Kapitel 27

 

27

 

»Darf ich Ihnen Mr. Wells vorstellen?« sagte Super großartig.

 

Der kleine Mann; der ungemütlich auf der Ecke eines Stuhles in Supers Büro saß, erhob sich ehrfürchtig und streckte seine große Hand aus. Er war ein bescheidener, ruhiger Mann mit rotem Haar, das schon grau wurde. Er hatte einen geraden Scheitel, und eine große Locke hing über seine Stirn. An seiner langen, silbernen Uhrkette trug er zwei Medaillen. Jim kam es vor, als ob der neue Kragen Mr. Wells sehr unbequem sei.

 

»Wer ist das?« fragte Jim, als er Super einige Minuten allein sprechen konnte.

 

»Er soll ein Hinweis und ein Symbol sein«, sagte Super. »Er ist eine Karte in meinem Spiel. Sein Auftreten bedeutet Unannehmlichkeiten. Möglicherweise muß ich auch drei Monate lang mit meinen Vorgesetzten darüber Briefe wechseln. Aber ich konnte der Versuchung nicht widerstehen und habe ihn zu mir gebeten.«

 

»Ist er ein Detektiv?« Aber als er sich an das Aussehen des Mannes erinnerte, erschien ihm das unmöglich.

 

»Nein, er ist kein Detektiv, er ist mein Freund. Ich habe Cardew schon erzählt, was er ist …«

 

»Nehmen Sie ihn mit zum Essen?« fragte Jim erstaunt.

 

»Gewiß. Ich werde Ihnen auch sagen, warum. Ich wußte es noch nicht, als ich ihn hierherbat. Aber jetzt habe ich es: Cardew wird uns eine neue Theorie vortragen. Nebenbei bemerkt, Sie werden übermorgen ebenfalls zugegen sein müssen bei der neuen Leichenschau. – Ich habe allerhand Achtung vor Cardews Theorien. Aber ich wollte ihm zur selben Zeit zeigen, wo er Fehler macht. Dieser Mann, so möchte ich mich fast ausdrücken, ist das fehlende Glied.«

 

Jim mußte mit dieser etwas merkwürdigen Erklärung zufrieden sein. Er war nicht gerade sehr gerne aus der Stadt gekommen. Höchstens der Gedanke, daß er Cardew durch seine Anwesenheit über die unangenehme Lage hinweghelfen konnte, hatte ihn bestimmt, noch eine Nacht unter diesem schrecklichen Dach zuzubringen. Er hatte vorher nicht einmal gewußt, daß Super ebenfalls zum Essen geladen war. Die Aussicht Mr. Wells, diesem etwas gewöhnlichen und vierschrötigen Mann gegenüberzusitzen, war nicht sehr verlockend.

 

»Es ist Cardews Abschiedsessen. Morgen, wenn er noch am Leben ist …«

 

»Erwarten Sie, daß sich heute abend etwas Besonderes ereignet?«

 

Super nickte.

 

»Wenn er morgen noch lebt, will er zur Stadt gehen, und dann will er nach auswärts. Die Operation an Mr. Leigh war ein voller Erfolg.«

 

Er gab in seiner seltsamen Art der Unterhaltung plötzlich eine ganz andere Wendung. »Er erkannte seine Tochter diesen Nachmittag wieder, und das ist gut. Aber er ist noch zu schwach, um eine zusammenhängende Aussage zu machen. Das ärgert mich sehr. Lattimer wird auch zugegen sein.«

 

»Bei dem Essen?«

 

Super nickte feierlich.

 

»Lattimer wird Ihnen Freude machen – er kann mit beiden Händen essen, und man hat noch nie gehört, daß er eine Fingerschale mit einem Weinglas verwechselte, Er hat die Manieren eines vornehmen Herrn, und außerdem ist er ein tüchtiger Psychologe. Wir werden einen vergnügten Abend haben, und wenn er und Mr. Cardew sich über Lombroso unterhalten werden – Sie wissen schon, diesen bekannten Theoretiker …«

 

Jim kam vor den anderen an, und der Anwalt bat ihn, für den Abend keine besondere Toilette zu machen.

 

»Ich habe Super gebeten zu kommen, und er bringt seinen Sergeanten Lattimer und einen Freund mit … Haben Sie eigentlich diesen Freund schon einmal getroffen?«

 

Jim lächelte.

 

»Ich hoffe, daß Sie nicht zu entsetzt über ihn sind; er sieht reichlich sonderbar aus.«

 

»Er muß schon sehr sonderbar sein, wenn er ein Freund Supers ist«, meinte Cardew trocken. »Ferraby, ich werde diesen Ort verlassen müssen; jetzt aber sehe ich erst, wie schwer es mir fällt und wie sehr ich Barley Stack liebe. Ich bin früher einmal hier sehr glücklich gewesen«, fügte er mit müder, leiser Stimme hinzu.

 

»Sie werden doch wiederkommen?«

 

Cardew schüttelte den Kopf.

 

»Ich werde das Grundstück verkaufen. Ich habe bereits an einen Agenten geschrieben und ihn gebeten, die Sache in die Wege zu leiten. Höchstwahrscheinlich werde ich meinen Wohnsitz in der Schweiz nehmen und, soviel in meinen Kräften steht, zu der Literatur über Kriminologie beitragen. Ich werde mir sicher die Verachtung des Oberinspektors Minter zuziehen« – seine Lippen zuckten verächtlich – »aber das muß ich eben in Kauf nehmen.«

 

»Sie glauben doch nicht etwa, daß Ihnen Gefahr droht, Mr. Cardew?«

 

Zu Jims größtem Erstaunen nickte er.

 

»Jawohl. Ich glaube, daß ich mich in den beiden nächsten Jahren in größter Gefahr befinde. Ich habe mich entschlossen, ins Ausland zu gehen. Auch der Oberinspektor billigt meine Absicht.«

 

Er schaute aus dem Fenster und sah Lattimer auf seinem Beobachtungsposten.

 

»Ich kann diesen polizeilichen Schutz nicht ertragen. Dabei würde ich auf die Dauer verrückt werden. Nun erzählen Sie mir noch etwas über den merkwürdigen Freund.«

 

Jim beschrieb ihn mit großer Genauigkeit und ließ durchblicken, daß er von dem Mann nicht entzückt war.

 

»Er wird kaum zu einer fröhlichen Stimmung heute abend beitragen«, sagte Cardew. »Aber ich mußte ihn doch schließlich einladen. Super hatte ihn für den Abend zu sich gebeten, und unseren alten Freund wollte ich doch auf alle Fälle bei meinem Abschiedsessen dabei haben. Ich wünschte«, sagte er mit einem Seufzer, »daß ich es unter glücklicheren Umständen abhalten und daß auch Miss Leigh hier sein könnte. Aber das Verbrechen, das gestern abend geplant war, war das Äußerste … Ich würde eine solche Aufregung wie diese nicht mehr ertragen.«

 

*

 

Es war zehn Minuten nach der festgesetzten Zeit, als Super mit dem rothaarigen Mann erschien, der hinter ihm auf dem Motorrad gesessen hatte. Es gab nichts Drolligeres, als den Anblick des komischen Oberinspektors Und seines kleinen, etwas korpulenten Gastes, der ihn um die Taille gefaßt hatte.

 

»Darf ich Ihnen meinen Freund, Mr. Wells, vorstellen?«

 

Cardew reichte ihm die Hand.

 

»Bitte, Lattimer, begrüßen Sie Mr. Wells.«

 

Der Sergeant trat vor und ging zu den beiden.

 

»Nun wollen wir aber mit dem Essen beginnen. Die Suppe steht schon auf dem Tisch.«

 

Sie folgten dem Anwalt ins Speisezimmer. Cardew wies jedem seinen Platz an, und sie setzten sich nieder. Die Suppe war zwar noch nicht serviert, aber das Mädchen schöpfte sie eben auf der Anrichte nebenan in die Teller und teilte sie aus. Der rothaarige Mann schaute vorwurfsvoll auf Super, und dieser hob seinen großen Suppenlöffel.

 

»Der da«, sagte er mit einem heiseren Flüstern. Dann sprach er mit seiner natürlichen Stimme weiter: »Bevor wir dieses Abschiedsessen beginnen – ich bin erstaunt, daß niemand gefragt hat, wer mein Freund ist.«

 

»Ich gestehe, daß ich sehr neugierig bin«, sagte Mr. Cardew.

 

»Erheben Sie sich, Mr. Wells, Reichen Sie dem Anwalt Mr. Cardew die Hand. Mr. Cardew, reichen Sie bitte Mr. Topper Wells Ihre Rechte – dem Henker von England!«

 

Cardew zuckte zurück, auf seinem Gesicht zeigten sich Abscheu und Entsetzen. Sogar Jim starrte erschrocken auf den mittelgroßen, kräftigen Mann.

 

»Reichen Sie ihm die Hand, Lattimer, möglicherweise haben Sie ihn schon getroffen und werden noch öfter mit ihm zu tun haben.«

 

Super schaute den Sergeanten fest an.

 

»Und rühren Sie die Suppe nicht an, Lattimer – und auch keiner von Ihnen, weil – weil –«

 

»Was wollen Sie damit sagen?« fragte Cardew.

 

»Weil sie vergiftet ist!«

 

Cardew rückte seinen Stuhl vom Tisch, und Jim sah auf seinem Gesicht wieder den Ausdruck von Überraschung und Mißtrauen, den er schon vorher bemerkt hatte.

 

»Vergiftet?«

 

»Ja, vergiftet.« Und dann fuhr er fort. »Also reichen Sie Mr. Wells, dem Henker, die Hand …«

 

Bevor er die Absicht Cardews erraten konnte, war dieser mit wenigen Sätzen aus der Tür, schlug sie hinter sich zu und schloß sie ab.

 

»Schnell durchs Fenster«, sagte Super. »Schlagen Sie es mit dem Stuhl ein. Ich wette, daß er die Fensterläden geschlossen hat.«

 

Lattimer schlug mit einem schweren Stuhl gegen das Fenster und den Laden. Das Glas splitterte, und der Rolladen gab nach. In der nächsten Sekunde war der Sergeant draußen.

 

»Gehen Sie schnell herum auf die Rückseite«, rief ihm Super nach. »Ich hätte noch viel mehr Leute hierhaben müssen!«

 

Jim lief aufgeregt umher. Er war außer sich Cardew sollte der Mörder sein? Das war einfach unmöglich!

 

Sie eilten in den Wirtschaftshof. Super riß eine Tür auf, die nicht verschlossen war. Jenseits sah er einen Pfad, der sich zu einer Seitenstraße hinunterzog. Es war der Eingang der Lieferanten für die Küche.

 

Einen Augenblick sahen sie den Kopf Cardews, der sich mit außerordentlicher Geschwindigkeit fortbewegte. Er ragte über die Grenzhecke vor und kam dann außer Sicht.

 

»Er fährt auf einem Motorrad«, sagte Super. »Es ist dasselbe, das er bei seiner Flucht benützte, nachdem er Hanna Shaw umgebracht hatte. Nur so war es ihm möglich, zu entkommen, ohne Pawsey zu berühren. Er ist über den Feldweg gefahren und hat sein Motorrad über die beiden Zauntritte gehoben, die im Weg waren. Schnell Ihr Auto, Ferraby!«

 

Super lief zur Bibliothek zurück, aber er hatte kaum den Hörer abgenommen, als er schon wußte, daß die Drähte durchschnitten waren.

 

»Der Kerl denkt an alles!« sagte er zu sich. »Er muß doch den Draht schon vor dem Abendessen durchgeschnitten haben. Er glaubte ganz sicher, uns alle in den ewigen Schlaf versenken zu können.«

 

Als er zur Toreinfahrt zurückkam, stieg Lattimer gerade in den Wagen.

 

»Halten Sie nicht mehr an«, schrie Super und schwang sich auf das Trittbrett.

 

An der Wegkreuzung trafen sie eine Polizeipatrouille, aber sie hatte keinen Motorradfahrer gesehen.

 

»So hat er uns also irregeführt und ist wieder zurückgefahren«, sagte Super und schaute besorgt nach dem Himmel. »In einer halben Stunde wird es stockdunkel sein.«

 

Der Flüchtling konnte auf drei verschiedenen Wegen entkommen. Der erste führte direkt durch Isleworth, der zweite durch Kingston zum Richmond Park, und der dritte war einer der vielen Feldwege der Nachbarschaft. Super fuhr schnell zur Polizeiwache zurück, um die nötigen Anordnungen zu treffen.

 

»Cardew hat ein Privatflugzeug für heute abend bestellt, um damit von Croydon nach Paris zu fliegen«, sagte er. »Vermutlich ahnt er, daß wir diesen Plan durchkreuzen werden, also läßt er ihn fallen, Er hat nur noch die eine Hoffnung, nach London zu entkommen, und das wird ihm auch gelingen. Ich sage Ihnen, dieser Mann kann sehr schnell denken und hat einen großen Weitblick.«

 

Er verließ die Polizeiwache und schaute düster auf den Wagen.

 

»Sicher wird er nach London kommen, aber er wird nicht in seine Wohnung und auch nicht in sein Büro gehen. Er muß also sonst irgendwo einen Schlupfwinkel haben. Er ist leicht zu erkennen« – er sprach halb zu sich selbst – »und wird deshalb nicht versuchen, mit der Eisenbahn oder im Auto zu fliehen. Und ich bin überzeugt, daß er nicht in einem Flugzeug fortkommen kann.«

 

Als sie die Stadt erreichten, verdoppelte Super zuerst die Wachtposten am Krankenhaus. Dann ging er zu Cardews Stadtwohnung. Der Anwalt war nicht dort, wie er erfuhr. Auch in seinem Büro hatte man ihn nicht gesehen. Als er wieder zu Jim auf die Straße trat, nahm er dessen Einladung an, schnell etwas mit ihm zu essen.

 

»Ja. Cardew tötete Hanna Shaw. Sie hatte ihn in der Hand und wollte ihn heiraten. Er haßte sie mehr als Gift, denn sie besaß einen Brief von ihm, den er vor Jahren einmal schrieb, und sie drohte ihm damit, das Papier der Polizei auszuliefern, bis er schließlich einwilligte, sie zu heiraten.

 

Sie heiratete ihn an dem Tag, als sie ermordet wurde, und zwar auf dem Standesamt in Newbury unter dem Decknamen Lynes. Daß er sie unter falschem Namen heiratete, machte ihr nichts aus, wenn sie ihn nur bekam. Aber sie war fest entschlossen, daß er sie als seine Frau gesetzlich anerkennen sollte. Deshalb telegrafierte sie an Miss Leigh, zu dem Haus zu kommen, damit sie eine Zeugin hatte. Er bekam den Brief von ihr – um diesen Preis hatte er sie geheiratet –, und kaum hatte er das Schreiben in der Hand, da erschoß er sie.

 

Er hatte alles so abgekartet, daß er sie nach der Trauung in dem Haus traf – daß Cardew Sie einlud, mit ihm ins Theater zu gehen, war nur ein Bluff. Es war ja leicht für ihn, Sie in die Irre zu führen, da ihm bekannt war, daß Sie sich für den Abend verabredet hatten – nur wußte er nicht, was Sie vorhatten.

 

Er ist schon früher immer Motorrad gefahren, und in einem der Räume des Hauses stand auch eine Maschine. Ich entdeckte Schrammen von den Handgriffen an der Lenkstange, als ich die Räume genau untersuchte. Er hatte mit Hanna verabredet, sie spät abends zu treffen. Sie fuhren beide zusammen nach dem Haus, aber aus irgendeinem Grund überredete er sie, ihn auf dem Rücksitz des Wagens fahren zu lassen. Er duckte sich so tief, daß ihn niemand sehen konnte. Er hat an alles gedacht, sage ich Ihnen. Auch den Hut und den Mantel, den sie trug, hatte er in seinen Plan einbezogen, und als er sie erschossen hatte, zog er ihren Hut und Mantel an; denn sie hatte ihm gesagt, daß Elfa kommen würde, und er fürchtete, sie auf dem Wege zu treffen.«

 

»Aber warum hat er das getan – warum in aller Welt? Er war doch ein reicher Mann?«

 

»Reich – durchaus nicht«, sagte Super. »Er hatte Geld … ja, aber wie kam er dazu? Ich werde Ihnen einmal die ganze Geschichte erzählen. Und obgleich ich manches nur vermuten kann, wird Mr. Leigh mir wahrscheinlich nicht widersprechen.

 

Mr. Leigh war Beamter des Schatzamtes. Er kam in den letzten Tagen des Krieges aus Amerika und brachte unter seiner persönlichen Obhut vier große Kisten voll Goldgeld mit, die die Nummern 1, 2, 3 und 4 trugen. Sie erinnern sich doch, daß er immer so viel über drei und vier sprach. Das Schiff wurde während eines Sturmes an der Südküste von England torpediert. Aber ein Zerstörer kam ihm zu Hilfe. Es war nur Zeit, zwei der Kisten an Bord zu bringen, bevor das Schiff sank. Der Funkapparat an Bord des Zerstörers war vernichtet. Er kam durch den irischen Kanal und näherte sich der irischen Küste. Der Sturm dauerte drei Tage lang. Das Schiff konnte weder einen Hafen finden, noch sich mit der Küste in Verbindung setzen, bis es in die Bucht von Pawsey kam. Und das war sein Verderben, denn es wurde von einer Seemine erwischt und zerstört.

 

Zu jener Zeit«, fuhr Super fort, »war Cardew vollständig erledigt, ja noch mehr als das. Er hatte viel Geld, das ihm seine Klienten anvertraut hatten, in leichtsinnigen Spekulationen verloren. Einer seiner Kunden machte ihm schon Schwierigkeiten. Es war Brixton, ein Stadtrat der City von London. Er schrieb sogar schon nach Scotland Yard, daß er der Polizei eine wichtige Mitteilung zu machen hätte. Ich wurde zu ihm geschickt, um ihn zu vernehmen, hatte aber schon eine Ahnung, worüber er sich beschweren wollte, und wußte auch durch andere Gerüchte, daß Cardew böse in der Klemme saß. Anstatt daß mir Brixton nun die Geschichte erzählte, erhielt ich eine Mitteilung von ihm, daß er mir nichts mehr mitzuteilen habe. Das hatte seinen guten Grund. Er war nämlich inzwischen ausgezahlt worden. Und wieso er ausgezahlt worden war, will ich Ihnen gleich sagen.«

 

Super trank ein großes Glas Bier aus.

 

»Cardew war in der Nacht des Schiffbruchs in seinem Haus an der See. Er hatte den Entschluß gefaßt, auf das Meer zu fahren und sich zu ertränken. Aber bevor er die Küste verließ, schrieb er einen langen Brief an den Leichenbeschauer; denn er war ja Anwalt und in mancher Hinsicht immer präzis. In dem Brief legte er ein volles Geständnis ab und nannte auch die Summe, die er seinen Klienten gestohlen hatte. Er hörte die Explosion, sein Ruderboot war an der Küste, und einige Minuten lang hat er wohl ein menschliches Mitgefühl gehabt. Er fuhr aufs Meer hinaus und fand zwei Männer, die sich an einem Holzfloß anklammerten. Sie werden eines Tages von Mr. Leigh noch hören, daß die Kisten 3 und 4 an Holzplanken befestigt waren, als sie auf das Hauptdeck des Zerstörers gebracht wurden. Cardew nahm sie auf und brachte sie zur Küste. Einer von beiden war Leigh, der nahezu tot war, der andere war Elson, ein Viehhändler, der sich als Deckarbeiter eingeschifft hatte, um der Polizei zu entgehen. Elson wußte von dem Geld und erzählte Cardew davon. Sie brachten die Kisten an Land, und Leigh kam allmählich wieder zu sich. Elson wußte, daß das Geld in Leighs Obhut war. Die einzige Hoffnung, sich in den Besitz des Geldes zu setzen, bestand also darin, ihn zu erledigen. Er zog unseren Freund Cardew ins Vertrauen, vielleicht auch nicht, aber, jedenfalls ist es sicher, daß er John Leigh mit einer Axt über den Kopf schlug und ihn ins Meer warf. Wie der mit dem Leben davonkam, kann ich Ihnen jetzt im Moment noch nicht sagen. Zwölf Monate lang fehlte jegliche Spur von ihm, aber es ist sehr wahrscheinlich, daß er an der Küste von Pawsey aufgefischt wurde, wo damals ein Marinehospital war. Offenbar hat er dort ein ganzes Jahr gelegen. Ich habe ein Aktenstück der Admiralität eingesehen, das von einem unbekannten Mann handelt, der wegen einer tiefen Kopfwunde behandelt wurde. In dem Akt wird er als geisteskrank bezeichnet. Er wurde in ein Erholungsheim entlassen. Ich weiß nicht, ob Cardew dabei seine Hand im Spiel hatte … Es ist leicht möglich. Die beiden brachten die beiden Kisten in sein. Haus, und Hanna erfuhr auch davon. Sie wohnte zu jener Zeit dort und sorgte für Cardew. Sie öffneten die Kisten, nahmen das Geld heraus und verbrannten das Holz. Sie mußten mit Hanna teilen, und wahrscheinlich hat sie damals zum erstenmal von der schrecklichen Lage gehört, in der sich Cardew befand. Ich vermute nun, daß er den Brief kurz vor der Explosion schrieb und unterzeichnete. Sie las ihn, während er hinauseilte, nahm ihn an sich und verbarg ihn. Er hatte ihn offensichtlich lange Zeit vollständig vergessen.«

 

»Aber das vermuten sie doch alles nur?«

 

»Ich weiß … der Briefumschlag, der an den Leichenbeschauer adressiert war, hat mir sehr viel Aufschluß gegeben. Ich habe schon viel mit Selbstmorden zu tun gehabt. Cardew hatte ein Haus in Barley Stack, das mit Hypotheken überlastet war. Er zahlte alle diese Hypotheken ab, befriedigte die Ansprüche seiner Gläubiger und zog sich dann aus seinem Geschäft zurück, da er ja Geld genug hatte. Es wäre ihm vielleicht auch geglückt, ein ruhiges Leben zu führen, wenn nicht Hanna der Ehrgeiz gepackt hätte, die Stelle der Frau einzunehmen, seiner verstorbenen Frau, von der sie so sehr begünstigt worden war. Sie ließ Cardew keine Minute Ruhe. Einmal markierte sie den Anfangsbuchstaben des untergegangenen Schiffes auf dem Rasen vor seinem Fenster, um ihn daran zu erinnern, welche Macht sie über ihn habe.«

 

»Haben Sie das alles schon lange gewußt?«

 

»Sie können wetten, daß ich sehr viel davon wußte. Ich war sehr gespannt darauf, was Elson zustoßen würde, wenn es einmal in seinem dicken Schädel dämmerte, daß Cardew Hanna getötet hatte. Ich hatte ihm schon seit Monaten Lattimer auf den Hals gehetzt. Er borgte Geld von ihm, um ihm klarzumachen, daß er in seiner Gewalt sei. Ich hoffte, daß er ihm eines Abends in der Trunkenheit die ganze Geschichte erzählen würde. Lattimer hatte ein leichtsinniges Huhn zu spielen, und ich muß schon sagen, er hat es erschreckend gut gespielt. Er hat nur nach meinen Instruktionen gehandelt. Nur ein einziges Mal tat er das nicht, als er mir zur Stadt folgte, weil er in seinem Übereifer dachte, daß Cardew mir auflauerte.«

 

»So hat auch Cardew Miss Leigh erdrosseln wollen?«

 

»Ja, Lattimer war auf dem Dach, ich hatte ihn dorthin beordert. Wir stellten die Leiter an, sobald die Dunkelheit hereinbrach. Er hörte das Klopfen am Fenster, aber er konnte nicht erkennen, was vor sich ging, bis sich die Falltür mit einem Krachen öffnete. Lattimer wartete, daß jemand herauskommen würde. Und als das nicht geschah, vermutete er, daß der Mann, der an alles dachte, einen Fensterladen aufmachte, und kletterte so schnell wie möglich die Leiter hinunter.«

 

Jim war verstört durch alle diese Neuigkeiten.

