wo er Elson gefunden hatte. Er hatte den Toten mit dem Gesicht auf dem Boden liegen lassen, aber seine Taschen waren noch nicht ausgeräumt gewesen, wie das jetzt der Fall war.

 

»Wir unterbrachen ihn, als wir kamen, und er ging seitwärts in die Büsche, in der Hoffnung, seine Arbeit zu vollenden. Hat jemand Lattimer gesehen?«

 

»Er war nicht auf der Wache, als ich wegging«, sagte ein Polizeisergeant in Uniform. »Ich hinterließ aber Nachricht, daß er hierher kommen sollte.«

 

Super sagte nichts.

 

Er ging quer durch die Stechginsterbüsche, bog sie um und schaute darunter. Die abgeschossenen Patronenhülsen lagen ganz offen dort. Er sagte einem Beamten, der ihm folgte, daß er sie aufheben solle, und schenkte ihnen weiter keine Beachtung. Er schnüffelte und witterte überall umher wie ein guter Jagdhund.

 

»Ich habe eine sehr feine Nase«, sagte er zu Jim. »Riechen Sie nicht etwas?«

 

»Nein, außer dem Ginstergeruch kann ich nichts wahrnehmen.«

 

Ein Arzt untersuchte den Körper des Toten, als sie zurückkamen, und hatte bereits Anordnungen getroffen, daß er fortgeschafft werden sollte.

 

»Begleiten Sie mich auf einem kleinen Spaziergang«, sagte Super und ging zu den Ginstersträuchern zurück. »Er ist in dieser Richtung fortgegangen.« Er zeigte auf eine Stelle zwischen den Brombeersträuchern. »Sie müssen mir folgen, ich will Ihnen wie ein Bluthund die Spur zeigen.«

 

Jim fühlte sich krank. Die Sonne schien heiß, und er entsetzte sich vor dieser neuen Bluttat. Man hätte glauben können, daß Super von einer Tennispartie sprach, bei der er geschlagen worden war, so respektvoll sprach er von dem Mann, der ihn immer aufs neue in Erstaunen setzte.

 

»Ich glaube, Sie müssen auch unter Polizeischutz gestellt werden, Mr. Ferraby«, sagte er. »Außerdem bin ich davon überzeugt, daß ich es am meisten notwendig hätte. Andererseits habe ich aber eine Chance, Großfuß zu fassen, bevor die Ärzte Leigh operieren, wenn ich für meine Person den Schutz ablehne.«

 

»Hängt viel von der Operation ab?«

 

Super nickte.

 

»Wenn Leigh seinen Verstand zurückbekommt, wird die ganze geheimnisvolle Angelegenheit so einfach zu enträtseln sein, daß selbst der jüngste Polizeibeamte den Fall aufklären könnte. Aber wie es jetzt liegt, habe ich noch keinen Beweis, sondern nur Verdachtsmomente. Gerichtshöfe lieben aber keine Verdachtsmomente, sie brauchen zwei einwandfreie Zeugen, die den Mörder beobachteten, während er das Verbrechen beging, und womöglich noch eine Fotografie des Kerls bei der Tat. Und sie haben bis zu einem gewissen Grad auch recht. Kennen Sie eigentlich den Henker?« fragte er plötzlich, als er vorsichtig den Waldpfad entlangging.

 

»Ich habe noch nicht das Vergnügen gehabt, seine Bekanntschaft zu machen.«

 

»Er ist ein lieber Mensch«, sagte Super. »Er hat keine Kapricen. Ich kannte einen Henker, der die ausgesuchtesten Leckerbissen zum Frühstück haben mußte. Aber dieser neue Mann ist einer von den gewöhnlichen, die Bier und Käse bevorzugen. Er ist so bescheiden, wie, man sich nur einen Menschen wünschen kann. Für gewöhnlich ist er in seinem Barbierladen in Lancashire tätig. Er hat mich schon oft rasiert.«

 

Jim schauderte.

 

»Wenn Kriminalfälle nur auf Grund von Verdachtsmomenten vor die Richter gebracht würden«, sagte Super, indem er seine frühere Unterhaltung wieder aufnahm, »so könnte der Mann ruhig in seinem Barbierladen bleiben. Das Gewerbe bringt nicht viel ein, besonders an diesem Ort, wo viele Bergleute wohnen, die sich nur einmal in der Woche rasieren lassen. Er sagte mir auch, daß die neuen Selbstrasierer seinem Geschäft großen Abbruch getan haben. Ich würde gern eine lohnendere Nebenbeschäftigung für ihn finden.«

 

Jim wußte aus Erfahrung, daß Super viel reden mußte, wenn er intensiv nachdachte, aber der Gegenstand, über den er sich unterhielt, und das, worüber er nachdachte, waren zwei vollständig verschiedene Dinge.

 

»Es ist merkwürdig«, fuhr er fort, »daß alle Leute glauben, ein Mann müsse verrückt sein, wenn er einen einigermaßen schlau durchdachten Mord begeht. Man würde sich Großfuß vorstellen mit Stroh im Haar – hier bog er ab«, sagte er plötzlich und nahm die Zweige eines jungen Holzapfelbaums beiseite. Er kroch auf eine Lichtung hinaus, die mit Gras bestanden war und sah einen einfachen Drahtzaun vor sich. Er lehnte sich darüber und schaute auf den vertieften Weg, der an der Grenze der beiden Grundstücke entlanglief.

 

»Das ist Cardews Feld«, erklärte Super. »Es ist nicht so verwildert – ich möchte nur wissen, ob er noch am Leben ist«, sagte er ruhig.

 

»Sie denken doch nicht …« Jim beendete seinen Satz nicht.

 

»Das kann man niemals wissen«, entgegnete Super, stieg über den Zaun und ging vorsichtig den steilen Abhang zu der staubigen Straße hinunter. Hier stellte er genaue Nachforschungen an.

 

»Der Weg ist schmal genug, um darüber hinwegzuspringen. Wenn er aber auf dem Gras weiterging … Hallo!«

 

Ein Mann kam langsam die Straße entlang. Er hatte einen. Zigarrenstummel zwischen den Zähnen und den steifen Hut ins Genick gesetzt.

 

»Sehen Sie, Lattimer kommt jetzt auch zur Arbeit«, sagte Super scharf. »Man sollte nicht denken, daß die Fabrikglocke schon vor einer halben Stunde geläutet hat. Guten Tag, mein tüchtiger Sergeant«, sagte er, als der Beamte auf Hörweite herangekommen war. »Waren Sie auf einer Hochzeit?«

 

»Nein, aber ich hörte gerade, daß es hier neue Unannehmlichkeiten gibt.«

 

»Haben Sie es erst jetzt gehört?« fragte Super ironisch. »Deshalb sind Sie wohl auch in so scharfem Trab hergelaufen?«

 

»Ich glaubte, daß es nicht notwendig sei, sich so zu beeilen«, sagte der andere kühl. »Einer der Dienstboten im Hause erzählte mir, was sich zugetragen hat, und ich dachte, ich könnte hier herumkommen, um den Weg abzukürzen. Auch hoffte ich eine Spur zu finden. Es ist doch ganz klar, daß er an dieser Stelle aus dem Gebüsch gekommen ist.«

 

Super antwortete nicht – dann zeigte er auf die Straße.

