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Super zog seinen Kopf langsam aus der Öffnung zurück.

 

»Es ist besser, daß alle hier in dem Raum bleiben. Sergeant, holen Sie einen Arzt. Mr. Ferraby, Sie können den Beamten hinfahren…, aber nein, es ist besser, daß Sie hier bleiben – es ist möglich, daß Sie vielleicht später mit dem Fall zu tun bekommen.«

 

Lattimer bot sich an, den Wagen zum Dorf zu fahren, und nachdem er sich leise mit Super verständigt hatte, fuhren sie schnell ab.

 

»Nicht, daß ein Arzt noch irgendwelchen Zweck hätte.«

 

»Was ist geschehen?« fragte Cardew zitternd. »Mein Gott – es ist doch nicht etwa Hanna?«

 

Super nickte.

 

»Ich fürchte, daß sie es ist, Mr. Cardew«, sagte er.

 

»Verletzt – oder tot?«

 

Wieder bejahte Super.

 

»Ja, Sie bleiben am besten hier im Raum. Folgen Sie mir, Mr. Ferraby. Nehmen Sie einen Stuhl und treten sie darauf.«

 

Mit unglaublicher Behendigkeit schlüpfte er durch die Öffnung in der Wand, und Jim folgte ihm.

 

»Machen Sie den Rolladen wieder zu. Ich werde die Lampe anstecken.«

 

Super hob den Glaszylinder einer kleinen Petroleumlampe ab, die auf dem Küchentisch stand, und steckte sie vorsichtig an. Er legte das Streichholz auf die Tischplatte.

 

Jim Ferraby schaute entsetzt auf die leblose Gestalt, die an der Tür lehnte.

 

»Ist es Selbstmord?« fragte er mit gedämpfter Stimme.

 

»Wenn es das ist, werden wir ja die Waffe finden«, erwiderte Super. »Sie ist tot, das ist eine Tatsache. Es tut mir leid, daß ich so kühl mit ihr umgegangen bin. Sie war in ihrer Art keine schlechte Frau.«

 

Er beugte sich nieder und schaute in das bleiche Gesicht.

 

»Es ist kein Selbstmord«, sagte er dann überzeugt. »Ich habe das auch nicht angenommen. Es ist ein Mord – aber wie? Die Tür ist auf der Innenseite geschlossen – sehen Sie den Schlüssel? Und der Rolladen zum Speisezimmer war auch geschlossen, der Schlüssel befindet sich an der Innenseite. Beachten Sie das.« Er sah nach dem schweren Rolladen, der das Fenster nach draußen schützte. Die starken Riegel waren von innen vorgeschoben.

 

Auf dem Tisch lag eine Damenhandtasche, die offensichtlich ausgeleert worden war; denn eine Menge von Kleinigkeiten, die eine Frau bei sich trägt, und ein Haufen Papiergeld waren auf dem Tisch verstreut.

 

»Fünfundzwanzig Pfund in englischem Geld und zweitausend Dollar«, sagte Super, nachdem er das Geld gezählt hatte. »Was bedeutet denn eigentlich der Ziegel?«

 

Ein roter, gebrannter Stein, der auf der Oberfläche sehr abgenützt war, lag auf dem Boden. Ein Gummisauger mit einer Schnur befand sich daran.

 

»Der ganze Fußboden ist mit roten Ziegeln belegt«, sagte Jim.

 

»Ja, das habe ich auch gemerkt.«

 

Super nahm die Lampe, beugte sich nieder und suchte den Fußboden ab. Unmittelbar unter der Mitte des Tisches war ein längliches Loch, in das der Ziegel genau hineinpaßte.

 

»Der Gummisauger hat dazu gedient, den Stein in die Höhe zu heben. Das haben wir, als Jungen auch schon gemacht«, sagte Super in Gedanken. »Heutzutage nennt man so etwas einen Vakuumheber. Auf diese Weise hat er oder sie den Stein gehoben.«

 

Er kniete nieder, stellte die Lampe neben sich auf den Fußboden und untersuchte die Öffnung genau.

 

»Hier muß etwas verborgen gewesen sein, und sie ist hergekommen, um es zu holen. Ich wunderte mich vorher, warum sie nur so kurz hier blieb.«

 

»Aber wie ist sie denn nachher wieder zurückgekommen? Die Eingangstür haben wir doch von draußen verschlossen gefunden.«

 

Super schüttelte den Kopf.

 

»Ich muß jetzt über eine Menge Dinge nachdenken. Jedenfalls steht das fest: sie kam aus einem bestimmten Grund hierher!«

 

Er kniete wieder vor der stillen Gestalt nieder. Er hatte seine kalte Pfeife zwischen den Zähnen, und seine Stirn lag in noch tieferen Falten als gewöhnlich.