 

»Was meinten Sie damit, als Sie Cardew an jenem Morgen fragten, ob seine Hände zerkratzt wären?«

 

»Warum fand man ihn chloroformiert?« fragte Super mit einem unheimlichen Grinsen, das seine Befriedigung ausdrückte. »Er versuchte wieder einen ganz gewöhnlichen Trick. Er las einen Mann am Themseufer auf und sandte ihn mit einem vergifteten Kuchen zu dem Botenbüro. Durch einen glücklichen Zufall spürten Sie den Vagabunden auf, und wir konnten ihn verhaften. Dann ging ich zu Cardew und erzählte ihm eine erfundene Geschichte, daß er den Kerl verhören solle. Dazu brauchte ich Sie als Vorspann. Ich bin sehr traurig darüber, Mr. Ferraby. Cardew fiel sofort auf die Sache herein, bis ich so beiläufig erwähnte, daß der Mann derselbe Strolch sei, den er am Themseufer aufgegriffen hatte. In diesem Augenblick wußte er, daß es Sullivan war, von dem ich sprach. Und Sullivan hätte ihn sicher an der Stimme wiedererkannt. Deshalb habe ich ihn ja auch gebeten, zur Polizeistation zu kommen und Sullivan zu verhören. Es blieb ihm nur der eine Ausweg, eine Geschichte zu erfinden, daß man ihn überfallen und chloroformiert hätte. Er hatte eine Menge Gifte und Medizinen in seinem Haus. Mit Chloroform feuchtete er ein Tuch an, warf die Flasche aus dem Fenster, legte sich aufs Bett und wäre beinahe um die Ecke gegangen. Er hat ein schwaches Herz, und sein Leben hing an einem seidenen Faden. Als ich seine Finger untersuchte, roch ich an ihnen, und daran erkannte ich, daß er die Chloroformflasche selbst entleert hatte. Ich habe eine feine Nase. An dem Tag, als er in dem Gebüsch dort oben nach uns schoß, konnte ich das Chloroform noch riechen. Viele Leute werden Ihnen erzählen, daß der Chloroformgeruch in einer halben Minute verschwindet. Senden Sie die Leute nur zu Patrick Minter, er wird Ihnen etwas ganz anderes erzählen.

 

Mr. Ferraby, ich werde nie wieder etwas gegen Amateurdetektive sagen. Cardew lernte alle diese Dinge sehr schnell. Ich habe eine große Hochachtung vor Anthropologie, und Psychologie gehört zu den Wissenschaften, die ich an erster Stelle studieren möchte.

 

Den Raubüberfall auf sein Büro, bei dem alle Papiere Hanna Shaws verbrannt wurden, muß er selbst ausgeführt haben, weil er nicht die Rolladen herunterließ und das Licht nicht andrehte. Er konnte seinen Weg im Dunkeln finden! Ich entdeckte doch eine monatealte Rechnung, die in einem der Rolladen festgeklemmt war.«

 

Er stellte sein Glas mit einem Seufzer auf den Tisch und schlug sich an die Stirn.

 

»Nun habe ich doch den Henker allein gelassen und habe ihm nicht einmal gesagt, wo er bleiben kann!«

 

»Warum in aller Welt haben Sie den noch in die Geschichte hineingebracht?« fragte Jim Ferraby, der immer noch nicht fassen konnte, was Super ihm erzählt hatte.

 

»Das war mein letzter Trumpf. Wir versuchten, Elson so zu erschrecken, daß er redete. Lattimer klebte eine Warnung an seine Tür. Aber wir ließen uns niemals träumen, was das Ergebnis sein würde. Ich dachte, Elson würde jetzt auspacken, aber er tat es nicht. Als er Leigh hatte singen hören, ging er ans Telefon und erzählte dummerweise Cardew die ganze Geschichte. Ich weiß es, weil ich seine und Cardews Leitung überwachen ließ. Und da fing das ganze Unglück an. Cardew ging noch in der Nacht zu meinem Haus und stellte die Falle auf, um mich zu töten. Ich will Ihnen die Wahrheit sagen, Ferraby: Ich habe Cardew unterschätzt. Ich dachte, ich hätte seine Nerven so heruntergebracht, daß er die ganze Geschichte verraten würde. Aber der Kerl war zu klug!«

 

Er schüttelte den Kopf.

 

»Dieser Großfuß …«

 

»Großfuß?«

 

»Sicher, er ist Großfuß. Ich habe seine großen Schuhe, deren Abdruck wie der eines nackten Fußes aussieht, in meinem Zimmer unter dem Bett stehen; er hat sie von einem Mann gekauft, der mit Theaterrequisiten handelt und in der Catherine Street wohnt. Er vergaß nichts und war auf alles vorbereitet. Er hatte diesen Trick mit den großen Füßen längst ausgedacht, um die Spuren in dem Sand an der Küste zu machen, und hat alle schlauen Polizeibeamten an der Nase herumgeführt. Nur einen Fehler machte er – er vergaß sie nämlich unter dem Sitz im Wagen, und da fand ich sie. Die Geschichte mit dem Warnungsbrief an Hanna Shaw war seine Erfindung. Sie hat nie einen Brief von Großfuß erhalten – Cardew hatte nur seine Vorbereitungen getroffen, um sein Alibi sicherzustellen.«

 

Jim Ferraby lehnte sich in seinem Stuhl zurück und starrte mit offenem Mund bewundernd auf Super.

 

»Sie sind ein Genie«, sagte er dann atemlos.

 

»Das ist nur Schlußfolgerung und Theorie«, erwiderte Super bescheiden. »Und gerade kommt mir ein Gedanke! Es gibt für ihn noch einen anderen Weg aus London!«

 

*

 

Um halb zwei Uhr morgens lag die große Wasserstraße Londons ruhig und verlassen da. Fern im Norden spiegelten sich die Bogenlampen der vielen Docks am Himmel wider. Ein großes, seetüchtiges Motorboot kam ruhig mit der fallenden Flut den Fluß herunter. Seine grünen und roten Lichter glänzten auf dem Wasser. Es bewegte sich nur langsam vorwärts.

 

Als es in die Höhe von Gravesend kam, fuhr es ein wenig schneller und bog nach links aus, um einem dort ankernden Dampfer auszuweichen. Es war fast an dem großen Schiff vorbei, als sich aus dem düsteren Schatten des Dampfers ein kleines, schnelles Fahrzeug löste und auf die Breitseite des Motorbootes zuhielt.

 

»Hallo, wer ist dort?« rief eine heisere Stimme aus der Finsternis.

 

»Motorboot Cecily – Eigentümer Graf von Freslac, mit der Bestimmung nach Brügge«, kam die Antwort zurück.

 

Die Boote kamen näher und näher zusammen, bis das kleine Schiff längsseits mit dem Motorboot lag. Plötzlich erkannte der Eigentümer des Motorbootes die Gefahr, und die Maschine begann zu rasen. Aber das kleine Boot hatte schon an seiner Seite festgemacht, und Super war der erste, der an Bord sprang.

 

»Ich habe wirklich Glück, Cardew, ich dachte nicht, daß ich Sie auf den ersten Hieb fangen würde!«

 

»Auch Ihre Theorien und Schlußfolgerungen sind bisweilen richtig«, sagte Cardew höflich, als sich die Handschellen um seine Gelenke schlossen.

 

Kapitel 3

 

3

 

An einem schönen Frühlingstag mit einem dunkelblauen Himmel ist der Temple ein wunderbar träumerischer Platz, an dem man gerne ausruht. Die malerischen Partien in den Gärten, die grünen Blätter der Bäume, die ihre Äste über altersgraue Steinplatten recken, schimmern im goldgrünen Licht der Sonne, und die Springbrunnen plätschern melodisch. Die Fassaden des Gebäudes, die in den nebligen Tagen des Februar so drohend erscheinen, sehen hell und freundlich aus. Die Anwälte in ihren grauen Perücken und ihren langen schwarzen Gewändern verlangsamen ihre Schritte, wenn sie diese wunderbaren Gärten durchwandern, die ihre Büros umgeben.

 

Jim Ferraby, der gemächlich von Fleet Street zu seinen Räumen nach King’s Bench Walk ging, machte an einem Springbrunnen halt, um den Hut eines kleinen Mädchens zu retten, der vom Wind hineingetrieben worden war. Als er weiterging, pfiff er eine leise Melodie. Seine Hände steckten tief in den Taschen, und Zufriedenheit lag auf seinem Gesicht. Er war ein junger Mann Anfang der Dreißig.

 

Er erreichte den Flur, hielt aber vor den Steinstufen der Treppe an und schaute frohgestimmt auf den silberhellen Fluß, den er von hier aus sehen konnte. Langsam ging, er die dunkle Treppe hinauf und machte vor einer schweren, dunkelbraunen Tür halt. Er holte einen großen Schlüssel aus der Tasche und steckte ihn in das Schlüsselloch.

 

Als er ihn umdrehte, hörte er, daß sich die gegenüberliegende Tür öffnete. Er wandte sich um, und ein Lächeln huschte über das Gesicht des Mädchens, das in der Türöffnung stand.

 

»Guten Morgen, Miss Leigh«, sagte er vergnügt.

 

Sie nickte.

 

»Guten Morgen, Mr. Ferraby.«

 

Elfas Stimme war sanft und merkwürdig melodisch. Diese Stimme hatte zuerst Jims Aufmerksamkeit auf die Sekretärin des alten Cardew gelenkt. Elfa hatte ein schönes Gesicht, wie es wohl Künstler malen können, wie es aber in Wirklichkeit selten zu sehen ist, und eine anmutig, schlanke Gestalt. Die tiefen, grauen Augen, die wie die einer Orientalin etwas schräg standen, schauten ihn vergnügt an. Aber alles das war nichts im Vergleich zu dem wunderbaren Zauber ihrer Stimme.

 

Ihre Bekanntschaft dauerte schon über ein Jahr. Sie hatte auf diesem staubigen Treppenabsatz begonnen und war mit einer gewissen Steifheit und Förmlichkeit die ganze Zeit über fortgesetzt worden. Es lag eigentlich gar kein Grund vor, weshalb der alte Mr. Cardew überhaupt ein Büro in King’s Bench Walk unterhielt; denn er übte seinen Beruf nicht mehr aus.

 

Er zählte achtundfünfzig Jahre, und dieses Alter erscheint einer, jungen Dame von zwanzig als außerordentlich hoch. Früher hatte die Firma Cardew & Cardew eine ungewöhnlich vornehme und reiche Kundschaft in London. Die Rechtsanwälte waren Agenten beim Verkauf großer Landgüter, sie verwalteten Vermögen und waren die juristischen Vertreter mächtiger Verbände. Aber während des Krieges war der letzte Cardew all der Verantwortlichkeit müde geworden und hatte seine Klienten einem jüngeren und, wie er sagte, tatkräftigeren Anwalt übertragen. Er hätte auch der Überlieferung folgen und sich einen Partner nehmen können, dann wäre der Name der alten Firma, die über hundertfünfzig Jahre in Ehren bestand, nicht untergegangen. Aber er zog es vor, sich ganz aus der Praxis zurückzuziehen, und sein großes, düsteres Büro in King’s Bench Walk war ausschließlich der Führung seiner eigenen Geschäfte gewidmet; denn Mr. Gordon Cardew hatte Vermögen.

 

»Ich vermute, Sie sind mit Erfolg vor Gericht aufgetreten, und der arme Mann ist ins Gefängnis gewandert?«

 

Die beiden standen einander nun in den offenen Türen gegenüber, und ihre Stimmen hallten in dem leeren Treppenhaus wider.

 

»Nein, ich habe keinen Erfolg gehabt«, sagte Jim ruhig, »und ›der arme Mann‹ sitzt aller Wahrscheinlichkeit nach in irgendeinem Wirtshaus, trinkt ein Glas Bier und schimpft auf das Gesetz.«

 

Sie sah ihn etwas verwirrt an.

 

»Oh – das tut mir sehr leid … Ich will damit nicht sagen, daß ich traurig bin, daß der Mann in Freiheit ist – ich wollte nur sagen, es tut mir leid, daß Sie keinen Erfolg hatten. Mr. Cardew sagte mir, daß der Mann sicher überführt würde. Hat denn die Gegenseite neues Tatsachenmaterial beigebracht?«

 

Sie sprach ganz sachlich von der Gegenseite, wie das unter Anwälten so üblich ist.

 

»Nein, sie hat weiter nichts vorbringen können. Sullivan ist freigekommen, weil ich als Staatsanwalt gegen ihn auftrat. Das klingt merkwürdig, Miss Leigh, aber ich habe die Gesinnung eines Verbrechers. Während der ganzen Zeit, die ich gegen ihn sprach, dachte ich für ihn. Es war der erste Fall, in dem ich jemals als Staatsanwalt vor dem Gericht erschien, und es wird wahrscheinlich auch der letzte gewesen sein. Der Richter sagte in seiner Begründung, daß meine Anklagerede die einzig mögliche Verteidigung sei, die der Gefangene hätte vorbringen können. Sullivan hätte eigentlich auf ein Jahr ins Gefängnis wandern müssen, statt dessen läuft er nun im Land herum und stiehlt Enten.«

 

»Enten? Ich dachte, es war ein Einbruch?« Sie war erstaunt.

 

»Ich habe dafür plädiert, daß die Strafverfolgung ausgesetzt wird. Ich bin ein ruinierter Mann, Miss Leigh, ich habe den Verstand eines Erzverbrechers, verbunden mit dem hohen moralischen Gewissen eines frommen Bußpredigers. Von jetzt ab werde ich wieder ein namenloser Beamter bei der Staatsanwaltschaft sein.«

 

Sie lachte leise bei dieser feierlichen Erklärung. In diesem Augenblick hörten sie einen festen Schritt auf der Treppe, und als Jim hinunterschaute, sah er den tadellosen Zylinder von Mr. Cardew. Ein ernstes, vornehm geschnittenes Gesicht und freundliche Augen unter buschigen Brauen zeichneten Mr. Gordon Cardew aus. Er war von einer peinlichen Eleganz in seiner Kleidung und äußerst korrekt in seiner Sprechweise.

 

Ein sorgfältig zusammengerollter Regenschirm hing über seinem Arm. Als er die Treppe heraufkam, war sein Gesicht von Sorgen umwölkt.

 

»Hallo, Ferraby«, sagte er, als er den jungen Mann sah, »wie ich höre, ist Ihr Mann freigekommen?«

 

»Böse Nachrichten verbreiten sich schnell«, sagte Jim düster. »Mein Vorgesetzter ist wütend darüber!«

 

»Das glaube ich wohl.« Ein feines Lächeln huschte über Cardews Gesicht. »Ich traf eben Jebbings, den Geheimrat aus dem Finanzministerium. Er sagte … Ach, es ist ja gleich, was er sagte …, ich will keinen Streit zwischen Beamten verursachen. Guten Morgen, Miss Leigh! Liegt etwas Dringendes vor? Nein? Mr. Ferraby, darf ich Sie bitten, näher zu treten?«

 

Jim folgte dem Anwalt in das vornehm eingerichtete Büro. Cardew schloß die Tür hinter ihm, öffnete eine Zigarrenkiste und reichte sie seinem jungen Kollegen.

 

»Zur Überführung von Verbrechern haben Sie wenig Talent«, sagte er mit einem etwas spöttischen Lächeln. »Und aus gesellschaftlichen und finanziellen Gründen brauchen Sie ja keinen Beruf auszuüben. Ich würde mir an Ihrer Stelle keine Sorgen über den Mißerfolg machen. Ich interessiere mich natürlich für den Fall, weil Mr. Stephen Elson mein Nachbar ist – ein etwas hochfahrender Amerikaner, dem es an Manieren fehlt. Aber im Grunde genommen hat er ein gutes Herz, wie man mir sagt. Er wird natürlich ärgerlich sein.«

 

Jim schüttelte hilflos den Kopf.

 

»Bei mir muß doch irgendwo eine Schraube los sein«, erklärte er verzweifelt. »Wenn ich in meinem Büro sitze, sind meine Sympathien stets auf sehen des Gesetzes und der Ordnung, und ich freue mich über jeden Verbrecher, der durch meine Beweisführung gehängt wird. Aber wenn ich vor Gericht auftrete, arbeitet mein Verstand mit doppelter Anstrengung, um Entschuldigungsgründe für den Verbrecher zu finden – Entschuldigungsgründe, die ich selbst für mich vorbringen würde, wenn ich in der Lage des Angeklagten wäre.«

 

Mr. Cardew sah ihn mißbilligend an.

 

»Wenn aber ein Staatsanwalt vor Gericht sich erhebt und die Unfehlbarkeit des Fingerabdrucksystems bezweifelt –«

 

»Habe ich das getan?« fragte Jim und errötete schuldbewußt. »Großer Gott, ich scheine die Sache vollständig verfahren zu haben!«

 

»Das ist auch meine Ansicht. Trinken Sie so früh am Morgen Portwein?« Als Jim ablehnte, öffnete Cardew eine Schranktür, nahm daraus eine dunkle, staubige Flasche, stellte vorsichtig ein Glas auf den Tisch und füllte es mit einem prachtvoll rubinroten Wein.

 

»Ich habe noch ein anderes Interesse an Sullivan«, fuhr Cardew fort. »Wie Sie vielleicht wissen, beschäftige ich mich mit Anthropologie. Ich schmeichle mir, daß ein ausgezeichneter Detektiv an mir verlorengegangen ist. Wenn man die Männer sieht, die in hervorragenden Stellen im Polizeipräsidium sitzen, möchte man das ganze System reorganisieren, damit einmal Leute von reicher Erfahrung und Bildung ihr Talent zeigen könnten. In meinem Bezirk ist zum Beispiel ein Beamter, der einfach …«

 

Die Worte fehlten ihm. Er zuckte nur die Schultern. Jim, der den Oberinspektor Minter kannte, unterdrückte ein Lächeln. Es war allgemein bekannt, daß Super die gebildeten und theoretisch arbeitenden Amateurdetektive vom Grund seiner Seele aus verachtete. Seine Einstellung war ungefähr die eines guten Handwerkers einem Künstler gegenüber. Bei einer Gelegenheit, bei der es sich um Anthropologie handelte, war er sogar sehr ausfallend geworden. Mr. Cardew nannte sein Benehmen tölpelhaft und bäurisch.

 

»Herr, Sie sind kindisch!« hatte Super ihn damals angefahren, als er leise andeutete, daß eine gebrochene Stimme und große, harte Augen eine bestimmte verbrecherische Anlage verrieten.

 

Jim wunderte sich und war neugierig, aus welchem Grund Cardew ihn plötzlich und unerwartet in sein Privatbüro einlud. Es war sein erster Besuch hier, obgleich er den Anwalt bereits seit fünf Jahren kannte. Daß der Aufforderung etwas Besonderes zugrunde liegen mußte, war ganz klar, das ging schon aus dem Benehmen Cardews hervor. Er war nervös und schien offenbar Sorgen zu haben. Mit unentschlossenen Schritten ging er in dem Raum auf und ab und machte ab und zu halt, um ein Schriftstück auf dem Pult geradezurücken oder einen Stuhl anders zu stellen.

 

»Während ich zur Stadt fuhr, habe ich dauernd an Sie gedacht«, begann er plötzlich. »Ich habe mir überlegt, ob ich Sie um Rat fragen soll – Sie kennen meine Haushälterin Hanna Shaw?«

 

Jim erinnerte sich sehr gut an die böse dreinschauende Frau, die nur wenig sprach und sich nicht die mindeste Mühe gab, ihre Feindschaft gegen Super zu verheimlichen, wenn ihn jemand erwähnte.

 

»Sie mögen sie nicht?« fragte er. »Sie hat sich nicht nett gegen Sie benommen, als Sie das letztemal zu mir kamen. Mein Chauffeur, der gerne klatscht, erzählte mir, daß sie Sie angefahren hat. Zweifellos ist sie bissig und mürrisch und eine unangenehme Person; aber ich bin sonst sehr zufrieden mit ihr. Überdies ist sie sozusagen das Vermächtnis meiner verstorbenen Frau. Sie hat sie aus einem Waisenhaus zu sich genommen, als sie noch ein Kind war, und Hanna ist in meinem Haus großgezogen worden. Ich möchte sie fast mit einem Terrier vergleichen, der mit Ausnahme seines Herrn alle Leute beißt.«

 

Er zog seine Brieftasche heraus, öffnete sie und entnahm ihr einige Papiere, die er auf dem Tisch ausbreitete.

 

»Ich ziehe Sie ins Vertrauen«, sagte er. Er schaute noch einmal nach der geschlossenen Tür. »Bitte, lesen Sie dies.«

 

Es war ein gewöhnliches Blatt ohne Adresse, Datum oder irgendwelche Oberschrift. Nur drei handgeschriebene Zeilen standen darauf:

 

»Ich habe Sie zweimal gewarnt.

Dies ist das letztemal.

Sie haben mich zur Verzweiflung gebracht.«

 

Das Schriftstück war mit ›Großfuß‹ unterzeichnet.

 

»Großfuß? Wer ist das?« fragte Jim, als er es noch einmal durchlas. »Ihre Haushälterin ist demnach bedroht worden? Hat sie Ihnen das gezeigt?«

 

»Nein, es kam auf sonderbare Art in meinen Besitz. Am Ersten jeden Monats bringt mir Hanna die Haushaltsrechnung und legt sie auf das Pult in meinem Arbeitszimmer. Ich schreibe dann die Schecks für die verschiedenen Kaufleute aus. Sie hat die Angewohnheit, die Rechnungen vorher in ihrer Handtasche mit sich herumzutragen und sie erst im letzten Augenblick zusammenzusuchen. – Dieses Schreiben habe ich in einer zusammengefalteten Rechnung des Kolonialwarenhändlers gefunden. Sie muß es in der Eile mit den anderen Papieren aus ihrer Tasche genommen haben, ohne zu merken, daß sie mir einen Privatbrief gab.«

 

»Haben Sie mit ihr gesprochen?«

 

Mr. Cardew zog die Stirn in Falten und schüttelte den Kopf.