 

»Hier ist sehr viel Staub – wenn Sie den aufsammeln wollen?« sagte er. »Gehen Sie zu Cardews Haus und sehen Sie, was sich dort ereignet hat. Bleiben Sie bei ihm, bis ich Sie ablöse. Er darf nicht aus den Augen gelassen und sein Haus muß während der Nacht bewacht werden. Haben Sie verstanden?«

 

»Jawohl. Soll ich Mr. Cardew sagen, daß er unter polizeilichem Schutz steht?«

 

»Sagen Sie ihm alles, was Sie für richtig halten. Wenn er bemerkt, daß Sie auf seinen Türstufen sitzen, dann wird er schon vermuten, was los ist. Dann noch eins, Sergeant: Wenn er zu diesem Gebüsch gehen will, um Spuren zu suchen, dann tun Sie ihm den Willen. Aber lassen Sie ihn nur dann hierhergehen, wenn noch viele andere Leute an der Stelle sind. Ich mache Sie für sein Leben verantwortlich. Wenn man ihn tot in seinem Zimmer auffindet, lasse ich keine Entschuldigung gelten.«

 

»Sehr wohl, Sir«, sagte Lattimer und ging den Weg zurück, den er gekommen war.

 

»Lattimer ist ein guter Kerl«, sagte Super, »aber er hat zu wenig Instinkt. Alle Tiere einschließlich der Detektivsergeanten haben Instinkt – wenn sie ihn doch bloß entwickeln würden!« »Sie trauen Lattimer sehr – täuschen Sie sich auch nicht in ihm?« fragte Jim ruhig.

 

»Ich traue niemand«, war die überraschende Antwort. »Es mag so scheinen, als ob ich ihm traue, aber das ist doch gerade meine. Schlauheit, daß immer alles so scheint. Wenn Sie ein guter Polizeibeamter sein wollen, dann dürfen Sie niemand trauen, auch nicht Ihrer eigenen Frau. Das ist auch der Grund, warum Polizeibeamte niemals verheiratet sein sollten. Früher oder später wird Lattimer einmal ein sehr guter Detektiv werden, wenn er nicht auf Abwege gerät. Jeder junge Detektiv hat Versuchungen durchzumachen. Er kommt viel in schlechte Gesellschaft.«

 

Sie gingen langsam nach Hill Brow zurück, und Super untersuchte das Arbeitszimmer des Toten. Mit Ausnahme eines Dampferbilletts, eines Kreditbriefes über eine außerordentlich hohe Summe und einer großen Menge englischen Geldes fand er nur wenig wichtige Dinge. Es waren fast gar keine Dokumente in den Schubladen von Elsons Schreibtisch, nur ein paar Kaufmannsrechnungen und eine Grundstücksurkunde über Hill Brow. Seine Sekretärin, eine blasse Frau in mittleren Jahren, erzählte Super, daß er wenig Korrespondenz gehabt habe.

 

»Ich glaube auch kaum, daß er richtig schreiben und ordentlich lesen konnte«, klagte sie. »Er hat mich übrigens in seinen Privatangelegenheiten nie ins Vertrauen gezogen.«

 

»Vielleicht hatte er überhaupt keine Privatangelegenheiten«, meinte Super.

 

Der große Aschenkasten vor dem Kamin war noch gefüllt und rechtfertigte Mr. Cardews Verdacht. Es war alles Asche von verbrannten Papieren. Die Überreste von zwei Büchern waren zu erkennen, aber was für Bücher es waren, konnte man nicht mehr feststellen.

 

»Er hatte natürlich irgendwelche Akten – ob er sie nun selbst geschrieben hat oder ob sie für ihn geschrieben wurden. Sicher ist nur, daß er sie verbrannt hat. Tatsächlich hatte er eine schnelle Flucht vorbereitet.«

 

Bevor Jim in die Stadt zurückkehrte, ging er noch hinauf, um den Anwalt zu begrüßen. Als er zu Mr. Cardew kam, schien es ihm, daß dieser viel weniger Vertrauen in seine eigene Sicherheit habe als vorher. Er saß blaß und nervös in seiner Bibliothek, schrak bei jedem Geräusch auf und war entsetzt über die Nachricht, die ihm Lattimer gebracht hatte.

 

»Ein Trauerspiel nach dem anderen«, sagte er mit hohler Stimme, als Jim näher trat. »Es ist ganz schrecklich, Ferraby. Wer hätte denken können, daß der arme Elson …« Er brach mitten im Satz ab. »Sie wissen doch, daß er gewarnt worden war. Sergeant Lattimer erzählte mir die Geschichte. Ein Stück Papier wurde vorigen Abend an seine Tür geheftet.«

 

Offenbar beunruhigte Cardew diese Warnung ebensosehr, wenn nicht mehr als die Mordtat selbst; denn er kam dauernd darauf zurück.

 

Seine Leidenschaft, Kriminalfälle aufzuklären, war augenblicklich auf dem Höhepunkt. Jim hatte noch nichts von dem Papier gehört, das an Elsons Tür angeklebt worden war, und er wunderte sich, warum der Oberinspektor ihm diese merkwürdige Tatsache nicht mitgeteilt hatte. Wahrscheinlich wäre die Sache bei Elsons Verhaftung herausgekommen. Er erwähnte diesen Umstand Cardew gegenüber, der ihn entsetzt anschaute.

 

»Elson sollte verhaftet werden? Warum?« fragte er keuchend. »Was hat er denn getan?«

 

»Er muß irgend etwas gestohlen haben, oder es befand sich gestohlenes Eigentum in seinem Besitz. Ich habe den Verhaftungsbefehl nicht gerade gern unterzeichnet. Es war das erstemal, daß ich meinen Namen unter ein solches Dokument setzte. Aber Super bestand so sehr darauf, daß ich es schließlich tat. Er wollte gerade die Verhaftung vornehmen, als er den Mord entdeckte.«

 

»Also Elson sollte verhaftet werden«, wiederholte Cardew ungläubig. »Das kann ich nicht verstehen. In meinem Verstand geht alles durcheinander. Ich hoffe, daß man mein Zeugnis bei der gerichtlichen Untersuchung des Mordes nicht braucht. Ich bin vollständig erledigt durch diesen neuen Schrecken.«

 

Und doch mußte er noch sehr stark von seiner Passion beherrscht werden, denn er fuhr fort:

 

»Möglicherweise waren Hanna und Elson wirklich verheiratet, und es wäre möglich, daß ein unbekannter Rivale die beiden tötete. Solche Fälle sind schon vorgekommen.« Er machte eine verzweifelte Bewegung mit seinen Händen. »Ich bin verrückt, daß ich mich mit all diesen Dingen abquäle. Leute wie der Oberinspektor Super eignen sich für solche Sachen viel besser, trotz all meiner Kenntnisse und meiner Studien. Allmählich fühle ich doch meine Unterlegenheit«, sagte er mit einem schwachen Lächeln.

 

Lattimer saß im Garten, als Jim aus dem Haus kam. Er hatte einen Stuhl in den Schatten eines Maulbeerbaums gestellt und schien halb eingeschlafen zu sein, denn er schrak zusammen, als Jim ihn anrief.