 

»Ich darf sie nicht bewegen, bevor der Arzt kommt«, sagte er und erhob sich wieder. »Sie ist aus kurzer Entfernung erschossen worden – er muß etwa hier gestanden haben – auf dieser Seite des Tisches … Ungefähr hier …« Er zeigte die Stelle. »Wahrscheinlich war es eine automatische Pistole, obgleich ich die Patronenhülse nirgends sehen kann. Sie stand rechts von der Tür. Sehen Sie die Spuren, die die Kugel in der Wand hinterlassen hat? Dann machte sie noch einen Schritt vorwärts und sank an der Tür nieder. Die Kugel ging mitten durch ihr Herz. Es kommt ja öfters vor, daß tote Leute noch einen oder zwei Schritte vorwärts gehen. Den linken Handschuh hat sie noch an, der rechte ist abgelegt. Sie beabsichtigte nicht zu bleiben. Bemerken Sie irgend etwas, Mr. Ferraby – irgend etwas Besonderes?«

 

Jim schüttelte hilflos den Kopf.

 

»Es sind so viele Dinge bemerkenswert, daß ich nichts unterscheiden kann«, sagte er.

 

Super rümpfte die Nase.

 

»Cardew würde es vor mir gesehen haben«, sagte er dann. »Sie hat keinen Hut auf und keinen Mantel an.«

 

Hanna Shaw war tatsächlich ohne Hut und Mantel.

 

»Betrachten Sie den Kleiderhaken an der Wand … bemerken Sie etwas auf dem Boden?«

 

»Wasser«, sagte Jim.

 

»Das ist von ihrem Regenmantel heruntergelaufen. Sie hängte ihn jedenfalls auf, als sie zuerst hierherkam. Wo hat sie ihren Mantel und ihren Hut gelassen?«

 

»Wahrscheinlich in einem der anderen Zimmer.«

 

»Sie sind nicht im Haus. Ich habe nicht alles genau durchsuchen können, aber dafür habe ich einen guten Blick. Solche Kleidungsstücke sind nicht im Haus.«

 

Super sprach in aufgeregtem Ton, und es war, als ob er einen persönlichen Triumph feiere.

 

»Hier ist der Arzt«, sagte er. »Er wird durch das Loch in der Wand klettern müssen – und wenn er korpulent ist, wird es ihm ungemütlich dabei werden.«

 

Der Arzt war aber ein junger Mann, für den es eine Kleinigkeit war, auf diesem Weg in die Küche zu gelangen.

 

Es bestand kein Zweifel, wie sein Urteil lauten würde.

 

»Nein, ich kann nicht genau sagen, wie lange sie tot ist. Aber sicher über eine Stunde. Ich habe nach einem Krankenwagen telefoniert. Sergeant Lattimer erzählte mir, was vorgefallen ist.«

 

Super sah auf seine Uhr, es war halb vier.

 

»Ich will warten, bis sie weggebracht worden ist, bevor ich etwas unternehme.«

 

Als einige Minuten später das Krankenauto ankam und die bedauernswerte Frau fortgeschafft wurde, zog Super die Riegel von den Läden zurück und öffnete das Fenster. Nur Jim und er blieben zurück. Mr. Cardew war in völlig erschöpftem Zustand mitgenommen worden, und auch Lattimer war mit dem Krankenwagen gefahren, um einen Bericht zu machen.

 

»Es ist noch hübsch dunkel, obwohl es gleich vier ist«, sagte Super und schaute aus dem Fenster. »Aber es regnet noch. Schönes englisches Sommerwetter. Sehen Sie sich einmal das an.«

 

Er legte ein längliches, gelbes Kuvert auf den Tisch. »Das habe ich unter ihr gefunden, als sie aufgehoben wurde.«

 

Jim prüfte den Umschlag.

 

»Leer«, sagte er und las dann die maschinengeschriebene Adresse. Der Atem verging ihm fast.

 

DR. JOHN W. MILLS

Laichenbeschauer von West-Sussex,

Hailsham, Sussex.

 

»Dann war es – Selbstmord?«

 

Super faltete das Kuvert, bevor er antwortete.

 

»Doktor Mills ist seit fünf Jahren nicht mehr im Amt. So lange ist er nämlich tot – ich erinnere mich deutlich an sein Begräbnis.«

 

»Aber wer schrieb denn das?«

 

»Sie wußten es sicher nicht«, sagte Super mit einem Anflug seiner alten Geheimnistuerei.

