25

 

Tap, tap, tap! Elfa hörte den Ton im Schlaf und wurde munter. Tap, tap, tap!

 

Sie glaubte, daß der Rolladen vom Wind gegen das Fenster geschlagen würde. Sie war halb im Schlaf, halb im Wachen, und ihr Bewußtsein verlor sich wieder in Schlaf und Traum, als es aufs neue tönte:

 

Tap, tap, tap!

 

Jetzt wurde sie ganz wach und stützte sich auf den Ellbogen. Es war ihr ganz klar, daß der Ton vom Fenster herkam, und die regelmäßigen Abstände, in denen das Geräusch kam, ließen keinen Zweifel darüber, daß es irgendwie absichtlich hervorgerufen sein mußte. Die Nacht war still und lautlos, und kein Luftzug regte sich. Sie ging zum Fenster und zog die schweren Vorhänge zurück. Das untere Fenster stand weit offen, wie sie es am Abend vor dem Schlafengehen verlassen hatte. Sie konnte keine Schnur und keinen Gurt herunterhängen sehen, von dem das Geräusch herkommen konnte. Die Welt draußen lag in tiefer Finsternis.

 

Als sie zum Fenster hinausschaute, hörte sie, wie der Kies knirschte. Ihr Herz schlug wild vor Aufregung, aber dann erinnerte sie sich daran, daß das Haus bewacht wurde.

 

»Sind Sie es, Miss Leigh?« fragte eine leise Stimme.

 

»Ja«, antwortete sie ebenso. »Haben Sie ans Fenster geklopft?« »Nein«, war die verwunderte Antwort. »Haben Sie jemand klopfen hören? Da müssen Sie wohl geträumt haben.«

 

Sie legte sich wieder nieder, aber sie konnte nicht mehr schlafen. Gleich darauf hörte sie es wieder: Tap, tap, tap!

 

Sie stand auf, zog die Vorhänge ganz leise beiseite und horchte in das tiefe Schweigen hinaus. Dann wandte sie sich vorsichtig zum Fenster und lehnte sich hinaus. Sie strengte ihre Augen an, um die Finsternis zu durchdringen.

 

Sie konnte niemand sehen, nur hinten, nach den Bäumen zu, entdeckte sie das dunkle Glühen eines feurigen Punktes. Sie vermutete, daß der Polizeibeamte eine Zigarette rauchte. Wer mochte wohl ans Fenster geklopft haben? Sie lehnte sich etwas weiter hinaus, und dann fiel von oben etwas über ihren Kopf und legte sich um ihren Hals.

 

Noch ehe sie sich von ihrem Schrecken erholen konnte, zog sich die Schlinge um ihren Hals fester zu. Sie langte mit der Hand hinauf, ergriff die Schnur, die sie zu erwürgen drohte, und zerrte wild daran. Aber mit ungeheurer Kraft riß es sie nach oben. Krampfhaft faßte sie mit der anderen Hand nach dem Fensterbrett und klammerte sich an einem Blumenkasten an. Er fiel mit Gepolter zu Boden. Irgendwo aus dem Garten blitzte ein heller Lichtstrahl auf und beleuchtete sie. In diesem Augenblick lockerte sich die seidene Schnur. Elfa taumelte in das Zimmer zurück und fiel halb bewußtlos neben ihrem Bett nieder. Die Schlinge lag noch um ihren Hals.

 

Der Wachtposten vom Garten kam herbeigelaufen, sprang hoch, erfaßte die obere Kante des Fenstersimses, schwang sich in das Zimmer und drehte das elektrische Licht an.

 

Sie schaute in das Gesicht eines Mannes in mittleren Jahren, den sie nicht kannte. Er nahm die Schlinge von ihrem Hals und legte sie auf ihr Bett. Dann ging er wieder zum Fenster und stieß einen schrillen Pfiff mit seiner Trillerpfeife aus.