 

»Gott sei Dank, daß Sie nicht Super sind«, sagte er. »Es ist ein furchtbar einschläfernder Platz.«

 

Jim sah, daß er von seinem Sitz aus sowohl den vorderen Eingang von Barley Stack wie auch die Fenster von Mr. Cardews Arbeitszimmer überschauen konnte.

 

»Sind Sie auch wie Super der Ansicht, daß Mr. Cardew in Gefahr ist?«

 

Lattimer zuckte die Achseln.

 

»Wenn Super sagt, daß Ihm Gefahr droht, dann ist er eben in Gefahr.«

 

Jim glaubte, einen ironischen Unterton in der Antwort zu hören.

 

»Waren Sie mit Super zusammen, als er den Toten fand, Mr. Ferraby? Wie ist er getötet worden? Hat man ihn erschossen?«

 

»Ja«, sagte Jim ruhig. »Und es war ein glücklicher Umstand, daß wir nicht auch sein Los teilten.«

 

Lattimer schaute ihn mit großen Augen an.

 

»Wieso?« fragte er höflich. »Hat er oder sie oder wer es auch immer war auf Sie geschossen? Der Kerl muß aber Nerven wie Stahl haben. Ich dachte, Super wäre nur wieder mal schlechter Laune gewesen – aber das erklärt alles. Haben Sie denn nichts von dem Schützen gesehen?«

 

»Nein«, sagte Jim. Seiner Meinung nach war die Frage etwas überflüssig.

 

»Super hat ihn nicht gesehen – oder glauben Sie, daß er ihn doch gesehen hat? Super kann sehr scharf sehen, obgleich er immer vorgibt, daß es nicht so ist. Vor zwei Jahren behauptete er plötzlich, daß er stocktaub geworden sei, und die halbe Polizeidirektion ließ sich auch von ihm täuschen. Er hat auf Sie geschossen?« sagte er halb belustigt und schaute Jim dabei forschend an. »Also deshalb wird auch Mr. Cardew unter polizeilichen Schutz gestellt. Dieser Großfuß ist sicher ein ganzer Kerl.« Er unterdrückte mit Mühe ein Gähnen. »Ich habe vorige Nacht gewacht«, sagte er und nahm sein Taschentuch heraus.

 

Jim nahm einen schwachen Duft wahr. »Ich hätte nie geglaubt, daß sie so eitel wären, Sergeant«, sagte er gut gelaunt.

 

»Meinen Sie das Parfüm?« Lattimer roch an dem Batisttuch. »Meine Wirtin legt immer ein Riechkissen zwischen meine Taschentücher. Aber ich habe es ihr verboten und hoffe, sie wird es nicht wieder tun.« Dann überkam Jim ein kalter Schauer, als ihm plötzlich wieder zum Bewußtsein kam, wie Super im Gebüsch umhergeschnuppert hatte. Er mußte sich zusammennehmen. Er wollte Lattimer eben eine verfängliche Frage stellen, als der Beamte sie ihm unwillkürlich beantwortete.

 

»Super würde Himmel und Hölle in Bewegung setzen, wenn er den Duft riechen könnte. Er hat eine Spürnase wie ein Jagdhund. Dieser Mann hat übernatürliche Gaben.« Er gähnte wieder. »Ich würde heute abend gern früh zu Bett gehen.«

 

Es war spät, als Jim Ferraby nach Whitehall zurückkehrte, aber sein Vorgesetzter war noch im Büro und sandte nach ihm, als er ihn kommen hörte.

 

»Es scheint, daß Sie in letzter Zeit in eine Mordaffäre verwickelt sind«, sagte der alte Sir Richard. »Worum dreht es sich denn eigentlich?«

 

Jim erzählte ihm alles, was er wußte, aber es war nicht viel.

 

»Super ist mit der Aufklärung der Sache betraut«, sagte der Vorgesetzte nachdenklich. »Man könnte keinen besseren Mann für diesen Zweck finden. Tut er nicht sehr geheimnisvoll?«

 

»Ja, sein Verhalten ist sehr seltsam.«

 

Sir Richard mußte lachen.

 

»Dann können Sie sicher sein, daß er bald den Schuldigen festnehmen wird«, sagte er. »Wenn Super offen und frei über einen Fall spricht, dann ist die Lage meist hoffnungslos.«

 

Jim beendete seine Arbeit. Er war durch Supers Besuch etwas in Rückstand gekommen und beeilte sich, Elfa aufzusuchen. Sie war noch im Krankenhaus, als er nach Cubitt Street kam. Zwischen den Ärzten hatte eine Beratung stattgefunden, bei der bestimmte Entscheidungen gefallen waren, und man mußte ihre Einwilligung haben. Sie sah abgespannt und müde aus, als er sie an der Ecke von Cubitt Street traf.

 

»Sie werden die Operation nicht vor Ende nächster Woche vornehmen«, erzählte sie ihm. »Mr. Cardew hat mir eine sehr eilige Botschaft geschickt und mich gefragt, ob ich nicht zu ihm nach Barley Stack kommen wolle, Er hat wichtige und dringende Arbeiten, und er sagt, daß er sein Haus nicht verlassen darf.«

 

»Sie werden nicht zu Cardew gehen«, sagte Jim entschieden. »Er steht selbst unter Polizeischutz, und ich kann es nicht dulden, daß Sie sich dort einer neuen Gefahr aussetzen.«

 

Er brauchte ihr nicht die Geschichte von Elsons Tod zu erzählen, sie hatte schon alles in der Abendzeitung gelesen. Aber die Sorge um die Gesundheit ihres Vaters war so groß und sie war dadurch so in Anspruch genommen, daß sie sich wenig um andere Dinge kümmerte.

 

»Ich kannte ihn kaum«, sagte sie. »Aber das würde mich nicht von Barley Stack abhalten. Ich bin nur so schrecklich müde, Jim.«

 

»Cardew kann warten«, sagte er fest.

 

Aber offensichtlich konnte Mr. Cardew nicht warten. Als sie in das Wohnzimmer kamen, läutete das Telefon, und es war der Anwalt, der anrief. Sowie Jim es bemerkte, nahm er Elfa den Hörer aus der Hand.

 

»Hier ist Ferraby«, sagte er. »Ich komme eben mit Miss Leigh ins Zimmer. Sie ist viel zu angegriffen, um heute abend noch nach Barley Stack zu kommen.«

 

»Überreden Sie sie doch, daß sie herkommt«, bat Cardew dringend. »Begleiten Sie sie doch, wenn Sie wollen. Ich würde mich auch sicherer fühlen, wenn jemand hier im Hause ist.«

 

»Aber hat denn die Angelegenheit nicht Zeit?«

 

»Nein, nein, es ist Gefahr im Verzug!«

 

Jim nahm deutlich die Unruhe und Aufregung in der Stimme des Anwalts wahr.

 

»Es ist absolut notwendig, daß ich jetzt meine Angelegenheit in Ordnung bringe.«

 

»Aber Sie glauben doch nicht, daß Ihnen wirklich Gefahr droht?«

 

»Doch, ich bin ganz sicher. Ich möchte schnell alles ordnen, damit die junge Dame das Haus wieder verlassen kann, bevor weitere Beunruhigungen kommen. Super hat mir verboten, das Grundstück zu verlassen. Können Sie denn nicht mit Miss Leigh herkommen?« Er drängte so sehr, daß Jim die Öffnung des Hörers mit der Hand zuhielt und Elfa die Sachlage erklärte.