 

»Nein«, sagte er zögernd. »Das tat ich nicht. Ich habe ihr aber unter der Hand zu verstehen gegeben, daß sie mich ins Vertrauen ziehen soll, wenn sie jemals in Sorge oder Unannehmlichkeiten kommt. Aber Hanna hat – ich kann keinen anderen Ausdruck dafür finden –, sie hat mich angeknurrt. Es war geradezu unverschämt.« Er seufzte schwer. »Ich kann neue Gesichter nicht leiden, und es würde mir leid tun, wenn ich Hanna verlieren müßte. Wenn sie sich anders betragen hätte, wüßte sie natürlich von meiner Entdeckung. Und um vollständig offen zu sein, ich fürchte mich, ihr zu sagen, daß ich einen ihrer Briefe habe. Wir hatten eine ziemlich ernste Auseinandersetzung wegen eines dummen Scherzes, den sie machte. Der nächste Streit wird uns vollständig trennen. Was denken Sie von dem Brief?«

 

»Es scheint irgendein Erpressungsversuch zu sein«, vermutete Jim. »Er ist mit der linken Hand geschrieben, um die Schrift unkenntlich zu machen. Meiner Meinung nach müßten Sie Hanna Shaw doch um eine Erklärung bitten.«

 

»Sie fragen?« entgegnete Mr. Cardew aufgebracht. »Um alles in der Welt – das geht nicht! Ich kann nur meine Augen offenhalten und bei der ersten Gelegenheit, wenn sie in besserer Stimmung ist – und wenigstens zweimal im Jahr ist das der Fall –, diese Sache mit ihr besprechen …«

 

»Warum vertrauen Sie sich nicht der Polizei an?«

 

Mr. Cardew wurde steif und zugeknöpft.

 

»Minter?« fragte er eisig. »Diesem unhöflichen, unfähigen Beamten? Ist das wirklich Ihr Ernst? Nein, wenn es irgendwelche Detektivarbeit gibt, so glaube ich, daß ich allein imstande bin, die Sache aufzuklären. Aber es gibt außer diesem Brief noch ein anderes Geheimnis.«

 

Er schaute wieder nach der Tür, hinter der seine harmlose Sekretärin arbeitete, und sprach leiser.

 

»Wie Sie wissen, habe ich ein kleines Haus an der Küste von Pawsey Bay. Es war früher eine alte Wachstation, und ich habe es während des Krieges für eine geringe Summe gekauft. Früher habe ich schöne Stunden dort zugebracht, aber jetzt gehe ich selten hin. Gewöhnlich überlasse ich das Haus meinen Angestellten zur Benutzung. Miss Leigh ist im letzten Jahr öfter zum Ferienaufenthalt dort gewesen und hat mit verschiedenen Freundinnen in der Villa logiert. Nun kam heute morgen ganz unerwartet Hanna zu mir und fragte, ob sie von Sonnabend bis Montag in dem Haus wohnen könne. Seit Jahren ist sie nicht mehr dort gewesen. Sie haßt den Platz, sie hat es mir noch vor einer Woche gesagt. Ich bin nun neugierig, ob diese plötzliche Reise an die Küste irgend etwas mit dem Brief zu tun hat.«

 

»Lassen Sie sie doch von Detektiven beobachten«, rief Jim.

 

»Das habe ich mir auch schon überlegt«, erwiderte Cardew nachdenklich. »Aber ich möchte es nicht gerne tun. Bedenken Sie doch, daß sie über zwanzig Jahre in meinen Diensten ist. Natürlich gab ich ihr die Erlaubnis, obgleich ich etwas besorgt bin, was daraus entstehen wird. Gewöhnlich bringt Hanna ihre freie Zeit damit zu, in einem alten Fordwagen im Lande herumzufahren – sie geht also nicht zur Küste, weil sie eine Luftveränderung braucht. Ich gebe ihr ein gutes Gehalt, und sie könnte bequem in einem anständigen Hotel wohnen. Ich wüßte nicht, warum sie nach Pawsey gehen sollte, wenn sie nicht diesen geheimnisvollen Menschen treffen will, der sich den Namen ›Großfuß‹ beilegt. Wissen Sie, manchmal denke ich, sie ist etwas …« Er zeigte mit seinem Finger an die Stirn.

 

Jim wunderte sich immer mehr, warum ihn der Anwalt zu Rate zog; aber er sollte es jetzt erfahren.

 

»Am Freitag habe ich eine kleine Gesellschaft in Barley Stack, und ich möchte Sie bitten, auch zu kommen und Hanna scharf zu beobachten. Vier Augen sehen mehr als zwei. Es ist möglich, daß Sie etwas bemerken, was mir entgeht.«

 

Jim dachte verzweifelt über Entschuldigungsgründe nach. Aber Mr. Cardew kam ihm zuvor.

 

»Würden Sie etwas dagegen haben, Miss Leigh bei mir zu begegnen? Sie ist meine Sekretärin – sie arbeitet einen neuen Zettelkatalog für eine Bibliothek aus, die ich neulich kaufte. Es sind sogar sämtliche Werke von Mantegazza darunter …«

 

»Ich würde mich sehr freuen«, sagte James Ferraby herzlich.

 

Kapitel 4

 

4

 

»Kennen Sie Mr. Elson?«

 

Jim Ferraby kannte Mr. Stephen Elson gut und hatte eine begründete Abneigung gegen ihn. Er war, wenn auch ohne sein Zutun, der Hauptzeuge bei der Anklage gegen Lukas Markus Sullivan und hatte den Freispruch dieses Diebes und Landstreichers als eine persönliche Beleidigung empfunden. Jim hatte aus vielen Gründen ein Vorurteil gegen Elson – nicht zuletzt, weil er Elfa Leigh in herausfordernder Weise den Hof machte. Von seinem Standpunkt aus war dieses Benehmen unverschämt, und er hoffte, daß auch Elfa so dachte. Nicht, daß sie in seinem Leben irgend etwas Besonderes bedeutete – sie war für ihn nur die hübsche junge Dame auf der anderen Seite der Treppe. Sie hatte eine schöne, weiche Stimme und graue Augen, sie hatte ein reizendes Wesen, war wohlerzogen und ungewöhnlich gutaussehend – aber er bewunderte sie nur platonisch aus der Ferne.

 

Elfa war eine Dame und stand gesellschaftlich jedem von Cardews Gästen gleich. Jim Ferraby haßte die plumpe Vertraulichkeit Elsons. Es hatte ihn aufs unangenehmste berührt, daß er überhaupt eingeladen war. Selbst wenn Mr. Cardew kein so guter Detektiv gewesen wäre, hätte er die Antipathie Jims gegen Elson bemerken müssen. Bei der ersten Gelegenheit nahm er den jungen Mann beiseite.

 

»Ich vergaß, Ihnen zu sagen, daß Sie Elson treffen würden. Es ist mir sehr unangenehm, aber Hanna war dafür, ihn einzuladen. Wenn er zu mir gekommen ist, war jedesmal Hanna die Veranlassung. Sie sagte, daß er das ganze letzte Jahr nicht eingeladen wurde, und ich dachte, daß dies eine gute Gelegenheit sei. Wenn ich allein mit ihm sein müßte, könnte ich es nicht aushalten.«

 

Jim lachte. »Mir macht es nichts aus, obgleich er sich nach der Gerichtssitzung unglaublich unhöflich gegen mich benommen hat. Was war er eigentlich früher? Weshalb hat er sich in England niedergelassen?«

 

Cardew schüttelte den Kopf.

 

»Das ist eine der Fragen, die ich eines Tages klären werde. Ich weiß nur, daß er sehr reich ist.« Er schaute auf die andere Seite des Salons, wo der breitschultrige Amerikaner sich heiter mit Elfa unterhielt. »Die verstehen sich gut miteinander«, sagte er gereizt. »Vermutlich, weil sie Landsleute sind.«

 

»Miss Leigh ist Amerikanerin?« fragte Jim erstaunt.

 

»Ja. Ich dachte, Sie wüßten das. Ihr Vater, der unglücklicherweise im Krieg ums Leben kam, war ein hoher Beamter des amerikanischen Schatzamtes. Ich glaube, daß er die meiste Zeit seines Lebens in den Vereinigten Staaten zubrachte, wo auch Miss Leigh erzogen wurde. Ich habe ihren Vater niemals kennengelernt, sie wurde mir durch den amerikanischen Botschafter empfohlen.«

 

Jim beobachtete sie, während Cardew sprach. Er sah, daß ihre Hautfarbe gut zu ihrem schwarzen Kleid paßte und daß ihre seltene Schönheit durch dieses einfache Kleid noch gehoben wurde.

 

»Ich hätte nie gedacht, daß sie Amerikanerin ist«, war alles, was er sagen konnte.

 

»Ich vermutete, Sie seien von der jüngeren englischen Generation«, sagte Mr. Elson gerade zu ihr. »Es ist doch sonderbar, daß ich nicht wußte, daß Sie ein guter Yankee sind.«

 

»Ich bin aus Vermont«, sagte Elfa. Aber sie war keineswegs erfreut, einen Landsmann in ihm zu begrüßen.

 

Er hätte ein rotes, tiefgefurchtes Gesicht, grobe Züge und eine knollige Nase. Es schwebte stets ein Geruch von Whisky und fadem Zigarrenrauch um ihn.

 

»Und ich stamme aus dem Mittleren Westen«, sagte er höflich. »Kennen Sie St. Paul? Es ist eine hübsche Stadt mittlerer Größe. Sagen Sie mir, Miss Leigh, was tut eigentlich dieser Herr hier?« Er zeigte mit dem Kopf zu Jim hinüber, und seine Stimme war so laut, daß der junge Mann die Frage nicht überhören konnte. Er hätte viel darum gegeben, wenn er auch ihre Erwiderung gehört hätte.

 

»Mr. Ferraby gilt als einer unserer tüchtigsten Beamten bei der Staatsanwaltschaft«, sagte sie ruhig.

 

»Wie – tüchtig?« fragte er hochnäsig. Dann änderte er plötzlich seinen Ton. »Sie sagen, von der Staatsanwaltschaft? Ich kenne dieses Amt nicht.«

 

Sie erklärte ihm die Funktionen dieser Behörde kurz.

 

»Ach so«, erwiderte Elson. »Er mag ja außerhalb des Gerichtshofes ein tüchtiger Staatsanwalt sein; aber wenn er vor den Richtern erscheint, ist er gänzlich unfähig – das kann ich Ihnen versichern.«

 

»Sind Sie ein alter Freund von Mr. Cardew?« fragte Elfa, die bemüht war, das Gespräch in liebenswürdigere Bahnen zu lenken.

 

Elson strich sich über das nicht allzu gut rasierte Kinn.

 

»Er ist doch mein Nachbar – ein vorzüglicher Anwalt, nicht wahr?« Er beobachtete sie unter halbgeschlossenen Augenlidern.

 

»Mr. Cardew übt seine Praxis nicht mehr aus«, sagte sie. Er lachte laut.

 

»Detektivgeschichten sind doch seine starke Seite?« kicherte er.

 

»Ich habe bisher noch nie einen erwachsenen Mann gesehen, der sich mit solchen Dingen abgibt.«

 

Seine bewundernden Blicke wichen nicht von ihrem Gesicht.

 

In ihrer unangenehmen Lage schaute sie zu Jim hinüber, der ihren Kummer längst erkannt hatte. Er faßte ihren Blick als einen Hilferuf auf und ging quer durch den Saal, um sie aus Elsons Gesellschaft zu befreien.

 

Miss Leigh und Ferraby fiel es auf, daß Mr. Cardew in schlechter Stimmung war. Er schien ganz zu vergessen, weshalb er Jim eingeladen hatte, denn er hatte Hanna noch nicht ein einziges Mal erwähnt. Von Zeit zu Zeit sah er auf seine Uhr und schaute ängstlich, fast furchtsam nach der Tür, und als schließlich die Hausdame steifer, düsterer und unzugänglicher als je erschien und unvermittelt sagte, daß das Essen aufgetragen sei, nahm der Anwalt seine Brille ab und sprach mit fast bittender Stimme:

 

»Wollen Sie, bitte, mit dem Essen noch ein paar Minuten warten. Ich habe noch einen guten Bekannten eingeladen, Hanna den Oberinspektor.«

 

Sie hielt an sich und sagte nichts.

 

»Ich traf ihn heute, und er war sehr nett«, beeilte sich Mr. Cardew entschuldigend hinzuzufügen. »Und ich sehe nicht ein, warum wir schlechte Freunde sein sollten. Ich weiß auch gar nicht, warum ich Ihnen dies sage …«

 

Dann murmelte er noch allerhand Unverständliches. Es war ein komischer Anblick, wie der Hausherr von Barley Stack unter dem Pantoffel seiner Haushälterin stand. Jim war das nichts Neues, denn er hatte schon bei seinen früheren Besuchen diese Erfahrung gemacht. Aber Elfa konnte nur verwundert staunen, als die Frau den Raum mit steifen Schritten verließ und ihre schlechte Laune in jeder Weise zum Ausdruck brachte.

 

Cardew war es sehr peinlich.

 

»Ich fürchte, Hanna schätzt unseren Freund nicht; das ist mir sehr unangenehm.«

 

Er schaute auf Ferraby, als ob der ihn unterstützen sollte.

 

»Es gibt nur wenige Hausdamen, die es gerne sehen, wenn man ihre Pläne durchkreuzt«, sagte Jim vermittelnd.

 

Nach fünf weiteren ungemütlichen Minuten erschien Hanna wieder in der Tür.

 

»Wie lange sollen wir noch warten, Mr. Cardew?« fragte sie unwirsch.

 

»Wir gehen jetzt zu Tisch, Hanna«, sagte Cardew, nachdem er schnell auf seine Uhr gesehen hatte. »Ich nehme nicht an, daß unser Freund noch kommt.«

 

Elfa saß neben Ferraby an dem runden Tisch. An ihrer anderen Seite stand der leere Stuhl, der für Oberinspektor Minter bestimmt war.

 

»Der arme Mr. Cardew«, sagte sie leise.

 

Jim grinste, aber ein Blick auf das Gesicht Hanna Shaws, die ihm direkt gegenübersaß, ließ sein Lächeln verschwinden. Sie schaute das Mädchen mit einem so bösen Blick an, daß ihm der Atem stockte. Als die Suppenteller abgetragen wurden, kam der verspätete Gast.

 

Super kleidete sich niemals elegant. Jim hatte den Eindruck, daß ihm die schlechtsitzenden Anzüge von einem längst verstorbenen Verwandten vererbt oder daß sie möglicherweise von einem Kellner erworben waren, der sie im Restaurant nicht mehr tragen konnte.

 

»Es tut mir sehr leid, meine Damen und Herren«, entschuldigte er sich und sah sich in der Gesellschaft um. »Ich esse sonst niemals auswärts, und gerade, als ich mich zu Bett legen wollte, erinnerte ich mich an Ihre liebenswürdige Einladung. Guten Abend, Miss Shaw!«

 

Hanna hob langsam ihren Blick und sah ihn voll an.

 

»Guten Abend, Oberinspektor!« sagte sie eisig.

 

»Wir haben schönes Wetter; so warm war es noch nie in dieser Jahreszeit. Ich könnte mich wenigstens nicht darauf besinnen.«

 

Elfa sah den gestrengen Super zum erstenmal und fühlte unwillkürlich eine Zuneigung zu diesem alten Mann in seinem abgetragenen Frack. Sein Hemd war altmodisch, und zwei Rostflecke auf dem Einsatz machten es unansehnlich. Die Krawatte hatte sich verschoben. Aber seine Haltung war die eines Aristokraten.

 

»Er ist prachtvoll … Ist das der Oberinspektor?« fragte sie, als Supers Aufmerksamkeit durch ein Gespräch mit seinem Gastgeber abgelenkt wurde.

 

»Ja, er ist der König aller Detektive in Europa. Hören Sie mal zu, jetzt hat er Cardew wieder zum besten.«

 

»Ich gehe höchst selten unter Menschen«, bemerkte Super. »Mir scheint, daß ich zu wenig gesellschaftlich veranlagt bin, als daß man mich einlädt. Ich kann nicht ein Messer vom anderen unterscheiden, und meistens nehme ich das falsche Bierglas. Das ist es ja gerade, wo es bei uns Polizeibeamten fehlt – keine Manieren. Ich sagte noch heute nachmittag zu meinem Sergeanten: ›Wir haben nicht genügend vornehme Amateure bei uns – was wir brauchen, sind Leute, die einen Frack tragen können, ohne daß es aussieht, als ob sie auf einen Maskenball gingen.‹«

 

Mr. Cardew schaute argwöhnisch auf seinen Gast.

 

»Die Polizei hat ihre festumschriebenen Aufgaben«, sagte er etwas steif. »Der einzige Punkt, in dem wir nicht übereinstimmen, mein lieber Oberinspektor, ist, daß gewisse Fälle feinere Untersuchungsformen oder mehr Verstand und eine weitgehendere Anwendung der Psychologie erfordern.«

 

»Das ist sicherlich nötig«, sagte Elson, stützte die Ellenbogen auf den Tisch, lehnte sich vor und nickte stark mit dem Kopf. »Das ist es, was den Leuten fehlt …« Plötzlich hielt er inne, denn er hatte einen Blick von Hanna aufgefangen, und Jim Ferraby, der es beobachtete, sah, wie sie ihn warnte.

 

»Psychologie ist sicher sehr wertvoll«, stimmte Super bei. »Das ist ja gerade das, was wir brauchen. Jeder junge Beamte müßte darin unterrichtet werden. Nächst Anthropologie ist Psychologie das Wichtigste. Aber ich muß sagen, daß auch gute Beobachtungsgabe nicht zu verachten ist. Ich bin etwas kurzsichtig beim Lesen, aber ich kann eine Million Meilen weit sehen. Lassen Sie die Jalousien nie herunterziehen, Mr. Cardew?«

 

Die großen Bogenfenster des Speisesaals waren unten nur mit durchsichtigen Gardinen bedeckt. Die große Rasenfläche draußen lag im Dämmerlicht, und die Ahornbäume am Ende des Gartens zeichneten sich in schwarzen Umrissen von dem tiefblauen Himmel ab. Die Rhododendronsträucher erschienen wie dunkle Flecken.

 

»Nein«, sagte Cardew erstaunt. »Warum sollte ich sie auch schließen – wir werden nicht beobachtet –, die Landstraße liegt etwa einen halben Kilometer entfernt.«

 

»Ich wundere mich nur«, entschuldigte sich Super. »Ich verstehe nicht viel von vornehmen Villen. Ich lebe in einem kleinen Häuschen und ziehe immer die Jalousien herunter, wenn ich esse. Das macht meine Mahlzeiten gemütlich. Wie viele Gärtner mögen Sie wohl hier haben?« fragte er.

 

»Vier oder fünf«, sagte Cardew. »Ich weiß es nicht genau.«

 

Das machte Eindruck auf Super. »Da müssen Sie aber allerhand Räume haben, wo die Leute schlafen können.«

 

»Sie schlafen nicht hier. Mein Hauptgärtner hat ein Haus für sich in der Nähe der Straße. Um nun aber auf die Polizei zurückzukommen …«

 

Aber Super schien keine Neigung zu haben, weiter über die Zustände bei der Polizei zu sprechen. Er wollte vielmehr seine Kenntnisse über Cardews Angestellte vervollständigen.

 

»Ich dachte, Sie würden Gärtner oder Leute halten, die in der Nacht die Blumen begießen oder Maulwurfsfallen aufstellen.«

 

Gordon Cardew schien unangenehm berührt zu sein.

 

»Meine Gärtner gehen um sieben Uhr nach Hause. Ich würde ihnen nicht erlauben, sich hier herumzutreiben. Was haben Sie, Oberinspektor?«

 

Super war aufgestanden und ging zur Tür. Plötzlich hörte man das Knipsen des elektrischen Schalters, und das Licht ging aus.

 

»Gehen Sie alle möglichst schnell vom Tisch weg zu den Wänden!« befahl er mit rauher Stimme. »Deshalb habe ich das Licht ausgemacht – draußen ist jemand im Schatten der Sträucher, und er hat eine Pistole.«

 

Kapitel 5

 

5

 

Super ging leise durch die Haupttür in den Garten. Der Speisesaal lag an der Seite des Hauses, und Minter eilte mit unglaublicher Schnelligkeit zu den Büschen. Auf dem Rasen war niemand, kein Laut ertönte, nur das leise Rauschen der Blätter im Nachtwind war zu hören.

 

Er hielt sich in der Nähe der Sträucher und suchte den ganzen Platz ab.

 

Hinter den Blumenbeeten standen die Ahornbäume, die die südliche Grenze des Grundstücks bezeichneten. Rechter Hand war ein kleiner Tannenwald. Die einzige Möglichkeit war, daß sich der Eindringling dorthin zurückgezogen hatte.

 

Super ging von Baum zu Baum vorwärts. Unter seinen Füßen war eine dichte Nadeldecke, die seine Schritte unhörbar machte. Von Zeit zu Zeit blieb er stehen und lauschte. Aber es war nicht das geringste Geräusch vernehmbar.

 

Als er halbwegs durch das Gehölz gegangen war, hörte er gerade vor sich in kaum fünfzig Metern Entfernung Gesang …

 

Einen Augenblick fühlte sich Super von dem melancholischen spanischen Lied ergriffen. Es war etwas Trauriges, etwas so verzweifelt Hoffnungsloses in den Worten des jahrhundertealten Klagegesanges, daß er stehenblieb.

 

Plötzlich eilte er dann nach der Richtung, aus der die Stimme kam. In dem Gehölz war es dunkel, und die Bäume standen so nahe beieinander, daß es fast unmöglich schien, weiter als ein paar Meter zu sehen. Er kam wieder ins Freie, ohne jemand erblickt zu haben.

 

Das Gehölz trennte den Park von Barley Stack von einer kleinen Farm. Nichts bewegte sich in den Wiesen, und Super kehrte um.

 

»Komm heraus, du Strolch!« rief er; aber es ertönte nur das Echo seiner Stimme.

 

Er hörte ein Rascheln, als ob jemand durch das Unterholz ginge. Er vermutete, daß es Jim sei, bevor er die weiße Hemdbrust aus dem Dunkel aufleuchten sah.

 

»Wer ist es?« fragte Ferraby.

 

»Irgendein Landstreicher«, erwiderte Super. »Es ist recht unvorsichtig von Ihnen, ohne eine Schußwaffe hier herauszukommen.«

 

»Ich habe niemand gesehen.«

 

»Man kann auch niemand sehen«, erwiderte Super höflich. »Wir wollen zurückgehen. Es wäre am besten, wenn ich mein Motorrad nehmen und die Straßen abpatrouillieren würde.«

 

Er ging wieder einige Schritte in die Felder hinein, aber da er nichts hörte und sah, kehrte er um. Auf dem Rasen fanden sie die erschrockene Gesellschaft versammelt.