 

Jim hörte es und war im Nu aus seinem Zimmer. Aus der Richtung des Schalles konnte er hören, daß er aus Elfas Zimmer kommen mußte. Als er die Tür öffnete, sah er, wie der Detektiv, mit dem er am Abend vorher gesprochen hatte, ihr Gesicht mit einem Schwamm wusch.

 

»Kümmern Sie sich um die Dame«, sagte der Beamte kurz, gab ihm den Schwamm, verließ schnell den Raum und lief die Treppe in die Höhe, die unmittelbar gegenüber der Tür mündete. Jim hörte das Geräusch, wie er mit seinen schweren Schuhen in dem Raum, der über dem Zimmer lag, umherging. Dann wurde er vom Garten aus angerufen.

 

»Ist etwas nicht in Ordnung?«

 

Es war Super.

 

Elfa hatte das Bewußtsein wiedererlangt. Jim ging zum Fenster und erzählte mit ein paar Worten,, was er von der seidenen Schnur am Boden und den roten Flecken am Halse Elfas vermutete.

 

»Kommen Sie schnell herunter und lassen Sie mich ins Haus!«

 

Jim eilte die Treppe hinunter, als Mr. Cardew mit einem Revolver in der einen und einer Taschenlampe in der andern Hand aus seinem Zimmer trat.

 

Ferraby hielt nicht an, um ihm eine Erklärung zu geben, sondern schob die Riegel der Haustür zurück und ließ Super ein. Als sie das Zimmer Elfas wieder erreichten, saß sie auf der Bettkante. Sie hatte ihren Morgenrock um die Schultern gelegt. Ihr Hals schmerzte, sie hatte Schwindelgefühle und starke Kopfschmerzen und zitterte an allen Gliedern. Aber sie konnte wenigstens erzählen, was ihr zugestoßen war.

 

Als sie eben zu Ende war, kam der Detektiv, der nach oben gegangen war, zurück. Er hatte eine Bambusstange in der Hand.

 

»Oben ist ein Bodenraum«, sagte er, »von dem aus eine Falltür auf das Dach führt. Das ist alles, was ich gefunden habe. Der Kerl muß damit an das Fenster geklopft haben.«

 

Super kümmerte sich überhaupt nicht um die Bambusstange.

 

»Er klopft an das Fenster, sie schaut hinaus, und er wirft ihr eine Schlinge um den Hals«, flüsterte er. »Und oben ist eine Falltür, damit er entkommen kann. Ich sage Ihnen, dieser Kerl vergißt nichts! Also schnell aufs Dach, hinter ihm her! Haben Sie eine Pistole? Wenn Sie ihn sehen, schießen Sie … Brechen Sie sich aber nicht das Genick, das ist die Sache nicht wert. Ich fürchte, er wird schon entwischt sein, bevor Sie ihre Untersuchung anfangen können.«

 

Cardew war an der Tür und verlangte Einlaß. Mit einem verärgerten und müden Ausdruck ging Super hinaus und erzählte ihm von dem Vorfall.

 

»Der Raum hier oben ist eine Dachkammer und wird nie gebraucht«, erklärte er überflüssigerweise.

 

Super öffnete ihm widerwillig die Tür und erlaubte ihm, näher zu treten.

 

»Kennen Sie das?« fragte er, nahm die rotseidene Schnur auf und zeigte sie ihm. Sie war etwa drei Meter lang, und das Ende war sorgfältig zu einer Schlinge gebunden.

 

Mr. Cardew schüttelte den Kopf.

 

»Ich habe sie niemals vorher gesehen«, sagte er. »Es ist wohl eine altmodische Klingelschnur. Wir haben nur elektrische Glocken im Haus. Sie ist sehr alt …«

 

»Das vermute ich«, unterbrach ihn Super. »Sie können die Art in jedem Laden kaufen. Fühlen Sie sich besser, meine liebe Miss Leigh?«

 

Sie nickte und machte den tapferen Versuch zu lächeln.