 

»Ist es wirklich so dringend?« fragte sie erstaunt. »Ich hätte nicht gedacht, daß Mr. Cardew so ängstlich sein könnte.«

 

Sie zögerte.

 

»Vielleicht wäre es doch besser, wenn ich ginge. Wollen Sie mich begleiten?«

 

Die Aussicht, eine Nacht mit ihr unter dem gleichen Dach zubringen zu können und eine lange Fahrt mit ihr durch die Abendkühle zu machen, hatte Jims Ansicht vollständig geändert. Aber trotzdem durften seine egoistischen Gründe nicht den Ausschlag geben, und er versuchte sie zu überreden, nicht fortzugehen. Er war aber nur halb bei der Sache, wie sie sofort mit dem feinen Instinkt der Frau erkannte.

 

»Sagen Sie ihm bitte, daß ich kommen werde. Die Luftveränderung wird mir guttun, und es wird vielleicht auch gut für Mr. Cardew sein.«

 

Jim übermittelte die Botschaft und legte dann den Hörer auf.

 

»Ich glaube, daß ich mich wegen der bevorstehenden Operation so mutlos fühle. Bitte gehen Sie schon zum Wagen, ich werde inzwischen meine Sachen packen und zu Ihnen hinunterkommen.« Sie hatte noch nicht zu Abend gegessen, aber sie wollte nicht warten.

 

»Mr. Cardew ißt immer sehr spät zu Abend, und er wird sicher auf uns warten.«

 

Ihre Vermutungen waren gerechtfertigt. Als sie ankamen, fanden sie Cardew in der Bibliothek. Er ging nervös auf und ab und hatte die Hände auf dem Rücken verschränkt. Als Elfa ihn sah, erschrak sie über die Veränderung, die mit ihm vorgegangen war, seitdem sie ihn zum letztenmal gesehen hatte. In der Aufregung, in der er sich jetzt befand, schien er zehn Jahre älter geworden zu sein. Und er war sich dessen auch bewußt.

 

»Es ist sehr liebenswürdig von Ihnen, daß Sie gekommen sind«, sagte er und drückte ihr dankbar die Hand. »Ich habe mit dem Abendessen auf Sie gewartet und hoffe, daß Sie noch nicht gespeist haben. Ich werde mich wohler fühlen, wenn ich etwas gegessen habe. Ich kann mich nicht erinnern, daß ich heute überhaupt schon etwas zu mir genommen habe.«

 

Für gewöhnlich trank er keinen Wein, aber bei dieser Gelegenheit stand eine Flasche mit goldenem Hals auf Eis. Cardew wurde durch den Genuß des Weins wieder frischer und bekam seine Haltung wieder.

 

»Es ist teilweise der traurige Unglücksfall, der Elson zugestoßen ist, teils auch die Erkenntnis, daß ich unter polizeilichem Schutz stehe, wie es der Oberinspektor ausdrückt, was meine Nerven so sehr aufregt, und doch« – er machte eine Pause mit dem Weinglas in der Hand – »diese höllische Leidenschaft, Verbrechen aufzuspüren, ist so stark in mir geworden, daß ich mich selbst immer wieder dabei ertappe, Theorien aufzustellen und Schlußfolgerungen zu ziehen, wie Minter es nennt.«

 

Später erklärte er, warum er Elfa hatte kommen lassen.

 

»Ich bilde mir eigentlich nicht ein, daß überhaupt Gefahr für mich besteht; aber als alter Anwalt muß ich mir sagen, daß ich auf jede Eventualität gefaßt sein muß. Heute nachmittag überkam mich plötzlich die Erkenntnis, daß ich kein Testament gemacht habe und noch nichts tat, um meine Papiere in Ordnung zu bringen. – Ich bin tatsächlich, wenn mir etwas zustoßen sollte, ebenso unvorbereitet wie irgendein unvorsichtiger Laie, dessen ungeordnete Nachlassenschaft die Zeit unserer Gerichte sehr in Anspruch nimmt. Mein letzter Wille ist schon aufgesetzt. Wenn Miss Leigh zwei Abschriften anfertigt, würde ich Sie bitten, Mr. Ferraby, sie durchzusehen und meine Unterschrift als Zeuge zu beglaubigen. Einer meiner Dienstboten kann dann als zweiter Zeuge mitunterzeichnen.« Als Elfa sprechen wollte, lächelte er. »Unglücklicherweise können Sie selbst nicht Zeugin sein, denn ich habe mir erlaubt, Ihnen ein großes Legat auszusetzen.«

 

Er brachte sie durch eine Handbewegung zum Schweigen, als sie ihm danken wollte.

 

»Ich bin ein alter Mann. Ich habe mich in meinem Leben noch nie so einsam gefühlt wie an diesem Abend. Ich habe keine Verwandten mehr, höchstens ein paar Freunde, und nur wenige Menschen, gegen die ich Dankbarkeit empfinde.« Er lächelte. »Ich habe dem Oberinspektor Minter wenigstens ehrenhalber ein Legat ausgesetzt – ich habe ihm nämlich meine kriminologische Bibliothek vermacht.« Er lachte zum erstenmal. »Ich habe ihm auch eine Geldsumme vermacht, die ihn in den Stand setzt, entweder ein Haus zu kaufen, in dem er die Bibliothek aufstellen kann, oder ein Motorrad, das seine Zeitgenossen und Mitmenschen nicht mehr so erschreckt, wenn er damit auf den Straßen umhersaust.«

 

Nach dem Abendessen zog er sich mit Elfa in die Bibliothek zurück, und Jim, der sich selbst überlassen war, ging in den Garten, um eine Zigarre zu rauchen. Er war kaum zwei Schritte weit gegangen, als der unvermeidliche Wachtposten erschien. Es war nicht Sergeant Lattimer, wie Jim wahrnahm, sondern ein Detektiv, den er schon früher einmal in Supers Büro getroffen hatte. Sie sprachen über das Wetter, über die schöne Nacht, über die Aussichten, die die Zweijährigen in dem nächsten Derby haben würden – sie sprachen tatsächlich über alles, aber sie erwähnten nicht, warum der Beamte hier wachte. Während sie auf und ab gingen, wurden die Rolladen von Cardews Arbeitszimmer hochgezogen, und Jim konnte auf der einen Seite des Schreibtisches den Anwalt, auf der anderen Elfa sehen. Sie schrieb schnell nach seinem Diktat.

 

»Ist das nicht ein wenig, gefährlich?« fragte Jim nervös. »Die Leute sind doch vom Garten aus deutlich zu sehen.«

 

»Vielleicht geben Sie ihnen den Rat, die Rolladen herunterzulassen«, sagte der Beamte.

 

Da Jim den Anwalt nicht selbst unterbrechen wollte, sandte er eine Nachricht durch einen der Diener hinein, und zu seiner Genugtuung stellte er fest, daß man seinem Rat folgte.

 

»Ich wundere mich, warum Mr. Cardew nicht schon selbst daran dachte«, sagte der Beamte. »Soviel ich weiß, beschäftigt er sich mit Dingen, die sonst nur die Polizei angehen.«

 

In diesem Augenblick hörte man von den Feldern her den ersten sanft schmelzenden Laut eines Nachtigallenschlages. Dann herrschte wieder tiefes Schweigen.