 

»Haben Sie jemand gesehen?« fragte Mr. Cardew ängstlich. »Es ist ganz außergewöhnlich … Sie haben die Damen erschreckt … Ich muß gestehen, daß ich niemand gesehen habe.«

 

»Vielleicht hat sich Minter alles nur eingebildet«, sagte Elson. »Man kann wohl einen Mann sehen, aber es ist doch ganz unmöglich, bei der schlechten Beleuchtung eine Schußwaffe zu erkennen.«

 

»Ich habe sie aber gesehen«, sagte Super und schaute starr nach dem Walde hin. »Ich sah gerade, wie der Lauf aufblitzte. Es muß eine Pistole gewesen sein. Hat jemand von Ihnen eine Taschenlampe?«

 

Mr. Cardew ging ins Haus und kam mit einer Lampe zurück.

 

»Hier stand er«, sagte Super und leuchtete das Gras ab. »Man kann keine Spuren entdecken, der Boden ist zu hart. Nichts …« Plötzlich bückte er sich, nahm einen langen, dunklen Gegenstand auf und pfiff vor sich hin.

 

»Was haben Sie?« fragte Cardew.

 

»Einen Patronenrahmen von einer Zweiundvierziger-Repetierpistole, ganz voll Patronen«, sagte Super. »Vom Marinedepartment der Vereinigten Staaten – ist ihm aus der Schußwaffe gefallen.«

 

Mr. Cardew erschrak. Jim glaubte wahrzunehmen, daß sein Gesicht blasser geworden war. Möglicherweise, dachte er, ist es das erste Mal, daß Mr. Cardew den nackten Tatsachen eines beabsichtigten Verbrechens Auge in Auge gegenübersteht. Stephen Elson schaute mit offenem Mund auf den Patronenrahmen.

 

»Und er hat die ganze Zeit mit einer Pistole dort gesessen?« Er zitterte. »Haben Sie ihn denn genau gesehen?«

 

Super wandte sich zu ihm und legte ihm die Hand auf die Schulter.

 

»Machen Sie sich keine Gedanken darüber«, sagte er freundlich, fast teilnehmend. »Wenn ich ihn gesehen hätte, hätte ich ihn auch gefangen. Ich möchte einmal Ihr Telefon benützen, Mr. Cardew.«

 

Sein Gastgeber führte ihn zum Arbeitszimmer.

 

»Sind Sie dort, Lattimer? Lassen Sie alle Reservemannschaften ausrücken, halten Sie jeden an, der sich nicht ausweisen kann, besonders Landstreicher. Wenn Sie meinen Befehl ausgeführt haben, kommen Sie nach Barley Stack, und bringen Sie eine Schußwaffe und Handlampen mit!«

 

»Was ist passiert, Super?«

 

»Ich muß einen Kragenknopf verloren haben«, sagte er ruhig und hängte den Hörer ein.

 

Er schaute in das ängstliche Gesicht Cardews, und seine Blicke wanderten von dem Anwalt zu den vollen Bücherschränken.

 

»Da muß eine Menge drinstehen, das einem helfen kann, einen verrückten Landstreicher festzunehmen«, sagte er. »Und ich muß mich auf meine gewöhnlichen Hilfsmittel verlassen, und es ist sogar sehr wahrscheinlich, daß wir ihn nie kriegen.«

 

Er zwinkerte wie gewöhnlich mit den Augen. Cardew sah die Flecken auf seinem Hemd und nahm den Geruch wahr, den die Mottenkugeln dem Frack gegeben hatten. Dadurch erhielt er sein Selbstvertrauen und seine Haltung wieder.

 

»Das ist einer von den Fällen, in denen die physischen Eigenschaften der Polizei bewundernswert sind, aber alles in allem ist nichts besonders Schwieriges darin, einen bewaffneten Landstreicher zu entdecken.«

 

»Nichts Besonderes«, sagte Super und schüttelte traurig den Kopf. Er überschaute die vollen Bücherregale wieder und seufzte. »Der Kerl war hinter Elson her«, sagte er dann.

 

Cardew schaute erstaunt auf.

 

»Elson erwartete ihn auch«, sagte Super mit einem abwesenden Blick. »Warum hätte er sonst eine Waffe bei sich?«

 

»Was? Elson hat eine Pistole bei sich? Woher wissen Sie das?«

 

»Ich fühlte es an seiner hinteren Tasche, als ich nahe an ihn herantrat. Ist das nicht eine feine Beobachtung? Ich klopfte ihm auf die Schulter und lehnte mich mit meiner Hüfte an seine Tasche. Von der ganzen Polizeitruppe habe ich die Hüfte mit dem feinsten Gefühl. Was bedeutet das eigentlich in der Anthropologie?«

 

Aber Mr. Cardew ging nicht darauf ein.

 

»Warum folgten Sie dem Oberinspektor, Mr. Ferraby? War das nicht leichtsinnig von Ihnen?«

 

Jim und die junge Dame waren allein auf dem Rasenplatz. Hanna war mit dem Amerikaner verschwunden. Obgleich Jim sich Vorwürfe machte, in der hereinbrechenden Dunkelheit mit Elfa draußen zu bleiben, wurden seine Bedenken doch von dem Reiz der Nacht und der geheimnisvollen Einsamkeit überstimmt.

 

»Es war für mich kein größeres Wagnis als für Super«, sagte er. »Außerdem gebe ich gern zu, daß ich dachte, er habe sich durch einen Schatten täuschen lassen. Ich hatte vergessen, daß der alte Teufel Augen hat, mit denen er durch eine Wand sehen kann. – Mögen Sie diesen Elson eigentlich leiden?« fragte er plötzlich.

 

»Elson? Nein – weshalb fragen Sie?«

 

»Nun, er ist Amerikaner, und ich dachte, das sei natürlich, wenn sich Landsleute treffen«, sagte er etwas linkisch.

 

»Wenn ich eine Engländerin wäre und einen englischen Taugenichts in New York träfe – würde ich ihn dann gern haben, weil er ein Engländer ist?« fragte sie lächelnd.

 

»Einen Taugenichts? Ich wußte nicht, daß er das ist«, begann er.

 

»Sie wissen nicht, wie unhöflich Sie jetzt zu mir sind«, sagte sie. »Ja, Mr. Elson ist ein Taugenichts, ich kann kein anderes Wort für ihn finden, obwohl es nicht hübsch klingt.«

 

»Ich wußte nicht, daß Sie Amerikanerin sind«, murmelte er, als sie langsam auf dem kurzgeschnittenen Rasen auf und ab gingen.

 

»Ich habe mir nie träumen lassen, daß Sie überhaupt bemerkten, daß ich jemand sei«, entgegnete sie kurz. »Höchstens eine von den Stenotypistinnen in King’s Bench Walk. Wollen Sie einen Flirt mit mir beginnen?«

 

Jim errötete bei der überraschenden Offenherzigkeit Elfas.

 

»Nein, das will ich nicht«, sagte er und atmete schnell.

 

»Dann will ich Ihren Arm nehmen. Ich fürchtete mich ein wenig«, gestand sie ihm dann. »Es war wirklich unheimlich. Das Licht ging aus, und man hatte das unangenehme Gefühl, daß man von draußen beobachtet wurde.«

 

Ihr Arm lag auf dem seinen. Jim Ferraby hielt etwas verlegen den Ellenbogen in steifer Haltung, und sie lächelte, als sie merkte, wie er den Anstand wahren wollte.

 

»Sie können ruhig Ihren Arm sinken lassen – so ist es gut, ich werde mich nicht anklammern. Ich finde nur eine gewisse Stütze und habe Vertrauen, wenn ich einen männlichen Arm fühle. Es kann der Arm irgendeines Mannes sein, mit Ausnahme von Mr. Elson.«

 

»Ich verstehe.« Er wollte eisig zu ihr sein, aber ihr weiches Lachen ließ seinen Trotz verschwinden.

 

»Ich liebe das Landleben nicht«, plauderte sie. »Mein armer Vater hatte es so gern. Er war gewöhnt, im Freien zu schlafen, selbst bei stürmischem Wetter.«

 

»Ihr Vater ist während des Krieges gestorben?«

 

»Ja.« Ihre Stimme war kaum hörbar. »Er starb im Krieg.«

 

Wieder gingen sie schweigend auf und ab, und ihr Arm ruhte mit größerem Zutrauen in dem seinen. Ihre Fingerspitzen berührten wie zufällig den Rücken seiner Hand.

 

»Wie lange werden Sie hierbleiben?« fragte er.

 

»Bis morgen nachmittag – ich muß einen Zettelkatalog anfertigen. Aber Mr. Cardew wird mich nicht hierbehalten, wenn seine Haushälterin fortgegangen ist. Sie macht einen Wochenendausflug.«

 

»Was denken Sie eigentlich von ihr?« fragte er.

 

»Sie mag ganz nett sein, wenn man sie näher kennenlernt«, erwiderte sie vorsichtig. Supers lange Gestalt zeigte sich in der Türöffnung.

 

»Kommen Sie herein, bevor die Gespenster Sie fassen, Mr. Ferraby. Es hat sich etwas Ungewöhnliches ereignet – mein Sergeant war tatsächlich auf dem Posten. Im allgemeinen denkt er, daß alle Zeit, die er nicht schläft, für ihn verloren ist. Mr. Cardew fragte nach Ihnen, Miss Leigh.«

 

Sie ging ins Haus. Ferraby wollte ihr folgen, aber Super hielt ihn zurück.

 

»Gehen Sie ein wenig mit mir auf und ab, Mr. Ferraby, und geben Sie mir Nachhilfestunden in Psychologie und Anthropologie.«

 

Es war merkwürdig, wie gut Super alle diese Dinge kannte, wenn er nicht in der Gesellschaft Cardews oder seines Sergeanten war.

 

»Elson muß heute abend wieder nach Hause gehen, und ich vermute, daß dieser Mensch mit der Pistole ihm auflauern will. Die ganze Sache ist sehr kompliziert und geheimnisvoll. Ein Amerikaner versucht einen anderen Amerikaner niederzuknallen.«

 

»Denken Sie, daß der Fremde auf dem Rasen ein Amerikaner war?«

 

»Er hatte eine amerikanische Pistole – deshalb ist er ein Amerikaner. Ich fange jetzt selbst an, Schlußfolgerungen zu ziehen. Ich vermute auch, daß er ein Sänger ist.«

 

»Warum?« fragte Jim verwundert.

 

»Weil ich ihn singen hörte!« antwortete Super. »Haben Sie jemals Karten gespielt, Mr. Ferraby? Wenn Sie es tun, will ich Ihnen einen guten Rat geben. Ein kleiner Blick in die Karten des Nachbarn ist wertvoller als alle Berechnungen. Schlußfolgerungen zu ziehen ist eine feine Sache, aber gut beobachten und hören ist besser. – Wissen Sie, ob etwas gegen Elson vorliegt?«

 

»Sie meinen bei der Staatsanwaltschaft? Nein, ich entsinne mich nicht, daß ich etwas gehört oder gelesen hätte. Und ich bearbeite ja gerade die Abteilung für Ausländer.«

 

»Nennen Sie einen Amerikaner niemals einen Ausländer, sonst wird er sehr aufgebracht. Ebenso wie sich die Engländer aufregen, wenn sie die Hafentaxe von New York bezahlen müssen. Als einen Fremden darf man nur einen Peruaner, einen Slowaken, einen Mongolen oder einen Italiener bezeichnen. Ich war während des Krieges in Washington, bis unser Polizeipräsidium entdeckte, daß ich tüchtig war. Dann haben sie mich nach Hause abberufen – sie können nämlich tüchtige Leute nicht leiden.«

 

Jim überlegte sich, ob er Super ins Vertrauen ziehen sollte. Er wußte allerdings nicht, ob das seinem Gastgeber recht war. Aber er entschied sich dafür.

 

»Super, glauben Sie, daß der Mann in dem Garten es auf Elson abgesehen hatte? Sollte das nicht ein Irrtum sein?«

 

»Das scheint mir unwahrscheinlich«, entgegnete Super, »aber ich lasse mich gern überzeugen.«

 

Ferraby erzählte ihm kurz von dem Brief, den Gordon Cardew ihm gestern gezeigt hatte. Der Oberinspektor hörte ihm ohne Unterbrechung aufmerksam zu.

 

»›Großfuß‹? Das klingt so wie die verrückten Wildwestnamen der Indianer. Aber was hat denn Hanna gemacht? Das ist allerdings eine sehr wichtige Neuigkeit, Mr. Ferraby, die die Lage ein wenig ändert.«

 

Cardew rief sie vom Haus aus.

 

»Kommen Sie doch herein, daß wir zu Ende essen können!«

 

»Warten Sie noch einen Augenblick«, sagte Super zu Jim und hielt ihn mit seiner sehnigen Hand am Ärmel fest. »Gedulden Sie sich bitte noch so lange, bis ich die logischen und psychologischen Zusammenhänge erkannt habe. Also sie geht zum Wochenende fort, sagen Sie … Ich kenne das Haus an der Küste von Pawsey. Cardew hat mich einmal dorthin mitgenommen, bevor wir diesen Streit über Kriminalistik hatten. Ein vollkommen einsamer Platz, wo sich die Hasen und Füchse gute Nacht sagen, meilenweit von jeder Ortschaft entfernt, ganz nahe an der Küste. Große Felsenpartien mit Hunderten von Schmugglerhöhlen … Das Haus steht an der alten Poststraße, die unterhalb der Klippe entlangführt. Aber die Straße wird nicht benützt, seitdem der neue Weg oben über die abfallenden Küstenfelsen angelegt worden ist. Es ist ziemlich gefährlich dort. Ein Teil der Felswand fiel damals ein, als ich dorthin ging, und der alte Cardew hatte einen Prozeß mit dem Gemeinderat von Pawsey, weil die Leute die Schuttmassen nicht von der Straße entfernten. Er ist bewandert in den einschlägigen Bestimmungen.«

 

»Kommen Sie doch endlich herein.«

 

Cardew ging zu ihnen hinaus, und sie wandten sich dem Haus zu.

 

»Lassen Sie sich nicht merken, daß Sie etwas wissen«, murmelte Jim, und Super gab mit einem Kopfnicken seine Zustimmung zu erkennen.

 

Mr. Cardew hatte sein Gleichgewicht vollständig wiedererlangt und war auffallend lustig, als sie ihre Plätze bei Tisch wieder einnahmen. Er hatte schon eine Erklärung herausgefunden.

 

»Ich habe in meinem Carillon nachgesehen, und merkwürdigerweise habe ich dort einen Parallelfall entdeckt. Es findet sich ein Kapitel bei ihm, in dem er sagt, daß eine gewisse Art von Verbrechern durch eine finstere Macht unwiderstehlich gezwungen wird, aus dem Dunkel oder dem Verborgenen zu schießen…«

 

Super ließ sich gerade eine geröstete Wachtel auf Toast gut schmecken und wunderte sich, warum dieser kluge Anwalt nicht den mörderischen Anschlag mit dem Drohbrief an Hanna Shaw in Zusammenhang brachte.

 

*

 

Es war schon halb zwei Uhr nachts, als Jim an die Tür von Mr. Cardews Arbeitszimmer klopfte, um ihm gute Nacht zu wünschen. Bei dem Licht einer Tischlampe las der Anwalt in einem großen umfangreichen Band.

 

»Kommen Sie bitte herein, Ferraby. Ist der Oberinspektor schon fort?«

 

»Er hat sich eben verabschiedet.«

 

Cardew schloß das Buch mit einem Seufzer.

 

»Ein sehr praktischer Mann, aber ich bezweifle doch, daß er seine Arbeit wirklich ernst nimmt. Die Nachforschungen der Polizeibeamten arten mehr und mehr in mechanische Routine aus. Sie stellen Wachen auf den Straßen aus, benachrichtigen die Posten auf dem Land, und am Ende werden ein paar vollständig unschuldige Bürger verhaftet. Sie tun nichts, sie leisten keine wertvolle Arbeit. Sie stellen alles so dumm an, daß man sie entschieden tadeln muß. Ihre ganze Sorge um die Sicherheit ist doch nur eine große Spielerei. Je mehr ich die alten Methoden studiere, die die Polizei anwendet, desto mehr tut es mir leid, daß das Schicksal mich nicht einen aufregenderen Weg gehen ließ als den Pfad, der sich durch die Prozesse des Kanzleigerichts schlängelt.– Sagen Sie mir offen, was denken Sie von Hanna? Ist Ihnen nichts Verdächtiges in ihrer Haltung aufgefallen?«

 

»Sie scheint sich die Sache doch weniger zu Herzen zu nehmen, als ich für möglich hielt«, sagte Jim ruhig. Bei diesen Worten machte Mr. Cardew ein betroffenes Gesicht.

 

»Das ist doch seltsam … Ich habe niemals daran gedacht, den Brief damit in Verbindung zu bringen – ich muß geschlafen haben!«

 

Er war blaß geworden.

 

»Ich habe mich sehr gewundert«, sagte Ferraby.

 

Auch Super war die Sache merkwürdig vorgekommen, und er hatte seine Verwunderung Ferraby gegenüber ausgesprochen, bevor er gegangen war. Es bedurfte aller Überredungskünste Jims, den Oberinspektor davon abzuhalten, Cardew darüber zu befragen. Jim sagte nichts, obgleich er wußte, daß Super unweigerlich früher oder später diese Angelegenheit mit dem Besitzer von Barley Stack besprechen würde.

 

»Ich habe nicht einmal im Traum daran gedacht, den Mann im Garten mit Hanna Shaw in Verbindung zu bringen«, sagte der Anwalt nachdenklich. »Es ist doch sehr erstaunlich. Ich wünschte nur, ich hätte es Minter erzählt.«

 

»Rufen Sie ihn doch an und erzählen Sie es ihm«, riet Jim, der gerne sein Gewissen erleichtern wollte.

 

Mr. Cardew zögerte, nahm den Hörer vom Telefon und legte ihn dann wieder auf.

 

»Ich muß mir die Sache erst noch einmal durch den Kopf gehen lassen. Wenn ich es ihm jetzt mitteilte, würde er zurückkommen und eine fürchterliche Szene mit Hanna aufführen. Gerade herausgesagt – ich habe von Hanna genug … Es ist einfach schrecklich. Ich komme mir ganz verächtlich vor. Dabei bin ich ein Anwalt, von dem man doch annimmt, daß er keine Gefühle hat. Nein, lassen wir es bis morgen oder später. Ich will den Oberinspektor bitten, zum Abendessen zu kommen, dann wird Hanna fort sein.«

 

Während Jim sich auskleidete, überlegte er, daß es besser sei, die Sache aufzuschieben, bis Hanna auf ihre seltsame Wochenendfahrt gegangen war. Sicher hatte das allerhand Vorteile. Es tat ihm schon leid, daß er morgen in aller Frühe aufbrechen mußte und bei dieser Aussprache nicht zugegen sein konnte.

 

Langsam begann er zur Ruhe zu gehen. Eine entfernte Kirchenuhr schlug zwei, als er endlich das Licht ausmachte. Entweder waren die Aufregungen an diesem Abend oder vielleicht auch die paar Minuten Ruhe, die er auf seinem Weg von der Stadt hierher gehabt hatte, daran schuld, daß er nicht schlafen konnte. Er hatte sich eigentlich noch nie so wach in seinem Leben gefühlt. Eine halbe Stunde lang lag er, und seine Gedanken wanderten durch das ganze Haus, von Elfa Leigh zu Cardew, von Cardew zu Hanna und dann wieder zurück zu Elfa. Schließlich erhob er sich mit einem Seufzer und ging zu dem kleinen Tisch, auf dem das Rauchzeug stand. Er steckte seine Pfeife an und trat ans Fenster.

 

Der Mond war in seiner letzten Phase. Nur noch, eine dünne bleiche Sichel leuchtete am klaren Himmel. Von seinem Sitz am Fenster konnte Jim ein hellerleuchtetes Fenster in dem Flügel sehen, der im rechten Winkel zu seinem eigenen Zimmer lag. Ob es das Zimmer Elfas war? Oder Cardews? Oder Hannas? Jedenfalls war der Bewohner des Raumes sehr geschäftig. Er sah undeutlich eine Gestalt hin und her gehen, der Schatten hob sich von den Gardinen ab. Als sich seine Augen an das Licht und die Vorhänge gewöhnt hatten, erkannte er Hanna. Sie war vollständig angekleidet und eifrig damit beschäftigt, einen Koffer zu packen, den sie auf ihr Bett gelegt hatte. Die leichte Nachtbrise wehte den Vorhang sekundenlang beiseite, so daß er in den Raum sehen konnte. Neben der Bettstelle standen noch zwei offene Koffer. Sie hatte ihre ganze Garderobe aus dem Schrank genommen.

 

Jim Ferraby zog die Stirne kraus. Das bedeutete etwas anderes als einen Wochenendausflug. Sie packte wie jemand, der sich für eine lange Reise vorbereitet. Eine ganze Stunde lang sah er ihr zu. Dann war sie fertig, und ihr Licht ging aus. Der Morgen dämmerte schon grau herauf. Jim fühlte sich plötzlich müde und hätte gerne geschlafen.

 

Als er sich eben ins Bett gelegt hatte, hörte er Töne, die ihn in Erstaunen setzten, und er mußte sich erst überzeugen, ob er nicht träume. Draußen sang jemand. Die Stimme kam aus dem kleinen Gehölz.

 

Der Sänger! Der Mann, der gestern abend auf dem Rasen war! Im nächsten Augenblick schlüpfte er in seinen Mantel und stieg die dunklen Stufen zur Halle hinunter. Es dauerte einige Zeit, bevor er die Tür öffnen konnte. Aber schließlich gelang es ihm. Draußen war die ganze Luft von würzigen Düften erfüllt. Es war frisch und kalt, und das Gras unter seinen Füßen war feucht vom Tau.

 

Er stand bewegungslos und lauschte. Dann sah er eine stämmige Gestalt, die sich im Schatten des Gehölzes bewegte, und ging auf sie zu. Als er näher kam, hörte ihn der andere und wandte sich um.

 

»Ruhig…ruhig…stören Sie meinen Singvogel nicht!« hörte Jim eine leise Stimme. »Ich brauche ihn, um anthropologische Studien zu machen.«

 

Es war Super.

 

Kapitel 6

 

6

 

»Gehen Sie wieder hinein, und ziehen Sie sich ordentlich an, ich brauche Ihre Hilfe. Alle meine Leute sind drunten in der Gegend von Farnham und werden noch den falschen Mann verhaften. Falls ich nicht hier sein sollte, wenn Sie wiederkommen, warten Sie auf mich.«

 

Jim kam der Aufforderung gerne nach, denn der Morgen war frostig kalt, und er zitterte. In fünf Minuten kam er zu der Stelle zurück, wo er den Oberinspektor verlassen hatte. Aber der tüchtige Mann war verschwunden und zeigte sich auch in den nächsten zehn Minuten nicht.