 

Jim beobachtete ihn, wie er die Küche durchsuchte, in Öfen spähte, Schränke öffnete, Schubladen aufzog, und die Tragödie begann ihm klarzuwerden. Es war alles so plötzlich und unerwartet gekommen, daß er die wahre Bedeutung nicht gleich erfassen konnte. Und sonderbar genug, sein erster Gedanke war, welche Wirkung wohl dieses gräßliche Ereignis auf Elfa Leigh haben mochte. Sie würde sicher ungeheuer erschrecken.

 

»Es ist wirklich ein wundervoller Mord«, sagte Super mit einem ekstatischen Seufzer, als er seine Pfeife anzündete. »Ich bin froh, daß ich den Kommissar gefragt habe. Er ist ein guter Kerl, und vielleicht überläßt er mir den Fall. Der Mann weiß, wann ein Ding in guten Händen ist. Er ist intelligent. Ich wundere mich, daß sie ihn in Scotland Yard behalten. Wenn er einen anderen mit der Sache betraute, würde er nicht für seine Aufgabe passen. Wenige sind tüchtig. Sie werden beauftragt, weil ihre Frauen Beziehungen zum Staatssekretär haben …«

 

Und er fuhr fort, anzügliche Reden zu führen.

 

»Aber es ist keine Waffe hier«, sagte er später. »Ich habe auch keine Patronenhülse auf dem Boden gefunden, und wir haben nur ein leeres Kuvert an den Leichenbeschauer in Händen … Hat Miss Shaw eine Schreibmaschine benutzt? Wissen Sie das vielleicht, Mr. Ferraby?«

 

»Ich glaube, ja. Cardew erzählte mir, daß sie eine alte Maschine besäße.«

 

»Die Adresse ist von jemand geschrieben, der wenig Übung im Tippen hat«, sagte Super und zog das Kuvert aus seiner Tasche. »Das Wort Leichenbeschauer ist falsch geschrieben. Ich muß diesen Umschlag nach Fingerabdrücken untersuchen lassen.« Er hatte das Geschoß, einen verbogenen Stahlzylinder, aus der Wand gezogen und legte es auf den Tisch. »Die Waffe war eine Schnellfeuerpistole mit zweiundvierziger Kaliber«, sagte er. »Dasselbe Kaliber wie jenes in dem Patronenrahmen, den wir auf dem Rasen fanden. Man kann keine Schlußfolgerungen daraus ziehen. Diese automatischen Pistolen werden jetzt nur noch in zwei Größen hergestellt, und es ist nicht wahrscheinlich, daß Miss Shaw eine besaß. Frauen fürchten sich gewöhnlich vor Schußwaffen ganz abgesehen davon hätte es Cardew gewußt.«

 

»Wo ist er hingegangen?« fragte Jim.

 

»Ins Grand Hotel nach Pawsey.« Super lachte in sich hinein. »Wenn dieser Theorienmensch Tatsachen gegenübersteht, ist er sofort erledigt. Und hier haben wir eine starke Tatsache – gewaltsamen Tod. In einem bequemen Lehnsessel zu sitzen und sich die Zeit mit dem Ausdenken von Theorien zu vertreiben, ist ja ganz schön; aber mit den gemeinen Widerwärtigkeiten des Lebens zusammenzustoßen und blutige Vorfälle aus nächster Nähe zu beobachten, dazu gehört doch noch etwas anderes …« Er hielt inne und beugte den Kopf lauschend vor. Durch das offene Fenster hörte man das ununterbrochene Rauschen der Brandung.

 

»Es macht sich jemand an der Tür zu scharfen«, sagte er. Er nahm die Lampe und ging leise auf den Gang.

 

Jim vernahm das Geräusch auch, und es wurde ihm unheimlich zumute. Er hörte, wie jemand mit den Händen an der Holztäfelung entlangtastete, und dann sah er, wie die Türklinke heruntergedrückt wurde.

 

Super schaute ihn an und winkte ihm. Jim Ferraby bewegte sich leise zur Tür, drehte den Schlüssel blitzschnell herum und öffnete mit einem Ruck.

 

Auf den Treppenstufen stand eine schlanke Gestalt, von Regen durchnäßt und gänzlich erschöpft. Sie schaute dem jungen Mann verständnislos ins Gesicht.

 

»Helfen Sie mir«, sagte sie leise, als sie vorwärtstaumelte und in seine Arme sank.

 

Es war Elfa Leigh.

 

»Bewegen Sie sich nicht – horchen Sie!«

 

Super stieß diese Worte leise hervor, und Jim stand regungslos da und hielt das bewußtlose Mädchen im Arm. Aus der Dunkelheit kam ganz fern der traurige Gesang:

 

»Zum Donnerwetter!« sagte Super, als er die Lampe niedersetzte und im Dunkeln verschwand.