 

»Vielleicht gehen Sie jetzt hinein«, sagte der Mann höflich zu Jim. »Meine Ablösung kommt. Super würde es wahrscheinlich nicht gerne sehen, wenn er mich im Gespräch mit Ihnen fände.«

 

Jim ging verwundert in das Haus. Er begab sich in sein Schlafzimmer und packte seinen Koffer aus, den er aus dem Klub geholt hatte. Nachdem er der Ablösung Zeit gelassen hatte, zu kommen und zu gehen, ging er wieder in den Garten und war erstaunt, denselben Beamten noch auf Posten zu finden. Noch erstaunter war er, daß die Rolladen wieder hochgezogen waren, so daß Cardew und seine Sekretärin deutlich sichtbar waren.

 

»Super dachte, es sei wichtig und notwendig, den Raum überschauen zu können. Er sagte, daß sich hinter geschlossenen Läden etwas ereignen könnte.«

 

»War Mr. Minter hier?«

 

»Nur für eine Minute, Sir«, sagte der andere. Er war nicht abgeneigt, die Unterhaltung mit ihm fortzusetzen. Er nahm eine Zigarre, die Jim ihm anbot, und beklagte sich dann über die Ungerechtigkeit des neuen Pensionssystems für Polizeibeamte. Um Viertel nach zwölf kam Elfa aus dem Arbeitszimmer und bat Jim in die Bibliothek.

 

»Ich glaube, wir haben jetzt alles fertiggemacht. Es war eine entsetzliche Arbeit«, sagte sie mit leiser Stimme. »Jim, er hat mir eine ungeheure Summe vermacht. Das hätte er nicht tun sollen, aber er lehnt es ab, das Testament zu ändern.«

 

Cardew hatte nach seinem verschlafenen Diener geläutet. Dann wurde das Testament von allen unterzeichnet, auch von Jim und dem Diener.

 

»Ich möchte Sie bitten, dies aufzubewahren«, wandte sich der Anwalt an Jim. »Verwahren Sie es wenigstens bis morgen früh, bis ich es an einen sicheren Ort bringen kann. Es war eine wirklich erfolgreiche Arbeit heute abend, und ich bin sehr froh, daß sie beendet ist.« Er war ruhiger und hatte sich wieder erholt.

 

»Es wäre nun besser, Miss Leigh«, sagte er, »wenn Sie zu Bett gingen. Das Dienstmädchen wird Ihnen Ihr Zimmer zeigen. Sie haben den Raum schon bewohnt, als Sie das letztemal hier waren.«

 

Sie war froh, daß sie gehen konnte, schloß mit einem Gefühl der Erleichterung die Tür ab und begann sich auszuziehen. Zehn Minuten später fiel sie schon in einen tiefen und traumlosen Schlaf.

 

Von den Feldern her sah Lattimer, wie ihr Licht ausgemacht wurde, und kam näher an das Haus heran.

 

Kapitel 25

 

25

 

Tap, tap, tap! Elfa hörte den Ton im Schlaf und wurde munter. Tap, tap, tap!

 

Sie glaubte, daß der Rolladen vom Wind gegen das Fenster geschlagen würde. Sie war halb im Schlaf, halb im Wachen, und ihr Bewußtsein verlor sich wieder in Schlaf und Traum, als es aufs neue tönte:

 

Tap, tap, tap!

 

Jetzt wurde sie ganz wach und stützte sich auf den Ellbogen. Es war ihr ganz klar, daß der Ton vom Fenster herkam, und die regelmäßigen Abstände, in denen das Geräusch kam, ließen keinen Zweifel darüber, daß es irgendwie absichtlich hervorgerufen sein mußte. Die Nacht war still und lautlos, und kein Luftzug regte sich. Sie ging zum Fenster und zog die schweren Vorhänge zurück. Das untere Fenster stand weit offen, wie sie es am Abend vor dem Schlafengehen verlassen hatte. Sie konnte keine Schnur und keinen Gurt herunterhängen sehen, von dem das Geräusch herkommen konnte. Die Welt draußen lag in tiefer Finsternis.

 

Als sie zum Fenster hinausschaute, hörte sie, wie der Kies knirschte. Ihr Herz schlug wild vor Aufregung, aber dann erinnerte sie sich daran, daß das Haus bewacht wurde.

 

»Sind Sie es, Miss Leigh?« fragte eine leise Stimme.

 

»Ja«, antwortete sie ebenso. »Haben Sie ans Fenster geklopft?« »Nein«, war die verwunderte Antwort. »Haben Sie jemand klopfen hören? Da müssen Sie wohl geträumt haben.«

 

Sie legte sich wieder nieder, aber sie konnte nicht mehr schlafen. Gleich darauf hörte sie es wieder: Tap, tap, tap!

 

Sie stand auf, zog die Vorhänge ganz leise beiseite und horchte in das tiefe Schweigen hinaus. Dann wandte sie sich vorsichtig zum Fenster und lehnte sich hinaus. Sie strengte ihre Augen an, um die Finsternis zu durchdringen.

 

Sie konnte niemand sehen, nur hinten, nach den Bäumen zu, entdeckte sie das dunkle Glühen eines feurigen Punktes. Sie vermutete, daß der Polizeibeamte eine Zigarette rauchte. Wer mochte wohl ans Fenster geklopft haben? Sie lehnte sich etwas weiter hinaus, und dann fiel von oben etwas über ihren Kopf und legte sich um ihren Hals.

 

Noch ehe sie sich von ihrem Schrecken erholen konnte, zog sich die Schlinge um ihren Hals fester zu. Sie langte mit der Hand hinauf, ergriff die Schnur, die sie zu erwürgen drohte, und zerrte wild daran. Aber mit ungeheurer Kraft riß es sie nach oben. Krampfhaft faßte sie mit der anderen Hand nach dem Fensterbrett und klammerte sich an einem Blumenkasten an. Er fiel mit Gepolter zu Boden. Irgendwo aus dem Garten blitzte ein heller Lichtstrahl auf und beleuchtete sie. In diesem Augenblick lockerte sich die seidene Schnur. Elfa taumelte in das Zimmer zurück und fiel halb bewußtlos neben ihrem Bett nieder. Die Schlinge lag noch um ihren Hals.

 

Der Wachtposten vom Garten kam herbeigelaufen, sprang hoch, erfaßte die obere Kante des Fenstersimses, schwang sich in das Zimmer und drehte das elektrische Licht an.

 

Sie schaute in das Gesicht eines Mannes in mittleren Jahren, den sie nicht kannte. Er nahm die Schlinge von ihrem Hals und legte sie auf ihr Bett. Dann ging er wieder zum Fenster und stieß einen schrillen Pfiff mit seiner Trillerpfeife aus.

 

Jim hörte es und war im Nu aus seinem Zimmer. Aus der Richtung des Schalles konnte er hören, daß er aus Elfas Zimmer kommen mußte. Als er die Tür öffnete, sah er, wie der Detektiv, mit dem er am Abend vorher gesprochen hatte, ihr Gesicht mit einem Schwamm wusch.

 

»Kümmern Sie sich um die Dame«, sagte der Beamte kurz, gab ihm den Schwamm, verließ schnell den Raum und lief die Treppe in die Höhe, die unmittelbar gegenüber der Tür mündete. Jim hörte das Geräusch, wie er mit seinen schweren Schuhen in dem Raum, der über dem Zimmer lag, umherging. Dann wurde er vom Garten aus angerufen.