 

»Diesmal ist er weggegangen«, brummte er, als er wiederkam. »Er muß Sie gehört haben, als Sie sich einmischten.«

 

»Entwischt – wie?«

 

»Das Gehölz zieht sich bis zu den Grenzmauern hin. Auf der anderen Seite ist dichtes Gebüsch. Ich habe dort gehört, wie er durch das Unterholz ging. Ich will noch zu der Hauptstraße hinunterfahren – aber er ist so schlau wie ein Fuchs. Haben Sie irgend etwas Neues erfahren?«

 

»Hanna Shaw geht fort«, sagte Jim und erzählte ihm alles, was er während der Nacht gesehen hatte. Super kratzte sich seinen grauhaarigen Kopf.

 

»Ich möchte wetten, daß Cardew nicht weiß, daß sie für immer geht. Das wird die beste Nachricht sein, die der arme Kerl seit Jahren erhalten hat. Ich wünschte nur, ich hätte den jungen Caruso geschnappt.« Er schüttelte bedauernd den Kopf.

 

Er war die Einfahrtsstraße halb hinuntergegangen, als er wieder zurückkam.

 

»Haben Sie ein Auto, Mr. Ferraby?«

 

»Ja. Aber nicht hier, ich bin mit dem Zug gekommen.«

 

»Können Sie es nicht morgen abend zu meinem Revier bringen? Etwa, wenn es dunkel wird? Ich beabsichtige, nach Pawsey zu gehen. Es gehört zwar nicht zu meinem Bezirk, und der filzige Vorgesetzte im Polizeipräsidium würde Himmel und Hölle in Bewegung setzen, wenn etwas davon herauskäme. Aber ich verachte ihn, und wenn ich jemand verachte, so ist das Grab seine, letzte Hoffnung. Ich möchte Sie bitten, mich zu begleiten und mit mir die Sache psychologisch zu ergründen; denn ich verstehe mich nicht recht darauf.«

 

Super schaute ihn lustig mit blinzelnden Augen an, dann lachte er laut.

 

Anscheinend hatte keiner im Haus den Sänger gehört. Jim kehrte zu seinem Zimmer zurück, ohne daß er jemand Rede und Antwort stehen mußte. Da er unmöglich noch schlafen konnte, rasierte er sich und kleidete sich sorgfältig an. Als die Sonne aufging, war er schon unten im Garten und machte einen Spaziergang um das Haus, um sich die Zeit zu vertreiben.

 

Von der Rückseite von Barley Stack aus konnte er Hill Brow, das Herrschaftshaus Mr. Elsons, sehen, die roten Ziegelmauern und den viereckigen, architektonisch schön ausgebildeten Turm, der das Gebäude krönte.

 

Was für eine wunderliche Laune hatte diesen Amerikaner bewogen, sich in einer Umgebung niederzulassen, die ihm nicht gefiel? Er war ein Selfmademan und besaß weder Kultur noch gute Umgangsformen. Als Jim zu dem Rasen zurückkam, sah er eine schlanke Gestalt in einem grauen Kleid vor sich, und sein Herz schlug schneller.

 

»Ja, ich bin früh aufgestanden – ich konnte nicht schlafen.«

 

Elfa gab ihm lächelnd die Hand, und er wurde einen Augenblick verlegen. Noch nie hatte er sie unter dem sonnigen Himmel in freier Natur zu einer so frühen Stunde gesehen, wo die Frauen sich nur ungern den kritischen Blicken der Männer aussetzen.

 

»Ist es gestattet, Ihnen meinen Arm anzubieten?« fragte er.

 

»Gestattet ist es schon, aber es ist nicht nötig«, sagte sie lächelnd und brachte ihn dadurch wieder außer Fassung. »Heute morgen bin ich sehr mutig. Haben Sie gut geschlafen?«

 

»Um die Wahrheit zu sagen, ich habe überhaupt nicht geschlafen«, gab er zu.

 

Sie nickte.

 

»Ich auch nicht. Mein Zimmer grenzt an das von Miss Shaw. Sie hat die ganze Nacht über in ihrem Zimmer herumgewirtschaftet.«

 

Er hätte ihre Beobachtung bestätigen können.

 

»Ich will froh sein«, fuhr sie fort, »wenn ich wieder in meine eigene kleine Wohnung zurückkehren kann. Barley Stack hat einen sehr wenig günstigen Einfluß auf meine Nerven. Ich habe früher nur einmal eine Nacht in diesem Haus zugebracht es ist schon ein Jahr her. Das war ein sehr unangenehmes Erlebnis. Langweilt es Sie auch nicht, wenn ich Ihnen das erzähle?«

 

Ob ihn das langweilte? Er hätte ihr den ganzen Morgen lang zuhören können. Und das sagte er ihr auch.

 

»Miss Shaw war in noch schlechterer Laune als gewöhnlich. Sie sprach weder zu mir noch zu dem armen Mr. Cardew. Sie hatte sich in ihrem Zimmer eingeschlossen und weigerte sich, an den Mahlzeiten teilzunehmen. Mr. Cardew erzählte mir, daß sie glaubte, er habe sie vernachlässigt. Dann hat sie etwas ganz Merkwürdiges getan. Als ich am Morgen sehr früh aufwachte und aus meinem Fenster schaute, sah ich, daß ein großer lateinischer Buchstabe ›B‹ auf dem Rasen lag. Er war aus dunklen Papieren zusammengesetzt, und es hatte eine sonderbare Bewandtnis mit diesen langen, schmalen Zetteln. Ich ging hinunter, um mir die Sache genauer anzusehen. Mindestens fünfzig Hundertdollarnoten waren mit langen, schwarzen Nadeln auf dem Boden befestigt.«

 

Jim sah sie nur ungläubig an.

 

»Hat Cardew das gewußt?«

 

»Ja, er hatte es auch von seinem Fenster aus gesehen und war sehr aufgebracht darüber.«

 

»Wohnte sonst noch jemand hier zu dieser Zeit?«

 

Sie nickte und machte ein ärgerliches Gesicht.

 

»Mr. Elson. Sein Haus wurde gerade von Handwerkern renoviert, und Mr. Cardew lud ihn ein, solange bei ihm zu wohnen. Ich glaube, er ist seit dieser Zeit bis gestern abend nicht mehr hier gewesen. Miss Shaw hatte angeregt, daß er überhaupt kam. Er hat es mir selbst erzählt.«

 

»Aber woher wissen Sie, daß Hanna den Buchstaben auf dem Rasen zusammensetzte? Das kann doch auch eine verrückte Idee von Elson gewesen sein. Ich könnte mir vorstellen, daß er so verdrehte Dinge macht.«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Es war Miss Shaw. Sie kam in den Garten und sammelte das Papiergeld wieder auf, nachdem Cardew nach ihr geschickt hatte. Er wollte eine Erklärung von ihr haben, aber sie weigerte sich, sie ihm zu geben. Sie wollte ihm nicht einmal sagen, woher sie das Geld hatte.« Das also war der dumme Scherz, der beinahe zum Bruch geführt hätte.

 

»Ich glaube, sie ist ein ganz klein wenig verrückt«, sagte Elfa. »Deshalb wollte ich auch nicht nach Barley Stack kommen. Schließlich bin ich nur gekommen, weil ich hörte…« Sie brach plötzlich ab, aber ein warmes Gefühl überkam den jungen Mann, und sein Herz klopfte schneller.

 

Als Hanna Shaw dann bei der Frühstückstafel erschien, verriet nichts ihre lange, angestrengte Nachtarbeit. Ihre dunklen Augen blitzten wie immer, und sie war ein Muster von Fassung und Selbstbeherrschung. Cardew dagegen war gereizt und bissig, obgleich er anscheinend sehr gut geschlafen hatte. Er gehörte zu den merkwürdig veranlagten Leuten, die ihre Klagen und Ärgernisse am Frühstückstisch vorbringen müssen.

 

»Ich weiß nicht, ob dieser schreckliche Kerl mir nicht einen Streich gespielt hat. Ich selbst sah nichts, und ich darf wohl behaupten, daß meine Augen ebenso gut sind wie die irgendeines anderen. Wenn ein Mann im Schatten der Hecke gesessen hatte, wie Super annahm, warum hat ihn dann niemand anders gesehen?«

 

Jim hätte ihm beinahe den Gesang verraten, der ihn heute morgen so sehr in Erstaunen gesetzt hatte. Aber er erinnerte sich, daß Super ihn gebeten hatte, nicht darüber zu sprechen.

 

»Was nun gar den Patronenrahmen betrifft, so ist es doch möglich, daß das ein Teil des dummen Scherzes ist«, sagte Mr. Cardew argwöhnisch. »Ich gebe ja zu, daß ich mit kriminellen Dingen wenig zu tun habe; aber ich war doch in einige bedeutende Betrugsprozesse im Kanzleigericht verwickelt. Sie erinnern sich an die Geschichte, Miss Leigh, die ich ihnen von meinem Klienten erzählte, der sein Vermögen bei einem Bankrott verbarg? Die Sache hätte mir beinahe einen Verweis von Seiten des Gerichtes eingetragen.«

 

Miss Leigh kannte die Geschichte. Sie hatte sie schon oft gehört. Es war das einzige interessante Ereignis in Mr. Cardews eintöniger Praxis.

 

»Wann werden Sie fahren, Hanna?« Bei diesen Worten schaute Cardew über seine Brille auf die Haushälterin.

 

»Um elf Uhr.«

 

»Werden Sie Ihren Wagen nehmen? Johnson hat mir gesagt, daß das Verdeck repariert werden muß.«

 

»Für mich ist es gut genug – und es sollte Johnson auch gut genug sein«, entgegnete sie kurz.

 

Mr. Cardews Interesse an ihren Plänen schien erloschen zu sein. Er fuhr zur Stadt, um seine Post durchzusehen, und bot Jim an, ihn zu seiner Wohnung in Cheyne Walk zu bringen.

 

»Sobald das Frühstück beendet ist«, sagte er. Jim Ferraby vermutete, daß er die Zeit so früh festgesetzt hatte, um das Haus noch vor seiner unliebenswürdigen Haushälterin verlassen zu können. Jim hatte nur kurz Gelegenheit, Elfa vor seinem Aufbruch zu sehen. Er fand sie in Cardews Studierzimmer beschäftigt. Viele Stöße Bücher lagen auf dem Bibliothekstisch, und sie sah ihn verzweifelt an.

 

»Er wünscht, daß ich die Arbeit beende; bevor ich heimgehe«, sagte sie hoffnungslos. »Soweit ich aber schätzen kann, habe ich mindestens zwei Tage daran zu tun – und ich möchte unter keinen Umständen noch eine Nacht in diesem Haus zubringen. Gehen Sie fort, Mr. Ferraby?«

 

Man hörte dem Ton ihrer Stimme an, daß es ihr unangenehm war, und Jim schwelgte in dem ihm bisher unbekannten Gefühl, daß man ihn vermissen würde.

 

»Ja, ich gehe fort; aber ich bitte Sie, mir Ihre Adresse zu geben, damit ich erfahren kann, ob Sie sicher nach Hause gekommen sind.«

 

Sie lachte.

 

»Das ist eine recht lahme Entschuldigung – aber ich werde Ihnen meine Adresse geben.«

 

Sie schrieb sie auf ein Stück Papier, das er in seine Tasche steckte.

 

»Ich werde Sie aufsuchen«, begann er.

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Sie finden meine Telefonnummer auf dem Blatt, das ich Ihnen eben gegeben habe«, sagte sie. »Vielleicht gestatte ich Ihnen an einem späteren Tag, mich zu besuchen und mit mir ins Theater zu gehen, wenn es Ihrer Stellung nicht schadet. Wie ich höre, haben Sie einen hohen Posten bei der Staatsanwaltschaft.«

 

»Ich bin bereits hoffnungslos kompromittiert«, sagte Jim. »Die einzige Möglichkeit, wieder zu Ansehen zu kommen, besteht darin, daß ich mich in guter Gesellschaft sehen lasse.«

 

Er hielt ihre Hand vielleicht etwas länger als notwendig.

 

Während der ganzen Fahrt nach der Stadt hatte er die unklare Vorstellung, daß Mr. Cardew über Oberinspektor Minter sprach. Es konnte aber auch Mr. Elson gemeint sein. Alles, was er hörte, vergaß er sofort wieder. Sein Herz schlug wie wild, und in seinem Kopf ging es drunter und drüber.

 

Als Cardew die Angelegenheit mit Hanna berührte, kam Jim langsam in die Wirklichkeit zurück.

 

»Ich habe es sehr sorgfältig und eingehend überlegt«, sagte der Rechtsanwalt, »und habe beschlossen, den Weg, den ich in den letzten Jahren gegangen bin, nicht weiter zu gehen. Ich habe Hanna geduldet, weil sie eine seelengute Frau ist. Aber ich habe nun endlich erkannt, daß mein Leben nur von ihren Launen und Einbildungen abhängt. Und dann ist dieses teuflische Geheimnis da, und ich kann Geheimnisse nicht leiden, wenigstens nicht auf Barley Stack. Und noch eins: ich kann mir nicht helfen – zwischen Elson und Hanna muß etwas los sein. Finden Sie nicht, daß das albern ist?«

 

Jim Ferraby fand es tatsächlich albern, denn zu dieser Zeit hatte ihn Super noch nicht völlig ins Vertrauen gezogen.

 

»Ich habe gesehen, wie sie Blicke wechselten. Einmal kam ich dazu, wie sie am Ende der Straße miteinander sprachen. Sie sahen mich und liefen wie die Ratten fort. Sie glauben bis heute, daß ich sie nicht gesehen habe. Ich weiß nicht, wer dieser Elson ist, ob er ein Junggeselle oder ein verheirateter Mann ist. Auf jeden Fall ein unangenehmer Mensch … Wenn er irgendwelche Liebe oder Zuneigung zu Hanna hat, was äußerst zweifelhaft ist, denn solche Menschen kennen nur Eigenliebe, nun gut, dann wäre ich sehr froh. Zu einem bin ich jedoch fest entschlossen: Hanna – muß gehen!« Er stieß mit seinem Schirm auf, um seinen Worten mehr Nachdruck zu verleihen. »Sie fällt mir auf die Nerven. Ich würde freiwillig tausend Pfund zahlen, wenn sie eine andere Stellung annähme.«

 

»Wissen Sie, daß sie alle ihre Sachen gepackt hat?« begann Jim.

 

»Ihre Sachen gepackt? Woher wissen Sie das?«

 

»Ich habe sie heute nacht durch mein Fenster gesehen. Sie machte keinen Versuch, ihre Tätigkeit zu verbergen. Sie nahm all ihre Kleider aus dem Schrank und packte sie in ihre Koffer, soweit ich sehen konnte.«

 

Mr. Cardew schwieg lange. Seine Stirne zog sich zusammen.

 

»Ich glaube nicht, daß das etwas zu bedeuten hat«, sagte er schließlich. »Sie hat ihre Koffer auch damals gepackt, als sie sich mit mir überworfen hatte, und wie ein Narr habe ich – bildlich gesprochen – sie auf den Knien gebeten, zu bleiben. Aber diesmal …« Das Schütteln seines Kopfes war von böser Vorbedeutung.

 

Er setzte Jim in Whitehall ab. Für die nächsten zwei Stunden war Mr. Ferraby vollauf mit seiner Post beschäftigt. Es gab Schriftsätze zu prüfen, und er müßte in Abwesenheit seines Chefs Verhaftungen anordnen. Um drei Uhr nachmittags hatte er alle Rückstände aufgearbeitet und schlenderte nach Pall Mall in seinen Klub.

 

Die Arbeit wäre ihm leichter gefallen und schneller von der Hand gegangen, wenn er nicht immer zwischen den Papieren und seinen Augen die Vision eines Gesichts gehabt hätte. Es nahm keine festen Formen an, nur zwei dunkelgraue Augen sah er vor sich. Einmal brachte ihm sein Schreiber ein Dokument zurück und fragte ihn kühn, wer eigentlich Elfa sei, und er entdeckte bei der Durchsicht, daß er einen bekannten Autodieb so getauft hatte, dessen Fall er in der nächsten Zeit untersuchen sollte.

 

Als er auf dem Zettel nachsah, stellte er fest, daß Elfa in Bloomsbury wohnte. Er dachte nach und fand eigentlich keinen Grund, warum er nicht nach Cubitt Street fahren sollte, um sich einmal das Haus von außen anzusehen, in dem sie wohnte. Als er hinkam, war es jedoch von anderen Häusern in derselben Straße nicht im mindesten verschieden. Aber er empfand eine gewisse Genugtuung, sich vorzustellen, daß ein Fenster mit hübschen, kleinen, weißen Gardinen zu ihrem Zimmer gehörte. Und er schaute sich mit großem Interesse die Anschlagsäule an, auf der ein Mittel gegen Hühneraugen angepriesen wurde. Er konnte sich so gut vergegenwärtigen, wie sie jeden Morgen aus ihrem Fenster darauf schaute. Einige Tage später erfuhr er, daß ihr Zimmer nach hinten lag und daß man es von der Straße aus überhaupt nicht sehen konnte.

 

Als er um vier Uhr in ihrer Wohnung anrief, war sie noch nicht zurückgekommen. Da sie nicht die Absicht hatte, Barley Stack vor dieser Zeit zu verlassen, konnte sie ja eigentlich auch noch gar nicht zu Hause sein. Um fünf Uhr war noch keine Nachricht von ihr da. Um halb sechs Uhr war er schon ganz aufgeregt, und sein großer, schwarzer Wagen brummte und zitterte mit angelassenem Motor vor der Tür seines Klubs. Er war im Begriff, nach Barley Stack zu fahren, um sie dort aus drohender Gefahr zu befreien, als ihm ihre kühle Stimme am Telefon antwortete.

 

»Ja, ich bin zurück … nein, Mr. Cardew ist noch nicht gekommen. Er rief mich an, um mir zu sagen, daß er in dieser Nacht in der Stadt bleiben würde.«

 

»Darf ich Sie zum Tee einladen?«

 

Er hörte sie lachen.

 

»Nein, ich danke Ihnen schön. Ich will einen ruhigen Abend für mich allein verbringen, Mr. Ferraby. Es ist sehr hübsch hier.«

 

»Das glaube ich Ihnen gern«, sagte er begeistert. »Ich kann mir nicht denken, daß an irgendeinem Platz, wo Sie sich aufhalten …«

 

Klick! Sie hatte den Hörer eingehängt. Trotzdem kehrte er in einer gehobenen Stimmung nach Hause zurück.

 

Als er heimkam, sagte ihm sein Chauffeur, der auch gleichzeitig sein Diener war, daß Besuch auf ihn warte. Zu seiner Überraschung war es Mr. Cardew.

 

»Ihr Diener erzählte mir eben, daß Sie heute abend ausgehen«, sagte er fast vorwurfsvoll. »Ich kam gerade, um Sie zu bitten, mit mir in die Oper zu gehen. Ich kaufte zwei Karten in der Hoffnung, daß Sie mich begleiten könnten.«

 

»Es tut mir sehr leid«, sagte Jim. »Aber ich habe eine Verabredung.«

 

»Können Sie wenigstens mit mir speisen?«

 

Aber Jim entschuldigte sich ebenfalls.

 

»Das ist sehr schade«, sagte Cardew und fuhr sich mit der Hand durch das Haar. »Dann bleibt mir nichts anderes übrig, als heute abend nach Barley Stack zurückzukehren. Ich möchte nur wissen, was dieser Teufel von Hanna heute abend in Beach Cottage macht«, fügte er bedrückt hinzu. »Ich würde viel darum geben, wenn ich es wüßte.«

 

Jim hätte beinahe versprochen, ihn darüber zu informieren; aber er überlegte es sich und sagte nichts.

 

Kapitel 21

 

21

 

Von Supers Hinterhof kam der vertraute Spektakel des Motorrades, den alle Leute so gut kannten, die im Umkreis von einem Kilometer wohnten. Einst hatten mehrere gute Freunde und Gönner eine Subskription eröffnet, um Super die neueste und geräuschloseste Maschine zu kaufen. Sie wurde ihm in Gegenwart des Majors und der ganzen Spitzen des Ministeriums überreicht. Es dauerte genau eine Woche, dann war diese schöne Maschine plötzlich verschwunden! Super erzählte den Leuten eine ergreifende Geschichte, wie er mit dem Motorrad Schiffbruch erlitten hatte. Aber es war ein offenes Geheimnis, daß er es auf einer öffentlichen Auktion verkauft und sich von dem Erlös einen Brutapparat für seine Hühner gekauft hatte. Außerdem wurde davon auch Feuerfliege neu angestrichen, und er zahlte noch eine beträchtliche Summe auf der Bank ein.

 

Es war noch sehr früh am Morgen, und die meisten Bürger waren noch nicht auf. Super hatte seine Maschine auf dem Küchentisch vollständig auseinandergenommen und war gerade dabei, ein Stück des Motors zu reparieren, das nur durch sein eigenes Herumbasteln in Unordnung geraten war.

 

Ein Beamter stand in respektvoller Haltung, ebenfalls in Hemdsärmeln, neben ihm. Er verstand etwas von Motoren und Maschinen und wurde deshalb stets bei solchen Gelegenheiten zugezogen, um allem, was Super sagte, seine Zustimmung zu geben. Und in Supers Augen blieb er auch nur so lange eine Autorität in mechanischen Dingen, wie er seinen Ansichten beistimmte.

 

»Lärm ist natürlich, mein lieber Sergeant«, sagte Super, als er mit einem Schlüssel eine Schraube festzog. »Haben Sie schon einmal gehört, daß jemand einen Schalldämpfer für den Donner erfand?«

 

»Nein, Sir.«

 

»Das Schaf blökt, und die Rinder brüllen.«

 

»Ich schlug Ihnen nur vor, sich einen besseren Schalldämpfer für Ihren Motor anzuschaffen«, sagte der Beamte respektvoll.

 

»Das wäre Geldverschwendung, Sergeant. Außerdem lieben alle Leute das Geräusch der Feuerfliege. Sie drehen sich dann nachts in ihren Betten um und sagen: Es ist alles in Ordnung, Super ist unterwegs.«

 

Super ließ seinen Motor Probe laufen, und es drehten sich wirklich viele Leute in ihren Betten um, ohne allerdings über das Geräusch sehr erfreut zu sein.

 

»Aber Super, wäre es nicht unangenehm, wenn ein Dieb, der in eine einzelne Villa einbricht, schon von weitem hört, daß Sie ankommen?«

 

»Die hören überhaupt nicht, wenn ich komme«, sagte Super und schaute seinen Untergebenen groß und erstaunt an. »Das Geräusch dieser Maschine ist wie das Sprechen eines Bauchredners. Sie glauben, es kommt von rechts, während es tatsächlich von links kommt. Aber was ist denn eigentlich heute mit Ihnen los, Sergeant? Sie streiten dauernd mit mir herum. Zum Donnerwetter, man kann ja überhaupt nicht mehr zu Wort kommen!«

 

Infolgedessen schwieg der Sergeant von jetzt ab. Super beendete seine Arbeit zu seiner größten Zufriedenheit, steckte seine Pfeife an, betrachtete den Morgenhimmel und fand das Wetter gut.