 

»Wir werden das Zimmer verlassen, dann können Sie sich anziehen. Ich glaube, es ist besser, wenn Sie nach unten kommen. Es ist drei Uhr, und früh aufstehen schadet niemals etwas.«

 

In dem Augenblick kam der Detektiv zurück, um die Ergebnislosigkeit seiner Nachforschungen auf dem Dach zu melden.

 

»Wo ist Lattimer?«

 

»Er ist auf der anderen Seite des Hauses.«

 

Super sagte nichts weiter. Als sich das Mädchen angekleidet hatte und herunterkam, ging er hinaus auf den Rasen. Plötzlich hörte Jim ein Nachtigallenflöten wie am vorigen Abend.

 

»Ich kann das Schlagen einer Nachtigall täuschend nachahmen«, gab Super bescheiden zu. »Ich habe direkt eine Gabe, Vogelstimmen zu imitieren, aber Nachtigallen sind meine Spezialität … Nachtigallen und Hühner.«

 

Und zu Jims Erstaunen ließ er das Gegacker einer brütenden Henne hören. Bei einer anderen Gelegenheit hätte Jim laut lachen müssen.

 

»Sind Sie das, Lattimer?« rief Super, als der Sergeant zu ihm eilte.

 

Lattimer trat ins Licht.

 

»Jawohl, Sir.«

 

Seine Kleider waren staubig, seine Hose war an dem einen Knie zerrissen, und es fehlte ein Stück Stoff. Jim sah, daß seine Hände mit Schmutz und Ruß bedeckt waren.

 

»Was ist Ihnen zugestoßen, Lattimer?«

 

»Ich fiel herunter … ich war in solcher Eile«, sagte er kaltblütig.

 

»Haben Sie jemand oder etwas gesehen?« fragte Super.

 

»Nein, ich hörte nur Geräusche im Haus, aber ich wußte, daß Sie irgendwo hier in der Gegend waren. So dachte ich, es wäre besser, draußen zu warten für den Fall, daß jemand versuchen sollte, im Dunkeln durch das Gehölz zu entkommen.«

 

Jim erwartete, daß der Oberinspektor sein Verhör mit Lattimer fortsetzen würde, aber zu seinem Erstaunen geschah das nicht. Super gab ihm einen Befehl und ging dann wieder in das Arbeitszimmer, wo Elfa einen Spirituskocher ansteckte.

 

Der junge Mann war sehr unzufrieden und machte sich selbst auf die Suche. Er ging aus dem Haus, nahm eine der beiden Laternen vom Tisch in der Eingangshalle und besichtigte dann das Haus von außen. Er war noch nicht weit gegangen, als er eine merkwürdige Entdeckung machte. An der Hinterseite lehnte eine lange Leiter, und als er mit seiner Lampe nach oben leuchtete, sah er, daß sie bis zum Dach reichte. Auf der Seite der Leiter hing etwas herunter. Er stieg zwei Sprossen in die Höhe und sah, daß es ein Stück Tuch von unregelmäßiger Form war. Es war an einem vorstehenden Nagel an der Seite hängengeblieben. Er hatte gesehen, daß Lattimer einen dunkelgrauen Anzug mit einem leichten Karomuster trug, das im künstlichen Licht besser zur Geltung kam als am Tag, und dieses Stück Stoff war nicht nur vom selben Muster, sondern entsprach auch in Größe und Form genau dem Loch, das Lattimers Hose am Knie zeigte! Er steckte es in seine Tasche, ging nach dem Haus zurück, rief Super heraus und erzählte ihm, was er gefunden hatte. Der Oberinspektor hörte ihm zu, ohne ihn zu unterbrechen, und ging mit ihm zu der Seite, wo die Leiter stand.