 

»Ist etwas nicht in Ordnung?«

 

Es war Super.

 

Elfa hatte das Bewußtsein wiedererlangt. Jim ging zum Fenster und erzählte mit ein paar Worten,, was er von der seidenen Schnur am Boden und den roten Flecken am Halse Elfas vermutete.

 

»Kommen Sie schnell herunter und lassen Sie mich ins Haus!«

 

Jim eilte die Treppe hinunter, als Mr. Cardew mit einem Revolver in der einen und einer Taschenlampe in der andern Hand aus seinem Zimmer trat.

 

Ferraby hielt nicht an, um ihm eine Erklärung zu geben, sondern schob die Riegel der Haustür zurück und ließ Super ein. Als sie das Zimmer Elfas wieder erreichten, saß sie auf der Bettkante. Sie hatte ihren Morgenrock um die Schultern gelegt. Ihr Hals schmerzte, sie hatte Schwindelgefühle und starke Kopfschmerzen und zitterte an allen Gliedern. Aber sie konnte wenigstens erzählen, was ihr zugestoßen war.

 

Als sie eben zu Ende war, kam der Detektiv, der nach oben gegangen war, zurück. Er hatte eine Bambusstange in der Hand.

 

»Oben ist ein Bodenraum«, sagte er, »von dem aus eine Falltür auf das Dach führt. Das ist alles, was ich gefunden habe. Der Kerl muß damit an das Fenster geklopft haben.«

 

Super kümmerte sich überhaupt nicht um die Bambusstange.

 

»Er klopft an das Fenster, sie schaut hinaus, und er wirft ihr eine Schlinge um den Hals«, flüsterte er. »Und oben ist eine Falltür, damit er entkommen kann. Ich sage Ihnen, dieser Kerl vergißt nichts! Also schnell aufs Dach, hinter ihm her! Haben Sie eine Pistole? Wenn Sie ihn sehen, schießen Sie … Brechen Sie sich aber nicht das Genick, das ist die Sache nicht wert. Ich fürchte, er wird schon entwischt sein, bevor Sie ihre Untersuchung anfangen können.«

 

Cardew war an der Tür und verlangte Einlaß. Mit einem verärgerten und müden Ausdruck ging Super hinaus und erzählte ihm von dem Vorfall.

 

»Der Raum hier oben ist eine Dachkammer und wird nie gebraucht«, erklärte er überflüssigerweise.

 

Super öffnete ihm widerwillig die Tür und erlaubte ihm, näher zu treten.

 

»Kennen Sie das?« fragte er, nahm die rotseidene Schnur auf und zeigte sie ihm. Sie war etwa drei Meter lang, und das Ende war sorgfältig zu einer Schlinge gebunden.

 

Mr. Cardew schüttelte den Kopf.

 

»Ich habe sie niemals vorher gesehen«, sagte er. »Es ist wohl eine altmodische Klingelschnur. Wir haben nur elektrische Glocken im Haus. Sie ist sehr alt …«

 

»Das vermute ich«, unterbrach ihn Super. »Sie können die Art in jedem Laden kaufen. Fühlen Sie sich besser, meine liebe Miss Leigh?«

 

Sie nickte und machte den tapferen Versuch zu lächeln.

 

»Wir werden das Zimmer verlassen, dann können Sie sich anziehen. Ich glaube, es ist besser, wenn Sie nach unten kommen. Es ist drei Uhr, und früh aufstehen schadet niemals etwas.«

 

In dem Augenblick kam der Detektiv zurück, um die Ergebnislosigkeit seiner Nachforschungen auf dem Dach zu melden.

 

»Wo ist Lattimer?«

 

»Er ist auf der anderen Seite des Hauses.«

 

Super sagte nichts weiter. Als sich das Mädchen angekleidet hatte und herunterkam, ging er hinaus auf den Rasen. Plötzlich hörte Jim ein Nachtigallenflöten wie am vorigen Abend.

 

»Ich kann das Schlagen einer Nachtigall täuschend nachahmen«, gab Super bescheiden zu. »Ich habe direkt eine Gabe, Vogelstimmen zu imitieren, aber Nachtigallen sind meine Spezialität … Nachtigallen und Hühner.«

 

Und zu Jims Erstaunen ließ er das Gegacker einer brütenden Henne hören. Bei einer anderen Gelegenheit hätte Jim laut lachen müssen.

 

»Sind Sie das, Lattimer?« rief Super, als der Sergeant zu ihm eilte.

 

Lattimer trat ins Licht.

 

»Jawohl, Sir.«

 

Seine Kleider waren staubig, seine Hose war an dem einen Knie zerrissen, und es fehlte ein Stück Stoff. Jim sah, daß seine Hände mit Schmutz und Ruß bedeckt waren.

 

»Was ist Ihnen zugestoßen, Lattimer?«

 

»Ich fiel herunter … ich war in solcher Eile«, sagte er kaltblütig.

 

»Haben Sie jemand oder etwas gesehen?« fragte Super.

 

»Nein, ich hörte nur Geräusche im Haus, aber ich wußte, daß Sie irgendwo hier in der Gegend waren. So dachte ich, es wäre besser, draußen zu warten für den Fall, daß jemand versuchen sollte, im Dunkeln durch das Gehölz zu entkommen.«

 

Jim erwartete, daß der Oberinspektor sein Verhör mit Lattimer fortsetzen würde, aber zu seinem Erstaunen geschah das nicht. Super gab ihm einen Befehl und ging dann wieder in das Arbeitszimmer, wo Elfa einen Spirituskocher ansteckte.

 

Der junge Mann war sehr unzufrieden und machte sich selbst auf die Suche. Er ging aus dem Haus, nahm eine der beiden Laternen vom Tisch in der Eingangshalle und besichtigte dann das Haus von außen. Er war noch nicht weit gegangen, als er eine merkwürdige Entdeckung machte. An der Hinterseite lehnte eine lange Leiter, und als er mit seiner Lampe nach oben leuchtete, sah er, daß sie bis zum Dach reichte. Auf der Seite der Leiter hing etwas herunter. Er stieg zwei Sprossen in die Höhe und sah, daß es ein Stück Tuch von unregelmäßiger Form war. Es war an einem vorstehenden Nagel an der Seite hängengeblieben. Er hatte gesehen, daß Lattimer einen dunkelgrauen Anzug mit einem leichten Karomuster trug, das im künstlichen Licht besser zur Geltung kam als am Tag, und dieses Stück Stoff war nicht nur vom selben Muster, sondern entsprach auch in Größe und Form genau dem Loch, das Lattimers Hose am Knie zeigte! Er steckte es in seine Tasche, ging nach dem Haus zurück, rief Super heraus und erzählte ihm, was er gefunden hatte. Der Oberinspektor hörte ihm zu, ohne ihn zu unterbrechen, und ging mit ihm zu der Seite, wo die Leiter stand.