 

Nachdem er das Hühnerhaus revidiert und die Eier eingesammelt hatte, ging er hinein, um sich vollständig anzuziehen. Er trocknete sich gerade mit seinem rauhen Badehandtuch ah, als Lattimer sich zum Dienst meldete.

 

»Wo waren Sie eigentlich vorige Nacht, Lattimer?« fragte Super und brummte ihn über die Ecke seines Handtuches an.

 

»Es war meine freie Nacht.«

 

»Wie ich so jung war, da gab es so etwas wie freie Nacht überhaupt nicht«, sagte der alte Mann bissig. »Bringen Sie mir die Post.«

 

Lattimer kam mit einem kleinen Paket amtlicher Briefe zurück.

 

»Das ist eine Rechnung, da ist wieder eine Beschwerde über Feuerfliege, das ist ein Steckbrief, ein Brief von dem durchtriebenen Kerl im Finanzministerium«, murmelte Super vor sich hin, als er Umschlag für Umschlag durch die Finger gleiten ließ. »Und das ist der Brief, den ich haben will.«

 

Es war ein einfacher Briefumschlag, wie Lattimer bemerkte, und er hatte einen gedruckten Kopf, den er nicht lesen konnte.

 

»Hm!« sagte Super, als er den Inhalt überflogen hatte. »Haben Sie schon einmal etwas von Akonit gehört?«

 

»Nein – ist es ein Gift?«

 

»Es ist schon ein bißchen giftig – soviel wie ein Stecknadelkopf würde Sie unter die Erde bringen, Lattimer, obgleich es mich nicht umbringen würde, denn ich bin stärker und robuster als Sie und bringe meine Nächte nicht mit Jazz und Charleston zu und tanze nicht immer gleich mit einem ganzen Dutzend Mädchen herum.«

 

»Ist es der Bericht des Gerichtschemikers?« fragte Lattimer.

 

»Ja. Sie können einmal nachforschen und herausfinden, ob jemand Akonit gekauft hat. Für gewöhnlich wird so etwas nicht gehandelt. Fragen Sie einmal in Scotland Yard nach. Haben Sie noch nichts von Akonit gehört?«

 

Super schloß gerade seinen Kragen und richtete seine verzweifelten Blicke zur Decke.

 

»Nein, das Zeug ist mir unbekannt.«

 

»Ich wette, daß der alte Cardew, dieser berühmte Amateurdetektiv, Ihnen ein Dutzend Fälle an den Fingern aufzählen kann, in denen Leute mit Akonit getötet wurden.«

 

»Leicht möglich«, stimmte Lattimer bei.

 

»Ich kann Giftmörder nicht leiden«, sagte Super vergnügt und band seine Krawatte mit ungewöhnlicher Sorgfalt. »Es ist ungefähr die niedrigste Art von Mördern, und außerdem gestehen sie niemals ihre Tat ein. Wissen Sie das, Lattimer? Ein Giftmörder gesteht niemals, selbst wenn ihm schon der Strick ums Genick gelegt ist.«

 

»Ich wußte das nicht«, sagte Lattimer geduldig.

 

»Ich möchte aber wetten, daß der alte Cardew es weiß. Und ich wette obendrein, daß er Bücher über Mörder und Giftmorde hat, daß Ihnen die Haare zu Berge stehen. Ich muß mir doch tatsächlich ein Abonnement für eine wissenschaftliche Bibliothek zulegen. Ich bin so weit hinter meiner Zeit zurück, daß ich mich bei der erstbesten Gelegenheit blamieren kann.«

 

Er erledigte seine amtliche Korrespondenz in äußerst kurzer Zeit. Dann bestieg er seine Maschine, um verschiedene wichtige Besuche zu machen. Sie wären vielleicht nicht wichtig gewesen, aber Super hielt sie eben für wichtig. Eine Viertelstunde lang war er in der Telefonzentrale und fragte den Leiter der Station aus. Dann verbrachte er ungefähr zwei Stunden auf der Polizei in High Street und erwarb sich in dieser Zeit eine außerordentliche Kenntnis über verschiedene Arten von Schreibpapier, Wasserzeichen und anderen Erkennungszeichen. Danach informierte er sich kurz in einem Schreibmaschinengeschäft. Als er dann aber weit von seinem Bezirk entfernt die Seitenstraßen durchwanderte, die vom Strand abzweigen, begannen erst seine eigentlich wichtigen Nachforschungen.

 

Jim sah ihn zufällig, als er mit Elfa zum Green Park fuhr. Zu seinem Mißvergnügen bestand sie darauf, daß er anhielt. Sie fuhren ungefähr hundert Meter zurück, um den weit ausschreitenden alten Super einzuholen.

 

»Wir fahren nach Kensington Garden, wollen Sie nicht mitkommen?« fragte sie.

 

Super drehte sich nach dem Wagen um.

 

»Ich glaube nicht, daß junge Leute meine Gegenwart lieben, Miss Leigh. Ich bin niemals ein Spielverderber gewesen und gehöre nicht zu den Menschen, die jungen Liebesleuten im Wege sein wollen.«

 

»Unsere Herzen sind zwar jung«, sagte Elfa, »aber sie lieben sich nicht.« Sie wurde sehr rot dabei. »Mr. Ferraby ist nur immer sehr freundlich zu mir.«

 

»Wer würde nicht freundlich zu Ihnen sein?« fragte Super. »Sind Sie denn auch sicher, daß Mr. Ferraby nichts dagegen hat?«

 

»Warum sollte er denn etwas dagegen haben?«

 

Super stieg zögernd ein.

 

»Ich sagte gerade, daß. es mir sehr fernliegt, zu stören, wenn zwei junge Leute allein sein wollen.«

 

»Wir sind sehr erfreut, Sie zu sehen, Super«, sagte Jim etwas steif.

 

»Ich bin der Meinung, daß junge Leute noch viel Zeit haben, sich in die Augen zu schauen, sich an den Händen zu halten und so weiter. Und man braucht nicht gerade den Kopf zu verlieren, wenn irgend so ein alter Onkel ins Zimmer kommt, ohne vorher zu husten oder anzuklopfen. Ich selbst bin niemals verliebt gewesen«, sagte er ganz traurig. »Ich habe früher einmal so eine Affäre mit einer Witwe gehabt – habe ich Ihnen jemals von dieser temperamentvollen Dame erzählt?«

 

»Ich bin überzeugt, daß sie sich sehr nach Ihnen gesehnt hat, als Sie sie verließen«, meinte Jim etwas boshaft.

 

»Das hat sie auch wirklich getan. Sie hat sich nur zollweise an unsere Trennung gewöhnt. Und dann möchte ich noch bemerken, daß der Teller, den sie mir an den Kopf warf, haarscharf vorbeiging.«

 

Es war das erste und einzige Mal, daß er die Art und Weise erwähnte, wie er mit seiner temperamentvollen Witwe auseinanderkam.

 

»Ich bin dafür, daß die Menschen sich in jungen Jahren heiraten. Wenn sie alt genug geworden sind, um sich scheiden zu lassen, haben sie sich schon so aneinander gewöhnt, daß sie es bleiben lassen.«

 

»Heute abend sind Sie aber sehr lustig aufgelegt«, sagte Jim und mußte trotz seiner schlechten Stimmung lachen.

 

»Ich bin niemals lustig um diese Tageszeit.«

 

Als sie an der Wache im Hyde Park vorbeifuhren, stand der Posten stramm und präsentierte das Gewehr. Super zog feierlich den Hut und dankte.

 

»Er grüßte doch den Offizier auf der anderen Seite«, erklärte Elfa. Super schüttelte traurig den Kopf.

 

»Ich dachte, man würde mich auf meine alten Tage doch noch anerkennen. Man müßte eigentlich jedesmal die Kirchenglocken läuten, wenn ich nach London komme.«

 

Bei der dritten Tasse Tee erwähnte er so nebenbei, warum er zur Stadt gekommen war, und sagte plötzlich in seiner charakteristischen, sprunghaften Weise: »Miss Leigh, der Kuchen ist vorher präpariert worden. Ich will Ihnen nichts vormachen, Sie würden mir ja doch nicht glauben.«

 

»Er war also vergiftet?« fragte sie und wurde blaß. Super nickte.

 

»Ich glaube, daß Ihr Vater einen Feind hat, der nicht wünscht, daß er wieder zu Verstand kommt. Es ist möglich, daß er zu viele Dinge von seiner kleinen Höhle aus sah. Vermutlich war es aber etwas, bevor er – bevor sein Geist Schaden litt. Wenn Sie mich fragen, wer es tat, so kann ich Ihnen darauf keine Antwort geben, weil ich Ihnen das nicht sagen darf. Und wenn ich es Ihnen auch wirklich sagte, so hätte ich doch noch keinen Beweis dafür und könnte den Mann nicht verhaften.«

 

Seine Blicke wanderten über die Nachbartische.

 

»Als ich ein junger Beamter war, wäre es mir nie eingefallen, wie ein feiner Herr herumzulaufen und Eiscreme zu essen.« Der Übergang von einem Gegenstand zum andern war so plötzlich, daß Elfa bestürzt war. Aber Jim, der Supers merkwürdige Gewohnheiten kannte, folgte seinen Blicken. An einem der äußeren Tische sah er ein bekanntes Gesicht.

 

»Haben Sie Lattimer hierher bestellt?«

 

Super schüttelte den Kopf.

 

»Eiscreme essen«, sagte er entrüstet. »Wie ein junges Mädchen! Als ich in dem Alter war, habe ich kameradschaftlich ein oder mehrere Glas Bier getrunken.«

 

»Hat er Sie gesehen?« fragte Jim mit leiser Stimme.

 

»Sicher hat er mich gesehen. Dieser Lattimer sieht alles. Er ist so ähnlich wie die bekannte Spinne mit den vierzig Millionen Augen.«

 

Aber wenn Lattimer ihn auch gesehen hatte, so ließ er sich doch nichts merken. Er aß seelenruhig sein Eis und genierte sich nicht im mindesten, als Super aufstand, zu ihm hinkam und ihm gegenüber Platz nahm. Jim bemerkte, wie der alte Mann auf ihn einsprach. Nach seinem Gesichtsausdruck zu urteilen, war Super in seiner bissigsten Gemütsverfassung.

 

Als er zurückkam, rief Lattimer den Kellner, zahlte und verschwand etwas plötzlich.

 

»Ich habe ihm die striktesten Anweisungen gegeben, die Wache nicht zu verlassen – und hier ißt er Eiscreme wie ein Backfisch! Haben Sie eine Uhr bei sich, Mr. Ferraby? Ich habe keine. Früher hat man einmal davon gesprochen, daß man mir eine verehren wollte, aber dieser Plan kam nicht zur Ausführung. Wenn Sie noch eine alte Uhr haben, die Sie nicht brauchen, so können Sie sie mir geben.«

 

Als Jim die genaue Zeit gesagt hatte, stand er auf.

 

»Ich muß nun gehen. Ich habe Feuerfliege in der Bayswater Road stehen, das ist ja nur ein paar Schritte von hier.«

 

Mit einer kurzen Verbeugung vor Elfa war er gegangen, bevor sie auch nur eine von den Fragen an ihn richten konnte, die sie sich zurechtgelegt hatte.

 

Von ihren Plätzen aus konnten sie die Straße und die Brücke überschauen, die über den See führte. Als Super fortging, sah Jim einen Mann quer über die Straße gehen und ihm in respektvoller Entfernung folgen. Es war Lattimer.

 

»Ich bin nur neugierig, was Lattimer eigentlich macht. Super sagte doch, daß er ihn zur Polizeiwache zurückgeschickt hat, aber er scheint den Befehl nicht so schnell ausführen zu wollen.«

 

Die beiden blieben noch eine halbe Stunde sitzen und plauderten sorglos miteinander. Dann gingen sie zum Wagen, der auf der Seite der Straße parkte. Jim war schon eingestiegen, als ihn jemand beim Namen rief.

 

»Entschuldigen Sie, Mr. Ferraby.«

 

Jim schaute sich um, und sein Blick fiel auf ein unbekanntes Gesicht. An den zerrissenen Schuhen und dem verbeulten Strohhut des Mannes sah man deutlich, daß er ein Landstreicher war.

 

»Können Sie sich nicht mehr auf mich besinnen – ich bin Sullivan, der Gentleman, gegen den Sie damals so liebenswürdig waren, in Old Bailey als Staatsanwalt aufzutreten.«

 

»Donnerwetter!« sagte Jim leise. »Sie sind also der Verbrecher, den man eigentlich hätte einsperren müssen?«

 

»Ja, das stimmt«, sagte der andere und ließ sich nicht im mindesten einschüchtern. »Können Sie mir nicht etwas Geld für ein Nachtlogis geben? Ich habe eine Woche lang draußen im Freien geschlafen.«

 

Jim; der wenig Lust hatte, seine Bitte zu gewähren, schaute sich nach einem Polizisten um. Aber anscheinend hatte sich Sullivan schon vorher genau umgesehen, ob jemand von der Polizei in der Nähe war. Jim sah ein Lächeln auf dem Gesicht Elfas und wandte sich zu ihr um.

 

»Dies ist der arme Kerl, über den wir damals gesprochen haben, Elfa. Sie besinnen sich, daß ich die Anklage gegen ihn vertrat?«

 

»Das haben Sie gut gemacht«, sagte Sullivan devot. In diesem Augenblick sah Jim, wie eine berittene Polizeipatrouille um die Ecke bog; aber Sullivan sah sie auch.

 

»Geben Sie mir doch ein paar Shilling«, sagte er plötzlich mit dringlicher Stimme. »Sie helfen mir damit außerordentlich. Das einzige Geld, das ich mir verdienen konnte, war ein Shilling, den ich gestern abend von einem Herrn bekam, weil ich einen Kuchen nach Trafalgar Square brachte.«

 

Die scharf umherblickenden Polizisten kamen näher, und Sullivan wandte sich, um zu entschlüpfen; aber Jim hielt ihn am Arm fest.

 

»Kommen Sie einmal mit, mein Freund. Was ist das für eine Geschichte, die Sie da erzählen, daß Sie einen Kuchen fortgetragen haben? Wer hat Ihnen den gegeben?«

 

»Irgend so ein Mensch – ich habe ihn früher nie gesehen. Er hielt mich plötzlich am Themseufer an und fragte mich, ob ich mir nicht einen Shilling verdienen wollte. Ich will Sie nicht belügen, Sir, es ist wahr. Ich sollte ein Paket für ihn zu dem Botenbüro des Bezirks bringen.«

 

»Haben Sie sein Gesicht gesehen?« fragte Jim schnell.

 

Sullivan schüttelte den Kopf.

 

Die Patrouille war jetzt neben ihnen. Der eine Polizist brachte sein Pferd zum Stehen und schaute mißtrauisch auf den Landstreicher. Jim trat auf die Straße, stellte sich mit ein paar Worten vor und erzählte ihm, was Sullivan soeben mitgeteilt hatte.

 

»Ja, Sir, wir hatten eine entsprechende Benachrichtigung in unserem Tagesbefehl«, sagte der Polizist und zeigte auf Sullivan. »Sie können mit mir gehen, und wenn Sie den Versuch machen fortzulaufen, schieße ich Sie über den Haufen.«

 

An demselben Abend wurde Sullivan Super zur Vernehmung vorgeführt. Super war durchaus nicht mit seinem Bericht einverstanden. Zunächst hatte er das Gesicht des Fremden nicht gesehen, und dann war es ihm auch in keiner Weise möglich, seine Identität auf irgendeine andere Art festzustellen.

 

»Er hat sehr eindringlich mit mir gesprochen. Zuerst dachte ich, er wäre ein Detektiv.«

 

»Sage mir, was du wirklich meinst«, sagte Super milde. »Ich kenne die Redeweise der gewöhnlichen Leute sehr gut. Er benahm sich wie ein Detektiv – meintest du das?«

 

»Ja, die ganze Art und Weise, wie er mir den Auftrag gab, ließ mich das annehmen.«

 

Super sprach mit dem Polizisten, der Sullivan auf der Wache eingeliefert hatte.

 

»Hat man ihn in dem Büro dem Boten gegenübergestellt? Gut, ich erinnere mich, daß Mr. Ferraby sagte, du hättest ihn um Geld für ein Nachtlogis gebeten. Also heute abend bekommst du eins, und es hat noch den großen Vorteil, daß es dich nichts kostet. – Bringen Sie ihn in die Zelle!« sagte Super mit einer freundlichen Handbewegung.

 

Sullivan verließ unter Protest den Raum.

 

Kapitel 22

 

22

 

Mr. Gordon Cardew war ein Leser, der alles verschlang. Er hatte mehr Bücher gelesen, als die Bibliothek eines durchschnittlichen Gentleman überhaupt enthält, nachdem er sich von seiner Praxis zurückgezogen hatte. Es war seine Gewohnheit, ein Buch mit zu Bett zu nehmen, denn er konnte nicht gut schlafen. Und um sich die frühen Morgenstunden zu vertreiben, begann er seine Lektüre dort, wo er am Abend vorher aufgehört hatte. Seit Jahren waren seine Studien ausschließlich der Wissenschaft gewidmet. Wenn man dies Super gegenüber nur erwähnte, so konnte man sicher sein, Hohn und Spott zu ernten. Anthropologie kann aber ein sehr anregendes Studium sein, und die trockenen Akten toter Verbrecher sind oft anziehender und aufregender als irgendein moderner Roman. Cardew entdeckte, daß kein Tag verging, an dem er nicht seine Kenntnisse vergrößerte und seinen Überblick über die Kriminalistik erweiterte.

 

Er lag noch zu Bett und las in Mantegazzas wohlgemeintem, aber vollkommen verkehrtem Traktat über Physiognomik. Seine Aufmerksamkeit war geteilt zwischen den Theorien dieses großen Kriminologen und der voraussichtlichen Fortführung der Leichenschauverhandlung, als das Dienstmädchen hereinkam und ihm den Morgentee brachte. Sie stellte ihn auf den Tisch an seinem Bett.

 

»Mr. Minter ist da, Sir.«

 

»Minter?« sagte Cardew und sprang auf. »Wieviel Uhr haben wir denn?«

 

»Halb acht Uhr, Sir.«

 

»Minter um diese Zeit? Sagen Sie ihm, daß ich in ein paar Minuten komme.«

 

Er schlüpfte schnell in seinen Schlafrock, zog Pantoffeln an, nahm seine Teetasse mit und ging die Treppe hinunter. Er fand Super in der Halle steif auf einem Stuhl sitzen.

 

»Ich habe einen Kerl in der Zelle sitzen, der Sullivan heißt«, erklärte er, indem er direkt auf seine Angelegenheit zu sprechen kam. »Ich vermute, daß Sie sich nicht an ihn erinnern. Er versuchte, in Elsons Haus einzubrechen …«

 

»Oh, ich erinnere mich sehr genau an die näheren Umstände. Er war doch der Mann, gegen den Mr. Ferraby Anklage erhob.«

 

»Deshalb kam er ja auch frei«, sagte Super unliebenswürdig. »Er wurde gestern abend wieder eingeliefert. Ich brauche Ihnen wohl nicht zu erzählen, daß ich darüber sehr beunruhigt bin, Mr. Cardew. Und ich wäre auch nicht hierhergekommen, denn um ehrlich zu sein – ich halte nichts von Ihren Theorien über Anthropologie und so weiter. Aber Sie sind ein Anwalt, und ich bin ein unwissender, alter Mann. Ich habe den Eindruck, daß dieser Mensch irgend etwas vor mir geheimhält und daß er mehr weiß, als er mir sagen will. Ich habe alle möglichen Methoden angewandt, um ihn zum Reden zu bringen, aber er kommt nicht heraus mit der Sprache und verrät das nicht, was ich brauche. Ich habe mich immer von Ihren Ideen und Mitteilungen ferngehalten, weil ich ein altmodischer Polizeibeamter mit altmodischen Methoden bin. Vergrößerungsgläser und Chopinsche Sonaten haben in meinem Leben nichts bedeutet. Aber ich bin ein aufgeschlossener Mann und habe niemals aufgehört weiterzulernen.«

 

Er machte eine Pause und schien zu warten, was Mr. Cardew darauf sagte.

 

»Gut, was soll ich tun?«

 

»Sie sind Anwalt«, sagte Super mürrisch. »Sie sind gewöhnt, mit solchen Burschen umzugehen und sie zu vernehmen …«

 

»Sie wollen, daß ich ein Kreuzverhör mit ihm anstelle? Aber das ist doch sehr ungewöhnlich. Warum nehmen Sie nicht Mr. Ferraby?«

 

»Er klagte Sullivan an, und Sullivan wurde freigesprochen«, sagte Super verächtlich. »Natürlich brauchen Sie nicht zu kommen, es war nur ein Gedanke von mir. Er kam mir um Mitternacht«, fügte er hinzu. »Es ist sonderbar, wie einem die Gedanken mitten in der Nacht kommen.«

 

»Ganz richtig«, sagte Mr. Cardew eifrig. »Wenn Sie sich erinnern – ich fand meine Theorie über den Mord um zwei Uhr morgens.«

 

»Ich besinne mich nicht auf die genaue Zeit, aber es wird schon so gewesen sein.«

 

Mr. Cardew überlegte. »Gut«, sagte er dann. »Wenn Sie es nicht für unpassend halten, daß ich den Mann ausfrage, will ich kommen. Aber ich warne Sie, ich bin in der kriminellen Praxis nicht erfahren.«

 

Super machte kein Hehl aus seiner Erleichterung.

 

»Ich lag im Bett und ärgerte mich über diesen Sullivan – er ist ein richtiger Windhund. Manche mögen denken, ich würde mich nicht herablassen, um Rat zu fragen, aber ich gehöre nicht zu der Sorte. Man kann von jedem lernen!«

 

Er schien sich nicht bewußt zu sein, daß seine Worte nicht sehr dankbar klangen; aber Mr. Cardew war nicht beleidigt.

 

»Nun sagen Sie mir, warum der Mann verhaftet wurde und was Sie herausbringen wollen.«

 

»Versuchter Mord«, sagte Super. »Mitschuldig vor oder bei der Tat.« Als er die Überraschung in dem Gesicht des Anwalts sah, erklärte er ihm kurz den Fall.

 

»Dieser Sullivan nahm einen kleinen Kirschkuchen von einem Fremden am Themseufer. Er sollte ihn mit einem Brief zu dem Botenbüro am Trafalgar Square bringen, und alles sollte in einem Krankenhaus in Weymouth Street abgeliefert werden. In diesem Kuchen war Gift – Akonit. Sullivan sagt, daß er den Mann nicht kenne, der ihm das Paket gab, und er lügt wie ein Hund! Aber so geschickt ich auch bin, ich konnte nichts weiter aus ihm herausbringen.«

 

Mr. Cardew verzog die Lippen.

 

»Ein außergewöhnlicher Fall«, sagte er schließlich. »Sie meinen es ernst … Sie haben mich nicht – zum besten?«

 

»Ich wünschte, ich hätte Sie zum besteh. Nicht, daß ich dazu fähig wäre, aber ich wünschte es wirklich!«

 

Der Rechtsanwalt stützte sein Kinn auf die Hand und schaute nachdenklich drein.