 

»Das ist sicher sehr seltsam«, meinte er schließlich. »Aber es ist möglich, daß Lattimer die Leiter gesehen hat und hinaufstieg, um festzustellen, welche Bewandtnis es damit habe.«

 

»Das hat er aber doch nicht gesagt.«

 

»Nein, das hat er nicht gesagt, das gebe ich wohl zu. Ich werde mich um die Sache kümmern, Mr. Ferraby, und ich möchte Sie bitten, nichts hierüber zu den anderen zu sagen. Es ist sicher auffallend und sehr verdächtig, aber ich glaube doch, daß meine Vermutung richtig ist. Es war doch seine Pflicht, die Leiter und alles, was damit zusammenhing, zu untersuchen.«

 

»Aber er kam doch gar nicht aus der Richtung, wo die Leiter stand, sondern von der Pflanzung her«, sagte Jim hartnäckig.

 

Super rieb sein Kinn.

 

»Das ist gewiß verwunderlich«, gab er wieder zu und wiederholte seine Warnung. »Ich komme womöglich noch um das Vergnügen, den Fall aufzuklären«, fuhr er fort. »Es treten Zwischenfälle ein, mit denen ich nicht rechnete, und ich verstehe auch nicht, warum sie sich ereignen. Wenn ein Mann erst auf die abschüssige Bahn gerät, wird es immer schlimmer mit ihm. In einer halben Stunde wird der Morgen dämmern, dann ist die Gefahr für diese Nacht wohl vorüber.«

 

Er ging in die Bibliothek, ließ sich von Elfa Kaffee einschenken und setzte sich in einen niedrigen Sessel.

 

»Ich werde Ihnen etwas erzählen, was Sie sehr freuen wird«, sagte er zu ihr.

 

»Erzählen Sie es doch bitte schnell«, bat sie überrascht. »Was wollen Sie mir denn mitteilen?«

 

»Die Operation Ihres Vaters war ein großer Erfolg.«

 

Sie sprang auf die Füße, wurde rot vor Freude, dann wieder blaß.

 

»Die Operation ist schon vorüber – aber sie sollte doch erst nächste Woche vorgenommen werden?«

 

»Sie fand gestern abend statt«, sagte Super. »Ich habe mit den Ärzten abgemacht, daß Sie nichts erfahren sollten, bis alles vorüber sei. Aber ich dachte, Sie hätten es erraten, als mir die Oberschwester erzählte, daß Sie einen Brief für ihn zurückgelassen haben, den er lesen sollte, sobald er dazu imstande sei.«

 

»Aber ich habe keinen Brief zurückgelassen«, sagte sie schnell, »und ich hatte auch keine Ahnung, daß die Operation schon gestern abend sein sollte.«

 

Supers Augen wurden klein.

 

»Sie haben keinen Brief …«

 

Er langte nach dem Telefonhörer und wählte eine Nummer.

 

»Sie ist zu Bett? Wecken Sie die Dame auf und sagen Sie ihr, daß Polizeioberinspektor Minter sie jetzt sprechen muß.«

 

Er wartete mit dem Hörer am Ohr und schaute ins Leere. Elfa sah, wie sich sein Gesichtsausdruck veränderte.

 

»Sind Sie es, Miss Mud? Würden Sie so freundlich sein, den Brief, den Miss Leigh für ihren Vater hinterließ, zu öffnen und mir den Inhalt vorzulesen … Nein, das ist alles in Ordnung, ich habe ihre Erlaubnis dazu eben bekommen.«

 

Er wartete. Elfa sah, wie er nickte.

 

»Ach … Danke Ihnen«, sagte er endlich. »Ja, bewahren Sie den Brief für mich auf.«

 

Dann legte er den Hörer wieder auf.

 

»Was stand denn in dem Brief?« fragte Elfa.

 

»Es hat sich jemand einen Spaß erlaubt, denke ich. In dem Brief stand:›Herzliche Grüße. In aller Liebe Deine Elfa.‹ Das ist alles.«

 

Super sprach aber nicht die Wahrheit. Der Brief bestand nur aus einer Zeile, die so lautete:

 

»Ihre Tochter wurde in der vorigen Nacht erdrosselt.«

 

Dieser Kerl denkt an alles, dachte Super voll Bewunderung.