 

»Das ist sicher sehr seltsam«, meinte er schließlich. »Aber es ist möglich, daß Lattimer die Leiter gesehen hat und hinaufstieg, um festzustellen, welche Bewandtnis es damit habe.«

 

»Das hat er aber doch nicht gesagt.«

 

»Nein, das hat er nicht gesagt, das gebe ich wohl zu. Ich werde mich um die Sache kümmern, Mr. Ferraby, und ich möchte Sie bitten, nichts hierüber zu den anderen zu sagen. Es ist sicher auffallend und sehr verdächtig, aber ich glaube doch, daß meine Vermutung richtig ist. Es war doch seine Pflicht, die Leiter und alles, was damit zusammenhing, zu untersuchen.«

 

»Aber er kam doch gar nicht aus der Richtung, wo die Leiter stand, sondern von der Pflanzung her«, sagte Jim hartnäckig.

 

Super rieb sein Kinn.

 

»Das ist gewiß verwunderlich«, gab er wieder zu und wiederholte seine Warnung. »Ich komme womöglich noch um das Vergnügen, den Fall aufzuklären«, fuhr er fort. »Es treten Zwischenfälle ein, mit denen ich nicht rechnete, und ich verstehe auch nicht, warum sie sich ereignen. Wenn ein Mann erst auf die abschüssige Bahn gerät, wird es immer schlimmer mit ihm. In einer halben Stunde wird der Morgen dämmern, dann ist die Gefahr für diese Nacht wohl vorüber.«

 

Er ging in die Bibliothek, ließ sich von Elfa Kaffee einschenken und setzte sich in einen niedrigen Sessel.

 

»Ich werde Ihnen etwas erzählen, was Sie sehr freuen wird«, sagte er zu ihr.

 

»Erzählen Sie es doch bitte schnell«, bat sie überrascht. »Was wollen Sie mir denn mitteilen?«

 

»Die Operation Ihres Vaters war ein großer Erfolg.«

 

Sie sprang auf die Füße, wurde rot vor Freude, dann wieder blaß.

 

»Die Operation ist schon vorüber – aber sie sollte doch erst nächste Woche vorgenommen werden?«

 

»Sie fand gestern abend statt«, sagte Super. »Ich habe mit den Ärzten abgemacht, daß Sie nichts erfahren sollten, bis alles vorüber sei. Aber ich dachte, Sie hätten es erraten, als mir die Oberschwester erzählte, daß Sie einen Brief für ihn zurückgelassen haben, den er lesen sollte, sobald er dazu imstande sei.«

 

»Aber ich habe keinen Brief zurückgelassen«, sagte sie schnell, »und ich hatte auch keine Ahnung, daß die Operation schon gestern abend sein sollte.«

 

Supers Augen wurden klein.

 

»Sie haben keinen Brief …«

 

Er langte nach dem Telefonhörer und wählte eine Nummer.

 

»Sie ist zu Bett? Wecken Sie die Dame auf und sagen Sie ihr, daß Polizeioberinspektor Minter sie jetzt sprechen muß.«

 

Er wartete mit dem Hörer am Ohr und schaute ins Leere. Elfa sah, wie sich sein Gesichtsausdruck veränderte.

 

»Sind Sie es, Miss Mud? Würden Sie so freundlich sein, den Brief, den Miss Leigh für ihren Vater hinterließ, zu öffnen und mir den Inhalt vorzulesen … Nein, das ist alles in Ordnung, ich habe ihre Erlaubnis dazu eben bekommen.«

 

Er wartete. Elfa sah, wie er nickte.

 

»Ach … Danke Ihnen«, sagte er endlich. »Ja, bewahren Sie den Brief für mich auf.«

 

Dann legte er den Hörer wieder auf.

 

»Was stand denn in dem Brief?« fragte Elfa.

 

»Es hat sich jemand einen Spaß erlaubt, denke ich. In dem Brief stand:›Herzliche Grüße. In aller Liebe Deine Elfa.‹ Das ist alles.«

 

Super sprach aber nicht die Wahrheit. Der Brief bestand nur aus einer Zeile, die so lautete:

 

»Ihre Tochter wurde in der vorigen Nacht erdrosselt.«

 

Dieser Kerl denkt an alles, dachte Super voll Bewunderung.

 

Kapitel 26

 

26

 

Mr. Cardew hatte einen Entschluß gefaßt. Er wollte sein Haus abschließen, seine Diener entlassen und entweder eine Wohnung in der Stadt mieten oder den Rest des Sommers auswärts zubringen.

 

»Das scheint mir eine sehr gute Idee zu sein; Sie können nicht schnell genug gehen«, meinte Super, als er es ihm erzählte. »Ich glaube, es wäre das beste, wenn Sie schon heute abend das Haus verließen.«

 

»Ich glaube nicht, daß ich schon heute abend fort kann, ich habe noch zu packen …«

 

»Ich werde Ihnen mehrere Leute zur Verfügung stellen, die Ihnen helfen können«, entgegnete Super.

 

»Ich will diese Nacht noch hier bleiben«, entschied sich der Anwalt, nachdem er eine Weile überlegt hatte. »Vielleicht speisen Sie heute mit mir zu Abend?«

 

»Das kann ich leider nicht, ich erwarte einen meiner Freunde.«

 

»Bringen Sie ihn doch mit.«

 

Super zögerte.

 

»Ich glaube, das ist nichts für Sie. Der Mann ist nicht gerade sehr vornehm, aber ich bewundere ihn doch. Er streitet sich nicht mit mir herum, er ist auch nicht schlau, und wenn jemand sich nicht mit mir herumzankt und nicht schlau ist, dann ist er nach meinem Herzen.«

 

»Super, ich habe Sie noch nicht um Ihre Ansicht über all diese schrecklichen Dinge gebeten, die sich hier in unserer nächsten Nachbarschaft ereignet und Menschen betroffen haben, die wir gut kennen. Ich möchte Sie heute abend fragen. Bringen Sie doch Ihren Freund auf alle Fälle mit. Mr. Ferraby hat auch versprochen, zu erscheinen.«

 

»Kommt die junge Dame auch?« fragte Super.

 

»Nein, sie wird den Abend mit ihrem Vater verbringen. Wir haben einen Raum für sie in dem Krankenhaus besorgt, so daß sie gleich bei ihm sein kann.«

 

Super nickte.

 

»Sie fragen mich, ob ich mir irgendwelche definitiven Ansichten gebildet habe? Ich habe es getan, und ich habe es auch nicht getan. Ich habe meine bestimmten Ansichten, aber ich habe noch keine Beweise dafür. Und ich kann keine Beweise bekommen, ohne die Beweggründe zu kennen. Denn es ist doch ganz klar, daß dieser Großfuß nicht im Lande herumgeht und die Leute tötet, bloß weil er sie morden will. Das existiert nur in Schauergeschichten und auch nur in den allerschlechtesten. Er versucht auch nicht, junge Mädchen zu erdrosseln, damit der Schreck ihrem Vater wieder den Verstand rauben soll, nur weil er gerne mordet. Wenn man erst anfängt zu lügen, ist man auch gezwungen, das Netz immer weiter zu weben.«

 

»Sie meinen betrügen«, verbesserte ihn Cardew mit einem schwachen Lächeln.