 

»Eine sonderbare Geschichte – sie scheint kaum glaublich im zwanzigsten Jahrhundert – mitten im Zentrum der Zivilisation …«

 

»Und Kultur«, meinte Super, als Cardew eine Pause machte.

 

»Daß sich solche Dinge ereignen können! Nun gut, Super, ich will mit diesem Mann sprechen. Meine geringe Geschicklichkeit steht zu Ihrer Verfügung. Sie bringen ihn nicht irgendwie mit dem Mord in Zusammenhang?«

 

»Sicher und gewiß tue ich das«, sagte Super.

 

Er ging zur Wache zurück und weckte Sullivan auf.

 

»Wach auf, Mensch, deine letzte Stunde auf Erden ist da«, sagte er. »Mut, mein Junge!«

 

Sullivan setzte sich auf der harten Bank auf und rieb sich die Augen.

 

»Wieviel Uhr ist es denn?« fragte er schläfrig.

 

»Zeit ist nichts für dich, du Landstreicher – und wird bald noch weniger sein«, sagte Super ebenso. »Es kommt jetzt ein erstklassiger Anwalt, der wird dein Inneres nach außen kehren. Belüge ihn nicht, mein Junge! Er ist ein Genie an Psychologie und kann in dein schwarzes Herz sehen. Und dann wirst du ihm alles über den Mann sagen, dem du am Ufer begegnet bist … und die Wahrheit!«

 

»Ich kann mich nicht auf den Mann besinnen!« sagte der erschrockene Sullivan. »Ich hätte es Ihnen gesagt, wenn ich mich an ihn erinnert hätte.«

 

Super schüttelte traurig den Kopf.

 

»Ich habe von Schwefel und Feuer gehört und was einem Burschen passiert, der nicht geradeheraus reden kann. Hast du keine Mutter gehabt, die dir etwas beigebracht hat?«

 

»Ich weiß nichts und kann Ihnen also auch nichts sagen«, schrie Sullivan beinahe. »Zum Teufel auch mit Ihrem Anwalt!«

 

»Warte!« warnte Super und drehte den Schlüssel hinter seinem Gefangenen wieder um.

 

Er schlenderte gerade dem Eingang der Wache zu, als er Cardews Limousine die Straße herunterkommen sah. Der Wagen bremste scharf, und der Chauffeur sprang auf den Gehsteig.

 

»Super, kommen Sie …! Mr. Cardew liegt chloroformiert in seinem Zimmer …«

 

»Warum haben Sie denn nicht angerufen?« schrie Super wütend, als er in den Wagen sprang.

 

»Die Drähte sind durchgeschnitten«, sagte der Mann.

 

»Dieser Großfuß denkt an alles«, murmelte Super.

 

*

 

»Ich ging in mein Zimmer zurück und legte mich wieder hin, um über Ihre ungewöhnliche Bitte nachzudenken«, sagte Mr. Cardew. Er sah kreidebleich aus und war wirklich sehr krank.

 

Er lag auf einer Couch, und das Zimmer war von Chloroformgeruch erfüllt.

 

»Ich muß geschlafen haben … ich schlief in der Nacht nicht besonders gut. Ich habe keine Erinnerung, daß etwas geschah, bis mein Diener mich an der Schulter rüttelte. Er kam zufällig in das Zimmer und sah mich mit einem Stück gefalteten Leinen über dem Gesicht liegen. Er muß meinen Feind gestört haben, denn er fand das Fenster weit offen.«

 

Super ging zum Fenster und sah hinaus. Er erblickte etwas Glänzendes auf dem Blumenbeet unmittelbar unter sich, ging die Treppe hinunter ins Freie und hob es auf. Es war eine zerbrochene Flasche mit der Aufschrift: »Cloroformit B.P.« Sie mußte erst kürzlich geöffnet worden sein.

 

Super sah zu dem offenen Fenster hinauf. Es war leicht, sich hier herunterzulassen. Es waren keine Fußspuren auf dem kleinen Blumenbeet unter der Mauer zu sehen, aber wenn jemand von dem Fenster heruntersprang, konnte er leicht das Beet vermeiden und direkt den Kiesweg erreichen.

 

Er sah auf das Schild der Flasche. Es trug in der Ecke die Initialen einer wohlbekannten chemischen Großfirma. Es würde schwierig sein, dadurch etwas herauszubekommen. Der Telefondraht lief hier die Mauer entlang. Er war sauber abgeschnitten.

 

»Dieselbe Zange, die meinen Draht durchschnitt«, sagte Super.

 

Er ging zu dem Anwalt zurück, der sich so weit erholt hatte, daß er in einem Sessel sitzen konnte.

 

»Sie haben niemand auf dem Feld gesehen – wo war denn der Gärtner?«

 

»Er ist heute morgen mit dem Umpflanzen der Töpfe im Schuppen beschäftigt. Ich hörte ein Geräusch, als ich im Bett lag. Aber ich gab nicht weiter darauf acht.«

 

»Das Fenster war offen?«

 

»Halb offen und mit einem Haken befestigt, den man leicht von außen aufheben konnte. Es war weit geöffnet, als mein Diener hereinkam.«

 

Super prüfte das gefaltete Leinen. Obwohl sich Chloroform schnell verflüchtigt, war der Stoff zwischen den Falten noch feucht. Er zog das Kissen weg, auf dem der Kopf des Anwalts gelegen hatte, und schaute dann unter das Bett.

 

Mr. Cardew, der sich krank fühlte, lächelte.

 

»Nein, ich erwarte nicht, ihn hier zu finden«, sagte Super. »Ich hatte die Idee, daß ich – etwas fände. Sie haben Ihnen die Hände nicht zerkratzt?«

 

»Meine Hände zerkratzt? Was in aller Welt?«

 

Super besah sich die Hände des Anwalts Finger um Finger, wie es seine Art war.

 

»Ich dachte, Ihre Hände würden zerkratzt sein.«

 

Er schien enttäuscht zu sein. »Das vernichtet eine meiner Theorien – ich habe immer sehr schnell Theorien. Ich werde Ihnen polizeilichen Schutz geben, Mr. Cardew.«

 

»Sie werden nichts Derartiges tun«, sagte der Anwalt nachdrücklich. »Ich kann mich sehr gut selbst beschützen.«

 

»So sieht es aus«, war alles, was Super sagte.

 

Kapitel 23

 

23

 

Die Aufgabe, die Mr. Cardew hätte übernehmen sollen, fiel an Jim Ferraby.

 

»Aber, mein lieber Super«, sagte Jim erregt. »Sie haben anscheinend nicht eher Ruhe, als bis ich erledigt bin!«

 

»Ich werde nicht eher ruhen, als bis ein gewisser Jemand erledigt ist, Mr. Ferraby«, sagte der unerschütterliche Super. »Ich würde Sie nicht bemüht haben, aber der Bursche, der an alles denkt, erwischte den größten Anthropologen des Jahrhunderts gerade in dem Moment, als er im Begriff war, alles aus diesem Dieb Sullivan herauszuholen.«

 

»Mr. Cardew? Was ist denn passiert?« fragte Jim schnell.

 

Super lachte so selten, daß Jim ihn verwundert anstarrte.

 

»Großfuß, der Schlaue, faßte ihn. Das Gehirn dieses Burschen ist so gut wie seine Füße. Wahrscheinlich lauschte er, als ich ein kleines Gespräch mit Mr. Cardew hatte. Ich. habe schon die ganze letzte Woche gewußt, daß sich etwas mit Cardew ereignen wird. Ich glaube, ich könnte ihn mit einer ganzen Schutztruppe umgeben«, amüsierte er sich; »aber wer würde jemals denken, daß sie einen Burschen fangen könnte, der auf vertrautem Fuß mit Lombosse lebt – oder wie der Name dieses Italieners sein mag.«

 

Jim sah ihn mißtrauisch an. Er war niemals ganz sicher, wie nahe Super in seinen ernsten Momenten das Lachen war.

 

»Sagen Sie mir, was vorgefallen ist«, sagte er, und Super gab ihm eine genaue Beschreibung von Cardews unglücklichem Erlebnis. Auf die dringende Bitte des alten Mannes ging er in die Zelle und unterwarf den zornigen Landstreicher eine Stunde lang einem Kreuzverhör. Super überließ ihn seiner Aufgabe.

 

»Ich erwartete auch niemals, daß es Ihnen gelingen würde«, sagte er, als Jim über seinen Mißerfolg berichtete. »Natürlich fühlt sich dieser Bursche Ihnen überlegen. Er hat Sie einmal übervorteilt. Ich wußte, daß Sie ihn nicht zum Reden bringen könnten.«

 

»Aber Sullivan spricht die Wahrheit«, sagte Jim verärgert.

 

Super schloß gelangweilt die Augen.

 

»Es ist ein Elend.« Er schüttelte wieder den Kopf. »Wollten Sie nicht gehen, Mr. Ferraby?«

 

»Ja, ich gehe«, sagte Jim. »Wirklich, Super, ich weiß nicht, warum in aller Welt Sie mich hierhergeholt haben.«

 

Super sah auf die Uhr, die Zeiger deuteten auf zwei Minuten vor vier.

 

»Ich habe diesen ganzen Nachmittag mit mir selbst gekämpft und gerungen«, sagte er. »Gerechtigkeit gegen persönlichen Ehrgeiz. Und die Gerechtigkeit hat gesiegt.«

 

Er öffnete sein Pult, nahm einen blauen Schein heraus und füllte ihn sorgsam aus. Jim beobachtete ihn und war neugierig, was das bedeuten sollte.

 

»Gehen Sie noch nicht. Sie sind Beamter der Staatsanwaltschaft, und ich glaube, Sie können dies unterzeichnen.«

 

Jim sah auf das Dokument, das er ihm reichte. Es war ein Haftbefehl gegen Elson wegen unrechtmäßigen Besitzes.

 

»Wollen Sie im Ernst, daß ich das unterzeichne?«

 

Super nickte.

 

»Ja. Meines Wissens sind Sie Friedensrichter.«

 

»Aber wegen unrechtmäßigen Besitzes?«

 

»Das weiß ich nicht, bis ich ihn habe«, sagte Super. »Mr. Ferraby, ich riskiere etwas. Ich werde Sie später informieren. Geben Sie mir jetzt den Haftbefehl.«

 

Jim zögerte eine Sekunde, griff dann nach der Feder und schrieb seinen Namen auf das Papier.

 

»Gut«, sagte Super, »die Gerechtigkeit hat gesiegt. Kommen Sie mit mir – Sie werden etwas erleben.«

 

Ein Dienstmädchen erschien auf das Klopfen und bat sie, in die Halle einzutreten, bevor es die Treppe hinaufging. Sie hörten ihr Klopfen an Elsons Tür. Sie kam sofort wieder herunter.

 

»Mr. Elson ist nicht im Haus«, sagte sie. »Er geht vielleicht im Garten spazieren. Wenn Sie hier warten wollen …«

 

»Macht nichts, mein Fräulein«, sagte Super. »Wir werden ihn schon finden. Ich kenne mich hier aus.«

 

Es war nichts von Elson zu sehen. Das Dienstmädchen, das am Eingang auf ihre Rückkehr wartete, meinte, daß er vielleicht in der Wildnis sei, einem Streifen unkultivierten Landes, das einst einem singenden Landstreicher zur Flucht verholfen hatte. Die Wildnis, wie sie zutreffend hieß, lag am Fuß eines sanften Abhanges, außerhalb der roten Mauer. Von dieser Erhebung aus konnte man alles sehen, was sich bewegte; denn das Gebüsch war nicht sehr hoch.

 

»Ich will doch nicht annehmen, daß er entflohen ist«, sagte Super.

 

»Was ist denn eigentlich mit ihm los?«

 

»Ich brauche ihn – das ist alles«, sagte Super. »Ich habe den Verdacht, daß er heute morgen fort ist.«

 

»Bringen Sie ihn mit dem Mord in Verbindung?«

 

Super nickte.

 

»Aber Sie wollen ihn nicht wegen Mordes verhaften – ist das richtig?«

 

»Das ist richtig. Sie vermuten stets das Richtige.«

 

Er beschattete seine Augen mit der Hand und überschaute das Gebüsch.

 

»Hier links läuft ein Pfad«, sagte er plötzlich. »Es wird nichts schaden, wenn wir bis zum Ende des Grundstücks gehen.«

 

Was Super einen Pfad nannte, war nicht mehr als eine fußbreite Spur, die sich verschlungen hin und her zog, manchmal durch Gräben hindurchging und gelegentlich parallel mit dem Zaun lief.

 

»Ich glaube nicht, daß er hier ist«, sagte Jim. »Denken Sie wirklich, daß er fort ist?«

 

Super fuhr ihn plötzlich zu seiner Verwunderung an.

 

»Was wollen Sie eigentlich mit Ihren Fragen?« rief er in heftiger Aufwallung. »Sehen Sie nicht, daß mich diese Sache aufregt?« Dann beherrschte er sich und zeigte grinsend seine Zähne. »Setzen Sie mir nur den Kopf zurecht, Mr. Ferraby, ich habe es verdient. Ich bin heute sehr temperamentvoll, so temperamentvoll wie seit Jahren nicht mehr.«

 

»Es tut mir leid, daß ich Sie verletzt habe«, sagte Jim. »Aber ich bemühte mich, Ihre Ansicht zu erfahren.«

 

»Es ist nicht wert, das zu tun, Mr. Ferraby.«

 

Jim hob die Hand, daß er schweigen solle. Von irgendwoher kam aus der Wildnis ein sonderbarer Ton – plok, plok, plok!

 

»Er fällt Holz«, sagte er; aber Super gab keine Antwort.

 

Nach weiteren fünf Minuten kamen sie an die Biegung eines Weges, der in eine schlüsselförmige Vertiefung führte. Es war notwendig, hier die Büsche beiseite zu biegen, um weiterzukommen. Super ging zuerst durch und hielt die Zweige zurück. Ferraby dachte, daß dies ein Akt der Höflichkeit sei. Dann blickte er über Supers Schultern und sah eine Gestalt in einer Blutlache. Es war Elson! Super ging vorwärts und drehte ihn um, so daß er auf dem Rücken lag.

 

»Ein-, zwei-, dreimal durchschossen«, sagte er hart. »Elson, ich hätte Sie an diesem Morgen verhaftet und Ihr Leben gerettet!«

 

Kapitel 18

 

18

 

Auch Jim genoß nun das Vorrecht, das bis dahin ausschließlich Super gehabt hatte. Elfa Leigh erlaubte ihm, eine halbe Stunde in ihrer kleinen Wohnung zu bleiben und den letzten Bericht über ihren Vater zu hören.

 

»Sie wollten mich über Nacht nicht in dem Krankenhaus lassen«, sagte sie, »und vielleicht ist das auch sehr klug von ihnen. Meinem Vater geht es gut, und er fühlt sich glücklich. Man kann gut mit ihm auskommen. Mir scheint das Ganze wie ein Traum, ein glücklicher, aber auch zu gleicher Zeit ein unglücklicher Traum. Es ist schrecklich, wenn ich an die Jahre denke, in denen er durch das Land wanderte, ohne daß sich jemand um ihn kümmerte.«

 

Jim hatte auch den berühmten Arzt gesprochen; der Tag der Operation war schon festgesetzt. Der Doktor und sein Assistent waren voller Hoffnung, daß das Resultat gut ausfallen werde. Sie hatten ihm eine ganze Anzahl ähnlicher Fälle genannt, in denen vollständige Genesung des Patienten eingetreten war.

 

»Nein, wegen der Operation sorge ich mich gar nicht«, sagte sie ruhig, als er danach fragte. »Ich bin durchaus nicht ängstlich. Die Botschaft tut alles, was nur in ihren Kräften steht. Die Herren waren sehr mitfühlend und freundlich und haben mir sogar eine Summe zur Verfügung gestellt, bis er wiederhergestellt ist, so daß ich tatsächlich nicht gezwungen bin, zu Mr. Cardew zurückzugehen.«

 

»Haben Sie etwas von ihm gehört?«

 

»Ja, er rief mich heute morgen an. Er war außerordentlich liebenswürdig, aber sehr zerfahren. Ich hatte den Eindruck, daß er so sehr von dem Problem der Ermordung der armen Miss Shaw in Anspruch genommen wird, daß er unfähig ist, sich um meine Angelegenheiten zu kümmern. Trotzdem ist er ein lieber Mensch.«

 

»Wer? Cardew?« fragte Jim lächelnd. »Ich kenne zum mindesten einen, der diese Ansicht nicht teilt.«

 

»Super? Natürlich, aber Sie müssen bedenken, daß Super eine Stellung für sich einnimmt. Man kann sich nicht vorstellen, daß er jemals derselben Ansicht ist wie andere Leute. Trotzdem ist auch er ein guter Mensch. Ist er tatsächlich so rauh, wie er sich den Anschein gibt? Er spricht immer so merkwürdig.«

 

»Super ist einer der ältesten Beamten bei der Polizei«, sagte Jim. »Ich weiß noch nicht, ob er sich nur so ungebildet stellt. Er erscheint in so vielen Gestalten und Charakteren, daß es schwer ist, die Wahrheit zu ergründen …«

 

Das Telefon klingelte in dem Augenblick, und Elfa nahm den Hörer ab. Sie runzelte die Stirn.

 

»Nein, ich habe nichts geschickt … gewiß nicht. Bitte, geben Sie es ihm nicht, ich werde sofort hinkommen.«

 

Sie legte den Hörer auf, und ihr Gesicht hatte einen sorgenvollen Ausdruck.

 

»Das kann ich nicht verstehen«, sagte sie. »Die Vorsteherin des Krankenhauses fragte mich, ob ich meinem Vater einen Kirschkuchen geschickt hätte. Natürlich habe ich das nicht getan. Ein Bote hat ihn mit einem kurzen Brief gebracht.«

 

Jim pfiff vor sich hin.

 

»Das klingt ja sehr sonderbar.«

 

Als Elfa schnell in ihrem Zimmer verschwand, um sich anzuziehen, erinnerte er sich an Super und rief ihn an. Glücklicherweise meldete sich der Oberinspektor selbst. Er hörte den Bericht ruhig an.

 

»Sagen Sie ihnen, sie sollen den Kuchen verwahren, bis ich komme. Warten Sie vor dem Krankenhaus auf mich, wenn Sie Miss Leigh wieder heimgebracht haben. Wenn Sie einen jungen Mann dort finden, der Sie beobachtet, so erwähnen Sie nur meinen Namen.«

 

Jim erfuhr so zum erstenmal, daß das Krankenhaus bewacht wurde.

 

Als sie ankamen, wurden sie in das Privatzimmer der Vorsteherin gebeten. Mitten auf dem Tisch stand das verdächtige Backwerk.

 

»Ich wollte es ihm nicht geben, bis ich nicht ganz sicher war, daß Sie es geschickt hatten«, sagte die alte Dame. »Mr. Minter hat mir das sehr genau eingeschärft.«

 

»Sagten Sie nicht auch, daß ein Begleitbrief dabei war?«

 

Die Vorsteherin gab ihnen einen Briefumschlag.

 

»Das ist nicht meine Schrift«, sagte Elfa bei dem ersten Blick auf die Adresse.

 

Auch den Brief hatte sie nicht geschrieben. Es war einfaches, glattes Papier. Ihre Adresse in Cubitt Street war oben links in der Ecke notiert. Das Schreiben enthielt nur die kurze Bitte, den Kuchen ihrem Vater zu geben.

 

»Kennen Sie die Handschrift?« fragte Jim.

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Ich habe sie vorher nie gesehen. Aber warum schickt man denn diesen Kuchen? Will man … Ach, das ist doch ganz unmöglich!«

 

Sie wurde bleich.

 

»Vielleicht hat irgendein wohlmeinender Freund diese Aufmerksamkeit geschickt«, sagte Jim, um sie zu beruhigen.

 

»Aber wer würde denn meinem Vater ein Leid zufügen wollen?« fragte sie und schaute ängstlich auf den unschuldig aussehenden Kuchen.

 

»Was soll ich nun tun?« fragte die alte Dame.

 

»Heben Sie ihn bitte auf«, sagte Jim schnell und tauschte einen Blick mit ihr, indem er verstohlen auf Elfa deutete. Sie verstand. Obgleich er den Vorfall leicht abtat, zweifelte Elfa doch nicht an der wahren Bedeutung.

 

»Ich hörte, wie Sie mit Mr. Minter am Telefon sprachen«, sagte sie zu ihm, als er sie wieder zur Cubitt Street brachte. »Kommt er in die Stadt?«

 

»Er wird dort sein, wenn ich zurückkomme. Sie müssen sich nicht aufregen, Elfa.«

 

Sie hörte die vertrauliche Anrede ganz gut, und es schien ihr sogar recht zu sein, daß er sie Elfa nannte.

 

»So viele Dinge sind mit Vaters Abwesenheit verknüpft, daß ich gar nicht klug daraus werden kann, und so will ich auch gar nicht erst versuchen, alles zu entwirren. Ich werde noch nicht zu Bett gehen. Würden Sie so liebenswürdig sein, mich anzurufen, wenn etwas entdeckt wird?«

 

Mit der Versicherung, dies zu tun, verließ er sie und kehrte zurück, um seinen Posten vor dem Krankenhaus einzunehmen. Wie Super vorausgesagt hatte, kam aus der Dunkelheit der gegenüberliegenden Seite der Straße ein Fremder auf ihn zu, als er sich in einen Torweg gestellt hatte, und fragte ihn ohne weiteres, was er hier suche. Seine Erklärung wurde nicht sofort geglaubt, denn Detektive sind von Natur aus sehr skeptisch. Glücklicherweise hörte man während ihres Disputs einen fürchterlichen Spektakel, ähnlich dem Knattern eines Maschinengewehres, das in unregelmäßigen Zwischenräumen abgefeuert wird. Einige Sekunden später erschien Super auf seiner Feuerfliege.

 

»Ich habe sie in Barnes Common auf eine Geschwindigkeit von achtzig Kilometer gebracht«, sagte er mit innerster Befriedigung, obwohl eine solche Schnelligkeit innerhalb der Stadt gegen die polizeilichen Vorschriften verstieß. »Ein Verkehrsschutzmann versuchte, mich bei der Eisenbahnkreuzung anzuhalten; aber ebensogut hätte er versuchen können, einen Blitz mit den Händen zu fangen.«

 

Er lehnte die Maschine an die Hauswand, dann ging er mit Ferraby ins Haus. Als sie oben waren, wurde der Kuchen gebracht, damit Super ihn ansehen konnte.

 

»Oh, der sieht gut aus. Ich werde ihn mitnehmen, wenn Sie nichts dagegen haben. Können Sie sich auf den Distrikt besinnen, aus dem der Bote mit dem Kuchen kam?«

 

»Ich glaube, es war Trafalgar Square«, sagte die alte Dame.

 

Sie hielten bei der Polizeiwache an, um den Kuchen dort abzugeben. Super hinterließ Instruktionen, ihn in der Frühe des nächsten Morgens in einer versiegelten Kiste zu der staatlichen Untersuchungsstelle zu bringen. Dann machte er sich auf den Weg, den Boten herauszufinden. Jim überredete ihn, seine Spektakelmaschine auf der Wache zu lassen, und sie fuhren in einer Taxe nach Trafalgar Square.

 

Hier hatte Super keine Schwierigkeit, die Angabe der alten Dame bestätigt zu finden. Das Paket mit dem Kuchen war offensichtlich von einem Mann gebracht worden, von dem man keine genaue Beschreibung geben konnte. Anscheinend war er der Bote des wirklichen Absenders.

 

»Irgendein Vagabund, den er auf der Straße für ein paar Groschen aufgelesen hat«, sagte Super. »Wir werden ihn ohne Annoncieren in der Zeitung nicht finden. Und dann ist es außerdem noch wahrscheinlich, daß er sich mit dem natürlichen Instinkt dieser verschlagenen Menschen nicht meldet.«

 

»Es wäre aber doch möglich, daß es kein Verbrecher war.«

 

»Es war ein Landstreicher, und alle Landstreicher sind Verbrecher«, sagte Super, der sich gern in Allgemeinplätzen erging.

 

Er verließ das Botenbüro am Trafalgar Square, trat an den Rand des Bürgersteiges und betrachtete nachdenklich das Nelson-Denkmal.

 

»Ich möchte zu Lattimer gehen. Er ist irgendwo in der Stadt. Das ist der richtige Mann, den ich auf die Spur dieses Vagabunden hetzen kann – er hat einen natürlichen Hang zu Leuten, die nicht arbeiten wollen. Ich werde diese Sache doch Scotland Yard melden müssen. Gerne tue ich es nicht – dieser langnasige Kommissar wird wahrscheinlich einen anderen Mann mit der Sache betrauen und verdirbt mir dann meine ganzen Nachforschungen.«

 

Mit offensichtlichem Widerstreben ging er nach Whitehall hinunter. Als er nach Scotland Yard kam, überzeugte er sich zu seiner größten Genugtuung davon, daß kein höherer Beamter zugegen war, der ihm die Untersuchung aus den Händen hätte nehmen können. Trotzdem konnte er seinen Bericht über die letzte Entwicklung erstatten.

 

Obgleich Jim nur wenig mitzuteilen hatte, berichtete er doch Elfa telefonisch das Resultat seiner Nachforschungen.

 

»Glauben Sie, daß der Kuchen vergiftet war?«

 

»Super ist dessen nicht ganz sicher – wir werden es erst morgen erfahren.«

 

Als er hörte, wie ängstlich sie sprach, tat es ihm leid, daß er überhaupt etwas gesagt hatte.

 

Als er wieder mit Super zusammenkam, machte ihm der geniale Beamte ein merkwürdiges Geständnis.

 

»Ich habe so eine Idee, daß es besser wäre, wenn ich recht bequem zur Wache zurückfahre. Wo ist Ihr alter Autobus?«

 

»Er steht hier in der Nähe in einer Garage – ich will Sie gerne zurückbringen. Ich dachte nur, Sie wären mit Ihrer höllischen Radaumaschine verheiratet.«

 

»Man kann kaum sagen, daß ich verheiratet bin«, meinte Super.

 

Jim fuhr in einer Taxe zur Garage und holte Super dann in der Polizeistation ab. Der alte Mann wartete mit seiner Feuerfliege, und sie hoben sie auf den Gepäckhalter auf der Rückseite.

 

»Es ist doch merkwürdig, wie Einfälle und Gedanken zu einem kommen. Mir geht es gerade wie Mr. Cardew – mitten in der Nacht kommen sie. Gerade in diesem Augenblick habe ich eine großartige Idee, über die ich sehr erfreut bin.«

 

Trotzdem lehnte er es ab, sie Jim mitzuteilen. Die Rückfahrt ging schnell und ohne Zwischenfall vonstatten.

 

»Kommen Sie doch bitte herein«, sagte Super. »Ich will Sie nicht lange aufhalten. Es ist aber möglich, daß neue Nachrichten eingetroffen sind.«

 

Er hatte recht. Der diensttuende Sergeant berichtete, daß ein Motorradfahrer zur Station gekommen sei.

 

»Er sagte, daß jemand auf der Landstraße zwei Schüsse auf ihn abgegeben habe, etwa einen Kilometer von der Stadt entfernt.«

 

Super seufzte zufrieden.

 

»Sie haben ihn doch nicht etwa getroffen? Ich vermute, daß sie die Schnelligkeit, mit der er fuhr, nicht richtig beurteilten. Er gehört wahrscheinlich zu den Motorradfahrern, die nicht mehr als 60 km Stundengeschwindigkeit aus ihrer Maschine herausholen können. Wenn ich nun auf Feuerfliege mit meinen 90 km vorbeigerast wäre, hätte mich die Kugel sicher erwischt.«

 

»Sie?« fragte Jim verwundert. »Wollte man denn auf Sie schießen?«

 

»Sie können getrost darauf wetten, daß man die Absicht hatte, mich niederzuknallen«, sagte Super ruhig. »Sie haben vorher davon gesprochen, daß ich mit meiner Feuerfliege verheiratet wäre. Ich will ja gerade, daß die Leute das denken sollen. Ich möchte nicht gerne, daß man erfährt, daß Feuerfliege ab und zu Witwe ist.«

 

Jim verstand jetzt, warum Super es vorgezogen hatte, im Auto zurückzukehren. Angenommen, die Explosion der Schießfalle in der vorigen Nacht wäre kein Unfall gewesen, und man hätte es auf sein Leben abgesehen, so wäre er ein leichtes Ziel für Leute gewesen, die aus dem Hinterhalt auf ihn schossen. Der Lärm seines Motorrades war kilometerweit zu hören. Später stellte es sich heraus, daß auch der Motorradfahrer, auf den man geschossen hatte, eine verhältnismäßig laute Maschine fuhr.

 

»Ich werde über nichts mehr erstaunt sein, was auch geschieht«, sagte Super mit philosophischer Ruhe. »Aber man muß es ihnen lassen, sie haben schnell gehandelt. – Ist Lattimer schon zurück?«

 

»Nein«, sagte der diensttuende Sergeant, »er ist noch in der Stadt.«

 

Aber hier sagte er etwas, was der Wirklichkeit nicht entsprach; denn Lattimer saß in diesem Augenblick auf einem Zaun zwischen zwei hohen Sträuchern in dem verlassenen Teil einer Londoner Landstraße. Er hatte eine Pistole in der Hand und war sehr ärgerlich über seinen Vorgesetzten, denn er hatte nicht gesehen, daß Super vorbeigefahren war.

 

Kapitel 19

 

19

 

Es schien Jim Ferraby das Natürlichste von der Welt, am Morgen einen Besuch in Cubitt Street zu machen. Er wartete geduldig, bis Elfa herunterkam, und brachte sie auf dem leider allzu kurzen Weg von der Cubitt zu der Weymouth Street. Er konnte sich nicht damit entschuldigen, daß die Strecke auf seinem Wege lag; denn es war tatsächlich ein so großer Umweg, daß seine Fahrt fast verdoppelt wurde. Elfa machte ihn darauf aufmerksam und bat ihn am Abend mit noch größerer Dringlichkeit, sich ihretwegen keine so großen Umstände zu machen. Mr. Leigh hatte einen guten Tag verbracht und fast die ganze Zeit geschlafen. Die Pflegerinnen berichteten, daß er die Nacht über meistens wachte.

 

»Er muß sich in den letzten Jahren angewöhnt haben, bei Tage zu schlafen und in der Dunkelheit umherzuwandern«, sagte sie. »Ich glaube fast, daß er mich heute nachmittag erkannt hat. Er schaute so verwundert auf mich, als ob er versuchte, sich etwas oder irgend jemand ins Gedächtnis zurückzurufen. Gerade bevor ich zu Ihnen herunterkam, fragte er mich, ob ich ihn nicht mit zum Meer nehmen könne. Er sagte, er müsse nach drei und vier schauen. Und wie mir die Vorsteherin erzählte, hat er sie gestern abend dasselbe gefragt. Haben Sie eine Ahnung, was er mit drei und vier meinen könnte?«

 

»Ich muß die Aufklärung Super überlassen. Haben Sie den Arzt gesprochen?«

 

Sie hatte den Doktor gefragt, und er hatte ihr mitgeteilt, daß die Operation auf nächsten Sonnabend festgesetzt sei. Nachdem er verschiedene Versuche angestellt hatte, war er überzeugt, daß Mr. Leigh wieder vollständig hergestellt werden könnte.

 

Als Elfa morgens Jim traf, fragte sie sofort nach dem Kuchen, und er antwortete aalglatt, daß der Amtschemiker keine Spur von Gift gefunden habe. Sie schien aber nicht überzeugt zu sein und wiederholte ihre Frage auf dem Rückweg nach Cubitt Street.

 

»Ich bin bei Super gewesen, und er sagte mir, daß kein Gift gefunden wurde.« Aber trotz dieser Versicherung war Elfa Leighs Argwohn nicht eingeschläfert.

 

»Ich habe mich heute schon mit dem Gedanken beschäftigt, ob mein Vater irgend etwas von der Mordtat gesehen haben kann oder ob er den Mörder kennt. Um Mittag fuhr ich nach King’s Bench Walk und suchte Mr. Cardew auf. Er nimmt an, daß der Anschlag auf meinen Vater gestern abend nur aus dem Grund verübt wurde, weil er Dinge sah, die in dem Haus an der Küste vorgingen. Mein Vater lebte in einer Höhle, von der aus man Beach Cottage sehen konnte. Aber Sie wissen das natürlich. Super erzählte mir heute, daß die Höhle von der Polizei durchsucht wurde und man nach dem Ergebnis annehmen muß, daß mein Vater jahrelang dort gelebt hat. Er pflegte sich gewöhnlich spät abends an der Außenseite der Klippe an einer Strickleiter herunterzulassen und vor Tagesanbruch wieder zurückzukehren. Dann zog er die Strickleiter hinter sich in die Höhe. Sie war so weiß, von Kreide, daß Mr. Minter erklärte, man hätte sie auch am Tage nicht wahrnehmen können, wenn er sie hätte hängen lassen.«

 

»Sie haben Super also schon gesehen?«

 

Minter hatte schon einen kurzen Besuch im Krankenhaus gemacht, aber er hatte wohlweislich den Bericht des Chemikers über den Kuchen verheimlicht.

 

Nachdem Jim sie bis zur Tür ihrer Wohnung gebracht hatte, zögerte er noch eine Weile und wartete, daß sie ihn einladen würde, näher zu treten.

 

»Ich werde heute abend sehr ungastlich sein und Sie ohne eine Tasse Tee nach Hause gehen lassen – ich bin entsetzlich müde.«

 

Wieder erklärte er, daß eine Tasse Tee im Park sehr angebracht sei, die Müdigkeit zu verscheuchen, besonders wenn man eine schöne Kapelle dazu spielen höre. Aber er hatte keinen Erfolg bei ihr.

 

»Ich wünschte, es wäre alles vorüber«, sagte sie. »Ich habe eine Ahnung … so eine furchtbare Ahnung, daß Gefahr droht … und daß sich noch etwas Schreckliches ereignet.«

 

»Sie sprechen so, als ob Sie wirklich noch eine Tasse Tee nötig hätten«, sagte Jim einladend. Aber sie lächelte ihn zum Abschied an, und die Haustür schloß sich hinter ihr.

 

Jim wußte nicht, was er anfangen sollte. Er hatte sich für den Abend freigemacht, und obgleich zu Hause Arbeit auf ihn wartete, fühlte er sich doch sehr unbehaglich, als er daran dachte.

 

Es war ein so schöner Abend. Er wollte nicht gern allein essen, und mechanisch wandte er seinen Wagen nach Westen. Zuerst hatte er die Absicht, Super zu besuchen, aber als er bei ihm vorsprach, erfuhr er, daß der Oberinspektor mit unbekanntem Ziel fortgegangen sei. Auch Lattimer war nicht zu sehen. So fuhr er nach Barley Stack und hatte die Genugtuung, Mr. Cardew anzutreffen, der auf dem Rasenplatz vor seinem Haus auf und ab ging. Er hatte die Hände hinter dem Rücken verschränkt und die Stirn in tiefe Falten gelegt. Als er das Auto hörte, drehte er sich um und grüßte mit der Hand.

 

»Wenn ich heute abend gern noch jemand gesehen hätte, dann sind Sie es, obgleich ich keinen besonderen Grund habe, ausgenommen … Nun wohl, ich vermute, daß ich noch unter dem Eindruck von Hannas Tod leide. Es scheint mir noch so unmöglich und unwahrscheinlich, daß ich jede Minute erwarte, ihre laute Stimme zu hören« – er zögerte – »ich möchte nicht undankbar sein … die arme Hanna!« Er seufzte tief. »Die Dienerschaft zeigt gerade keine große Trauer, wie ich zu meinem Bedauern festgestellt habe und wie man eigentlich hätte erwarten sollen. Hanna war streng, aber trotzdem hatte sie ihre guten Seiten, die leider niemand recht verstand.«

 

Sie waren zusammen bis zum äußersten Ende des Rasens gegangen und zu einem kleinen, schmalen Grasstreifen gekommen, der im rechten Winkel abbog. Von ihrem Platz aus hatten sie einen freien Blick auf Hill Brow. Irgend etwas Düsteres liegt in dem Aussehen dieses großen, roten Hauses, dachte Jim. Da hörte er einen Ausruf seines Begleiters.

 

»Es ist doch heute abend zu warm, um einzuheizen!«

 

Aus einem der großen Kamine von Hill Brow kam eine weiße Rauchwolke.

 

»Zufällig weiß ich, daß dieser Schornstein mit dem Kamin in Mr. Elsons Arbeitszimmer in Verbindung steht. Ich möchte nur wissen, warum er an einem solchen Abend wie heute ein Feuer anmacht.«

 

Die beiden Männer standen schweigend und beobachteten den sonderbaren Vorgang. Anscheinend wurde der Kamin sehr ausgiebig geheizt, denn die dicke Rauchwolke verminderte sich keineswegs.

 

»Vielleicht verbrennen sie Kehricht aus dem Garten«, meinte Jim.

 

Mr. Cardew schüttelte den Kopf.

 

»Er hat einen besonderen Verbrennungsofen für solche Zwecke in seinem Garten. Außerdem ist um diese Jahreszeit alles grün, und es fallen noch keine Blätter von den Bäumen.«

 

Jim beobachtete den Kamin und bezweifelte, daß das Vorkommnis so wichtig war, wie der Anwalt dachte.

 

»Möglicherweise räumt er unter seinen alten Papieren auf – ich habe auch jedes Jahr einmal das Bedürfnis, so etwas zu tun. Dabei überlege ich mir nicht, ob das Wetter auch dazu angetan ist.«

 

Mr. Cardew lächelte geheimnisvoll.

 

»Ich kenne unseren Freund zwar nicht sehr genau«, erwiderte er, »aber er kommt mir nicht wie ein Mann vor, der immer alles ordentlich aufräumt – ich bin nur gespannt, was er dort oben verbrennt.« Er schaute sich um und rief den treuherzig dreinschauenden Gärtner, den Jim schon von früheren Besuchen her kannte.

 

»Bringen Sie doch bitte einen Brief zu Mr. Elson«, sagte er und verschwand im Haus, um ihn zu schreiben.

 

Als der Mann hinübergegangen war, erklärte ihm Cardew seine schlaue Absicht.

 

»Ich habe Elson für morgen zum Abendessen eingeladen, nicht weil ich ihn gerne bei mir haben möchte, sondern weil mein Gärtner ihn allein im Hause finden wird, wenn er nach Hill Brow kommt.«

 

»Was soll das denn beweisen?« fragte Jim.

 

»Daraus will ich nur ersehen, ob Elson während dieses großen Feuerwerks aus irgendwelchen dringenden Gründen seine Dienerschaft wegschickte. Und nun möchte ich Ihnen etwas sehr Interessantes zeigen.«

 

Jim folgte ihm in sein Arbeitszimmer, und vermutete, was Cardew mit diesem ›Etwas‹ meinte, als er einen großen Gegenstand auf dem Bibliothekstisch sah, der in Packpapier eingeschlagen war. Cardew entfernte die Hüllen, und Jim sah ein genaues Modell von Beach Cottage vor sich.

 

»Ich ließ es von einem Modellmacher herstellen, der es mir in vierundzwanzig Stunden baute«, sagte er mit verzeihlichem Stolz.

 

»Das Dach nehme ich jetzt ab.« Bei diesen Worten hob er es hoch, so daß man die kleinen Räume darunter genau sehen konnte. »Der Mann hat noch keine Farben aufgemalt, aber das ist nicht so wichtig. Auch muß ich mich auf mein Gedächtnis verlassen, was den Standort der verschiedenen Möbel angeht. Dieses«, er zeigte mit einem Bleistift auf einen Raum, »ist die Küche. Das Modell ist maßstäblich genau hergestellt. Sie können sogar die Türbolzen an der Hintertür sehen – und hier ist das Verbindungsfenster zwischen Küche und Speisezimmer.« Er öffnete das kleine Fensterchen. »Nun muß ich Sie an eine bedeutungsvolle Tatsache erinnern«, sagte er nachdrücklich. »Von dem Augenblick, da Hanna Shaw in das Haus eintrat, bis zu jenem Zeitpunkt, als sie oder ein anderer wieder herauskam, sind vermutlich weniger als fünf Minuten vergangen. Also ist es ganz klar, daß sie oder die beiden sofort in die Küche gingen – ich frage Sie, warum?«

 

»Um den Brief zu holen.«

 

Cardew sah ihn bestürzt an.

 

»Den Brief?« sagte er schnell. »Was meinen Sie für einen Brief?«

 

»Es war ein Brief, der an den Leichenbeschauer in West Sussex gerichtet war. Super fand den Briefumschlag und einen losen Ziegel in der Küche, unmittelbar unter dem Tisch, wo dieses Dokument offensichtlich verborgen war.«

 

Mr. Cardews Kummer war sehr komisch.

 

»Einen Brief?« fragte er wieder. »Das ist doch bei der Verhandlung neulich nicht angegeben worden, und das widerspricht auch meiner Theorie ganz bedeutend. Ich wünschte wirklich, daß dieser Super nicht so mit seinen Nachrichten zurückhielte!«

 

»Wahrscheinlich hätte ich Ihnen überhaupt nichts über den Briefumschlag sagen sollen.«

 

Mr. Cardew setzte sich nieder und betrachtete das Modell düster.

 

»Es könnte doch zu meiner Theorie passen«, sagte er schließlich. Aber man merkte, daß die frühere Zuversicht von ihm gewichen war. »Ich wollte nicht zugeben, daß ein anderes Motiv für die Ermordung vorhanden sei«, fuhr er fort. »Der Briefumschlag war an den Leichenbeschauer gerichtet? Soll das heißen, daß ein Selbstmord vorliegt?«

 

»Nein, selbst Super nimmt das nicht an«, sagte Jim lächelnd. Aber er tadelte sich schon, daß er Supers Geheimnis dem Rivalen mitgeteilt hatte.

 

»Es ist merkwürdig, daß ich plötzlich den Gedanken an Selbstmord hatte; aber es ist ja keine Waffe in der Küche gefunden worden, und dieser Umstand macht einen Selbstmord unmöglich.«

 

»Außerdem war die Haustür von außen verschlossen«, bemerkte Jim. Cardew nickte.

 

»Ja, ich muß jetzt wieder ganz von vorn anfangen, aber sicher werde ich eine befriedigende Lösung finden. Ich achte Oberinspektor Minter, der jedoch nach meiner Meinung einer etwas ungeschickten Methode folgt, die vielleicht im großen und ganzen gute Resultate erzielt. Aber in diesem Fall bin ich überzeugt, daß er keinen Erfolg haben wird.«

 

Er nahm ein Heft von seinem Schreibtisch und drehte die Seiten in seinem Manuskript um. Jim war erstaunt über den Fleiß dieses Mannes. Eine Seite war ganz mit Zeitangaben und Maßen bedeckt. Auf einer anderen Seite war eine rohe Skizze von der Seefront des Hauses. Verschiedene Linien liefen waagerecht über die Zeichnung und gaben die einzelnen Höhen der Flut zu bestimmten Stunden an. Zahlreiche Fotografien, die das Haus von den verschiedensten Seiten zeigten, lagen auf dem Schreibtisch. Es war auch eine Landkarte von Sussex da, auf die Mr. Cardew mit roter Tinte Linien eingetragen hatte. Jim vermutete, daß damit die verschiedenen Wege angedeutet werden sollten, auf denen der Mörder hätte entfliehen können. Sie waren beide in die Betrachtung der Papiere vertieft, als der Gärtner zurückkam.

 

»Ich habe Mr. Elson Ihren Brief gegeben, Sir.«

 

»Hat er Ihnen selbst die Tür geöffnet?« fragte Cardew schnell.

 

»Ja. Es dauerte fünf Minuten, bevor er herunterkam. Ich glaube, daß die Dienstboten alle ausgegangen sind.«

 

Cardew lehnte sich überlegen in seinen Stuhl zurück.

 

»Wie war er denn angezogen? Haben Sie aufgepaßt, ob sein Gesicht und seine Hände normal aussahen?«

 

»Seine Hände waren schwarz«, entgegnete der Gärtner. »Es machte den Eindruck, als ob er damit die Kaminröhre ausgewischt hätte. Er war nur mit Hose und Hemd bekleidet und sah sehr erhitzt aus.«

 

Mr. Cardew lächelte wieder.

 

»Ich danke Ihnen«, sagte er, und als sich die Tür schloß, schaute er Jim unverwandt an.

 

»Es geht etwas dort vor, ich wußte es doch. – Nun fragt es sich, wie weit hängt dieses merkwürdige Betragen mit dem Tod der armen Hanna zusammen? Erinnern Sie sich, daß er Hanna gut kannte und daß er sie heimlich traf? Ich weiß aus dem Gerede der Dienstboten nach ihrem Tode, daß sie häufig Besuche in Hill Brow machte. Es ist auch eine erwiesene Tatsache, daß Elson seit dem Todesfall nicht mehr nüchtern war. Früher hat er schon schwer getrunken, aber jetzt hat er jede Hemmung verloren. Zwei der Mädchen haben gestern den Dienst verlassen, und sein Diener geht noch diese Woche fort. Elson geht in der Nacht im Haus umher und hat öfter Anfälle, in denen er vor Angst laut aufschreit.«

 

Cardew stand auf, deckte das Dach über das Modell und packte es dann sorgfältig wieder ein.

 

»Bis jetzt sind meine Nachforschungen nur abstrakter Natur gewesen. Aber ich will mich jetzt auf ein neues Gebiet wagen, wozu ich eigentlich meinen Jahren nach nicht mehr geeignet bin.«

 

»Was wollen Sie damit sagen?« fragte Jim.

 

»Ich wollte sagen, daß ich jetzt das Geheimnis von Hill Brow aufklären werde«, sagte Mr. Cardew.