 

»Das ist dasselbe«, sagte Super ungeduldig. »Lügen ist Betrügen, und Betrügen ist Lügen. Das ist ja gerade das, was dem armen Kerl, dem Großfuß, passierte. Er fing an zu betrügen und mußte weiter betrügen. Und jedesmal, wenn es schien, daß jemand sein Geheimnis erraten könnte, zog er seine kleine Pistole heraus, und es war zu Ende mit dem Jemand. Es gibt keine Mörder aus Sport, wie ich sie bezeichnen möchte, ausgenommen die wahnsinnigen. Ein Mann begeht einen Mord aus demselben Grund, wie ein Junge seinen Hals wäscht, weil es eben keinen anderen Weg gibt, der Gesellschaft anzugehören. Und hinter all diesen Verbrechen steht ein Wunsch. Ein schönes Heim, Autos, Soupers mit Champagner und Tänzerinnen und allem, was das Leben begehrenswert macht. Ich kenne einen Mann, der seine Frau vergiftete, weil sie ihn zu Hause nicht rauchen lassen wollte – das ist eine Tatsache. Sehen Sie sich den Fall Armstrong an und lesen Sie den Beweis. Und ich kenne einen anderen Mann, der seinen Bruder umbrachte, weil er Geld brauchte, um wetten zu können. Mord ist das einzige Verbrechen, das die Leute niemals aus sich selbst heraus begehen. Hier fängt man sie. Es ist leicht, einen Mord zu verbergen, aber es ist schwer, die kleinen Verbrechen wegzuräumen, die zu dem Mord führen. Ferraby kommt?«

 

»Ja«, nickte Cardew.

 

»Das ist schön.«

 

»Ich wollte Sie noch etwas fragen, Oberinspektor«, sagte Cardew plötzlich. »Mein Gärtner sagt, daß Sie die Spuren einer Leiter so tief im Gras gefunden haben, daß man sie nicht übersehen konnte.«

 

»Es stand eine Leiter auf der Rückseite des Hauses«, sagte Super vorsichtig. »Ich brachte sie vor Tagesanbruch weg, weil ich niemand damit erschrecken wollte. Ich weiß nicht, woher sie kam, da keine Ihrer Leitern so groß ist. Ich werde Nachforschungen darüber anstellen. Und wegen meines Freundes, Mr. Cardew – er ist wie ich, er wird kein Messer vom andern unterscheiden können, und er wird die Speisen verschütten und die Gläser umkippen. Auch ist er nicht gesprächig.«

 

»Sie tun Ihr Bestes, um mich davon abzuhalten, ihn einzuladen«, lachte der Anwalt. »Aber Sie können ihn mitbringen, ich werde mich freuen, ihn zu sehen.«

 

»Er heißt Wells«, sagte Super abwesend. Er schien auf weitere Fragen gefaßt zu sein, aber Mr. Cardew war offenbar nicht neugierig.

 

Plötzlich schlug sich Minter mit einem ärgerlichen Ausruf auf den Schenkel.

 

»Daß ich das vergessen konnte! Ich lud doch meinen Sergeanten Lattimer auch ein, ihn kennenzulernen!«

 

»Bringen Sie Lattimer auch mit«, sagte der andere freundlich. »Lattimer wird wenigstens wissen, wie man mit Messer und Gabel umgeht. Es kam mir immer so vor, als ob er eine gute Erziehung genossen hat … vielleicht eine zu gute …«, fügte er zögernd hinzu.

 

»Meinetwegen«, brummte Super. »Aber er ist nicht zu gut für die Polizei, Mr. Cardew. Er wird einer der kommenden Männer sein. Er versteht etwas von Anthropologie, und das hat mich sehr verwundert. – Wieviel Zehen hat eigentlich ein Pferd? Lattimer weiß es. Er kann Ihnen auch sagen, welcher Unterschied zwischen den Spuren von Revolverschüssen und vorzeitigen Dynamitexplosionen besteht.«

 

»Oberinspektor, Sie haben mich zum besten! Das kann ich Ihnen nicht gestatten«, sagte Cardew gut gelaunt.

 

Er bestand darauf, am Nachmittag in die Stadt zu gehen, und erklärte sich nur widerwillig damit einverstanden, daß Super ihm einen Polizisten als Begleitung mitgab, der vor dem kleinen Büro in King’s Bench Walk Posten stand, während Mr. Cardew ohne Unterstützung seiner Sekretärin seine Geschäfte besorgte.

 

Er hatte viele Briefe zu schreiben, fand aber doch auch Zeit, nach dem Krankenhaus zu telefonieren und sich dort zu erkundigen. Elfa kam an den Apparat.

 

»Wie fühlen Sie sich?«

 

»Furchtbar müde«, sagte sie. »Ich hatte mich eben hingelegt, als ich hörte, daß Sie anriefen. Sind Sie in der Stadt, Mr. Cardew?«

 

»Ja, ich bin für eine Stunde in meinem Büro, gehe aber abends wieder nach Barley Stack zurück. Morgen werde ich mein Haus zuschließen und für einen oder zwei Monate in London sein. Das bedeutet, fürchte ich, daß unsere Zusammenarbeit nun beendet ist, und ich habe mir erlaubt, Ihnen einen Scheck statt einer Kündigung zu senden. Sie erinnern sich an den nächtlichen Einbruch, der in diesem Büro gemacht wurde? Mir kommt es so vor, als ob das schon ein Jahr her sei.«

 

»Es war aber erst letzte Woche«, sagte das Mädchen.

 

»Ich habe meine ganzen Papiere durchgesehen und weiß nun, was gestohlen wurde und warum es entwendet wurde. Selbst Super wird die Wichtigkeit meiner Entdeckung nicht anzweifeln.«

 

»Aus welchem Grund wurde denn der Einbruch verübt?« fragte sie neugierig. Aber er antwortete ihr nicht auf diese Frage. Als sie in ihren kleinen Raum zurückging, dachte sie bei sich, daß Mr. Cardew zu argwöhnisch sei, ihr seine Entdeckung mitzuteilen, weil er fürchtete, daß sie mit Super darüber sprechen könnte.

 

Cardew trat wieder auf die Straße, warf seine Briefe in einen Kasten, winkte dem Beamten, der ihn begleitete, und stieg wieder in das Auto ein. Er sah nicht, daß Lattimer ihn beobachtete. Aber der Sergeant hatte sowohl seine Ankunft wie seine Abfahrt gesehen und folgte ihm jetzt auch nach Barley Stack. Er saß in einem kleinen Wagen und fuhr so dicht hinter Mr. Cardew her, daß dieser ihn hätte sehen müssen, wenn er sich nur einmal umgedreht hätte.

 

Lattimer hielt nicht vor dem Haus, sondern fuhr etwas weiter und verbarg sein Auto in einem Kornfeld. Erst dann stieg er aus, kam zur Straße zurück und nahm Cardews Spur wieder auf.

 

Er ging sorglos über den Rasen, und der Polizeibeamte, der den Anwalt zur Stadt begleitet hatte, rief ihm vergnügt einen Gruß zu.

 

»Super hat nach Ihnen gefragt, Sergeant.«

 

»Ich war immer in der Nähe«, sagte der andere. »Sie können jetzt gehen.«

 

Er holte sich einen Stuhl und setzte sich in den Schatten eines Maulbeerbaumes. Mr. Cardew sah ihn von dem Fenster seines Arbeitszimmers aus sitzen und schickte ihm eine Kiste Zigarren hinaus. Sergeant Lattimer lächelte und winkte dankend zum Fenster hinauf. Er schien sich über etwas sehr zu freuen.